Implizite Bilder: Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst 9783839466599

Im Zeitalter digitaler Medienpraxis sind explizite Bilder des Leids allgegenwärtig. Allerdings kommt es im täglichen Nac

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German Pages 240 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst
Einleitung
1. Nicht-Zeigen
2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse
3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst
Fazit
Anhang
Bildnachweis
Literaturverzeichnis
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Implizite Bilder: Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst
 9783839466599

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Marie-Luise Zielonka Implizite Bilder

Image Band 226

Marie-Luise Zielonka, geb. 1988, arbeitet als freie Kuratorin und Dozentin in Stuttgart. Sie hat in Konstanz, Paris, München und London studiert und promovierte an der Universität Konstanz.

Marie-Luise Zielonka

Implizite Bilder Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

Dissertation der Universität Konstanz, Tag der mündlichen Prüfung: 25. April 2022. 1. Referent: Herr Professor Dr. Stiegler, 2. Referent: Herr Professor Dr. Bogen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: The Late Estate Broomberg & Chanarin, The Press Conference, June 9 2008, 2010, C-print, Mounted on Aluminum & digital film, 76.2 x 600 cm, Unique (Detail). Courtesy Broomberg & Chanarin and Goodman Gallery/ VG Bildkunst Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466599 Print-ISBN 978-3-8376-6659-5 PDF-ISBN 978-3-8394-6659-9 Buchreihen-ISSN: 2365-1806 Buchreihen-eISSN: 2702-9557 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort ............................................................................7

Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst Einleitung ........................................................................13 1. Nicht-Zeigen ................................................................ 21 1.1 1.2 1.3 1.4

Nicht-Zeigen als Zeigen ......................................................... 21 Warum Nicht-Zeigen? ........................................................... 31 Voraussetzungen des Nicht-Zeigens in der künstlerischen Fotografie............ 45 Synthese ..................................................................... 59

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse ................ 63 2.1 Susan Sontag – Von der Ökologie der Bilder zur Verantwortung, hinzusehen ................................................ 63 2.2 Philippe Dubois – Zeigen und Nicht-Zeigen im fotografischen Akt ............... 79 2.3 Jacques Rancière – Fotografische Unentschiedenheit als politisches Potential .. 89 2.4 Synthese ..................................................................... 101

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst ......... 105 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Nicht-Zeigen und Rekontextualisierung ........................................105 Narration als Strategie des Nicht-Zeigens ...................................... 112 Metonymie als Strategie des Nicht-Zeigens .................................... 131 Ellipse als Strategie des Nicht-Zeigens ........................................ 143 Abstraktion als Strategie des Nicht-Zeigens ....................................162 Fiktion als Strategie des Nicht-Zeigens .........................................175

Fazit .............................................................................199 Anhang ........................................................................ 207 Bildnachweis .................................................................... 211 Literaturverzeichnis............................................................215

Vorwort

Diese Arbeit entstand in den Jahren 2016 bis 2022 an der Universität Konstanz, in Stuttgart und während eines Forschungsaufenthalts in Paris. Als ich begann, mich mit meinem Dissertationsthema auseinander zu setzen, hatte der Krieg in Syrien zu der heute weltweit größten Fluchtbewegung geführt. Insbesondere ein Bild hat damals die Welt bewegt und wurde zum Sinnbild dieser Flüchtlingskatastrophe: Die Fotographie des leblosen Körpers des dreijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi, der am Strand von Bodrum angespült worden war. Ob dieses Bild gezeigt werden sollte oder nicht, wurde kontrovers diskutiert. In manchen Zeitungen wurde es publiziert, andere Medienschaffende verzichteten darauf. Und dann gab es noch KünstlerInnen, die das Bild in ihren Arbeiten thematisierten, jedoch ohne es explizit zu zeigen. Dies motivierte mich, meine Dissertation den Optionen zu widmen, die sich in der zeitgenössischen künstlerischen Fotographie bieten, um mittels eines differenzierten Nicht-Zeigens Themen wie Kriege, Genozide und sonstige politische Konflikte zu evozieren. Nun, im Jahr der Abgabe meiner Doktorarbeit, ist es der Angriffskrieg Russlands gegen die gesamte Ukraine, auf den die Welt blickt und der Tag für Tag unzählige neue furchtbare Bilder expliziter Gewalt und des Leids liefert. Abermals wird deutlich, wie wirkmächtig Fotographien sind und wie relevant die Frage des Umgangs mit solchen Bildern ist. Erneut stellt sich die Frage des Zeigens oder Nicht-Zeigens, beispielweise im Fall der grausamen Fotographien, die aus der ukrainischen Stadt Butscha um die Welt gingen. Weiter gewachsen ist mittlerweile das Bewusstsein, dass man solchen Fotos mit einer gewissen Bildskepsis begegnen muss und der Fotographie trotz ihres Evidenzcharakters nicht ohne weiteres trauen kann. Eine neue Wendung, die zu beobachten ist, ist allerdings, dass dieses gewachsene Bewusstsein um eine erforderliche Bildskepsis heute durch autokratische Regime strategisch zu Propagandazwecken eingesetzt wird, um Bildern – wie jenen aus

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

Butscha – entgegen der Tatsachen ihre Wahrhaftigkeit abzusprechen und sie als vermeintliche Inszenierung in Zweifel zu ziehen. Dies ist für den Umgang mit solchen Bildern eine neue Herausforderung, die zukünftig wohl noch an Bedeutung gewinnen wird. Bildforensische Analysen mit modernsten technischen Hilfsmitteln werden schon heute vermehrt eingesetzt. Dies geschieht allerdings nicht mehr nur, um Bilder entgegen ihrer Evidenz als Täuschung zu entlarven, sondern um entgegen einer behaupteten Täuschung die Evidenz der Bilder zu bestätigen. In meiner Arbeit bestimmte die Wahl der Werke der KünstlerInnen, anhand derer die Strategien des Nicht-Zeigens betrachtet werden, zugleich die thematisierten Kriege und Konflikte. So werden in diesen beispielsweise der Afghanistankrieg, der ruandische Genozid und der Nah-Ost-Konflikt sowie weitere politische Konflikte wie Terroranschläge und Kriege von 1986 bis 2013 evoziert. Die anhand dieser Arbeiten entwickelten Strategien des Nicht-Zeigens sind jedoch unabhängig von den jeweiligen Konflikten. Ich bin überzeugt, dass Strategien des Nicht-Zeigens in vielfältiger Form auch für die Aneignung der Fotographien aus dem Ukrainekrieg und kommenden Konflikten durch KünstlerInnen eine wichtige Rolle spielen werden. Bedanken möchte ich mich an erster Stelle bei meinen Betreuern, Prof. Dr. Bernd Stiegler und Prof. Dr. Steffen Bogen, die mein Dissertationsprojekt von Anfang an mit vielen hilfreichen Anregungen unterstützt haben. Ich hätte mir keine besseren Begleiter auf meinem Weg zur fertigen Dissertation wünschen können. Dank eines Stipendiums der Landesgraduierten Förderung BadenWürttemberg war es mir möglich, mich auf die Fertigstellung meiner Arbeit zu konzentrieren. Ein Forschungsaufenthalt in Paris unterstützt durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst und Florian Ebner, Leiter der fotografischen Sammlung am Centre Pompidou, gaben mir für die Abschlussphase der Dissertation wichtige Impulse und die besondere Möglichkeit in der Bibliothèque Kandinsky arbeiten zu können. Für die intensiven Gespräche zu meinem Dissertationsvorhaben bedanke ich mich herzlich bei Florian Ebner. Für den inspirierenden Austausch in Pariser Mittagspausen möchte ich Dr. des. Annika Haas danken. Denn Wissenschaft geschieht nicht nur allein am Schreibtisch, sondern vor allem in der gemeinsamen Auseinandersetzung – im Dialog. An diesem waren auch die TeilnehmerInnen des Forschungskolloquiums Kunst der Universität Konstanz beteiligt, die mir mehrfach ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Karin Leonhard, die als Drittprüferin meine mündliche Prüfung abgenommen hat.

Vorwort

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen, sagt ein nigerianisches Sprichwort. Dies gilt umso mehr, wenn man nebenbei auch noch eine Doktorarbeit schreiben möchte. Meiner Mutter und meinen Schwiegereltern möchte ich für die liebevolle Betreuung unserer Tochter danken. Meiner Familie und meinen FreundInnen, die mich durch die Hochs und Tiefs dieses Projekts begleitet und immer an mich geglaubt haben, gilt mein Dank. Für ihre so wertvolle und motivierende Unterstützung möchte ich ganz besonders Dr. Cassis Kilian danken. Für die Unterstützung durch meinen Mann, Dr. Christian Zielonka, gibt es keine Worte.

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

Einleitung »I suspect that the most interesting questions for visual studies, then, will be located at the frontiers of visuality, the places where seeing approaches a limit and is faced with its own negation […].«1 (William J. T. Mitchell, 2008)

Im Zeitalter digitaler Medienpraxis kann man Bildern, die den Schrecken, die Brutalität und Gewalt von Kriegen, Katastrophen und Terror explizit zeigen, kaum entkommen. Durch das Aufkommen des Internets und die neuen Möglichkeiten Bildmaterial in Sekundenschnelle weltweit zu verbreiten, hat die »Überflutung der Welt mit Bildern«, die Susan Sontag schon 1977 diagnostizierte, in ungeahntem Ausmaß zugenommen.2 Gespeist wird diese Bilderflut über vielfältige Kanäle. Neben den Bildern in der professionellen Berichterstattung, erlauben es insbesondere die sozialen Medien auch Laien Bildmaterial per Smartphone weltweit nahezu in Echtzeit in Umlauf zu bringen. Auch unzählige Bilder expliziter Gewalt sind hierdurch heute für jedermann jederzeit sichtbar, verfügbar und einsetzbar. »Today there are countless images of organized violence and barbarism,« konstatiert Georges DidiHuberman 2007.3 Bilder sind wirkmächtig – insbesondere Bilder, die uns schockieren und verstören. Allerdings kommt es im täglichen Nachrichtenfluss immer wieder 1

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Marquard Smith, Mixing It Up: The Media, The Senses, And Global Politics, Interview with W. J. T. Mitchell, in: Derselbe (Herausgeber), Visual Culture Studies: Interviews with Key Thinkers, London 2008, (33–48): 36. Susan Sontag, Über Fotografie (On Photography, 1977), Frankfurt a.M. 2003: 20. Georges Didi-Huberman, Emotion Does Not Say »I«, Ten Fragments On Aesthetic Feedom, in: Nicole Schweizer (Hg.), Alfredo Jaar, La Politique Des Images, Ausstellungskatalog, Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne, Zürich 2007, (57–69): 57.

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

zur Veröffentlichung von Bildern, bei denen es diskutabel ist, ob sie öffentlich gezeigt werden sollten oder nicht. Taucht eine Fotografie, die das Leid und den Schrecken explizit und brutal zeigt, auf dem Schreibtisch von BildredakteurInnen auf, müssen diese oft innerhalb kurzer Frist eine Entscheidung treffen: Veröffentlichen oder Zurückhalten, Zeigen oder nicht Zeigen. Dies ist eine Frage der Abwägung. Während einerseits das journalistische Interesse, den LeserInnen so unmittelbar wie möglich das »wahre« Bild vor Augen zu führen, sie aufzuklären und zu »treffen«, als Argument für ein explizites Zeigen angeführt werden kann, sind andererseits insbesondere der Schutz der Betroffenen und ihrer Persönlichkeitsrechte sowie die Verantwortung gegenüber den AdressatInnen zu berücksichtigen, die gegen ein explizites Zeigen sprechen können. Sicherlich dürfte dabei in einem wahren »Überbietungsspiel«4 im Kampf um Auflagenzahlen und Klicks mitunter auch der Wunsch nach größtmöglicher Aufmerksamkeit in die Entscheidung zur Veröffentlichung einfließen. Über das Ergebnis dieser Abwägung und ob es »richtig«, »erforderlich« oder »angemessen« ist, ein bestimmtes Bild des Leids angesichts der jeweils gegebenen Umstände zu zeigen, wird sich im Einzelfall wohl stets streiten lassen. Ein Beispiel ist die Fotografie der Leiche des dreijährigen Alan Kurdi am Strand von Bodrum von Nilüfer Demir (Abbildung 1), anhand derer sich im September 2015 eine Debatte darüber entzündete, ob solch ein Bild gezeigt werden sollte oder nicht.5

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Karin Harrasser, Innensicht einer Ikonographie des Äußersten, in: Dieselbe, Thomas Macho und Burkhardt Wolf (Hg.), Folter: Politik und Technik des Schmerzes, Paderborn 2007, (133–137): 136. Der Deutsche Presserat hat das Bild als »Dokument der Zeitgeschichte« eingestuft und damit die Veröffentlichung legitimiert. Ohne Angabe, Recherche Presserat Info, Ein Foto regt weltweit Diskussionen an, Aktenzeichen 0847/15/1, online: https://rech erche.presserat.info, zugegriffen am 24.01.2023. In der Süddeutschen Zeitung kommentierte Stefan Plöchinger den Verzicht auf eine Veröffentlichung der Fotografie. Siehe: Stefan Plöchinger, Was uns der tote Junge von Bodrum lehrt, in: Süddeutsche Zeitung, 03. September 2015, online: https://www.sueddeutsche.de/medien/foto-eines -fluechtlingskinds-was-uns-der-tote-junge-von-bodrum-lehrt-1.2632557, zugegriffen am 24.01.2023.

Einleitung

Abbildung 1: Nilüfer Demir, Alan Kurdi, 2015.

Eine ganz ähnliche Debatte gibt es auch im Bereich der Kunst. Hier sind es die KünstlerInnen, die mit Fotografie arbeiten und sich mit Themen wie Kriegen, Genoziden und politischen Konflikten befassen, die vor der Frage stehen, ob, inwieweit und in welcher Form sie den Schrecken zeigen. Alfredo Jaar etwa entschied sich dafür, in seiner Arbeit und Intervention The Gift (2016), das Bild des toten Jungen Alan Kurdi nicht zu zeigen. Während der Art Basel 2016 wurden auf dem Messegelände und in der Stadt Basel einfache blaue Pappschachteln verteilt. Leisteten die »Beschenkten« der Aufforderung »open here« Folge und öffneten sie eine der 12.000 Schachteln, so offenbarte sich ihnen im Inneren der Box das Foto eines leeren Strands (Abb. 2).6 Trotz der digital entfernten Leiche des toten Jungen, wurde jedoch den BetrachterInnen, die die zur Ikone gewordene journalistische Fotografie kannten, unmittelbar klar, dass auch dieses Bild den Strand von Bodrum zeigt und das tragische Schicksal des klei-

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Jaar nutzte The Gift um auf die Hilfsorganisation Migrant Offshore Aid Station (MOAS) aufmerksam zu machen, die u.a. im Mittelmeerraum Seenotrettung betreibt. Auf dem Boden der Schachtel finden sich die Informationen dazu. Durch Auseinander- und erneutes Zusammenfalten wird aus The Gift eine Spendenbox, ein potenzielles Geldgeschenk an die Organisation. Für weitere Informationen siehe: Alfredo Jaar, The Gift, online: http://alfredojaar.net/gift/, zugegriffen am 24.01.2023.

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

nen Jungen evozieren sollte. Zusätzlich wurde dieser Bezug auch mit Hilfe eines Texts auf der Innenseite des Deckels hergestellt.7

Abb. 2: Alfredo Jaar, The Gift, 2016, Public Intervention Basel.

Während Jaar das Bild des leeren Strands von Bodrum wählte, entschied sich Ai Weiwei dafür, sich wenige Monate nach dem Tod Alan Kurdis in der gleichen »Pose« am Strand fotografieren zu lassen (Abb. 3). Er präsentierte seine Fotografie, die in Kooperation mit der Zeitung India Today entstand, ebenfalls im Rahmen einer Kunstmesse, der India Art Fair in Neu-Delhi, im Januar 2016. Die anschließende Debatte, ob dieser Umgang mit der Fotografie des Verstorbenen pietätlos war oder nicht, soll hier nicht fortgesetzt werden.8 Eben7

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Der Text rekurriert auf einen Kommentar von Mario Calabresi, damals Chefredakteur der italienischen Zeitschrift La Stampa, in dem er für das Zeigen des Bilds eintritt. Vgl.: Ebenda. Zu dieser Debatte siehe: Swantje Karich, Warum Ai Weiweis Flüchtlings-Foto schamlos ist, in: Die Welt, 01.02.2016, online: https://www.welt.de/kultur/kunst-und-archit ektur/Article151742744/Warum-Ai-Weiweis-Fluechtlings-Foto-schamlos-ist.html, zugegriffen am 24.01.2023; Julia Voss, Ich bin Aylan [sic!] Kurdi, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.02.2016, online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kritik-

Einleitung

so wenig soll es um eine Beurteilung der Angemessenheit oder gar ein »Richtig« oder »Falsch« gehen. Für die exemplarische Veranschaulichung des Themas dieser Untersuchung ist vielmehr Eines entscheidend: Alfredo Jaar und Ai Weiwei bedienten sich Ausdrucksformen, die es ihnen ermöglichten, das Schicksal des geflüchteten Jungen zu thematisieren, ohne jedoch das ohnehin bereits veröffentlichte und jederzeit verfügbare explizite Bild zu zeigen und damit den leblosen Körper – nun im Kunstkontext – erneut zur Schau zu stellen.

Abb. 3: Rohit Chawla, Ai Weiwei for India Today, 26. Jan. 2016, Lesbos, Greece, 2016.

Während AkteurInnen der tagesaktuellen Berichterstattung und KünstlerInnen das Interesse eint, über Kriege, Gewalt und andere Missstände aufzuklären, BetrachterInnen zu sensibilisieren und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und zu lenken, unterscheiden sich ihre Mittel bisweilen signifikant.9

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an-ai-weiwei-fuer-aufnahme-als-toter-fluechtling-aylan-kurdi-14048462.html, zugegriffen am 24.01.2023; Sophie Legras, Ai Weiwei: la photo qui heurte l’opinion, in: Le Point, 02.02.2016, online: https://www.lepoint.fr/arts/ai-wei-wei-la-photo-qui-heurte-l-opi nion-02-02-2016-2014720_36.php, zugegriffen am 24.01.2023. Selbstverständlich soll diese Unterscheidung keine klare Trennung suggerieren und lassen sich auch im Journalismus zahlreiche Beispiele finden, in denen über die Alternativen des expliziten Bilds oder des Bildverzichts hinaus, implizite Bilder und Strategien des Nicht-Zeigens im Sinne dieser Arbeit zum Einsatz kommen. Regelmäßig

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

KünstlerInnen sind im Umgang mit verstörendem fotografischem Material nämlich nicht auf die Optionen Zeigen oder Nichts Zeigen beschränkt, die in dem von Aktualitäts- und Zeitdruck geprägten Tagesjournalismus im Regelfall die einzigen Alternativen darstellen.10 Zeigen oder Nichts Zeigen bilden im künstlerischen Kontext lediglich die beiden Pole in einem Spektrum von Möglichkeiten des Umgangs mit Bildern des Leids: Es reicht vom Zeigen des expliziten Bilds, das schonungslos und unverfälscht das Grauen bis auf den kleinsten Pixel zeigt, wie etwa in Werken des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn11 , bis hin zum Bildentzug. Zwischen diesen Alternativen stehen KünstlerInnen jedoch im Bereich der künstlerischen Fotografie weitere Optionen zur Verfügung, um politische Themen zu evozieren und Kriege und Gewalt sichtbar zu machen, ohne dabei explizite Bilder des Leids zu zeigen. Um diese Strategien des Nicht-Zeigens soll es in dieser Arbeit gehen. Sie untersucht Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst, die sich mit Themen wie Kriegen, Genoziden, politischen Konflikten auseinandersetzt, und beleuchtet die theoretischen, kontextuellen und »ästhet/hischen«12 Voraussetzungen dieser Strategien. Im Gegensatz zu der bisherigen Forschung, die das Zeigen grundsätzlich vom Sichtbaren ausgehend versteht, soll damit hier gerade das Nicht-Gezeigte

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betrifft dies jedoch nicht die tagesaktuelle Berichterstattung, sondern eine zeitlich nachgelagerte Hintergrundberichterstattung und Kommentierung. Ein Beispiel ist etwa das Titelbild des ZEIT Magazins mit einer Reportage über Alan Kurdis Familie, das lediglich den Ausschnitt des Fotos zeigt, auf dem der Junge nicht zu sehen ist. Das Magazin erschien als Beilage der Wochenzeitung DIE ZEIT vier Monate nachdem Alan Kurdi ertrunken war. Siehe: Jutta Allmendinger et al. (Hg.), ZEIT Magazin, Nr. 3, 14. Januar 2016. Darauf, dass Printmedien sich tendenziell zwischen der Veröffentlichung oder der Zurückhaltung von Inhalten entscheiden müssen, weist auch Holger Isermann hin. Erst durch das Internet ergeben sich vermehrt auch im Journalismus Möglichkeiten verstörendes Bildmaterial zunächst anzukündigen und den BetrachterInnen somit die Wahl zu lassen, ob sie das explizite Bild anschauen möchten oder nicht. Vergleiche: Holger Isermann, Digitale Augenzeugen, Entgrenzung, Funktionswandel und Glaubwürdigkeit im Bilderjournalismus, Wiesbaden 2015: 351. Siehe hierzu Kapitel 1.3.3 dieser Arbeit, unter Verweis auf Hirschhorns The Incommensurable Banner (2007). Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996: 108. Mit der Wortneuschöpfung »Ästhet/hik«, die Ästhetik und Ethik verbindet, bezeichnet Wolfgang Welsch ästhetische Momente, die ebenso ethische implizieren. Ebd.: 127.

Einleitung

im Fokus der Betrachtung stehen.13 Die Thematisierung des Nicht-Zeigens stellt eine signifikante Erweiterung gegenüber den Debatten über das Zeigen der 2000er Jahre dar und ist damit ein Forschungsdesiderat.14 Gang der Darstellung Kann man überhaupt nicht-zeigen, wo doch Bilder stets etwas zeigen? Im ersten Kapitel »Nicht-Zeigen« wird geklärt, ob und unter welchen Umständen ein Nicht-Zeigen im Bild und mit Bildern funktionieren kann und ob und inwieweit ein fotografisches Nicht-Zeigen möglich ist. Dass aber auch ein Nicht-Zeigen stets über ein Zeigen funktioniert, wird im ersten Unterkapitel »Nicht-Zeigen als Zeigen« geklärt. Dabei werden verschiedene Formen bildlicher Negation betrachtet. Im anschließenden Unterkapitel »Warum Nicht-Zeigen?« wird erörtert, welche Gründe für ein NichtZeigen sprechen können. Aufschlussreich ist hierbei ein Blick auf die expliziteste Form des Zeigens: Schockfotos. Im darauffolgenden Unterkapitel werden die »Voraussetzungen des Nicht-Zeigens in der künstlerischen Fotografie« beleuchtet. Dabei ist besonders auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen einzugehen, die sich von denjenigen im Journalismus unterscheiden und die im musealen Raum ein Nicht-Zeigen ermöglichen. Das zweite Kapitel »Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse« situiert die Fotografie, anhand von drei ausgewählten Diskursen, zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen. Zunächst geht es um bildethische Fragestellungen, denen sich Susan Sontag aus kulturwissenschaftlicher Perspektive widmet. Der Vergleich ihrer zwei zentralen Publikationen zur Fotografie, »Über Fotografie« (1977) und »Das Leiden anderer betrachten« (2003), verdeutlicht die Ambivalenz im Umgang mit Bildern des Leids.15 Dabei gilt ein besonderes Interesse Sontags Skepsis gegenüber dem musealen Raum als Ort der Präsentation solcher Bilder. Das nächste Unterkapitel behandelt mit Philippe Dubois die pragmatische Dimension der Fotografie. Durch seine Analyse »Der fotografische Akt« (1983) wird deutlich,

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Siehe: Gottfried Boehm, Sebastian Egenhofer und Christian Spies (Hg.), Zeigen, Die Rhetorik des Sichtbaren, München 2010; Heike Gfrereis und Marcel Lepper (Hg.), Deixis – Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen 2007; Lambert Wiesing, Sehen lassen, Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013. Vgl. etwa: William J. T. Mitchell, siehe Fußnote 1. Sontag (2003), Über Fotografie (1977); Dies., Das Leiden anderer betrachten (Regarding the pain of Others, 2003), Frankfurt a.M. 2010.

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

dass Fotografien medienspezifisch immer zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen changieren und das auf allen Stufen des fotografischen Akts.16 Hier ist dann zu klären, inwiefern diese für Fotografien konstitutive Prämisse gezielt eingesetzt werden kann. Im dritten Unterkapitel werden die beiden vorangehenden Positionen durch den ästhetisch-politischen Ansatz von Jacques Rancière ergänzt, der seit den 1990er Jahren wichtige Texte zur Ästhetik publiziert hat. In »Der emanzipierte Zuschauer« (2008) hebt er hervor, dass Kunst und somit auch künstlerische Fotografie an der Aufteilung des Sinnlichen beteiligt sind.17 Diese Aufteilung wird durch verschiedene Formen der Sichtbarkeit generiert. In seiner Argumentation nehmen Werke von KünstlerInnen wie Alfredo Jaar und Sophie Ristelhueber, die auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit betrachtet werden, eine wichtige Rolle ein. Dabei stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Strategien des Nicht-Zeigens dissensuell wirken können. Eine abschließende Synthese beleuchtet, inwiefern trotz der unterschiedlichen Ausgangspunkte von Susan Sontag, Philippe Dubois und Jacques Rancière gleichwohl Gemeinsamkeiten in den erwähnten Ansätzen aufscheinen. Im dritten Kapitel »Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst« stehen dann künstlerische Fotografien und Installationen im Zentrum, die Themen wie Kriege, Genozide und politische Konflikte im musealen Raum rekontextualisieren. Anhand von konkreten Beispielen werden fünf Strategien des Nicht-Zeigens diskutiert. Zunächst wird Alfredo Jaars Installation Real Pictures (1995) im Unterkapitel »Narration als Strategie des Nicht-Zeigens« thematisiert, in der er sich mit dem ruandischen Genozid befasst. Anschließend geht es um metonymische Bilder in Sophie Ristelhuebers Fotoserie WB (2005), die im Kontext des Nahostkonflikts steht. Die Ellipsen in Nasan Turs Serie Clouds (2012–13) stehen im Zusammenhang mit verschiedenen politischen Konflikten, die weltweit zwischen 2005 und 2013 stattfanden. Schließlich werden mit Adam Broomberg & Oliver Chanarins The Day Nobody Died (2008) Abstraktion und mit Jeff Walls Dead Troops Talk (A vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986) (1992) Fiktion als Strategien des Nicht-Zeigens besprochen. Beide Werke befassen sich mit dem Afghanistankrieg. Ein Fazit und ein Ausblick schließen diese Arbeit ab.

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Philippe Dubois, Der fotografische Akt, Versuch über ein theoretisches Dispositiv (L’acte photographique, 1983), Amsterdam/Dresden 1998. Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer (Le spectateur émancipé, 2008), Wien 2009.

1. Nicht-Zeigen

1.1 Nicht-Zeigen als Zeigen 1.1.1

Zeigendes Nicht-Zeigen – nicht-zeigendes Zeigen

Was hat es mit dem Nicht-Zeigen auf sich? Kann man etwas nicht-zeigen? Kann ein Bild nicht-zeigen? Als Grundlage für die Strategien des Nicht-Zeigens ist in diesem Kapitel zu klären, worauf sich das »Nicht« im Nicht-Zeigen bezieht und in welcher Form und unter welchen Voraussetzungen ein solches »Nicht-Zeigen« möglich ist. Daneben soll betrachtet werden, welche Rolle spezifische Bildgattungen, wie Film oder Fotografie, für das Nicht-Zeigen spielen. Bisher wurde das Nicht-Zeigen – zum Teil auch als »NichtZeigen« oder »Nichtzeigen« bezeichnet – in einzelnen Sammelbänden und Aufsätzen behandelt.1 Unterscheiden lassen sich dabei zwei Kategorien: Zum einen gibt es bildwissenschaftliche Beiträge, die die Bedingungen bildlichen Zeigens und Nicht-Zeigens untersuchen und in denen das Nicht-Zeigen als Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit bildlicher Negation diskutiert wird.2 Zum anderen gibt es jene Beiträge, die – die Möglichkeit des Nicht-Zeigens als Form der bildlichen

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Die hier gewählte Schreibweise »Nicht-Zeigen« soll betonen, dass Nicht-Zeigen immer an ein Zeigen gebunden ist. Siehe: Christian Spies, Das Zeigen des Nicht-Zeigens, in: Monika Leisch-Kiesl, Max Gottschlich und Susanne Winder (Hg.), Ästhetische Kategorien, Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie, Bielefeld 2017: 215–233; Philipp Stoellger (Hg.), Un/Sichtbar, Wie Bilder un/sichtbar machen, Würzburg 2014: 1–19; Dieter Mersch, Ambiguitäten des Zeigens, Kleine Theorie monstrativer Praktiken, in: Katharina Sykora et al. (Hg.), Valenzen fotografischen Zeigens, Kromsdorf/Weimar 2016: 50–73.

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

Negation voraussetzend – das Nicht-Zeigen im konkreten künstlerischen3 oder kulturwissenschaftlichen4 Kontext behandeln, zum Beispiel mit dem Fokus auf Schockfotografie oder mit dem Schwerpunkt auf Fotografie im Kontext von Kolonialismus und Rassismus. Auf dieser Anwendungsebene stehen pragmatische Gesten des Nicht-Zeigens im Vordergrund. Es geht hier also um das Nicht-Zeigen als Handlung im Umgang mit Bildern, wobei Medienspezifika ebenso hineinspielen.5 Zwei Lesarten und damit Dimensionen des Nicht-Zeigens können so unterschieden werden: Das Nicht-Zeigen im Bild (bildlogisch) und das Nicht-Zeigen von und mit Bildern (bildpragmatisch).6 Während zu den pragmatischen Formen bildlicher Negation zahlreiche Beiträge vorliegen, beispielsweise Analysen zu Bildverboten und diversen Ikonoklasmen, gibt es bislang weit weniger Publikationen, die sich mit dem Nicht-Zeigen als Fähigkeit bzw. Unfähigkeit des Bildes zur Negation auseinandersetzen.7 Es bestand lange Zeit Konsens, dass der Modus bildlicher Präsentation das Zeigen ist und dass Bilder somit nicht zur Negation fähig sind.8 Heute hingegen lassen sich zwei antagonistische Positionen ausmachen, deren VertreterInnen – die Fachdisziplinen der Philosophie, Medienwissenschaft, Kunstge3

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Siehe: Wolfgang Brückle, Bilder, die nichts zeigen, Inszenierter Krieg in der künstlerischen Fotografie, in: Lars Blunck (Hg.), Die fotografische Wirklichkeit, Inszenierung, Fiktion, Narration, Bielefeld 2010: 85–102; Karen Fromm, Unsichtbarkeit des Rahmens oder die Lesbarkeit von Welt, in: Dieselbe, Sophia Greiff und Anna Stemmler (Hg.), Images in Conflict/ Bilder im Konflikt, Kromsdorf/Weimar 2018: 247–300. Siehe: Sykora et al. (Hg.), Valenzen fotografischen Zeigens (2016). Darin insbesondere die Aufsätze von Linda Hentschel, Steffen Siegel, Katharina Sykora; Peter Geimer, Bilder, die man nicht zeigt, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.07.2005, online: https://www.nzz.ch/artic leCX4CH-1.157136, zugegriffen am 24.01.2023; Ders., Fotos, die man nicht zeigt, Probleme mit Schockbildern, in: Katharina Sykora, Ludger Derenthal und Esther Ruelfs (Hg.), Fotografische Leidenschaften, Marburg 2006: 245–257; Ders., »Wir müssen diese Bilder zeigen« – Ikonographie des Äußersten, in: Harrasser, Macho und Wolf, (Hg.), Folter (2007): 119–132. Hier ließe sich auch an Lambert Wiesing anknüpfen, der das Zeigen als Handlung versteht, die von Menschen mit Bildern vollzogen werden könne, die aber nicht vom Bild selbst ausgehe. Vgl.: Wiesing, Sehen lassen (2013): 7, 13f. Ebenso können Bilder allerdings – und das klammert Wiesing aus – zum Nicht-Zeigen eingesetzt werden. Vgl.: Ludger Schwarte, Pikturale Evidenz, Zur Wahrheitsfähigkeit der Bilder, Paderborn 2015: 65. Vgl.: Lars Nowak, Bild und Negativität, Zur Einführung in die Problematik, in: Ders. (Hg.), Bild und Negativität, Würzburg 2019, (9–48): 9. Diesen Konsens über die Unfähigkeit des Bildlichen zur Negation kann man bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Vgl.: Emmanuel Alloa, Ikonische Negation, in: Lars Nowak (Hg.), Bild und Negativität, Würzburg 2019, (51–82): 61.

1. Nicht-Zeigen

schichte und Bildwissenschaft übergreifend – dem Bild die Fähigkeit zur Negation entweder zu- oder absprechen.9 Schon Ludwig Wittgenstein hat die Frage, ob »man denn ein Bild verneinen« könne, zunächst entschieden mit »Nein« beantwortet.10 So könne man zwar ein Bild eines küssenden Paares zeichnen, nicht aber das eines nicht-küssenden Paares.11 In der Tat könnte man ohne Weiteres jedes Bild eines Paares, das nicht küsst, zum Bild eines nicht-küssenden Paares erklären. Es leuchtet ein, dass das »Nicht« in diesem Fall völlig beliebig wäre und mithin keine Aussagekraft hätte. Zweifel an der Fähigkeit eines Bildes zur Verneinung wurden insbesondere angesichts dieser Unbestimmbarkeit des »Nicht« erhoben.12 Im Vergleich zur bestimmten sprachlichen Negation, durch welche das »Nicht« im 9

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Nelson Goodman spricht dem Bild die Fähigkeit zur Negation ab, während Flint Schier und Jan Westerhoff Argumente für bildliche Negation vorbringen. Siehe: Nelson Goodman und Catherine Z. Elgin, Revisionen, Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1989: 121; Jan Westerhoff, Logical Relations between Pictures, in: Journal of Philosophy CII/12 (Dezember 2005), (603–623): 619ff; Flint Schier, Deeper into Pictures, An Essay on Pictorial Representation, Cambridge 1986: 124f. In der deutschsprachigen bildwissenschaftlichen Debatte gehört Dieter Mersch zu jenen Stimmen, die dem Bild die Möglichkeit zur bestimmten Negation absprechen. Siehe: Dieter Mersch, Das Bild als Argument, in: Christoph Wulf und Jörg Zirfas (Hg.), Ikonologien des Performativen, München 2005, (322–344): 325ff; Ders., Zeigen – Etwas-Zeigen – Sichzeigen, in: Stefan Günzel und Dieter Mersch (Hg.), Bild, Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014, (312–318): 316ff; Ders., Die Zerzeigung, Über die ›Geste‹ des Bildes und die ›Gabe‹ des Blicks, in: Ulrich Richtmeyer, Fabian Goppelsröder, Toni Hildebrandt (Hg.), Bild und Geste, Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst, Bielefeld 2014, (25–44): 28; Martina Heßler und Dieter Mersch, Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken? In: Dieselben (Hg.), Logik des Bildlichen, Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, (8–62): 21ff. Mit Lars Nowak und Emmanuel Alloa und den weiteren Teilnehmenden der Tagung »Bild und Negativität« (Erlangen, 4.-6. April 2018) wurde jüngst das Lager jener Stimmen gestärkt, die die Möglichkeit bildlicher Negation bejahen. Siehe insbesondere: Alloa, Ikonische Negation (2019): 51–82; Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 9–48. Auch Ludger Schwarte bemerkt, dass mit Bildern und in Bildern negiert werden könne. Vgl.: Schwarte, Pikturale Evidenz (2015): 65. Ebenso hält es Gottfried Boehm, der davon ausgeht, dass das Zeigen als Modus bildlicher Präsentation mit Negation einhergeht. Vgl.: Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, die Macht des Zeigens, Berlin 2008: 68. Ludwig Wittgenstein, Notebooks, 1914–1916, herausgegeben von Georg Henrick von Wright und Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, New York 1961: 33 (Hervorhebung im Original, L. W.). Vgl.: Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Bd. 3, hg. v. Michael Nedo, Wien 1995: 56. Vgl.: Mersch, Ambiguitäten des Zeigens (2016): 70f.

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Wege des kontradiktorischen Ausschlusses klar bestimmbar ist und an welcher Wittgenstein und, in Anlehnung an ihn, auch Dieter Mersch, die Möglichkeit bildlicher Negation vornehmlich messen, kann das Bild – jedenfalls allein – eine vergleichbare Bestimmtheit des »Nicht« nicht erreichen.13 Bilder sollten allerdings nicht allein an der bestimmten, kontradiktorischen Negation gemessen werden. Ihnen sollte nicht generell, unter Verweis auf das Unvermögen das kontradiktorisch Negative darzustellen, die Möglichkeit zur Negation abgesprochen werden. Auch die Sprache kennt neben der kontradiktorischen Negation noch weitere Negationsformen, weshalb auch konträre Negationsbeziehungen berücksichtigt werden sollten, die dem Bild womöglich mehr liegen.14 Während kontradiktorische Gegensätze sich gegenseitig ausschließen (warm – nicht-warm), erlauben konträre Gegensätze (warm – kalt) unterschiedliche Nuancen, die sich gerade im Kontrast zeigen können.15 So gelangte auch Wittgenstein zu der Erkenntnis, dass man zwar »nicht das contradiktorische Negative« aber sehr wohl »das conträre zeichnen (d.h. positiv darstellen)« kann.16 Eines der Hauptargumente, um dem Bild die Fähigkeit zur Negation abzusprechen, sieht Mersch in der Affirmativität des Bildes.17 Merschs Einschätzung fußt auf Sigmund Freuds Studien zur Traumarbeit, die sich durch Verdichtung und Verschiebung und nicht zuletzt die Rücksicht auf Darstellbarkeit auszeichnet und sich daher weniger zur Negation eignet.18 Die Affirmativität des Bildes drücke sich in der »Nichthypothetizität des Sichtbaren« aus.19 Selbst noch in negierenden Prozessen scheine nämlich die »affirmative Struktur« des Bildes auf.20 Mersch illustriert dies am Beispiel von Robert Rauschenbergs Era-

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Vgl.: Alloa, Ikonische Negation (2019): 73. Mit Rekurs auf den späten Wittgenstein räumt Mersch die Möglichkeit von präzisen Negationen im Zusammenspiel von Text und Bild ein. Vgl.: Mersch, Ambiguitäten des Zeigens (2016): 69. Vgl.: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 11, 14. Siehe zum Kontrast als »Schlüsselphänomen« visueller Wahrnehmung: Gottfried Boehm, Dunkles Licht, Über ikonische Negation, in: Markus Gabriel, Wolfram Hogrebe und Andreas Speer (Hg.), Das neue Bedürfnis nach Metaphysik, The New Desire for Metaphysics, Berlin/Boston 2015, (239–259): 249. Wittgenstein, Bemerkungen (1995): 56. Vgl.: Mersch, Das Bild als Argument (2005): 325f. Zur Traumarbeit siehe: Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. II, Die Traumdeutung, Frankfurt a.M. 1968: 283ff. Heßler und Mersch, Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken? (2009): 21f. Mersch, Das Bild als Argument (2005): 326 (Hervorh. im Orig., D. M.).

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sed de Kooning Drawing (1953). Rauschenberg hatte eine Zeichnung seines Kollegen erworben und nach der Bearbeitung mit einem Radiergummi die ausradierte Zeichnung de Koonings als sein Werk präsentiert. Mersch verweist darauf, dass selbst im Akt der Wegnahme noch etwas Neues sichtbar werde.21 Dabei ist problematisch, dass in diesem Fall »Setzung mit Affirmation« gleichgesetzt wird.22 Die ausradierte Zeichnung schafft zwar offensichtlich eine neue Tatsache, damit affirmiert sie allerdings höchstens sich selbst und macht deutlich, dass eine Negation immer eine Reaktion auf bereits Gegebenes ist. Oder, wie es Emmanuel Alloa unter Verweis auf Émile Benveniste formuliert: »Ikonische Negationen zeigen, was der Negation schlechthin zukommt, nämlich dass sie […] nur dasjenige verneinen kann, was als bereits im Voraus gesetzt erscheint.«23 Es ist nämlich so, dass sich das NichtZeigen auch in Rauschenbergs Erased De Kooning Drawing als an das Zeigen gebunden äußert.24 Auch das Nicht-Zeigen funktioniert immer nur über ein Zeigen.25 Damit Nicht-Zeigen möglich ist, muss etwas sichtbar sein, sonst würde schlichtweg nichts gezeigt.26 Als Grundlage für die Strategien des Nicht-Zeigens werden im Folgenden verschiedene Formen bildlicher Negationen betrachtet.27 Angesichts der Schwerpunktsetzung dieser Arbeit auf Fotografie, konzentriert sich die Darstellung dabei auf die Möglichkeiten bildlicher Negation, die für die Strategien des Nicht-Zeigens in diesem Bereich entscheidend sind. Ausgeklammert bleiben daher an dieser Stelle Piktogramme und Diagramme, wenngleich in der Forschung zur ikonischen Negation Einigkeit darüber besteht, dass

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Vgl.: Ebenda: 326. Alloa, Ikonische Negation (2019): 72. Ebd. Mit den Worten Boehms: »Das Minus der Negation verschränkt sich mit dem Plus der Affirmation und begründet die Evidenz der Darstellung.« Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen (2008): 68. Vgl.: Spies, Das Zeigen des Nicht-Zeigens (2017): 218. Philipp Stoellger bemerkt, dass ein Bild »sich nicht nicht zeigen kann« und wäre es bloße »Absenz« wäre es kein Bild. Philipp Stoellger, Entzug der Präsenz – Präsenz im Entzug, Ambivalenzen ikonischer Performanz als Grund von Ikonoclashs, in: Ders. und Thomas Klie (Hg.), Präsenz im Entzug, Ambivalenzen des Bildes, Tübingen 2011, (1–41): 5 (Hervorh. im Orig., P. S.). Die Darstellung orientiert sich insbesondere an den von Nowak und Alloa gewählten Kategorisierungen. Siehe: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 9–48; Alloa, Ikonische Negation (2019): 51–82.

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diese eine Form bildlicher Negation darstellen.28 Grundlegend ist zwischen konstitutiven und fakultativen bildlichen Negationen zu unterscheiden.29

1.1.2 Formen bildlicher Negation Konstitutive bildliche Negationen Unter die Gruppe der konstitutiven Negation sind jene Formen bildlicher Negation zu fassen, die dem Bild eigen sind und von diesem »vollzogen werden müssen«.30 Eine grundsätzliche konstitutive Negation kann bereits auf Ebene der ikonischen Differenz zwischen Sichzeigen und Etwas zeigen ausgemacht werden, also bei der Unterscheidung der formalästhetischen von der inhaltlichen Ebene des Bildes. Günter Figal verweist mit Blick auf gegenständliche Malerei darauf, dass man sich nicht gleichzeitig auf den Pinselstrich und auf das, was er darstellt, konzentrieren könne.31 Der Fokus auf das Eine bedeutet die Negation des jeweils anderen. Bei der Betrachtung des Bildes wechselt der Blick allerdings zwischen diesen Ebenen hin und her. Gottfried Boehm hat auf diese Negativbeziehung mehrfach hingewiesen.32 Auch die Beziehung zwischen Figur und Grund des Bildes basiert auf einer Differenz, die Negation ermöglicht.33 Die Figur negiert den Grund, auf dem sie 28

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Vgl.: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 15ff. Vgl.: Alloa, Ikonische Negation (2019): 62. Siehe zur Diagrammatik insbesondere: Steffen Bogen, Schattenriss und Sonnenuhr: Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 68, H.2, 2005: 153–176; Ders. und Felix Thürlemann, Jenseits der Opposition von Text und Bild, Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen, in: Alexander Patschovsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore, Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003: 1–22; Astrit SchmidtBurkhardt, Wissen als Bild, Zur diagrammatischen Kunstgeschichte, in: Heßler und Mersch (Hg.), Logik des Bildlichen (2009): 163–187. Diese Unterscheidung geht auf Nowak zurück. Siehe: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 19ff. Ebd.: 19 (Hervorh. im Orig., L. N.). Figal macht diese Differenz anhand des Gemäldes Santa Maria della Salute (1729–39) von Canaletto deutlich. Vgl.: Günter Figal, Bildpräsenz, Zum deiktischen Wesen des Sichtbaren, in: Boehm, Egenhofer und Spies (Hg.), Zeigen (2010), (55–72): 58ff. Vgl.: Gottfried Boehm, Ikonische Negation, in: Ders., Wie Bilder Sinn erzeugen (2008): 67ff; Ders., Die ikonische Negation, in: Ludwig Jäger (Hg.), Medienbewegungen: Praktiken der Bezugnahme, München 2012, (211–223): 221ff; Ders., Dunkles Licht (2015): 256ff. In diesem Sinne konstatiert Boehm: »Die Figur subtrahiert den Grund, sie führt ein Moment der Negation mit sich.« Boehm, Ikonische Negation, in: Ders., Wie Bilder Sinn erzeugen (2008): 68 (Hervorh. im Orig., G. B.).

1. Nicht-Zeigen

erscheint. Boehm entwickelte schließlich die These, dass Deixis auf Negation beruht.34 Aus der ikonischen Differenz wird also ikonische Negation.35 Eine weitere Negation, die für das Bild konstitutiv ist, sehen Christoph Asmuth und Reinhard Brandt in der Differenz zwischen Bild und Referenz, Bild und Welt.36 Ein Bild ist nicht das, was es zeigt und indem es sich zeigt wird etwas anderes gleichsam nicht gezeigt, der Referent oder zum Beispiel auch die Wand, an der es hängt.37 Bilder zeigen außerdem immer nur ihre Vorderseite, sowie eine bestimmte Ansicht des in ihnen Dargestellten.38 Damit sind zwei bildspezifische Leer- und Unbestimmtheitsstellen bestimmt. Roman Ingardens Konzept der Leer- und Unbestimmtheitsstellen, das dieser zunächst für Texte entwickelte, erweist sich demnach auch für Bilder als fruchtbar.39 Zu den konstitutiven Negationen zählen daher auch »Elision und Exklusion«40 , also der Ausschluss von Elementen oder Teilen von Elementen innerhalb des Bildfeldes und der Ausschluss des Umfeldes durch die Begrenzung des Bildfeldes. Die Negationsformen der Elision und der Exklusion können aber auch gezielt eingesetzt werden, weshalb sie im Folgenden unter fakultativen Negationsformen genauer beleuchtet werden sollen. Wie wir anhand der Aufzählung konstitutiver bildlicher Negationen bereits erkennen können, ist das Nicht-Zeigen Bildern also inhärent. Es bedarf

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Vgl.: Boehm, Die ikonische Negation (2012): 221. Vgl.: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 37. Siehe: Christoph Asmuth, Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder, Eine neue Theorie der Bildlichkeit, Darmstadt 2011: 125ff.; Reinhard Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes, Sehen und Erkennen – Vom Spiegel zum Kunstbild, München 1999: 101ff. Vgl.: Victor I. Stoichita, Das selbstbewußte Bild, vom Ursprung der Metamalerei (L’instauration du tableau, 1989), München 1998: 47. Vgl.: Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen (2008): 210. Vgl.: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 21. Siehe: Roman Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, Musikwerk – Bild – Architektur – Film, Tübingen 1962: 142ff., 238; Wolfgang Iser, Negation, in: Ders. (Hg.), Der Akt des Lesens, Theorie ästhetischer Wirkung, München 1994: 327ff; Hans Dieter Huber, Bild – Beobachter – Milieu, Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, Ostfildern-Ruit 2004: 72ff., 81ff; Wolfgang Kemp, Verständlichkeit und Spannung, Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992: 253–278; Fabienne Liptay, Leerstellen im Film, Zum Wechselspiel von Bild und Einbildung, in: Thomas Koebner und Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München 2006: 108–134. Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 25ff.

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daher »eines doppelten Blicks«41 auf Strategien des Nicht-Zeigens, nämlich einen, der das Zeigen und das Nicht-Zeigen betrachtet. Damit geht eine aktive BetrachterInnen Rolle einher, denn gerade durch die Füllung von Unbestimmtheitsstellen, die aus Negationen hervorgehen, werden die BetrachterInnen zu »Koproduzenten«42 der dadurch evozierten subjektiven impliziten Bilder. Oder wie es Ludger Schwarte formuliert: »Die imaginative Leistung des Betrachters baut auf den Negationen des Bilddinges auf.«43 Neben den eben erwähnten phänomenologischen Negationen, die die Wahrnehmung von Bildern betreffen und damit konstitutiv sind, gibt es auch fakultative Negationen, die auf die Bildpragmatik und die Semiotik abzielen. Fakultative bildliche Negationen Unter die Gruppe der fakultativen Negation können all jene Formen gefasst werden, die dem Bild nicht zwangsläufig eigen sind, sondern vom ihm »vollzogen werden können«.44 Insbesondere sie können strategisch zum Zwecke des Nicht-Zeigens zum Einsatz gebracht werden und sind daher in besonderem Maße für die Strategien des Nicht-Zeigens relevant. Zu den fakultativen Negationen sind, wie bereits erwähnt, Elision und Exklusion zu zählen, wenn diese zielgerichtet eingesetzt werden. Die verschiedenen Bildgattungen und -medien spielen hierbei eine wichtige Rolle, da technische Bilder jeweils eine spezifische Form des Ausschlusses vornehmen. Fotografische und filmische Bilder zeigen jeweils Ausschnitte aus einem raumzeitlichen Kontinuum, womit medienspezifische Möglichkeiten und Bedingungen in Bezug auf Exklusion und Elision einhergehen.45 Zudem kann es durch nachträgliche Bearbeitungen zu Elisionen kommen, etwa durch Verdeckungen auf der Ebene des Bildträgers und oder des Bildinhalts, wie sie beispielsweise der Künstler Ken

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Stoellger verweist auf diesen »doppelten Blick«, da Bilder zugleich etwas sichtbar machen und etwas verdecken. Stoellger, Un/Sichtbar (2014): V. Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 40. Siehe auch: Huber, Bild – Beobachter – Milieu (2004): 84 (Hervorh. im Orig.). Die Konkretisierung der Leserposition durch Negationen thematisiert bereits Iser in Bezug auf Leerstellen im Text. Vgl.: Iser, Der Akt des Lesens (1994): 337. Schwarte, Pikturale Evidenz (2015): 65. Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 19 (Hervorh. im Orig., L. N.). Zur filmischen Leerstelle siehe: Liptay, Leerstellen im Film (2006): 108–134; Zur Ausschnitthaftigkeit des fotografischen Bildes siehe das Kapitel zu Philippe Dubois in dieser Arbeit (Kapitel 2.2).

1. Nicht-Zeigen

Gonzales-Day für die Serie Erased Lynchings (2002–2017) vorgenommen hat.46 Dabei hat er die Leichen von Lynchopfern, die auf sogenannten Lynching Postkarten abgebildet wurden, digital entfernt und die Fotografien mittels Kontrastverschiebung so manipuliert, dass die anwesenden weißen VoyeuristInnen selbst quasi zu Leichen werden. Zurück bleiben die Tatorte in den US-amerikanischen Südstaaten mit den Schaulustigen, die versammelt um eine leere Mitte umso deplatzierter wirken. Ähnlich geht auch Alfredo Jaar in The Gift vor, wenn er die Leiche Alan Kurdis eliminiert. Die Exklusion als Form der Negation wird im Kapitel »Ellipse als Strategie des Nicht-Zeigens« näher betrachtet.47 Des Weiteren zählen Fiktion und Abstraktion zu den fakultativen bildlichen Negationen. Als »semiotische« Negationen betreffen sie das Verhältnis der Bildobjekte zu realen Gegenständen.48 Zunächst bleibt festzustellen, dass beide Bildphänomene als Negationsformen betrachtet werden können.49 Sowohl fiktionale als auch abstrakte Bilder entbehren der Fremdreferenz, wenn sie wie in der Fiktion frei fingieren und sich in der Abstraktion auf sich selbst beziehen, worauf ich in den Kapiteln zu Fiktion und Abstraktion als Strategien des Nicht-Zeigens noch näher eingehen werde.50 Die Kategorie der »interpiktorialen«51 Negation umfasst die Fälle, bei denen andere Bilder negiert werden. Dabei kann auch »Nicht-Bildliches« (wie reale Personen oder Ereignisse) negiert werden, wofür Alloa zusätzlich den Begriff »extrapiktorial« einführt.52 Die interpiktoriale Negationsform wird im Kapitel »Metonymie als Strategie des Nicht-Zeigens« vorgestellt.53 Hier bezieht sich das Nicht-Gezeigte auf weitere Bilder, wie sie beispielsweise auch in der Parodie oder der Travestie unter Transformation eines Vorbilds evoziert

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Zu der Serie von Gonzalez-Day als Form ikonischer Negation siehe: Jan Mollenhauer, Drehen, Wenden, Senden, in: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 295–310. Siehe Kapitel 3.4 dieser Arbeit. Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 30. Vgl.: Ebd.: 30. Zur Abstraktion in Verbindung mit Negation am Beispiel des Fotogramms siehe: Geoffrey Batchen, In Absentia, The Politics of the Cameraless Photograph, in: Sykora et al. (Hg.), Valenzen fotografischen Zeigens (2016): 190–203. Siehe Kapitel 3.5 und 3.6 dieser Arbeit. Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 32ff. Alloa, Ikonische Negation (2019): 65. Siehe Kapitel 3.3 dieser Arbeit.

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werden können.54 Unter diese Kategorie fällt auch Ai Weiweis Mimikry von Alan Kurdi am Strand.55 Außer anderen Bildern, können Bilder auch Äußerungen negieren, die mittels anderer Medien vorgenommen wurden, was Nowak als »intermediale«56 Negation bezeichnet. Die meisten bildlichen Negationen sind dieser Kategorie zuzuordnen, da sie durch die Betitelung häufig mit einem TextBild-Verhältnis arbeiten.57 Die intermediale Negation kann über dieses TextBild-Verhältnis hinausgehen, wenn – wie bei der Strategie der Narration – installativ vorgegangen wird und bisweilen Bild, Text und Raum sinnstiftend eingesetzt werden. Nowak nennt noch die Kategorie »autoreferenzieller«58 Negation, die von Alloa auch als »medial« oder »ontologisch« bezeichnet wird.59 Dabei bezieht sich die Negation auf das Bild selbst, was bis zur Thematisierung des Bildlichen an sich reichen kann, wie beispielsweise in der Form von »Metabildern«60 . Zwischen den genannten Kategorien gibt es zahlreiche Überschneidungen. So können zum Beispiel fotografische Abstraktionen in Form von Foto- und Luminogramm auch als autoreferenzielle, mediale oder ontologische Negationen eingestuft werden, was im Kapitel »Abstraktion als Strategie des Nicht-Zeigens« noch eingehend behandelt wird.61 Bis hierhin konnte geklärt werden, dass das Nicht-Zeigen im und mit Bildern an ein Zeigen gebunden ist. Es lassen sich konstitutive und fakultative Negationen unterscheiden. Erstere sind dem Bild inhärent, letztere können strategisch zum Einsatz kommen und sind daher für die Analyse der Strategien des Nicht-Zeigens im Hauptteil wichtig. Eine andere Frage ist, ob und inwieweit von den bestehenden Möglichkeiten etwas Nicht-Zeigen zu können, Gebrauch gemacht werden sollte. Warum

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Zur parodistischen Negation siehe auch: Alloa, Ikonische Negation (2019): 65ff. Siehe Einleitung und Abb. 4. Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 35. Vgl.: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019): 35. Ebd.: 32ff. Medial sind solche Negationen, die die Medialität des Bildes selbst betreffen. Ontologische Negationen sind eine Steigerung in dem Sinne, dass Bildlichkeit an sich thematisiert, beziehungsweise in Frage gestellt wird. Ebd.: 32ff; Alloa, Ikonische Negation (2019): 68, 69f. Vgl.: Alloa, Ikonische Negation (2019): 70. Der Begriff »Metabild« geht auf Mitchell zurück und bezeichnet jene Bilder, die dazu dienen »über das Wesen von Bildern zu reflektieren«. William J. T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008: 199. Siehe Kapitel 3.5 dieser Arbeit.

1. Nicht-Zeigen

sollte man sich Formen des Nicht-Zeigens bedienen? Alle Fallbeispiele, die in Kapitel 3 »Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst« besprochen werden, eint, dass sie mit Fotografie arbeiten und sich mit Themen wie Kriegen, Genoziden und politischen Konflikten auseinandersetzen. Erfordern diese Themen und die Bilder, die mit ihnen in Verbindung stehen, einen vorsichtigen und damit vielleicht sogar vorbildlichen Umgang, der sich in einem Nicht-Zeigen äußern kann, insbesondere wenn sie im künstlerischen Kontext auftauchen? Warum stellt sich gerade bei Fotografien die Frage des Nicht-Zeigens? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

1.2 Warum Nicht-Zeigen? 1.2.1 Das repräsentative Potential der Fotografie In den letzten Jahren seines Schaffens hat der Maler Balthasar Kłossowski de Rola, genannt Balthus, über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren die minderjährige Anna Wahli als Modell für seine Malerei lasziv in Pose gesetzt und dies in über 2000 Polaroids festgehalten. Die Fotografien ersetzten in dieser späten künstlerischen Phase händische Skizzen, zu denen sich der betagte Maler nicht mehr im Stande sah.62 Während die Malereien dieser Sitzungen weltweit in Sammlungen und Ausstellungen gezeigt werden63 , wurde in Bezug auf die Polaroids der Vorwurf der Pädophilie erhoben. Dies stellte den Direktor des Museums Folkwang in Essen, Tobia Bezzola, bezüglich der Fotos, vor die Entscheidung: Zeigen oder nichts Zeigen. Die Frage des Zeigens oder Verbergens von Bildern stellt sich gerade in Bezug auf die Fotografie. Die fotografische Abbildung eines Ereignisses trifft, ir-

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Vgl.: Valérie Loth, Die Frage der Fotografie, in: Evelyn Benesch und Cécile Debray (Hg.), Balthus, Balthasar Kłossowski De Rola, Ausst.-Kat., Heidelberg/Berlin 2016, (216–221): 216f. So widmeten jüngst die Fondation Beyeler in Riehen (02.09.2018-01.01.2019) und die Thyssen-Bornemisza Museo Nacional in Madrid (19.02.2019-26.05.2019) dem Maler eine Retrospektive, allerdings unter Ausschluss der Polaroids. Für weitere Informationen siehe: O. A., Fondation Beyeler, Balthus, online: https://www.fondationbeyeler.ch/fr/e xpositions/expositions-precedentes/balthus, zugegriffen am 24.01.2023; O. A., Museo Thyssen, Balthus, online: https://www.museothyssen.org/en/exhibitions/balthus, zugegriffen am 24.01.2023.

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ritiert und schockiert häufig mehr, als seine Darstellung in einem Gemälde.64 Dies gilt in Bezug auf die Darstellung des minderjährigen Modells von Balthus, ebenso wie in Bezug auf Darstellungen von Gewalt, Krieg, Terror und Elend. Selbst die Darstellung größten Elends und furchtbarster Akte von Gewalt im Gemälde, so realistisch sie auch sein mag, wird häufig als erträglicher empfunden; Zeigen wird eher als legitim und der Betrachterin oder dem Betrachter zumutbar erachtet, als die fotografische Darstellung. Doch woran liegt dies? In seiner Begründung, die Fotografien Balthus’ schließlich nicht zu zeigen und die für 2014 geplante Ausstellung zum Stellenwert der Fotografie in Balthus’ Werk abzusagen, ging Bezzola hierauf ein: »Die Fotografie wird nach wie vor als eine exakte Abbildung der Wirklichkeit betrachtet. Als reines Faktum. Die Wahrheit. Mit der Malerei können sie nach Belieben alle erotischen Inhalte legitimieren. Nicht mit dem Foto.«65 Was im Gemälde bis »ins Allegorische entrückt« erscheine, werde in den Polaroids »unmittelbar«, kommentierte Hanno Rauterberg seinerzeit für die ZEIT.66 Ein offensichtlicher Unterschied zwischen der Fotografie und dem gemalten Bild besteht zunächst darin, dass hinter den Fotografien – lassen wir Bildmanipulationen außen vor – stets reale Individuen stehen, die leben oder gelebt haben und das Fotografierte genau so erlebt haben. Betrachten wir hingegen ein gemaltes Bild, so kann zwar auch hier eine reale Person, ein reales Ereignis, das Modell beziehungsweise die Vorlage gewesen sein, aufgrund der ästhetischen Distanz der Darstellung könnten wir jedoch nicht ohne Weiteres davon ausgehen. Susan Sontag hob diese Unterscheidung zwischen Malerei und Fotografie am Beispiel der Wiedergabe der Kriegsgräuel französischer Soldaten in Spanien in den Radierungen Desastres de la Guerra von Goya aus dem 19. Jahrhundert und von Fotografien oder Filmaufnahmen von Kriegen hervor:

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Wenngleich selbstverständlich außer Frage steht, dass auch gemalte Darstellungen die Betrachtenden treffen, aufwühlen und zu Kontroversen führen können. Bezzola nach Loth. Loth, Die Frage der Fotografie (2016): 218. Auch die Darstellung von jugendlicher Erotik in Balthus’ Gemälden wird derweil kritisiert. Vgl.: Eileen Kinsella, The Met Says ›Suggestive‹ Balthus Painting Will Stay After Petition for Its Removal Is Signed by Thousands, in: Artnet, 05.12.2017, online: https://news.artnet.com/art-world/met-m useum-responds-to-petition-calling-for-removal-of-balthus-painting-1169105, zugegriffen am 24.01.2023. Hanno Rauterberg, Kein Balthus in Essen, in: ZEIT, Nr. 7/2014, online: https://www.zeit. de/2014/07/paedophilie-debatte-maler-balthus, zugegriffen am 24.01.2023.

1. Nicht-Zeigen

Goyas Bilder bilden eine Synthese. Ihr Anspruch lautet: solche Dinge sind geschehen. Im Gegensatz dazu erhebt ein einzelnes Foto oder eine Filmaufnahme den Anspruch, genau das wiederzugeben, was sich vor dem Objektiv abgespielt hat. Von Fotos erwartet man, dass sie zeigen, nicht andeuten.67 Zeigt eine Fotografie und nicht ein gemaltes Bild ein traumatisches Erlebnis oder gewaltsames Ereignis, ist die Wirkung – so realistisch das gemalte Bild auch sein mag – umso frappierender, denn, ausweislich des Fotos, scheint es genau so gewesen zu sein. Wäre die Fotografie nicht in dieser Weise an die Wirklichkeit gebunden, so würde sich die Frage, ob man Fotografien zeigen oder verbergen sollte, wohl gar nicht stellen. Es ist auch dieses repräsentative Potential der Fotografie, das für die Entscheidung zwischen Zeigen oder Verbergen eine wichtige Rolle spielt und deshalb im Folgenden genauer betrachtet werden soll.68 Seit ihrer Frühzeit in den 1830er und 1840er-Jahren werden die Metaphern des Abdrucks, der Spur oder des Index herangezogen, um die Fotografie zu beschreiben.69 Es ist zunächst die Besonderheit ihrer Entstehung, die diese Verbindung zwischen Fotografie und Wirklichkeit, zwischen Abbild und Referent, ermöglicht, die in Anlehnung an Charles Sanders Peirce auch Roland Barthes betont.70 Er sieht in der Fotografie die »Emanation des vergangenen Wirklichen«71 und bestimmt als ihr »Noema« das »Es-ist-so-gewesen« oder auch: »das UNVERÄNDERLICHE«.72 Das repräsentative Potential der Fotografie, als »ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild«, liegt denn auch darin begründet, dass sich

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Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 56 (Hervorh. im Orig., S. S.). Vgl. auch Peter Geimer, der die Frage stellt, was der Disput über das Zeigen oder Nichtzeigen von Fotos über deren medienspezifische Qualität verrät. Peter Geimer, Das Bild als Spur, in: Dietmar Eberle (Hg.), Reflexion und Abbild, Shigeru Ban, Olafur Eliasson, Peter Geimer, Friedrich Kittler, Architekturvorträge der ETH Zürich, Zürich 2007, (44–67): 65. Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 47. Vgl.: Ders., Theorien der Fotografie, Hamburg 2009: 156. Die Studien zum fotografischen Index bauen auf der semiotischen Trias Ikon, Index, Symbol von Charles Sanders Peirce auf, der die Fotografie insbesondere zur Kategorie von Zeichen des Index allerdings auch des Ikons gezählt hat. Siehe: Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. und übersetzt von Helmut Pape, Frankfurt a.M. 1983: 64–67. Roland Barthes, Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie (La chambre claire, Note sur la photographie, 1980), Frankfurt a.M. 2012: 99 (Hervorh. im Orig., R. B.). Ebd.: 87 (Hervorh. im Orig., R. B.).

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eine vorbildliche Gegenwart zum Zeitpunkt der Aufnahme so dargestellt haben muss.73 Aufgrund ihrer mechanischen Herstellung galt die Fotografie früh als Inbegriff von Objektivität, da sie vermeintlich wahrheitsgetreue und natürliche Abbildungen lieferte. Aus ihrem Entstehungsprozess wurden Qualitäten wie Authentizität und Evidenzkraft abgeleitet, war doch nicht mehr eine Hand, die einen Pinsel oder einen Stift führt, sondern eine Maschine und ihre chemischtechnischen Komponenten für das Ergebnis verantwortlich. Damit ging zugleich eine Ökonomisierung der Aufzeichnung einher. Schon die frühen Pioniere der Fotografie, wie William Henry Fox Talbot oder Oliver Wendell Holmes, betonten Mitte des 19. Jahrhunderts diese Aspekte des raschen Aufzeichnens und der Wirklichkeitstreue der Fotografie.74 Hier ist eben »Der Zeichenstift der Natur« selbst am Werk, wie Talbot in seinem gleichnamigen Buch zu den Anwendungsbereichen der Fotografie herausstellt:75 Der Detailreichtum einer fotografischen Aufzeichnung wie Tafel III Gegenstände aus Porzellan (Abb. 4), die alles neutral und auf einmal erfasse, ermögliche, dass sie vor Gericht als Beweis eingesetzt werden könne.76 Die Beweiskraft des fotografischen Bildes betonte auch Oliver Wendell Holmes in Bezug auf zwei Menschen, die in einer Landschaftsaufnahme des Table Rock lediglich als Miniaturen auftauchen: »Wenn Sie sich die Gesichter mit einer starken Lupe ansähen, könnten Sie deren Besitzer identifizieren, falls sie Ihnen in einem Gerichtssaal begegneten.«77 Aufgrund der Beweisqualität fotografischer Bilder begann der Siegeszug der Fotografie auch in der Kriegsberichterstattung, wo sie die Aufgabe der Dokumentation übernahm, die zuvor der Malerei zugekommen war. Man schätzte an der Fotografie

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Ebd.: 126 (Hervorh. im Orig., R. B.). Dies mag heute fast naiv anmuten. Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 54. William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature, London 1844. Talbots »Zeichenstift« ist eines der ersten Bücher über Fotografie, das deren Anwendungsbereiche anhand von 24 exemplarischen Abbildungen darlegt. Das Buch erschien in mehreren Lieferungen zwischen 1844–46. Vgl.: Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, München 2006: 34. Vgl.: William Henry Fox Talbot, Tafel III, Gegenstände aus Porzellan, aus: Der Zeichenstift der Natur (1844), in: Bernd Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2012 (161–167): 164f. Oliver Wendell Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph (1859), in: Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart, 2012 (34–43): 37.

1. Nicht-Zeigen

die Fähigkeit ein scheinbar objektives Bild zu liefern, das das Geschehen unverfälscht wiedergeben konnte.

Abb. 4: William Henry Fox Talbot, Gegenstände aus Porzellan, Der Zeichenstift der Natur, Tafel III, 1843, Salzpapierabzug, 15,2 x 20,3 cm, Metropolitan Museum, New York.

Der Eingriff des Fotografen oder der Fotografin spielte in der Fotografie jedoch seit jeher eine entscheidende Rolle und Manipulation und Fiktion hielten von Beginn an Einzug in die Fotografie. So sahen schon die Betrachtenden von Talbots Fotografie eines Bücherregals mitnichten »A scene in a library«, wie es der Titel verspricht, sondern eine Fotografie des Bücherregals, die für bessere Lichtverhältnisse, unter freiem Himmel aufgenommen worden war.78 Ähnlich bezeugen auch frühe Kriegsfotografien von Roger Fenton aus dem Krimkrieg (1853–56) etwa, dass es mit der gepriesenen objektiven Wiedergabe der vorgefundenen Realität oft nicht weit her war. Seine Aufnahmen sind teilweise inszeniert. So existiert die berühmte Fotografie Valley of the Shadow of Death in zwei Versionen (Abb. 5 und 6). Die Eine zeigt eine große Anzahl von Kanonen-

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Bei A scene in a library handelt es sich um Tafel VIII aus »Der Zeichenstift der Natur«. Vgl.: Jeff Rosenheim im Gespräch mit Donatien Grau. Donatien Grau, After the Crisis, Contemporary States of Photography, Zürich 2019: 186f.

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kugeln, die im Straßengraben verstreut herum liegen. Die Andere zeigt eben diese Kugeln, allerdings auf dem Weg verteilt.

Abb. 5: Roger Fenton, The Valley of the Shadow of Death, 1854–55, Salzpapierabzug, 25,5 × 34,4 cm, Victoria and Albert Museum, London. Abb. 6: Roger Fenton, The Valley of the Shadow of Death, 1856, Salzpapierabzug, 28,4 × 35,7 cm, Musée d’Orsay, Paris.

Lagen nun die Kugeln zunächst im Straßengraben oder mitten auf dem Weg? Allein anhand der Fotografien könnte man nicht ausmachen, welches Szenario von Fenton so vorgefunden und welches inszeniert wurde. Eine Tatsache kann jedoch keine der beiden Fotografien leugnen, weder die unverfälschte noch die inszenierte: Im Moment der jeweiligen Aufnahme ist es genau so gewesen. Über den Moment, der im Bild sichtbar wird, lässt die Fotografie keine eindeutigen Aussagen zu, weder über das Davor oder das Danach, noch über die Qualität der dargestellten Szene, also ob sie echt oder manipuliert ist.79 Fotografien sind ihrem Wesen nach lückenhaft, sie zeigen stets lediglich einen Ausschnitt. Diese Lücken- und Ausschnitthaftigkeit ist bei der Betrachtung der Fotografie stets zu berücksichtigen, einschließlich der Möglichkeit des Eingriffs und der Manipulation. Auch insoweit bedarf es also »eines doppelten Blicks«80 , der über das Gezeigte hinausgeht und das Nicht-Gezeigte miteinschließt. 79 80

Vgl.: Silke Helmerdig, Fragments, Futures, Absence and the Past, a new approach to photography, Bielefeld 2016: 148. Stoellger, Un/Sichtbar (2014): V.

1. Nicht-Zeigen

Die Digitalisierung hat die Möglichkeiten der Bildbearbeitung noch erleichtert. Dass Bilder digital leicht verändert und manipuliert werden können, zeigen Skandale über visuelle Fake News. Ein Beispiel sind die Fotografien des Magnum Fotografen Steve McCurry, der seine Motive wiederholt mit Bildbearbeitungsprogrammen manipuliert hat, ohne dies zu kennzeichnen, wie es im journalistischen Kontext erforderlich gewesen wäre.81 Dennoch ändert auch der durch die digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten potenzierte »ontologische Zweifel«82 nichts an dem Umgang mit Fotografien, der weiterhin auf ihrem Wirklichkeitsbezug basiert.83 Nach wie vor werden fotografische Bilder dazu verwendet, um zu zeigen, dass etwas so gewesen ist. In der Tat schlagen wir noch immer unsere Zeitungen auf und schalten unsere Fernseher ein und schenken den Bildern ungeachtet der uns bekannten Manipulationsmöglichkeiten Vertrauen.84 Trotz ihrer Lückenhaftigkeit und Manipulierbarkeit werden Fotografien noch immer als Abbild des unmittelbar Realen betrachtet.85 Deshalb vermögen sie uns auch in einer Weise zu treffen, die eine andere Qualität hat, als die Wirkung der Darstellung in Gemälden, deren Gemachtheit in den meisten Fällen sofort erkennbar ist. Dieser Aspekt spielt auch im Kontext von Schockfotografien eine wichtige Rolle.

1.2.2 Schockfotos – Evidenz, Überwältigung, Ambivalenz Schockfotos, die den Schrecken explizit und unmittelbar zeigen, setzen die Evidenzkraft des Fotografischen gezielt ein, ist doch das, was schockiert und erschüttert nicht allein die Brutalität oder das unermessliche Ausmaß des Leids und Elends des explizit Gezeigten. Es ist vor allem der Umstand, dass die Fotografie den Betrachtenden suggeriert, es sei so gewesen, so grausam, so brutal, so furchtbar.

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So fordert der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands Michael Konken, dass bearbeitete Pressefotos als solche gekennzeichnet werden sollten. Über das Wie dieser Kennzeichnung herrscht international noch Uneinigkeit. Vgl.: Konken nach Büllesbach. Alfred Büllesbach, Digitale Bildmanipulation und Ethik, Aktuelle Tendenzen im Fotojournalismus, in: Elke Grittmann, Irene Neverla und Ilona Ammann (Hg.), Global, lokal, digital – Fotojournalismus heute, Köln 2008, (108–136): 108. Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 22. Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 55. Vgl.: André Gunthert, Das Geteilte Bild, Essays zur digitalen Fotografie, Konstanz 2019: 26. Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 55.

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Dass jedoch nicht jedes Bild allein deshalb, weil es Gräuel explizit zeigt, diesen Schock und diese Erschütterung hervorruft, sondern diese Wirkung gleichwohl verfehlen kann, bemerkt Roland Barthes. Im Anschluss an einen Besuch einer Ausstellung von Schockfotos in der Galerie d’Orsay, unterscheidet Barthes in den »Mythen des Alltags« (1957) zwischen »überkonstruierten« und »natürlichen« Schockfotos.86 Erstere, wie beispielsweise das Foto eines jungen Soldaten, der ein Skelett betrachtet87 , beraubten die RezipientInnen ihrer »Urteilskraft«88 , indem sie allzu plakativ die Tatsachen vor Augen führten. Diese Bilder, so Barthes, seien so suggestiv, dass den BetrachterInnen lediglich die Bejahung des Gesehenen bliebe: »(D)er Photograph hat uns außer dem Recht auf intellektuelle Zustimmung nichts übriggelassen.«89 Erschüttert werde man von solchen Darstellungen nicht, konstatiert Barthes.90 Die einzigen Fotos, die Barthes in der Ausstellung als überzeugende, natürliche Schockfotos wertet, sind Agenturfotos, »auf denen das überraschte Faktum in seinem Eigensinn, in seiner Buchstäblichkeit, in der Evidenz seiner Stumpfheit hervorspringt.«91 Barthes verweist auf den Fakt, dass sich in Fotografien als Instrumenten der Aufzeichnung etwas einschreiben kann, das gegebenenfalls von den FotografInnen so nicht vorgesehen war.92 Der Eingriff durch die FotografInnen, sollte deswegen für natürliche Schockfotos, so gering wie möglich bleiben. Diesen Aspekt greift auch Susan Sontag in »Das Leiden anderer betrachten« (2003) auf, wenn sie konstatiert, dass Fotos von schrecklichen Ereignissen authentischer sind, »wenn ihnen das gute Aussehen abgeht, das sich aus ›richtiger‹ Beleuchtung und ›richtigem‹ Bildaufbau ergibt.«93 Die vereinheitlichende Schwarz-Weiß-Optik der Bilder des dokumentarischen Fotografen Sebastião Salgado erklärt sie zum »Hauptangriffsziel in dem neuen Feldzug gegen die Inauthentizität des Schönen«.94 Salgado sieht sich kontinuierlich

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Roland Barthes, Schockfotos, in: Ders., Mythen des Alltags (Mythologies, 1957), Berlin 2015, (135–138): 135. Vgl.: Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.: 137. Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 52. Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 34. Ebd.: 91.

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mit dem Vorwurf konfrontiert, die behandelten, teils traumatisierenden Sujets zu verschönern und so ästhetisch distanziert wiederzugeben.95 Was zu schön ist, so die Befürchtung, lädt zum Kontemplieren ein, nicht zum Handeln.96 Auf diese Kritik an einer Ästhetisierung ist zurückzukommen.97 Bei natürlichen Schockfotos hingegen werde eine »kritische Katharsis« möglich.98 Schockfotos verfolgen eine andere Strategie als die Strategien des NichtZeigens, um Themen wie Krieg, Gewalt, Terror und Elend zu bearbeiten. Hier ist es der Schock des Gezeigten, der die Aufmerksamkeit der BetrachterInnen gewinnen soll, der sie berühren, bewusst überwältigen und überfordern soll. Darüber, ob sich so eine nachhaltige Wirkung erzielen lässt und ob das Zeigen des expliziten Bilds der richtige Umgang mit diesen Bildern ist, lässt sich streiten. In welchem Maße eine Fotografie die Betrachtenden trifft, schockiert, überwältig, lässt sich freilich nicht verallgemeinern, sondern es hängt vom individuellen Betrachter oder der Betrachterin ab. Dabei spielt insbesondere die Frage eine Rolle, inwieweit er oder sie bereits mit diesen Bildern konfrontiert gewesen ist. Zweifel an der nachhaltigen Wirkung von Fotos des Grauens äußerte Susan Sontag bereits in »Über Fotografie« (1977), denn diese lasse bei erneuter Betrachtung nach.99 Darüber hinaus könne Mitgefühl in Anbetracht von Bildern des Leids zu einer »völlig unangebrachten«100 Reaktion werden, wenn es die Distanz zum Gezeigten verhärte und die Strukturen, die für das Leid verantwortlich sind, nicht hinterfrage.101 Außer diesem Argument einer Vgl.: Thomas Winkler, Nachbelichtete Himmel, in: TAZ, 14.10.2019, online: https://taz. de/Ehrung-zur-Frankfurter-Buchmesse/!5629093/, zugegriffen am 24.01.2023. Zur Rezeption von Salgados Fotografien siehe: Evelyn Runge, Glamour des Elends, Ethik, Ästhetik und Sozialkritik bei Sebastião Salgado und Jeff Wall, Köln/Weimar/Wien 2012: 158ff. 96 Doch auch hier lassen sich Gegenpositionen ausmachen. Evelyn Runge verteidigt Salgados Arbeit, denn die ästhetische Distanz biete vielmehr im Sinne einer »Entlastung« der RezipientInnen die Möglichkeit eines Zugangs zu den dargestellten Themen. Runge, Glamour des Elends (2012): 232ff. 97 Siehe die Synthese in Kapitel 1.4. 98 Barthes (2015), Schockfotos (1957): 138. 99 Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 26. 100 Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 119 101 Sontags Kritik am Mitgefühl erhält auch in Zusammenhang mit psychologischen Forschungen im Bereich der Empathie Kritik von Paul Bloom Aktualität. Vgl.: Nadine Isabelle Henrich, Vom Kritischen Potenzial der Ambiguität, in: Renate Wiehager und Dies. (Hg.), Evoking Reality, Konstitution von Wirklichkeit in Fotografie und Videokunst, Ausst.Kat., Berlin 2019, (50–57): 50. Siehe: Paul Bloom, Against Empathy, The Case for Rational Compassion, New York 2016. 95

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Compassion Fatigue102 gibt es weitere Argumente, die dagegen sprechen können Schockfotos zu zeigen, etwa die Gefahr des Missbrauchs und der Instrumentalisierung dieser Bilder.103 Außerdem können Schockbilder den Voyeurismus der RezipientInnen schüren.104 Weitere wichtige Aspekte, die – stets einzelfallabhängig – gegen ein explizites Zeigen von Schockfotos sprechen können, sind der Schutz Betroffener und der RezipientInnen vor solchen Bildern.105 Bei Betroffenen können sie sogar das Leid verlängern. Wie Peter Geimer zutreffend betont, lassen sich zu all diesen Argumenten Gegenargumente finden, die für das Zeigen von Schockfotos sprechen und dieses legitimieren können.106 Bezug nehmend auf Susan Sontag konstatiert etwa Judith Butler: »Ohne fotografischen Beweis keine Greueltat.«107 Für die Aufklärung der Öffentlichkeit bedarf es eben auch der Bilder und ihrer Beweiskraft. Die Betrachtung kann dabei durchaus auch Empathie und Affizierung hervorrufen und diese letztlich ein Handeln begünstigen. Außerdem spricht oft auch das Interesse Betroffener auf ihre Situation hinzuweisen für ein Zeigen. So gibt es auch viele gute Gründe schockierende Fotos zu zeigen. Peter Geimer schreibt, dass es weder ratsam sei, alle Fotos zu verdecken oder zurückzuhalten, noch zielführend, alle Schockfotos zu zeigen.108 Ähnlich argumentiert auch Susan D. Moeller: »Crisis coverage demands pictures. Arresting images may not prevent compassion fatigue – they may in fact promote it by causing viewers to turn away from the trauma – but no pictures for a crisis is even worse.«109 Der Umgang 102 Der Begriff bezeichnet die Apathie der RezipientInnen in Bezug auf Bilder des Leids, die durch die Medien kursieren. Dabei wird heute besonders das »Wie« der Berichterstattung kritisch in den Blick genommen. Vgl.: Lilie Chouliaraki, The Spectatorship of Suffering, London, 2006: 112ff. 103 Zum Einsatz von Fotos im Terrorismus siehe: Charlotte Klonk, Terror, Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt a.M. 2017. 104 Vlg.: Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 51; Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 57. 105 Einigkeit besteht darin, dass der Schutz der Abgebildeten zentral ist, besonders wenn es sich um Personen handelt, die einwilligungsunfähig sind, wie bei Kindern oder Toten. Vgl.: Arnd Pollmann, Darf man das zeigen? Grundzüge einer philosophischen Ethik des Bildes, in: TV Diskurs, 1, 2018, 22. Jahrgang, (20–25): 24, 25. 106 Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 57f. 107 Judith Butler, Raster des Krieges, Warum wir nicht jedes Leid beklagen (Frames of War, When Is Life Grievable?, 2009) Frankfurt a.M. 2010: 70. 108 Vgl.: Geimer, Das Bild als Spur (2007): 57. 109 Susan D. Moeller, Compassion Fatigue, How the Media sell Disease, Famine, War and Death, New York 1999: 37.

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mit Schockfotos ist ambivalent. Entsprechend schreibt Arnd Pollmann, dass es dabei »keine moralischen ›Wahrheiten‹« gibt, sondern »berechtigte Meinungsverschiedenheiten, die zu öffentlichen Debatten, aber auch juristischen Entscheidungen zwingen«.110 Die Ambivalenz von Schockfotos und des Umgangs mit ihnen erfordert immer eine Abwägung von Fall zu Fall. Ob ein explizites Bild gezeigt werden sollte, hängt von vielen Faktoren ab: vom Kontext und von dem Wie der Präsentation und vom Rahmen der Rezeption. In diesem Sinne sind auch die Strategien des Nicht-Zeigens nicht als Urteil darüber zu verstehen, dass das explizite Zeigen die »falsche« Strategie ist, um Themen wie Krieg, Gewalt und Elend im künstlerischen Kontext zu thematisieren. Sie stellen vielmehr alternative Optionen dar, die sich im Umgang mit diesen Themen im künstlerischen Kontext bieten.

1.2.3 Exkurs: Bilder trotz allem Die Diskussion darüber, ob Bilder des Leids gezeigt oder verborgen werden sollten, ist nicht neu. Die Frage war und ist in der Auseinandersetzung um die Undarstellbarkeit des Holocaust virulent.111 Die Entscheidung des Regisseurs Claude Lanzmann für seinen Film Shoah (1985) keine historischen Aufnahmen der Konzentrationslager und der Nazi-Gräueltaten an den Juden zu verwenden, markierte dabei den Pol des Nicht-Zeigens.112 Diesem Bilderverbot widersetzt sich beispielsweise Georges Didi-Huberman mit seinem Buch »Bilder trotz allem« (2007).113 Basierend auf vier anonymen Aufnahmen aus dem Krematorium V in Auschwitz-Birkenau (Abb. 7–10) erörtert Didi-Huberman, dass diese, als der Geschichte »entrissene«114 »Fetzen«115 , ihre Berechtigung hätten

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Pollmann, Darf man das zeigen? (2018): 25 (Hervorh. im Orig., A. P.). Zu dieser Debatte siehe: Geimer, »Wir müssen diese Bilder Zeigen« (2007): 120ff. Claude Lanzmann, Shoah, Frankreich, 1985, 540 Minuten. Zum Verhältnis von Zeigen und Nicht-Zeigen am Beispiel von Shoah siehe: Martina Thiele, Trauma wahrnehmbar werden lassen, Zeigen und Nicht-Zeigen, Reden und Schweigen in Claude Lanzmanns Film »Shoah«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik, 39 (4), 2015: 77–95. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem (Images malgré tout, 2003), München 2007. Das Verb »entreißen« spiegelt die Dringlichkeit des risikoreichen Unterfangens die Bilder trotz des Verbotes, die sogenannte Sonderbehandlung zu fotografieren, überhaupt erst herzustellen, wider. Ebd.: 55, 75. Der Begriff »Fetzen« hebt auf die notwendige Lückenhaftigkeit der Fotografien ab, die nie alles darzustellen vermögen. Ebd.: 57, 63, 111, 115.

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und gezeigt werden sollten: »Bilder trotz allem also: trotz der Hölle Auschwitz, trotz der eingegangenen Gefahren«.116 Da Fotos, wie die vier besprochenen aus Auschwitz, in der Welt sind, stellt sich zudem weniger die Frage der Undarstellbarkeit des Holocaust mittels Fotografie, als vielmehr die Frage des Umgangs mit diesen Bildern. Diese Frage wird umso wichtiger, wenn solche Bilder in einen neuen, vielleicht sogar musealen Kontext überführt werden.117

Abb. 7, 8: Anonym (Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz), Einäscherung Vergaster in den Verbrennungsgräben unter freiem Himmel vor der Gaskammer des Krematoriums V in Auschwitz, August 1944, Oswiecim, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, (Negative Nr. 277–289).

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Didi-Huberman (2007), Bilder trotz allem (2003): 15. (Hervorh. im Orig., G. D.-H.) Die Kritik von Pagnoux, die Didi-Huberman im zweiten Teil seines Buchs ausführlich entkräftet, richtet sich explizit gegen die »Musealisierung« der Fotografien. Pagnoux nach Didi-Huberman. Ebd.: 87.

1. Nicht-Zeigen

Abb. 9, 10: Anonym (Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz), Frauen auf dem Weg in die Gaskammer des Krematoriums V in Auschwitz, August 1944, Oswiecim, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, (Negative Nr. 282–283).

Im Umgang mit verstörenden Bildern ist speziell in Museen, als »Institutionen des Sichtbaren«, an denen der Sehsinn im Vordergrund steht, erhöhte Sensibilität gefragt.118 Ludger Schwarte konstatiert: »Das Ausstellen ist ein Gewaltakt, der eine Sache aussetzt – der Anschauung, den Erwägungen, dem unangemessenen Sinnenspiel.«119 Der Umstand, dass ein Ausstellen auch immer ein Aussetzen des Gezeigten impliziert, ist schon in der lateinischen Etymologie des Wortes exponere angelegt, dass sich aus den beiden Teilen ex (aus) und ponere (stellen, legen, setzen) zusammensetzt.120 Didi-Hubermans erste Version seines Textes Bilder trotz allem ist für den Katalog der umstrittenen Ausstellung »Memoires des Camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933–1999)« entstanden, die von Januar bis März 2001 im Hôtel de

Tony Bennett, Der bürgerliche Blick, Das Museum und die Organisation des Sehens, in: Dorothea von Hantelmann und Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung, Politik eines Rituals, Zürich/Berlin 2010, (47–77): 47. 119 Ludger Schwarte, Politik des Ausstellens, in: Karen van den Berg und Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Politik des Zeigens, München 2010, (129–141): 137. 120 Vgl.: Beatrice von Bismark, Ausstellen und Aus-setzen, Überlegungen zum kuratorischen Prozess, in: Kathrin Busch, Burkhard Meltzer und Tido von Oppeln (Hg.), Ausstellen: zur Kritik und Wirksamkeit in den Künsten, Zürich 2016, (139–156): 140.

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Sully in Paris stattfand.121 In seinem späteren Buch Bilder trotz allem setzt DidiHuberman diesen Text an den Anfang, im zweiten Teil geht er direkt auf die Kontroverse und Kritik rund um die Ausstellung und seinen Text dazu ein. An der Repräsentation scheitern Fotografien des Holocaust. Dass es sie gibt, ist dennoch wichtig, um einen Zugang herzustellen, um Wissen zu generieren.122 »Um zu wissen, muß man sich ein Bild machen,« konstatiert Didi-Huberman treffend.123 Die Organisatoren der Ausstellung im Hôtel de Sully waren das Risiko zu schockieren eingegangen, um damit das Risiko zu vergessen zu minimieren: »Car toujours, il nous est apparu moins grave de risquer de choquer que de risquer d’oublier.«124 Die Frage bleibt allerdings, ob es der expliziten Bilder des Schreckens bedarf, ob man den Schock durch Bilder riskieren muss, um Vergessen auszuschließen. An Didi-Hubermans Verteidigung, die vier Fotos aus Ausschwitz zu zeigen, ist maßgeblich der bildkritische Blick beteiligt, der auch das Material, die Dimension des Sichzeigens des Bildes, einbezieht.125 Da die Aufnahmen teilweise aus dem Inneren eines Raums aufgenommen wurden, geben sie einen eingeschränkten Blick durch eine geöffnete Tür frei. Durch das Gegenlicht erscheint das Innere des Raums als schwarzer Rahmen. Im Zuge einer vermeintlich besseren Lesbarkeit der Bilder wurden sie in zahlreichen Veröffentlichungen auf den Türausschnitt hin zugeschnitten und begradigt. DidiHubermann hebt allerdings hervor, dass gerade der schwarze Rahmen, der das illegale Fotografieren aus dem Verborgenen heraus unterstreicht, ebenso wie die schiefe Horizontlinie, für die Lesbarkeit besonders wichtig sind. Ohne den Schutz dieses Raums hätte es diese Fotografien nicht geben können.126 Daher kritisiert er den Beschnitt und die Veränderung von Details der Fotografien für publizistische Zwecke im Sinne einer vermeintlichen »Lesbarkeit« scharf.127 Didi-Huberman schlägt vor, »die Bilder in Zweifel (zu)ziehen: das heißt, eine anspruchsvollere Sichtweise ein(zu)fordern, einen kritischen Blick, der 121

Die Ausstellung wurde außerdem in Winterthur, Barcelona und Reggio Emilia gezeigt. Clément Chéroux (Hg.), Mémoire des camps: photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933 – 1999), Ausst.-Kat., Paris 2001. 122 Vgl.: Didi-Huberman (2007), Bilder trotz allem (2003): 47. 123 Ebd.: 15. 124 Pierre Bonhomme und Clément Chéroux, Introduction, in: Chéroux, Mémoire des camps (2001), (9–10): 10. 125 Vgl.: Didi-Huberman (2007), Bilder trotz allem (2003): 62f. 126 Vgl.: Ebd.: 58ff. 127 Vgl.: Ebd.

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vor allem versucht, sich durch die ›referentielle Illusion‹ nicht überwältigen zu lassen.«128 Ein solcher, zweifelnder Blick auf die Fotografie wird besonders im künstlerischen Umgang mit Fotografien geschult. In der künstlerischen Fotografie bieten sich mittels Strategien des Nicht-Zeigens Alternativen zwischen den Extremen des Zeigens oder Verbergens des expliziten Bilds. Aufgrund ihrer Selbstreflexivität kann die Kunst den Zweifel am Bild im Bild thematisieren, zum Beispiel in Form von Metabildern. Dabei steht immer auch die eigentliche Bildlichkeit zur Diskussion, die ein Erscheinen möglich macht.129 Darüber hinaus kann auch eine Unzulänglichkeit oder gar ein Scheitern der Fotografie im Bild oder im Prozess seiner Herstellung reflektiert werden.

1.3 Voraussetzungen des Nicht-Zeigens in der künstlerischen Fotografie 1.3.1 Die Kontextabhängigkeit von Fotografie Fotos von grausamen Ereignissen und die Krisen, die ihnen zu Grunde liegen, werden sowohl im Bereich des Journalismus, der Wissenschaft und Politik als auch der Kunst thematisiert.130 Die in der Einleitung erwähnte Fotografie des toten Alan Kurdi am Strand ist ein Beispiel hierfür (Abb. 1). Ursprünglich auf dem Online-Dienst Twitter veröffentlicht, wurde das Foto rasant über die Presse verbreitet und hielt schließlich Einzug in die Kunst.131 Jay Prosser schreibt, dass Fotos von Gräueln mit Kunst in Verbindung stehen,

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Ebd.: 107 (Hervorh. im Orig., G. D.-H.). Vgl.: Emmanuel Alloa, Das Medium scheint durch, Talbot – Stella – Hantai, in: Marcel Finke und Mark A. Halawa (Hg.), Materialität und Bildlichkeit, Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis, Berlin 2012, (68–85): 72f. 130 Gabriele Mackert bezeichnet KünstlerInnen auch als »visuelle Historiker« und betont ihre Wichtigkeit im »Prozess der Bilderpolitik.« Gabriele Mackert, Historiker des Visuellen, Strategien der Repräsentationskritik: Künstlerische Einschreibungen in den Bilddiskurs und die Möglichkeiten eines Gegentextes, in: Dies., Gerald Matt und Thomas Mießgang (Hg.), ATTACK! Kunst und Krieg in Zeiten der Medien, Ausst.-Kat., Wien 2003, (27–39): 28. 131 Über die Wichtigkeit der digitalen Medien für die Verteilung von Fotografien, wie die von Alan Kurdi, weisen auch Gerling, Holschbach und Löffler hin. Vgl.: Winfried Gerling, Susanne Holschbach und Petra Löffler (Hg.), Bilder verteilen, Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld 2018: 12.

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da KünstlerInnen sich in ihren Werken damit auseinandersetzen.132 Auch der von Prosser herausgegebene Sammelband »Picturing Atrocity, Photography in Crisis« (2012) beschäftigt sich mit wissenschaftlichen, fotojournalistischen und künstlerischen Herangehensweisen zum Thema Gräuelbilder.133 Dabei lassen sich signifikante Unterschiede im Umgang mit Fotografien von Gräueln ausmachen. Während in den wissenschaftlichen Beiträgen zu diesem Band dokumentarisches Anschauungsmaterial explizit gezeigt wird, wählt der Künstler Alfredo Jaar mit Lament of the Images in seinem Beitrag die intermediale Negation als Strategie des Nicht-Zeigens: schwarze Flächen fungieren als Platzhalter für Fotografien, die lediglich in Zusammenschau mit Texten von David Levi Strauss als solche erkannt werden können.134 Die WissenschaftlerInnen untersuchen das Material im Rahmen eines »close reading(s)«.135 Jaar und Strauss verweigern jeden direkten Einblick in fotografisches Material und thematisieren schon durch den Titel »Lament of the Images« und den Umstand, dass sie damit den Bildern die Fähigkeit zu klagen zuschreiben, das Verhältnis von Fotografie und Repräsentation, von Bild und Text. Was von den Bildern bleibt, sind die knappen Bildunterschriften von Strauss, welche die geschwärzten, nicht gezeigten Fotografien beschreiben, wie in diesem Beispiel: »A small number of individuals in U.S. Army uniforms pose with their thumbs raised over a blackened corpse.«136 Als LeserIn dieser Zeilen wird man durch die intermediale Negation ungefragt zum Koproduzenten oder zur Koproduzentin impliziter Bilder. Obwohl der Text keine genauen Angaben zum Kontext, zu Ort und Zeit gibt, löst allein die Beschreibung der gehobenen Daumen der SoldatInnen vor einer Leiche Assoziationen aus. Die Angaben sind präzise genug, um Assoziationen anzukurbeln und gleichzeitig vage genug, um individuelle Zugänge zu ermöglichen. So mag man zum Beispiel an die häufig reproduzierte Fotografie der Soldatin Lynndie England denken, die ebenfalls mit erhobenen Daumen vor entblößten Insassen im Abu Ghraib Gefängnis posierte. Als monochrome schwarze Flächen zeigen die Bilder, die Jaar und Strauss präsentieren, nichts

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Vgl.: Jay Prosser, Introduction, in: Ders. et al. (Hg.), Picturing Atrocity, Photography in Crisis, London 2012, (7–13): 12. Siehe: Prosser, Picturing Atrocity (2012). Alfredo Jaar und David Levi Strauss, Lament of the Images, in: Prosser, Picturing Atrocity (2012): 275–281. Prosser, Picturing Atrocity (2012): 10. Alfredo Jaar und David Levi Strauss, Lament of the Images, in: Ebd.: 277.

1. Nicht-Zeigen

Gegenständliches mehr, sie negieren als Abstraktionen gleichsam jegliche Referenz. Gerade im Entzug der Bilder wird jedoch deren Sichtbarkeit reflektierbar. Anhand von Jaars und Strauss’ Intervention ließe sich wieder die Frage formulieren, welche Form des Umgangs mit Schockfotos legitim, verantwortungsvoll und geeignet ist. Sollte man solche Bilder machen, zeigen, ansehen? Was sagt das Foto über diejenigen aus, die im Bild posieren und die, die Bilder gemacht haben? Wie ist mit solch einer Fotografie umzugehen, wenn sie bereits in Umlauf gekommen ist? Wie Prosser hervorhebt, sind Fotos von Gräueln nicht selbsterklärend und benötigen daher eine intensive Auseinandersetzung.137 Sobald diese nicht gewährleistet werden kann, so lässt sich der Vorschlag Jaars und Strauss’ interpretieren, sollte der Verzicht auf Bilder in Erwägung gezogen werden. Ihr Beitrag kann als Kritik am Medienbild verstanden werden, das häufig mit knappen Bildunterschriften versehen wird, die wenig oder kaum Hintergründe liefern können. An den bisher erwähnten Beispielen zeigt sich, dass der Umgang mit Fotografien je nach Kontext variieren kann, was Bernd Stiegler mit der epistemischen Varianz der Fotografie erklärt.138 Demnach unterscheiden sich die Regeln der Produktion und Rezeption der Fotografie je nach Kontext und damit eben auch die Möglichkeiten des Zeigens und Nicht-Zeigens, die sich für die beteiligten AkteurInnen bieten. Damit kommt dem Kontext eine substantielle Rolle zu. William J. T. Mitchell formuliert es so: »Fragen, die die Freiheit betreffen, anstößige Bilder zu zeigen, sind in Wirklichkeit eher Fragen nach dem Kontext als nach dem Inhalt – danach, wo und wann wem ein Bild gezeigt wird.«139 Werden Fotografien aus dem journalistischen Kontext in den künstlerischen überführt, lassen sich sehr unterschiedliche Anforderungen an und Umgangsweisen mit Fotografien als Dokument einerseits und Material andererseits beobachten. Während sich die Themen in der Kunst mit denen aus Journalismus und Wissenschaft überschneiden können, unterscheiden sich die Mittel im Umgang mit fotografischem Bildmaterial signifikant. Sontag

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Vgl.: Prosser, Picturing Atrocity (2012): 10. Vgl.: Bernd Stiegler, Montagen des Realen, Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München 2009: 22. William J. T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008: 393f.

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zufolge wird von Pressefotografien erwartet, dass sie zeigen.140 Künstlerische Fotografien können und dürfen andeuten. Während die Pressefotografie auf Titelseiten von Zeitungen häufig auf Einzelbildern basiert, können KünstlerInnen in Serien arbeiten und die Leerstellen dazwischen ebenso nutzen, wie die Bildflächen der Einzelbilder. Während FotojournalistInnen dem Aktualitätsgebot Folge leisten, wobei der Einsatz digitaler Technologien heute unabdingbar ist, lassen sich das »Zuspät-kommen« und die Verwendung analoger Verfahren im Zuge des »analog turn«141 in der künstlerischen Fotografie ganz bewusst einsetzen.142 Es ist auffällig, dass in der künstlerischen Fotografie vermehrt mit analogen fotografischen Verfahren gearbeitet wird, wie etwa bei Bruno Serralongue, Sophie Ristelhueber, Vandy Rattana, um nur eine Auswahl zu nennen.143 Während in der tagesaktuellen Berichterstattung das repräsentative Potential der Fotografie und die Forderung von Neutralität, Objektivität und Transparenz zentral sind, bieten sich in der künstlerischen Fotografie repräsentationskritische Möglichkeiten, wobei subjektive Wertungen und Eingriffe durch KünstlerInnen akzeptiert und erwartet werden. Es ist bezeichnend, dass sich der wegen nicht gekennzeichneter Bildmanipulationen kritisierte Steve McCurry heute selbst nicht mehr als Fotojournalist, sondern als »visual storyteller«144 versteht. Er rückt sein Werk hierdurch in die Nähe zur Kunst. Im Gegensatz zum Fotojournalismus, wo die Bearbeitung von Pressefotos allenfalls in engen Grenzen zugelassen ist und in den bildethischen Richtlinien von Vereinigungen von FotografInnen, von Zeitungen und internationalen Presseräten geregelt wird145 , sind in der Kunst auch größere Eingriffe in die 140 Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 56. 141 Ruth Horak, The Analog Turn, in: Eikon, International Magazine for Photography and Media Art, Nr. 88, 2014, (49–58). Horak führt diesen turn auf den Moment zurück, an dem es seit Mitte der 2000er Jahre zu »Produktionsstopps von analogen Fotoapparaten und Filmmaterialien« kommt. Kathrin Schönegg, Fotografiegeschichte der Abstraktion, Köln 2019: 326. 142 Vgl.: John Roberts, Photography after the Photograph: Event, Archive, and the Non-Symbolic, in: Oxford Art Journal, Vol. 32, No. 2 (2009), (283–298): 290. 143 Siehe dazu Kapitel 3.3 in dieser Arbeit. 144 Olivier Laurent, Steve McCurry: I’m a Visual Storyteller Not a Photojournalist, in: Time, 30.05.2016, online: https://time.com/4351725/steve-mccurry-not-photojournali st/, zugegriffen am 24.01.2023. 145 Die amerikanische Organisation National Press Photographers Association (NPPA) formuliert in ihrem Code of Ethics, dass »Editing should maintain the integrity of the photographic images’ content and context. Do not manipulate images or add or alter sound

1. Nicht-Zeigen

Komposition und Ästhetisierungen zulässig. Während im journalistischen Kontext Fotos als Reproduktionen sichtbar werden, legt die Kunst den Blick auf die spezifische Materialität der Fotografie frei. Sehr deutlich wird dies beispielsweise in der Serie Jpeg von Thomas Ruff, für die er Found Footage, meist aus dem Internet, stark vergrößert ausdruckt, sodass die Bilder in großflächige Pixelkompositionen transformiert werden. Die Alternativen im Umgang mit Fotos sind nicht auf Zeigen oder Nichts Zeigen beschränkt, also auf explizite Bilder oder gar keine Bilder. Vielmehr ergeben sich im künstlerischen Kontext viele Möglichkeiten des zeigenden Nicht-Zeigens durch implizite Bilder. Doch was sind die Voraussetzungen und Begünstigungen für ein Nicht-Zeigen in der zeitgenössischen Kunst, die mit Fotografie arbeitet? Zunächst sollen die im Kunstkontext geltenden Produktionsbedingungen betrachtet werden, wobei ein knapper historischer Abriss zum Einsatz der Fotografie in der und als Kunst dienlich ist. Im Anschluss werden die besonderen Rezeptionsbedingungen im musealen Raum beleuchtet, die das Nicht-Zeigen im Kontext der künstlerischen Fotografie begünstigen.

1.3.2 Die Produktionsebene – Fotografie als Material und Reflexionsmedium Blickt man auf die zeitgenössische Kunstszene ist die Fotografie dort nicht mehr wegzudenken. »In der Gegenwart findet sich kaum ein künstlerisches Œuvre, das ohne Fotografien auskäme – und sei es in Gestalt einer dezidierten Absetzung,« diagnostiziert Bernd Stiegler.146 So verstanden bleibt die Fotografie selbst in künstlerischen Arbeiten, die sich von ihr distanzieren, als Bezugsgröße allgegenwärtig. Im Mittelpunkt stand die Fotografie bei der Neueröffnung der Kunsthalle Mannheim 2018. Diese war einer Retrospektive von Jeff

in any way that can mislead viewers or misrepresent subjects.« O. A., National Press Photographers Association, Code of Ethics, online: https://nppa.org/code-ethics, zugegriffen am 24.01.2023. Innerhalb verschiedener fotografischer Genres variiert die Toleranz für Bildbearbeitungen wiederum in Folge unterschiedlicher Authentizitätsansprüche. Vgl.: Alfred Büllesbach, Digitale Bildmanipulation und Ethik (2008): 117. 146 Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 119.

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Wall gewidmet und untermauert exemplarisch den heutigen Stellenwert der Fotografie für die zeitgenössische Kunst.147 Das sah zu Beginn der Fotografie noch ganz anders aus. In den theoretischen Debatten des 19. Jahrhunderts klingt zunächst eine Ambivalenz bezüglich der Fotografie als Kunst an. Während manche Kritiker die objektive Aufzeichnung der Fotografie in Kontrast zur künstlerischen Schöpfung stellten, erkannten andere auch in fotografischen Bildern eine künstlerische Interpretation.148 Diese antipodischen Haltungen lassen sich exemplarisch an den Reaktionen auf den Salon von 1859 in Paris ablesen, wo erstmalig auch Fotografien präsentiert wurden.149 So behauptete Charles Baudelaire, dass die Fotografie wegen ihres Realismus eher weniger zur künstlerischen Darstellung fähig sei und daher der Kunst lediglich einen Dienst erweisen könne.150 Dagegen erkannte Louis Figuier sehr wohl einen »individuellen Stil« einzelner FotografInnen, was damals als wichtiges Kriterium zur Bestimmung künstlerischer Darstellung galt.151 Bereits einige Zeit später, um die Jahrhundertwende, bemerkte Robert de la Sizeranne, dass sich die Fotografie »heute schon an den Randbezirken der Kunst bewegt«.152 Statt am Rand, wurde die Fotografie von verschiedenen VertreterInnen aus Theorie und Praxis dann im Laufe der Zeit immer mehr in das Zentrum der Kunst gerückt. Die Piktorialisten, auf die sich De la Sizeranne direkt bezieht, bemühten sich, den Kunststatus der Fotografie in ihren Bildern zu verbürgen, blieben im Die Ausstellung Jeff Wall, Appearance fand vom 2. Juni bis 9. September 2018 in der Kunsthalle Mannheim statt. Siehe: Sebastian Baden et al. (Hg.), Jeff Wall, Appearance, Ausst.-Kat., Esslingen 2018. 148 Vgl.: Lorraine Daston und Peter Galison, Photographie als Wissenschaft und Kunst (2007), in: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012), (59–70): 64. 149 Genauer wurden die fotografischen Exponate nicht im Salon sondern nebenan in einem separaten Ausstellungsraum mit eigenem Eingang und zusätzlich erhobenen Eintrittsgeldern gezeigt. Vgl.: Paul-Louis Roubert, Between Pride and Prejudice: Exhibiting Photography in the 19th Century, in: Alessandra Mauro (Hg.), Photo Show, Landmark exhibitions that defined the history of photography, London 2014, (61–77): 75f. 150 Baudelaire spricht der Fotografie lediglich eine dienende Rolle für andere Künste zu. Vgl.: Charles Bauedelaire, Der Salon 1859, in: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012), (120–127): 122. Auch Ludwig Pfau sieht die Fotografie noch 1870 im »Dienste« der Kunst. Ludwig Pfau, Lichtbild und Kunstbild (1870), in: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012), (128–135): 134. 151 Daston und Galison, Photographie als Wissenschaft und Kunst (2007): 64. 152 Robert De la Sizeranne, Ist die Fotografie eine Kunst? (1897), in: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012), (136–147): 138. 147

1. Nicht-Zeigen

Sinne eines Paragone, eines Wettstreits der Künste, allerdings noch einer Ausrichtung an der Malerei als Vorbild verpflichtet.153 Spätestens durch den experimentellen Umgang mit der Fotografie durch die Avantgarde der 1920er und -30er Jahre machte sich die Fotografie der Dadaisten und Surrealisten von einem Wettkampf mit der Malerei frei und wurde in ihrer Eigenständigkeit als Kunstform anerkannt.154 Anhand der Fotogramme von László Moholy-Nagy, Man Ray und Christian Schad wurde deutlich, dass fotografische Verfahren nicht bloß dem Aufzeichnen der Wirklichkeit dienen, sondern – heute selbstverständlich – durchaus auch zur künstlerischen Produktion eingesetzt werden können. Auch im Bereich der Performance155 und Land Art156 , wo die Aufgabe der Fotografie lange Zeit darin gesehen wurde, die ephemeren Werke fest- und für die Nachwelt zu erhalten, erkannte man immer mehr, dass ihre Funktion weit über eine rein dokumentarische hinaus geht. Die Fotografien zeigen die PerformerInnen nämlich oft ohne Publikum und suggerieren so eine Situation, die mit der Wirklichkeit der Performance vor den unmittelbaren Blicken anderer nicht mehr viel gemein hat.157 Auch in Bezug auf die Land Art lässt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Erfahrung der Werke vor Ort und ihrer fotografischen Vermittlung im musealen Raum ausmachen.158 Über die Zeit haben sich die Fotografien damit häufig vom Bei- zum Hauptwerk entwickelt, sind sie doch heute oft alles, was von einer künstlerischen Performance oder einem Land Art Projekt übrig geblieben sind. Zudem gibt es Projekte, wie etwa Robert Smithsons Mirror Displacements (1969), eine Installation von Spiegeln in 153

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De la Sizeranne erwähnt explizit die Fotografien von Demachy, Puyo, Craig-Annan und Le Bègue. Ebd.: 143f. Demachy und Puyo haben in ihrer Publikation zur piktorialistischen Fotografie »Les procédés d’art en photographie« (1906) die Interpretation zur zentralen Prämisse erklärt, anhand derer die Fotografie mit der Malerei gleichziehen könne. Vgl.: Robert Demachy und Constant Puyo (Hg.), Les procédés d’art en photographie, Paris 1906: 1f. Vgl.: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 118. Zur Medialisierung von Performance Kunst durch Fotografie siehe: Burçu Dogramaçi, Fotografie der Performance, Live Art im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit, Paderborn 2018. So konstatiert Dogramaçi: »Denn Fotografien von Performances sind keine Dokumente, sondern autonome Werke, die Kontexte eröffnen.« Ebd.: 16. Zur Verbindung von Land-Art und Fotografie siehe: Samantha Schramm, Land Art, Ortskonzepte und mediale Vermittlung, zwischen Site und Non-Site, Berlin, 2014: 106ff. Vgl.: Mark Alice Durant, Photography and Performance, in: Aperture, No. 199 (Summer 2010), (30–37): 32. Vgl.: Schramm, Land Art (2014): 106.

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der mexikanischen Landschaft Yucatán, die nicht für eine andauernde Installation vorgesehen war und bei der die Fotografie zur Herstellung abstrakter Bilder eingesetzt wurde.159 Ähnlich haben auch spätere Generationen von Performance-KünstlerInnen »nur« für die Kamera posiert, etwa Cindy Sherman in ihren Untitled Filmstills (1977–80), Fotografien für die sie Posen einnahm, die Anspielungen auf einen Filmkontext nur suggerieren. Sofern bei der Betrachtung der Fotografien ein Film abläuft, spielt er sich in den Köpfen der BetrachterInnen ab, womit dann eine aktive BetrachterInnenrolle einhergeht. Sherman gehört der von Douglas Crimp so bezeichneten Generation »Pictures«160 an, in der es zu einer dezidierten Auseinandersetzung mit der Repräsentation kam. Das fotografische Dispositiv der Indexikalität wurde von diesen FotokünstlerInnen in Frage gestellt,161 beispielsweise in der Serie After Edward Weston (1981) von Sherrie Levine, durch die die Debatte um die Abbildfunktion der Fotografie erneut virulent wurde. Indem Levine Fotografien von Fotografien Westons als ihre Werke präsentierte, stellte sie die Reduzierung der Fotografie auf die Indexikalität explizit in Frage. Als Abbild vom Abbild verweisen ihre Werke nicht mehr allein auf die von Weston dargestellten Personen und Orte im Sinne des Es-ist-so-gewesen, sondern gleichzeitig auf Westons Fotografien, ohne dies jedoch offensichtlich zur Schau zu stellen. So hinterfragt Levine mit ihrem Vorgehen auch die Prämissen der Urheberschaft und der Originalität in der Kunst.162 Die Fotografie wird auch hier nicht einfach zum Zweck der Dokumentation eingesetzt, sondern postmodern in ihrer Funktion als Abbild thematisiert. »Needless to say,« schreibt Douglas Crimp, »we are not in search of sources or origins, but of structures of signification: underneath each picture there is always another picture.«163 Diese Idee der postmodernen Bilderkaskade greift auch Bernd Stiegler

159 Vgl.: Ebd.: 128ff. 160 Pictures war der Titel der von Crimp kuratierten Ausstellung im Artist Space New York, im Herbst 1977 mit Arbeiten von Troy Brauntuch, Jack Goldstein, Sherrie Levine, Robert Longo und Philip Smith. Der Titel wurde darüber hinaus zum Begriff für KünstlerInnen, die sich mit der Repräsentation postmodern auseinandersetzten. Douglas Crimp, Pictures, in: October, Vol. 8, (Spring 1979): 75–88. 161 Vgl.: Kathrin Schönegg, Kalkulierte Distanz, Zur Autopoiese, Abbildung und Abstraktion in Fotografien nach 1970, in: Olga Moskatova, Sandra Beate Reimann und Kathrin Schönegg (Hg.), Jenseits der Repräsentation, Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, München 2013, (51–71): 52. 162 Vgl.: André Rouillé, La photographie, entre document et art contemporain, Paris 2005: 465f. 163 Crimp, Pictures (1979): 87.

1. Nicht-Zeigen

auf: »Es geht nicht um die Abbildung, sondern um die Abbildung der Abbildung, um die Bedeutung der Bedeutung. Die Photographie verdoppelt nicht die Wirklichkeit, sondern das Bild der Wirklichkeit.«164 Stiegler hält fest, dass die Fotografie in den 1970er Jahren zum »Reflexionsmedium« avanciert.165 Mit der Verwendung dieses Begriffs erfasst er den »diskursiv-medialen Charakter« der Fotografie.166 Mittels Fotografien kommt es »zu einer Selbstverständigung darüber, was zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kontexten als Wirklichkeit und als visuelle Wahrheit zu fassen ist«.167 Als Reflexionsmedium eignet sich die Fotografie damit in besonderer Weise für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Hal Foster diagnostiziert eine Rückkehr des Realen in der zeitgenössischen Kunstproduktion.168 Dabei findet die Fotografie vermehrt Anwendung, lässt sie doch als Reflexionsmedium die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit auf eine je spezifische Weise zu. André Rouillé notiert in »La photographie, entre document et art contemporain« (2005), dass sich die Fotografie in den 1980er Jahren zu einem der Hauptmaterialien in der Kunst entwickelt.169 Als zentrales Material ist die Fotografie kein Supplement mehr, sondern integraler Bestandteil der Kunst. Sie steht nicht mehr im Dienst der Kunst, sondern ist selbst Kunst.170 Dabei geht ihre Funktion weit über die Dokumentation hinaus. Im Sinne der künstlerischen Freiheit ist Materialität hier auf das gesamte Spektrum fotografischer Verfahren bezogen, von analog bis digital. Mit der einsetzenden Digitalisierung in den 1990er Jahren löst sich die Fotografie endgültig vom Mythos Indexikalität. »The referent has come unstuck,« schreibt William J. T. Mitchell, der Referent haftet nicht mehr.171 Die digitale Fotografie kann frei fingieren, was sich Protagonisten der großformatigen künstlerischen Fotografie wie Andreas Gursky und Jeff Wall für ihre digitalen Fotomontagen zunutze machen. Philippe Dubois geht sogar so weit zu behaupten, dass die zeitgenössische Kunst in den 1990er Jahren Stiegler, Montagen des Realen (2009): 25. Ebd.: 23. Vgl.: Schönegg, Kalkulierte Distanz (2013): 63. Stiegler, Montagen des Realen (2009): 25. Ebd. Siehe: Hal Foster, The Return of the Real, The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge/Massachusetts/London 2002. 169 Vgl.: Rouillé, La photographie (2005): 435. 170 Vgl.: Ebd.: 453. 171 Vgl.: William J. T. Mitchell, The reconfigured Eye, Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge 1992: 31. Mitchell bezieht sich auf Barthes Formulierung, dass der Referent an der Fotografie »haften« bleibt. Barthes (2012), Die helle Kammer (1980): 14.

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fotografisch wurde, womit er besonders auf fotografische Installationen und Skulpturen abzielt.172 Die Fotografie, und somit auch die künstlerische Fotografie, sind im Plural zu denken, da das Fotografische vielfältige Verfahren umfasst.173 Den Grundstein für ein solch differenziertes Verständnis des Fotografischen, das nicht auf die eine Variante kamerabasierter Fotografie fixiert bleibt, legte Rosalind Krauss mit ihrer Publikation »Das Photographische. Eine Theorie der Abstände« (1990).174 Bei Krauss avanciert das Fotografische zum Dispositiv, dessen sich auch andere Kunstformen bedienen können.175 Im Sinne der ebenfalls von Krauss konstatierten »post-medium condition«176 verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen zuvor klar voneinander getrennten künstlerischen Ausdrucksformen. Clement Greenberg hatte diese Grenzen für die modernistische Kunst noch diagnostiziert und vehement eingefordert.177 Heute hat die Fotografie ihren festen Platz im Museum erhalten, als Dokument, Material und Reflexionsmedium. Damit gehen erweiterte Möglichkeiten des Nicht-Zeigens in der künstlerischen Fotografie einher, die exemplarisch anhand der Fallbeispiele in Kapitel 3 näher vorgestellt werden. Dabei kommen fakultative bildliche Negationen zum Einsatz, wie sie gerade KünstlerInnen zur Verfügung stehen, wie Abstraktion oder Fiktion beispielsweise. Ästhetisierungen sind im Kunstkontext erlaubt, während FotojournalistInnen regelmäßig Ästhetisierungsvorwürfe treffen. Da Sicht-

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Vgl.: Philippe Dubois, Fotografische Installationen und Skulpturen oder eine gewisse Tendenz in den Beziehungen zwischen Fotografie und zeitgenössischer Kunst, in: Herta Wolf (Hg.), Skulpturen – Fragmente: Internationale Fotoarbeiten der 90er Jahre, Ausst.-Kat., Göttingen 1992, (73–101): 91. Vgl.: Katharina Steidl, Am Rande der Fotografie, Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2019: 30. Rosalind Krauss, Das Photographische, Eine Theorie der Abstände (Le Photographique, pour une Théorie des Écarts, 1990), München 1998. Während die Piktorialisten sich noch an der Malerei abarbeiteten, um den künstlerischen Status der Fotografie zu verteidigen, nutzen die KünstlerInnen der 1970er Jahre in ihren Abstraktionen fotografische Sinnstiftungen – der Abdruck und die Spur werden zu den zentralen Ausdrucksmitteln. Vgl.: Schönegg, Kalkulierte Distanz (2013): 51. Mit dem Begriff der »post-medium condition« wollte Rosalind Krauss die multimediale, hybride Form zeitgenössischer Kunst fassen. Rosalind Krauss, »A Voyage On The North Sea«, Art In The Age Of The Post-Medium Condition, New York 1999: 20. Siehe: Clement Greenberg, Die Essenz der Moderne, Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg 2009.

1. Nicht-Zeigen

barkeit ambivalent178 ist, bedarf es reflexiver Praxen, wie sie beispielsweise in Strategien des Nicht-Zeigens zum Ausdruck kommen können. Museen können dabei als »autonome Versuchsfelder« und »Räume für alternative Reflexions- und Entscheidungsprozesse« fungieren.179 Dies setzt AkteurInnen voraus, die sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsebene reflektieren. Eine aktive BetrachterInnenrolle ist für das Nicht-Zeigen essentiell. Im Folgenden wird die besondere Rezeptionssituation betrachtet, die dies ermöglicht.

1.3.3 Die Rezeptionsebene – Implizite Bilder und ihre BetrachterInnen Nicht-Zeigen ist auch im Museum immer zeigend. Dies gilt sowohl auf Ebene der Kunstwerke als auch auf institutioneller Ebene.180 Wann immer etwas nicht gezeigt wird, muss etwas anderes dafür sichtbar werden. Irgendetwas muss schließlich die Aufmerksamkeit der RezipientInnen auf sich ziehen. Kunst entsteht um gezeigt, um gesehen zu werden. Es geht bei den Strategien des Nicht-Zeigens insofern nicht um eine Abkehr von Sichtbarkeit im Sinne einer »Denigration of Vision«, wie sie Martin Jay für die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts ausgemacht hat.181 Jay arbeitet in seinem gleichnamigen Buch die Kritik an der »Dominanz des Sehens in der westlichen Kultur« und die damit einhergehende Abwertung des Auges und des Blicks anhand einer Diskursanalyse heraus, bei der er neben Jean-Paul Sartre, Jaques Lacan, Michel Foucault unter anderem auch Roland Barthes berücksichtigt.182 Vielmehr Zur Ambivalenz der Sichtbarkeit siehe: Johanna Schaffer, Ambivalenzen der Sichtbarkeit, Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008: 58. 179 Rainer Ganahl, Museen und öffentlicher/gegenöffentlicher Raum im global-kapitalistischen Zeitalter der digitalen Konvertierbarkeit, in: Christian Kravagna und Kunsthaus Bregenz (Hg.), Das Museum als Arena, Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln 2001, (163–165): 165. 180 Im Katalog zu Arwed Messmers Ausstellung »no evidence/kein Beweis« im Museum Folkwang Essen (09. Juni bis 03.September 2017) bemerkt Florian Ebner: »Das Zeigen von Bildern schließt immer auch das Nicht-Zeigen von Bildern ein.« Florian Ebner, Alte Indizien, neue Bilder, in: Ders. und Martin Hager (Hg.), Arwed Messmer, RAF No Evidence/kein Beweis, Ausst.-Kat., Berlin 2017: Beileger ohne Seitenangaben. 181 Siehe: Martin Jay, Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley 1993. 182 Ders., Den Blick erwidern, Die amerikanische Antwort auf die französische Kritik am Okularzentrismus, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick, Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, (154–174): 154.

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geht es um eine Sensibilisierung für Themen deren Sichtbarmachung durch explizite und mitunter verstörende Bilder kontrovers ist, die jedoch mittels Strategien des Nicht-Zeigens evoziert werden können. Hier sind die RezipientInnen in besonderem Maße gefordert, schließlich werden sie nicht mit expliziten Bildern des Leids konfrontiert, sondern mit impliziten Bildern, die evozieren und bei denen sie zu KoproduzentInnen werden. Im musealen Raum wird das Zeige-Potential von Bildern voll ausgeschöpft. Wie Lambert Wiesing betont, wird hier das Bild in »seiner Potentialität gezeigt.«183 In »Sehen lassen, Die Praxis des Zeigens« (2013) formuliert es Wiesing so: »Weil im Kunstmuseum das Bild selbst gezeigt wird, wird gezeigt, was es zeigen kann. Es kommt zur Ausstellung seiner Möglichkeiten des Zeigens. Das Ausstellen ist ein Freistellen von Möglichkeiten.«184 Seinem Kontext enthoben, zeigt das Bild zunächst nichts Spezifisches, es wird allerdings in der Möglichkeit etwas zu zeigen ausgestellt. Durch die Sinnzuschreibungen, die in jeweils individueller Aushandlung durch die RezipientInnen im Museum generiert werden, kann ein Bild potentiell unendlich viel zeigen und bedeuten. Dabei können die RezipientInnen, wie bereits erwähnt, insbesondere durch Negationen, also Nicht-Zeigen, zu KoproduzentInnen impliziter Bilder werden. Die »ikonische Potentialität« resultiert gerade aus einer Abkehr von der Repräsentation, zu der es bei den Strategien des Nicht-Zeigens kommt.185 Mit der Deutungsoffenheit und Freiheit der Sinnzuschreibungen wird von den Betrachtenden eine ästhetische Kompetenz gefordert. Hier erweist sich der Zweifel, erweist sich die Ambiguität, als Kraft. Dieser Zweifel in der Rezeption und Produktion des künstlerischen Schaffens kann auch als Ethik der Freiheit bezeichnet werden, die sich besonders im musealen Raum eröffnet.186 Die Freiheit im künstlerischen Prozess gilt nämlich ebenso für die Rezeptionssituation, denn es gibt hier kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Aus dieser Freiheit resultiert wiederum Verantwortung sowohl für die ProduzentInnen als auch für die RezipientInnen. Lorenz Dittmann schreibt, dass Verantwortung nur aus Freiheit resultieren könne, die sich schließlich in Handlungen 183

Wiesing nach Hoins und Mallinckrodt. Katharina Hoins und Felicitas von Mallinckrodt, Der dritte Ort, Neuer Materialismus im Museum, in: Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.), Das Museum als Provokation der Philosophie, Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld 2018, (199–213): 205. 184 Wiesing, Sehen lassen (2013): 187 (Hervorh. im Orig., L. W.). 185 Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen (2008): 201. 186 Vgl.: Fabienne Brugère, La responsabilité des artistes, L’art est-il réparateur? In: Beaux-Arts de Paris, Paris 2017 (165–183): 183.

1. Nicht-Zeigen

konkretisieren müsse.187 Im freien Raum der Kunst können selbstverständlich auch explizite Bilder des Leids gezeigt werden, wie beispielsweise in Arbeiten des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn. In The Incommensurable Banner (2007), ein 4 x 18 Meter langes weißes Banner, applizierte Hirschhorn Fotografien brutaler Szenen, die er dem Internet oder Magazinen entnommen und für seine Arbeit reproduziert hat. Hanno Rauterberg schreibt zur Integration grausamer Fotos in Hirschhorns Installationen: »Sowenig die Fotografie eines geköpften Menschen ein unschuldiges Bild ist, so wenig lässt sich von der postautonomen Kunst behaupten, sie existiere in einem ethischen Vakuum.«188 Ein verstörendes Bild bleibt auch im Kunstkontext verstörend. Wenn KünstlerInnen mit anstößigem Bildmaterial arbeiten, gilt es dies zu rechtfertigen, und zwar auch formalästhetisch. Verantwortung zu übernehmen bedeutet letztlich eine gewisse Ausdrucksform zu wählen, die eine Haltung reflektiert.189 Auch die RezipientInnen sind für die Bedeutungen verantwortlich, die sie in Anbetracht ihrer jeweiligen Interpretationshorizonte, in Auseinandersetzung mit den Werken, entwickeln. Dies ist dann insbesondere hinsichtlich der Entscheidung bei Gräuelbildern und traumatischen Themen hin- oder wegzusehen interessant. Susan A. Crane schreibt, dass die Entscheidung wegzusehen eine radikale Alternative darstelle, die sorgsam artikuliert werden müsse, um eine wirkliche Entscheidung zu ermöglichen und um nicht bloß eine Zuflucht für diejenigen zu bieten, die angewidert oder ignorant seien.190 Wenn Bilder aber zurückgehalten, explizite Bilder vermieden und mittels impliziter Bilder Themen evoziert werden, dann wird mit den »Routinen eines aufs Bescheidwissen und Verfügen zielenden Sehens« gebrochen, schreibt

Vgl.: Lorenz Dittmann, Freiheit und Verantwortung in Kunsttheorie und Kunst des 20. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Wir sehen jetzt im Spiegel rätselhaft: Otto von Simson zum Gedächtnis, Berlin 1996 (59–72): 59. 188 Hanno Rauterberg, Die Kunst und das gute Leben, Über die Ethik der Ästhetik, Berlin 2015: 33. 189 Vgl.: Dagmar Fenner, Was kann und was darf Kunst? Ein ethischer Grundriss, Frankfurt a.M. 2013: 205. 190 Vgl.: Susan A. Crane, Choosing Not to Look: Representation, Repatriation, and Holocaust Atrocity Photography, in: History and Theory, Vol. 47, No. 3 (Oct. 2008), (309–330): 311, 312. 187

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Eva Schürmann.191 Dabei gilt es im Modus des entdeckenden Sehens die »Spalte zwischen Sehen und Wissen« zu schließen.192 Ludger Schwarte spricht von einem »andere(n) Sehen«, das sich oft als »imaginatives Auffüllen des optisch Erfassten« äußert und welches insbesondere durch bildliche Negationen evoziert wird.193 Im musealen Raum herrschen auch für die zeitliche Dimension der Rezeptionssituation besondere Umstände. Dies betrifft die Zeit, die die RezipientInnen mitbringen, die freie Zeit, die sie im musealen Raum verbringen. Damit geht eine Offenheit für das Neue und Unbekannte und für die Kunstwerke einher, die sie sehen möchten und von denen sie sich anregen lassen wollen. Josef Früchtl spricht in diesem Zusammenhang von einem »Irritations- und Anregungspotenzial«, das der Kunst eignet:194 »Ästhetische Erfahrungen zu machen, heißt also, Irritationskompetenz auszubilden, die Fähigkeit, sich verunsichern, reizen und herausfordern zu lassen.«195 Die Kunst eignet sich hier in besonderem Maße, da sie im Modus des Neuen agiert und insofern tendenziell immer irritiert.196 Dies gilt insbesondere wenn durch Strategien des NichtZeigens Negationen zum Einsatz kommen.197 An diesem Irritationspotential macht Früchtl dann auch den »Nutzen des Ästhetischen« für eine demokratische Kultur fest.198 Dies ist eine Idee, die auch Jacques Rancière verfolgt, und um die es in Kapitel 2.3 gehen wird.

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Schürmann stellt das Kunstsehen explizit heraus, da sich an ihm Sehen als »ein methodisch praktiziertes Anderssehen« äußere. Eva Schürmann, Sehen als Praxis, Ethischästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M. 2008: 211. 192 Bernhard Waldenfels, Ordnungen des Sichtbaren, in: Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach und Bernd Stiegler (Hg.), Bildwissenschaft und Visual Culture, Reihe Basis-Scripte, Reader Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014, (111–129): 111. 193 Schwarte, Pikturale Evidenz (2015): 66. 194 Josef Früchtl, Vom Nutzen des Ästhetischen für eine demokratische Kultur, ein Plädoyer in zehn Punkten, in: Ilka Brombach, Dirk Setton und Cornelia Temesvári (Hg.), »Ästhetisierung«, Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis, Zürich 2010, (119–132): 131. 195 Früchtl, Vom Nutzen des Ästhetischen für eine demokratische Kultur (2010): 131 (Hervorh. im Orig., J. F.). 196 Vgl.: Ebd. 197 Vgl.: Thomas Khurana et al. (Hg.), Negativität – Kunst, Recht, Politik, Berlin 2018: 21. 198 Früchtl, Vom Nutzen des Ästhetischen für eine demokratische Kultur (2010): 119.

1. Nicht-Zeigen

1.4 Synthese Nicht-Zeigen ist immer zeigend. Auch wenn Bilder für bestimmte Negationen, im Sinne eines kontradiktorischen Ausschlusses, weniger geeignet sind als sprachliche Aussagen, sind ihnen doch, wie gezeigt werden konnte, konstitutive Negationen eigen, beispielsweise basierend auf der ikonischen Differenz und dem Figur-Grund-Verhältnis. Zudem sind fakultative Negationen möglich, wie unter anderem Abstraktion und Fiktion, die strategisch zum Einsatz kommen können. An die Bejahung der Frage ob Nicht-Zeigen möglich ist, schließt sich die Frage an, warum Nicht-Zeigen nötig ist. Trotz ihrer Manipulierbarkeit und der Krise der Repräsentation werden Fotografien aufgrund ihres repräsentativen Potentials immer noch dazu eingesetzt zu zeigen, dass etwas so gewesen ist. Dies ist insbesondere im Fall von Schockfotografien virulent, die die BetrachterInnen direkt treffen und verstören können. Ob sie die BetrachterInnen treffen und ihre Aufmerksamkeit erreichen, hängt von vielen Faktoren ab. Letztlich gibt es ebenso viele Gründe ein schockierendes Foto explizit zu zeigen, wie es nicht zu zeigen. Georges Didi-Huberman plädiert trotz der Lückenhaftigkeit fotografischer Darstellung dafür, auch Bilder von Gräueln, wie die vier Fotos aus einem Krematorium in Auschwitz Birkenau, zu zeigen. Für seine Argumentation ist der bildkritische Blick wichtig, der es erlaubt, die Bilder in Zweifel zu ziehen. Solch ein Blick wird gerade auch im künstlerischen Kontext geschult. Je nach Kontext gelten unterschiedliche Bedingungen für die Produktion und Rezeption von Fotografien. Aufgrund der epistemischen Varianz bieten sich für KünstlerInnen – bei gleichen Anliegen wie FotojournalistInnen über politische Konflikte, Elend und Missstände aufzuklären – erweiterte Möglichkeiten im Umgang mit Fotos und den Themen, die sie visualisieren. KünstlerInnen sind in ihren Ausdrucksmöglichkeiten frei und können neben digitalen Techniken auch analoge und beispielsweise kameralose fotografische Verfahren einsetzen. Die künstlerische Fotografie bietet besondere Möglichkeiten des Nicht-Zeigens, da sich durch Verschiebungen in der Nutzung der Fotografie vom Dokument hin zum Material erweiterte Ausdrucksformen eröffnen. Die Fotografie eignet sich als Reflexionsmedium dabei insbesondere für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Besonders an Orten der Sichtbarkeit, wie in Museen, ist allerdings von KünstlerInnen im Umgang mit expliziten Bildern des Leids erhöhte Sensibilität gefordert. Mittels Strategien des Nicht-Zeigens können repräsentationskritische Sehangebote geschaffen werden, die durch die besondere Rezeptionssituation im Museum die Aufmerk-

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

samkeit der BetrachterInnen gewinnen können. Im Modus des entdeckenden Sehens werden sie zu KoproduzentInnen impliziter Bilder. Da es keine einheitlichen, verpflichtenden Regeln für den Umgang mit Fotos des Leids gibt, sind Strategien wichtig, wie sie im Bereich der zeitgenössischen Kunst angewendet werden. Die Repräsentationskrise betrifft die künstlerische Fotografie ebenso, wie die Schockfotografie. Allerdings kann sich die Kunst angesichts dieser Krise weiterentwickeln und diese thematisieren.199 Das Nicht-Zeigen in der künstlerischen Fotografie bietet eine Möglichkeit, sich der Repräsentationskrise zwar bildkritisch aber dadurch auch wieder bildbefürwortend zu nähern. Die verschiedenen Strategien des Nicht-Zeigens bieten Optionen neben den Extremen, das explizite Bild zu zeigen oder nichts zu zeigen. Insbesondere fakultative Negationsmöglichkeiten, wie zum Beispiel die fotografische Abstraktion mittels Foto- und Luminogramm, die in der dokumentarischen Fotografie, die Gegenständliches zeigen möchte, nicht zielführend wären, stehen in der künstlerischen Fotografie zur Verfügung. Nun stellt sich gerade auch bei Strategien des Nicht-Zeigens die Frage, ob der Ästhetisierungsvorwurf, den Sontag in Bezug auf Salgados schwarz-weiß Fotografien erhebt, hier nicht in besonderem Maße greift. Salgado zeigt das Elend – wenn auch durch die farbliche Reduzierung distanziert – gleichwohl explizit. Alfredo Jaar hingegen zeigt den leeren Strand ohne Leiche, Ai Weiwei legt sich selbst an den Strand. Allerdings agieren die Künstler im Kunstkontext, in dem – im Gegensatz zum Fotojournalismus – offensichtliche Ästhetisierungen erlaubt sind, wenngleich auch sie der Kritik ausgesetzt sind. Das Bild, auf das sie sich beziehen, in diesem Fall das Bild Alan Kurdis am Strand, ging um die Welt. Das explizite Bild ist im Internet überall jederzeit verfügbar. Ihre künstlerischen Bilder nehmen eine ergänzende Funktion ein200 , ersetzen 199 In diesem Sinne konstatiert auch Stiegler: »In Zeiten der Krise der Repräsentation […] bietet die Fotografie die Möglichkeit, die Repräsentation zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung zu machen, sich auf die Wirklichkeit und die Tradition zu beziehen und dabei auch die Frage nach der Funktion von Kunst zu stellen.« Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 119 (Hervorh. im Orig., B. S.). 200 Auf die wechselseitige Ergänzung fotojournalistischer und künstlerischer Bilder, zielten auch die von Florian Ebner verantworteten Ausstellungen »Rhetorik der Bilder – Über das journalistische Foto« (21.03.2010 – 25.04.2010) im Museum für Photographie Braunschweig und »Calais. Témoigner de la ›Jungle‹. Bruno Serralongue. Agence France-Presse. Les habitants« im Centre Pompidou in Paris (16.10.2019 – 24.02.2020) ab. Siehe: O. A., Rhetorik der Bilder, Über das journalistische Foto, Museum für Photogra-

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das explizite Bild aber keineswegs. Die Veröffentlichung des Bilds zeitigte eine direkte Wirkung in Form erhöhter Spendenzahlen201 und machte die Öffentlichkeit auf die Problematik gefährlicher Fluchtrouten aufmerksam. Mit den Mitteln der Kunst, die nur im Kunstkontext eingesetzt werden können, ermöglichen Alfredo Jaar und Ai Weiwei mit ihren Strategien des Nicht-Zeigens auf das Schicksal von Geflüchteten hinzuweisen, ohne zu schockieren, aber gerade dadurch eröffnen sie neue Perspektiven auf unseren Umgang mit Geflüchteten. Warum sich die künstlerische Fotografie für Strategien des Nicht-Zeigens insbesondere eignet, soll im Folgenden mit Blick auf drei exemplarische Diskurse geschehen, anhand derer die Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen verortet werden kann, bevor anschließend auf konkrete Beispiele künstlerischer Strategien des Nicht-Zeigens eingegangen wird.

phie Braunschweig, online: https://www.photomuseum.de/rhetorik-der-bilder-uberdas-journalistische-foto/, zugegriffen am 24.01.2023; O. A., Calais, Témoigner de la ›Jungle‹. Bruno Serralongue. Agence France-Presse, Les habitants, Centre Pompidou Paris, online: https ://www.centrepompidou.fr/fr/programme/agenda/evenement/c4EgAaA, zugegriffen am 24.01.2023. In beiden Ausstellungen wurden Pressefotografien auf den Titelseiten von Zeitungen mit künstlerischen Auseinandersetzungen mit den thematisierten Konflikten parallelisiert, wobei laut Ebner in der Zusammenschau ergänzende Perspektiven eröffnet werden. Vgl.: Astrid Köhler, Ann Kristin Krahn und Linda Sandrock, Offen, Ortlos, Handlungsfelder in der digitalen Bildkultur, ein Interview mit Florian Ebner, in: Ilka Becker et al. (Hg.), Fotografisches Handeln, Marburg 2016, (132–159): 153. 201 Vgl.: Heike Faller, Ohne Ihn, in: Jutta Allmendinger et al. (Hg.), ZEIT Magazin, Nr. 3, 14. Januar 2016, (14–30): 30.

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2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

2.1 Susan Sontag – Von der Ökologie der Bilder zur Verantwortung, hinzusehen 2.1.1 Susan Sontags Schreiben zwischen Ethik und Ästhetik »Zu leiden ist etwas anderes, als mit fotografischen Abbildungen des Leides zu leben,« schreibt Susan Sontag.1 Während man dem selbst erfahrenen Leid unmittelbar ausgesetzt ist, kann man sich dem lediglich abgebildeten, fremden Leid entziehen. Stets hat man hier Optionen, die Augen vor dem Gezeigten zu verschließen, den Blick abzuwenden oder aber aktiv hinzusehen, um sich dem gezeigten Leid zu stellen. Sontag muss es wissen: Die Schriftstellerin und Essayistin, die selbst mehrere Krankheiten bis zu ihrem Tod an Leukämie 2004 erleiden musste, setzte sich zeitlebens mit den Bildern des Leidens anderer auseinander und insistierte darauf, dass wir – trotz der Option des Wegsehens – hinsehen müssen. Eine Einsicht, die sie freilich erst im Laufe der Zeit entwickelt. Susan Sontag widmet sich dem Zusammenspiel von Ethik und Ästhetik in der Fotografie vor allem in ihren zwei Publikationen »Über Fotografie« (1977) und »Das Leiden anderer betrachten« (2003).2 Beide Essaybände sind in Anbetracht zweier Kriege entstanden und können als Reaktionen auf die Erfahrungen mit ihnen gelesen werden, wobei Sontag insbesondere die Rolle

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Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 26. Sontag publizierte bereits seit 1973 Essays über Fotografie in der New York Review of Books, die in Über Fotografie zusammengeführt sind. Siehe: Sontag (2003), Über Fotografie (1977); Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003).

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der Bilder untersucht, durch die diese Kriege vermittelt wurden und werden. »Über Fotografie« schrieb sie vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs (1955–75). Als sogenannter »Living-Room War«3 erreichte er über Fernsehbilder die Wohnzimmer der US-amerikanischen Bevölkerung und auch jene, die selbst vom Kriegsgeschehen im Alltag nicht betroffen waren. Im weiteren Verlauf von »Über Fotografie« verweist Sontag allerdings hauptsächlich auf Beispiele der kanonischen amerikanischen Fotografie von Alfred Stieglitz, Paul Strand, Walker Evans, Dorothea Lange bis Diane Arbus. Die Kriegsfotografie spielt dabei eher eine Nebenrolle, sie gibt gelegentlich Anstoß zur Reflexion, bildet aber nicht den eigentlichen Gegenstand des Buchs, in dem sie die Fotografie vielmehr allgemein kulturwissenschaftlich betrachtet. Anders verhält es sich in dem Essayband »Das Leiden anderer betrachten«, in dem Sontag rezeptionsästhetisch argumentiert und dezidiert die historische und zeitgenössische Kriegsfotografie und Fotografien von Gräueln bespricht. Diese, zu Lebzeiten von Sontag letzte Publikation in Buchform, steht in direktem Zusammenhang mit den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001 und dem daran anschließenden »Krieg gegen den Terror« in Afghanistan, der später als »Krieg der Bilder« eingestuft wurde.4 Die Form des Essays, die Sontag gewählt hat, ermöglichte ihr den subjektiven Zugang, der ihr auch Kritik einbringen sollte.5 Man mag Susan Sontag vorwerfen, nicht wissenschaftlich zu arbeiten.6 Den Freiheiten der Gattung 3

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Michael J. Arlen widmet dem Begriff »Living-Room War« sein gleichnamiges Buch und untersucht darin das Verhältnis von Kriegsberichterstattung mittels Fernsehübertragung und den Reaktionen in der Bevölkerung auf den Vietnamkrieg. Siehe: Michael J. Arlen, The Living-Room War, Syracuse 1997. Die einschlägigen Gedanken in Das Leiden anderer betrachten entwickelte Sontag bereits im Vorwort zu Don McCullins Fotoband und in ihrer Amnesty Rede in Oxford, die sie teilweise wortwörtlich übernimmt. Siehe: Susan Sontag, Witnessing (2003), in: Mark Holborn (Hg.), Don McCullin, New York 2015: 16–17; Susan Sontag, War Photography, in: Nicholas Owen (Hg.), Human rights, human wrongs, the Oxford Amnesty Lectures 2001, Oxford 2003: 251–273. Siehe auch: Susan Sontag, Zur gleichen Zeit, Aufsätze und Reden (At the Same Time, Essays and Speeches, 2007), hg. v. Paulo Dilonardo, München 2008. Darin insbesondere die Aufsätze: »Das Foltern anderer betrachten«, »Der 11.9.01«, »Ein paar Wochen später«, »Ein Jahr danach«. Vgl.: Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke (Hg.), Radikales Denken, Zur Aktualität von Susan Sontag, Zürich 2017: 10. Gründe hierfür könnten die nicht-universitäre Anbindung Sontags, die Heterogenität der Themen, die sie behandelt und die Form der Argumentation, die nicht an wissenschaftliche Standards gebunden scheint, darstellen. Vgl.: Karin Bruns, Schatten des Rea-

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

Essay entsprechend, weisen ihre Texte nur wenige Fußnoten auf, Quellen werden nur vage durch Nennung des Autors oder der Autorin angegeben und Thesen oftmals nicht belegt.7 Sontag folgt offenbar der Devise des von ihr hoch geschätzten Joseph Brodsky, die sie in ihrem Tagebuch aus dem Jahr 1977 festhält: »Wenn du zitiert werden willst, zitiere nicht.«8 Für sie ist diese Rechnung aufgegangen. Ihre Schriften wurden und werden noch heute sehr häufig angeführt.9 Mit Ihrem Nachdenken über Fotografien des Leids setzte Sontag wichtige Akzente, die weiterhin Aktualität besitzen und die fortwährende Auseinandersetzung mit der Autorin und ihren Thesen erklären.10 Ein prominentes Beispiel liefert Judith Butler, die Sontag in »Raster des Krieges, Warum wir nicht jedes Leid beklagen« (2009) gleich ein ganzes Kapitel widmet.11 Sontag hatte der Fotografie in ihren beiden Publikationen, in Anlehnung an Vilém Flusser, mangelnde Narrativität vorgeworfen.12 Fotografien könnten nichts erklären.13 Butler weist hingegen darauf hin, dass jede Fotografie bestimmten Rastern unterworfen ist.14 Fotografien sind demnach immer Interpretationen

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len, Susan Sontags Perspektiven auf Film und Fotografie, in: Jan Engelmann, Richard Faber und Christine Holste (Hg.), Leidenschaft der Vernunft, Die öffentliche Intellektuelle Susan Sontag, Würzburg 2010 (93–105): 104f. An den wenigen Stellen, wo Sontag mit Fußnoten arbeitet, dienen diese meist nicht dem Zweck Quellen zu nennen, sondern dazu, eine getätigte Aussage zu untermauern. Im Anhang von »Über Fotografie« führt sie »Eine kleine Zitatensammlung (Hommage an W. B.)« auf, allerdings ebenfalls unter Ermangelung genauer Quellenangaben. Siehe: Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 173–192. Brodsky nach Sontag. Susan Sontag, Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke, Tagebücher 1946–1980, München 2013: 438. Bernd Stiegler zählt Sontags Texte »zu den kanonischen Texten der Fotografietheorie«. Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 229. Auch in Wolfgang Kemps Anthologie »Theorie der Fotografie III« mit Texten zur Fotografie, ist ein Auszug aus Über Fotografie von Sontag integriert. Siehe: Susan Sontag, Die Bilderwelt (1977), in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie III, 1945–1980, München 1983: 243–250. Hier sei auf zwei Sammelbände hingewiesen, die jeweils Essays beinhalten, die dezidiert auf die Verbindung Fotografie-Krieg-Leid Bezug nehmen. Siehe: Dieter und Tiedtke (Hg.), Radikales Denken (2017); Engelmann, Faber und Holste (Hg.), Leidenschaft der Vernunft (2010). Judith Butler, Folter und die Ethik der Fotografie – Denken mit Susan Sontag, in: Dies. (2010), Raster des Krieges (2009): 65–97. Siehe: Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1985. Vgl.: Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 29. Vgl.: Butler (2010), Raster des Krieges (2009): 70f.

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von Welt(sichten) deren Qualität weit über die bloße Wiedergabe im Sinne eines So-ist-es-gewesen hinausgehe. Butler ist der Auffassung, dass die Fotografie, indem sie die Realität in einem Rahmen erfasst, bereits festgelegt hat, was innerhalb des Rahmens von Bedeutung ist, und diese Grenzziehung ist ganz gewiss eine Interpretation, ebenso wie die unterschiedlichen Effekte von Kamerawinkel, Fokus, Licht usw. Interpretationscharakter besitzen.15 Auch Butler kommt daher zu dem Schluss, dass der »Schauplatz der Fotografie«, das Wie des Zeigens, von Bedeutung ist.16 Der Streit um die Rahmung der Bilder des Leids »bedarf eben auch der Worte« und in diesem liefert Susan Sontag wichtige Argumente.17 Zwischen 1977 und 2003 ist freilich fotografisch viel passiert. Gleichwohl ist die »Flut« der Bilder, die Sontag beklagte18 , nicht abgeschwollen und auch die Verflechtung von Krieg und Fotografie, die sie bereits 1977 diagnostizierte, ist weiter aktuell: »Krieg und Fotografie scheinen heutzutage untrennbar miteinander verknüpft, und Flugzeugkatastrophen oder andere grausige Ereignisse haben ihre besondere Anziehungskraft für Leute mit Kameras.«19 Sind Fotografien in den 1970er Jahren als Objekte noch physisch greifbar, sind sie 2003 zu digitalen Informationen geworden, die längst nicht mehr nur FotojournalistInnen und Profis vorbehalten sind, sondern von jedermann unmittelbar übertragen, veröffentlicht und verbreitet werden können.20 Vor dem Hintergrund andauernder kriegerischer Auseinandersetzungen – »Wer glaubt heute noch, der Krieg lasse sich abschaffen?«21 – und ihrer fotografischen Aufbereitung, unterzog Sontag ihre in »Über Fotografie« formulierten Gedanken in »Das Leiden anderer betrachten« einer Revision. Zum Teil gelangte sie dabei zu diametral entgegengesetzten Aussagen als noch 26 Jahre zuvor.

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Ebd.: 68. Ebd.: 79. Aida Bosch und Christoph Mautz, Die Eigenlogik globaler Krisenbilder. Kriegsfotografie zwischen Ethik und Ästhetik, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Transnationale Vergesellschaftungen, Wiesbaden, 2013, (297–308): 307 (Hervorh. im Orig., A. B. und C. M.). Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 125. Dies. (2003), Über Fotografie (1977): 160. Vgl.: Sontag (2008), Zur gleichen Zeit (2007): 173. Dies. (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 11.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

Im Folgenden wird zunächst untersucht, welche Aspekte in »Über Fotografie« in Bezug auf das Zeigen und Nicht-Zeigen behandelt werden. In Kontrast hierzu werden anschließend die entsprechenden Aussagen in »Das Leiden anderer betrachten« beleuchtet. Trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten über die Fotografie und ihre Wirkung in diesen Publikationen Sontags lässt sich, insbesondere in Bezug auf die Skepsis der Präsentation von Bildern des Leids im musealen Kontext, dennoch aus diesen beiden Texten ein einheitlicher Eindruck gewinnen. Wie zu zeigen sein wird, lassen sich Sontags Gedanken von 1977 über das »Wie« der Präsentation und des Betrachtens der Bilder mit jenen von 2003 durchaus zusammendenken. Sontag hält nämlich an der Überzeugung fest, dass beim Nachdenken über Fotografien, dem Zeigen und Betrachten von Bildern des Leids große Bedeutung zukommt.

2.1.2 Gegen Fotografie oder für eine Ökologie der Bilder »Alles begann,« schreibt Susan Sontag im Vorwort zu »Über Fotografie«, »mit einem Essay über bestimmte ästhetische und moralische Probleme, die durch die Allgegenwart fotografischer Abbildungen aufgeworfen werden.«22 Der Ausgangspunkt ihres Nachdenkens über Fotografie war die Feststellung einer Ubiquität fotografischer Bilder und der Probleme, die diese den zeitgenössischen BetrachterInnen bereiten könnten.23 Angesichts einer »unberechenbaren«24 Auswirkung von Bildern, bezieht Sontag sehr klar Stellung, und zwar gegen die Fotografie.25 Dabei attestiert Sontag einzelnen Aufnahmen, wie etwa Nick Úts Fotografie des südvietnamesischen Mädchens Kim Phuc, das nackt und mit seitlich ausgestreckten Armen vor einem Napalm Anschlag wegläuft, durchaus eine Wirkmächtigkeit.26 So hält sie es für möglich, dass dieses Foto dazu beigetragen haben könnte, die öffentliche Meinung gegenüber dem Vietnamkrieg zu

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Dies. (2003), Über Fotografie (1977): Vorwort o.S. Vgl.: Ebd. Ebd.: 29. Auch Wolfgang Kemp weist daraufhin, dass »Gegen Fotografie« der passendere Titel wäre. Vgl.: Wolfgang Kemp, Susan Sontag, Vorwort, in: Ders. (Hrsg), Theorie der Fotografie III (1983): 243. Hierbei handelt es sich um die einzige Fotografie aus dem Vietnamkrieg, die Sontag bespricht. Vgl.: Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 24.

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beeinflussen.27 Es gelte aber, dass Fotografien lediglich dann die persönliche Gesinnung von Betrachtenden beeinflussen könnten, wenn bei diesen eine Tendenz in die eine oder andere Richtung bereits angelegt sei.28 Die Wirkung einer einzelnen Fotografie schätzt Sontag in diesem Zusammenhang stärker ein, als jene der schier unzähligen Fernsehbilder.29 Die Wirkmächtigkeit von Bildern gehe mit ihrer Neuheit einher: »Fotografien schockieren, insofern sie etwas Neuartiges zeigen.«30 Die ständige Wiederholung im Fernsehen bewirke hingegen eher das Gegenteil. Die Wirkmächtigkeit von Bildern hänge also, so Sontag, mit der quantitativen Verfügbarkeit der Bilder zusammen. Auch deswegen problematisiert sie die ständig zunehmende Zahl solcher Schreckensbilder.31 Die meisten Fotografien verlören mit der Zeit ihre Wirkung.32 Eine Ausnahme stellen für Sontag Fotos der Nazi-Gräuel dar, die den »Rang von ethischen Bezugspunkten«33 bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust erreicht hätten. Als Sontag als Zwölfjährige in einer Buchhandlung in Santa Monica mit Fotos aus den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Dachau konfrontiert wird, wird dies für sie zum Initiationsmoment, das sie als »negative Epiphanie« beschreibt.34 Den Nutzen dieser Fotografien erkennt sie damals noch nicht, ist es ihr doch retrospektiv nicht möglich, an dem dargestellten Leid etwas zu ändern, dennoch wäre dies aber, so darf man folgern, der Imperativ, der von solchen Bildern ausgehen müsse. In der Masse allerdings, so Sontag, gehen die ethischen Bezugspunkte verloren, die Bilder des Leids liefern können, die »Schockwirkung fotografierter Greueltaten läßt bei wiederholter Betrachtung nach.«35 Sontag schreibt über Compassion Fatigue36 und scheint selbst von diesem Phänomen betroffen zu sein, denn die Affizierung der RezipientInnen wird durch die kontinuierliche Konfrontation mit Schockfotos geschmälert: 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Eine Ansicht, die heutzutage angezweifelt wird. Vgl.: Annette Vowinckel, Agenten der Bilder, Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016: 18. Vgl.: Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 24. Vgl.: Ebd.: 23. Ebd.: 25. Ebd. Vgl.: Ebd.: 25f. Ebd.: 26. Ebd.: 25. Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 26. Vgl.: Chouliaraki, The Spectatorship of Suffering (2006): 112ff.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

Hat man einmal solche Bilder betrachtet, dann ist man bereits auf dem Weg mehr davon zu sehen – und immer mehr. Bilder lähmen. Bilder betäuben. Ein Ereignis, das wir durch Fotografien kennen, erlangt für uns zweifelllos mehr Realität, als wenn wir diese Bilder nie gesehen hätten – man denke an Vietnam. […] Aber je öfter man mit solchen Bildern konfrontiert wird, desto weniger real erscheint das betreffende Ereignis.37 Fotografien können demnach eine paradoxe Wirkung haben, die Funktion der Kamera ist dabei, Sontag zufolge, ebenfalls paradox. Sie bezeichnet die Kamera nämlich als »Gegengift und Krankheit zugleich, Mittel zur Aneignung der Realität und Mittel zu ihrer Abnutzung.«38 Es sind genau diese entgegengesetzten Effekte der Fotografie, nämlich der einer möglichen Anteilnahme dank der Vermittlung der Realität durch Bilder und das Phänomen des gleichzeitigen Abstumpfens durch Fotos, die Sontag in »Das Leiden anderer betrachten« kritisch hinterfragen wird.39 Sontag bezeichnet die ethische Wirkung von Fotografien als »fragil«.40 Fotografien, die Leiden sichtbar machen, könnten schockieren und Mitgefühl wecken, ihre Wirkung könnte jedoch auch sein, dass sie die Gefühle des Betrachters »korrumpieren«41 oder mitunter sogar Lust bereiten. Sontag reflektiert immer auch das Umfeld von Fotografien, den Kontext, in dem sie präsentiert werden. Im öffentlichen Gebrauch sind Fotografien nicht in einen festen Kontext eingebettet, wie es im Falle von Familienfotos im privaten Raum der Fall ist. Deshalb sind Fotografien laut Sontag im öffentlichen Kontext deutungsoffen, sie können nichts erklären.42 Dies ist Sontags Hauptargument, um Bilder als Medien der Gegenaufklärung zu deklarieren, wohingegen Texte erklären und informieren könnten.43 Sie zitiert in diesem Zusammenhang Brechts kurzen Text »Durch Fotografie keine Einsicht« (um 1930): Er weist darauf hin, dass eine Fotografie einer Fabrik keine genaueren Aussagen über diese zulasse.44

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Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 26. Ebd.: 171. Vgl.: Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 126. Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 26. Ebd.: 26. Vgl.: Ebd.: 29. Vg.: Ebd.: 28. Vgl.: Bertolt Brecht, Durch Fotografie keine Einsicht (um 1930), in: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 44.

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Ob eine Fotografie in einem Museum, einer Galerie, einer Zeitung oder in einem Buch gezeigt wird, spricht Sontag einen signifikanten Einfluss auf ihre Wirkung zu:45 »Da jede Fotografie nur ein Fragment ist, hängt ihr moralisches und emotionales Gewicht von der Umgebung ab, in die sie gestellt ist.«46 In einer Ausstellung von Fotografien von Diane Arbus beispielsweise würden sie zum »Härtetest«47 für das intellektuelle Großstadtpublikum. Susan Sontag übt harsche Kritik an den Fotografien von Arbus, die in ihren frontalen Portraits Menschen präsentiert, die durch das Mainstream Raster von Schönheit und Normalität fallen. Sie wirft Arbus vor, dieses Andere gezielt ins Bild zu setzen und die Portraitierten somit weiteren Blicken auszusetzen. Sontag äußert sich sehr skeptisch zur Fotografie als Kunst. Fotografie selbst versteht sie nicht als Kunst, obgleich Fotografien zu Kunstwerken avancieren könnten:48 »Die Zeit erhebt die meisten Fotografien, auch die dilettantischsten, auf die Ebene der Kunst.«49 Fotografien, die im künstlerischen Kontext entstehen, führen Sontag zufolge genauso wie dokumentarische und Amateurfotografien zu einer Entfremdung von der Realität. In Anlehnung an Platons Kritik an Bildern als Illusionen, stellt sie die These auf, dass Bilder die »Realität zum Schatten machen.«50 In Anbetracht von Sontags Ausgangspunkt, der Ubiquität fotografischer Abbildungen und ihrer verheerenden Wirkung auf das ethische Bewusstsein der RezipientInnen, scheint ihre Forderung am Ende von »Über Fotografie« nur konsequent: Es wird »nicht nur einer Ökologie der realen Dinge bedürfen, sondern auch einer Ökologie der Bilder.«51 Ist Überfluss das Problem, scheint Mäßigung die Lösung zu sein. Sontag lässt allerdings auch in diesem zentralen Punkt offen, wie eine solche bildpragmatische Ökologie, eine solche Mäßigung, auszusehen hätte und ob sie privat und individuell oder öffentlich und systemisch umzusetzen wäre. Eine Antwort gibt Sontag erst 26 Jahre später.

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Vlg.: Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 140. Ebd.: 104. Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 44. Vgl.: Ebd.: 144. Ebd.: 27. Ebd.: 172. Ebd.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

2.1.3 Revisionen Sontags: Das Leiden anderer studieren Nach dem Anschlag auf das World Trade Center New York vom 11. September 2001, der als meist fotografiertes Ereignis der Geschichte gilt, und in Anbetracht des Kriegs gegen den Terror, der zum Bilderkrieg avancieren sollte, revidiert Sontag ihre Einschätzung Fotografien des Leids betreffend. Es gibt weder weniger Kriege, noch weniger Bilder; im Gegenteil: »Endloser Krieg: endlose Bilderflut.«52 In Bezug auf die von ihr in »Über Fotografie« geforderte Ökologie der Bilder konstatiert Sontag in aller Deutlichkeit: »Eine solche Ökologie der Bilder wird es nicht geben. Kein Wächterrat wird den Schrecken für uns rationieren, damit ihm seine Fähigkeit zu schockieren erhalten bleibt. Aber auch die Schrecken selbst werden nicht abnehmen.«53 Daran anschließend tut sie ihre in »Über Fotografie« formulierte Auffassung »als konservative Kritik an der Verbreitung solcher Bilder« ab.54 War sie 1977 noch der Ansicht, dass Bilder ihre Fähigkeit zu schockieren über die Zeit einbüßten, relativiert sie diese Aussage nun: Quälende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los.55 Und heimsuchen sollen wir uns lassen, dazu fordert Sontag im weiteren Verlauf des Texts explizit auf.56 Insgesamt ist der Ton der Fotografie gegenüber in »Das Leiden anderer betrachten« weitaus anerkennender. Sontag betont die positive Wirkung von Fotografien auf unsere Erinnerung, denn wir erinnern uns über Bilder an die Vergangenheit: »Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild.«57 Sontag bleibt bei ihrer Aussage, dass Fotografien des Leids nichts erklären können.58 Sie räumt jedoch ein, dass sie Impulse geben können, zum Nachdenken anregen und deswegen als »Initialzündung« wirken können.59 Sontag spricht hiernach sogar 52 53 54 55 56 57 58 59

Sontag (2008), Zur gleichen Zeit (2007): 55. Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 125f. Ebd.: 126. Ebd.: 104. Vgl.: Ebd.: 133f. Ebd.: 29. Vgl.: Ebd.: 104f. Ebd.: 119.

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von einer Pflicht, solche Bilder zu »studieren«.60 Laut Barthes befindet man sich beim »studium«61 bereits auf einer distanzierteren Zugangsebene. Sontag aber bemerkt, »dass wir uns abwenden können, dass wir umblättern und umschalten können, tut dem ethischen Wert eines Bilderansturms keinen Abbruch.«62 Sontag betont auch hier, dass bei dem Studium der Bilder der Kontext, das Umfeld, in dem sie gesehen werden, wichtig ist. Bilder wirken sehr unterschiedlich, je nachdem wo sie gezeigt werden.63 Was den musealen Raum als Ort der Präsentation von Gräuelfotos angeht, bleibt Sontag, wie schon in »Über Fotografie«, reserviert: »Quälende Fotos vom Leiden anderer Menschen in einer Kunstgalerie zu betrachten, scheint deplatziert.«64 In jedem Museum würden Bilder zu »Stationen eines Spaziergangs«, und somit zum Unterhaltungsmedium degradiert.65 Sontags Skepsis gegenüber dem musealen Raum mag verwundern, galt sie doch als passionierte Museumsbesucherin.66 Allerdings artikuliert sie ein eingeschränktes Verständnis vom Museumsbesuch, den sie auf bloße Unterhaltung reduziert. Diese Auffassung ist kritisch zu hinterfragen, sieht man das Selbstverständnis und den Anspruch des Museums doch seit dem 19. Jahrhundert darin begründet, ein Ort des Wissens und der Bewahrung zu sein, worauf Sontag in einer ihrer wenigen Fußnoten sogar hinweist.67 Sie betont an dieser Stelle allerdings auch, dass Museen zu einem »Ambiente der Zerstreuung« avanciert seien, womit sie auf die Eventisierung im musealen Kontext und die Transformierung des Raums hin zu Lifestyle und -Shoppingarenen anspielt.68

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Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 107 (Hervorh. im Orig., S. S.). Die Formulierung von der »Pflicht, die Bilder zu ›studieren‹« übernimmt Sontag von James Allen aus dem Katalog zur Ausstellung Without Sanctuary mit Fotografien von Lynchings, die zwischen 1882 und 1968 in den USA stattfanden. Siehe: James Allen, Withouth Sanctuary: lynching photography in America, Ausst.-Kat., Santa Fe 2000. Barthes (2012), Die helle Kammer (1980): 33ff. Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 136 Vgl.: Ebd.: 140. Ebd.: 139. Ebd.: 141. Vgl.: Butler (2010), Raster des Krieges (2009): 96. Vgl. auch: Michael Krüger, Susan Sontag und Deutschland, in: Dieter und Tiedtke (Hg.), Radikales Denken (2017), (23–41): 23. Vgl.: Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 141. Ebd.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

Interessant ist, dass Sontag, trotz ihrer Vorbehalte gegenüber der Ausstellung von Fotografien im Kunstkontext, ihre Analyse zur Betrachtung von Bildern des Leids mit der Interpretation von Jeff Walls Fotografie Dead Troops Talk (A Vision After an Ambush of a Red Army Patrol near Moqor, Afghanistan, Winter 1986) (1992) (Abb. 11) schließt, einer künstlerischen Fotografie.69

Abb. 11: Jeff Wall, Dead Troops Talk (a vision after an ambush of a Red Army Patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986), 1992, Grossbilddia in Leuchtkasten, 229 x 417 cm, Edition 2 + 1 AP.

Eine Version von Dead Troops Talk könnte Sontag in der Ausstellung Uniform: Order and Disorder gesehen haben, die, nach einer Station in Florenz, auch im P.S. 1 Museum New York präsentiert wurde (20. Mai – 23. September 2001).70 Während Sontag in »Über Fotografie« der Fotografie den Kunststatus noch aberkennt, ist schließlich auch hinsichtlich der künstlerischen Fotografie zwischen 1977 und 2003 viel passiert. Wie bereits erläutert, wird die Fotografie statt nur als ein Dokument, nun als Material und Reflexionsmedium einge-

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Ebd.: 143f. Zur detaillierten Besprechung von Dead Troops Talk siehe das Kapitel 3.6 in dieser Arbeit. Siehe: Francesco Bonami, Maria Luisa Frisa und Stefano Tonchi, Uniform, Order and Disorder, Ausst.-Kat., Mailand 2000.

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setzt.71 Walls Foto Dead Troops Talk sei »in seiner Nachdenklichkeit und Eindringlichkeit exemplarisch«72 , und dies obwohl – oder gerade weil – es sich um »das Gegenteil von einem Dokument« handele.73 Wall setzt in Dead Troops Talk mittels inszenierter Fotografie Fiktion als Strategie des Nicht-Zeigens ein, dies wird im Kapitel »Fiktion als Strategie des Nicht-Zeigens« noch eingehend behandelt.74 Wenn im Museum, wie Sontag meint, alle Werke zu Stationen auf einem Parcours der Unterhaltung werden, wie kann dann ein einzelnes Werk im musealen Raum dennoch wirkmächtig sein? Sontag bezieht sich bei der Analyse von Walls »visionärer Fotoarbeit«75 nämlich dezidiert auf die Präsentation im Leuchtkasten und nicht auf eine Reproduktion in einem Buch. Als Kunstwerk kann die Fotografie Wirkmächtigkeit besitzen und sich, wie das Beispiel von Walls Fotografie zeigt, über die vermeintliche Vorgabe des musealen Raums, zu unterhalten, emanzipieren. Nachdenklichkeit ist demnach eine Möglichkeit, um dem Unterhaltungsvorwurf zu entkommen und dabei sind auch fiktionale Mittel erlaubt. Wenn Sontag Dead Troops Talk als »Antikriegsbild« bezeichnet76 , dann handelt es sich hierbei um eine Interpretation, die eine Möglichkeit unter vielen darstellt. Wichtig ist dabei, dass Wall eine fiktive Kriegsszene für sein Bild inszeniert. Während Inszenierungen in dokumentarischen Fotografien zu deren Diskreditierung oder zu Enttäuschungen bei den Betrachtenden führen können77 , ermöglicht der künstlerische Kontext eine Herangehensweise, die frei von Authentizitätsansprüchen ist und Inszenierungen zulässt. Interpretationen sind aufgrund der epistemischen Varianz der Fotografie hier sogar sowohl auf Ebene der Produktion als auch der Rezeption willkommen. Fiktion als Strategie des Nicht-Zeigens bietet eine bildlogische Lösung im Umgang mit dem Leiden anderer. Die »ethische Kraft«78 der Fotografie äußert sich gerade in den untoten Soldaten in Walls Bild, die den Blick der RezipientInnen nicht suchen, sondern vielmehr innerbildlich die Sinnlosigkeit ihres Einsatzes in

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Siehe Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 144. Ebd. Siehe Kapitel 3.6 dieser Arbeit. Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 144. Vgl. Ebd.: 143. Vgl. Ebd.: 65. Butler (2010), Raster des Krieges (2009): 97.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

einem Krieg ohne Fronten zu verhandeln scheinen und zur Interpretation auffordern.79 Sontag verweist auch auf Radierungen. Ein weiteres Beispiel von positiver Wirkmächtigkeit von künstlerischen Bildern des Leids sind für sie die Desastres de la Guerra von Goya (1810–1814). Eine dieser Radierungen stellt sie als einziges Bild ihrer Publikation auf dem Umschlag voran (Abb. 12).

Abb. 12: Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, 2003, Umschlaggestaltung der Edition Hanser mit einer Radierung von Francisco de Goya aus der Serie Desastres de la Guerra (1810–14), Blatt 36.

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In der Ausstellung Uniform, Order and Disorder, die Sontag gesehen haben könnte, wird Dead Troops Talk neben Alexander Sokurovs Spiritual Voices (1995) präsentiert, eine Multimediainstallation, die Gespräche von Soldaten an der Front und auf Sicherheitsposten weltweit hörbar macht und somit ein passendes Pendant zu den stummen Soldaten in Walls Fotografie darstellt. Vgl.: Roberta Smith, Coloring the Troops: Uniforms Become Cultural Touchstones, in: New York Times, 8. Juni 2001, online: https://www.nytimes.com/2001/06/08/arts/art-review-coloring-the-tro ops-uniforms-become-cultural-touchstones.html, zugegriffen am 24.01.2023.

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Die Grafiken zeigen keine Szenen, die sich genauso abgespielt haben müssen, allerdings schmälere diese Tatsache weder deren Glaubwürdigkeit noch ihren Anspruch aufzuzeigen, dass »solche Dinge geschehen sind.«80 Bilder von Gräueln, ob im künstlerischen Kontext oder im Kontext tagesaktueller Mitteilungen, könnten Impulse geben: Solche Bilder können nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen – dazu, die Rationalisierungen für massenhaftes Leiden, die von den etablierten Mächten angeboten werden, kritisch zu prüfen.81 Hierzu eignen sich nun insbesondere künstlerische Arbeiten, da sie im Modus der Kunst wirken und »Reflexionswissen«82 generieren. Im Kontrast zu Schockfotos, durch die eine unmittelbare schockartige Reaktion provoziert wird, die aber auch in einem direkten Abwenden bestehen kann, animieren Ästhetisierungen, durch komplexe Bildstrategien zum Nachdenken. Zum Nachdenken allerdings braucht es Distanz. Sontag formuliert es so: »Es ist nicht unbillig, Abstand zu nehmen und nachzudenken.«83 Künstlerische Strategien des Nicht-Zeigens können durch die ästhetische Distanz diesen Abstand zum Nachdenken schaffen und damit eine Reflexion überhaupt erst möglich machen.84 In »Das Leiden anderer betrachten« hält Sontag dazu an hinzusehen und sich von Bildern heimsuchen zu lassen. Dazu bedarf es aber nicht unbedingt expliziter Bilder, wofür Sontags Publikationen als Beweis dienen könnten, denn sie verzichtet auf Abbildungen und macht darauf aufmerksam, dass es von bestimmten Bildern, wie zum Beispiel der ikonischen Fotografie aus dem spanischen Bürgerkrieg von Robert Capa, keiner Abbildungen mehr bedürfe. Man muss das Foto nur erwähnen und schon sieht fast jeder, der von diesem Krieg gehört hat, das körnige Schwarzweißbild von einem Mann in weißem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln vor sich, der auf einer kleinen Anhöhe nach hinten fällt, den rechten Arm

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Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 56. Ebd.: 136 Dieter Mersch, Epistemologien des Ästhetischen, Zürich/Berlin 2015: 18. Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 138. In diesem Sinne argumentiert auch Runge. Siehe: Runge, Glamour des Elends (2012): 236ff.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

ausgestreckt, während das Gewehr seiner Hand entgleitet und er im Begriff ist, tot auf den eigenen Schatten zu fallen.85 Sontag revidiert zwar ihre Forderung nach einer Ökologie der Bilder, behält aber ihre Skepsis gegenüber der Präsentation von Gräuelfotos im Museum bei und bleibt dabei, dass der museale Kontext für Bilder des Schreckens kaum geeignet sei. Auch in ihrer 2003 erschienen Publikation hält sie einen »Härtetest« für ein Großstadtpublikum offensichtlich für nicht geraten. Um das Leiden anderer zu betrachten, bedarf es einer Legitimation, insbesondere im Kunstkontext. Die Subversion durch die Nachdenklichkeit einer künstlerischen Fotografie, wie Dead Troops Talk, ist für sie in dieser Hinsicht vorbildlich. Statt der bildpragmatischen Lösung einer Ökologie der Bilder, die Sontag in »Über Fotografie« forderte, steht in »Das Leiden anderer betrachten« mittels künstlerischer Fotografie vielmehr eine bildlogische Möglichkeit, mit dem Schrecken im Bild sensibel umzugehen, zur Disposition. Die Frage des »Wie« der Präsentation bleibt virulent, besonders wenn, wie nach dem Attentat am 11. September 2001, ständig Bilder des Schreckens auf uns einwirken können und im Alltag oft Zeit und Raum fehlen, um sich den Bildern mit der notwendigen Kontemplation zu nähern.86 Susan Sontag mutmaßt daher, dass womöglich ein Buch, »das man, über den Bildern innehaltend, allein und ohne zu reden betrachtet,« ein besserer Ort für Bilder des Leids sei, als ein Museum.87 Diese Aussage legitimiert vielleicht auch die Verwendung von Fotos von Sontags Krankenhausaufenthalten, die die Fotografin Annie Leibovitz, mit der sie die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens verbrachte, in einem Bildband publiziert.88 Der Band »A Photographer’s Life, 1990–2005«89 umfasst neben Auftragsarbeiten, Portraits von Hollywoodstars wie Brad Pitt und Scarlett Johansson, auch private, intime und schockierende Aufnahmen von Sontag, ihres Leichnams, sowie der Geburt von Leibovitz’ Zwillingen Susan und Samuelle kurz nach Sontags Tod. Eine Doppelseite zeigt Sontags Leichnam im Profil mit gefalteten Händen auf einer Liege ruhend. Ihre weißen Haare heben sich vom Schwarz des Samt85 86 87 88

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Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 31. Vgl.: Ebd.: 141. Ebd.: 142. Sontags Sohn David Rieff kritisiert Leibovitz für die Verwendung der Bilder. Vgl.: David Rieff, Tod einer Untröstlichen: die letzten Tage von Susan Sontag (Swimming in a sea of death, 2008), München 2009: 135. Mark Holborn, Annie Leibovitz, (Hg.), A Photographer’s Life, 1990–2005, München 2006.

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mantels, auf dem sie gebettet ist, kontrastreich ab (Abb. 13).90 Der kunsthistorisch geschulte Blick kann hier Ähnlichkeiten zu Hans Holbeins Der tote Christus im Grab (1521–22) erkennen (Abb. 14).91

Abb. 13: Annie Leibovitz, Ohne Titel, 2004, Fotocollage. Abb. 14: Hans Holbein, Der Leichnam Christi im Grab, 1521/22, Öl und Tempera auf Lindenholz, 30,5 x 200 cm, Kunstmuseum Basel.

Durch das an die zentrale, liegende Figur angepasste Querformat und die Darstellung im Profil drängt sich diese Verbindung gewissermaßen auf. Während Christus an Händen und Füßen Kreuzigungsmale aufweist, zeugen die Flecken auf Sontags rechtem Unterarm von ihrem Leiden und entrücken sie, in der Darstellung Leibovitz’, in das Reich der Heiligen.92 Die Fotos von Son-

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Die Szene beschreibt Leibovitz im Vorwort des Bildbands. Vgl.: Annie Leibovitz, Vorwort, in: Mark Holborn und Annie Leibovitz, (Hg.), A Photographer’s Life (2006): Letzte Seite des Vorworts (o. S.). Vgl.: Ina Hartwig, Reproduktionsmedizin als Metapher, Bilder von Geburt und Tod, in: Dieter und Tiedtke (Hg.), Radikales Denken (2017), (169–184): 181. Vgl.: Ebd.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

tags Leiden werden allerdings nicht nur im Bildband, sondern auch in der Ausstellung über Annie Leibovitz’ Schaffen weltweit präsentiert, unter anderem im Fotografiska Museum in Stockholm, im C/O Berlin, in der Maison Européenne de la Photographie in Paris und in der National Portrait Gallery in London. Die davon ausgehende Kontroverse über das Zeigen und Sichtbarmachen des Leids, dürfte in Sontags Sinne gewesen sein, hat sie doch der Frage über das Zeigen und Nicht-Zeigen des Leids ihr letztes Buch »Das Leiden anderer betrachten« gewidmet. »Was gezeigt werden kann und was gezeigt werden darf –,« schreibt Sontag darin, »es gibt wenige Fragen, die in der Öffentlichkeit heftiger umstritten sind als diese.«93 Das suggestive Bild von Sontag im Totenbett ist in vier Einzelbilder unterteilt, wodurch formal das panoramahafte Querformat erreicht wird. In dem Bildband erscheinen die Fotos auf einer Doppelseite lose arrangiert und verweisen so auf eine zentrale Prämisse der Fotografie, die Sontag so formulierte: »Das Foto ist ein schmaler Ausschnitt von Raum ebenso wie von Zeit.«94 Jede Fotografie ist ein »Fragment«.95 Gemäß einer ontologischen Betrachtungsweise scheinen hier bereits Eigenschaften auf, die Fotografien als »PseudoPräsenz und Zeichen der Abwesenheit«96 zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen situieren und somit für Strategien des Nicht-Zeigens prädestinieren. Die erwähnten Eigenschaften von Fotos sind für Philippe Dubois zentral, auf dessen Thesen ich im folgenden Kapitel eingehen werde.

2.2 Philippe Dubois – Zeigen und Nicht-Zeigen im fotografischen Akt 2.2.1 Die Notwendigkeit eines pragmatischen Standpunkts Bei bildlichen Negationen kann man, wie bereits angesprochen wurde,97 zwischen solchen unterscheiden, die für alle Bilder gelten und solchen, die bestimmten Bildern vorbehalten sind. Die Medialität des Bildes hat Konsequenzen für die Art und Weise wie negiert werden kann. Besonders auch für die

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Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 82. Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 28. Ebd.: 104. Ebd.: 22. Siehe bereits Kapitel 1.1.2 dieser Arbeit.

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Negation qua Exklusion und Elision ist es entscheidend, wie ein Bild entsteht. Mit der Ontologie des fotografischen Bildes hat sich auch Philippe Dubois dezidiert auseinandergesetzt. Wie auch Jean-Marie Schaeffer oder Rosalind Krauss wählt Philippe Dubois die Indexikalität als Ausgangspunkt seiner Reflexionen über Fotografie.98 Seine Thesen entwickelt Dubois maßgeblich in seinem 1983 veröffentlichten Buch »Der fotografische Akt«.99 In der Indexikalität erkennt er eines der wichtigsten Wesensmerkmale der Fotografie. Auf der indexikalischen Ebene fungiert die Fotografie als Spur eines Wirklichen; allerdings, und darauf weist Dubois hin, gibt sie keine Bedeutung vor.100 Dubois bleibt daher nicht – wie etwa Barthes – dem »Kult«101 des Referenten verhaftet, sondern erweitert den Forschungsgegenstand um einen anderen wichtigen Aspekt. Er koppelt das fotografische Bild an seine »Genese«102 : Mit der Fotografie, so Dubois, sei es unmöglich geworden, »das Bild außerhalb des Aktes zu denken, der es generiert.«103 Die Fotografie sei »wesensgleich ein Bild und ein Akt, ein Bild-Akt«.104 Die Trennung von Produkt und Prozess werde dabei irrelevant.105 Der fotografische Bild-Akt, wie ihn Dubois zugrunde legt, ist sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsseite angesiedelt. Er erstreckt sich von der Situation des Auslösens durch den Fotografen oder die Fotografin, über die Entwicklung in der Dunkelkammer, bis hin zur Rezeption des fertigen Bildes. Das fotografische Nicht-Zeigen bezieht sich in Dubois’ Analyse dann auch nicht ausschließ98

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Für die Forschung zum fotografischen Index war neben Charles Sanders Peirce vor allem Roland Barthes letztes Buch »Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie« impulsgebend. Siehe: Barthes (2012), Die helle Kammer (1980); Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983); Rosalind Krauss, Anmerkungen zum Index, Teil I/Teil II, in: Dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam/Dresden 2000: 249–264, 265–276; Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (1983): 64–67; JeanMarie Schaeffer, L’image précaire, du dispositif photographique, Paris 1987. Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983). Dabei handelt es sich um Dubois’ einzige monografische Publikation zum Thema Fotografie. In Ausstellungskatalogen wird er später weiterhin zur Fotografie als Kunst publizieren. Vgl.: Ebd.: 56. Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 53. Ebd.: 53. Während Barthes die Rezeptionssituation bereits mitbedacht hat, lässt er die Produktionsseite und die Rolle des Fotografen oder der Fotografin weitestgehend unbeachtet. Ebd.: 131. Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 61 (Hervorh. im Orig., P. D.). Vgl.: Ebd.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

lich auf eine notwendige Absenz des Referenten im Sinne der konstitutiven ikonischen Negation, sondern auch auf zeit-räumliche Aspekte, die den fotografischen Akt als Schnitt durch Zeit und Raum ausmachen und die dadurch strategisch zum Einsatz kommen können. Die Erweiterung des Gegenstands vom Bild hin zum Bild-Akt impliziert je nach Betrachtungsweise aber zugleich auch Einschränkungen. André Rouillé nennt sie »réduction«106 und zählt gleich drei solcher Reduktionen in Dubois’ Ansatz auf:107 1. Der Fokus auf das fotografische Dispositiv erlaubt zwar die Fotografie als theoretisches Modell zu denken, es droht dabei allerdings die Gefahr die einzelnen Bilder zu vergessen. 2. Es erfolgt eine Hierarchisierung zwischen den Zeichenkategorien Index, Ikon und Symbol, wobei Dubois den Index an erster Stelle sieht.108 3. Es erfolgt außerdem eine Priorisierung des chemischen Prozesses vor dem optischen Apparat109 und die daran gekoppelte Einstufung des Fotogramms110 als »l’expression la plus pure de la théorie de l’indice.«111 Als Spur oder Ausschnitt der Wirklichkeit verstanden, lasse Dubois dabei den Bereich der Produktion von Wirklichkeit unbeachtet, wie er der Fotografie ohne Zweifel zukommt.112

Trotz der berechtigten Kritik an Dubois’ Ansatz, können, wie zu zeigen sein wird, jedenfalls die Beispiele, die er vor allem aus dem künstlerischen fotografischen Bereich wählt, dieser Kritik standhalten. Zumal Dubois die Indexikalität neben der Reproduzierbarkeit und der Funktion des Ausschneidens und Kadrierens als ein wichtiges Wesensmerkmal der Fotografie bestimmt. Um diese Funktion soll es im Folgenden gehen, da sie für die sowohl konstitutiven als auch fakultativen Negationen fotografischer Bilder bestimmend ist.

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Rouillé, La photographie (2005): 250. Siehe: Ebd.: 249–251. Vgl.: Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 57. Vgl.: Ebd.: 68ff. Vgl.: Ebd.: 71. Rouillé, La photographie (2005): 251. Vgl.: Ebd.: 168f. In diesem Sinne siehe auch Stiegler zu Fotografien als »Performative des Realen«: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 21.

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2.2.2 Authorization – Eine Darstellung des fotografischen Akts Während Sontag in »Das Leiden anderer betrachten« mit der Betrachtung eines Kunstwerks schließt, stellt Dubois seinem Text emblematisch ein Kunstwerk voran, versehen mit der Behauptung, dass sein Buch darin »gewissermaßen vollständig« enthalten sei.113 Die Rede ist von der Arbeit Authorization (1969) des kanadischen Künstlers und Filmemachers Michael Snow (Abb. 15).114 Eine erneute Betrachtung von Authorization, die das Dispositiv, den Fotografen und die BetrachterInnen gleichermaßen mit einbezieht, soll als Probe aufs Exempel des Anspruchs fungieren, das Buch quasi zusammenzufassen. Zwei zentrale Thesen Dubois’ zur Fotografie als Schnitt durch Zeit und Raum, sollen im Folgenden einer Prüfung unterzogen werden. Auf einem rechteckigen Spiegel sind fünf Polaroid Fotos befestigt. Vier davon füllen ein zentral abgestecktes Rechteck aus Klebeband aus. Ein einzelnes Foto befindet sich in der linken oberen Ecke. Die erste Fotografie, links oben im Rechteck, zeigt den Künstler frontal hinter seiner Polaroid Kamera, die auf einem Stativ auf den Spiegel gerichtet ist, um so sein Selbstporträt festzuhalten. Im nächsten Polaroid Foto sieht man das gleiche Dispositiv, allerdings hat Snow die eben beschriebene Fotografie links oben innerhalb der Markierung aus Klebeband auf dem Spiegel angebracht. Sie verdeckt im zweiten Polaroid Foto den linken oberen Teil seines Spiegelbilds, überlagert ihn. So geht es ähnlich einer Mise en Abyme weiter, indem das jeweils entstandene Bild im darauffolgenden wieder auftaucht und einen weiteren Teil von Snow verdeckt. Im fünften Bild in der linken äußeren Spiegelecke sind schließlich alle vier vorherigen Polaroid Fotos im mittigen Rechteck im Spiegel so arrangiert, dass man von Snows Spiegelbild fast nichts mehr sieht. Wie die vorangegangene Beschreibung der Arbeit zeigt, wird durch sie auch ihre Entstehung nachvollziehbar. Die fünf Fotografien zeigen eine Sukzession, sie führen eine Handlung vor Augen. »Deshalb«, folgert Dubois, »ist ›Authorization‹ – ein fotografisches Selbstporträt – mehr als nur ein Foto«115 , denn Snows Arbeit führt die Fotografie als Akt seines Schaffens vor. Snows

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Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 19. Da es diverse Fassungen von Authorization gibt, beziehe ich mich auf die gleiche Version wie Dubois, aus der Nationalgalerie Ottawa: Michael Snow, Authorization, 1969, Polaroid Type 55 prints, adhesive tape, mirror in metal frame, 54,6 x 44,5 cm, Nationalgalerie Ottawa. Siehe: Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 17. Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 19 (Hervorh. im Orig., P. D.).

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

Authorization zeigt den Künstler als Fotografen mit seiner Kamera, die – da sie Polaroid Fotos produziert – gleichzeitig als Ort der Entwicklung fungiert. Außerdem macht der Künstler das Dispositiv der Installation transparent. Durch die Befestigung der Fotos auf einem Spiegel sind die RezipientInnen im Ausstellungsraum direkt in diese Installation mit einbezogen und mit diesem spezifischen Dispositiv direkt angesprochen: Wenn sie ihr Spiegelbild in den freien Flächen neben den Polaroids entdecken, wähnen sie sich an Stelle Snows und versuchen die Entstehung der Arbeit zu rekapitulieren.

Abb. 15: Michael Snow, Authorization, 1969, Polaroid Type 55 prints, adhesive tape, mirror in metal frame, 54,6 x 44,5 cm, National Gallery of Canada, Ottawa.

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Inwiefern impliziert der fotografische Akt aber nun ein Nicht-Zeigen? Dubois bestimmt diesen Akt als »Pragmatik des Index und der Abwesenheitseffekte«.116 Wie äußern sich diese Abwesenheitseffekte? Hier erweist sich ein Blick auf die Phasen der Entstehung des fotografischen Bildes als hilfreich, die mit dem fotografischen Akt korrespondieren: latent, entwickelt, fixiert.117 Alle drei Phasen implizieren Aspekte des Nicht-Zeigens. Ein Moment der Latenz liegt bei der analogen Fotografie dann vor, wenn das Negativ noch nicht entwickelt ist. Die Fotografie ist in diesem Stadium latent und kann erst, nachdem sie entwickelt und fixiert wurde, zeitlich versetzt, als Index gelesen werden. Zuvor liegt noch kein explizites Bild vor, höchstens ein implizites, ein »Bildphantasma«.118 Bereits in ihrer latenten Phase fungiert die Fotografie demnach im Modus des Nicht-Zeigens. John Berger formuliert es so: »Zwischen dem aufgezeichneten und dem gegenwärtigen Augenblick, da wir eine Photographie betrachten, gähnt ein Abgrund.«119 Zwischen den fotografischen Phasen liegt die Zeit, die bedingt, dass Bild und Wirklichkeit nie identisch sein können. Die Fotografie beziehungsweise der fertige Abzug kommt gewissermaßen immer schon zu spät. Als Beleg für das Phänomen zieht Dubois Antonionis Film Blow Up heran.120 Im Film hält eine entwickelte Fotografie einen Mord fest, der dem Fotografen und Protagonisten des Films im Moment des Auslösens nicht aufgefallen war. Hier zeigt sich die Spannung zwischen der Fotografie in ihrer Latenz und in ihrem fixierten Zustand. »Der Film thematisiert die Unmöglichkeit, das Wirkliche mit seiner nachträglichen Abbildung zur Deckung zu bringen,« konstatiert Dubois, »und zwar deshalb, weil dazwischen, im Abstand, etwas abläuft – und zwar nicht nur die Zeit.«121 Im Stadium der Entwicklung bezieht sich die Potenz des Nicht-Zeigens erstens auf das Off, dass durch die Exklusion des Umfelds durch die Bildbegrenzung entsteht. Die Bildbegrenzung kann zweitens nachträglich durch die Wahl auf einen spezifischen Ausschnitt noch verändert werden. Im fixierten Bild bezieht sich das Nicht-Zeigen außerdem auf Verdeckungen, die durch

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Ebd.: 59 (Hervorh. der Verfasserin, M.-L. Z.). Vgl.: Ebd.: 93. Ebd.: 94. John Berger, Erscheinungen, in: Ders. und Jean Mohr (unter Mitarbeit von Nicolas Philibert) (Hg.), Eine andere Art zu erzählen, München/Wien 1984, (81–130): 86. 120 Michelangelo Antonioni, Blow Up, 1966, 01:51:00. 121 Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 95.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

innerbildliche Elisionen entstehen. Fotografien zeigen aus einer festgelegten Perspektive immer nur einen einzigen Ausschnitt.

2.2.3 Zeit-räumliche Dimensionen des Nicht-Zeigens Wie zeigt sich die Funktion des Ausschnitts und der Kadrierung, die Dubois neben Indexikalität und Reproduzierbarkeit als zentrales Wesensmerkmal der Fotografie hervorhebt? Zur Klärung dieser Frage müssen wir uns sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf der Ebene des entwickelten und fixierten Bildes und also im Handlungsraum des Fotografen oder der Fotografin bewegen. Mit ihren Entscheidungen haben die FotografInnen maßgeblich Einfluss auf den Interpretationsraum der RezipientInnen. Der Begriff des Ausschnitts bezieht sich dabei sowohl auf zeitliche als auch räumliche Aspekte, wobei zunächst die Zeitlichkeit des fotografischen Ausschnitts und anschließend der räumliche Schnitt, den die Fotografie vollzieht, beachtet werden soll. Wie bereits erwähnt, evozieren die fünf Polaroid Fotos in Snows Authorization eine Sukzession – allerdings nur in der Zusammenschau. Jede einzelne Fotografie für sich zeigt einen präzisen Ausschnitt, den Moment, in dem Snow den Auslöser betätigt hat. Der Handlungsablauf kann im Moment der Rezeption nachträglich nachvollzogen werden. Snow hat nacheinander jedes der gezeigten entwickelten Polaroid Fotos der Kamera entnommen und es auf dem Spiegel angebracht, um daran anschließend das jeweils nächste Foto zu machen. Dies sieht man allerdings nicht explizit, Authorization zeigt davon nichts.122 Das Beispiel zeigt prägnant, dass bildliche Elisionen innerhalb einer Bildsequenz narrativ fungieren können.123 Sukzessive wird das Spiegelbild des Künstlers von der zunehmenden Anzahl an Polaroids auf dem Spiegel überdeckt. Das zeitliche Davor und Danach kann eine Fotografie nicht zeigen, höchstens evozieren, sei es im Einzelbild oder innerhalb einer Bildsequenz. Fotografien markieren einen fixierten Ausschnitt, Zeit und gelebte Geschichte allerdings verstreichen kontinuierlich.

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So konstatieren auch Brink und Wegerer, dass die Fotografie über das im Bild Sichtbare weit hinaus gehe: »Die Welt der Fotografie erschöpft sich gerade nicht in dem, was diese vor Augen stellt.« Cornelia Brink, Jonas Wegerer, Wie kommt die Gewalt ins Bild? Über den Zusammenhang von Gewaltakt, fotografischer Aufnahme und Bildwirkung, in: Anton Holzer (Hg.), Fotogeschichte, Fotografie und Gewalt, Heft 125, Jg. 32, 2012, (5–14): 8. Vgl.: Alloa, Ikonische Negation (2019): 63.

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Während die Information über das Davor und Danach der Polaroid Fotos in Snows Werk vor allem werkspezifisch relevant ist, so kann sie im Fall schockierender Bilder für das Gesamtverständnis, die Einschätzung einer Situation und die Bewertung ethischer Fragen ungleich bedeutsamer sein. Die bereits erwähnte Fotografie Napalm Girl von Nick Út zeigt nicht, dass der Fotograf das kleine Mädchen nach der Aufnahme in ein nahegelegenes Krankenhaus transportiert hat.124 Auch, dass es sich bei dieser weltweit veröffentlichten Fotografie nur um einen Ausschnitt des Negativs handelt,125 lässt sich anhand der Fotografie nicht erkennen. Wichtig ist für die Argumentation Dubois’, dass die Überlegungen zum fotografischen Akt es erfordern, die beteiligten AkteurInnen hinter den Fotografien mitzudenken, und zwar auf beiden Seiten der Kamera. Dass dabei, wie von Rouillé kritisiert, das einzelne Bild in den Hintergrund geraten kann, ist im programmatischen Anspruch des Buches, das sich dem fotografischen Akt als »theoretische[m] Dispositiv«126 nähern möchte, bereits angelegt und wohl auch einkalkuliert. Für den räumlichen Schnitt, den die Fotografie vollzieht, ist der Begriff der Kadrierung (frz. cadrage) zentral, der aus dem Bereich des Films kommt. Bezeichnet wird damit »die Festlegung eines Bildausschnittes aus einem größeren Raumkontinuum durch einen entsprechenden ›Bildrahmen‹.«127 Dieser Ausschnitt kann dabei nicht mit dem menschlichen Sehfeld gleichgesetzt werden. Das binokulare Sehfeld des Menschen ist zwar begrenzt, allerdings nicht durch einen klaren rechteckigen Rahmen, wie ihn der Film und auch die Fotografie bedingen. Dubois formuliert es so: »Fotografieren heißt immer zunächst Schneiden, Ausschneiden, das Sichtbare durchtrennen.«128 Folglich bedingt der sichtbare fotografische Raum als Ausschnitt immer einen nicht sichtbaren Teil: Der fotografische Raum als Schnitt, Entnahme, Selektion, Herauslösen, Isolierung und Einschließung, das heißt immer notwendig partieller Raum (im Vergleich mit der Unendlichkeit des referentiellen Raums), impliziert also

124 Siehe: Denise Chong, Das Mädchen hinter dem Foto, die Geschichte der Kim Phuc, Hamburg 2001: 90–94. 125 Siehe dazu Kapitel 3.4.1 dieser Arbeit. 126 Der Titelzusatz ist programmatisch. Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 1. 127 Hans Jürgen Wulff, Cadrage, in: Ders. (Hg.), Universität Kiel, Lexikon der Filmbegriffe, Stand 12.10.2012, online: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&ta g=det&id=656, zugegriffen am 24.01.2023. 128 Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 175 (Hervorh. im Orig., P. D.).

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konstitutiv einen Rest, einen Überrest, ein anderes: das Off, das Ausgeblendete (hors-champ).129 Als zentral erweist sich, dass das in der Fotografie Sichtbare aufgrund der Kontiguität mit dem nicht sichtbaren Raum verbunden ist: »Jede Fotografie präsentiert uns nur eine partielle Sicht und spaltet damit eine unsichtbare Präsenz ab, eine prinzipielle Exteriorität, die durch die im Akt des Fotografierens implizierte Geste des Ausschneidens bedeutet wird.«130 Das Sichtbare resultiert aus einer Selektion qua Negation, aus einer »Subtraktion«,131 wobei Dubois allerdings nicht hierarchisiert: »Was eine Fotografie nicht zeigt, ist genauso wichtig, wie das, was sie zu sehen gibt.«132 In den fotografischen Akt findet daher beides Eingang, das Gezeigte und das Nicht-Gezeigte. Der Bild-Akt (l’acte photographique) regt nämlich dazu an, die Fotografie über das sichtbare Bildfeld (l’image photographique) hinaus zu begreifen, was wiederum für die Strategien des Nicht-Zeigens wichtig ist. Das Verdienst Dubois’ liegt darin mit seinem bildwissenschaftlichen Versuch das Dispositiv des fotografischen Akts theoretisch zu erfassen, ein Nachdenken über das Sichtbare der Fotografie hinaus ermöglicht zu haben, wobei das Nicht-Gezeigte an Bedeutung gewinnt. Das Nicht-Gezeigte, die Ausschnitthaftigkeit der Fotografie, eröffnet die Möglichkeit zur Loslösung vom topologischen Raum der Betrachtung und zur Emanzipation des Bildfeldes. Dadurch kann die Fotografie nun symbolisch wirken und über das Sichtbare hinaus bedeuten, denn im Bildfeld tut sich ein Grund auf, der potentiell unendlich ist. Dies zeigt sich beispielhaft in der Serie Equivalents von Alfred Stieglitz (Abb. 16), die Dubois als »so etwas wie ein abschließendes Emblem« für sein Buch bestimmt:133 Stieglitz’ Himmelsfragmente lösen das Bildfeld, als Schnitt durch Zeit und Raum, von jeglicher Referenz.

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Ebd. (Hervorh. im Orig., P. D.). Ebd.: 176. Ebd.: 174. Ebd.: 176. Ebd.: 199. Diese Serie von Fotografien von Stieglitz wird im Kapitel zur Ellipse als Strategie des Nicht-Zeigens näher vorgestellt (siehe Kapitel 3.4.2).

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Abb. 16: Alfred Stieglitz, Equivalent, 1923, Gelatin silver print, 11,8 × 9,2 cm, Alfred Stieglitz Collection, Gift of Georgia O’Keeffe, Museum of Modern Art, New York.

Hierdurch, so Dubois, werden der Fotografie »Flügel« verliehen.134 Auf diese Weise wird die Fotografie auch für die Kunst zu einem wichtigen Medium, während ihr der Zugang zu diesem Bereich zunächst durch ihre Abbildhaftigkeit verwehrt war.135 Gleichzeitig eröffnet die künstlerische Fotografie Ansatzpunkte der Annäherung an die Fotografie als Akt und theoretische Auseinandersetzung mit dem Dispositiv Fotografie. Aufgrund ihrer Selbstreflexivität macht es die künstlerische Fotografie möglich, den Fokus auf ihre Gemachtheit und den fotografischen Akt und damit auf das zeigende Nicht-Zeigen zu legen. Während das Nicht-Zeigen allen fotografischen Bildern inhärent ist, zeigt die Analyse von Authorization und den Equivalents, dass künstlerische Fotografien das Nicht-Zeigen strategisch einsetzen und gezielt damit spielen können.

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Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 213. Vgl.: Beate Söntgen, Schnitte in Raum und Zeit, Philippe Dubois macht die Fotografie zum Ereignis, Rezension, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 86, 14.04.1999: 50.

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2.3 Jacques Rancière – Fotografische Unentschiedenheit als politisches Potential 2.3.1 Die Aufteilung des Sinnlichen: Kunst und Politik Obwohl die Indexikalität der Fotografie Dubois’ Ausgangspunkt darstellt, schließt er seine Ausführungen zum fotografischen Akt mit den Equivalents von Alfred Stieglitz, bei denen neben der indexikalischen besonders auch die symbolische Dimension der Fotografie im Vordergrund steht. Als Schnitt durch Zeit und Raum, lösen die Fotos der Wolkenformationen diese von ihrer Referenz und »befreien« hierdurch die Fotografie von ihrer Reduktion auf die Funktion der Abbildlichkeit. Stiegler bemerkt, dass in dem Spannungsverhältnis zwischen Ikon, Index und Symbol die »Ambivalenz der Fotografie« aufscheint.136 In eben dieser Ambivalenz sieht Jacques Rancière eine Stärke des fotografischen Bildes: »Es ist dieses ›weder noch‹, das die Erfahrung des Schönen als Erfahrung eines Widerstands bestimmt.«137 Genau mit dieser Unbestimmtheit verbindet Rancière den politischen Effekt von Kunst;138 Unentschiedenheit birgt für ihn politisches und damit emanzipatorisches Potential. Die Grundlage dafür sieht Rancière in der Verbindung von Kunst und Politik, die er in seinen Schriften zur Ästhetik begründet. Für den französischen Philosophen, der zum wichtigsten Theoretiker eben jener Verbindung avanciert ist, besteht sie in der Partizipation an der gemeinsamen »Aufteilung des Sinnlichen«.139 Diese Aufteilung umfasst als Ästhetik »die Verteilung der Formen, die die gemeinsame Erfahrung strukturieren«.140 Fragen der Teilhabe und des Teilnehmens an einer kollektiven Praxis, die über das sinnlich

Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 73. Jacques Rancière, Ist Kunst widerständig? (Vortrag, gehalten auf dem fünften internationalen philosophischen Symposium Nietzsche und Deleuze: Kunst und Widerstand, Fortaleza, Brasilien, 2004), Berlin 2008: 15. 138 Vgl.: Jacques Rancière, A Politics of Indetermination, An Interview Jacques Rancière, in: John E. Smiths und Annette Weisser (Hg.), Everything is in Everything: Jacques Rancière Between Intellectual Emancipation and Aesthetic Education, Anthologies & Art Theory, 2011, (10–33): 19. 139 Siehe: Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (Le Partage du Sensible, Ésthetique et Politique, 2000), Berlin 2008. 140 Jacques Rancière im Gespräch mit Frank Ruda und Jan Völker, 23. März 2006 in Paris, in: Jacques Rancière (2008), Ist Kunst widerständig? (2004): 38.

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Wahrnehmbare bestimmt, sind bei Rancière mit dem Begriff Ästhetik und der damit verbundenen Aufteilung des Sinnlichen bereits impliziert.141 Beide Dimensionen sind im Titel seines Buchs »Le Partage du Sensible, Ésthetique et Politique« (2000) angelegt, denn »partage« bedeutet im Französischen sowohl Aufteilung als auch Teilhabe. Rancières Schriften zur Ästhetik entstanden hauptsächlich nach 1995.142 Über seine Gründe, sich diesem Thema zu widmen, lässt sich spekulieren. Da ästhetische Aspekte bereits in seinen früheren Schriften aufscheinen, könnte man die stärkere Zuspitzung des Themas als logische Konsequenz deuten. Bereits in Rancières Dissertation »Die Nacht der Proletarier: Archive des Arbeitertraums« (1981) spielt das Ästhetische für die Emanzipation der Arbeiter eine zentrale Rolle.143 Auch in »Der unwissende Lehrmeister, Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation« (1987) wird Emanzipation durch Bildung unter Gleichen propagiert, wobei auch die ästhetische Bildung wichtig ist.144 Auffällig ist die rasch aufeinander folgende Publikation von Schriften zur Ästhetik nach »Das Unvernehmen« (1995).145 Hier formuliert Rancière seine politische Theorie, auf der auch die Aufteilung des Sinnlichen gründet. Er definiert das Politische neu, indem er zwischen den Sphären Polizei und Politik unterscheidet. Wichtig sind die zugrunde gelegten Definitionen dieser Begriffe, denn diese betreffen folglich auch das Verständnis von zusammengesetzten Begriffen wie dem der politischen Kunst, auf den noch einzugehen ist. So versteht Rancière unter »Polizei« die staatlichen Instanzen, die die Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stellen und legitimieren (Verwaltung,

Vgl.: Maria Muhle, Einleitung, in: Rancière (2008), Die Aufteilung des Sinnlichen (2000): 11. 142 Siehe: Rancière (2008), Die Aufteilung des Sinnlichen (2000); Ders., Das ästhetisch Unbewußte (L’inconscient éstehtique, 2001), Zürich/Berlin 2006; Ders., Politik der Bilder (Le destin des images, 2003), Zürich 2006; Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik (Malaise dans l’esthétique, 2004), Wien 2016; Ders., Der emanzipierte Zuschauer (Le spectateur émancipé, 2008), Wien 2009; Ders. (2008), Ist Kunst Widerständig? (2004); Ders., Aisthesis, Vierzehn Szenen (Aisthesis: scènes du régime esthétique de l’art, 2011), Wien 2013. 143 Siehe: Ders., Die Nacht der Proletarier: Archive des Arbeitertraums (La Nuit des prolétaires: Archives du rêve ouvrier, 1981), Wien/Berlin 2013. 144 Siehe: Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister, Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation (Le maître ignorant, Cinq leçons sur l’émancipation intellectuelle, 1987), Wien 2018. 145 Ders., Das Unvernehmen (La Mésentente, 1995), Frankfurt a.M. 2018. 141

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Recht etc.). Als »Politik« bezeichnet er hingegen die Herausforderung der polizeilichen Ordnung und des Status Quo im Sinne eines Dissenses.146 Diese Dissense stellen die gängigen Sichtbarkeiten in Frage, indem alternative Sichtweisen angeboten werden, wobei auch KünstlerInnen ihren Beitrag leisten können. »Eine Aufteilung des Sinnlichen ist immer ein Zustand von Kräften«, schreibt Rancière.147 Wie verhält sich nun die Kunst zu und in diesem Kräfteverhältnis? Rancière zufolge sind Kunst und Politik verbunden, weil sie das Feld des Denkbaren, Sichtbaren und Sagbaren rekonfigurieren.148 Es handelt sich bei Kunst und Politik diesem Konzept zufolge um zwei mögliche Formen der Aufteilung des Sinnlichen, die von einem »Regime«149 der Identifizierung abhängen.150 Rancière formuliert es so: Kunst und Politik hängen miteinander als Formen des Dissenses zusammen, als Operationen der Neugestaltung der gemeinsamen Erfahrung des Sinnlichen. Es gibt eine Ästhetik der Politik in dem Sinn, als Akte politischer Subjektivierung das neu bestimmen, was sichtbar ist, was man sagen kann und welche Subjekte dazu fähig sind. Es gibt eine Politik der Ästhetik, in dem Sinn, dass neue Formen der Zirkulation von Wörtern, der Ausstellung des Sichtbaren und der Erzeugung von Affekten neue Fähigkeiten bestimmen, die mit der alten Konfiguration des Möglichen brechen.151 Als Formen des Dissenses sind Kunst und Politik gleichermaßen wirkmächtig und an der Aufteilung des Sinnlichen beteiligt. Es handelt sich daher nicht 146 Vgl.: Ders. (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 72. 147 Ders. (2008), Ist Kunst widerständig? (2004): 39. 148 Vgl.: Roland Meyer, Politik der Unbestimmtheit, Jacques Rancière und die Grenzen des ästhetischen Regimes, in: Kritische Berichte, Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Bd. 38, Nr. 1, Weimar 2010, (19–32): 21. 149 Rancière unterscheidet drei Regime für die Identifikation dessen, was Kunst ist: das ethische, das repräsentative und das ästhetische Regime. Diese Regime bestimmen über die Möglichkeiten des Sagbaren und Sichtbaren, sowohl der Kunst als auch darüber hinaus. Während im ethischen Regime, das seit der griechischen Antike greift, Kunst nicht als autonom anerkannt wird, ist sie im repräsentativen Regime an systemimmanente Hierarchien und Ordnungen gebunden. Erst im ästhetischen Regime wird das Kunstwerk frei und ermöglicht bestimmte dissensuelle Formen von Erfahrungen. Vgl.: Jacques Rancière, Von den Regimen der Künste und der mäßigen Relevanz des Begriffs der Moderne, in: Ders. (2008), Die Aufteilung des Sinnlichen (2000): 35–49. 150 Vgl.: Ders. (2016), Das Unbehagen in der Ästhetik (2004): 33. 151 Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 78.

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um voneinander getrennte Kategorien von Tätigkeiten, die sich die Funktionsweisen der jeweils anderen aneignen oder diese instrumentalisieren können.152 Die Grundlage der Ermöglichung von Dissens wurzelt in dem radikaldemokratischen Verständnis Rancières153 , genauer in seiner Auffassung von den Werten Freiheit und Gleichheit. Freiheit, verstanden als die Möglichkeit seine Zeit frei einzuteilen; Gleichheit, verstanden als Option seine Stimme zu erheben und sich für seine Ziele einsetzen zu können, unabhängig von gesellschaftlicher Stellung und Reputation. Hier kommen nun ästhetische Parameter hinzu, denn Freiheit und Gleichheit machen, laut Rancière, den ästhetischen Blick aus und bergen dessen politisches Potential.

2.3.2 Das emanzipatorische Potential des ästhetischen Blicks Rancière sieht im ästhetischen Blick, der frei von Zwecken und Notwendigkeiten ist, ein enormes emanzipatorisches Potential für die Stiftung eines »Gemeinsinns.«154 Dieser Gedanke ist nicht neu, vielmehr ist er in Anlehnung an Schillers Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«155 und Kants Definition des ästhetischen Urteils zu verstehen.156 Wie schon bei Schiller und Kant drückt sich im Konzept des ästhetischen Blicks die grundsätzliche Überzeugung eines »sozial wirkmächtigen Sehens« aus.157 Für die Genese dieses Sehens ist das Museum als Institution verantwortlich. Dies ist ein zentrales Thema in Rancières Schriften: Den musealen Raum bestimmt er »als Form der Abtrennung des Gemeinschaftsraumes«, der eine »spezifische Weise der Sicht-

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Damit hebt Rancière sich explizit von dem ab, was Walter Benjamin als »Ästhetisierung der Politik« im »Zeitalter der Massen« diagnostiziert hat. Vgl.: Ebd.: 26. Siehe: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), Frankfurt a.M. 2008: 42. Vgl.: Meyer, Politik der Unbestimmtheit (2010): 20. Rancière (2008), Die Aufteilung des Sinnlichen (2000): 79. Schiller geht davon aus, »dass der politischen Veränderung eine Befreiung der Sinne vorausgehen muss.« Klaus L. Berghahn, Nachwort, in: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen: mit den Augustenburger Briefen, hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2013, (254–287): 269. In der Kritik der Urteilskraft definiert Kant das Geschmacksurteil der ästhetischen Erfahrung als »Wohlgefallen […] ohne alles Interesse«, zu dem alle Menschen gleichermaßen befähigt seien. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Analytik der Ästhetischen Urteilskraft, §4-5, 8–9, Stuttgart 2006: 79. Jens Kastner, Der Streit um den ästhetischen Blick, Wien/Berlin 2012: 13.

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barkeit« ermögliche.158 Hat die Kunst erstmal Einzug ins Museum erhalten, sind dort im ästhetischen Regime159 alle Werke gleichwertig, in diesem Sinn versteht Rancière den Raum als neutral.160 Rancière bezieht die Neutralität des Museums auch auf die BesucherInnen, die in diesen Räumlichkeiten ihre Blicke schweifen lassen – im Museum sind alle gleich. Hier klingt eine Idealisierung des musealen Raums an, die zwar erfrischend ist, aber kritisch hinterfragt werden muss. Ins Museum müssen Individuen nämlich zunächst ihren Weg finden. Ungeachtet der allgemeinen Zugangsvoraussetzungen, die für alle gelten, – Eintrittspreise, die erhoben und gezahlt werden müssen und Öffnungszeiten, die zu beachten sind – bleibt der museale Raum ein Umfeld, das vor allem vom privilegiert-bürgerlichen Milieu genutzt wird und ist in dieser Hinsicht nun gerade nicht neutral.161 Daran ändern auch freie Eintrittspreise nicht viel, wie sie zum Beispiel seit 2001 für permanente Ausstellungen in britischen Museen oder für unter 26-jährige MuseumsbesucherInnen in Frankreich gelten.162 Der erwähnte Aspekt der Ungleichheit steht allerdings, für Rancière, nicht im Widerspruch zur Gleichheit, die er im Auge hat: Die

158 Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 72. 159 Siehe bereits die Anmerkung in Fußnote 370. 160 Dass der museale Raum ideologisch aufgeladen und eben nicht neutral ist, darauf hat Brian O’Doherty bereits hingewiesen. Vielmehr wirkt der museale Raum kommodifizierend und überführt die Werke in einen unendlichen Raum mit »Ewigkeitsauslage«. Brian O’Doherty, In der weißen Zelle (Inside the White Cube, 1976, 1986), Berlin 1996: 10. 161 In »Die feinen Unterschiede« (1987) hat Pierre Bourdieu auf den Zusammenhang von Lebensstil und Klassenlage hingewiesen. Siehe: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (La distinction, Critique sociale du jugement, 1979), Frankfurt a.M. 2006. Diesen Befund Bourdieus kann Jürgen Gerhards 2008 in seiner vergleichenden Analyse zur Nutzung der europäischen Hochkultur bestätigen. Demnach sei der Anteil von Museumsbesuchern an der Gesamtbevölkerung marginal: Das hochkulturelle Angebot werde vornehmlich von Eliten wahrgenommen. Vgl.: Jürgen Gerhards, Die kulturell dominierende Klasse in Europa: Eine vergleichende Analyse der 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union im Anschluss an die Theorie von Pierre Bourdieu, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 60(4), 2008, (723–748): 734, 744. 162 Dass die freien Eintritte wenig Auswirkungen auf das Besuchsverhalten haben, bestätigt eine Studie des Centre for Public Impact über die freien Eintritte in britischen Museen. O. A., Artfund, online: https://www.artfund.org/blog/2009/06/29/free -admission-boosts-sense-of-public-ownership-of-national-museums, zugegriffen am 09.07.2021.

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Gleichheit gelte im musealen Raum in Bezug auf die Körper, da der ästhetische Blick alle gleichermaßen berühre.163 Die Präsentation von Kunst im, laut Rancière, neutralen Raum, gekoppelt an das interesselose Umherschweifen des ästhetischen Blicks aller MuseumsbesucherInnen, berge ein »Versprechen der Emanzipation«164 , da der Blick von weiteren Tätigkeiten unabhängig stattfindet. Rancière formuliert es so: Die Kunstwerke »sind in eine neutralisierte Raum-Zeit geworfen und bieten sich gleicherweise einem Blick an, der von jeder bestimmten senso-motorischen Verlängerung abgeschnitten ist.«165 Diese Trennung von Sehen und Tun war bereits Grundlage für Rancières Analyse der Hoffnungen und Perspektiven französischer ArbeiterInnen im 19. Jahrhundert, die er 1981 in seiner Dissertation »Die Nacht der Proletarier: Archive des Arbeitertraums« vorlegte.166 Der revolutionäre Arbeiterkörper formiere sich seiner These zufolge durch die Möglichkeit zum ästhetischen Blick, der einen Perspektivwechsel erlaubt, indem er sich »von den Händen trennt«.167 Indem die »Arbeiter-Poeten« und »-Philosophen« sich klassenuntypischen Aufgaben widmeten, konnten sie sich von den vorgeschriebenen zeit-räumlichen Normen lösen und diese somit aktiv in Frage stellen. Emanzipation beginnt für Rancière nämlich dann, wenn der Gegensatz zwischen Sehen und Handeln in Frage gestellt wird, »wenn man versteht, dass die Offensichtlichkeiten, die so die Verhältnisse zwischen dem Sagen, dem Sehen und dem Machen strukturieren, selbst der Struktur der Herrschaft und der Unterwerfung angehören.«168 Das Sehen im Museum kann emanzipatorisch 163

Jens Kastner spricht von »programmatischer Ignoranz« Rancières, wenn es um die Klassenzugehörigkeit des Kunstpublikums geht: »Er teilt das potenzielle Publikum nicht nach sozialen Klassifikationen ein, um diese nicht zu reproduzieren.« Kastner, Der Streit um den ästhetischen Blick (2012): 117f. Auch Carol Duncan beschreibt den musealen Raum als einen Zwischenraum, in dem das außerhalb geltende soziale Machtgefüge außer Kraft gesetzt sei. Vgl.: Carol Duncan, Civilizing Rituals, Inside public Art Museums (1995), (PDF 475–485): 477, online: http://art.arts.usf.edu/content/articlefiles/233 0-The%20Art%20Museum%20as%20Ritual%20by%20Carol%20Duncan.pdf, zugegriffen am 24.01.2023. 164 Rancière (2016), Das Unbehagen in der Ästhetik (2004): 44. 165 Ders. (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 74. 166 Der Titel der Dissertation rekurriert dabei auf die Nächte, die von den ProletarierInnen, über die Rancière schreibt, zum Tag gemacht wurden und in denen sie sich dem Schreiben, Lesen, der Poesie widmeten. Siehe: Ders. (2013), Die Nacht der Proletarier (1981). 167 Ders. (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 75. 168 Ebd.: 23.

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wirken, weil es das Verwischen einer Grenze begünstigt, nämlich der »zwischen denen, die handeln, und denen, die zusehen, zwischen Individuen und Gliedern eines Kollektivkörpers.«169 Hier kommen jetzt einzelne Kunstwerke ins Spiel, die diese emanzipatorische Wirkung begünstigen.

2.3.3 Die Kunst des Dissenses Erst unter der von Rancière postulierten Voraussetzung, dass Kunst und Politik an der Aufteilung des Sinnlichen gleichermaßen teilhaben, kann man nach der spezifisch politischen Kunst fragen. Rancière zufolge ist Kunst dann politisch, wenn sie als Dissens wirkt und neue Aufteilungen des Sinnlichen generiert.170 Nicht jedes Kunstwerk schafft einen Dissens, es gibt auch solche, die die Gegebenheiten des Sichtbaren untermauern. Rancière unterscheidet zwischen Kunst, die – selbst, wenn sie am politischen Tagesgeschehen orientiert ist – die dahinter liegenden Strukturen lediglich reproduziert und kritischen künstlerischen Strategien, die trotz Realitätsbezug ihre autonome Stellung bewahren. Allerdings betont Rancière, dass es hier keine starre Unterscheidung gibt, sondern dass sich Kunst stets im Spannungsfeld von Weltwerdung einerseits und radikaler Autonomie andererseits bewegt: »Der Kunst, die Politik macht, indem sie sich als Kunst abschafft, steht also eine Kunst gegenüber, die unter der Bedingung politisch ist, dass sie sich von jeder politischen Einwirkung reinhält.«171 In Bezug auf die Ausdrucksmöglichkeiten gibt es dabei keine Einschränkungen. Rancières Interesse gilt jedoch vor allem der Gegenwartskunst, da sie in Bezug auf die polizeiliche Ordnung neue Erfahrungsräume eröffnen kann und sich bisweilen mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Sichtbarmachung auseinandersetzt und Alternativen anbietet. Die bildende Kunst nimmt dabei keine privilegierte Stellung ein, sondern kann ebenso wie Film, Literatur oder Theater dissensuell wirken. Die Beispiele, die Rancière innerhalb seines Schreibens in Szene setzt, stammen deswegen auch aus allen diesen Bereichen: »Das Kino, die Fotografie, das Video, die Installation und alle Perfor-

169 Ebd.: 30. 170 Rancières Argumentation funktioniert insofern »zirkulär«, als Kunst, wenn sie politisch ist, dissensuell wirkt. Wenn sie nicht dissensuell wirkt, sondern im Sinne des polizeilichen Regimes agiert, dann kann sie demnach auch nicht politisch sein. Kastner, Der Streit um den ästhetischen Blick (2012): 119. 171 Rancière (2016), Das Unbehagen in der Ästhetik (2004): 47.

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mances des Körpers, der Stimme und der Töne tragen dazu bei, den Rahmen unserer Wahrnehmungen und die Dynamik unserer Affekte neu zu schmieden.«172 Im Fokus stehen bei Rancière allerdings Kunstwerke, die sich direkt mit politischen Themen auseinandersetzen. Im Zentrum der Spannungen um die politische Kunst – zwischen Reinheit und Politisierung – beobachtet Rancière eine »Verschiebung des Unerträglichen im Bild zum Unerträglichen des Bildes.«173 In »Der emanzipierte Zuschauer« bezieht er sich explizit auf die Darstellung »monströser Ereignisse«.174 Im ästhetischen Regime gibt es keine Beschränkungen, die das Wie der Darstellung betreffen: »Es gibt keine Grenzen der Repräsentation mehr, ihren Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.«175 Er hält aber einige Strategien des Zeigens für geeigneter als andere. Im grenzenlosen Feld der Kunst umso wichtiger ist dann die Auswahl durch die KünstlerInnen.176 In den »singulären Strategien« der KünstlerInnen realisieren sich die Differenzen, die eine neue Aufteilung des Sinnlichen bedingen.177 Es geht für Rancière nicht darum, weniger Bilder zu produzieren. Die Banalisierung178 des Grauens erklärt er nicht wie Sontag mit einer »Bilderflut«179 . Wichtig ist vielmehr das Wie der Darstellung, ohne darüber das Was zu vernachlässigen. Für Rancière stellt sich auch nicht die Frage, ob gewisse Bilder gemacht werden können oder sollen, gesehen werden dürfen oder nicht, sondern, innerhalb welcher Anordnung der Wahrnehmung dies geschieht.180 Die Frage, ob die Wirklichkeit von Kriegen oder Genoziden in Bilder oder Fiktionen übersetzbar ist, tritt hinter der Frage des Umgangs mit dem Material, das die Realität ist, zurück. Entscheidend ist, wie die KünstlerInnen mit solchen Themen umgehen und welche Form von Gemeinsinn durch die gewählten Bildgebungsverfahren gestiftet wird.181 In dieser Arbeit möchte ich den Fokus auf die Beispiele Rancières richten, die einen Fotografie Bezug haben. Sowohl die Fotografie als auch der Film nehmen in Rancières Argumentation vergleichsweise viel Raum ein, weil sie auf172 173 174 175 176 177 178 179 180 181

Ders. (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 99. Ebd.: 102. Ebd.: 113. Ders. (2006), Politik der Bilder (2003): 158. Vgl.: Ebd.: 149. Ders. (2008), Ist Kunst widerständig? (2004): 27. Vgl.: Ders. (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 114. Sontag, Das Foltern anderer betrachten, in: Dies. (2008), Zur gleichen Zeit (2007): 55. Vgl.: Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 118. Vgl.: Ebd.: 120.

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grund ihrer medialen Eigenschaften Realismus begünstigen und einen Bezug zur Wirklichkeit aufweisen.182 Fotografie sei die Technik der Mimesis183 – wobei die Fotografie, wie Dubois’ zeigte, in ihren gestalterischen Möglichkeiten und in ihrer Bedeutung weit über die Indexikalität und die bloße Wiedergabe der Realität hinaus reicht. Auch Rancière betont: Das Bild ist nicht das Duplikat einer Sache. Es ist ein komplexes Beziehungsspiel zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Sichtbaren und dem Wort, dem Gesagten und dem Ungesagten. Es ist nicht die einfache Wiedergabe dessen, was sich vor dem Fotografen oder Filmemacher befand. Es ist immer eine Veränderung, die in einer Kette von Bildern Platz nimmt, die es seinerseits verändert.184 Wenn KünstlerInnen mit Fotografie arbeiten, kann sich die politische Realität über die Bilder als Material in die Kunstwerke einschreiben. Im Umgang mit diesem Material gibt es aber strategische Unterschiede. Nicht alle Werke verändern das Sicht-, Sag- und Denkbare, denn nicht alle Werke stellen der Banalisierung durch den permanenten Informationsfluss etwas entgegen.185 Rein dokumentarische Fotografien versteht Rancière als Festschreibungen, die er kritisiert,186 er favorisiert das, was er als kritische Kunst bezeichnet: »Eine kritische Kunst ist eine Kunst, die weiß, dass ihre politische Wirkung sich durch die ästhetische Distanz vollzieht. Sie weiß, dass diese Wirkung nicht garantiert werden kann, dass sie immer einen Teil Unentscheidbares mit

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Rancière widmet dem Thema Fotografie und Film die Kapitel »Das unerträgliche Bild« und »nachdenkliche Bilder« in »Der emanzipierte Zuschauer«. Siehe: Ebd.: 125–151. Darüber hinaus erscheinen zwei Aufsätze mit Fotografie Fokus, wobei Rancière stets auf die gleichen, vornehmlich seiner Barthes Lektüre entnommenen, Beispiele eingeht. Siehe: Ders., Notes on the Photographic Image, in: Radical Philosophy, Nr. 156, Juli/ August, 2009: 8–15; Ders., What Medium can Mean, in: Parrhesia, Nr. 11, 2011: 35–43. Siehe auch: Ders., 12. Die Erhabenheit des Augenblicks, New York, 1921, in: Ders. (2013), Aisthesis, Vierzehn Szenen (2011): 261–281; Auf die Wichtigkeit der Fotografie und des Realismus innerhalb seines Denkens, weist auch Maria Muhle hin. Siehe: Maria Muhle, Realismus des Minderen, Fotografie bei Bourdieu und Rancière, in: Jens Kastner und Ruth Sonderegger (Hg.), Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Emanzipatorische Praxis Denken, Wien/Berlin 2014: 95–122. 183 Vgl.: Rancière, What Medium can Mean (2011): 36. 184 Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 111. 185 Vgl.: Ders. (2008), Ist Kunst widerständig? (2004): 58. 186 Vgl.: Muhle, Realismus des Minderen (2014): 114.

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sich führt.«187 An anderer Stelle spricht er von »nachdenkliche(n)«188 Bildern und schließt damit an Barthes an, der darauf hingewiesen hatte, dass Bilder dann subversiv seien, wenn sie nachdenklich sind.189 Die Nachdenklichkeit des Bildes bezeichnet Rancière auch als »die latente Anwesenheit eines Ausdrucksregimes in einem anderen.«190 Die Fotografie sei dazu in besonderem Maße geeignet, weil sie »beispielhaft zwiespältig zwischen Kunst und Nicht-Kunst, Aktivität und Passivität ist.«191 Diese Zwiespältigkeit macht sie wiederum zu einem geeigneten Exempel der Wirkungsweise im ästhetischen Regime, in welchem dichotomische Grenzen, wie zum Beispiel zwischen Dokumentation und Fiktion, verwischt werden. Markus Klammer hebt hervor, dass im ästhetischen Regime hinfällige Oppositionen wie »Aktivität/Passivität, Kunst/Nicht-Kunst, Wissen/Nicht-Wissen, Handeln/Erleiden« nicht verschwinden, sondern in »eine Zone der Unentschiedenheit« eintreten.192 Wenn Fotografien politischer Ereignisse im musealen Raum präsentiert werden, dann bewegen sie sich oft an der Schwelle zwischen den Sphären der Kunst, des Journalismus und der Dokumentation. Besonders solche Arbeiten, die einer realistischen Darstellungsweise verpflichtet sind, stehen in der Gefahr, sich mit der »Prosa oder den Klischees der Welt« zu vermischen.193 Rancière schreibt, dass dann keine »wirkliche Barriere« die Kunst von der Wirklichkeit trenne und vice versa.194 Wie eingangs erwähnt betrachtet Rancière aber gerade die Unentschiedenheit der Fotografie als politisches Potential. Anstatt darin, dass Bilder nichts erklären können, eine Schwäche der Bilder zu sehen, wie Sontag195 , sieht Rancière in der Unentschiedenheit oder Gleichgültigkeit des fotografischen Bildes dessen besondere Stärke:196 Die Potenziale der Fotokunst liegen in dem, was sie von allen anderen Künsten unterscheidet, nämlich in der totalen Objektivität ihres Mediums. Sie Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 99. Ebd.: 125ff. Vgl.: Barthes (2012), Die helle Kammer (1980): 48. Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 143. Ebd.: 126. Markus Klammer, Jacques Rancière und die Universalität der Gleichheit, in: Drehli Robnik, Thomas Hübel und Siegfried Mattl (Hg.), Das Streit-Bild, Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien/Berlin 2010, (195–211): 202. 193 Rancière (2013), Aisthesis (2011): 276. 194 Ebd. 195 Siehe bereits Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit. 196 Vgl.: Rancière, Notes on the Photographic Image (2009): 13.

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2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

zeichnet sich durch den reinsten Gebrauch dieses Mediums aus, durch die Kenntnis seiner Grenzen und durch den Respekt für den Gegenstand, die sie vor sich hat. Ihre Auszeichnung ist mit der Organisation dieser Objektivität gemäß den voneinander abweichenden Logiken des Ausdrucks der Ursachen durch die Wirkung oder der bloßen Empfindung angesichts der Abstraktion der Formen verbunden.197 Das Potential der künstlerischen Fotografie liegt folglich in einem sensiblen Austarieren der medienspezifischen und der ethisch-ästhetischen Bedingungen des Zeigens, womit sich Rancières Thesen in Bezug zu den Thesen Dubois’ setzen lassen und in dieser Beziehung auch zu den Thesen Sontags. »Die Fotografie als Kunst des Blicks ist vor allem die Kunst des Auswählens«, schreibt Rancière.198 Der Respekt für den Gegenstand kann sich in der Wahl des Ausschnitts äußern, in der Entscheidung etwas nicht explizit zu zeigen, sondern andere Strategien, nämlich gerade die des Nicht-Zeigens, zu wählen. Rancière hebt die Rolle der KünstlerInnen hervor, die in ihren Arbeiten nicht den Darstellungsklischees von Opfern verfallen, sondern andere Formen der Darstellung anbieten, und so auf kritische Themen aufmerksam machen, ohne beispielsweise Bilder von Kriegsschrecken explizit zu zeigen.199 NichtZeigen ist dann dissensuell, wenn man die Wahl hat, zwischen dem Zeigen des expliziten Bilds oder dem Verbergen, also nichts zu zeigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um Bilder geht, die schon gezeigt wurden, die verfügbar sind und bei denen eine Kontroverse darüber besteht, ob sie gezeigt werden sollten oder nicht. Maria Muhle verwendet den Begriff des »ästhetischen Realismus«, um die »post-repräsentativen« Phänomene zu fassen, die Rancière im Blick hat.200 Dabei ist zentral, dass KünstlerInnen Neugier und Aufmerksamkeit wecken, denn dies seien Affekte, die zur Emanzipation der ZuschauerInnen beitragen können.201 So kann ein nicht-gezeigtes Bild oft mehr Aufmerksamkeit generieren als ein gezeigtes, man denke nur an die Erwähnung der Fotografie aus dem Wintergarten in Barthes’ Publikation »Die

Ders. (2013), Aisthesis (2011): 279. Ebd.: 276. Vgl.: Ebd.: 232. Maria Muhle, Ästhetischer Realismus, Strategien post-repräsentativer Darstellung anhand von ›A bientôt j’éspère‹ und ›Classe de Lutte‹, in: Drehli Robnik, Thomas Hübel und Siegfried Mattl (Hg.), Das Streit-Bild, Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien/ Berlin 2010, (177–193): 191. 201 Vgl.: Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 123. 197 198 199 200

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helle Kammer«.202 Barthes zeigt andere Bilder und enthält den LeserInnen dieses spezielle Erinnerungsstück an seine verstorbene Mutter vor. Er begründet das folgendermaßen: »Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es nichts als ein belangloses Photo […].«203 Mit dieser Begründung macht Barthes das NichtZeigen der zentralen Fotografie in »Die helle Kammer« zum Punctum seines Buches.204 Rancière hebt hervor, dass die Nachdenklichkeit des Bildes bestimmt wird durch »das Verhältnis zwischen zwei Operationen, welches die zu reine Form oder das zu sehr mit Wirklichkeit beladene Ereignis außer sich bringt.«205 Die Form dieses Verhältnisses werde nun einerseits durch die Entscheidungen des Künstlers oder der Künstlerin vorgegeben. Andererseits läge die Verantwortung dieses Verhältnis auszuloten bei den RezipientInnen. In der Freiheit dieser Auseinandersetzung liegt das emanzipatorische Potential, das Kunstwerken eignet. Dabei ist auffällig, dass Rancière in seiner Analyse Werke favorisiert, die explizite Bilder vermeiden und Strategien des Nicht-Zeigens im Sinne dieser Arbeit anwenden. Er bespricht mehrere Arbeiten von Alfredo Jaar und Sophie Ristelhueber, unter anderem, die in Kapitel 3 dieser Arbeit »Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst« genauer behandelt werden. Da es sich bei bildlichen Negationen um unbestimmte Negationen handelt, die immer den Status der Unentschiedenheit haben, sind sie nach Rancièreschem Verständnis als dissensuell zu bewerten. Wie bereits an anderer Stelle betont wurde,206 evozieren bildliche Negationen den Status der RezipientInnen als KoproduzentInnen oder – um mit Rancière zu sprechen – deren Emanzipation. Hans Dieter Huber formuliert es so: »Die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Nicht-Sichtbaren kann nur kognitiv, nur durch das Denken, überschritten werden.«207 Den Anstoß dazu, diese Grenze zu überschreiten, können KünstlerInnen durch die Anwendung von Strategien des Nicht-Zeigens geben. Durch die individuelle Auseinandersetzung der BetrachterInnen mit den Kunstwerken entstehen nämlich durch 202 Siehe: Barthes (2012), Die helle Kammer (1980). 203 Ders. (2012), Die helle Kammer (1980): 83 (Hervorh. im Orig., R. B.). 204 Vgl.: Jacques Derrida, Die Tode des Roland Barthes, in: Hans-Horst Henschen (Hg.), Roland Barthes, München 1988, (31–73): 62. 205 Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 148. 206 Siehe dazu bereits Kapitel 1.1.1 in dieser Arbeit. 207 Huber, Das Bild als Schnittstelle zwischen dem Sichtbaren und dem Nicht-Sichtbaren (2019): 93.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

kognitive Prozesse implizite Bilder. Durch die Betrachtung von zeitgenössischer Kunst können sich MuseumsbesucherInnen im Rancièreschen Sinne also dadurch emanzipieren, dass KünstlerInnen ungesehene Gestaltungen des Sicht-, Sag- und Denkbaren entwerfen. Deren Wirkmächtigkeit liegt darin begründet, dass sie sowohl unseren Blick als auch die »Landschaft des Möglichen« verändern können und dies insbesondere dann, wenn sie in ihrer Wirkung unvorhersehbar sind.208 Rancière spricht nur bestimmten Kunstwerken ein solches emanzipatorisches Potential zu. Als Beispiele analysiert er vergleichsweise wenige Kunstwerke im Detail, die unter dieser Prämisse als exemplarisch gelten können.209 Ausführliche Werkanalysen sowie weitere Beispiele folgen in Kapitel 3 dieser Arbeit »Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst«. Allen dort analysierten Werken eignet durch die Anwendung von Strategien des Nicht-Zeigens ein emanzipatorisches Potential.

2.4 Synthese Seit ihren Anfängen wurde die Entwicklung der Fotografie von einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem neuen Medium begleitet. Viele FotografInnen theoretisieren die Fotografie in Texten, auch Kultur- und BildwissenschaftlerInnen setzen sich mit den neuen bildlichen Phänomenen auseinander, »fotophilosophieren«210 . Obwohl die Ansatzpunkte zur Auseinandersetzung mit der Fotografie in den besprochenen Diskursen von Susan Sontag, Philippe Dubois und Jacques Rancière denkbar heterogen sind, stimmen sie doch in mindestens zwei Punkten überein. Zum einen lässt sich die Fotografie, aufgrund der ethischen, der pragmatischen und der ästhetisch-politischen Zuspitzung in den Diskursen, zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen situieren. 208 Vgl.: Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 123. 209 Darauf weist auch Ines Kleesattel hin. Auch wenn dieser Mangel an ausführlichen Einzelwerkanalysen mit der eigenständigen Rolle des emanzipierten Zuschauers vereinbar zu sein scheint, handelt es sich doch um eine Leerstelle in Rancières Schreiben. Vgl.: Ines Kleesattel, Ästhetische Distanz, Kritik des unverständlichen Kunstwerks, in: Jens Kastner, Ruth Sonderegger (Hg.), Pierre Bourdieu und Jaques Rancière, Emanzipatorische Praxis Denken, Wien/Berlin 2014, (63–93): 79. 210 Mirjam Lewandowsky, Im Hinterhof des Realen, Index–Bild–Theorie, Paderborn 2016: 40. Der Begriff »Fotophilosophie« geht auf Vilém Flusser zurück. Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie (1985): 30.

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Zum anderen fällt auf, dass alle drei AutorInnen in ihrem Schreiben über das Medium die künstlerische Fotografie aufgrund ihrer Eignung als Reflexionsmedium thematisieren. Sontag widmet sich dem Nachdenken über Fotografie maßgeblich in ihren Publikationen »Über Fotografie« (1977) und »Das Leiden anderer betrachten« (2003). Im Vergleich der Ansätze beider Publikationen zeigt sich eine Ambivalenz im Umgang mit Fotografien, insbesondere mit Fotografien des Leids. Während Sontag 1977 noch eine Ökologie der Bilder einfordert, hält sie diese Forderung zwei Jahrzehnte später in Anbetracht anhaltender Konflikte und ihrer Wiedergabe in Bildern für nicht mehr haltbar.211 Vielmehr soll man sich von den Bildern heimsuchen lassen, schreibt sie 2003. Wollte man Sontags Konzept einer Ökologie der Bilder »retten«, dann könnte es, wenn überhaupt nur in der individuellen Bildpraxis umgesetzt werden, im »Kleinen« erscheint eine solche Ökologie vielleicht möglich. Somit werden ethische Entscheidungen, das eigene Handeln betreffend, virulent. So ließe sich auch Sontags Verzicht auf Fotos von Gräueltaten in ihren Publikationen als implizite Formulierung eines Desiderats deuten. Künstlerische Fotografien, die die Fotografie über ihre dokumentarische Funktion hinaus einsetzen, erlauben ein Nachdenken über Konflikte und Kriege, und zwar ohne sie explizit zu zeigen. Ein Beispiel ist die Arbeit Dead Troops Talk von Jeff Wall, die Sontag am Ende von »Das Leiden anderer betrachten« positiv bespricht und in ihrer Nachdenklichkeit als vorbildlich erachtet. Hier zeigt sich eine Verschiebung von einem bildpragmatischen Ansatz, der Forderung einer Ökologie der Bilder, hin zu einem bildlogischen Ansatz bei der Betrachtung der künstlerischen Fotografie. Für bildlogische Negationen, wie die Fiktion, die Wall einsetzt, sind auch die ontologischen Bedingungen der Fotografie zu berücksichtigen, die Philippe Dubois in »Der fotografische Akt« (1983) thematisiert. Das Spannungsverhältnis zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen drückt sich auch in der pragmatischen Sichtweise Dubois’ aus, der die Fotografie über den fotografischen Akt als theoretisches Dispositiv betrachtet und damit ein Nachdenken über Fotografien jenseits der Kadrierung, also über das auf ihnen Gezeigte hinaus, begründet. Dem Nicht-Gezeigten kommt dabei ebenso große Wichtigkeit zu, wie dem Gezeigten. Das Nicht-Zeigen ergibt sich im fotografischen 211

Herta Wolf bezeichnet diese Haltungsänderung Sontags, »ihr ethisches Postulat einer Blickpflicht und eines Blickverbots«, als »Shiften«. Herta Wolf, Die Tränen der Fotografie, in: Harrasser, Macho und Wolf, (Hg.), Folter (2007), (139–163): 153.

2. Fotografie zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen: Diskurse

Akt durch den Schnitt durch Zeit und Raum, den Dubois am Beispiel von künstlerischen Fotografien detailliert analysiert. Besonders der räumliche Schnitt kann schließlich eine Loslösung des Bildfeldes von einer eindeutigen Referenz evozieren und eine Überwindung der Fokussierung von Fotografie auf Indexikalität ermöglichen, die zu Beginn noch Ausgangspunkt der Überlegungen Dubois’ ist. Auch hierdurch wird die Fotografie für die künstlerische Praxis interessant und als solche zu einem bevorzugten Reflexionsmedium der zeitgenössischen Kunst. Als Reflexionsmedium eignet sich die Fotografie nämlich für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Insofern wird sie auch politisch relevant. Für Jacques Rancière ist Kunst, gleichermaßen wie Politik, an der Aufteilung des Sinnlichen beteiligt. Beide Sphären bestimmen die Formen und Möglichkeiten des Sicht-, Sag- und Denkbaren. Kunst birgt besonders dann ein emanzipatorisches Potential, wenn sie zum Nachdenken anregt und ihre Unentschiedenheit offen ausstellt. Dies gelingt besonders mit fotografischen Mitteln, da Fotografien gewissermaßen unentschieden zwischen Kunst und Nicht-Kunst changieren. Sie bergen das Potential, die Ambivalenzen im Umgang mit unerträglichen Bildern und den Themen, mit denen sie in Verbindung stehen, aufscheinen zu lassen, da sie die Frage des Zeigens oder Verbergens auf sensible Weise ausloten können. Dies insbesondere dann, wenn das Nicht-Zeigen als implizites Zeigen eine Alternative zu den Extremen Zeigen und Verbergen darstellt und eine Entscheidung auch gegen das explizite und ohnehin allzeit verfügbare Bild ermöglicht. Der Titel von Michael Frieds umfangreicher Studie »Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor« (2008) verweist, wie auch die drei behandelten Diskurse, auf die zentrale Bedeutung der Fotografie in der zeitgenössischen Kunst.212 Fried fokussiert in seiner Analyse großformatige Fotografien im Stil von Andreas Gursky und insbesondere Jeff Wall, dessen Werk der Autor besonders schätzt.213 Fried verweist auf den Ernst und die Deutlichkeit, mit der sich Wall mit theoretischen und künstlerischen Fragestellungen in seinem Werk auseinandersetzt, weshalb sich seine Arbeiten in besonderer Weise für die Beantwortung der titelgebenden Frage »Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor« eignen.214 Wenngleich die große

Siehe: Michael Fried, Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor (Why Photography Matters as Art as Never Before, 2008), München 2014. 213 Vgl.: Ebd.: 3. 214 Ebd.: 354. 212

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Auswahl an Beispielen, die Fried detailreich bespricht, einen guten Überblick über das Feld bietet, ist die formale Beschränkung auf großformatige Fotografie einseitig, da sie doch andere fotografische Verfahren außer Acht lässt, die ebenfalls für die zeitgenössische Kunstproduktion von Belang sind. Außerdem klammert Fried jene künstlerische Fotografie aus, die eine dezidierte Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart anstrebt und damit eine Dimension, die bei Sontag und Rancière zentral ist. In Anbetracht der formalen und inhaltlichen Bandbreite künstlerischer Fotografie ist Frieds Fokus eine erhebliche Einschränkung. Dies ist insofern problematisch, als gerade Fotografien im Kunstkontext häufig von einer intensiven Auseinandersetzung mit politischen Themen zeugen.215 Für eine umfassende Antwort auf die Frage, warum Fotografie als Kunst heute so bedeutend ist wie nie zuvor, wäre gerade dieser Aspekt unbedingt zu berücksichtigen. Die Diskurse von Sontag, Dubois und Rancière verdeutlichen, warum Fotografie im Kunstkontext so bedeutsam ist. Dubois’ Analyse der Darstellung des Fotografischen Akts in Snows Arbeit Authorization zeigt, dass die Positionierung des Fotografen und der Fotografin im Foto eingeschrieben ist. Eng damit verknüpft ist die politische Dimension von Fotografie, deren Positionierung gerade bei Schockfotos eine Positionierung Betrachtender evoziert; ein Phänomen, das Sontag analysiert. Sontag und Rancière fokussieren diese politische Dimension von Fotografie. Dem, was Fotografien nicht zeigen, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Im Kunstkontext kann dieses Nicht-Zeigen analysiert, ja sogar strategisch eingesetzt werden. Insbesondere Sontag und Rancière bleiben jedoch detaillierte Einzelfallbetrachtungen schuldig. Die nachfolgende Analyse der Fallbeispiele zu den Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst soll hierzu einen ergänzenden Beitrag leisten.

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Das ist auch der zentrale Kritikpunkt in Steffen Siegels Rezension der Publikation Frieds. Vgl.: Steffen Siegel, Weshalb Fotografien zählen (Rezension zu Michael Frieds Why Photography Matters as Art as never before), in: Anton Holzer (Hg.), Fotogeschichte, Barthes’ Bilder, Roland Barthes und die Fotografie, Heft 114, Jg. 29, 2009, (59–60): 60. Siegel spielt in seiner Rezension auch auf den Titel von Didi-Hubermanns Publikation »Wenn Bilder Position beziehen« (2009) an. Vgl.: Ebd. Siehe: Georges Didi-Huberman, Wenn Bilder Position beziehen (Quand les images prennent position, 2009), München/Paderborn 2011.

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

3.1 Nicht-Zeigen und Rekontextualisierung »I believe there is no way to take an aesthetic decision without also taking an ethical one; and there is no way to represent any ethical position without also taking an aesthetic position.« 1 (Alfredo Jaar, 2013) In diesem Zitat unterstreicht der Künstler Alfredo Jaar, dessen Werk in dieser Arbeit ein besonderes Augenmerk gilt, die Verbindung von Ethik und Ästhetik. Besonders wenn es um die Thematisierung von politischen Konflikten und Kriegen im musealen Raum geht, lassen sich Ethik und Ästhetik nicht voneinander trennen. Auch Dagmar Fenner merkt in diesem Sinne an, dass »fast jede künstlerische Thematisierung von Gewalt auf der Bedeutungsebene eine begleitende ethische Stellungnahme« ausdrückt.2 Wenn KünstlerInnen sich, wie in den folgenden Fallbeispielen dargestellt, mit Themen wie Kriegen oder Genoziden befassen und diese nicht explizit zeigen, dann sind ihre ästhetischen Entscheidungen – jedenfalls auch – ethisch begründet. »Die Krise der modernen Ethik,« konstatiert Martin Seel, »hat auch zu einer Konjunktur der Ästhetik geführt – einer Ästhetik, die nicht

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Alfredo Jaar in einem Interview mit Lyle Rexer. Lyle Rexer, Uncomfortable truths, An encounter with Alfredo Jaar, in: DAM Magazine, Nr. 36, 2013, (36–42): 41. Fenner, Was kann und darf Kunst? (2013): 205.

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selten auf den Titel einer Ethik Anspruch erhebt.«3 Grundsätzlich behandelt die Ethik als Disziplin der praktischen Philosophie Fragen des richtigen menschlichen Handelns, die Individualethik in Bezug auf das Individuum und die Sozialethik in Bezug auf die Gemeinschaft.4 Ästhetik ist, ebenso wie Ethik, an Handeln geknüpft und gerade darin liegt ihre Verbindung begründet. KünstlerInnen sind handelnde Individuen, die mit ihren Entscheidungen inhaltlich und formalästhetisch eine Haltung beweisen können. Mit Fenner kann man KünstlerInnen eine »Metaverantwortung«5 zusprechen, da ihnen – wie anderen Berufsgruppen auch – eine Verantwortung bezüglich einer Verbesserung der Lebensqualität und der zwischenmenschlichen Beziehungen zukommt. Die Bildverantwortung, die sich in den Strategien des Nicht-Zeigens ausdrückt, impliziert eine ethische Dimension. Diese Verantwortung besteht sowohl in Bezug auf den Bildinhalt als auch gegenüber den dargestellten Personen und den RezipientInnen, die im Ausstellungsraum mit den Darstellungen konfrontiert werden. Verantwortung zu übernehmen bedeutet dabei nicht nur, für etwas einzustehen, sondern auch mögliche Folgen des eigenen Handelns zu antizipieren. In diesem Sinne spricht Hans Jonas in »Das Prinzip Verantwortung« (1979) von der »fälligen Ethik der Zukunftsverantwortung.«6 Die zunehmende Bedeutung der Verantwortung als wichtiger Bereich der Ethik erwächst für Jonas aus der Technisierung: »Die moderne Technik hat Handlungen von so großer Größenordnung, mit so neuartigen Objekten und so neuartigen Folgen eingeführt, dass der Rahmen früherer Ethik sie nicht mehr fassen kann.«7 Wenn sich mit Hilfe der Technik die Handlungsspielräume des Menschen verändern, müsse die Ethik folgen.8 Der Rahmen der Ethik gehe dabei über eine Verbundenheit mit der Gegenwart hinaus, wodurch eine Verantwortung ins Zentrum der Ethik rücke, die den erweiterten Zeit- und Raumhorizonten der Taten gerecht werde.9 Die Bedrohung der Natur durch den technischen Fortschritt und die daraus resultierende Notwendigkeit einer zukunftsgerichteten Verantwortung 3 4 5 6 7 8 9

Martin Seel, Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a.M. 1996: 12. Fenner, Was kann und darf Kunst? (2013): 28f. Ebd.: 246. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979), Frankfurt a.M. 1984: 175. Ebd.: 26. Vgl.: Ebd.: 15. Vgl.: Ebd.: 9.

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

stehen für Jonas in seinem »Tractatus technologico-ethicus« im Vordergrund.10 Jonas ethisches Hauptwerk steht hier als Pars pro Toto für die Debatte der Bioethik, die an dieser Stelle nicht rekonstruiert werden soll. Obwohl Jonas nicht über Fotografie schreibt, lassen sich seine Gedanken hinsichtlich einer Zukunftsverantwortung meines Erachtens in einigen Aspekten durchaus auf die Fotografie übertragen. Auch hier hat der technische Fortschritt sowohl die technischen Möglichkeiten des Fotografierens als auch der Verbreitung von Fotografien erheblich verändert. So hat sich, im Vergleich zur analogen Fotografie, der Wirkungsbereich eines digital aufgenommenen Fotos insbesondere aufgrund globaler digitaler Mediennetzwerke immens vergrößert. Ein Foto oder Video kann heute innerhalb weniger Sekunden weltweit verbreitet werden. Mitunter wird es hierdurch aus der Hand gegeben und in einen nach der Veröffentlichung faktisch nicht mehr zu kontrollierenden Umlauf gebracht. Dies zeigt sich auf dramatische Weise an per Livestream veröffentlichten Terroranschlägen, wie zum Beispiel im Falle des Angriffs auf zwei Moscheen in Christchurch 2019. Auch die täglich auf digitalen Plattformen wie Instagram oder Facebook hochgeladenen Bilddaten belegen das Phänomen der unkontrollierbaren Reichweite von Bildern aufgrund technischer Innovation. Entsprechend hat sich die Reichweite der Bildverantwortung erweitert. Die Verantwortung für eine Fotografie oder ein Video geht damit über den Moment der Aufnahme weit hinaus. Zusätzlich zu dem Aspekt der erweiterten Verbreitungsmöglichkeiten, haben sich auch die Bedingungen der Bildbearbeitung gewandelt. Neue technische Möglichkeiten vereinfachen Manipulationen und lassen Bilder auf Knopfdruck schockierender oder bedrückender aussehen. Gerade in Zeiten, in denen Bilder als Waffen eingesetzt werden, ist es wichtig, die BetrachterInnen für Bildverantwortung zu sensibilisieren.11 Charlotte Klonk fordert im Umgang mit kontroversem Bildmaterial im Kontext von Terror daher »Geste(n) des Nicht-Zeigens«.12 Dies lässt sich auch auf den künstlerischen Bereich übertragen. Auch die Entscheidung von Künstlerinnen, den Schrecken im Bild nicht explizit zu zeigen, sondern ihn mittels Strategien des

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Ebd.: 9. Horst Bredekamp hebt hervor, dass Bilder im Zuge asymmetrischer Kriege zu »Primärwaffen« avanciert seien. Horst Bredekamp, Der Bildakt, Berlin, 2015: 24; Siehe auch: Klonk, Terror (2017); Juliane Marie Schreiber, Bilder als Waffen: die ikonische Ästhetisierung der neuen Kriege, Baden-Baden 2018. Klonk, Terror (2017): 231.

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Nicht-Zeigens im Sinne dieser Arbeit zu evozieren, sind als solche »Gesten des Nicht-Zeigens« zu verstehen. Die Zurückhaltung von expliziten Schreckensbildern im Kontext von Kriegen und Genoziden hat über den privaten, persönlichen Rahmen hinaus, ethische und politisch-ästhetische Gründe. Dies gilt in besonderem Maße, wenn solche Bilder als Kunst im musealen Raum rekontextualisiert werden. Hier bedürfen sie einer sensiblen Einbettung. Die ästhetische Distanz kann durch kritische, nachdenkliche Bilder gewährleistet werden, wie sie besonders auch durch bildliche Negationen erreicht werden können. Beispielhaft sei hier auf die Installation The Sound of Silence (2006) von Alfredo Jaar eingegangen. Darin setzt sich der Künstler mit dem südafrikanischen Fotojournalisten Kevin Carter und seiner berühmten Fotografie The vulture and the little girl (März 1993) auseinander.13 Die Fotografie zeigt ein verlassenes kleines Kind, das mit deutlichen Anzeichen von Unterernährung bei Ayod im Süd Sudan auf dem Boden kauert. Im Mittelgrund, wenige Meter dahinter, befindet sich ein Geier, der es – so der Eindruck – bereits ins Visier genommen hat. Carter hat mehrere Versionen des Bildes gemacht, es handelt sich also nicht um einen Schnappschuss.14 Die Eindrücklichkeit des Bildes resultiert aus der Froschperspektive, die Carter gewählt hat – aus der Untersicht wirkt der Greifvogel hinter dem Kind noch bedrohlicher. Die Fotografie bringt ihm zwar den Pulitzerpreis ein, allerdings sieht er sich auch mit Vorwürfen konfrontiert.15 »War es nicht die Tat eines menschlichen Geiers«, spitzt Rancière diese Vorwürfe provokativ zu, »wenn man, anstatt dem Kind zu helfen, den Moment abwartet, um das spektakulärste Foto zu machen?«16 Verantwortung gilt es schließlich nicht nur für das eigene Tun, sondern auch für ein Unterlassen zu übernehmen. Ein Konflikt für FotojournalistInnen besteht zwischen der zu leistenden Aufklärungsarbeit und dem Schutz direkt Betroffener und Angehöriger, wobei klar ist, dass FotografInnen nicht jedem Menschen, den sie fotografieren direkt helfen können. Da aus der Aufmerksamkeit, die

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Siehe dazu auch: Jacques Rancìere, Theater Of Images/Le Thèâtre Des Images, in: Schweizer (Hg.), Alfredo Jaar (2007), (71–80): 79f. Vgl.: Greg Marinovich und João Silva, The Bang-Bang Club, Snapshots From A Hidden War, New York 2000: 117. Vgl.: Scott Macleod, The Life and Death of Kevin Carter, in: Time, 24.06.2001, online: h ttp://content.time.com/time/magazine/article/0,9171,165071,00.html, zugegriffen am 24.01.2023. Vgl.: Marinovich und Silva, The Bang-Bang Club (2000): 120f. Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 117.

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ein Bild, wie das Carters, generiert, zudem Hilfeleistungen in Form von Spenden resultieren können, könnte man argumentieren, dass die Fotografie selbst schon als Hilfeleistung zu werten ist. Aus der Not eines Menschen ein gutes Bild zu machen, birgt dennoch Konfliktpotential. Im Bereich des Fotojournalismus drohen Ästhetisierungsvorwürfe und nicht nur Carter, auch die Redaktion der New York Times musste sich für die Fotografie rechtfertigen. Auf Fragen der LeserInnen reagierte die Zeitung mit einer Anmerkung der HerausgeberInnen: A picture last Friday with an article about the Sudan showed a little Sudanese girl who had collapsed from hunger on the trail to a feeding center in Ayod. A vulture lurked behind her. Many readers have asked about the fate of the girl. The photographer reports that she recovered enough to resume her trek after the vulture was chased away. It is not known whether she reached the center.17 Carter wählte wenige Monate nach dem Erhalt des Pulitzerpreises unter dem Druck der Vorwürfe und existentieller Nöte den Freitod.18 Die Kontroverse um die Entstehung und Veröffentlichung des Bildes wird von zwei Kollegen Carters, Greg Marinovich und João Silva, in ihrem Buch »The Bang-Bang Club«19 (2000) und im gleichnamigen Kinofilm20 (2010) von Steven Silver, bei dem Marinovich als Drehbuchautor beteiligt ist, thematisiert. Diese Kontroverse ist auch der Ausgangspunkt für Jaars Installation The Sound of Silence. Der Künstler verurteilt das Foto oder dessen Urheber keineswegs. Er legt den Fokus 13 Jahre nach der Veröffentlichung vielmehr auf den Umgang damit, auf das raum-zeitliche Setting, in dem es wahrgenommen wird. Jaars raumgreifende Installation hat die Form eines Kubus und ist an einer Seite über und über mit vertikal angebrachten Neonröhren bestückt, die an Dan Flavins Lichtarbeiten erinnern und eine starke Blendung der RezipientInnen bewirken (Abb. 17).

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Marinovich und Silva, The Bang-Bang Club (2000): 120. Siehe zu weiteren Details aus Carters Abschiedsbrief: Scott Macleod, The Life and Death of Kevin Carter (2001): ohne Seitenangabe. »Bang-Bang Club« war der selbst gewählte Name der Gruppe aus Fotojournalisten, der Carter angehörte. Marinovich und Silva, The Bang-Bang Club (2000): 120. Steven Silver, The Bang Bang Club, 2010, 01:46:00.

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Abb. 17: Alfredo Jaar, The Sound of Silence, 2006, Vorderseite der Installation, Projection vidéo, 8 minutes (en boucle), Structure en bois, aluminium, tubes fluorescents, lumières stroboscopiques 500 x 500 x 1000 cm, Edition 3 of 3.

Auf der entgegengesetzten Seite wiederum lockt ein Eingang in das dunkle Innere. In dieser speziell angefertigten Black Box, werden RezipientInnen in einem acht-minütigen Video per Text mit dem Kontext des Bildes von Carter konfrontiert. Man erfährt Details über die Entstehung des Bildes, die Vorwürfe, denen Carter aufgrund der Publikation ausgesetzt war, die Vergabe des Pulitzerpreises und, dass der Fotograf Suizid begangen hat.21 Am Ende des Films blitzen vier Standlichter auf, die rechts und links von der Projektion stehen. Im Moment der Blendung, erscheint für kurze Zeit die Fotografie, um die es geht. Das Innere des Kubus wird dabei zum Schutzraum, in dem das Bild nur für wenige Sekunden jeweils sichtbar wird. Der Zugang ist reglementiert. Ein rotes Lichtsignal verbietet, ein grünes gewährt den Einlass. Um das Bild sehen zu können, muss man bis zum Ende des Videos verweilen, das es rekontextualisiert. Die Fotografie, die für den Fotograf selbstzerstörerisch wurde, wird von Jaar durch die sensible Wiederholung in eine ästhetische Reflektierbarkeit

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Den Text der Installation kann man über die Webseite der Galerie Patricia Ready, Santiago einsehen. O. A., Galerie Patricia Ready, online: http://moussemagazine.it /alfredojaar_thesoundofsilence_galeriapatriciaready_santiago2014/, zugegriffen am 24.01.2023.

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

überführt. Dabei setzt Jaar die intermediale Negationsform ein, indem er installativ vorgeht und Raum, Text, Fotografie, Video und Licht einsetzt.22 Bevor man die zentrale Fotografie, geblendet von den Scheinwerfern, für wenige Sekunden sehen kann, kann man durch die Präsentation in der Black Box bereits ein Bild antizipieren. Wenn solche Bilder, wie Kevin Carters Fotografie in Jaars Installation The Sound of Silence, im musealen Raum auftauchen, dann benötigen sie eine entsprechende Einbettung und dies insbesondere, wenn mit Strategien des NichtZeigens gearbeitet wird. Denn die »Kontextabhängigkeit der Bedeutungen von Bildern« wird, wie Tilmann Sutter hervorhebt, »gerade da sichtbar, wo nicht auf Sichtbarkeit, sondern auf das abgestellt wird, was nicht gezeigt wird.«23 Mittels des einführenden Textes in seiner Installation und durch den reglementierten Zutritt ins Innere des Kubus, schafft Jaar eine Kontextualisierung, die einen flüchtigen, interesselosen Blick auf das zentrale Bild unterbindet. Man kann es nämlich nicht sehen, ohne sich auf die Hintergründe des fotografischen Akts einzulassen. Mit Strategien des Nicht-Zeigens können Themen wie politische Konflikte und Kriege künstlerisch verantwortungsvoll rekontextualisiert werden, ohne sie aus dem musealen Raum verbannen zu müssen, da die Position der RezipientInnen zur Generierung von Bedeutung miteinbezogen werden kann. Die nachgehend gewählten Kategorien Narration, Metonymie, Ellipse, Abstraktion und Fiktion eröffnen dabei eine analytische Perspektive auf künstlerische Herangehensweisen, die das Nicht-Zeigen strategisch einsetzen und mit Fotografie arbeiten, um sich ästhetisch-distanziert mit politischen Konflikten wie dem Afghanistankrieg, dem ruandischen Genozid oder dem Konflikt zwischen Israel und Palästina auseinanderzusetzen. Dabei kommen fakultative bildliche Negationen wie die intermediale und interpiktoriale Negation, Exklusion, Abstraktion und Fiktion zum Einsatz, wobei bei der Anwendung dieser Strategien oft gleich mehrere Negationsformen zusammenfallen. Die KünstlerInnen arbeiten mit analogen oder digitalen fotografischen

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Diese Strategie kann der Kategorie Narration als Strategie des Nicht-Zeigens zugeordnet werden, die im folgenden Unterkapitel (3.2) eingehend anhand einer weiteren Arbeit Alfredo Jaars besprochen wird. Tilmann Sutter, Gewalt im Bild – ohne Bild, Wirkung und Bedeutung von Gewalt in den Medien, in: Heinz-Peter Preußer (Hg.), Gewalt im Bild, Ein interdisziplinärer Diskurs, Marburg 2018, (39–52): 50.

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Implizite Bilder – Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

Verfahren und greifen entweder auf bereits existierende Fotografien aus dem journalistischen Kontext zu oder sie verwenden eigene Fotografien. Wie in Kapitel 1.3 gezeigt wurde, stehen KünstlerInnen aufgrund der epistemischen Varianz der Fotografie im musealen Kontext weit mehr fotografische Verfahren zur Verfügung als beispielsweise FotojournalistInnen. Die selbstreflexiven künstlerischen Herangehensweisen machen es möglich, den Fokus auf die Rolle der Fotografie selbst zu legen, der, wie bereits erwähnt, das Nicht-Zeigen inhärent ist. Dadurch kann das Verhältnis von Fotografie, Repräsentation und Konflikten hinterfragt werden. Muss man Gewalt zeigen, um zu zeigen, dass es Gewalt gibt? Anstelle von expliziten Bildern von Gräueln, bieten Strategien des Nicht-Zeigens mittels der Evokation impliziter Bilder sensiblere und sensibilisierende Möglichkeiten, um Konflikte und Krisen im musealen Kontext zu thematisieren. Im Folgenden werden Beispiele betrachtet, die zeigen, wie KünstlerInnen diese Möglichkeiten ausgelotet haben.

3.2 Narration als Strategie des Nicht-Zeigens 3.2.1 Der Völkermord in Ruanda und die Frage der Un-/sichtbarkeit Die Kontroverse um Zeigen oder Nicht-Zeigen wurde fünfzig Jahre nach dem systematischen Völkermord an den europäischen Juden aktuell, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit katastrophalem Ausmaß in Ruanda stattfanden. Zwischen April und Juli 1994 fielen mindestens eine halbe Million Menschen dem Aufstand der Hutu gegen die Tutsi zum Opfer.24 Während die Weltgemeinschaft zunächst die Augen vor den Tatsachen eines Genozids verschloss, Truppen abzog und das Land sich selbst überließ, gingen Hutu Rebellen mit

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Die Opferzahlen variieren in diversen Berichten. Diese Zahl bezieht sich auf den Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 1999. Zu den Opfern gehörten nicht ausschließlich Tutsi, sondern auch moderate Hutu sowie andere Minderheiten. O. A., Human Rights Watch (Hg.), Leave None to Tell the Story: Genocide in Rwanda, 1999, online: https://www.hrw.org/reports/1999/rwanda/Geno1-3-01.htm#TopOfPage, zugegriffen am 24.01.2023.

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

rigoroser Brutalität gegen ihre eigenen »Nachbarn«25 vor.26 In angrenzenden Ländern, wie der Demokratischen Republik Kongo, konnten die Vorgänge live im Fernsehen verfolgt werden.27 In den westlichen Medien hingegen wurde erst gegen Ende der Kämpfe in Ruanda ausführlich über diese berichtet.28 Vor dem Hintergrund der Debatte um die Unmöglichkeit den Holocaust adäquat darzustellen, erschien eine Repräsentation der Ereignisse in Ruanda ebenfalls fast unmöglich.29 Nicholas Mirzoeff schrieb sogar: »The Holocaust towers over the contemporary, which seems morally insignificant by comparison and becomes invisible.«30 Bis zum 1. August 1994 dauerte es, bis ein explizites Bild vom Völkermord auf der Titelseite des wöchentlich erscheinenden US-amerikanischen Magazins Newsweek gezeigt wurde (Abb. 18):31 Unter der Schlagzeile »Hell On Earth«

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Jean Hatzfeld spricht vom »Völkermord unter Nachbarn« und diagnostiziert, dass es sich in dem agrarisch geprägten Ruanda um einen Völkermord »dörflichen Typs« handelt, der auf nachbarschaftlichen Beziehungen basiert, in Abgrenzung zum Völkermord »städtischen Typs«, wie er von den Nationalsozialisten begangen wurde. Jean Hatzfeld, Zeit der Macheten, Gespräche mit den Tätern des Völkermords in Ruanda, Gießen 2004: 71, 72. Vlg.: Joshua Hammer, Theodore Stanger und Robin Sparkman, Deeper Into the Abyss, in: Newsweek, 25. April 1994: 16f. Vgl. auch: Johan Pottier, Re-Imagining Rwanda, Conflict, Survival and Disinformation in the Late Twentieth Century, Cambridge 2002: 56. Vgl.: Emmanuel Dongala, The Genocide Next Door, in: New York Times, 6. April 2004, online: https://www.nytimes.com/2004/04/06/opinion/the-genocide-next-doo r.html, zugegriffen am 24.01.2023. Angela Ritter spricht sogar davon, dass der Genozid in den westlichen Nachrichten quasi abwesend war. Vgl.: Angela Ritter, Active Viewership and Ethical Representation: Responsible Spectatorship in Alfredo Jaar’s »Real Pictures« and Gil Courtemanche’s »Un dimanche à la piscine à Kigali«, in: Journal of French and Francophone Philosophy, Revue de la philosophie française, No 1 (2016), (205–223): 205. Zu dieser Debatte, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, siehe: Peter Geimer, »Wir müssen diese Bilder zeigen« (2007): 120ff. Nicholas Mirzoeff, Invisible Again, Rwanda and Representation After Genocide, in: African Arts, Autumn 2005, 38, 3, (36–39, 86–95): 87. Dies wird von Alfredo Jaar in seiner Arbeit untitled (newsweek) (1994) als Versäumnis akzentuiert, indem er die Titelseiten des Magazins mit knappen Texten zu den Ereignissen in Ruanda parallelisiert. Die Ausgabe mit Dabaghians Titelbild steht am Ende der von Jaar inszenierten Reihe. Siehe: Jaar, untitled (newsweek), online: https://a lfredojaar.net/projects/1994/the-rwanda-project/untitlednewsweek/, zugegriffen am 24.01.2023.

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sieht man auf einer Fotografie von Jack Dabaghian im Vordergrund ein weinendes Kleinkind, das von einer Vielzahl von nur teilweise mit Tüchern abgedeckten Leichen im Mittelgrund umgeben ist. Im Hintergrund herrscht geschäftiges Treiben. Im Bildausschnitt trennen die am Boden liegenden, leblosen Körper das Kind von den anderen Überlebenden. Durch den graphischen schwarzen Rahmen des Cover-Layouts wird die Isolation des Kindes noch unterstützt.

Abb. 18: Jack Dabaghian, Hell on Earth, Titelbild der Newsweek Ausgabe vom 01. August 1994.

Die Fotografie Dabaghians setzt sich einer häufig formulierten Kritik aus: Da sie ein Einzelschicksal explizit und auf schockierende Art und Weise in den

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

Vordergrund rückt,32 riskiert diese Fotografie als klischeehafte Darstellung rezipiert zu werden. Zum einen wird hier der Vorwurf einer eindimensionalen Darstellung des fotografierten Subjekts als Opfer erhoben, zum anderen die vorherrschende Sichtbarkeit von Kindern in Bildern im humanitären Kontext problematisiert.33 Gibt es wirklich nur zwei unzulängliche Alternativen: keine Bilder oder klischeehafte Darstellungen? Didi-Huberman fragt: »What can be done to counter this double constraint, which would like to alienate us to the alternative of seeing nothing at all or seeing only clichés?«34 Wie könnte eine adäquate Darstellung aussehen? Eine Fotografie, wie die Dabaghians, scheitert an der Darstellung des ruandischen Genozids. Da Fotografien die Komplexität eines solchen Ereignisses nicht abbilden können, bedarf es weiterer Repräsentationsformen.35 Hier eröffnen künstlerische Verfahrensweisen differenzierte Möglichkeiten des Umgangs mit der Problematik, den Genozid sichtbar zu machen. Aber Nicholas Mirzoeff formuliert noch ein weiteres Dilemma: »Representing the Rwandan genocide is a question of asserting the possibility of representation between the visibility of genocide and the invisibility of Western-led globalization.«36 Die Hintergründe des Genozids, der Kolonialismus und problematische Aspekte der Globalisierung, bleiben auch in sehr kritischen künstlerischen Herangehensweisen häufig ein blinder Fleck.37 In die32

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Ute Zurmühl konstatiert: »Nach wie vor werden die Menschen aus der Dritten Welt als ›hilfsbedürftig, arm und abhängig‹ dargestellt, ohne eigene ›Sprache‹, d.h. ohne eigene Ideen, Innovationen und Überzeugungen.« Ute Zurmühl, Der »Koloniale Blick« im entwicklungspolitischen Diskurs, Welt-Bilder und Bilder-Welten in der Entwicklungszusammenarbeit, Saarbrücken 1995: 119. Den Zusammenhang von humanitärer Fotografie und der Darstellung von Kindern untersucht Heide Fehrenbach und verfolgt die Verbindung zurück bis zur Jahrhundertwende vom 19. Zum 20. Jahrhundert. Siehe: Heide Fehrenbach, Children and other Civilians, Photography and the Politics of Humanitarian Image-Making, in: Heide Fehrenbach und Davide Rodogno (Hg.), Humanitarian Photography, A History, New York 2015: 165–199. Der Fotograf der Titelseite von Newsweek, Jack Dabaghian, hat sich mittlerweile von der Fotografie in Konflikt- und Krisengebieten ab- und humanistischen Themen zugewandt. Über seine Entscheidung informiert er auf seiner Internetseite. Vgl.: Jack Dabaghian, About, online: https://www.jackdabaghian.com/about, zugegriffen am 24.01.2023. Eine Kehrtwende in der Karriere eines Kriegs- und Krisenfotografen, die kein Einzelfall ist und der sich an anderer Stelle weiter nachzugehen lohnt. Didi-Huberman, Emotion Does Not Say »I« (2007): 57 (Hervorh. im Orig., G. D.-H.). Vgl.: Mirzoeff, Invisible Again (2005): 90. Ebd.: 89. Robert Stockhammer bezeichnet den Genozid in Ruanda auch als »Loch der Globalisierung […], als derjenige Ort, in dessen Geschehnisse die Verantwortlichen in einem

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sem Sinne ist auch der Titel von Mirzoeffs Aufsatz über die Sichtbarmachung des ruandischen Genozids zu verstehen: »Invisible Again«. Der Autor bezieht dies auch auf Alfredo Jaars Rwanda Project, das im Folgenden vorgestellt werden soll. Allerdings stellt Jaar, wie zu zeigen sein wird, in diesem Fall der Unsichtbarkeit eine andere Form der Sichtbarkeit entgegen.

3.2.2 Alfredo Jaars Rwanda Project Alfredo Jaar, der sich in seinem Rwanda Project (1994–2010) intensiv mit dem ruandischen Genozid auseinandergesetzt hat, stellt sich der Frage nach einer angemessenen Darstellung. Der Versuch sich trotz allem ein Bild zu machen – Das könnte ein Motto für Jaars Arbeit sein. Im August 1994 reiste er gemeinsam mit seinem Assistenten Carlos Vásquez nach Ruanda.38 Sie blieben fast einen Monat lang dort, um sich einen Eindruck des Ausmaßes der Gräueltaten zu machen. Einem ethnologischen Ansatz folgend, spricht der Künstler mit den Überlebenden über ihre Erfahrungen. Jaar führt Interviews und fotografiert die erlebten Situationen. Innerhalb von 16 Jahren entstehen auf Basis dieses Materials 27 Arbeiten, die Jaar auf seiner Homepage aufführt.39 Eine davon und die Erste, die museal präsentiert wird, ist die Installation Real Pictures (1995), in der Jaar seine Fotografien aus Ruanda zum ersten Mal öffentlich machte – aber er zeigte sie nicht. Peter Geimer bemerkt, dass Jaar seine Bilder aus Ruanda letztlich weder eindeutig zeigt, noch sie eindeutig nicht zeigt, er zeigt, dass er sie nicht zeigt; was er in Anschlag bringt, ist die labile Grenze zwischen der Skepsis gegenüber der Bilderschau

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entscheidenden Moment nicht intervenierten, obgleich ihnen die Verpflichtung zur Intervention vage bewußt war.« Robert Stockhammer, Ruanda, Über einen anderen Genozid schreiben, Frankfurt a.M. 2005: 142. Auch Annie Leibovitz und Gilles Peress reisten u.a. 1994 nach Ruanda. Leibovitz präsentiert eine metonymische Aufnahme »Traces of the masssacre of Tutsi schoolchildren and villagers on a bathroom wall, Shangi mission school, Rwanda, 1994« in ihrem Bildband »A Photographers Life«, wo sie sich chronologisch in eine Auswahl privater Fotografien aus dem Familienleben und öffentlicher Auftragsarbeiten einreiht. Siehe: Holborn und Leibovitz (Hg.), A Photographers Life (2006): o. S.; Peress bearbeitet das Thema umfassender in seinem Bildband »The Silence, Rwanda«. Siehe: Gilles Peress, The Silence, Rwanda, New York 1995. Siehe: Alfredo Jaar, The Rwanda Project, online: https://alfredojaar.net/projects/1994/t he-rwanda-project/, zugegriffen am 24.01.2023.

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des Entsetzens und der Möglichkeit – vielleicht sogar dem Wunsch – diese Bilder dennoch zu sehen.40 Da Jaar seine Repräsentation des Genozids als Installation konzipiert hat, ist die museale Präsentation Real Pictures bereits eingeschrieben. Sie zielt darauf das internationale Kunstpublikum für die Geschehnisse in Ruanda zu sensibilisieren.

3.2.3 Real Pictures: Ein Bilderfriedhof im Museum Real Pictures wird zuerst vom 28. Januar bis 25. März 1995 in der Ausstellung »Real Pictures: An Installation by Alfredo Jaar« im Museum of Contemporary Photography in Chicago gezeigt. Im Pressetext wird die Installation als Experiment mit Repräsentation bezeichnet, als Versuch der Übersetzung tragischer Weltereignisse in visuelle Sprache.41 In den spärlich beleuchteten Räumen des Museums sieht man zunächst Inseln von schwarzen Archivboxen, die in unterschiedlichen minimalistischen Konstellationen arrangiert sind (Abb. 19). Rund um die Füße der Arrangements aus Boxen verbreitet sich aufgrund der Beleuchtung durch Spots ein heller Schein, der, wie die Lichtmarkierungen durch Scheinwerfer im Theater, die Orientierung vorgibt. Die Wände sind leer. Auf der Suche nach den »wirklichen« Bildern (engl. real pictures), die der Ausstellungstitel verspricht, finden die BesucherInnen zunächst keine Bilder, zumindest keine expliziten. Dadurch, dass er »Normalitätserwartungen«42 nicht erfüllt, weckt Jaar bereits auf einer durch seinen Titel erzählerischen Ebene der Installation das Interesse der RezipientInnen. Jaar hat eine Auswahl von etwa 60, der über 3000 in Ruanda entstanden Fotografien, in Boxen abgelegt und damit quasi begraben.43 Die Boxen dürfen in der Ausstellung, anders als in einem Archiv, nicht berührt, geschweige denn geöffnet werden. Sie fungieren als Ruhestätten für die Bilder und sind ohne Podeste am Boden arrangiert.44

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Geimer, Fotos, die man nicht zeigt (2006): 251. Vgl.: O. A., Pressetext zur Ausstellung »Real Pictures: An Installation by Alfredo Jaar«, Museum of Contemporary Photography, Chicago 1995 (siehe Anhang 1). Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012: 77. Vgl.: Mirzoeff, Invisible Again (2005): 87. In späteren Arbeiten wird Jaar auf einzelne Bilder, die als metonymisch bezeichnet werden können, zurückgreifen. Siehe dazu das nächste Unterkapitel (3.3) »Metonymie als Strategie des Nicht-Zeigens«.

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Anstatt die Bilder sichtbar zu machen, sind auf den Deckeln der Boxen des Bilderfriedhofs beschreibende Texte in weiß auf schwarz gedruckt. Während auf einem Friedhof meist Menschen aus der Stadt oder dem Dorf begraben sind, wo sich der Friedhof befindet, eröffnet Jaar durch diesen mobilen Friedhof, der von Museum zu Museum wandert, auch für ein internationales Publikum den Zugang zu den Geschehnissen in Ruanda.45 Die Arrangements der Boxen variieren in Höhe, Breite und Tiefe, teilweise sind sie flach am Boden ausgebreitet, teilweise sind sie bis auf Hüfthöhe oder höher aufgetürmt. Die formale Anlehnung an den Minimalismus, wie er beispielsweise durch Carl André oder Donald Judd vertreten wird, scheint in der Anordnung der Archivboxen im Raum auf. Wie in minimalistischen Rauminstallationen müssen sich die BesucherInnen der Ausstellung zu diesen Kästen verhalten, im Raum bewegen, sich zu flachen Arrangements hinunter beugen oder kauern, um die Texte auf den Boxen lesen zu können, während höhere Stelen fast auf Augenhöhe liegen. Jaar kommentiert sein Vorgehen mit folgenden Worten: »Ich verwende diese Kästen als Module, als Bausteine, um Gedenkstätten in einem Raum der Trostlosigkeit und des Schweigens zu errichten. Ich glaube nicht, dass es etwas nützen würde, Bilder voller Blut zu zeigen.«46 Nicht nur die Fotografien zeigt Jaar nicht, er verweigert auch den Blick auf die je darunter liegenden Boxen.47 Die schiere Anzahl der Archivboxen und ihr Arrangement in der Installation suggerieren, dass es sich hier um einen immensen Fundus handelt, der innerhalb der Ausstellung nicht ganz erfasst werden kann. Seine Entscheidung, die Verweigerung des Zeigens zu akzentuieren, begründet der Künstler so: Wir alle werden mit so vielen tausend Bildern bombardiert, dass wir unsere Fähigkeit, zu sehen und von Bildern ergriffen zu werden, verloren haben. Ich

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»I’ve created a cemetery of images,« kommentiert Jaar seine Installation. Jaar nach Foerstner. Abigail Foerstner, Africa’s Holocaust, in: Chicago Tribune, February 19, 1995, online: http://articles.chicagotribune.com/1995-02-19/entertainment/9502190064_1_alf redo-jaar-real-pictures-rwanda, zugegriffen am 24.01.2023. Alfredo Jaar, Es ist schwierig, in: Okwui Enwezor et al. (Hg.), Experimente an der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung, Documenta 11, Plattform 2, Ostfildern-Ruit 2002, (329–352): 336. Die aufeinander gestapelten Boxen bergen laut Angabe des Studios Alfredo Jaar immer die gleiche Fotografie und somit auch den gleichen Aufdruck.

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

wollte eine umgekehrte Strategie versuchen. Die Logik dabei war, dass man die Bilder vielleicht besser sieht, wenn ich sie nicht zeige.48

Abb. 19: Alfredo Jaar, Real Pictures, 1995, Installationsansicht (Museum of Contemporary Photography, Chicago, 28. Januar – 25. März 1995), Installation aus Archivboxen, Fotografien, Text (Siebdruck), Maße variabel.

Das übergroße Bildangebot in der Mediengesellschaft wird mit Begriffen wie »Bilderflut« belegt, damit wird metaphorisch eine Überforderung evoziert, Menschen, die dem Überangebot nicht mehr gerecht werden können. Jaar hält sie zu einem langsamen Sehen an.49 Um den Völkermord in Ruanda zu thematisieren, nutzt er eine intermediale Negation der Narration als Strategie des Nicht-Zeigens, dabei kommen in der Installation skulpturale Elemente, Fotografie und Text zum Einsatz. Der Begriff »Narration« erlaubt, 48 49

Jaar, Es ist schwierig (2002): 336. Vgl.: Mieke Bal, The Pain of Images, in: Mark Reinardt (Hg.), Beautiful Suffering, Photography and the Traffic in Pain, Ausst.-Kat., Chicago 2007, (93–115): 114f.

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sowohl die Erzählstrategie der Installation als auch die explizit textlichen Elemente zu fassen. Stephanie Rosenthal bemerkt, dass dieser Modus der Erzählung durch eine Rauminstallation es den Betrachtenden erlaubt, »einen Erzählraum physisch zu erfahren«, wodurch sich »die Unmittelbarkeit des Erlebten« erhöht.50 Obwohl sich die Kunstgeschichte als Stilgeschichte zunächst mit der Möglichkeit bildlichen Erzählens schwer tat, gilt dem Erzählen mit dem Bild und im Bild heute große Aufmerksamkeit.51 Kunstwerke können dann als narrativ bezeichnet werden, wenn sie mit Elementen arbeiten, die als narrativ einzustufen sind, also Ereignisse und Handlungsabfolgen, wenn narrative Texte zum Einsatz kommen oder durch die Verbindung von Bild und Text.52 Jaar setzt in Real Pictures narrative Strategien ein: Das Nicht-Zeigen mittels Narration ergibt sich bei Real Pictures zum einen aus dem formalen Aufbau der Installation als einer Grabstätte für Bilder. Dies suggeriert eine simultane Anund Abwesenheit der Fotografien, die in den Archivboxen abgelegt sind. Zum anderen akzentuiert Jaar das Nicht-Zeigen durch den Einsatz von Text im Zusammenspiel mit den quasi in Boxen bestatteten Bildern. Bei den Inschriften auf den Boxen handelt es sich zwar nicht um Grabinschriften, dennoch weisen diese Beschriftungen, wie die von Grabsteinen, einen einheitlichen Aufbau auf. Auf einen dreizeiligen Kopf, der eine raumzeitliche Verortung vornimmt, folgen ein bis drei Paragraphen mit Fließtext. Die Kopfzeile weist auf den Ort der Entstehung der Fotografie hin, die zweite Zeile setzt diesen Ort in Relation zu Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Hier wird deutlich, dass sich die Installation Jaars an ein internationales Publikum richtet, denn eine solche Hervorhebung hätte für ein ruandisches Publikum vermutlich kaum einen Mehrwert.53 Zeile drei gibt das Datum der jeweiligen Aufnahme an. Der graphisch ähnliche Aufbau der Texte lädt zum Vergleichen ein.

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Stephanie Rosenthal (Hg.), Stories, Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst, Ausst.Kat., Köln 2002: 12. Einen Überblick zur Erzählforschung in der Kunstwissenschaft liefern: Hilmar Frank und Tanja Frank, Erzählforschung in der Kunstwissenschaft, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Die erzählerische Dimension: Studien über eine Gemeinsamkeit der Künste, Berlin 1999: 35–52. Vgl.: Rosenthal, Stories (2002): 11. Vgl.: Mirzoeff, Invisible again (2005): 87.

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

Eine Archivbox enthält beispielsweise eine Fotografie, die während des Besuchs der Ntarama Kirche, einem zentralen Schauplatz des Völkermords, entstanden ist (Abb. 20). Der Text lautet:54 Ntarama Church, Nyamata, Rwanda 40 kilometers south of Kigali Monday, August 29, 1994 This photograph shows Benjamin Musisi, 50, crouched low in the doorway of the church amongst scattered bodies spilling out into the daylight. Four hundred Tutsi men, women and children who had come here seeking refuge, were slaughtered during Sunday mass. Benjamin looks directly into the camera, as if recording what the camera saw. He asked to be photographed amongst the dead. He wanted to prove to his friends in Kampala, Uganda, that the atrocities were real and that he had seen the aftermath.55 Die Fotografie wird durch den Text direkt angesprochen: »This photograph« heißt es im ersten Satz. Es geht also nicht um irgendein Bild oder ein mögliches Bild – sondern um ein ganz konkretes, das drückt das Demonstrativpronomen »dieses« aus, welches linguistisch zu den Deiktika zählt: Es verweist auf ein existentes Bild, das im Ausstellungskontext zurückgehalten und dennoch thematisiert wird. Mit der Aussage »This photograph shows« wird die Zeigekraft des Bildes hervorgehoben, gleichzeitig werden die LeserInnen mit einer Leerstelle konfrontiert. Wie kann ein nicht gezeigtes Bild etwas zeigen? Jaar setzt hier auf die deiktische Kraft der Worte. Er entscheidet sich dafür, die Fotografie nicht explizit zu zeigen, sondern sie mittels des Textes zu evozieren.

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Kirchen waren häufig aufgesuchte Orte, in denen sich Tutsi in der Hoffnung auf Schutz aufhielten. In diesem Fall kam es zu einer Täuschung durch Hutu Rebellen. Für eine Zählung hatten sie sich dort eingefunden, um später hinterlistig überfallen zu werden. Vgl.: Hatzfeld, Zeit der Macheten (2004): 72. Der Text wurde der Verfasserin vom Studio Alfredo Jaar freundlicher Weise zur Verfügung gestellt.

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Abb. 20: Alfredo Jaar, Real Pictures, 1995, Installation aus Archivboxen (Benjamin Musisi, Detail), Fotografien, Text (Siebdruck), Maße variabel.

Welche medialen und rezeptionsästhetischen Eigenschaften von Texten ermöglichen es Jaar in Real Pictures eine Strategie des Nicht-Zeigens umzusetzen? Der sichtbare Text ruft im »Akt des Lesens« bei den RezipientInnen individuelle Vorstellungsbilder durch implizite Bilder hervor,56 umso mehr, als es sich bei den Texten auf den Boxen um beschreibende Texte handelt, die sich auf ein konkretes Bild beziehen und dieses als Vorstellungsbild evozieren. Das Bild, beziehungsweise die Situation, die das jeweilige Bild festhält, fungiert als Basis für den Text. »Jede gute Ekphrasis«, also jede anschauliche Beschreibung, schreibt Gottfried Boehm, »besitzt das Moment der Selbsttransparenz: sie bläht sich in ihrer sprachlichen Pracht nicht auf, sondern macht sich durchsichtig im Hinblick auf das Bild.«57 Diese Selbsttransparenz

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Siehe: Iser, Der Akt des Lesens (1976). Der Bedeutung von Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart in der Literaturund Kunstwissenschaft und weiteren Disziplinen ist die Aufsatzsammlung »Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung« herausgegeben von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer gewidmet. Gottfried Boehm, Bildbeschreibung, Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: Ders. und Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung, München 1995, (23–40): 39f.

3. Strategien des Nicht-Zeigens in der zeitgenössischen Kunst

erreicht Jaar vermittels der direkten Ansprache der Fotografie in Real Pictures und durch die klare, analytische Sprache der Texte auf den Deckeln der Archivboxen. Dabei geht der Text über das Sichtbare allerdings hinaus, genau daran zeigt sich nun aber eine Ekphrasis. Boehm notiert, dass sie mehr sehen lässt, indem sie nicht dem »Ideal einer möglichst vollständigen ›verbalen Abbildung‹« nacheifert, sondern das Beschriebene kontextualisiert.58 Sie ergänzt Informationen, die im Bildausschnitt nicht sichtbar sind, nicht sein könnten. Jaar schildert auch olfaktorische Eindrücke, wie den beißenden Geruch verwesender Leichen. Auf einer weiteren Box, die ebenfalls eine Fotografie vom 29. August 1994 beinhaltet, heißt es: »Taken 5 seconds later, this photograph shows the rich blue sky, a bit of the tree line, and one perfect white cloud hovering above the church. The stench of death still lingers.« Dieses, für die Atmosphäre und Vorstellung wichtige Detail, ist im Bild nicht darstellbar. Für implizite Bilder sind die RezipientInnen selbst verantwortlich. Laut Iser ist das Bild sogar »die zentrale Kategorie der Vorstellung«, solche Vorstellungsbilder beziehen sich »auf das Nicht-Gegebene bzw. Abwesende, dessen Vergegenwärtigung im Bild geleistet wird.«59 Iser betont die Eigenleistung der LeserInnen, sie denken aktiv mit und stellen sich das Gelesene vor, bebildern es. In der Ausgestaltung sind sie sich selbst überlassen und frei. In Real Pictures beschränkt kein äußerlich fest gesetzter Rahmen ihre Vorstellung von den nicht gezeigten Fotografien, die beschrieben werden. Insofern kann ihre »Bebilderung« weit über die ungesehene Vorlage der Fotografie in der Archivbox hinausgehen. Die Texte sind präzise genug, um Assoziationen hervorzurufen und zugleich vage genug, um diese nicht einzuschränken. Jaar formuliert seine Intention so: »The hope is that by describing the contents of each box and not allowing access to the images that are there, the desire to see acts as a catalyst for understanding and solidarity.«60 Im Akt des Lesens findet eine Vergegenwärtigung statt, die die Lesenden aus ihrer »Realität heraushebt,« schreibt Iser.61 Bei der Lektüre der Texte in der Installation Real Pictures kann die Beschreibung der Realität in Ruanda die MuseumsbesucherInnen gewissermaßen aus der eigenen Realität herausheben. Die »wirklichen Bilder«, die »Real Pictures«, entstehen in den Köpfen der RezipientInnen. Damit überträgt Jaar die Verantwortung für

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Ebd.: 39. Iser, Der Akt des Lesens (1976): 222. Jaar nach Davidson. Kate Davidson, The Art of Inclusion, Alfredo Jaar – an interview, in: Photofile, Nov 1995, No 46, (15–18): 17. Iser, Der Akt des Lesens (1976): 227.

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den Umgang mit den Bildern auf die MuseumsbesucherInnen. Angela Ritter analysiert es so: »The act of imagining also necessitates an element of responsibility for what they have imagined, how they have imagined it, and how they reflect upon it.«62 Schockbilder fordern unmittelbare Reaktionen heraus, auch die Fotografien Jaars könnten ein Abstumpfen oder ein Abwenden des Blicks provozieren. Die Beschreibungen hingegen verlangen und ermöglichen eine distanziertere Auseinandersetzung, wobei klar ist, dass das Rezeptionsverhalten der RezipientInnen hier entscheidend ist, denn auch von Texten kann man sich abwenden. Allerdings ist der Text, wie Mitchell bemerkt, »die schwächere, indirektere, entferntere Form der Repräsentation«.63 Wenn man von 400 Leichen im Kirchenraum liest, dann ist dies kein visueller Schock, sondern eine Tatsache, mit der man sich befassen muss, aber Jaar liefert keine detaillierten Hintergrundinformationen. Die Angaben zu den tatsächlichen Opferzahlen und den Hintergründen des Massakers in der Ntarama Kirche sind nach heutigem Forschungsstand sehr ungenau. Man kann vermuten, dass Jaar so kurz nach der Katastrophe noch nicht über präzise Informationen verfügte – nicht 400, sondern 5000 Personen wurden in der Kirche ermordet.64 Auf einer anderen Box von Real Pictures wird die Zahl vager angegeben, von ungefähr 400 Toten ist da die Rede (»Approximately 400 Tutsi, men, women and children«, auf einer weiteren Box steht: »In the photograph there are too many bodies to count.«). Trotz dieser Ungenauigkeit eröffnet Jaar mit seiner Installation einen Raum für Begegnungen mit der Realität des Genozids. Dieser Begegnung eignet eine bestimmte Qualität der Erfahrung, eine gewisse Intimität. Dies ist nur möglich, weil Jaar den Portraitierten selbst begegnet ist und mit ihnen gesprochen hat. Während das von Dabaghian fotografierte Kleinkind anonym bleibt, gibt Jaar die Identität von den Überlebenden des Genozids ganz bewusst preis. In dem oben erwähnten Text wird der Protagonist Benjamin Musisi vorgestellt. Er kauert auf der Schwelle zum Kirchenraum, der während des Genozids zum Massengrab geworden ist. Nachdem die Szenerie in der Kirche beschrieben ist, fokussiert der Text die Aufmerksamkeit der Lesenden

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Ritter, Active Viewership and Ethical Representation (2016): 211. William J. T. Mitchell, Das Unaussprechliche und das Unvorstellbare, Wort und Bild in einer Zeit des Terrors, in: Bernd Hüppauf und Christoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft, München 2006, (327–344): 333. Catherine Wambua-Soi, Remembering Rwanda’s Genocide, in: Al Jazeera, 01. Juli 2012, online: https://www.aljazeera.com/features/2012/7/1/remembering-rwandas-g enocide, zugegriffen am 24.01.2023.

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auf den Blick Musisis, der selbstbewusst und frontal in die Kamera gerichtet ist. Die Direktheit des Blicks lässt eine Vertrautheit zwischen dem Fotografen Jaar und dem Portraitierten Musisi vermuten.65 Die Information, dass Musisi darum bat, fotografiert zu werden, kann nur ein Text vermitteln, die Fotografie könnte dies – auch wenn sie sichtbar wäre – nicht kommunizieren. Ein Einverständnis von fotografierten Menschen ist für einen verantwortungsvollen Umgang mit Fotografie im Rahmen einer ethnologischen Feldforschung, also der Methode, von der sich Jaar inspirieren ließ, Voraussetzung.66 Ein solches Einverständnis, hat das weinende Kleinkind, das auf dem Titelbild von Newsweek gezeigt wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gegeben. Jaars Umgang mit den Überlebenden in seiner Installation lässt sich insofern als Evokation eines Dissenses im Sinne Rancières bezeichnen, als er nicht die gängigen Klischees von Opferdarstellungen reproduziert. Mirzoeff bemerkt, »what emerges from the dissensus is not a disinterested aesthetic but a political claim to rights, a right Musisi does not yet have over the visual image or, more broadly, a right to live in Rwanda without fear of genocide.«67 Indem Jaar den Fokus auf den Überlebenden Musisi legt, der aktiv in die Kamera blickt, hebt er die Aktivität und Zähigkeit des Portraitierten hervor. Dies gilt als wesentliches Kriterium eines menschenwürdigen Portraits, das den Standards einer humanitären Fotografie genügt.68 Eine Sichtbarmachung der Fotografie könnte deswegen zunächst als unproblematisch erscheinen, denn die ethischen Richtlinien des Fotografierens im Feld hat Jaar respektiert. Außerdem möchte Musisi mit der Fotografie seinen Freunden in Uganda das Ausmaß des Schreckens 65

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Susan Sontag betont in Bezug auf Diane Arbus‘ Werk die Direktheit der Blicke, der von ihr portraitierten Personen. Auch Arbus hat im direkten Dialog mit den Portraitierten gearbeitet, wodurch frontale Aufnahmen überhaupt erst möglich werden. Vgl.: Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 38f. Overdick bemerkt dazu: »Die wichtigsten Eckpunkte für einen ethischen Handlungsrahmen visueller Forschung sind zum einen die Berechtigung zum Fotografieren und zum anderen die Rückgabe der erstellten Fotos. Grundlage des Fotografierens im Forschungsfeld ist die genaue Abklärung mit den Informanten, wer, was, wann, wo und gegebenenfalls auch wie fotografiert werden darf oder auch nicht fotografiert werden darf sowie in welcher Form und unter welchen Bedingungen die erstellten Bilder im Anschluss verwendet werden dürfen.« Thomas Overdick, Photographing Culture, Anschauung und Anschaulichkeit in der Ethnographie, Zürich 2010: 219. Mirzoeff, Invisible Again (2005): 88. Vgl.: Sanna Nissinen, Dilemmas of Ethical Practice in the Production of Contemporary Humanitarian Photography, in: Fehrenbach und Rodogno (Hg.), Humanitarian Photography, A History (2015), (297–321): 306.

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beweisen. Man könnte Jaar vorwerfen, dass er diesem Anliegen nicht gerecht wird, weil er das Foto in der Archivbox den Blicken entzieht. Allerdings zielt Jaars Installation auf den internationalen Kunstkontext und nicht dezidiert auf ein Publikum in Uganda. Außerdem ist der Portraitierte nicht allein im Bild, im ersten Textabschnitt ist die Rede von mehreren Hundert Leichen, die über den Boden der Kirche verteilt liegen: Männer, Frauen und Kinder, die den Hutu Rebellen im vermeintlichen Schutzraum der Kirche zum Opfer gefallen sind – auch ihnen gegenüber steht Jaar als Fotograf in der Verantwortung. In seiner Installation Real Pictures ermöglicht er ihnen ihren letzten Frieden. Jaar gewährt ihren fotografierten Körpern auf symbolischer Ebene das Begräbnis, welches ihren physischen Körpern zumindest bis zu dem Zeitpunkt, der im Bild festgehalten ist, verweigert wurde. Tatsächlich sind die Überreste der Opfer bis heute zugänglich, denn ein Jahr nach dem Beginn der Kämpfe am 15. April 1995 wurde die Ntarama Kirche zur Erinnerungsstätte erklärt, einem Ort, an dem der Völkermord unvergessen bleiben soll.69 Das Nicht-Zeigen, durch die Installationsform qua Narration und den alternativen Einsatz von Text, bestimmt die künstlerische Strategie Jaars. Ethnologische Vorgehensweisen, Konzeptkunst und Minimal Art, sind wichtige Säulen im Werk Jaars, das auch als »engaged conceptualism« bezeichnet werden kann.70 Während sich der Begriff »engaged« auf die inhaltliche Ebene, der von Jaar thematisierten Ereignisse, bezieht, verweist der Begriff »conceptualism« auf die formale Ebene, die ästhetische Sprache, die er wählt, wobei sich Form und Inhalt wechselseitig bedingen. Der Einsatz von Schrift ist für die Konzeptkunst über die Funktion als Kommentar oder Titel hinaus, von großer Bedeutung.71 In Abgrenzung zur Minimal Art, deren ästhetisches Konzept in der Anordnung der Archivboxen im Raum aufscheint, geht es in Werken der Konzeptkunst um konkrete Inhalte und Ideen, die oft sprachlich vermittelt werden. In der Konzeptkunst wird die Verwendung sprachlicher Mittel im Hinblick auf vier Modi des Einsatzes unterschieden: assoziativ,

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O. A., The Genocide Archive of Rwanda, Ntarama Mermorial, online: http://genocidearchi verwanda.org.rw/index.php/Ntarama_Memorial, zugegriffen am 24.01.2023. Die Begriffskombination geht auf die konzeptuellen und engagierten Arbeiten aus den 1960er Jahren zurück und wurde geprägt, um beispielsweise das Werk On Kawaras zu beschreiben. Matthew Israel, Kill for Peace, American Artists against the Vietnam War, Austin 2013: 160. Vgl.: Katrin Ströbel, Wortreiche Bilder, Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst, Bielefeld 2013: 45.

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literarisch, analytisch und deskriptiv.72 Der Text auf den Archivboxen in Real Pictures ist deskriptiv und analytisch. Da die Grundlage des Textes aber jeweils ein spezifisches Bild ist, ist der Einsatz von Sprache in diesem Fall außerdem als ekphrastisch zu bezeichnen. Das spricht meines Erachtens für eine Erweiterung der Kategorien der Verwendungen von Sprache in der Konzeptkunst. Der Text in Jaars Installation verdankt seine Authentizität und Legitimation nämlich den Bildern, die er beschreibt. In diesem Kontext ist erwähnenswert, dass die Beschreibung von Fotos in der Ethnologie, von der Jaar ja inspiriert ist, eine erkenntnisstiftende Aufgabe hat.73 Obwohl die Ethnologie als Disziplin textdominiert ist, avancierte die Fotografie schon früh zu einer zentralen Forschungsmethode.74 Wolfgang Kaschuba bemerkt allerdings, dass es sich bei dem Fotografieren um ein ebenso problematisches Unterfangen handelt, wie bei der Produktion von Texten.75 Wirklichkeit wird nämlich nicht bloß fotografisch abgebildet, sondern auch produziert. Entscheidend ist daher die gewissenhafte Vor- und Aufbereitung beim Einsatz von Fotografie im Feld.76 Wenn Alfredo Jaar während seines Aufenthalts in Ruanda akribisch Buch führt und die W-Fragen (Wer? Wann? Wo? Was?) für jede Aufnahme beantwortet, gleicht seine Vorgehensweise der eines Feldforschers. Thomas Overdick merkt an: »Grundsätzlich ist für eine spätere Analyse die genaue Dokumentation der einzelnen Fotos (Aufnahmeort, Datum, identifizierte Personen, Motiv, Kontextinformationen etc.) unerlässlich.«77 Im Fall von Real Pictures ermöglicht die von Jaar vorgenommene akribische Notation eine intensive Auseinandersetzung der RezipientInnen mit nicht gezeigten Fotos. Der Verortung der Fotografien kommt in der Installation Real Pictures eine konzeptuelle Funktion zu. Der Ort der Entstehung der Aufnahmen ist identisch, wenn diese einer Gruppe von Archivboxen zugeordnet sind. Jacques Derrida weist auf die »Topo-Nomologie« des Archivs hin, die Verbindung von

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Als Beispiele für die deskriptive Nutzung fungieren beispielsweise die Handlungsanweisungen in den konzeptuellen Arbeiten von Douglas Huebler. Vgl.: Klaus Honnef, Gisela Kaminski, Einführung, in: Harald Szeemann (Hg.), Documenta 5, Ausst.-Kat., Kassel 1972: 17.5/17.6. Vgl.: Boehm und Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung (1995): 11. Vgl.: Wolfgang Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie, München 2006: 245. Vgl. Ebd. Overdick, Photographing Culture (2010): 210f. Ebd.: 205.

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Verortung und Normativität, die den Archivinhalten ihre Bedeutung gibt.78 Die Topo-Nomologie von Real Pictures unterscheidet zwischen sieben verschiedenen Orten, die Jaar in Ruanda und Umgebung aufgesucht hat: Bukavu Road, Kashusha Refugee Camp, Katale Refugee Camp, Ntarama Church, Nyagazambu Camp, Rubavu Refugee Camp, Ruzizi Bridge. Dabei handelt es sich um Schauplätze von Massentötungen und um Flüchtlingslager, die aufgrund großer Flüchtlingsbewegungen in Folge des Genozids innerhalb kürzester Zeit entstanden sind. Innerhalb einer Anordnung von Boxen kann man sich lesend den Schauplätzen und den Betroffenen nähern. Jaar beschreibt Stätten wie die Ntarama Kirche sowohl von außen als auch von innen, den Platz davor und den Weg dorthin. Der Künstler lässt durch die Beschreibungen Fragmente von Stillleben des Innenraums und Portraits der Überlebenden vor den Augen der Betrachtenden entstehen. Damit suggeriert er zwischen den Texten auf den Boxen so etwas wie einen Handlungsablauf – eine weitere narrative Dimension dieser Arbeit. Die genaue Verortung und das Wissen darum, dass Jaar diese Orte aufgesucht hat und im direkten Austausch mit den Betroffenen stand, hat eine authentifizierende Wirkung, ähnlich wie eine Feldforschung auf die Forschungsergebnisse in der Ethnologie. Kaschuba schreibt: »Jenes Signum, dort gewesen zu sein, der psychisch wie physisch intensiven Erfahrung ›vor Ort‹, trägt den Charakter eines Authentizitätsstempels.«79 Jaar führt im Rahmen seiner Arbeiten immer wieder Feldforschungen zu politisch relevanten Themen durch. Auch andere KünstlerInnen haben die Feldforschung als künstlerische Praxis entdeckt. In ihren Konzepten und Inhalten näherten sich Kunst und Kulturwissenschaften in den 1990er Jahren an. Hal Foster spricht von einem »quasianthropological paradigm«80 in der Kunst und diagnostiziert einen Trend, den er als »ethnographic turn«81 bezeichnet. Mit Foster könnte man auch Jaar als »quasianthropological artist« bezeichnen.82 Foster schreibt, dass KünstlerInnen zwar mit den besten Absichten ausziehen und in situ Forschung betreiben können,

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Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997: 12. Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie (2006): 201. Hal Foster, The Artist as Ethnographer? In: George E. Marcus, Fred R. Myers (Hg.), The Traffic in Culture, Refiguring Art and Anthropology, Berkeley/Los Angeles/London 1995, (302–309): 302. Ders., The Return of the Real (2002): 181. Ders., The Artist as Ethnographer? (1995): 303.

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das Ergebnis aber letztlich von kunstnahen und -fernen Institutionen einverleibt werde.83 Jaar ist sich des Kunstkontextes, in dem er agiert, allerdings bewusst und er kennt dessen Vorteile und Nachteile.84 Deswegen geht er mit vielen Arbeiten aus dem White Cube des Kunstkontextes heraus und eröffnet sich damit die Möglichkeit breitere Gesellschaftsgruppen zu affizieren. Jaars erste institutionell präsentierte Arbeit aus dem Rwanda Project, Rwanda (1994), wurde in Malmö, Schweden auf öffentlichen Straßen gezeigt (Abb. 21).

Abb. 21: Alfredo Jaar, Rwanda Rwanda, 1994, Intervention im öffentlichen Raum, Malmö, Schweden, Offset Druck, 166,3 x 118,1 cm, Edition aus 100.

In 50 Reklameleuchtkästen im Stadtgebiet wurden Plakate angebracht, auf denen schwarz auf weiß in Großbuchstaben in acht aufeinander folgenden Zeilen das Wort »RWANDA« in der Schriftart Helvetica Bold stand. Diese rein typographischen Plakate wirkten wie Weckrufe, die den PassantInnen das in Ruanda Geschehene und Ruanda selbst ins Gedächtnis riefen. Bereits hier verwendete Jaar die Narration als eine Strategie des Nicht-Zeigens. Auch Edmund Clarke benutzt diese Strategie in seiner Arbeit Orange Screen (2016): Er evoziert durch beschreibende Texte Fotografien, die mit dem sogenannten 83 84

Vgl.: Ebd. Jaar bemerkt: »I should also mention that I do not at all dismiss the art world context, the museum and gallery context, because that audience is a small elite but it is also a very privileged and powerful one. It is most of the time the one responsible for the situations we are dealing with.« Jaar nach Davidson. Davidson, The Art of Inclusion (1995): 18.

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War on Terror in Verbindung stehen. Harun Farocki wiederum rezitiert im Film Inextinguishable Fire (1969) den Bericht eines Napalm-Opfers im Vietnamkrieg und thematisiert damit das Problem der Repräsentation von NapalmAnschlägen. Anders als in Jaars Installation Real Pictures erstreckt sich die Narration in diesen beiden Fällen aber nicht auf eine Inszenierung im Raum. Narration als Strategie des Nicht-Zeigens ist für Jaar in Real Pictures ein Mittel, um im musealen Raum das Thema des Genozids in Ruanda anzusprechen, ohne dabei die expliziten Bilder des Schreckens zu zeigen. Dabei kreiert er die Narration durch die räumliche Dimension der Installation, durch die Beziehung der textuellen Elemente untereinander und das Zusammenspiel mit den in den Boxen verborgenen Fotografien. Wie gezeigt wurde, entstehen die »wirklichen Bilder« des Genozids, die »Real Pictures«, in der Vorstellung der RezipientInnen durch den Akt des Lesens, wodurch Jaar die Verantwortung für die impliziten Bilder vom Künstler auf die BetrachterInnen überträgt, denn sie werden durch die Negationsform, die er wählt, zu KoproduzentInnen. Wenn Bilder aus Kriegs- und Konfliktgebieten in einen musealen Kontext überführt werden oder gar für diesen produziert werden, wird die Frage des adäquaten Umgangs wichtig. Ein gewichtiges Argument, das gegen die Zurschaustellung der Fotografien im Ausstellungskontext und für die Präsentationsform spricht, die Alfredo Jaar gewählt hat, ist nämlich, dass die Deutungshoheit von Bildern mit grausamen Inhalten strittig ist,85 gerade im postkolonialen Kontext, in dem der Genozid in Ruanda zu verorten ist. Selbst Mirzoeff, der Jaar zunächst vorwirft, den Genozid unsichtbar gemacht zu haben, gesteht ihm am Ende seines Aufsatzes zu, dass Jaars Weigerung, explizite Bilder des Völkermords zu zeigen, womöglich berechtigt ist.86 Vor allem die Kontextualisierung ist im Umgang mit dokumentarischen Bildern, die an Schauplätzen traumatischer Ereignisse entstanden sind, wichtig. Dieser Aufgabe müssen sich nicht nur EthnologInnen in Bezug auf Fotografien stellen, die während ihrer Feldforschung entstanden sind, dies gilt auch und gerade in Anbetracht des Ausstellungkontextes für KünstlerInnen, die ethnologische Methoden einsetzen und ihre Ergebnisse im Kunstkontext

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Denn, wie Elisabeth Bronfen konstatiert, können »abhängig davon, ob man den Einsatz von Gewalt für gerechtfertigt hält oder nicht, […] Bilder aus Kriegszonen, auch wenn sie Entsetzen auslösen, affirmativ gelesen werden«. Elisabeth Bronfen, Unsaubere Schnittflächen, Mit Susan Sontag den Krieg betrachten, in: Dieter und Tiedtke (Hg.), Radikales Denken (2017), (195–218): 206. Vgl.: Mirzoeff, Invisible Again (2005): 91.

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präsentieren. Die Rekontextualisierung der nicht gezeigten Bilder ermöglicht Jaar in Real Pictures durch die Installation und die Texte, aber auch noch über einen Nebenraum, in dem er über die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen informiert und auf konkrete Projekte in Ruanda hinweist. Ein Teil des Erlöses aus dem Verkauf von drei limitierten Editionen von Fotografien in Boxen geht an Projekte in Ruanda, die Jaar während seines Aufenthalts kennengelernt hat.87 Nicht-Zeigen bedeutet hier etwas bewegen.

3.3 Metonymie als Strategie des Nicht-Zeigens 3.3.1 Das politische Potential metonymischer Bilder Gutete Emerita kann man schon in Jaars Installation Real Pictures (1995) begegnen. Die Texte auf zwei Archivboxen, die je ein Foto von ihr beinhalten, vermitteln, dass es sich um eine Überlebende des Genozids in Ruanda handelt. In der Installation The Eyes of Gutete Emerita (1996) kann man zumindest ihr direkt in die Augen blicken – fast so als hätte Jaar Musisis Gesuch, mit einem Foto den Schrecken des Genozids zu belegen, nun doch Folge geleistet. In dieser Arbeit projiziert Jaar auf zwei quadratischen Lichtkästen (quad vision light boxes), die als Diptychon montiert sind, in einer getakteten Abfolge einen erklärenden Text, der mit dem auf den Boxen in Real Pictures fast identisch ist. Zunächst erfährt man für 45 Sekunden etwas zum Kontext des Genozids und dass Gutete Emerita durch die Massaker in der Ntarama Kirche ihren Mann und ihre zwei Söhne verlor (Abb. 22).88

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Siehe Anhang. Die Beschreibung der Installation orientiert sich an der von Griselda Pollock. Vgl.: Griselda Pollock, Not-Forgetting Africa: The Dialectics of Attention/Inattention, Seeing/ Denying, and Knowing/Understanding in the Positioning of the Viewer by the Work of Alfredo Jaar, in: Schweizer (Hg.), Alfredo Jaar (2007): 127f. Siehe auch: Alfredo Jaar, Es ist schwierig (2002): 337–339.

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Abb. 22: Alfredo Jaar, The Eyes of Gutete Emerita (Version 2), 1996, Installationsansicht, 2 Caissons lumineux quad vision avec 6 transparents noir/blanc et 2 transparents couleur, durée du cycle: 45‹, Caisson lumineux quad vision: 66 x 121,9 x 15,2 cm (2x), Edition de 5.

Daraufhin erscheint für 30 Sekunden ein Text, der ihre Augen und ihre Gestik beschreibt. Zuletzt kann man für 15 Sekunden zwei Aussagen lesen, in denen Jaar selbst als Subjekt in Erscheinung tritt: »I remember her eyes.« (Auf der linken Seite); »The eyes of Gutete Emerita.«89 (Auf der rechten Seite). Nach dem Text zeigt Jaar zwei Ausschnitte eines Portraits von Gutete Emerita, die lediglich ihre Augen sichtbar werden lassen (Abb. 23). In der Installation ist das Bild auf die zwei Lichtkästen aufgeteilt, sodass jeder je ein Auge zeigt.

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Eine digitale Version der Arbeit kann man auf der Homepage Jaars abrufen. Siehe: Alfredo Jaar, The Eyes of Gutete Emerita, online: https://alfredojaar.net/projects/1996/therwanda-project/the-eyes-of-gutete-emerita/, zugegriffen am 24.01.2023.

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Abb. 23: Alfredo Jaar, The Eyes of Gutete Emerita (Version 2), 1996, Installationsansicht, 2 Caissons lumineux quad vision avec 6 transparents noir/blanc et 2 transparents couleur, durée du cycle: 1/5‹, Caisson lumineux quad vision: 66 x 121,9 x 15,2 cm (2x), Edition de 5.

Diese Augen haben die Gräueltaten in der Ntarama Kirche gesehen, sie stehen in direktem Bezug zu dem, was passiert ist. Was diese Augen gesehen haben, erfahren die RezipientInnen über den Text. Wieder zeigt Jaar keine expliziten Bilder von Gräueltaten, stattdessen präsentiert er mit den Augen Gutete Emeritas zwei Bilder, die als metonymisch bezeichnet werden können, und zwar in doppelter Hinsicht: Die Augen als offensichtlicher Teil des Gesichts als Ganzem stehen zudem substitutiv und symbolisch für das Geschehene, ohne es explizit zu zeigen. In der Metonymie ist das politische Potential angelegt, das Rancière dieser Installation von Jaar zuerkennt, weil der Künstler »die Wirkung anstelle der Ursache oder den Teil für das Ganze zeigt«, eignet seinem Werk politisches Potential.90 Robert Stockhammer hebt hervor, dass sich die Aggression im Genozid nicht gegen Individuen wendet, sondern gegen Menschen als Teil einer

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Vgl.: Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 116.

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Gruppe.91 Deswegen hat die Figur des Pars pro Toto im Kontext eines Genozids eine politische Dimension. Inwiefern Metonymien als interikonische Strategie des Nicht-Zeigens fungieren können, möchte ich anhand des Israel-PalästinaKonflikts und der fotografischen Serie WB (2005) der französischen Künstlerin Sophie Ristelhueber zeigen. Vorher ist allerdings eine Begriffsklärung der Metonymie aus sprach- und bildwissenschaftlicher Perspektive notwendig.

3.3.2 Metonymie – Index – Fotografie Die Metonymie wird in der Semantik den Tropen, genauer den Grenzverschiebungstropen zugeordnet. Dabei wird der eigentliche Ausdruck durch einen anderen ersetzt, wobei beide in einer realen, qualitativen Beziehung zueinander stehen, entweder kausal, räumlich oder zeitlich.92 Bildwissenschaftlich relevant sind theoretische Texte zur Metonymie von Charles Sanders Peirce, Roland Barthes und Philippe Dubois.93 Aufgrund des indexikalischen Verhältnisses zur abgebildeten Wirklichkeit erweisen sich Fotografien als metonymisch. Charles Sanders Peirce behandelt die Fotografie in seiner Semiotik in einer Reihe mit dem Rauch und dem Wetterhahn, die der Kategorie der Indizes angehören.94 Als Spuren verweisen Rauch und Wetterhahn jeweils auf Feuer oder Wind, mit denen sie in einer direkten physischen Beziehung stehen. Philippe Dubois folgt Peirce in seiner Argumentation und schreibt, »dass die Beziehung, die die Indexzeichen zu ihrem referentiellen Gegenstand unterhalten, immer durch ein vierfaches Prinzip der physischen Verbindung, der Singularität, der Bezeichnung und des Beweises gekennzeichnet ist.«95 Dubois zielt auf die pragmatische Dimension der Fotografie ab, wobei die Indexikalität in »Der fotografische Akt« (1983) von großer Bedeutung ist (siehe Kapitel 2.2). Allerdings gibt sie über die Denotation hinaus keinerlei Aufschluss über die inhaltliche Bedeutung eines Bildes. Fotografien können zwar bezeugen, dass etwas so gewesen ist – aber nicht warum. Die Bedeutung des Referenten kann als »rätsel91 92 93

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Vgl.: Stockhammer, Ruanda (2005): 115. Vgl.: Dietmar Peil, Metonymie, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2008: 496. Siehe: Barthes (2012), Die helle Kammer (1980); Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983); Charles S. Peirce, Die Kunst des Räsonierens (1893), in: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012): 77. Vgl.: Charles S. Peirce, Semiotische Schriften, Frankfurt a.M. 1986: 206. Philippe Dubois, Die Fotografie als Spur eines Wirklichen (1990), in: Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie (2012), (102–114): 112 (Hervorh. im Orig., P. D.).

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haft«96 bezeichnet werden. So beweist auch die Fotografie der Augen von Gutete Emerita in Alfredo Jaars Installation The Eyes of Gutete Emerita zunächst nur, dass ihre Augen am 29. August 1994 auf die Kamera Jaars gerichtet waren. Was durch die Metonymie vermittelt wird ist die Präsenz.97 Gutete Emerita war vor Ort, ihre Augen haben die Gräuel gesehen. Wenn mittels Metonymien die Wirkung anstelle der Ursache oder der Teil für das Ganze gezeigt wird, dann werden einfache und eindeutige Erklärungen erschwert. Metonymische Bilder eröffnen vielmehr einen Möglichkeitsraum. Dies gilt insbesondere, wenn solche Bilder im Kunstkontext präsentiert werden, der es erfordert sich mit diesen individuell auseinanderzusetzen und durch Nachdenken das »Rätsel« zu lösen. Für diesen Kontext entstand auch die Serie WB von Sophie Ristelhueber. Das Akronym WB steht für die Region West Bank im Nahen Osten.

3.3.3 Metonymie in Sophie Ristelhuebers Fotoserie WB Die 54 farbigen Landschaftsaufnahmen der Serie WB zeigen im Querformat idyllische, rurale Gebiete und grün bewachsene Hänge neben kargen, felsigen Landschaften, durch die sich sowohl unbefestigte landwirtschaftliche Wege ziehen als auch betonierte Straßen mit Leitplanken und Fahrbahnmarkierungen. Im Hintergrund kann man in manchen Bildern Siedlungen ausmachen, aber alle Szenen sind menschenleer. Eine Fotografie zeigt eine zeitgenössische Pastorale. Ein Pferd steht neben einer blauen Schale, vermutlich eine provisorische Tränke, vor einem weißen Liefer- und einem Kleinwagen, die auf der Straße geparkt sind. Neben dem für Landschaftsaufnahmen typischen Querformat eint diese Landschaften, dass die gezeigten Straßen und Wege blockiert sind. Teilweise führt der erhöhte Betrachterstandpunkt dazu, dass sich die Blockaden quasi unschuldig in die Landschaft einfügen, sich »in Elemente der Landschaft« verwandeln, beispielsweise in der Fotografie WB #3 (Abb. 24).98 Durch die Vogelperspektive erscheint die Landschaft abstrakt, flächig und linear. Die Aufsicht und der von Ristelhueber gewählte Ausschnitt, verwandeln asphaltierte Straßen und Wege in graue, geometrische Flächen wie in WB #6 (Abb. 25)

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Philippe Dubois, Die Fotografie als Spur eines Wirklichen (1990): 114. Vlg.: Katarzyna Lukas, Sprache – Gedächtnis – Architektur, Metonymische Präsenz und metaphorische Bedeutung im Roman Austerlitz von W.G. Sebald (2001), in: Zeitschrift des Verbandes Polnischer Germanisten, Vol 1, No 2, 2012, (205–227): 218. Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 122.

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oder aus größerer Distanz in Linien, die zwei Flächen gleichzeitig verbinden und trennen (WB #3). Wie schon erwähnt, entstanden Ristelhuebers Fotografien für den Kunstkontext.99 Während frühe Landschaftsaufnahmen des 19. Jahrhunderts, etwa die von Timothy O’Sullivan in Nordamerika oder die von August Salzmann in Israel, erst durch die kuratorische Intention Peter Galassis in der Ausstellung »Before Photography: Painting and the Invention of Photography«100 (MoMA, 1981) kunsthistorisch »vereinnahmt« wurden, konzipiert Ristelhueber ihre Arbeit genau für diesen Kontext. Rosalind Krauss hat gezeigt, dass Aspekte wie Flachheit, Komposition, Ambiguität und mit ihnen in Verbindung stehende Intentionen, wie die Evokation von Transzendenz und Erhabenheit, für frühe Fotografien erst retrospektiv beansprucht wurden.101 Bei Ristelhuebers Arbeit jedoch dürfen sie ohne Vorbehalt berücksichtigt werden. Sie hat ihre Fotografien in Form eines Künstlerbuchs präsentiert, in Ausstellungen in Galerien und Museen gezeigt. Die Abzüge sind im Format 120 x 150 cm auf Aluminium kaschiert und gerahmt und nehmen deutlich mehr Raum ein, als einer Fotografie in einem Zeitungsartikel oder als Serie in einem Magazin eingeräumt werden könnte. Ristelhuebers Bilder brechen mit einem auf schnellen Informationsgewinn zielenden Sehen und regen zu persönlichen Assoziationen an. Auf manchen Bildern sind Fahrbahnen durch aufgetürmte Stücke von Schutzplanken und mit anderem umherliegenden Gerät versperrt, wie in WB #25 (Abb. 26). WB #6 zeigt eine Straße, die so akkurat aufgebrochen wurde, dass Spezialmaschinen zum Einsatz gekommen sein müssen (siehe bereits Abb. 25). Andernorts sind Betonquader so verteilt, dass sie nur Fußgänger, und allenfalls noch Fahr- und Motorräder im Schritttempo passieren könnten. Mehrere Fotografien zeigen gleich zwei Hindernisse auf ein und derselben Landstraße. Spätestens hier wird klar, dass es sich nicht um vorgefundene Gegebenheiten handelt, sondern um bewusst gesetzte Barrikaden. Was auf den ersten Blick vielleicht als Folge von Naturkatastrophen oder lokalen Konflikten anmuten könnte, entpuppt sich in der Zusammenschau der Serie

99 Vgl.: Rouillé, La photographie (2005): 547f. 100 Die Ausstellung fand vom 09. Mai bis 05. Juli 1981 im Museum of Modern Art, New York statt. Siehe: Peter Galassi (Hg.), Before photography: painting and the invention of photography, Ausst.-Kat., New York 1981. 101 Vgl.: Rosalind Krauss, Photography’s Discursive Spaces: Landscape/View, in: Art Journal, The Crisis in the Discipline, Vol. 42, No. 4, Winter, 1982, (311–319): 313.

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Ristelhuebers als systematisch geplanter Einsatz von Blockaden. Wer hat diese Blockaden errichtet? Warum wurden sie nicht weggeräumt?

Abb. 24: Sophie Ristelhueber, WB#3, 2005, Serie aus 54 Fotografien, Gelatin silver print, 120,1 x 150,2 cm. Abb. 25: Sophie Ristelhueber, WB#6, 2005, Serie aus 54 Fotografien, Gelatin silver print, 120,1 x 150,2 cm. Abb. 26: Sophie Ristelhueber, WB#25, 2005, Serie aus 54 Fotografien, Gelatin silver print, 120,1 x 150,2 cm.

Bei diesen Blockaden handelt es sich um israelische Straßensperren im Westjordanland (englisch West Bank). Im Zuge der zweiten Intifada102 (2000–2005) begann Israel 2002 mit dem Bau einer Mauer um die palästinensischen Gebiete des Westjordanlands. Die 750 Kilometer lange Sperranlage entstand auf palästinensischem Gebiet und gilt als Affront angesichts der Einigung auf die Waffenstillstandslinie von 1949 zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten Ägypten, Jordanien, Libanon und Syrien. Außerdem fotografierte Ristelhueber von israelischen Behörden errichtete provisorische Straßensperren, auch sie lassen sich als Implementierungen des Konflikts in das Territorium lesen.

102 Der Beginn der zweiten Intifada fiel mit dem Besuch des späteren israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon auf dem Tempelberg zusammen, wonach es zu Ausschreitungen in den palästinensischen Gebieten kam. Erst mit dem Nachfolger des palästinensischen Ministerpräsidenten Jassir Arafats, Mahmud Abbas gelangen 2005 Friedensgespräche. Siehe: Martin Schäuble und Noah Flug, Die zweite Intifada und der Bau der Barriere, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 28.03.2008, online: htt ps://www.bpb.de/internationales/asien/israel/45077/zweite-intifada, zugegriffen am 24.01.2023.

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Sophie Ristelhueber reiste im November 2003 und Februar 2004 durch Israel und Palästina und erlebte den Konflikt während der Planung und Umsetzung von WB ganz konkret dadurch, dass die damit verbundenen Einschränkungen, den Verkehr von Gütern und Menschen betrafen. Um die Vogelperspektive ihrer Fotografien auf die blockierten Straßen realisieren zu können, organisierte sie zunächst ein israelisches Flugzeug, mit dem es ihr allerdings nicht gestattet war, die Grenze zu überfliegen. Bereits für ihre Serie Fait (1992) hatte sie die Spuren des Golf-Kriegs in Kuwait dokumentiert, wobei sie durch Luftaufnahmen eine distanzierte Perspektive einnahm und damit eine abstrahierende Betrachtung ermöglichte. Aus der Luft fotografiert, mutieren die militärischen Grabenanlagen zu abstrakten Zeichnungen im Raum (Abb. 27). Auch der Plan, für WB stattdessen von einem Hubwagen aus zu fotografieren, scheiterte an den Grenzkontrollen zwischen Israel und dem Westjordanland. Schließlich behalf Ristelhueber sich mit einer Leiter, die sie entlang von Routen mit Straßensperren installierte oder sie fotografierte vom Dach eines Geländewagens aus. Orientierung bot ihr eine Karte der Vereinten Nationen, die über 700 solcher Blockaden verzeichnet und auf die sie während ihres Aufenthaltes gestoßen war. In ihren Fotografien zeigt Ristelhueber allerdings nicht die von israelischer Seite gebaute Mauer, das offensichtlichste Symbol der Trennung, sondern sie legt ihren Fokus auf die Nebeneffekte des Konflikts, die zwar leicht übersehen werden können, aber von großer Bedeutung für die dort lebenden Menschen sind. Rancière bemerkt: »Sie hat nicht das Sinnbild des Krieges fotografiert, sondern die Wunden und Narben, die er dem Gebiet zufügt.«103 Das explizit Sichtbare im Bild steht dabei für etwas Implizites, im Bild Unsichtbares, das sich den BetrachterInnen aber geradezu aufdrängt, die gravierenden Einschränkungen für die Menschen, die die gesperrten Wege eigentlich benutzen müssten. André Rouillé schreibt: »L’image photographique, qui représente explicitement quelque chose, est ainsi amenée à signifier implicitement autre chose: l’horreur guerrière.«104 In dieser Konstellation stehen die Straßensperren metonymisch für den Konflikt zwischen Israel und Palästina, in dem Territorien und Grenzverläufe eine entscheidende Rolle spielen, ohne ihn explizit zu zeigen.

103 Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 122. 104 Rouillé, La photographie (2005): 546f.

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Abb. 27: Sophie Ristelhueber, Fait #20, 1992, series of 71 chromogenic prints and gelatin silver prints, mounted on aluminum with bronze powder coat frames, each 100,6 x 124,8 cm.

Ristelhueber entzieht sich dem Aktualitätsgebot von Pressefotografien und setzt das Zu-spät-kommen ihrer Fotos ganz bewusst ein. Anstatt mit neuester Technik digital zu arbeiten, setzt sie auf analoge Fotografie und die dadurch bedingte Langsamkeit. Sie hat als Fahrerin für Kriegsfotografen im jugoslawischen Bürgerkrieg (1991–95) gearbeitet und aus dieser Erfahrung und der Reflektion darüber ihren Zugang zum Thema gefunden.105 Dem Aktualitäts- und Sensationsgebot der Kriegsfotografie stellt sie ganz bewusst eine Nachträglichkeit und durch Distanzierung abstrahierende Bilder entgegen. Schon die wildwachsende Begrünung einiger Straßensperren in WB weist darauf hin, dass es sich nicht um Bilder von Spuren akuter Auseinandersetzungen handelt, sondern um Blockaden, die bereits seit mehreren Jahren bestehen.106 Trampelpfade, die sich um die Hindernisse herum abzeichnen, 105 Vgl.: David Mellor, Rents In The Fabric Of Reality, Contexts For Sophie Ristelhueber, in: Bruno Latour und David Mellor (Hg.), Sophie Ristelhueber, Operations, London 2009 (212–228): 221. 106 Im Interview mit Catherine Grenier wies Ristelhueber darauf hin, dass die Sperren seit der sogenannten zweiten Intifada im Jahr 2000 bestanden. Vgl.: Ristelhueber nach Grenier. Catherine Grenier (Hg.), Sophie Ristelhueber, la guerre intérieure, Dijon 2010: 78.

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zeugen davon, dass sich die BewohnerInnen dieser Gebiete mit ihrer Situation arrangiert haben. Allerdings sind Ristelhuebers Fotos von Straßensperren in ihrer Überzeitlichkeit vermutlich aufschlussreicher als viele der auf Sensation ausgerichteten Pressefotos. David Mellor formuliert es so: Ristelhueber has built her entire practice on the rejection of an entire temporal register connected with instantaneous reportage photography – the quick and the speedy. Instead she has sought to make art works, through photography, which stabilize time, solidifying it into stone or earth.107 Durch das bewusste Zu-spät-kommen kann Ristelhueber im Bild metonymische Spuren des Konflikts festhalten. Die Stärke ihrer Fotografien liegt gerade darin, dass sie aufgrund ihrer abstrahierenden Distanzierung nicht abschrecken, sondern nachdenklich machen können und zur Auseinandersetzung mit dem Konflikt auffordern. Eine solche Strategie, die auf metonymische Bilder setzt, um politische Konflikte und Kriege zu evozieren, wenden auch andere KünstlerInnen und FotografInnen an: Dirk Reinartz in seiner Fotoserie totenstill (1987–1993), für die er ehemalige Konzentrationslager aufsuchte; Mikael Levin, der ebenfalls ein verlassenes Konzentrationslager in Nordlager Ohrdruf fotografierte (1995); Bruno Serralongue in seiner Serie Faits-divers (1993–1995), für die er über zwei Jahre die gleichnamige Rubrik der Tageszeitung Nice Matin konsultierte und dann die Orte, an denen sich die dort berichteten Ereignisse abgespielt hatten, aufsuchte und fotografierte; Vandy Rattana, der in seiner Serie Bomb Ponds (2009) künstlich entstandene Teiche aus Bombenkratern aus dem Vietnamkrieg in Kambodscha fotografierte; oder Willy Doherty in seiner Arbeit Remains (2013), bestehend aus einem Video und Fotografien, die menschenleere Orte zeigen, die im Nord-Irland Konflikt Schauplätze einer brutalen Foltermethode des sogenannten »Kneecappings«108 waren, bei der das Knie des Gegners mit Schüssen aus der Nähe zerstört wird. Diese metonymischen Bilder stehen jeweils für etwas ein, das nicht mehr da ist, mit dem Abgebildeten allerdings die räumliche Präsenz teilt. Sophie Ristelhueber verzichtet bei der Präsentation ihrer Fotoserie WB auf erklärende Texte. In ihrem Fotobuch, das zur Ausstellung im Cabinet des Estampes des Musée d’art moderne et contemporain (MAMCO, 22. Februar – 01.

107 Mellor, Rents In The Fabric Of Reality (2009): 225. 108 Zu weiteren Informationen zur Foltermethode des Kneecappings, siehe: O. A., Kneecapping, in: Wikipedia, die freie Enzyklopädie, 11.10.2020, online: https://en.wikipedia.or g/wiki/Kneecapping, zugegriffen am 24.01.2023.

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Mai 2005) in Genf entstanden ist, sind die Bilder unkommentiert auf je einer Doppelseite arrangiert.109 Die Titelseite zeigt Sophie Ristelhueber liegend mit Kamera, auf dem Dach eines Geländewagens. Das einzige textliche Beiwerk zu den Fotografien ist ein Zitat Ristelhuebers auf der Buchrückseite: What am I doing, flattened on the roof of this car? Perhaps, I tell myself »it is sweet to see, from the safe and distant shore, others in distress amidst billow and in raging gales; not drawing delight from another’s misfortune, but rejoicing over being spared such desperation«? Doubtless, as an artist, I am at war, too. s.r. Lukrez’ Schiffbruchmetapher110 zitierend, spielt Ristelhueber auf die Position von RezipientInnen an, die aus der sicheren Distanz im musealen Raum oder Zuhause die Bilder von Katastrophen und Kriegen betrachten. Dabei liegt das Vergnügen, von dem Lukrez spricht, eben nicht in dem Leid der Anderen, das beobachtet wird, sondern in der Gewissheit der Sicherheit, aus der man es tut.111 Hans Blumenberg beleuchtet die Rolle von ZuschauerInnen, die nicht direkt von den Schrecken, die sie sehen, betroffen sind und diese aus der Distanz wahrnehmen.112 Hier lässt sich »die Distanz veranschaulichen, die zwischen dem rücksichtlosen Eigensinn der physischen Wirklichkeit und dem Glücksbedürfnis des Menschen besteht und die nur durch die philosophische Sicherung des Betrachters entschärft werden kann.«113 Durch die Wahl der metonymischen Motive, schafft auch Ristelhueber eine gewisse Distanz, die die BetrachterInnen aus dieser motivischen Sicherheit distanziert mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina konfrontiert und dennoch einen Zugang dazu gewährt. Eine Möglichkeit der Rekontextualisierung und Sinnstiftung besteht auch in dieser Arbeit durch die wenn auch sehr sparsame Verwendung von Text. Bereits der Titel der Serie, das Akronym WB für West Bank, erlaubt eine

109 Siehe: Sophie Ristelhueber und Mamco (Musée d’art moderne et contemporain) (Hg.), West Bank, London 2005. 110 »Süß, wenn auf hohem Meer die Stürme die Weiten erregen, ist es, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen, nicht weil wohlige Wonne das ist, dass ein andrer sich abquält, sondern zu merken, weil süß es ist, welcher Leiden du ledig. Süß ist es auch, des Krieges gewaltige Schlachten zu sehen wohl im Felde geordnet, ohne dein Teil an Gefahren; […].« Lukrez, De rerum natura, Welt aus Atomen (Zweites Buch), übersetzt und mit einem Nachwort hg. v. Karl Büchner, Ditzingen 2020: 85. 111 Vgl.: Hans Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Vol. 15, 1971, (161–214): 178. 112 Vlg.: Ebd. 113 Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern (1971): 178.

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räumliche Einordnung und die Assoziation des Abgebildeten mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina. Eine weitere und stärker bildorientierte Möglichkeit der Kontextualisierung bietet die Serialität. Im Fall von WB sind es die Beziehungen der Bilder untereinander, die die Wirkung dieser Arbeit ausmachen und welche das Unheimliche heraufbeschwören. Erst in der Menge der fotografierten Straßensperren wird eine Systematik der geplanten Verhinderung deutlich, die ein Einzelbild nicht bezeugen könnte. Die Straßenblockaden sind Folgen des ungelösten Konflikts zwischen Israel und Palästina. Ristelhueber bearbeitet zwar das Thema »Krieg«, die Domäne der Reportagefotografie, allerdings setzt sich die Künstlerin zeitlich und motivisch distanziert mit dem Schrecken auseinander und ohne ihn direkt zu repräsentieren. Ihre metonymischen Bilder fokussieren nur die Spuren und Folgen des Krieges. Formal wird diese Distanz in der Serie WB durch die Perspektive, den gewählten Ausschnitt und das Genre der Landschaftsfotografie noch akzentuiert. Dies alles bedingt einen distanzierten und entpersonalisierten Betrachterstandpunkt und lädt dennoch gleichzeitig dazu ein, sich in den Bildern zu verorten. Was Ulrich Baer in Bezug auf die metonymischen Bilder von Holocaust Schauplätzen von Dirk Reinartz und Mikael Levin formuliert, gilt auch für die Serie WB: »By drawing on the conventions of Romantic landscape art, these images create in us the feeling of being addressed and responsive to the depicted site and, crucially, of seeing the site not for its own sake but as a pointer back to our own position.«114 Sophie Ristelhuebers Fotografien verweisen auf Landschaftsfotografie und Pastorale, diese zielen auf die Ikonizität des Dargestellten ab, womit sich auch der Bereich des Symbolischen auftut, der Deutungsoffenheit impliziert. Rancière zufolge ist der Deutungsoffenheit eine »Wiederständigkeit gegen die Vorwegnahme« eigen.115 Für ihn sind die deutungsoffenen metonymischen Bilder Ristelhuebers exemplarisch für das Potential der Kunst, dissensuell zu wirken: »Sie tragen dazu bei, neue Gestaltungen des Sichtbaren, des Sagbaren und des Denkbaren zu entwerfen, und eben dadurch eine neue Landschaft des Möglichen.«116 Da Ristelhueber nicht die unüberwindbare Mauer als Ikone des Konflikts zeigt, sondern Nebenschauplätze wie die Straßensperren, weckt sie Neugier, ein Affekt, dem Rancière ein großes Potential zuerkennt, die Ansicht

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Ulrich Baer, Spectral Evidence, The Photography of Trauma, Massachusetts 2002: 68. Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 121. Ebd.

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der Mauer würde vermutlich keine Neugier evozieren.117 Neugier kann besonders im Kunstkontext große Wirkung entfalten, denn im musealen Raum sind die Betrachtenden auf das entdeckende Sehen eingestellt. Ein solches entdeckendes Sehen wird von den BetrachterInnen auch beim Einsatz von Ellipsen als weitere Strategie des Nicht-Zeigens gefordert, um die es nachfolgend geht.

3.4 Ellipse als Strategie des Nicht-Zeigens 3.4.1 Fotografische Ellipsen Exklusionen und Elisionen sind Fotografien medienspezifisch eigen. Diese konstitutiven Negationen können auch gezielt und damit strategisch zum Einsatz kommen. Daher kann man Fotos mit einem linguistischen Begriff als elliptisch bezeichnen. In der Sprachwissenschaft wird als Ellipse sowohl der ausgelassene Teil eines Satzes bezeichnet als auch der Satz selbst, der eine solche Auslassung beinhaltet.118 Die Auslassung kann dabei minder Wichtiges aussparen, auf das im Satzfluss ohne Weiteres verzichtet werden kann. In der Sonderform der Aposiopese kann sie aber auch das Wichtigste selbst umfassen. In diesem Fall sind die RezipientInnen angehalten, dieses aus dem Zusammenhang zu erschließen. Die Ausschnitthaftigkeit der Fotografie ist eine ihrer ontologischen Bedingungen: Eine Fotografie kann zwangsläufig nur einen Ausschnitt zeigen. Das in der Fotografie Sichtbare markiert dabei jeweils ein Außen, das Off, dessen Bedeutung ausschlaggebend für die Lesart der Fotografie ist. »Die Bildfläche ändert ihre Funktion,« schreibt Florian Arndtz, »indem sie in dem, was sie zeigt, demonstrativ darauf verweist, was sie nicht zeigt, was aber ebenso gut (ebenso indifferent) hätte gezeigt werden können, weil es ›da gewesen‹ ist.«119 Arndtz’ Bemerkung zum Zeigen und Nicht-Zeigen in der Fotografie verdeutlicht die zentrale Rolle der FotografInnen. Ihre Aufgabe 117 118

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Vgl.: Ebd.: 123. Wilpert definiert: »Ellipse (griech. elleipsis = Auslassung, Mangel), 1. In der Stilistik die Weglassung minder wichtiger, aus dem Sinnzusammenhang leicht ersichtlicher, ergänzbarer und für die vollständige syntaktische Konstruktion notwendiger Wörter innerhalb eines Satzes […]. Sonderform: Aposiopese, die im Gegensatz zur Ellipse gerade das Wichtigste verschweigt.« Gero von Wilpert, Ellipse, in: Ders. (Hg.), Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 2001: 207. Florian Arndtz, Philosophie der Fotografie, München 2013: 97.

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ist es, aus der gegebenen Fülle qua Negation auszuschließen.120 Die Wahl des Ausschnitts bestimmt, was sichtbar wird und was unsichtbar bleibt, was aber auch hätte gezeigt werden können. Die Entscheidung für einen Ausschnitt ist insbesondere bei Fotografien aus Krisen- und Konfliktgebieten bedeutsam, bei denen das Sichtbare über Würde oder Bloßstellung der Dargestellten entscheiden kann und mitunter auch darüber, ob Schockeffekte oder Sachlichkeit die Berichterstattung bestimmen. Die bewusste Auswahl durch FotografInnen wird dann besonders wichtig, wenn das, was sichtbar gemacht werden könnte, Kontroversen provoziert, abschreckend ist oder für die abgebildeten Personen zu negativen Konsequenzen und Gefahr führen könnte. Der Wahl des Ausschnitts eignet dann ein Machtpotential, das FotografInnen bewusst ausschöpfen können, beim Moment des Auslösens und bei der späteren redaktionellen oder auch künstlerischen Bearbeitung eines Bildes.121 Zuvor allerdings tragen schon Redaktionen Verantwortung, insoweit sie im Vorhinein beschließen, was zur Schlagzeile wird und was nicht. Susan Sontag formuliert es so: »Obwohl heute genau das als Ereignis gilt, was fotografierenswert ist, bestimmt doch nach wie vor die Ideologie (im weitesten Sinne) was ein Ereignis ist.«122 Es gibt unzählige Beispiele, bei denen der Beschnitt eines Bildes, durch FotografInnen und RedakteurInnen, einen signifikanten Einfluss auf dessen Wirkung und Rezeption hatte. Ein bekanntes Beispiel ist Nick Úts bereits erwähnte Fotografie Napalm Girl (1972).123 Noch am Abend des 8. Juni 1972 wurde der Bildausschnitt im Saigoner Büro von Associated Press, der Agentur von Út, wirkungsvoll verändert. Für die Veröffentlichung in der New York Times am

120 Vgl.: Ebd. 121 Die Gründung der Magnum Gruppe gilt nicht zuletzt daher als Befreiungsschlag, durch den sich die Gründungsmitglieder bereits 1947 von der zunehmenden Beeinflussung und Inanspruchnahme ihres Bildmaterials durch als zu mächtig empfundene RedakteurInnen lossagen wollen. Zur Gründung der Magnum Gruppe siehe: Matthias Christen und Anton Holzer, Mythos Magnum. Die Geschichte einer legendären Fotoagentur, in: Anton Holzer (Hg.), Fotogeschichte, Business mit Bildern, Geschichte und Gegenwart der Fotoagenturen, Heft 142, Jg. 36, 2016: 21–40. 122 Sontag (2003), Über Fotografie (1977): 24 123 Als Napalm Girl wird die Ikone erinnert, der eigentliche Titel des Bildes lautet »The Terror of War«. Michael Ebert, Nein, es waren nicht die Amerikaner. Die Ganze Wahrheit über ein Foto, das jeder kennt, in: Fromm, Greiff und Stemmler (Hg.), Images in Conflict/ Bilder im Konflikt (2018), (177–197): 179.

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darauffolgenden Tag, wurde, außer zwei weiteren Personen, ein Reporter ausgeschnitten, der am rechten Bildrand beiläufig seinen Film wechselt und sich auf der gleichen Höhe wie die Kinder befindet, die mit den Soldaten im Mittelgrund vor der Explosion weglaufen. Die nicht beschnittene Fotografie hätte womöglich eine Diskussion über das Verhalten von JournalistInnen im Krieg ausgelöst, die Associated Press offenbar nicht provozieren wollte, zum Beispiel darüber, dass die JournalistInnen, anstatt zu helfen, auf das Bild des Tages aus gewesen seien. Dies ist allerdings nur eine Vermutung.124 Vielleicht lag der Entscheidung für diesen Ausschnitt auch ein ganz pragmatischer Entschluss zugrunde. Michael Ebert bemerkt: »Letztendlich ist der Ausschnitt einfach das stärkere Bild und wäre sicher auch dann gemacht worden, wenn es sich am Rand nicht um einen Reporter gehandelt hätte.«125 Schließlich rückt der Ausschnitt das Mädchen Kim ins Zentrum des Bildes. Für die Publikation der Fotografie des nackten Mädchens wurden sogar die Bestimmungen der Agentur bezüglich der Zensur von Nacktheit ignoriert, da man der Wichtigkeit des Bildes für das Verständnis des Krieges und seiner Rezeption Vorrang einräumte.126 Abgesehen von solchen späteren redaktionellen Einflussnahmen, bestimmt die Wahl des Ausschnitts zunächst und unmittelbar die Fotografin oder der Fotograf. Sie haben damit einen signifikanten Einfluss auf das, was später wie mit dem Bild gezeigt werden kann. Nicht nur was gezeigt werde sei in der Kriegsfotografie zentral, schreibt Judith Butler, sondern auch wie etwas gezeigt werde: »Das »Wie« bestimmt nicht nur über die Bildgestaltung, 124 Diesen Vorwurf räumte die Analyse von Michael Ebert aus, der in einer akribischen Recherche die Geschehnisse am Tag der Aufnahme im Juni 1972 nachvollziehbar macht und hervorhebt, dass die JournalistInnen den Kindern wenig später halfen. Nick Út brachte Kim und die weiteren Kinder im Anschluss ins Krankenhaus. Vgl.: Ebert, Nein, es waren nicht die Amerikaner (2018): 192. 125 Ebert, Nein, es waren nicht die Amerikaner (2018): 192f. 126 Der Fotograf und Kriegsberichterstatter Horst Faas rekapituliert die Entscheidung so: »Pictures of nudes of all ages and sexes, and especially frontal views were an absolute no-no at the Associated Press in 1972. While the argument went on in the AP bureau, writer Peter Arnett and Horst Faas, then head of the Saigon photo department, came back from an assignment. Horst argued by telex with the New York head-office that an exception must be made, with the compromise that no close-up of the girl Kim Phuc alone would be transmitted. The New York photo editor, Hal Buell, agreed that the news value of the photograph overrode any reservations about nudity.« Horst Faas und Marianne Fulton, How the Picture Reached the World, in: Dies., Digital Journalist, online: http://digitaljournalist.org/issue0008/ng4.h tm, zugegriffen am 24.01.2023.

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sondern auch über die Gestaltung unserer Wahrnehmung und unseres Denkens.«127 Die FotografInnen stehen also sowohl den Dargestellten als auch den RezipientInnen gegenüber in der Verantwortung, also allen, die dann mit dem Bild konfrontiert sein werden. Gleiches gilt auch für KünstlerInnen, die mit bereits verfügbaren fotojournalistischen Bildern arbeiten, denn auch sie können mit der Wahl des Ausschnitts aus einem Quellenbild die Wahrnehmung der RezipientInnen beeinflussen. Die Ellipse kann sich dabei durch die bewusste Auslassung von Bildelementen als raffinierte Strategie des Nicht-Zeigens erweisen. Auch Nasan Tur arbeitet in seiner Serie Clouds mit Ellipsen. Er präsentiert Ansichten von Wolken und bringt diese mittels der Titel in Zusammenhang mit politischen Ereignissen. Dabei kommt es zu einer zweifachen Negation, zunächst pragmatisch durch die Wahl eines bestimmten Ausschnitts von Quellenbildern und semantisch durch die Wolken, die damit in den Fokus gerückt werden. Im Folgenden möchte ich zunächst das evokative Potential von Wolkenfotografien im Allgemeinen analysieren, um daran anschließend zu betrachten, wie Tur dieses Potential in seiner Serie nutzt.

3.4.2 Das evokative Potential von Wolken Zunächst mag es verwundern, wenn Philippe Dubois seine theoretischen Ausführungen zur Fotografie als Schnitt durch Zeit und Raum mit der Besprechung der Equivalents von Alfred Stieglitz schließt.128 Die Serie besteht aus schwarz-weiß Fotografien von Wolken, die Stieglitz zwischen 1922–31 angefertigt hat (siehe bereits Abb. 16). Stieglitz ist nicht der Erste, der seine Kamera auf das beliebte kunstfotografische Thema Wolke richtet: Bereits im 19. Jahrhundert fotografierten zum Beispiel Gustave le Gray und Alfred Horsley Hinton schon Wolken; 1912 machte Alvin Langdon Coburn Fotos von Wolken im Grand Canyon.129 Der »indexikalische«, »autoreferentielle« und »symbolische« Aspekt der künstlerischen Wolkenfotografie, lässt sie »zu einem gleichermaßen selbstreflexiven wie auch existentiellen Thema um die

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Butler (2010), Raster des Krieges (2009): 71f. Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 174ff. Zum weiteren Kontext der Fotografien von Wolken von Coburn siehe Stiegler und Hauswald: Stiegler, Theoriegeschichte der Fotografie (2006): 178; Cathrin Hauswald, Alvin Langdon Coburn, Photographie zwischen Piktorialismus und Moderne, Bielefeld 2018: 141–155.

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Jahrhundertwende werden«.130 Wie Stieglitz diese Aspekte anspricht und welche Möglichkeiten dies eröffnet, bedarf einer genaueren Betrachtung. Mit seinen Fotos von Wolken und der Theoretisierung dieser Fotografien hat Alfred Stieglitz das Interesse vieler FotografietheoretikerInnen geweckt.131 Dubois versteht diese Serie »nicht als ein Ensemble von Fotos (von Abzügen), sondern als die Fotografie überhaupt.«132 Dubois macht die Signifikanz der Serie an dem Gegenstand fest, den sie abbildet, und an den mit diesem speziellen Gegenstand verknüpften theoretischen Aussagen, die sich dann allerdings auf die Fotografie insgesamt übertragen lassen und es ermöglichen Fotos als Schnitt durch Zeit und Raum zu fassen (siehe Kapitel 2.2). Wolken können analog zur Fotografie als Indexe fungieren: Man sieht, dass die direkt mit ihrer natürlichen Umgebung verbundene Wolke ein richtiges Index-Zeichen ist und ihre Natur sich dadurch genau mit der des fotografischen Zeichens deckt. […] Beide, Wolken und Fotografie, sind folglich authentische Lichtmaschinen, Schleier, Raster, Fallen, Entwickler, Schirme, Vorhänge, Phantome aus Licht.133 Neben den Analogien, die Dubois aufzählt, gibt es allerdings auch signifikante Unterschiede zwischen Wolken und Fotografien. Während die Fotografie als Schnitt durch Zeit und Raum fixiert ist, sind Wolken in stetiger Veränderung begriffen, dynamisch. Es ist aber gerade der Aspekt der Fotografie als Schnitt durch Zeit und Raum, den Dubois anhand von Stieglitz’ Wolken veranschaulicht, wobei an dieser Stelle der Untersuchung insbesondere die theoretischen Konsequenzen aus der Betrachtung des räumlichen Schnitts nochmals beleuchtet werden sollen. Dubois bezeichnet die Wolkenbilder von Stieglitz als Bilder »der Geste des Ausschneidens im Reinzustand.«134 Fotografien setzen den repräsentierten Raum ins Verhältnis zum repräsentierenden Raum des Bildes. Stieglitz bietet in seinen Bildern jedoch keine Orientierungshilfen an, keine Horizontlinie scheint auf, zu der sich die Betrachtenden in Beziehung setzen könnten.135 Allenthalben sieht man einmal Äste eines Baums, die 130 Hauswald, Alvin Langdon Coburn (2018): 141. 131 Neben Philippe Dubois widmet u.a. auch Rosalind Krauss den Equivalents eine eingehende Besprechung. Siehe: Krauss (1998), Das Photographische (1990): 127–137. 132 Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 199 (Hervorh. im Orig., P. D.). 133 Ebd.: 202. 134 Dubois (1998), Der fotografische Akt (1983): 203. 135 »Dies sind Bilder ohne Grund«, schreibt Rosalind Krauss bezüglich der Equivalents von Stieglitz. Krauss (1998), Das Photographische (1990): 135.

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sich als Silhouetten kontrastreich von den Wolken im Hintergrund abheben und damit die Desorientierung aber eher forcieren, als mindern (Abb. 28).

Abb. 28: Alfred Stieglitz, Equivalent, 1930, Gelatin silver print, 9,2 × 11,7 cm, Anonymous Gift, Museum of Modern Art, New York.

Stieglitz entreißt die Wolken ihrem raumzeitlichen Kontext und gibt dem fotografierten Raum auf diese Weise »seine Unabhängigkeit und seine genuine Mobilität.«136 Dies wirkt sich auch auf die Möglichkeiten der Hängung der Fotos aus: Die Equivalents können nämlich in jeder möglichen Ausrichtung präsentiert werden. Damit transformiert Stieglitz die statischen Fotografien von Wolken in dynamische Wolken-Bilder.137 Warum sich Wolken eignen, um Aussagen über die Fotografie an sich und über seine fotografische Praxis zu machen, erklärt Stieglitz selbst: 136 137

Dubois (1998), Der Fotografische Akt (1983): 213. Michael Powers bemerkt: »The latent capacity inherent in Stieglitz’s horizonless cloud photographs to be hung or viewed differently from the way they were first exhibited not only undermindes the notion of an »original«, stable position, but in so doing, also transforms these pictures from merely static images of clouds into dynamic cloud-images capable of drifting in several directions at once.There is no single »right« way of viewing or relating to these cloudimages.« Michael Powers, »Wolkenwandelbarkeit«: Benjamin, Stieglitz, and the Medium of Photography, in: The German Quarterly, Vol. 88, No. 3, (Summer 2015), (271–290): 278.

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Through clouds to put down my philosophy of life – to show that my photographs were not due to subject matter – not to special trees, or faces, or interiors, to special privileges – clouds were there for everyone – no tax as yet on them – free.138 Allerdings heißt die Serie Equivalents und nicht Clouds139 – ein Hinweis darauf, dass es Stieglitz nicht um die Wolken an sich geht, sondern um Phänomene der Fotografie, die er mit Fotos von Wolken verdeutlichen kann. Wenn das Sujet in den Hintergrund rückt, dann erübrigt sich auch die Debatte zwischen Piktorialismus und Straight Photography, die sich zwischen Kunstfotografie und dokumentarischer Fotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspinnt.140 Bei den Equivalents handelt es sich um Ausschnitte des Himmels, deren Kompositionen den natürlichen Gegebenheiten der Wolkenformationen folgen. Die Abstraktion der Stieglitzschen Wolken resultiert also aus den abstrakten Formationen der Wolken selbst und verweist so auf das poetische Potential einer Straight Photography.141 Die Equivalents zeigen zwar naturalistische Ausschnitte des Himmels, allerdings, und das erscheint wichtiger zu sein, zeigen sie die Wolken nicht als Wolken, sondern als Fotografien und richten so als Geste der Autoreflektion den Fokus auf die Fotografie an sich.142 Michael Powers versteht diese Geste als Einladung »to view clouds and

Alfred Stieglitz, How I Came To Photograph Clouds (1923), in: Nathan Lyons (Hg.), Photographers on Photography, New Jersey 1966, (110–112): 112. 139 Der Titel der Serie hat sich über die Zeit verändert, Stieglitz nannte sie zunächst »Songs of the Sky«, später »Music« und schließlich »Equivalents«. Siehe: Stiegler, Theoriegeschichte der Fotografie (2006): 173. 140 Alfred Stieglitz gilt als Verfechter der piktorialistischen Fotografie, die mit quasi malerischen Ausdrucksweisen das Ansehen der Fotografie als eigenständige Kunstform vorantreiben wollte. Ab 1910 entwickelte sich unter der Federführung Paul Strands daraus eine weitere Bewegung, die sogenannte Straight Photography, die wiederum unter Besinnung auf die spezifischen Möglichkeiten der Fotografie eine neue Unabhängigkeit (von der Malerei) erwirken wollte. Siehe: Alison Nordström, David Wooters, Crafting the Art of the Photograph, in: Alison Nordström, Thomas Padon (Hg.), Truth Beauty, Pictorialism and the Photograph as Art, 1845–1945, Vancouver/Toronto/Berkeley 2008, (33–49): 41; Felix Freier, Straight Photography, in: Ders. (Hg.), DuMont’s Lexikon der Fotografie, Technik, Geschichte, Kunst, Köln 1992: 325f. 141 Vgl.: Kristina Wilson, The Intimate Gallery and the »Equivalents«: Spirituality in the 1920s Work of Stieglitz, in: The Art Bulletin, Vol. 85, No. 4 (Dec., 2003), (746–768): 755. 142 Stieglitz selbst formuliert es so: »I have found that the use of clouds in my photographs has made people less aware of clouds as clouds in the pictures […]. In looking at my photographs of clouds, people seem freer to think about the relationships in the pictures than about the sub-

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photographs of clouds as more than static things – as more than ›clouds as clouds‹ […]«143 . Die Abstraktion, welche die Fotografie von der Repräsentation löst, ermöglicht eine symbolische Aufladung der Bilder und eine Bedeutungszuschreibung über das Sichtbare hinaus. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis lässt sich mit den bildwissenschaftlichen Kategorien von Feld und Grund analysieren.144 Während das Feld als Fläche durch die Bildränder klar begrenzt ist, verweist das Konzept des Grundes und dessen Dimension der Tiefe auf ein evokatives Potential, das semantisch durch die Wolke unterstützt wird. Giulia Maria Dondero hat darauf hingewiesen, dass das Motiv der Wolke bereits in der Malerei der Renaissance den Bereich markierte, in dem es um das Undarstellbare, die Göttlichkeit, ging.145 Eine Wolke ist eine Möglichkeit der Form, sie schwebt zwischen Himmel und Erde und eröffnet den Blick, ohne zu repräsentieren. Laut Dondero sind Wolken in diesem Zusammenhang bereits Ausdruck von Negation: Le nuage est le produit d’une négation de la tradition picturale de la mimésis qui contient en puissance toutes les formes. Le nuage est une figure de la négation non seulement parce qu’il nie, au niveau énonciatif, la possibilité de donner forme à la divinité, voire la possibilité de voir/représenter la divinité.146 Die Wolke erweist sich in der Kunst als Möglichkeitsraum, als Schleier, der etwas aufscheinen lassen kann. In ihrer Wandelbarkeit erscheint die Wolke »als das Modell jeder Metamorphose.«147 Hier setzen Strategien des Nicht-Zeigens an, denn es ergibt sich ein Kontrast zwischen der Dynamik von Wolkenformationen und dem Schnitt der Fotografie durch Zeit und Raum, der das Gezeigte in einem Moment arretiert, einfriert. Dies wird umso deutlicher, wenn es sich um Bilder von Wolken künstlichen Ursprungs handelt, Rauchwolken, die bei ject-matter for its own sake.« Stieglitz nach Norman. Dorothy Norman, Alfred Stieglitz, An American Seer, New York 1973: 161. 143 Powers, »Wolkenwandelbarkeit« (2015): 288. 144 Siehe zur Feld-Grund-Thematik im Bild: Wolfram Pichler, Zur Kunstgeschichte des Bildfeldes, in: Gottfried Boehm und Matteo Burioni (Hg.), Der Grund, Das Feld des Sichtbaren, München 2012: 440–472. 145 Vgl.: Maria Giulia Dondero, La Négation Dans L’Image, in: Sémir Badir und Dies. (Hg.), L’image peut-elle nier?, Liège 2016, (17–35): 24. 146 Maria Giulia Dondero, La Négation Dans L’Image (2016): 34. 147 Hubert Damisch, Theorie der Wolke, Für eine Geschichte der Malerei (Théorie du Nuage, Pour une histoire de la peinture, 1972), Zürich/Berlin 2013: 38.

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Explosionen entstehen und im Bild festgehalten werden. Im Folgenden wird gezeigt, warum auch solche Wolkenbilder als metonymisch einzustufen sind.

3.4.3 Künstliche/künstlerische Wolken: Nasan Turs Serie Clouds Die Fotografie The Mushroom Cloud, die der Japaner Toshio Fukada am 6. August 1945 aufnahm, zeigt die sich pilzförmig ausbreitende Rauchwolke nach dem Abwurf der US-amerikanischen Atombombe auf Hiroshima (Abb. 29). Die Stasis des fotografischen Einzelbilds steht hier im krassen Gegensatz zur Dynamik der Wolkenformationen im Bild, die mit bloßem Auge in dieser Form nicht zu fassen gewesen wären. Bedenkt man die verheerende Wirkung von Atombomben stehen Ästhetik und Ethik bei den Abbildungen der Atombombenexplosionen in Konflikt.148 Die Ausmaße der Zerstörung der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki waren katastrophal. Die Fotografie von Toshio Fukada zeigt davon nichts und ruft dennoch die damit verbundenen Schrecken auf. Diese Abstraktion ermöglicht einen Gebrauch des Bildes über den eigentlichen Kontext des konkreten Abwurfs im Jahr 1945 hinaus. Wie Clément Chéroux zutreffend bemerkt – wenngleich im Hinblick auf Fotografien von Rauchwolken im Kontext von 9/11 – ist die Form der Wolke ungenau, verwischt und diffus und bleibt daher in ihrer Symbolik grundsätzlich offen.149 Aus dieser Offenheit resultiert die Einsetzbarkeit von Fotos von Rauchwolken in unterschiedlichen Kontexten.150 Einer solchen Verwendung der Fotografien von Atombombenexplosionen für multiple Zwecke und Zusammenhänge, kann man vorwerfen, dass sie zu einer Banalisierung jenes Faktums führt, für das diese Abbildungen eigentlich stehen: Die vernichtende Wucht und Stärke atomarer Waffen.151

148 Susan Sontag formuliert es so: »[A]n Kriegsfotos Schönheit zu entdecken wirkt gefühllos.« Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 88. 149 Seine Analyse bezieht sich auf Titelbilder von Zeitungen, die über die Ereignisse von 9/11 berichteten und bei denen Bilder der Rauchwolken ubiquitär waren. Clément Chéroux, Diplopie, Bildpolitik des 11. September (Diplopie, L’image photographique à l’ère des médias globalisés: essai sur le 11 septembre 2001), Konstanz 2011: 32. 150 Vgl.: Ebd.: 32f. 151 Vgl.: Malcolm Turvey, Bruce Conner und die Macht der Wiederholung, in: Gerald Matt und Barbara Steffen (Hg.), Bruce Conner, Die 70er Jahre, Ausst.-Kat., Nürnberg 2010, (64–74): 71.

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Abb. 29: Toshio Fukada, The Mushroom Cloud – Less than twenty minutes after the explosion, 1945, Gelatin silver print on paper, 25,9 x 21,7 cm, Metropolitan Museum of Photography, Tokyo.

Dem amerikanischen Avantgarde Filmemacher und Künstler Bruce Conner ging es darum, den Blick für das zu schärfen, was durch die »Abnutzung« der Fotografien und Filmaufnahmen von Atombombenexplosionen aufgrund ihrer vielfältigen Verbreitung in den Hintergrund geraten ist. Die dokumentarische Fotografie Fukadas wird heute auch in Kunstmuseen wie der Tate Modern London rekontextualisiert, aber Conner hat das Thema Mushroom Cloud schon in den 1970er Jahren explizit in den Kunstkontext überführt. In seinem experimentellen Kurzfilm Crossroads (1976) nutzte Conner das Filmmaterial von über 500 Kameras, die die Unterwasser detonierte US-amerikanische Atombombe gefilmt haben, die im Rahmen der zweiten Explosion »Baker« der Operation »Crossroads«, im Sommer 1946 auf dem Testgebiet des

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Bikini Atolls im Pazifischen Ozean explodierte.152 Das extensive Aufgebot an Kameras sollte das Experiment zum bis dahin meist aufgezeichneten Medienereignis machen. Der opening shot zeigt das Atoll und die darin vor Anker liegenden Schiffe bei ruhiger See. Der idyllische Eindruck wird durch die Tonspur verstärkt, auf der Vogelzwitschern, Meeresrauschen und entfernte Stimmen aufgezeichnet sind. Plötzlich hört man einen Countdown von 10 bis 1. Darauf folgen nach etwa 55 Sekunden die erste Explosion und die damit verbundene Entstehung der pilzförmigen Rauchwolke im Bild. Ebenso überraschend, wie die, das vermeintliche Idyll zerstörende, Detonation der Bombe, treffen die RezipientInnen die diegetischen Geräusche der Explosion, die asynchron zur wiederholten Explosion im Bild einsetzen und daher die Ohren der ZuschauerInnen umso schockartiger treffen. Ab etwa Minute 13 folgt ein Wechsel: die diegetischen Geräusche werden durch eine Filmmusik von Patrick Gleeson und Terry Riley ersetzt, die sich durch minimale Klänge und Repetition auszeichnet. Malcolm Turvey bemerkt, dass deren »resignierte Gelassenheit« in krassem Gegensatz zur zerstörerischen Kraft der Explosion steht.153 Der fast meditativ anmutende Soundtrack suggeriert auf der Ebene des Tons eine Stabilität, die von den Bildern wiederholt untergraben wird.154 Conner hat sich das dokumentarische Material zum Atombombentest angeeignet und es transformiert. Im Film wechseln Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven und von unterschiedlichen Stadien der Explosion. Wiederholung und Variation treffen aufeinander: Conner konfrontiert die ReziepientInnen mit immer neuen Aufnahmen, die das Atoll und die darin vor Anker liegenden Schiffe vor, während oder nach der Explosion zeigen. Die ursprünglich dokumentarischen Aufnahmen werden so zu einem immersiven Gesamtkunstwerk arrangiert, das die Frage zwischen wahr und falsch, authentisch und künstlich aufwirft. Diese Frage evoziert auch der Titel »It’s all true« der Retrospektive Conners im Museum of Modern Art New York und im Museum of Modern Art San Francisco 2016/17.155 Die BetrachterInnen von Crossroads 152 153 154 155

Bruce Conner, Crossroads, 1976, 36 Minuten. Turvey, Bruce Conner und die Macht der Wiederholung (2010): 72. Vgl.: Thomas Mießgang, Me, Myself and Eye, in: Gerald Matt und Barbara Steffen (Hg.), Bruce Conner, Die 70er Jahre, Ausst.-Kat., Nürnberg 2010, (78–87): 82. Die Ausstellung »Bruce Conner – It’s All True« fand vom 3. Juli – 2. Oktober 2016 im MoMa New York statt, danach wanderte sie ins SF MoMa in San Francisco, wo sie vom 29. Oktober 2016 – 22. Januar 2017 gezeigt wurde. O. A., Museum of Modern Art New York, Bruce Conner – It’s All True, online: https://www.moma.org/calendar/exhibitions/ 1614, zugegriffen am 24.01.2023.

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bleiben im Unklaren darüber, ob es sich um ein und dieselbe Explosion, oder um verschiedene handelt, ob die Schiffe, die von der Druckwelle verschlungen werden, bemannt waren oder nicht.156 All das wird nicht gezeigt. Die Rekontextualisierung Conners, die sich aus der Parallelisierung der vielfältigen Aufnahmen von ein und derselben Bombendetonation und der Musik von Gleeson und Riley ergibt, entwickelt dabei eine außergewöhnliche Wirkmächtigkeit. Es gelingt dem Künstler die RezipientInnen durch die ungewöhnliche Abfolge von Bildern der Explosion in einen »›unschuldigen‹ Zustand der ursprünglichen Beobachter« zu versetzen, ohne dabei den Kontext der Bilder preis zu geben.157 Über Zeit und Ort hinaus gibt er keine weiteren Informationen. Gerade die Leerstellen in seinem Film ermöglichen es Conner den Zustand ersten Sehens zu evozieren.158 Auch Nasan Turs Serie Clouds (2012–13), die hier als Fallbeispiel für den Einsatz der Ellipse als Strategie des Nicht-Zeigens dienen soll, eröffnet die Möglichkeit Bilder neu zu sehen. Die Ausschnitte von Found Footage Bildern, die der in Berlin lebende und arbeitende deutsch-türkische Künstler verwendet, entfalten ihre Wirkung über die Rekontextualisierung, die er vornimmt. Die Bedeutungszuschreibung wird bei Turs Wolken nicht über den Symbolstatus der Bilder gewährleistet, da sie nicht wie im Fall der Mushroom Cloud zu Ikonen geworden sind. Anstatt wie Conner immer wieder den Höhepunkt einer Explosion zu zeigen, setzt Tur mit seiner Strategie des Nicht-Zeigens auf »leisere« Bilder von Wolken. Der Künstler antwortet mit Schönheit auf Schrecken und setzt dabei ganz auf die elliptische Qualität des fotografischen Ausschnitts und das evokative Potential von Wolken-Bildern.159 Die Serie besteht insgesamt aus 15 großformatigen Fotografien (alle je 135 x 180 cm) und wird erstmals 2012 in der Berliner Galerie Blain|Southern präsentiert. Wie der Titel Clouds ankündigt, zeigen die Querformate Ansichten von Wolken in vielfältigen Farben und Ausformungen. Die Wolkenfragmente leuchten mal in bedrohlichen orange-rot Tönen (Cloud No. 5: 1 January, 2009, Northern Gaza Strip, All-Palestine Government, 2012) oder erscheinen sublimer 156 157 158 159

Es handelte sich um leere Schiffe. Siehe: Turvey, Bruce Conner und die Macht der Wiederholung (2010): 71. Ebd.: 72. Vgl.: Ebd.: 64. Aus einer Verzweiflung am Medienbild heraus, reagiert Tur mit Schönheit auf Zerstörung (ab Minute 37). Vgl.: Nasan Tur im Interview mit Christian Rattemeyer, Video, 01:12:16, 23.03.2017, online: https://www.youtube.com/watch?v=7NnNdSYgovM, zugegriffen am 24.01.2023.

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in weiß-grau Nuancen (Cloud No. 3: 13/7/2009 at Helmand Province Afghanistan, 2012). In allen Bildern vermischen sich natürliche Wolken mit solchen, künstlichen Ursprungs, worauf die intensiven grau Töne schließen lassen, die Aschewolken suggerieren. Diese Wolken weisen auf subtile Weise auf den Kontext hin, in dem sie aufgenommen wurden, jedoch ohne ihn, wie Bruce Conner in Crossroads, explizit zu zeigen. Alle Bilder der Serie Clouds sind in Kontexten wie Bürgerkriegen, Terroranschlägen oder Kriegen entstanden. Allerdings war Tur bei keinem dieser Ereignisse vor Ort. Teilweise scheint eine Schrift auf der Rückseite der Ausschnitte der Bilder durch und verweist so auf den Kontext ihres Erscheinens in einer Zeitung, wie bei Cloud No. 14: 19 October, 2010, Paris, France (2013) (Abb. 30).

Abb. 30: Nasan Tur, Cloud No. 14: 19 October, 2010, Paris, France, 2013, aus der Serie Clouds, C-print, 135 x 180 cm.

Bei den Fotografien der Serie Clouds handelt es sich um Vergrößerungen von Ausschnitten aus Pressefotos aus internationalen Zeitungen und Magazinen, die konflikthafte Ereignisse, wie Terroranschläge und Plünderungen dokumentieren. Die Präsentationsform der Clouds verweist auf Turs Vorgehensweise: Die auffallende Grobkörnigkeit der C-Prints ist nicht einer Unschärfe der Aufnahmen oder einer Verpixelung aufgrund einer zu niedrigen Auflösung einer digitalen Vorlage geschuldet, sondern der Tatsache, dass Tur die Presse-

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fotografien aus Printzeitschriften für seine Arbeit gescannt, stark vergrößert und erneut gedruckt hat. Auf der Webseite des Künstlers wird die Serie Clouds mit einem kurzen Text eingeführt: Ausschnitte aus in Zeitungen und Magazinen gedruckten Pressefotos, die Gewaltausbrüche wie bei Demonstrationen, Kriegsszenen, Plünderungen etc. dokumentieren. Der Ausschnitt fokussiert sich dabei auf den Himmel dieser Momentaufnahmen, in denen sich Wolken mit Rauch und Asche verbinden. Das eigentliche Geschehen wird ausgeblendet. Was bleibt ist ein Bild von irritierender Schönheit.160 Irritierend ist die Schönheit, von der hier die Rede ist, allerdings nur vor dem Hintergrund des Wissens um das, was zu dieser Zeit an den, durch die Titel aufgerufenen, Orten geschehen ist. Aber was davon geben diese Arbeiten preis? Bei der Betrachtung von Nasan Turs Himmelsfragmenten stellt sich die Frage, inwiefern die Wolken der Serie Clouds auf den größeren Kontext eines Bürgerkriegs oder auf andere Bilder hinweisen, die Tur nicht zeigt? Der Künstler setzt ein Vorwissen der RezipientInnen voraus und evoziert dieses Vorwissen mit ganz wenigen Anhaltspunkten, die implizite Bilder des nicht Gezeigten triggern. Es sind auch hier die Titel, die eine genauere, wenn auch nicht eindeutige, Zuordnung erlauben. Der Künstler hat jedes Bild mit relativ präzisen zeiträumlichen Koordinaten versehen. Recherchiert man diese Angaben, wie heute üblich, mit der Google Suchmaske, werden folgende Ereignisse angezeigt: Bürgerkrieg in Libyen im Kontext des Arabischen Frühlings (Cloud No. 1: 7 March, 2011, Ra’s Lanuf, Libya, 2012), Afghanistan Krieg (Cloud No. 3: 13 July, 2009, Helmand Province, Afghanistan, 2012), Anschläge islamistischer Terroristen in Mumbai, Indien (Cloud No. 6: 26 November, 2008, Mumbai, India, 2012) sowie Proteste in Beirut, nach der Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri (Cloud No. 15: 14 February, 2005, Beirut, Lebanon, 2013). Die nicht chronologische Abfolge der Wolken macht deutlich, dass der Künstler hier ordnend eingreift. Die Reihenfolge der Anordnung beruht auf Turs Entscheidungen und evoziert eine Lesart, die zunächst auf die Ähnlichkeit und Äquivalenz der Bilder und Ereignisse zielt, statt auf die inhaltlichen Unterschiede, die politischen Hintergründe der Bilder. Der Fokus auf Ausschnitte 160 Nasan Tur, Clouds, online: https://www.nasantur.com/copy-of-picture-17, zugegriffen am 24.01.2023.

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von Wolken lässt keine eindeutigen Rückschlüsse auf die damit verbundenen Ereignisse zu. Laut Clément Chéroux deutet die Privilegierung von Bildern der Rauchwolken in der Berichterstattung im Zusammenhang mit 9/11 auf ein Zögern bezüglich der Analyse hin, »auf eine Aufhebung der Urteilsfähigkeit; sie scheint demjenigen, der sie anblickt, zu sagen: ›Warten wir ein wenig, bis der Staub und die Asche sich gelegt haben, bevor wir anfangen, Vermutungen anzustellen.‹«161 Dieser Interpretation zufolge schaffen die Rauchwolken Distanz und regen dennoch dazu an weiterzudenken und zu recherchieren. Die Vermutung, es könnte sich auch bei Cloud No. 1: 7 March, 2011, Ra’s Lanuf, Libya, 2012 um Wolken künstlichen Ursprungs, also um Rauchwolken handeln, evoziert den Kontext des libyschen Bürgerkriegs: Die Straßen, der von Rebellen besetzten Stadt Ra’s Lanuf, waren während des Bürgerkriegs im Konflikt zwischen Regierung und Oppositionellen von Explosionen gezeichnet. Am 7. März griffen Regierungstruppen die Rebellen in Ra’s Lanuf aus der Luft an, wobei Bomben zum Einsatz kamen, deren Rauchbildung als graue Wolken in Turs Cloud No. 1 zu sehen ist.162 Die Arbeit Cloud No. 6: 26 November, 2008, Mumbai, India (2012) zeigt den Himmel über Mumbai am 26. November 2008 (Abb. 31). Vier Vögel fliegen umher, ihre Silhouetten heben sich im Gegenlicht klar von den grauen Wolken und einem Fetzen blauen Himmels ab. Sie könnten darauf hinweisen, dass der Ausschnitt einem der Fotos des brennenden Hotelkomplex des Taj Mahal entnommen wurde. Auf Bildern der Ereignisse vom 26. November 2008, die im Internet auf den Seiten zahlreicher Nachrichtenhäuser kursieren, fallen die Vögel auf, die sich von den aufsteigenden Rauchwolken am Himmel deutlich abheben. Für seine Version des Bildes, hat Nasan Tur den Ausschnitt, den er in einer Zeitung entdeckt hat, auf das Wolkenfragment reduziert. Ebenso ist er in den weiteren Bildern der Serie vorgegangen. Bei den Quellenbildern aus Zeitungen handelt es sich um explizite Bilder von Katastrophen. Es sind sensationelle Bilder, die schockieren und dem Aktualitätsgebot der Tagespresse gerecht werden. Diesem ist Tur als Künstler nicht verpflichtet. Während FotojournalistInnen fokussieren, was gerade

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Chéroux, Diplopie (2011): 32. Ben Wedeman et al., Gadhafi launches airstrikes as civil war rages in Libya, in: CNN, 8. März 2011, online: http://edition.cnn.com/2011/WORLD/africa/03/07/libya.conflict/index.ht ml, zugegriffen am 24.01.2023.

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konkret die Schlagzeilen beherrscht163 , können sich KünstlerInnen von dem Konkreten durch Strategien des Nicht-Zeigens abwenden, um etwa durch den Kontrast von natürlichen Wolken und Rauchwolken übergeordnete Themen zu evozieren.

Abb. 31: Nasan Tur, Cloud No. 6: 26 November, 2008, Mumbai, India, 2012, aus der Serie Clouds, C-print, 135 x 180 cm.

Schon die zeitliche Differenz zwischen den Daten der Ereignisse, die in den Titeln benannt werden, und den Entstehungsdaten der Clouds, weist darauf hin, dass es Tur nicht darum geht tagesaktuelle Ereignisse sichtbar zu machen. Acht Jahre liegen zum Beispiel zwischen Turs Produktion der Serie Clouds (2012/2013) und den Ereignissen vom 14. Februar 2005 in Beirut (Cloud No. 15: 14 February, 2005, Beirut, Lebanon, 2013).164 In seiner Serie Clouds

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Dies galt selbst für die Magnum Fotografen, die entgegen des Gründungsmythos der Agentur nicht gänzlich frei waren von den Anforderungen der globalen Medienindustrie. Vgl.: Matthias Christen, Anton Holzer, Mythos Magnum, Die Geschichte einer legendären Fotoagentur, in: Anton Holzer (Hg.), Fotogeschichte, Business mit Bildern, Geschichte und Gegenwart der Fotoagenturen, Heft 142, Jg. 36, 2016, (21–40): 21. 164 Am 14. Februar 2005 kam es zu einem tödlichen Bombenattentat auf den Fahrzeugkonvoi des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri. O. A., Former PM killed in Beirut blast, in: The Guardian, 14. Februar 2005, online: https://www.theg uardian.com/world/2005/feb/14/lebanon, zugegriffen am 24.01.2023.

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verzichtet Tur bewusst auf explizite Bilder des Schreckens. Er evoziert den Schrecken und den Kontext im Zusammenspiel der elliptischen Wolkenbilder, die das Wesentliche nicht zeigen, und den Titeln, wobei diese ebenso elliptisch und damit deutungsoffen sind, wie die Bilder. Diese Strategie des NichtZeigens ermöglicht Tur mit der Distanz impliziter Bilder auf die Schrecken zu reagieren, mit denen die Quellenbilder in Verbindung stehen. Nasan Tur hätte ohne Weiteres auf digitale Bilder zugreifen können, aber er bezieht seine Wolkenausschnitte ausschließlich aus Printmedien. Den Wolken der Serie Clouds verleiht die beschriebene Vorgehensweise eine gewisse Retro-Ästhetik. Auch die Wahl der Ausschnitte, die Tur in den Clouds präsentiert, unterscheidet sich in ihrer Ästhetik signifikant von den Bildern, die ursprünglich im Zusammenhang mit den dargestellten Ereignissen veröffentlicht wurden. Ihrer illustrativen Wirkung im Rahmen eines Zeitungsartikels sind Turs Ausschnitte beraubt, weil sie das für die Berichterstattung Wesentliche nicht zeigen. Bei den elliptischen Bildern der Serie Clouds handelt es sich somit im Grunde um die eingangs erwähnte Sonderform der Ellipse, die Aposiopese, bei der das Wichtigste verschwiegen oder – im Falle Turs – ausgeschnitten wird.165 Den RezipientInnen kommt in diesem Fall die Aufgabe zu, die Auslassungen aus dem scheinbar Unwichtigen zu erschließen. Die Rekontextualisierung der ästhetischen Wolkenbilder obliegt den BetrachterInnen, die sich womöglich aufgefordert fühlen herauszufinden, was an den Daten und Orten, die in den Titeln angegeben sind, geschehen ist, um so den Schleier der Wolken zu lüften. Auch Tur weckt Neugier. Mit Rancière gesprochen schafft er einen Dissens, der eine Emanzipation der RezipientInnen ermöglicht.166 Es stellt sich die Frage, ob Turs Strategie des Nicht-Zeigens dazu geeignet ist, die elliptische Qualität der Fotografie aufscheinen zu lassen. Nasan Tur nutzt das Potential der Fotografie zugleich Dokument und Kunst sein zu können aus und spitzt es zu. Die malerische Qualität der Clouds knüpft somit an die Bestrebungen der Piktorialisten Anfang des 20. Jahrhunderts an, die, wie Stieglitz mit den Equivalents, maßgeblich das Verständnis der Fotografie als Kunst vorangetrieben und etabliert haben. Wobei die malerische Qualität, das Streben nach Schönheit, das Streben nach Wahrheit keineswegs aus-

165 Siehe bereits die Anmerkung in Fußnote 118. 166 Vgl.: Rancière (2009), Der emanzipierte Zuschauer (2008): 123.

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schließt.167 Im Gegenteil – Ästhetik und Ethik, Kunst und Wahrheit stehen nicht im Widerspruch zueinander. Susan Sontag formuliert es so: »[…] [D]as Ästhetische selbst ist ein quasimoralisches Projekt.«168 Die bewusste Ästhetisierung in Clouds wird durch die Strategie des Nicht-Zeigens, die Ellipse, hervorgebracht. Durch die Entscheidung für einen prägnanten Ausschnitt, macht Tur die Position des wählenden Subjekts stark, die, wie bereits erwähnt, schon im Moment des Auslösens der Fotografie virulent ist, denn auch er impliziert eine Entscheidung darüber, was nicht gezeigt wird. Wir haben es bei der Serie Clouds insofern mit einer zweifachen Negation von Sichtbarkeit zu tun. Zunächst bezogen auf die Ausschnitthaftigkeit der ursprünglichen Pressefotografie im Kontext der vorgefundenen Szene und schließlich bezogen auf die Wahl des Ausschnitts für die Clouds von Tur. Diese Strategie des Nicht-Zeigens wichtiger Details aus Found Footage wendet Tur auch in der Serie Sea View (2016) an, in der er Meeransichten präsentiert, die ebenso sublim wie die Wolkenbilder wirken, und die Flüchtlingsboote, die im Quellenbild sichtbar waren, nicht zeigen. Ein weiterer Künstler, der bereits vor Tur auf das evokative Potential von Wolkenfotografien setzte, ist Paul Graham. Seine Serie Ceasefire (1994) besteht aus Fotografien, die im Konflikt zwischen Nord-Irland und Irland nicht die Gefechte festhalten, sondern Ausschnitte des Himmels am Tag des Waffenstillstands, dem 6. April 1994. Wie Graham in Ceasefire und Stieglitz bei den Equivalents, gibt auch Tur keinen Hinweis auf einen orientierungsstiftenden Grund im Bild. Gerade dadurch allerdings entfalten die Wolken als Bildgrund ihre evokative Wirkung und ihre Offenheit in Bezug auf die Einsetzbarkeit im Kunstkontext. Gegen die expliziten, singulären Quellenbilder, die Tur verwendet, stehen unendliche implizite Bilder, die in der Auseinandersetzung mit den Wolken vor den Augen der Betrachtenden entstehen können. Der »Wolkenwandelbarkeit der Dinge im Visionsraum« sind dabei, um es mit Walter Benjamin zu sagen, kei-

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Die Fotografin Julia Margaret Cameron, piktorialistische Fotografin vor dem Begriff, formuliert es bereits 1864 so: »My aspirations are to ennoble Photography and to secure for it the character and uses of High Art by combining the real & ideal and sacrificing nothing of Truth by all possible devotion to Poetry and beauty.« Cameron nach Nordström. Alison Nordström und David Wooters, Crafting the Art of the Photograph, in: Alison Nordström und Thomas Padon (Hg.), Truth Beauty, Pictorialism and the Photograph as Art, 1845–1945, Vancouver/Toronto/Berkeley 2008, (33–49): 35. 168 Susan Sontag, Über Schönheit, in: Dies. (2008), Zur gleichen Zeit (2007), (25–37): 34.

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ne Grenzen gesetzt.169 Die Unentschiedenheit der Fotografie, die Rancière als dissensuell einstuft, greift auch hier. Schon dadurch, dass Tur die signifikanten politischen Ereignisse auf die Wolkenausschnitte reduziert, ruft er den Vergleich seiner Serie Clouds mit Stieglitz’ Serie Equivalents auf. In seiner Komposition arbeitet er allerdings nicht, wie Stieglitz, mit dem freien Spiel der Wolken, sondern benutzt bereits durch ein Bild fixierte Wolken. Diese verortet Tur über die Titel sehr genau. Während die Equivalents in ihrer Ausrichtung wolkenhaft flexibel sind, handelt es sich bei den Clouds eindeutig um Querformate, die zusätzlich eine verortende und erdende Wirkung haben. Wie auch Stieglitz geht es Tur schlussendlich nicht um die Wolken als Sujet, allerdings auch nicht wie Stieglitz, um die Fotografie an sich. Vielmehr provoziert Tur durch die Wahl seiner Ausschnitte eine Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Fotografien aus Krisen- und Konfliktgebieten in der tagesaktuellen Presse. Deren homogene Ästhetik ist nicht zuletzt auch durch die Entwicklung des Markts für Pressefotografien bedingt, der durch Preisverleihungen dynamisiert wird, die wiederum eine homogene Ästhetik bevorzugen und eben dadurch auch hervorbringen, worauf ich im nächsten Kapitel eingehen werde. Tur könnte man vorwerfen, dass er sensibles Bildmaterial von Krisen und Konflikten ausnutzt und manipuliert, um es für seine Zwecke einzusetzen und zu ästhetisieren. Dieser Vorwurf ist meines Erachtens allerdings nicht gerechtfertigt: Tur »rettet« vielmehr Schnipsel des visuellen Gedächtnisses, Bilder, die im täglichen Nachrichtenfluss längst untergegangen und durch neuere, aktuellere ersetzt worden sind. Während diese expliziten Bilder immer Gefahr laufen, die komplexen Ereignisse visuell auf einen Moment zu reduzieren, bergen die Wolkenausschnitte kaum repräsentatives Potential. Im Blick auf Clouds lässt sich letztendlich die Frage stellen, welche Bilder bleiben – die Pressebilder, die Ausgangspunkt für Tur waren, oder die Wolken, die der Künstler durch seine Strategie in den musealen Kontext überführt. Angesichts der Halbwertszeit tagesaktueller Fotografien, scheint die Nachhaltigkeit der Wirkung von Clouds eher gegeben, zumal insofern als es sich bei den Quellenbildern Turs nicht um Ikonen, sondern um wahrscheinlich schon

169 Rolf Tiedemann (Hg.), Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band V, Zweiter Teil, Frankfurt a. M 1991: 1024. Michael Powers setzt in seinem Aufsatz »›Wolkenwandelbarkeit‹: Benjamin, Stieglitz, and the Medium of Photography« die Wolke als Thema in Benjamins Schreiben und die Equivalents von Stieglitz in einen überzeugenden Bezug. Siehe: Powers, »Wolkenwandelbarkeit« (2015): 271–290.

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vergessene Bilder handelt. Turs Manipulation von Found Footage ist dennoch problematisch, auch wenn sie einer Strategie des Nicht-Zeigens dient, die aber dann wieder bildrechtliche Fragen aufwirft. Die UrheberInnen der Quellenfotos macht Tur nicht kenntlich, ebenso wenig die Quellen, aus denen er sie bezogen hat. Die Zeitungen, aus denen die Pressebilder stammen, werden in millionenfacher Auflage gedruckt, die signierten Bilder der Serie von Nasan Tur sind qua Edition streng limitierte Unikate. Jede Cloud existiert (potentiell) in einer Auflage von 5 + 2 AP. Dem Rezeptionsverhalten in Bezug auf explizite Bilder des Schreckens in Zeitungen, die zum beiläufigen Überblättern einladen, setzt Tur mit der Serie Clouds das entdeckende Sehen im Zusammenspiel mit impliziten Bildern entgegen: Sie evozieren, ohne zu demonstrieren. Aus der Scheinsicherheit, der umfassenden Berichterstattung durch aktuelle Pressebilder, wird bei der Betrachtung von Clouds ein Unbehagen, das erst im Wissen um die Kontexte der Bilder geklärt werden kann. Allerdings nicht vollständig, denn die elliptische Darstellungsweise Turs verweist auf das Fragmentarische jeder Kontextualisierung. Letztlich liegt die Bedeutungszuschreibung der Clouds, ähnlich wie bei den Equivalents, bei den RezipientInnen, die die Leerund Unbestimmtheitsstellen ausfüllen, aber das können sie eben nur teilweise. Diesem Erkenntnisprozess eignet bei Clouds ein politisches Potential. Während die Abstraktion der Wolken bei den Equivalents von Stieglitz und den Clouds von Tur auf Ebene des Sujets zu verorten ist, möchte ich im folgenden Kapitel die Abstraktion als formalästhetische Bedingung des Bildes und als Strategie des Nicht-Zeigens untersuchen. Im Zentrum steht dabei die Serie The Day Nobody Died (2008) von Adam Broomberg und Oliver Chanarin.

3.5 Abstraktion als Strategie des Nicht-Zeigens 3.5.1 Embedded photography: zwischen Auftrag und Autonomie FotojournalistInnen, die in Kriegs- und Krisengebieten im Einsatz sind, agieren regelmäßig im Spannungsverhältnis zwischen journalistischer Aufklärung und der Verantwortung gegenüber den Porträtierten, anderen Beteiligten und den jeweiligen AdressatInnen der Bilder, den Agenturen und involvierten Institutionen. Während die journalistische Aufklärung ein bestmögliches, realistisches Zeigen und Sichtbarmachen einfordert, kann die Verantwortung gegenüber den Beteiligten ein bewusstes Unterlassen

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gebieten. Ein Konsens darüber, was in Kriegsgebieten und Konfliktzonen fotografiert werden sollte und ob oder inwieweit diese Bilder gezeigt werden sollten, besteht nicht. Die Diskussion um das Zeigen oder Verbergen von Leid ist nicht neu. Im Krimkrieg (1853–56) wurden erstmals offiziell einzelne Fotografen von Großbritannien und Frankreich entsandt, um vor Ort die »Wahrheiten« des Kriegs im Bild festzuhalten.170 Gerhard Paul notiert, dass Fotografen wie Roger Fenton, der für die Briten im Einsatz war, eine bis heute nachwirkende bildästhetische Tradition in Bezug auf die Visualisierung des modernen Krieges begründen, »die durch die gleichzeitige Tendenz der Tabuisierung des Todes und der Humanisierung des Krieges gekennzeichnet ist.«171 Das tatsächliche Ausmaß des Leids wird in diesen Fotografien ausgeblendet. Ein Jahrhundert später sehen sich unabhängige Fotografen wie Eddie Adams und Nick Út, die in Bildern wie Exekution eines Vietcong (1968) oder Napalm Girl (1972) explizit die Schrecken des Vietnamkriegs (1955–75) ins Bild setzen, dem Vorwurf ausgesetzt, die amerikanische »Heimatfront« zu demoralisieren.172 Auch wenn sich ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Stimmungswechsel der US-amerikanischen Bevölkerung in Bezug auf das Kriegsgeschehen in Vietnam aufgrund dieser Fotos nicht zweifelsfrei belegen lässt173 , so zeigen die Vorwürfe eines: Den Bildern wird eine große Wirkmacht zugesprochen. Wegen des möglicherweise durch Fotos induzierten Stimmungsumschwungs im Vietnamkrieg entstand der Wunsch die Kontrolle über die Bildproduktion, durch die geregelte Zusammenarbeit zwischen JournalistInnen und Militär bei zukünftigen Einsätzen, zurückzugewinnen.174 In den 1980er Jahren reagierten die USA mit einem Pool akkreditierter JournalistInnen, die gebündelt von den jeweiligen Kriegsschauplätzen berichten und ihre

170 Vgl.: Paul, Bilder des Krieges (2004): 63. 171 Ebd.: 80. 172 Katharina Veit und Christian Schäfer-Hock, Embedded Journalism (Eingebetteter Journalismus), in: Deutscher Fachjournalisten-Verband (Hg.), Journalistische Genres, Konstanz, München 2016, (153–166): 155. 173 Vgl.: Vowinckel, Agenten der Bilder (2016): 18. 174 Lars Klein spricht gar vom »Mythos Vietnam«, der dennoch dazu führte, dass die Arbeit der KriegsberichterstatterInnen in späteren Konflikten stärker reglementiert und eingeschränkt wurde. Vgl.: Lars Klein, Größter Erfolg und schwerstes Trauma: die folgenreiche Idee, Journalisten hätten den Vietnamkrieg beendet, in: Ute Daniel (Hg.), Augenzeugen, Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, (193–216): 212.

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Informationen im Nachhinein mit weiteren JournalistInnen teilen sollten.175 Dieses Poolsystem wurde erweitert und professionalisiert und mündete in den Embedded Journalism, der 2003 im Zuge der Mission Operation Iraqi Freedom von den USA und England eingeführt wurde und seither zum festen Bestandteil der Kriegsberichterstattung wurde.176 Die klar geregelte Zusammenarbeit zwischen FotoreporterInnen und dem Militär soll – so argumentieren BefürworterInnen des Embedded Journalism – einerseits Pressefreiheit und Zugang zur Front und andererseits den Schutz der SoldatInnen und JournalistInnen garantieren. Darüber hinaus könne das Embedding eine intime Darstellung der Lage vor Ort durch die Nähe der JournalistInnen zu den Truppen ermöglichen. Doch das System birgt auch erhebliche Nachteile für die unabhängige Berichterstattung.177 Aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit der eingebetteten JournalistInnen können ihre Berichte die militärischen Aktionen lediglich ausschnitthaft und perspektivisch kontrolliert dokumentieren. Fotografien und Berichte, die im Rahmen des Embeddings entstehen, unterliegen expliziten Auflagen, die in einem Leitvertrag (engl. Ground Rules) festgehalten werden.178 Wer sich nicht an die Regeln

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Der Department of Defense National Media Pool wird zwischen 1984 und 1989 in den USA ins Leben gerufen. Das System scheitert daran, dass es zu unflexibel ist und dem Bedarf an unabhängiger Berichterstattung durch Konzentration auf das journalistische Establishment nicht gerecht wird. Vgl.: Philipp Fraund, The Picture Survives, Dissertation Universität Konstanz 2009: 254–256. Zur Entwicklung des Embedded Journalism aus dem Poolsystem siehe: Veit und Schäfer-Hock, Embedded Journalism (2016): 155. Die US-amerikanische Forschung sieht den Beginn des eingebetteten Fotojournalismus bereits im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–65), in dem bis zu 500 Personen dieser beruflichen Riege angehörten. Vgl.: Veit und Schäfer-Hock, Embedded Journalism (2016): 154. Zu den Nachteilen des Embeddings gehören das »Stockholm-Syndrom« und der sogenannte »Soda-Straw«-Effekt. Das »Stockholm-Syndrom« bezeichnet das Phänomen des Sympathisierens der Geiseln mit den Geiselnehmern. Dieses lässt sich auch bei JournalistInnen in Bezug auf die Einheit beobachten, mit der sie eingebettet sind. Der »SodaStraw«-Effekt steht für beschränkte Sichtmöglichkeiten der eingebetteten JournalistInnen, die nur einen Bruchteil der gesamten Kampfeshandlungen einsehen können. Beides kann zu Verzerrungen in der Berichterstattung führen. Vgl.: Ebd.: 157ff. Das US-amerikanische Verteidigungsministeriums informiert darüber in einem Leitfaden zum Embedding. O. A., United States Department of Defense, Public Affairs Guidance (PAG) On Embedding Media DuringPossible Future Operations/Deployments in the U.S. CentralCommands (CENTCOM) Area of Responsibility (AOR) (2003), 19.01.2008, online: http s://www.hsdl.org/?abstract&did=802325, zugegriffen am 24.01.2023.

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hält, dem kann der Status als Embed aufgekündigt werden – auf Zeit oder sogar dauerhaft.179 Dies erfuhren auch Adam Broomberg und Oliver Chanarin, die bis 2021 als Künstlerduo in Berlin und London zusammengearbeitet haben.

3.5.2 Fotografische Abstraktion: The Day Nobody Died 2008 wurde den beiden Künstlern Broomberg und Chanarin gestattet, die britischen Truppen auf ihrem Einsatz in Afghanistan zu begleiten und das Geschehen im Kriegsgebiet fotografisch zu dokumentieren. Als Künstler, so möchte man meinen, wird ihnen eine freie Umsetzung dieser Aufgabe zugestanden. Broomberg und Chanarin ließen sich allerdings nicht als Künstler, sondern als Fotojournalisten einbetten. Daher mussten auch sie ein Dokument unterschreiben, das ihnen genau vorschrieb, was fotografiert werden darf und was nicht.180 Die Beiden hielten sich an diese Vorgaben. Trotzdem wurden sie nach kurzer Zeit zurück nach London geschickt – aber nicht, weil sie beispielsweise Fotos von verwundeten SoldatInnen gemacht und unautorisiert veröffentlicht hätten. Vielmehr mussten sie die Truppen verlassen, da ihre vor Ort entstandenen Arbeiten das Kriegsgeschehen nicht, zumindest nicht in erwartbarem Maße, zeigten. Zu ihrem Einsatz in der Provinz Helmand im Süden Afghanistans, die im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force, ISAF) von 2001 bis 2014 zum britischen Mandatsgebiet gehörte, brachten die beiden auch eine Digitalkamera mit. Die Bilder, die sie mit dieser festhalten, werden sie für ihre später in Museen und Galerien veröffentlichten Werke nicht nutzen. Allabendlich löschten sie die im Lauf des Tages entstandenen digitalen Bilder. Dem digitalen Bild ist seine Löschbarkeit quasi

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Von 2003–2004 wurden insgesamt drei eingebettete Journalisten gänzlich von ihren Einheiten ausgeschlossen. Gründe für »involuntary disembedding« werden in einer Studie von Richard K. Wright 2004 vorgelegt. Siehe: Richard K. Wright, Assessment of the DoD Embedded Media Program, Institute for Defense Analysis (IDA), Joint Advanced Warfighting Program, IDA-Paper P-3931, September 2004, online: https://www.ida.org/-/media/feature/publications/a/as/assessment-of-the-dodembedded-media-program/p-3931.ashx, zugegriffen am 24.01.2023: VI-28f. 180 Der Leitfaden des US-amerikanischen Verteidigungsministerium umfasst unter Punkt 4.G 19 Unterpunkte darüber, was an Information und Bildmaterial von den eingebetteten Medienschaffenden nicht weitergegeben werden darf. O. A., United States Department of Defense, Public Affairs Guidance (PAG) On Embedding Media DuringPossible Future Operations (2003): o. S.

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eingeschrieben. Laut Jens Schröter dient die Löschbarkeit »der Stabilisierung einer Negation in einem kommunikativen Prozess.«181 Als Operation sei sie für »Formen der Privatsphäre und mithin: der Freiheit« relevant.182 Insofern bietet die Option die Bilder zu löschen auch für Broomberg und Chanarin eine Möglichkeit ihre künstlerische Freiheit zu behaupten. In diesem Zusammenhang ist das Löschen als Negation in einem kommunikativen Prozess zu verstehen, das auch Aussagen über die Freiheit eingebetteter JournalistInnen zulässt. Das Löschen ist also ein Akt bewussten Nicht-Zeigens. Mit dem Ziel auf die problematischen Strukturen des Embeddings aufmerksam zu machen, reift der Entschluss, sich der Digitalkamera gänzlich zu verweigern und damit letztlich auch dem Auftrag, den Truppen- und Kriegsalltag in geforderter Weise zu dokumentieren. So entsteht die außergewöhnliche Arbeit The Day Nobody Died, die sich schließlich aus einem dokumentarischen Video und einer mehrteiligen Fotoserie zusammensetzt.183 Das Video zeigt die Reise eines Kartons im Konvoi der britischen Truppen, vom Studio der Künstler in London nach Afghanistan und zurück. Gleich einem »MacGuffin«184 wird die Box von der Kamera verfolgt. Selbst auf dem Gepäckband am Flughafen lässt die Kamera nicht ab, sondern ruckelt auf dem gleichen Band voran zur nächsten Etappe. Angekommen in Afghanistan, treten zwar mitunter SoldatInnen ins Bildfeld, dies allerdings lediglich, um den Karton von A nach B zu verlagern. Was mit dessen Inhalt passiert, verschweigt das Video. Es endet, quasi als Loop, dort, wo es begonnen

Jens Schröter, Löschbarkeit und Negation, in: Nowak (Hg.), Bild und Negativität (2019), (143–154): 153. 182 Ebd. 183 Das Video kann man auf dem Youtube-Kanal der Künstler einsehen: Adam Brooomberg und Oliver Chanarin, The Day Nobody Died, 2008, Video, 00:23:06, 18.05.2017, online: https://www.youtube.com/watch?v=HHLtElcCkZ8&t=585s, zugegriffen am 24.01.2023. 184 Den Begriff »MacGuffin« verwenden Broomberg und Chanarin im Gespräch über Konzeptuelle Photographie mit Richard West vom Source Foto Magazin. Richard West, What is Conceptual Photography? (part 3), Video, 00:16:53, 18.09.2012, online: https: //www.youtube.com/watch?v=9TvpxG9fLqo, zugegriffen am 24.01.2023. Der Begriff des »MacGuffin« wurde von Alfred Hitchcock geprägt und bezeichnet Objekte, die den Handlungsverlauf für die Figuren im Film vorantreiben. Vgl.: Hans Jürgen Wulff, MacGuffin, 13.10.2012, in: Ders. (Hg.), Universität Kiel, Lexikon der Filmbegriffe, online: ht tp://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=472, zugegriffen am 24.01.2023. 181

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hat: auf der Fahrt zurück vom Flughafen, mit Blick auf die Box im Kofferraum eines PKW. Der Karton wird somit zur Kapsel, die das in Afghanistan Geschehene bewahrt und nicht zeigt. Dabei wird die Elision – filmisch durch den Karton als Leerstelle erzeugt – bewusst als Strategie des Nicht-Zeigens eingesetzt. Tatsächlich beinhaltete der Karton im erwähnten Video eine Rolle Fotopapier der Marke Fuji (76,2 cm x 50 m; 13,5 kg). Mit Hilfe dieses Materials entstand eine Serie von acht abstrakten Fotos. Auch diese zum Werk gehörende Fotoserie, die aufgrund der Fokussierung auf Abstraktion als Strategie des NichtZeigens an dieser Stelle wichtiger ist als das Video, verweigert bewusst Eindeutigkeit in Bezug auf die Darstellung der Ereignisse. Die Bildtitel sprechen teilweise konkrete Situationen an: 1) The Brother’s Suicide, June 7; 2) The Fixer’s Execution, June 7; 3) The Day of One Hundred Dead, June 8; 4) The Duke of York, June 10; 5) The Day Nobody Died, June 10; 6) The Jail Break, June 12; 7) The Press Conference, June 9; 8) The Repatriation, June 16. Allerdings sieht man von alldem nichts. Zu sehen sind weder SoldatInnen im Einsatz in Afghanistan noch intime Aufnahmen der Lagersituation, die ja eigentlich durch das Embedding begünstigt werden sollen. Die Künstler spielen vielmehr mit der Behauptung der abbildenden Funktion ihrer Fotografien. Während ein Titel wie The Duke of York ein Portrait des Herzogs erwarten lässt, enttäuschen Titel wie der serienbestimmende Titel The Day Nobody Died oder The Day of One Hundred Dead alle Erwartungen auf konkrete Darstellungen. Hier drängt sich die 1931 von Walter Benjamin gestellte Frage auf: »Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden?«185 Broomberg und Chanarin scheinen dies mit ihrer Serie nicht bejahen zu wollen. Die Titel forcieren eher eine Enttäuschung der RezipientInnen bezüglich der nicht-gegenständlichen Bilder. Anders als Benjamin es vermutete, bleiben diese fotografischen Konstruktionen trotz der Beschriftung »im Ungefähren stecken«186 , denn die querformatigen Fotoarbeiten (je 76,2 x 600 cm) zeigen auf den ersten Blick gar nichts, respektive nichts als mehrfarbige abstrakte Farbverläufe (Abb. 32).

Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1977, (45–64): 64. 186 Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie (1977): 64.

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Abb. 32: The Late Estate of Broomberg and Chanarin, The Day Nobody Died, 2008, Installationsansicht Barbican Gallery 2008, C-print Mounted on Aluminium, 76,2 x 600 cm.

Die Bildränder sind fast durchweg dunkel angelaufen. Manche Bilder sind fast völlig schwarz, andere strahlen in hellem Weiß und in Pastelltönen. Die »Beleuchtungsfresken«187 des Künstlerduos weisen ein breites Farbspektrum auf. Die Farbgebung entsteht durch die Belichtung sensiblen Fotopapiers durch direktes Sonnenlicht, wobei die dunklen Stellen auf extreme Helligkeit zurückzuführen sind, während helle Stellen dem Licht weniger ausgesetzt wurden. Die Überbelichtung kann insoweit auch als eine Form der Löschung betrachtet werden. Anstatt während ihres Aufenthalts signifikante Ereignisse fotografisch zu dokumentieren, entrollten Adam Broomberg und Oliver Chanarin jeden Tag mindestens einen sechs Meter langen Abschnitt der Fotorolle und setzten ihn für je 20 Sekunden der Sonneneinstrahlung aus. Bei einem fotografischen Verfahren ohne Kamera, einem Luminogramm, wirkt das

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László Moholy-Nagy, Fotogramm und Grenzgebiete (1929), in: Krisztina Passuth (Hg.), Moholy-Nagy, Weingarten 1986, (323): 323.

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entweder natürliche oder künstliche Licht, direkt oder gebrochen, mit dem materiellen Träger des Fotopapiers und hinterlässt spezifische Lichtspuren. Dadurch, dass sich Broomberg und Chanarin in The Day Nobody Died auf die Grundelemente der Fotografie – Licht, Materie und Zeit – beschränken, weist ihre Arbeit Parallelen zu den Foto- und Luminogrammen László MoholyNagys und anderer Avantgardisten auf. Zum zentralen technischen Verfahren avancierte in Moholy-Nagys Arbeit das Fotogramm, bei dem die Kamera abstrahiert wird und Gegenstände unmittelbar auf sensiblem Papier ihre Abdrücke hinterlassen. Moholy-Nagy diagnostizierte 1928: »Fotografie ist Gestaltung des Lichtes«.188 Er behauptet: »[D]as wesentliche Werkzeug des fotografischen Verfahrens ist nicht die Kamera, sondern die lichtempfindliche Schicht«.189 Die abstrakte Fotografie tendiert in diesem speziellen Fall vom Abbildenden hin zum Objekthaften. Gottfried Jäger fasst in seiner Typologie abstrakter Fotografie das Luminogramm unter dem Punkt »Konkretisierung reiner Sichtbarkeit«:190 Fotografien dieser Art entstehen im freien kompositorischen Umgang mit dem fotoeigenen Material und dem Fotoprozess. Die Mittel werden zum Gegenstand, es entstehen autonome, sich aus ihren eigenen Verhältnissen heraus selbst erzeugende, auf sich selbst verweisende, selbstreferentielle autopoietische Bildstrukturen. Letztendlich sind es Spuren des Mediums, des Apparates: Lichtspuren, Materialspuren. Eingeführte Begriffe sind Konkrete, Konstruktive und Generative Fotografie. Sie realisieren sich im reinen Lichtbild, im Luminogramm, Chemigramm, Fotogramm.191 Auch in The Day Nobody Died drängt sich das Trägermaterial quasi in den Vordergrund, es zeigt sich und behauptet damit auch für die Fotografie die ikonische Differenz. In manchen Bildabschnitten ist eine Musterung sichtbar, die aufgrund des rückseitigen Logos des Fuji-Fotopapiers entsteht (Abb. 33). Hier äußert sich eine Eigenheit konkreter, abstrakter Fotografie: Sie präsentiert keine wiederholbaren Ergebnisse, sondern der Zufall, der bewusst zugelassen wird, fungiert bei dieser Technik als wirkmächtiger Bildgestalter.

188 László Moholy-Nagy, Fotografie ist Lichtgestaltung (1928), in: Krisztina Passuth (Hg.), Moholy-Nagy, Weingarten 1986, (319–322): 319. 189 Ebd. 190 Gottfried Jäger, Die Kunst der Abstrakten Fotografie, in: Ders. (Hg.), Die Kunst der Abstrakten Fotografie, Stuttgart 2002: 33. 191 Ebd.: 33f.

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Abb. 33: The Late Estate of Broomberg und Chanarin, The Day Nobody Died III, June 10 (detail), 2008, C-print Mounted on Aluminium, 76,2 x 600 cm.

Während bei frühen Vertretern abstrakter Fotografie, wie Alvin Langdon Coburn oder László Moholy-Nagy, konzeptuelle und fototheoretische Beweggründe für die Verwendung des beschriebenen Verfahrens ausschlaggebend waren, verfolgen Broomberg und Chanarin bildpolitische Absichten. Die Frage, die die beiden antreibt, formuliert Chanarin im Interview mit dem Journalisten Tom Seymour so: »What constitutes evidence is the only real question, the only thing that matters.«192 Fragen der Evidenz stellen sich insbesondere für Fotografien, da sie in einem indexikalischen Verhältnis zur Realität stehen. Allerdings spielen die beiden Künstler den indexikalischen Charakter der

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Tom Seymour, The Dodo Effect, Tom Seymour im Gespräch mit Adam Broomberg und Oliver Chanarin, in: British Journal of Photography, 9. Oktober 2014, online: https://www.bjp-online.com/2014/10/broomberg-chanarin-interview-the-dodoeffect/(gesehen am 19.10.2020): ohne Seiten.

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Fotografie gegen das Dokumentarische aus. In The Day Nobody Died wird nicht eine Kamera, sondern das sensible Fotopapier als Material selbst zum Zeugen: »The paper was there as a witness and therefore might be able to show more than the classical images of conflict would have shown.«193 Die zentralen Fragen in Bezug auf The Day Nobody Died lauten daher: Wie viel muss ein Bild zeigen um evident zu sein? Reichen Lichtspuren auf sensiblem Fotopapier an einem bestimmten Tag aus, um ein Ereignis zu evozieren? Dadurch, dass Broomberg und Chanarin die Lichtspuren und die Materialität des Luminogramms in den Vordergrund stellen, tritt etwas anderes in den Hintergrund: explizite Szenen des Krieges. Diese zeigen sie gerade nicht. Stattdessen präsentieren sie abstrakte Farbverläufe. Das NichtZeigen ist der abstrakten Fotografie inhärent und kann sogar als eine ihrer intrinsischen Eigenschaften bezeichnet werden.194 Jede Abstraktion bedeutet sowohl eine Abwendung von als auch eine Hinwendung zu.195 Ein Anderes tritt zum Vorschein – in diesem Fall die Spezifik des Luminogramms. Die dem Luminogramm inhärente Eigenschaft des Nicht-Zeigens wird explizit, wenn diese, wie im Fall von The Day Nobody Died, zum Anliegen der abstrakten Fotografie selbst wird196 – dann nämlich, wenn bildpolitische Intentionen und konzeptuell formalästhetische im künstlerischen Prozess ausgelotet werden. Wenn ein abstraktes Foto auf die Gemachtheit der Fotografie an sich verweist, kann es als ein »potentielles gegenständliches Foto« auftreten, denn es verhält sich, wie Lambert Wiesing prägnant bemerkt, »zum gegenständlichen Bild wie ein unvollständiger Teil zum Ganzen.«197 Jedes Luminogramm verweist also implizit auf mögliche gegenständliche Bilder, die sich – wohlgemerkt unter Hinzunahme einer Kamera – aber unter ansonsten gleichen Bedingungen, hätten realisieren lassen. Vielleicht entstanden ja auch an den Daten, die in den Titeln von The Day Nobody Died angegeben sind, digitale Fotos, die Broomberg und Chanarin dann abends wieder gelöscht haben. Adam Broomberg im Gespräch mit Ann-Christin Bertrand, Don’t Start with the Good Old Things but the Bad New Ones, in: Fromm, Greiff und Stemmler (Hg.), Images in Conflict/ Bilder im Konflikt (2018), (407–415): 411. 194 Vgl.: Lambert Wiesing, Abstrakte Fotografie: Denkmöglichkeiten, in: Jäger (Hg.), Die Kunst der Abstrakten Fotografie (2002), (73–101): 83. 195 Vgl.: Ebd. 196 Wenn Lambert Wiesing das Nicht-Zeigen als lediglich notwendige Eigenschaft der abstrakten Fotografie analysiert, dann scheint er dieses besondere Anliegen des NichtZeigens aus bildpolitischen Gründen nicht zu reflektieren. Vgl.: Ebd.: 83f. 197 Wiesing, Abstrakte Fotografie: Denkmöglichkeiten (2002): 85.

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3.5.3 Evozieren statt demonstrieren Als Mitglieder der Jury für den World Press Photo Award 2008, sind die beiden Künstler sehr oft mit der homogenen Ästhetik dokumentarischer Kriegsberichterstattung und Pressefotografie konfrontiert, die sie mit The Day Nobody Died bewusst konterkarieren.198 Preise wie dieser haben einen Modellcharakter. In dem Jahr der Jurymitgliedschaft von Broomberg und Chanarin wurde unter anderen auch die ungewöhnliche Fotografie Assassination of Benazir Bhutto, Rawalpindi, Pakistan, 27 December von John Moore ausgezeichnet (Abb. 34). Diese entstand im Augenblick der Bombendetonation beim Anschlag auf die ehemalige pakistanische Premierministerin Bhutto. Das Foto zeichnet sich durch die daraus resultierende Unschärfe aus. Die Qualität dieser Aufnahme besteht darin, dass sie im Grunde nichts explizit zeigt, aber durch ihre Gemachtheit auf den Kontext ihrer Entstehung verweist und daher als »Performativ des Realen« umso wirkmächtiger ist.199 Als ein solches kann auch The Day Nobody Died bezeichnet werden. Zurück in London boten Broomberg und Chanarin ihre Arbeit dem Chefredakteur des Guardians an.200 Dieser lehnte das Angebot ab, da er sich nicht ernst genommen fühlte.201 Das Material als Zeuge für die Geschehnisse vor Ort zu begreifen, überzeugt in einem solchen Kontext nicht. Für eine Zeitung, die sich der Berichterstattung tagesaktueller Ereignisse verpflichtet fühlt, sind diese Bilder unbrauchbar. Hierfür zeigen sie zu wenig. Zeitungen arbeiten mit illustrativen Bildern, die im Text-Bild-Verbund leicht lesbar sind und demonstrieren. Die Verbindung abstrakter Bilder mit Zeitungsartikeln 198 Broomberg und Chanarin sprechen im Video-Interview des Source Foto Magazin über konzeptuelle Fotografie (ab Minute 5:42) über ihre Erfahrungen als Jury Mitglieder und über den Eindruck der Homogenität der eingereichten Bilder. Richard West, What is Conceptual Photography? (part 3), Video, 00:16:53, 18.09.2012, online: https://www.you tube.com/watch?v=9TvpxG9fLqo, zugegriffen am 24.01.2023. 199 Bernd Stiegler, Fotografie und Bürgerkrieg, in: Felix Reer, Klaus Sachs-Hombach und Schamma Schahadat (Hg.), Krieg und Konflikt in den Medien, Multidisziplinäre Perspektiven auf mediale Kriegsdarstellungen und deren Wirkung, Köln 2015, (43–65): 53. 200 Chefredakteur des Guardian war von 1995–2015 Alan Charles Rusbridger. O. A., Alan Rusbridger, in: Wikipedia, die freie Enzyklopädie, 28.03.2018, online: https://de.wikipe dia.org/wiki/Alan_Rusbridger, zugegriffen am 24.01.2023. 201 Chanarin und Broomberg berichten von der Einreichung der Arbeiten beim Guardian im Video-Interview des Source Foto Magazin über konzeptuelle Fotografie (ab Minute 14:44). Richard West, What is Conceptual Photography? (part 3), Video, 16:53, 18.09.2012, online: https://www.youtube.com/watch?v=9TvpxG9fLqo, zugegriffen am 24.01.2023.

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zum Kriegsgeschehen bleibt der Bildenden Kunst vorbehalten. Wie das im Kunstkontext geht, hat Gerhard Richter mit seinem Künstlerbuch War Cut (2004) gezeigt.202 Der Unterschied zwischen Richters Malerei und den Luminogrammen von Broomberg und Chanarin besteht darin, dass im zweiten Fall die Abstraktion aus der Zeugenschaft des Materials vor Ort und nicht wie im ersten Fall durch den Farbauftrag des Künstlers entsteht. Die Genugtuung, die durch eine leichte Lesbarkeit entsteht, ermöglichen weder die Ausschnitte abstrakter Gemälde in Gerhard Richters Künstlerbuch noch die Luminogramme des Künstlerduos. ZeitungsleserInnen, die sich über ein Kriegsgeschehen informieren möchten, allerdings erwarten eindeutig lesbare Bilder.

Abb. 34: John Moore, Assassination of Benazir Bhutto, Rawalpindi, Pakistan, 27 December, 2007.

The Day Nobody Died wird in Museen und Galerien präsentiert und rezipiert. Als abstrakte Farbverläufe sind die Luminogramme deutungsoffen und auf den Blick von FlaneurInnen gefasst. Allerdings verzichten die Künstler nicht darauf, das eigentliche Thema Krieg und die Umstände der eingebetteten Kriegsberichterstattung zu evozieren. Dieser Aspekt ihrer Arbeit tritt indes erst in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel 202 Gerhard Richter, War Cut (2004), Köln 2012. Siehe dazu auch: Michael Diers, War Cuts, Über das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Pressefotografie, in: Hartwig Fischer (Hg.), Covering the Real, Kunst und Pressebild, von Warhol bis Tillmans, Ausst.-Kat., Köln 2005, (36–45): 43.

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von Luminogrammen, Video und Bildtiteln in den Vordergrund. Dabei regen gerade die Strategien des Nicht-Zeigens dazu an aktiv zu werden. Da die abstrakten Luminogramme, anders als explizite Bilder des Schreckens, kein Abwenden des Blicks evozieren, fordern sie zum Nähertreten und zur Reflexion auf. Obgleich die Bilder keine gegenständlichen Darstellungen des Kriegsgeschehens zeigen, wird klar, dass diese abstrakten Bilder nicht nur auf sich selbst, sondern über sich hinaus auf implizite Bilder verweisen. Die Möglichkeit der Evokation impliziter, nicht gezeigter Bilder in The Day Nobody Died wird durch die Rezeptionssituation in einer Ausstellung noch zusätzlich begünstigt. Besonders dann, wenn die Arbeit in thematischen Ausstellungen mit politischem Bezug präsentiert wird, wie beispielsweise in der Ausstellung »Conflict, Time, Photography«, die in der TATE Modern vom 26. November 2014 bis 15. März 2015 in London und später im Museum Folkwang, Essen und in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu sehen war. Der Titel »Conflict, Time, Photography« fungiert als Rahmen, der die gezeigten Arbeiten bereits kontextualisiert und eine spezifische Lesart anregt. Das Konzept der Ausstellung setzt die Fotografien mit der Zeit, die zwischen ihrer Entstehung und dem thematisierten Konflikt oder Ereignis liegt, in Beziehung. Die Zeit, der Begriff in der Mitte des Titels, verbindet zwei andere Dimensionen: Fotografie und Konflikt. The Day Nobody Died wird gemeinsam mit Don McCullins bekannter Fotografie Shell-shocked US Marine (1968) aus dem Vietnamkrieg in der Rubrik »moments later« gezeigt. Für die BesucherInnen der Ausstellung ist auch diese Rubrik ein Hinweis auf den Entstehungskontext der abstrakten Farbverläufe, die Broomberg und Chanarin in Afghanistan produziert haben. Doch auch hier greift die Verweigerung, mit der die ZeitungsleserInnen des Guardian konfrontiert gewesen wären, wäre The Day Nobody Died dort abgedruckt worden: Die Künstler verweigern den BesucherInnen der Ausstellung einen voyeuristischen Blick auf das, was in den »moments later« geschehen ist und fordern stattdessen eine aktive BesucherInnenrolle ein. Laura Cumming ignoriert The Day Nobody Died in ihrer Rezension der Ausstellung im Guardian und moniert die Abwesenheit von Bildern von Menschen in der Ausstellung.203 Die Analyse der Arbeit von Broomberg und Chanarin

203 Im Untertitel formuliert es Cumming so: »A huge survey of the ways photographers have conveyed the aftermath of conflict is astonishingly short of images of people.« Laura Cumming, Conflict, Time, Photography review – emptiness, ruin and absence, The Guardian, 30. November 2014, online: https://www.theguardian.com/artanddesign/2014/nov/30/c

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legt aber nahe, dass sie die Abstraktion als eine Strategie des Nicht-Zeigens nutzen, um so implizite Bilder von Menschen im Kopf der BesucherInnen zu evozieren, die in diesem Krieg involviert waren. Der Titel The Day Nobody Died verweist auf alle, die in diesem Krieg gestorben sind.

3.6 Fiktion als Strategie des Nicht-Zeigens 3.6.1 Tote Soldaten, die sprechen… »Dead Troops Talk«, tote Soldaten sprechen. Dies zumindest behauptet der Titel der wohl bekanntesten Fotoarbeit des kanadischen Künstlers Jeff Wall Dead Troops Talk (A vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986) (1992) (siehe bereits Abb. 11). Sie zeigt den blutigen Nebenschauplatz einer kriegerischen Auseinandersetzung in Afghanistan, das in Folge der Invasion der sowjetischen Truppen im Winter 1979 zum »wichtigsten Schlachtfeld des Kalten Krieges« wurde.204 In einer blutverschmierten, kargen und steinigen Mulde befinden sich 16 Personen, von denen 13 aufgrund ihrer einheitlichen Uniform als gefallene Soldaten einer russischen Einheit identifizierbar sind. In Gruppen von zwei bis drei Leichen kauern die toten Männer am Boden, ihre Körper sind vom Kampf gezeichnet. Manche haben ihre Gliedmaßen im Gefecht verloren. Aus einem Stiefel ragt der blutige Stumpf eines abgerissenen Fußes, Habseligkeiten und verschiedene Utensilien liegen verstreut herum. Eine einzelne links in der Bildmitte situierte Person, hebt sich durch ihre Tarnkleidung – weißes Hemd und sandfarbene Hose und Weste – von den uniformierten Soldaten ab. Dieser junge Kämpfer, vielleicht ein »afghanischer Plünderer«205 , macht sich teilnahmslos an einem Beutel seiner Gegner zu schaffen. Am oberen rechten Bildrand sind bis auf Hüfthöhe zwei weitere Beinpaare möglicher Komplizen des afghanischen Widerstands der Mudja-

onflict-time-photography-review-tate-modern-emptiness-ruin-absence, zugegriffen am 24.01.2023. 204 Conrad Schetter, Afghanistan im 19. Und 20. Jahrhundert, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 12.06.2012, online: https://www.bpb.de/internationales/asien/afghanis tan/138381/afghanistan-im-19-und-20-jahrhundert, zugegriffen am 09.07.2021. 205 Dies vermutend Sontag (2010), Das Leiden anderer betrachten (2003): 146.

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heddin erkennbar.206 Zu ihren Füßen liegen die zusammengeklaubten Waffen der aus dem Hinterhalt überraschten russischen Truppe. Ignorierte man die schockierende Kuriosität der restlichen Szene, könnte man diese Fotoarbeit als dokumentarische Darstellung von Siegern und Besiegten klassifizieren. Richtet man den Blick allerdings genauer auf die zentrale kleine Erhöhung, ungefähr in der Mitte des Fotos, sieht man drei der toten Soldaten in einer befremdlich anmutenden Interaktion (Abb. 35): Der linke Soldat sitzt rittlings auf dem Rücken seines Kameraden und packt ihn am Schopf, während er mit der rechten Hand seine klaffende Bauchwunde befühlt, gleichsam auf sie hinweisend. Ein Dritter wedelt mit einem Fleischfetzen vor den Augen des Liegenden, dem dieser mit gefalteten Händen entgegenlechzt.

Abb. 35: Jeff Wall, Dead Troops Talk (a vision after an ambush of a Red Army Patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986), 1992, (Detail), Großbilddia in Leuchtkasten, 229 x 417 cm, Edition 2 + 1 AP.

206 Laut Conrad Schetter fand die Formierung des afghanischen Widerstands um religiöse Führer statt. Der Begriff Mudjaheddin bezieht sich auf den von ihnen ausgerufenen »Heiligen Krieg« und bedeutet genauer, »die, die den heiligen Krieg ausüben«. Conrad Schetter, 1989: Sowjetischer Abzug aus Afghanistan, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 13.02.2014, online: https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/178868/198 9-sowjetischer-abzug-aus-afghanistan-13-02-2014, zugegriffen am 24.01.2023.

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Etwas weiter rechts im Bild reckt ein Kamerad den Kopf in Richtung der Szene und schaut – so will es fast scheinen – amüsiert zu. Der Kampf ums Überleben scheint sich im Reich der Untoten in grotesker Weise fortzusetzen. Die durch ihre letalen Verwundungen eindeutig als Tote gekennzeichneten Soldaten erscheinen durch die groteske Inszenierung weder als tot noch als lebendig – sie sind untot; Zombies nennt man solche reanimierten Toten in Anlehnung an haïtianische Praktiken.207 Allerdings scheint von den Zombies im Bild, anders als von Zombies in Horrorfilmen, keine Ansteckungsgefahr mehr auszugehen. Dafür spricht, dass keiner der Untoten aus dem Bild zu den Betrachtenden blickt. Ihre Kommunikation bleibt selbstbezogen; Sie wird innerbildlich ausgehandelt und regt gerade dadurch zum Nachdenken an. Worüber mögen sich die untoten Soldaten unterhalten? Die Reaktionen der Soldaten auf ihr Schicksal sind sehr heterogen – Wall setzt eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten auf das Grauen zu reagieren in Szene.208 Am linken Bildrand starrt ein Soldat mit einem zum Schrei aufgerissenen Mund entsetzt in seine krampfartig angespannte Hand. Sein Nebenmann hat den Kopf melancholisch in die Hand gelegt und dämmert ungläubig vor sich hin. Rechts im Vordergrund blickt ein schwer verwundeter Gefährte mit geöffneter Schädeldecke fragend in Richtung eines liegenden Soldaten, der aufgrund seines fortgeschrittenen Alters der Befehlshaber sein mag.209 Eine Antwort bleibt aber auch dieser schuldig; den Finger an seine Schläfe gelegt, sinniert er in skurriler Denkerpose. Was er denkt bleibt offen. Obwohl die Kommunikation der russischen Soldaten-Zombies wichtig ist, bleibt was gesprochen wird ungewiss. Wie im Gedicht eines Unbekannten aus dem 19. Jahrhundert sind Walls Protagonisten vielmehr, oxymorisch ausgedrückt, »schweigend ins Gespräch vertieft.«210 Erst nach ihrem Ableben wird den Soldaten Gehör geschenkt und doch bleiben ihre Worte paradoxerweise ungehört. Die unmögliche Aufgabe der Wiedergabe des Grauenhaften ist 207 Als »Sowjet-Zombies« bezeichnet sie Terry Atkinson. Terry Atkinson, Dead Troops Talk, in: Martin Schwander, Declan McGonagle und Zdenek Felix (Hg.), Jeff Wall, Dead Troops Talk, Ausst.-Kat., Luzern 1993, (9–27): 13. 208 Vgl.: Michael Newman (Hg.), Jeff Wall, Works and Collected Writings, Barcelona 2007: 156. 209 Vgl.: Craig Burnett, Jeff Wall im Interview mit Craig Burnett, in: Ders. (Hg.), Jeff Wall, London 2005: 62, 63. 210 N. N., Finster war’s, der Mond schien helle (Nr. 270 und Nr. 271), in: Oskar Dähnhardt (Hg.), Volksthümliches aus dem Königreich Sachsen, auf der Thomasschule gesammelt von Oskar Dähnhardt, Erstes Heft, Leipzig 1898: 58.

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einem stummen Bild übertragen und damit ist die Imagination der RezipientInnen gefordert. Sie sollen versuchen, das Unsagbare zu hören. Sie sollen in einen Dialog treten, der eigentlich unmöglich ist. Wie bei Walls Arbeit Stereo wird durch den Titel der Arbeit etwas evoziert, das gerade nicht verbildlicht werden kann – im Falle von Stereo war es die Musik. Schon auf dieser Ebene scheint eine Dimension des Nicht-Zeigens in der Arbeit von Jeff Wall auf.

3.6.2 Fantastischer Realismus Schon die absurde Kommunikation untoter Soldaten verweist auf den fiktionalen Status von Dead Troops Talk. Dieser steht im Widerspruch zu dem Realitätsbezug, der durch die Akribie einer realistischen Wiedergabe von Kriegsschauplätzen bezweckt wird. Wall meint aber: »I can’t draw a sharp distinction between […] the factual and the fantastic, and by extension between the documentary and the imaginary. ›Cinematography‹ is my way of working on this.«211 Walls Werk gliedert sich in zwei Werkgruppen: dokumentarische und cinematografische Fotografie. Während die erste Kategorie seit der Erfindung der Fotografie mit dieser in Verbindung gebracht wird, mag man über die zweite Kategorie erst einmal stolpern. Wie soll man Walls Begriff »cinematografische Fotografie« verstehen? Die Kategorie wird im Catalogue Raisonné (2005) ex negativo, nämlich im Unterschied zur dokumentarischen Fotografie definiert: Als dokumentarisch werden jene Fotografien bezeichnet, bei denen der Künstler den Ort und die Zeit der Aufnahme auswählt, ohne aber irgendeinen Eingriff am Ort oder an der Situation vorzunehmen. Cinematografisch heissen die Fotografien, bei denen der Gegenstand des Bildes für die Aufnahme in irgendeiner Weise vorbereitet wurde. Dazu gehören minimale Eingriffe oder vollständige Konstruktionen eines Sets, die Herstellung von Kostümen oder anderen Objekten, usf.212 Dead Troops Talk ist als Inszenierung der Kategorie der cinematografischen Fotografie zuzuordnen. Wall fotografiert inszenierte Szenen, für die er Mittel und Techniken aus dem Filmbereich einsetzt. Er arbeitet mit DarstellerInnen und benutzt »Methoden und Geräte, die von Kameraleuten erfunden, gebaut

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Wall nach Burnett. Burnett, Jeff Wall (2005): 52f. Theodora Vischer und Heidi Naef (Hg.), Jeff Wall, Catalogue Raisonné, 1978–2004, Göttingen 2005: 273.

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und improvisiert« wurden.213 Der filmischen Produktionsweise, so erklärt Wall, habe er auch die Offenheit für verschiedene Themen, Methoden und Stile entlehnt.214 Diese Offenheit allerdings, musste sich Wall erst einmal erarbeiten. In den 1970er Jahren wendete sich Wall von einer auf die Indexikalität der Fotografie fokussierenden Theorie und Praxis ab. Durch die inszenierten Fotografien von Jeff Wall oder Cindy Sherman mussten sich die Parameter verändern, unter denen Fotografien bis dahin betrachtet wurden.215 Eines von Shermans Untitled Film Stills verweist ebenso wenig auf einen tatsächlich gedrehten Film, wie Walls Fotografien auf ein diegetisches Vorher-Nachher einer im Bild festgehaltenen Handlung.216 Valérie Hammerbacher bemerkt in ihrer Dissertation über Jeff Walls Bildstrategien, dass »der Dokumentcharakter« von Fotos »durch die Inszenierung überschritten« wird.217 Wall setzt die Fotografie in Dead Troops Talk zur Schöpfung einer fiktiven Welt ein, in der untote Soldaten sprechen können.218 Die Fiktionalisierung eröffnet viele Möglichkeiten der Inszenierung und ermöglicht den Einsatz unterschiedlichster Gestaltungsmittel. In der folgenden Analyse von Dead Troops Talk werden vier Kategorien unterschieden: a) Inszenierung vor der Kamera und durch den Titel; b) Inszenierung mit der Kamera und dem Computer; c) Inszenierte Vorbilder: Historienmalerei und Kriegsfotografie; d) Inszenierung des fotografischen Bildes als Bild.219 Wie zu zeigen sein wird, eröffnet die so geschaffene Fiktion die Möglichkeit des Nicht-Zeigens. Jeff Wall, Frames of Reference (Bezugsrahmen), in: Vischer und Naef (Hg.), Jeff Wall (2005), (446–450): 449. 214 Vgl.: Wall, Frames of Reference (2005): 449. 215 Vgl.: Valérie Hammerbacher, Jenseits der Fotografie, Arrangement, Tableau und Schilderung – Bildstrategien in den Arbeiten von Jeff Wall, Weimar 2010: 78. 216 Allein die Konvention des Sehens von Fotografien impliziert, dass wir es mit einem realen Ausschnitt aus einem vermeintlichen raum-zeitlichen Kontinuum zu tun haben. Vgl.: Lars Blunck, Fotografische Wirklichkeiten, in: Ders. (Hg.), Die fotografische Wirklichkeit, Inszenierung, Fiktion, Narration, Bielefeld 2010, (9–36): 34. 217 Hammerbacher, Jenseits der Fotografie (2010): 79. 218 Lars Blunck hebt hervor, dass Fotografie und Fiktion nicht ontologisch verknüpft seien, vielmehr resultiere die Fiktion aus einem »spezifischen Modus der Bildpragmatik, welche durch das Bild und/oder seinen Kontext inspiriert ist.« Blunck, Fotografische Wirklichkeiten (2010): 28. 219 Ähnlich formuliert Matthias Weiss mit der Inszenierung vor der Kamera, der Inszenierung mit der Kamera, der Beachtung ikonographischer Konventionen (z.B. Bildzitate) und der Inszenierung des fotografischen Bildes als Bild vier Aspekte inszenierter Fotografie. Diese bilden die Grundlage für die hier vorgenommene Erweiterung. Vgl.: Mat-

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a) Inszenierung vor der Kamera und durch den Titel Walls Inszenierung vor der Kamera bezieht sich gleichermaßen auf die diegetische Welt im Bild und die extradiegetische vor-fotografische Welt, die Produktionsebene. Dead Troops Talk entstand, wie viele der Arbeiten von ihm, in einem Studio (Abb. 36), »in einem provisorischen Atelier in Burnaby, British Columbia.«220 Um die Bühnenarchitektur für die Szene zu entwickeln, kreierte Wall zahlreiche Modelle und Skizzen. Auf Produktionsebene werden im Catalogue Raisonné sieben Mitwirkende genannt, darunter je zwei Assistenten und Set-Konstrukteure, eine Kostümbildnerin, außerdem je ein Verantwortlicher für Prothetik/Makeup sowie für die digitale Bildbearbeitung. Hinzu kommen noch die Darsteller der toten Soldaten. Allerdings bewahrt auch die Inszenierung vor der Kamera auf vielfältige Weise den faktualen, registrierenden Aspekt der Fotografie, indem sie ihn fruchtbar für das Entwerfen »fiktiver Wirklichkeiten« macht.221 Jens Schröter fasst es so: »Gerade weil die Fotografie ein besonderes indexikalisches Potential besitzt, kann man sie zur Konstruktion elaborierter Fiktionen einsetzen.«222

Abb. 36: Jeff Wall, Dead Troops Talk, Set (1991/92), Foto: Roy Arden.

thias Weiss, Was ist >inszenierte Fotografie