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German Pages 434 Year 2015
Thomas Müller Imaginierter Westen
H i s t o i r e | Band 8
2009-03-23 11-23-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9205705982336|(S.
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Für Alfred Schobert und Dr. Hermann-Josef Diepers und, wie sie, für eine Gesellschaft frei von der Gewalt der Grenzen
Thomas Müller, Politikwissenschaftler, war Geschäftsführer des Interdisziplinären Forums Technik und Gesellschaft der RWTH und koordiniert das kulturhistorische Projekt »Route Charlemagne« der Stadt Aachen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, Nationalismus und Raumkonzepte.
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Thomas Müller Imaginierter Westen. Das Konzept des »deutschen Westraums« im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus
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© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Der Umschlag des vorliegenden Bandes zeigt eine Visualisierung der nationalsozialistischen Konzeption einer Einheit der Stromgebiete von Rhein, Maas und Schelde. Sie setzt den »Westraum« mit den Stromgebieten gleich und suggeriert ein »organisches« Gefüge von Flüssen, Orten und Einzugsgebieten, in dem die staatlichen Grenzen suspendiert sind. Die Karte entstammt dem 1941 von Friedrich Heiß herausgegebenen Sammelband »Deutschland und der Westraum«. Lektorat & Satz: Thomas Müller Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1112-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Einleitung Grenze, „Grenzland“ und Grenzlandpolitik: Die Transformation der Peripherie „Westmark – Westland – Westraum“: Die transformierte Westgrenze Der „Westraum“ als Gegenstand der Forschung Konzeptgeschichte und Diskursgemeinschaften: Zur Methodik Gliederung und Quellen
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Die „westliche Grenzfrage“ im 19. Jahrhundert Die neuen Grenzen Das Konzept der Volkstumsgrenze: Fichte, Arndt und Jahn Temporäre Radikalisierung: Menzel und die Rheinkrise Die Linearisierung der Sprachgrenze: Boeckh und die Sprachstatistik Die Entlinearisierung der Grenzlandschaften: Riehls ethnographisches Konzept Grenzpolitischer Pragmatismus und demographisches Kalkül: Treitschke Erstes Zwischenfazit
64 68 73 79 92 100 103
Das Konzept der Politischen Geographie Friedrich Ratzel im Kontext der Geographie des 19. Jahrhunderts „Peripherisches Organ“ und „organische Grenze“ Die Grenze als linearisierte Grenzwüstung Die Binnenstruktur des Grenzsaums Ratzels Konzept der Westgrenze
107 113 116 119 122
Die „Westmark“ der Alldeutschen Anfänge einer völkischen Grenzlandpolitik an der Westgrenze „Marken“ und „Militärgrenzen“ „Westmark“-Entwürfe“ und Kriegsfiktionen vor 1914 Die „Westmark“ als Kriegsziel im Ersten Weltkrieg Übergänge in die Nachkriegszeit Zweites Zwischenfazit
126 135 141 153 171 177
Das Konzept der Geopolitik Karl Haushofer und die Neujustierung der Politischen Geographie Der „Grenzkörper“ als Ort der Gewalt und Manifestation der Rasse Die Westfront als prototypische Grenze des 20. Jahrhunderts Die fünf Grenztypen und das Prinzip der Prekarität Die Grenze als Übergangsraum in das „Dritte Reich“ Das geopolitische Konzept der Westgrenze
181 194 197 200 204 208
Das jungkonservative „Westland“ Die negative Transformation der Westgrenze „Grenzland“ als Grundbegriff jungkonservativer Ideologie Die Diskursgemeinschaft „Deutsche Schutzbund“ Die Institutionalisierung des „Grenzlandes“ Der panoptische Raum und die „deutschen Westlande“ Die Diskursgemeinschaft „Jugendgrenzlandarbeit“ Die Zeitschrift „Volk und Reich“ als Kristallisationspunkt des radikalen Grenzlandaktivismus Das „Westland“ als Grenzraum Mitteleuropas Das „Westland“ als kartographische Suggestion Die „Bastionen“ des „Westlandes“: Schweiz und Flandern Das Energiezentrum des „Westlandes“: die Ruhr Die Regionen der Flanke Der operationalisierte „Westraum“ Der Ispert-Kreis als exemplarischer Akteur zwischen „Jugendgrenzlandarbeit“ und Nationalsozialismus Formierungsstrategien des „Westraumes“
219 227 235 235 241 252 252 264 268 274 284 287 296 296 304
Die neue Semantik des „Westraumes“ Die transformierte Westgrenze Der „Westraum“ im Spiegel der Volk und Reich-Publizistik Die Verkleinerung Frankreichs Das neue Arrangement der Regionen und die Semantik des Verbindenden Die antienglische Umcodierung „Westraum“, „Ostraum“ und „Neues Europa“
323 328 338 349 356 360
Fazit
368
Abkürzungen Varianten nichtdeutscher geographischer Bezeichnungen Archivquellen Literatur Dank
379 380 382 383 430
ABBILDUNGEN Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14
Grenzraum nach dem Divergenzmodell Grenzraum nach dem Diffusionsmodell Grenzraum nach dem Repräsentationsmodell Grenzraum nach dem Organismusmodell Grenzraum nach dem Formierungsmodell Karteibeilage der Kriegsziel-Denkschrift von Heinrich Claß, September 1914 Politisch-geographische „Skizze von Mitteleuropa und seinen Grenzmarken“ von Gustav Braun, 1917 Geopolitische Skizze des „Arelatisch-Lotharingischen Grenzsaums“ nach Johannes Wütschke, 1924 Historische Karte „Die Rheinlande im Jahre 925“ nach IGL Bonn, 1925 Suggestivkarte „Der Kampfplatz – das Stromgebiet des Rheins“ von Karl Linnebach, 1926 Suggestivkarten Arnold Hillen Ziegfelds in Volk und Reich, 1927 Suggestivkarte „Nordwesteuropa“ von Arnold Hillen Ziegfeld, 1927 Der „west-mitteleuropäische Grenzraum“ nach Walter Geisler, 1937 Suggestivkarte „Englands Raumbildung an den Küsten der Nordsee“, 1941
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EINLEITUNG Die vorliegende Untersuchung behandelt einen Schlüsselbegriff völkischer Westpolitik und Westforschung im Zeitalter der beiden Weltkriege. Dieser Schlüsselbegriff lautet ‚Westraum‘ oder auch ‚Westland‘ und ‚Westmark‘. Bereits die Termini selbst lassen es evident erscheinen, dass wir es mit einem komplementären Raumkonstrukt zum ‚Ostraum‘ oder ‚Ostland‘ zu tun haben, jenem ‚Raum‘ also, der wie kein anderer für die nationalsozialistische Expansions-, Bevölkerungs- und Vernichtungspolitik steht. Allein dies rechtfertigt es, den Begriff ‚Westraum‘ nicht als ein epipherisches Element des westpolitischen Diskurses und der westpolitischen Forschung, sondern als eine ihrer Schlüsselkategorien zu begreifen.1 Diese Schlüsselfunktion bestand, so meine Hypothese, darin, dass er keine aktuell oder historisch reale Region bezeichnete, sondern gleichsam eine abstrakte Ebene über das historische und geographische Gefüge deutscher und nichtdeutscher sowie deutschsprachiger und nichtdeutschsprachiger Regionen beiderseits der deutschen Westgrenze legte und es auf diese Weise überhaupt erst ermöglichte, so unterschiedliche Regionen wie die preußische Rheinprovinz und die Franche Comté, das rheinisch-westfälische Industriegebiet und die Schweiz oder die Niederlande und die französische Lorraine aufeinander zu beziehen und ungeachtet der staatlichen, politischen, sozialen und sprachlichen Divergenzen in eine neue Raum-Ordnung zu integrieren. Diese Integration bedurfte eines Raumkonzepts der mittleren Maßstabsebene zwischen der Mikroebene der unmittelbaren Orte und Regionen und der Makroebene des Staates und der Nation. Ein solches Konzept ließ sich, so scheint mir, aus dem völkischen Diskurs des 19. Jahrhunderts über den Umfang der Nation, den idealen Verlauf der Westgrenze, die Bedeutung der Sprachgrenze und das Verhältnis der Deutschen zu ihren westlichen Nachbarn nicht ohne weiteres ableiten. Es bedurfte vielmehr einer bestimmten Vorstellung von Räumlichkeit und räumlicher Begrenzung, die sich ausgehend von der Politischen Geographie des späten 19. Jahrhunderts rasch entfaltete und der zufolge Grenzen grundsätzlich keine Linien, sondern Räume des Wachstums und des Konflikts divergierender ‚Staats-‘ oder ‚Volkskörper‘ waren. Der ‚Westraum‘ begegnet uns, so abstrakt er auch ist, als Konkretisierung dieses allgemeinen ‚Grenzraum‘-Kon1
In der bisherigen Erforschung der völkisch-nationalen „Westforschung“ stehen Organisationen, Personen, Netzwerke oder einzelne Regionen, Länder oder Ländergruppen im Vordergrund. Dies führt, wie Peter Schöttler in seiner Kritik des Sammelwerks Griff nach dem Westen darlegt, mitunter zu erheblichen Verzerrungen der Forschungsperspektive. Er plädiert daher für eine Herausarbeitung der Hauptlinien der „Westforschung“. Vgl. Schöttler, Peter: Rezension zu: Dietz, Burkhard/Gabel, Helmut/Tiedau, Ulrich (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die ‚Westforschung‘ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960). Münster 2003, in: H-Soz-u-Kult, 12.05.2003, (im Folgenden zitiert als: Schöttler, Rezension Griff nach dem Westen).
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zepts; wir können ihn als die zum ‚Grenzraum‘ transformierte Westgrenze des Deutschen Reiches verstehen. Ich möchte, bevor ich auf den ‚Westraum‘ zu sprechen komme, daher zunächst das abstrakte politische Konzept des ‚Grenzlandes‘ skizzieren.
G r e n z e , „ G r e n z l a n d “ u n d G r e n z l a n d p o l i ti k : D i e T r an s f o r m at i o n d e r P e r i p he r i e Wenn ich mich dem ‚Westraum‘ auf dem Umweg über die Grenze nähere, so sind damit weniger die geographisch markierten und rechtlich fixierten Grenzlinien des 1871 im Schloss von Versailles konstituierten deutschen Nationalstaates gemeint.2 Es soll vielmehr um ein politisches Konzept gehen, das in einer spezifischen Weise mit dem völkischen Nationsentwurf der Politischen Romantik verknüpft war und das sich insofern von den Konzepten unterschied, die andere europäische Nationalstaaten von ihren territorialen Peripherien besaßen.3 Ausgangspunkt dieser konzeptuellen Diskrepanz ist das Verständnis der deutschen Nation als ontologischer Einheit von Volkstum und Landschaft,4 welche unabhängig von der aktuellen rechtlichen Form und geographischen Größe des Staates bestehe und daher immer auch über eine eigene, keineswegs mit der Staatsgrenze identische Grenze verfüge. Auf der Grundlage dieses Entwurfs haben wir es daher a priori mit Grenzen im Plural zu tun, zwischen denen sich zwangsläufig ein Raum auftut, der weder ganz Inland noch ganz Ausland ist. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch andere Nationalstaaten Vorstellungen von Grenzräumen zwischen ihrer rechtlich geltenden und einer anderen, als besser betrachteten Grenzlinie entwickelten. Im Unterschied zur deutschen Vorstellung resultierte eine solche Verräumlichung der Grenze jedoch nicht aus einer konzeptuellen, dem Nationsmodell selbst eingeschriebenen Divergenz zwischen dem Raum des Staats und dem des Volkes. Sprachen andere Staaten ihrer Grenze räumliche Eigenschaften zu, etwa als Kontrollzone, Irredenta, Kondominat oder Glacis, so resultierte dies in aller Regel aus polizeilichen Erwägungen, politischen oder kulturellen Konflikten, zwischenstaatlichem Dissens über den genauen Grenzverlauf oder militärstrategischem Kalkül. In Deutschland hingegen erfuhr die Grenze eine viel grundlegendere Transformation, in deren Verlauf die Grenzlinie in einen Grenz-Raum oder ein Grenz-Land aufging und, mehr noch, dieser Raum selbst als Grenze imaginiert wurde. Der ‚Grenzraum‘ bildete ein in 2
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Zur Geschichte der deutschen Westgrenze vgl. Mieck, Ilja: Deutschlands Westgrenze, in: Demandt, Alexander (Hrsg.): Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 1990, S. 191-233, insbes. S. 216-220; Roth, Francois: La frontiere franco-allemande 1871-1918, in: Haubrichs, Wolfgang/Schneider, Reinhard: Grenzen und Grenzregionen. Frontiéres et régions frontalières. Borders and Border Regions, Saarbrücken 1993, S. 131-145 (im Folgenden zitiert als: Haubrichs u.a. [Hrsg.], Grenzen und Grenzregionen). Vgl. hierzu die vergleichende Analyse deutscher und französischer Grenz-Begriffe bei Schmale, Wolfgang: „Grenze“ in der deutschen und französischen Frühneuzeit, in: Schmale, Wolfgang/Stauber, Reinhard (Hrsg.): Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 50-75. Vgl. Mosse, Georg L.: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 1991, S. 24ff (im Folgenden zitiert als: Mosse, Die völkische Revolution).
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dieser Form einzigartiges Raumkonzept, das die territoriale Fixiertheit nationalstaatlicher Macht – und mit ihr die Souveränität der Nachbarstaaten – konterkarierte und an ihrer Stelle ein neuartiges Feld politischen Denkens und Handelns konstituierte: die ‚Grenzlandpolitik‘. Diese Transformation der Grenze in einen Raum stand in keiner unmittelbaren Kontinuität zu den räumlichen Organisationsformen der Peripherie des mittelalterlichen Reiches, den Marken. Wenngleich im deutschen Diskurs immer wieder auf die Grenzmarken des karolingischen Reiches oder die Markgrafschaften des Heiligen Römischen Reiches verwiesen wurde, aus welchen sich nach Hans F. Helmolt seit dem 12. Jahrhundert allmählich lineare Grenzen herausgebildet hätten,5 so stellten diese Gebilde mit ihren politischen, sozialen, rechtlichen und militärischen Sonderformen keine aktuelle Erfahrung mehr dar, an die sich hätte anknüpfen lassen. Eine Ausnahme bildete allein die so genannte Militärgrenze im Südosten des Heiligen Römischen Reiches, die angesichts der osmanischen Expansion ab 1535 sukzessive entstanden und nach zahlreichen Modifikationen erst 1881 endgültig aufgelöst worden war.6 Die Militärgrenze mit ihrer Sozialform des Wehrbauerntums bildete gleichsam eine Brücke zwischen den mittelalterlichen Marken und den ‚Grenzraum‘-Konzepten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wir werden sehen, wie diese Brücke zuerst von Akteuren des Alldeutschen Verbandes, später dann von Vertretern der Kriegszielbewegung und der Geopolitik begangen worden ist. An dieser Stelle genügt jedoch die Feststellung, dass es nicht um eine bloße Wiederbelebung der Militärgrenze oder der Marken ging, sondern um eine ausgesprochen moderne Operationalisierung des ‚Grenzraum‘-Konzepts. Hierbei bildeten Marken und Militärgrenzen auch und gerade deshalb wesentliche Bezugspunkte, weil sie als frühe bevölkerungspolitische Regime lesbar waren, die es zwar nicht eins zu eins, jedoch in einer der Dynamik der Zweiten Industriellen Revolution angemessenen Weise zu aktualisieren gelte.7 Das deutsche Konzept der Grenze als Raum sollte daher nicht als ein Hereinragen vormoderner Traditionen in die Moderne, sondern als ein genuin modernes Projekt verstanden werden. Dieses Projekt entstand an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts am Schnittpunkt des Volkstumsdiskurses mit dem Raumdiskurs. Beide Diskurse waren bereits frühzeitig verknüpft gewesen, wenn etwa Geographen, inspiriert durch das ‚Volkstum‘-Konzept der Politischen Romantik, die Nation
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Helmolt, Hans F.: Die Entwicklung der Grenzlinie aus dem Grenzsaume im alten Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 17 (1896), S. 235-264. Zur MarkenTheorie als Gemeinplatz des geographischen Diskurses vgl. Maull, Otto: Politische Grenzen (Weltpolitische Bücherei, Bd. 3), Berlin 1925, S. 5f. – Dem gegenüber zeigen neuere Forschungen, dass seit der Spätantike lineare Grenzziehungen belegt sind. Im mittelalterlichen Europa waren Grenzlinien in Form gedachter Linien zwischen markierten Punkten keine Seltenheit. Diese Praxis wurde seit dem 13. Jahrhundert offenbar aus technischen und verhandlungspragmatischen Gründen intensiver genutzt. Vgl. hierzu Schneider, Reinhard: Lineare Grenzen. Vom frühen bis zum späten Mittelalter, in: Haubrichs u.a. (Hrsg.), Grenzen und Grenzregionen, S. 51-68. Zur Militärgrenze vgl. Amstadt, Jakob: Die k. k. Militärgrenze 1522-1881, Würzburg 1969 (im Folgenden zitiert als: Amstadt, Die k. k. Militärgrenze) sowie die im Kapitel Marken und Militärgrenzen angegebene Literatur. Vgl. Hasse, Ernst: Neue deutsche Militärgrenzen, in: Alldeutsche Blätter 4 (1894), S. 166 (im Folgenden zitiert als: Hasse, Neue deutsche Militärgrenzen).
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nicht mehr vorrangig anhand ‚natürlicher Grenzen‘ wie Gebirgskämme, Flussläufe, Sumpfgebiete oder Küsten territorialisierten, sondern sprachliche, volkskulturelle oder kulturlandschaftliche Gegebenheiten in den Blick nahmen.8 Die verzögerte Herausbildung des deutschen Nationalstaates hatte es nahe gelegt, die Grenzbestimmung des ‚deutschen Landes‘ oder ‚deutschen Volkes‘ als ein in die Zukunft gerichtetes Projekt zu begreifen und sich weniger am Gefüge des Deutschen Bundes zu orientieren, sondern Umfang und Grenzen eines erst noch zu konstituierenden Staates zu antizipieren. Dabei nahm die Geographie für sich in Anspruch, die Grenzen nicht entlang politischer Interessen zu ziehen, sondern „aus der Erde selbst“ abzuleiten: „Die suggestive Kraft dieses Weltbildes lag“, so Hans Dietrich Schultz, „offen zutage: Es enthält sowohl die Vision eines ewigen Friedens als auch die Versuchung, Eroberungswünsche als erd-moralisch abgesicherte Verpflichtung zur politischen Vollstreckung zu bringen.“9 Bismarcks Politik einer kleindeutschen Staatsgründung unter preußischer Hegemonie hatte zu einer Ausdifferenzierung dieses Denkens geführt: Während manche Geographen den neuen Nationalstaat mit ‚Deutschland‘ identifizierten, verwiesen andere auf die fortbestehende Diskrepanz zwischen ‚Staats-‘ und ‚Volksboden‘ oder beschrieben ein konzentrisch um Deutschland gelagertes, wirtschaftlich, politisch und militärisch von ihm dominiertes ‚Mitteleuropa‘.10 Die Transformation der Grenzen hatte damit eine Spiegelung erfahren, tat sich doch nun nicht mehr nur zwischen Staat und Nation, sondern auch zwischen ‚Deutschland‘ und ‚Mitteleuropa‘ ein Zwischenraum auf.11 Entscheidend war nun, dass sich die Frage der idealen und wünschenswerten Grenzen des deutschen oder mitteleuropäischen Raumes am Ende des 19. Jahrhunderts mit Raumtheorien verband, die auf der Basis universal geltender und naturwissenschaftlich formulierter Prinzipien von einer grundsätzlichen Räumlichkeit der Grenzen ausgingen und auf diese Weise einen neuartigen, nicht mehr zwingend auf den deutschen Nationsentwurf rekurrierenden Begründungszusammenhang schufen. Dieses neue Paradigma lieferte die Politische Geographie Friedrich Ratzels. Die Räumlichkeit der Grenze entsprang für ihn nicht mehr der Diskrepanz zweier oder mehrerer regional divergierender Grenzlinien, so wie etwa Staats- und Sprachgrenze einen Zwischenraum bildeten. Vielmehr waren die Grenzlinien selbst aus seiner Sicht nichts weiter als theoretische, kartographische oder juristische Abstraktionen von Räumen, die ihrerseits Austragungsorte eines permanenten Kampfes um ‚Lebensraum‘ seien.12 Die Transformation der Grenze von der Linie zum 8
Schultz, Hans Dietrich: Deutschlands „natürliche“ Grenzen. „Mittellage“ und „Mitteleuropa“ in der Diskussion der Geographen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 248-281 (im Folgenden zitiert als: Schultz, Deutschlands „natürliche“ Grenzen). 9 Ebd., S. 250. 10 Ders.: Land – Volk – Staat. Der geographische Anteil an der „Erfindung“ der Nation, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000), S. 4-16. 11 Dies gilt insbesondere im Anschluss an das von Friedrich Naumann geprägte ökonomische Mitteleuropa-Konzept. Vgl. Naumann, Friedrich: Mittel-Europa, Berlin 1915 (im Folgenden zitiert als: Naumann, Mitteleuropa). Vgl. auch Peschel, Andreas: Friedrich Naumanns und Max Webers „Mitteleuropa“, Dresden 2005. 12 Vgl. Ratzel, Friedrich: Ueber allgemeine Eigenschaften der geographischen Grenzen und über ihre politische Bedeutung, in: Berichte über die Verhandlun-
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Raum war damit erweitert zu einer Transformation von der Fixiertheit der Grenzlinie zu einer Dynamik des ‚Grenzraumes‘, die jegliche Grenze inmitten fortwährender sozialdarwinistischer Kämpfe um Raum und Ressourcen situierte.13 Dieser Verschränkung des deutschen Grenzdiskurses mit der politischgeographischen Raumtheorie war, so meine Ausgangshypothese, konstitutiv für die Karriere eines ‚Grenzraum‘-Konzepts, das neben der Staatsgrenze auch diejenigen Grenzen in Räume auflöste, die bis dahin die Nation im völkischen Sinne territorialisiert hatten. Der ‚Lebensraum‘ dieser Nation war nicht mehr durch die Reichweite der Sprache definiert oder durch ‚natürliche Grenzen‘ vorgegeben, sondern von einer Vielzahl dynamischer Faktoren wie etwa dem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum abgängig. Die Frage nach den idealen Grenzen Deutschlands löste sich also in einer sehr grundlegenden Weise von den traditionellen Definitionsmerkmalen. Gleichzeitig öffnete die Politische Geographie den Grenzdiskurs für ganz andere Disziplinen, Semantiken und Symbole. Denn Ratzel behauptete eine Analogie aller in der unbelebten wie belebten Natur einschließlich der menschlichen Gesellschaft zu beobachtenden Grenzerscheinungen. Die Relativierung der Grenzlinien zugunsten der Raumbewegungen erhielt dadurch den Rang eines Naturgesetzes: politische oder kulturelle Grenzen unterschieden sich nur noch graduell von den diffusen und veränderlichen Peripherien eines Geröllfeldes, einer Pflanzenart, einer Klimazone, eines Marktes, einer ‚Rasse‘ oder einer ‚primitiven‘ Gesellschaft.14 Gleichzeitig schrieb Ratzel der Staatsgrenze biologische Eigenschaften zu und definierte sie als das „peripherische Organ“15 eines Organismus, zu dessen Zentrum sie in unmittelbarer „Correlation“16 stünde. Die Grenze stellte damit keine nachrangige Kategorie gegenüber dem Zentrum mehr dar, sondern emanzipierte sich zu einem ihm gleichrangigen und komplementären Raum, der das Ganze gleichermaßen repräsentierte.17 Ratzels Grenze war also ein Raum voller Dynamik und Leben, in
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gen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, PhilologischHistorische Classe, Jg. 1892, S. 53-105 (im Folgenden zitiert als: Ratzel, Allgemeine Eigenschaften); ders.: Politische Geographie, 3. Aufl., München u.a. 1925, insbes. S. 286, 384-390 (im Folgenden zitiert als: Ratzel, Politische Geographie); ders.: Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen politischen Geographie, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 42 (1896), S. 97-107 (im Folgenden zitiert als: Ratzel, Gesetze des räumlichen Wachstums). Zum Raumkonzept Ratzels vgl. Köster, Werner: Die Rede über den „Raum“. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2002, S. 5971 (im Folgenden zitiert als: Köster, Rede über den „Raum“). Vgl. Ratzel, Politische Geographie, S. 385. Ratzel, Allgemeine Eigenschaften, S. 96. Ratzel, Friedrich: Staat und sein Boden, in: Abhandlungen der philologischhistorischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 17 (Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 39), Leipzig 1897, S. 49f (im Folgenden zitiert als: Ratzel, Staat und sein Boden). Zum Verhältnis von ‚Grenze‘ und ‚Mitte‘ im Konstruktionsprozess der deutschen Nation vgl. Gibas, Monika (Hrsg.): Mitten und Grenzen. Zu zentralen Deutungsmustern der Nation, Leipzig 2003 (im Folgenden zitiert als: Gibas [Hrsg.], Mitten und Grenzen).
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dem sich die vorwärts treibenden Kräfte des ‚Lebensraumes‘ verdichteten und in dem sich die Kämpfe um die Zukunft der Nation vollzögen. Noch ein anderer Punkt scheint mit entscheidend zu sein. Indem Ratzel den ‚Raum‘ und seine Begrenzung, wie Werner Köster betont, zur „Dynamik des kapitalistisch-industrialisierten Weltmarktes“ in Beziehung setzte und zugleich dem Umstand Rechnung trug, „daß dieser alle bodenständigen Ordnungen in einem weltumspannenden Verkehr auflöst“,18 wurde die Grenze zu einer regulierenden biopolitischen Institution am Kreuzungspunkt der deterritorialisierenden Dynamik der Zweiten Industriellen Revolution und der reterritorialisierenden Programmatik einer völkischen Sozial- und Bevölkerungspolitik, welche die Kategorie des ‚Volkstums‘ in ein umfassendes Programm der Eroberung und Besiedlung neuen ‚Volksbodens‘ als Mittel zur Befriedung der inneren Klassengegensätze einbettete. Diese neuartige Verbindung von Bio- und Geopolitik19 trat in der alldeutschen Bewegung und ihren Kriegszielvorstellungen offen zutage und mündete schließlich in einer Politik der „völkischen Flurbereinigung“, deren Anfänge Hans Mommsen im Ersten Weltkrieg erkennt.20 In diesem Kontext kam es zu einer Anwendung des Mark-Begriffs auf die zu annektierenden und zu germanisierenden Gebiete,21 bevor Karl Haushofer in den räumlich gestaffelten Fronten des Stellungskrieges eine Wiedergeburt der Marken erkannte und sie zum Prototyp der modernen Grenze schlechthin erklärte.22 Mit der Kriegsniederlage des Deutschen Reiches von 1918 gewannen die transformierten Grenzen eine enorme politische, ideologische und symbolische Bedeutung. Die neuartige Gewalterfahrung des Krieges, die Besetzung und Entmilitarisierung des Rheinlandes, die territorialen Veränderungen 18 Vgl. Köster, Rede über den „Raum“, S. 63. 19 Beide Termini begegnen und in dieser Verschränkung explizit erstmals 1933. Vgl. Kohl, Louis von: Biopolitik und Geopolitik als Grundlagen einer Naturwissenschaft vom Staate, in: Zeitschrift für Geopolitik 10 (1933), S. 305-310. Der Begriff Biopolitik bezeichnet bei v. Kohl eine „naturwissenschaftlich begründete Geschichtsforschung“, die „die Entwicklung des Volkskörpers und seines Lebensraumes in der Zeit“ untersuche und ihr Augenmerk besonders auf die „Bedeutung der Rasseelemente“ (S. 308) richte. Gemeinsam mit der Geopolitik stelle sie im Gegensatz zur traditionellen Historiographie eine „wissenschaftliche[.] Begründung des Nationalismus“ (S. 310) dar. In einer Vorbemerkung (ebd., S. 304f) weist die Redaktion der Zeitschrift eine Gleichrangigkeit von Geopolitik und Biopolitik zurück und ordnete letztere der ersteren unter. 20 Vgl. die Überlegungen zur „völkischen Flurbereinigung“ und Umsiedlungspolitik in den besetzten polnischen Gebieten bei Mommsen, Hans: Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Bonn 2004, S. 117-136 (im Folgenden zitiert als: Mommsen, Der Erste Weltkrieg); vgl. allgemein auch Heinemann, Isabel/Wagner, Patrick (Hrsg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. 21 Vgl. exemplarisch Claß, Heinrich: Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege, Sept. 1914, in: Opitz, Reinhard (Hrsg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Köln 1977, S. 226-266 (im Folgenden zitiert als: Claß, Denkschrift bzw. Opitz, Europastrategien). 22 Siehe die im Kapitel Die Westfront als prototypische Grenze des 20. Jahrhunderts aufgeführten Belege sowie Schumacher, Rupert von: Der Raum als Waffe. Versuch einer raumpolitischen Strategie, Berlin 1935, S. 130 (im Folgenden zitiert als: Schumacher, Raum als Waffe).
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durch den Friedensvertrag von Versailles, die Spannungen und Konflikte in den Grenzgebieten, die semistaatlichen und extralegalen Formen und Formationen der ‚Selbsthilfe‘, die Migration, Organisation und Interessenartikulation von ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘23 und nicht zuletzt die enorme Bedeutung dieser Kämpfe für das Selbstbild einer sich modernisierenden, verjüngenden und radikalisierenden Rechten24 verliehen der Vorstellung räumlich-dynamischer Grenzen eine außerordentliche Aktualität, Attraktivität und Brisanz.25 Die Ereignisfolge der Nachkriegskrisen ließ die Grenze nicht länger als eine zwischenstaatliche Normalität garantierende, sondern als eine gewaltsam aufgezwungene Linie erscheinen, und so lag es nicht fern, diese Linie in einem Raum aufgehen zu lassen, der sich wie eine Kluft suspendierter Normalität zwischen In- und Ausland legte und in dem der Krieg eben noch nicht verloren, die letzte Schlacht noch nicht geschlagen, das letzte Wort über die Grenzen noch nicht gesprochen war. Hierin scheint mir der Kern einer spezifischen Grenzlandideologie zu liegen, die sich innerhalb der völkischen und jungkonservativen Milieus26 der frühen 1920er Jahre rasch entfaltete und von intellektuellen Vordenkern wie Arthur Moeller van den Bruck,27 Max Hildebert Boehm,28 Karl C. von Loesch29 und Karl Haushofer30 23 Vgl. hierzu Oltmer, Jochen: Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005. 24 F.W. von Oertzen beginnt seine apologetische Geschichte der Freikorps mit dem Kapitel „Kampf um die deutschen Grenzen“. Vgl. ders.: Die deutschen Freikorps 1918-1923, München 1937. 25 Zu den Argumentationsmustern des öffentlichen Diskurses der Zwischenkriegszeit vgl. Conze, Vanessa: Die Grenzen der Niederlage. Kriegsniederlagen und territoriale Verluste im Grenz-Diskurs in Deutschland (1918-1970), in: Horst, Carl/Kortüm, Hans-Henning/Langwiesche, Dieter/Lenger, Friedrich (Hrsg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 163-184, hier: 168-178 (im Folgenden zitiert als: Conze, Grenzen der Niederlage); vgl. auch Duppler, Jörg/Gross, Gerhard P. (Hrsg.): Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999. 26 Der Begriff „jungkonservativ“ wird im Folgenden für ein breites Spektrum der radikalen Rechten verwendet, das seine Identität u.a. aus einer bewussten Abgrenzung vom Konservatismus wilhelminischer Prägung, einer bewussten Hinwendung zur Modernität sowie dem Gewalterlebnis des Ersten Weltkrieges bezog. Vgl. hierzu Petzold, Joachim: Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Köln 1983 (im Folgenden zitiert als: Petzold, Wegbereiter); Lenk, Kurt: Deutscher Konservatismus, Frankfurt a.M. u.a. 1989; Sternhell, Zeev: Von der Aufklärung zum Faschismus und Nazismus. Reflexionen über das Schicksal von Ideen in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Jäger, Siegfried/Paul, Jobst (Hrsg.): „Diese Rechte ist immer noch Bestandteil unserer Welt“. Aspekte einer neuen Konservativen Revolution, Duisburg 2001, S. 7-48. Zur Problematik der Termini „Konservatismus“ bzw. „Konservative Revolution“ vgl. Kondylis, Panajotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. 27 Vgl. Moeller van den Bruck, Arthur: Das Dritte Reich, hrsg. von Hans Schwarz, 3. Aufl. Hamburg 1931, S. 235-244 (im Folgenden zitiert als: Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich); ders.: Sozialismus und Außenpolitik, hrsg. v. Hans Schwarz, Breslau 1933, S. 31-40, 61-74. 28 Boehm, Max Hildebert: Europa irredenta. Eine Einführung in das Nationalitätenproblem der Gegenwart, Berlin 1923; ders.: Die deutschen Grenzlande, Berlin 1925 (im Folgenden zitiert als: Boehm, Die deutschen Grenzlande); ders./ Loesch, Karl C. von: Die grenz- und volkspolitischen Folgen des Frie-
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theoretisch fundiert wurde. Das ‚Grenzland‘ wurden für sie zum Symbolraum, in dem die erlebte Kriegsniederlage und der demütigende ‚Diktatfrieden‘ mit Situationen des tragischen Schicksals, der volksgemeinschaftlichen Bewusstwerdung, der heroischen Bewährung des Einzelnen und seiner erlösenden Tat überschrieben wurde. Dies war ein Raum des perpetuierten Ausnahmezustandes, der unter Umständen auch ein Krieg sein konnte – ein offener oder ein latenter Krieg, der ein strategisches Handeln erforderte, das auf eine Aneignung dieses besonderen Raumes zielte. Seine Prekarität, Nicht-Normalität und Gewalt erschienen als eine besondere Intensität der nationalen Energien, was dem ‚Grenzland‘ Vorbild- und Modellcharakter für ein ‚Drittes Reich‘ im Sinne der Jungkonservativen, später dann auch der Nationalsozialisten, verlieh.31 Wie der Symbolraum Mitte, stand der Symbolraum Grenze pars pro toto für die Nation, repräsentierten sie jedoch auf eine andere Weise.32 In einer zugespitzten Form konnten ‚Grenze‘ und ‚Mitte‘ sogar an ein und demselben Ort zusammenfallen: Österreich etwa begegnet uns im grenzlandpolitischen Diskurs der Zwischenkriegzeit als ein zum Grenzland gewordenes Zentrum des Reiches, Berlin als eine durch das Näherrücken des polnischen Hoheitsgebiets und die zunehmende Fernwirkung der gegnerischen Waffen zur Grenzstadt werdende Hauptstadt.33
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densschlusses (= Schnee, Heinrich/Draeger, Hans [Hrsg.]: Zehn Jahre Versailles, Teil 3), Berlin 1930; ders.: Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften, Göttingen 1932. Loesch, Karl C. von: Die Grenzfrage, in: Moeller van den Bruck, Arthur/ Gleichen, Heinrich von/Boehm, Max Hildebert (Hrsg.): Die Neue Front, Berlin 1922, S. 261-265; ders. (Hrsg.): Volk unter Völkern (Bücher des Deutschtums, Bd. 1), Breslau 1925 (im Folgenden zitiert als: Loesch [Hrsg.], Volk unter Völkern); ders. (Hrsg.): Staat und Volkstum (Bücher des Deutschtums, Bd. 2), Berlin 1926 (im Folgenden zitiert als: Loesch [Hrsg.], Staat und Volkstum). Haushofer, Karl: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Berlin 1927 (im Folgenden zitiert als: Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung). Zum Begriff des ‚Dritten Reiches‘ vgl. Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, S. 222-250; Kettenacker, Lothar: Der Mythos vom Reich, in: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 1983, S. 261289; Schönwalder, Karen: Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1992, S. 61-63; Koenen, Andreas: Visionen vom „Reich“. Das politisch-theologische Erbe der Konservativen Revolution, in: Göbel, Andreas/ van Laak, Dirk/Villinger, Ingeborg (Hrsg.): Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995, S. 53-74. Vgl. exemplarisch Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, S. 237. Vgl. am Beispiel Österreichs: Farkas, Reinhard: „Alpenland“ – „Grenzland“? Politische Diskurse in Österreich im Spannungsfeld regionalistischer, völkischer und multikultureller Konstruktionen, in: Gibas, Mitten und Grenzen, S. 66-81; sowie am Beispiel des Aachener Dreiländerecks Müller, Thomas: Der „Grenzraum“ als „Mitte“. Grenzübergreifende Identitätspolitik im Städtedreieck Aachen-Maastricht-Liége, in: Gibas, Monika/Haufe, Rüdiger (Hrsg.): „Mythen der Mitte“. Regionen als nationale Wertezentren. Konstruktionsprozesse und Sinnstiftungskonzepte im 19. und 20. Jahrhundert, Weimar 2005, S. 267-286 (im Folgenden zitiert als: Müller, Identitätspolitik).
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Der Komplex von Grenzlandideologie, Grenzlandpolitik und nicht zuletzt Grenzlandforschung war es, den nicht wenige Angehörige der besatzungs- und bevölkerungspolitischen Funktionselite des Zweiten Weltkrieges in ihrer politischen Sozialisation durchliefen, sprich: in dem sie lernten, die Grenzen in einer bestimmten Weise wahrzunehmen und zu konzeptualisieren.34 Während Angehörige der Frontgeneration es verstanden, den ‚Grenzraum‘ als eine fortdauernde Front in Szene zu setzen, boten die zahllosen, oft regional spezialisierten ‚Grenzlandämter‘ der Jugend- und Studentenbünde der nachfolgenden Kriegsjugendgeneration vielfältige Möglichkeiten, auf ‚Grenzlandfahrten‘ ein zumindest symbolisches Fronterlebnis nachzuholen.35 Front und Grenze verbanden sich zu einem Kampf- und Tatmythos, mit dem die von Stefan Wildt charakterisierte „Generation des Unbedingten“36 frühzeitig Führungsansprüche auf dem Terrain der Grenzlandpolitik anmeldete. Was sie in besonderer Weise für besatzungspolitische Funktionen qualifizierte, war, dass sie über genaue Kenntnisse von Grenzregionen oder Konfliktparteien, über intensive Kontakte zu national, ideologisch und generationell verwandten Gruppen und Personen im Ausland und im deutschen Exil sowie über funktionierende grenzübergreifende Nachrichtennetze und Kommunikationswege, gleichzeitig aber über ein Raumkonzept verfügte, das es erlaubte, eine Vielzahl von Regionen, Konflikten, Akteuren und Praxen auf der Mesoebene eines ‚Ostlandes‘ oder eines ‚Westraumes‘ (und mitunter auch einer ‚Südmark‘ oder eines ‚Nordlandes‘)37 zueinander in Beziehung zu
34 Vgl. Herbert, Ulrich: Wer waren die Nationalsozialisten? Typologien des politischen Verhaltens im NS-Staat, in: Hirschfeld, Gerhard/Jersak, Tobias (Hrsg.): Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mittelweg und Distanz, Frankfurt a.M. u.a. 2004, S. 17-42 (im Folgenden zitiert als: Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten?). 35 Vgl. Gründel, E. Günther: Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932 (im Folgenden zitiert als: Gründel, Sendung der jungen Generation). Gründel setzt Front- und Kriegsjugendgeneration hierbei explizit mit der Grenzlandpolitik in Beziehung und leitet den Begriff einer „Grenzlandjugend“ ab (vgl. ebd., S. 2442, insbes. S. 34). 36 Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003. 37 Die Begriffe ‚Süd(ost)mark‘ und ‚Nordmark‘ fanden in der Grenzlandbewegung parallel zu ‚Westmark‘ und ‚Ostmark‘ Verwendung, so exemplarisch in Schulungsheften der Vereine Deutscher Studenten (vgl. das Heft „Der Kampf um den deutschen Volksboden“, in: Berensmann, Wilhelm/Stahlberg, Wolfgang/ Koepp, Friedrich (Hrsg.): Deutsche Politik. Ein völkisches Handbuch, bearb. v. Angehörigen des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten, Frankfurt a.M. 1926 [im Folgenden zitiert als: Berensmann u.a. [Hrsg.], Deutsche Politik], 4. Teil, S. 3, 14, 21, 31). Zur Entstehung und Bedeutungsaufladung des Begriffs ‚Nordland‘ im Kaiserreich vgl. Zernack, Julia: Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich, in: Puschner, Uwe/Schmitz, Walter/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 18711918 (im Folgenden zitiert als: Puschner u.a. [Hrsg.], Handbuch der „völkischen Bewegung“), München u.a. 1996, S. 483-51, ferner Kaufer, Stefan: Nordland. Anmerkungen zum deutschen Skandinavienbild, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, 15.11.2004, S. 34-38. – Der Begriff ‚Südmark‘ fand frühzeitig als Eigenbezeichnung eines völkischen Bundes in Kärnten Verwendung, vgl. Puschner, Uwe: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich.
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setzen. Die Vorstellung der Grenze als Ort perpetuierter Gewalt und suspendierter Normen legitimierte zudem ein Wechselspiel offener und verdeckter Methoden, friedlicher und militaristischer Semantiken, legaler und illegaler Operationen. Je nach Kalkül konnte eine Grenze als „Front“ oder „Brücke“,38 eine Bevölkerungsgruppe als „volksdeutsch“ oder „entdeutscht“, eine Region als „Schutz-“, „Gleichgewichts-“ oder „Angriffsgrenze“39 konzeptualisiert sein. Diese taktisch kalkulierte, mitunter dezisionistisch gehandhabte Operationalisierung des Grenzraum-Konzepts zeichnete die jungkonservativen Grenzlandaktivisten der Weimarer Republik wie kaum eine andere Gruppe für das Unternehmen einer geo- und biopolitischen Neuordnung Europas aus. So lesen sich denn auch die im Rahmen des Generalplans Ost angestellten Planungen zur Errichtung der drei „Marken“ Gotengau (Krim), Ingermanland (Leningrader Gebiet) und Memel-Narev und der 37 zwischen ihnen anzulegenden „Stützpunkte“40 wie Übersteigerungen des geopolitischen Raumkonzepts der Grenzlandaktivisten. Die vorliegende Untersuchung kann auch als eine Geschichte des politischen Konzepts von Grenze und als ein Beitrag zum Grenzdiskurs der deutschen Rechten gelesen werden. Doch steht dies nicht im Vordergrund, sondern gehört zum Kontext eines konkreter gefassten Untersuchungsgegenstandes. Denn uns interessiert, wie die allgemeinen Konzepte von Grenze, Grenzland und Grenzlandpolitik auf die Westgrenze angewandt, zum Konzept eines ‚Westraumes‘ konkretisiert und zu einer politischen Strategie der Aneignung dieses Raumes operationalisiert wurden.
„ W e st m a r k – W e s tl a n d – W e s tr a u m “ : D i e tr an s f o r m i e r te W e s tg r e n z e Nach dem bisher Gesagten können wir den ‚Westraum‘ als regionale Konkretion eines abstrakten Konzepts begreifen, dass die Grenzlinien unter Verweis auf die völkisch definierte Nation oder auf allgemeine bio- und geopolitische Dynamiken in Räume transformierte, die letztlich losgelöst von der juristischen Staatsgrenze bestanden und verliefen. Zugleich können wir den ‚Westraum‘ als Teil einer politischen Praxis der deutschen Rechten interpretieren, welche das abstrakte ‚Grenzraum‘-Konzept in einen politischen Aktionsraum übersetzte und diesen vor dem Erlebnishintergrund des Ersten Weltkrieges und seiner Folgekrisen ideologisch ausfüllte und in Form grenzlandpolitischer Organisationen institutionalisierte. Es darf daher nicht verwundern, dass der ‚Westraum‘ keiner gegebenen geographischen, politischen oder historischen Region entsprach. Wie das abSprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 107 (im Folgenden zitiert als: Puschner, Völkische Bewegung). 38 Boehm, Max Hildebert: Das mitteleuropäische Nationalitätenproblem und die europäische Einheitsbewegung, in: Volk und Reich 2 (1926), S. 364-368, hier: 367 (im Folgenden zitiert als: Boehm, Nationalitätenproblem). 39 Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 152-155. 40 Vgl. Madajczyk, Czeław (Hrsg.): Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München u.a. 1994, S. VIIIf (im Folgenden zitiert als: Madajczyk [Hrsg.]: Generalplan Ost).
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strakte ‚Grenzraum‘-Konzept selbst, stellte er ein in höchstem Maße artifizielles Regionskonstrukt dar. Er war weder durch eine aktuelle oder frühere nationalstaatliche Grenze definiert, noch folgte er der Sprachgrenze zwischen den germanischen und romanischen Sprachfamilien, setzte sich aus bestehenden Verwaltungseinheiten wie Provinzen, Departements oder Bezirken zusammen oder entsprach einem zusammenhängenden Wirtschaftsraum.41 Auch die im Diskurs häufig angeführten frankophonen Territorien im Westen des Heiligen Römischen Reiches, die so genannte Reichsromania,42 entsprachen dem ‚Westraum‘ allenfalls grob, und auch von einer gleichzeitigen Zugehörigkeit aller dem ‚Westraum‘ zugeschriebenen Gebiete zum mittelalterlichen Reich kann nicht gesprochen werden. Ebenso wenig hat es, wie Wolfgang Freund hervorhebt, jemals eine ‚Westmark‘ des Reiches gegeben – „erst recht keine Westmark gegen das Romanentum.“43 Der Begriff ‚Westraum‘ war, ebenso wie ‚Westmark‘ und ‚Westland‘, ein Neologismus. Ich schlage daher vor, ihn als die zu einem Raum transformierte Westgrenze des Deutschen Reiches zu definieren. Als solche schob er sich auf einer mittleren Maßstabsebene zwischen die Mikroebene der gegebenen Orte und Regionen und die Makroebene der Staaten und Nationen und bot die Folie, auf der eine neue Raum-Ordnung jenseits der geltenden zwischenstaatlichen Grenzen und Normen entwickelt werden konnte. Als Konkretion des ‚Grenzraum‘-Konzepts hafteten dem ‚Westraum‘ eine Reihe allgemeiner Eigenschaften der transformierten Grenze an. So lag es nahe, ihm all jene bio- und geopolitischen Dynamiken zuzuschreiben, in denen Ratzel und Haushofer ein naturwissenschaftliches Grundgesetz erkannt zu haben glaubten. Es lag nahe, ihn als einen Raum perpetuierter Prekarität und Gewalt zu begreifen, seine Geschichte als ein Wechselspiel von Grenze und Front zu deuten, ihm eine Autonomie gegenüber den geltenden Staatsgrenzen zuzuerkennen und die innerhalb und zwischen den Staaten geltenden Normen und Normalitäten in ihm als suspendiert zu betrachten. Ebenso war es leicht, ihn in eine enge Beziehung zur Mitte der Nation zu setzen oder ihn selbst als eine zur Grenze gewordene Mitte zu begreifen. Hierbei stellte der ‚Westraum‘ mitunter nicht einmal einen geographischen, sondern einen ideologischen Raum dar, in dem sich das Ringen um eine nationale Erneuerung, um die Errichtung eines ‚Dritten Reiches‘ oder um die Geburt eines ‚Neuen Europa‘ vollzöge. Nicht zuletzt können wir ihn innerhalb einer Strategie situieren, die auf eine tatsächliche und vollständige Aneignung des Raumes
41 Vgl. hierzu die Überlegungen in: Müller, Thomas/Freund, Wolfgang: Westforschung, in: Haar, Ingo/Fahlbusch, Michael (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften, hrsg. unter Mitwirkung von Matthias Berg, München 2008, S. 751-760 (im Folgenden zitiert als: Müller/Freund, Westforschung bzw. Haar u.a. [Hrsg.]: Handbuch der völkischen Wissenschaften). 42 Exemplarisch genannt sei die Definition von Karl C. von Loesch, der zufolge die ‚Westmark‘ der „Raum“ sei, „in den Frankreich und das Franzosentum im Laufe der Geschichte ostwärts dringend vorgestoßen“ seien (ders.: Die Westmark: Wort und Inhalt, in: Die Westmark 5 (1937/38), S. 103-108. 43 Freund, Wolfgang: Volk, Reich und Westgrenze. Deutschtumswissenschaften und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925 – 1945 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, Bd. 39), Saarbrücken 2006, S. 34 (im Folgenden zitiert als: Freund, Volk, Reich und Westgrenze).
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zielte und ihn aufs engste mit den Kriegszielen und Besatzungspolitiken der beiden Weltkriege verband. Dieses Regionskonstrukt begegnet uns seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter dem Namen Westmark, der im Kriegszieldiskurs des Ersten Weltkrieges eine wesentliche Rolle spielte und nach der Niederlage allmählich von den Begriffen Westland und Westraum überlagert wurde. Im 19. Jahrhundert hatten der Name Westmark zunächst das annektierte ElsassLothringen44 und Westland die USA45 bezeichnet, wohingegen der Westraum eine Wortschöpfung der Zwischenkriegszeit ist. Dabei bezeichneten die beiden letztgenannten Begriffe in der Regel das gesamte hier zur Rede stehende Raumkonstrukt, während der Terminus Westmark zusätzlich seine ältere, regionale Bedeutungskomponente behielt. Allerdings stand er nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr allein für Elsass-Lothringen, sondern fand auch für andere Regionen wie die Rheinprovinz, die Pfalz, das Aachener Grenzgebiet, die Eifel, den Hunsrück oder das Saargebiet,46 später dann auch für die Gaue Koblenz-Trier und Saarpfalz der NSDAP Verwendung, von denen letzterer am 7. Dezember 1940 den Namen Gau Westmark annahm.47 Sieht man von dieser merkwürdigen, zwar regionalen, doch zwischen den Regionen fluktuierenden Verortung ab, so wurden die Termini Westmark, Westland und Westraum weitgehend synonym verwendet. Implizit jedoch sprachen sie unterschiedliche Dimensionen des ‚Grenzraum‘-Konzepts an: Verwies die Benennung als Mark zurück auf den Gedanken einer militärischen Formierung und bevölkerungspolitischen Germanisierung, so definierte Westland 44 Freund, Volk, Reich und Westgrenze, S. 35. 45 Westland war Titel der beiden kurzlebigen Zeitschriften: Das Westland. Nordamerikanische Zeitschrift für Deutschland, 1 Jg., Heidelberg 1837 u. Das Westland. Magazin zur Kunde amerikanischer Verhältnisse, 2 Jge., Bremen 185152. 46 Vgl. Freund, Volk, Reich und Westgrenze, S. 39-44. Neben den dort angeführten Belegen für die räumliche Fluktuation des ‚Westmark‘-Begriffs seien genannt: Zepp, Peter: Land und Volk der deutschen Westmark. Eine rheinische Heimatkunde, Düsseldorf 1935; Mehrmann, Karl: Rheinland. Unsere Westmark in Fesseln, Berlin 1934 (im Folgenden zitiert als: Mehrmann, Rheinland); Thumann, Hans Heinz: Die Pfalz, das Herz der Westmark, Berlin 1934 (im Folgenden zitiert als: Thumann, Pfalz); Wirtz, Richard: Die deutsche Westmark. Ein Heimatbuch für Saarland, Hunsrück, Eifel und Mosel, Münster 1926 sowie die Zeitschrift Die Westmark, Heimatblätter der links-rheinischen Wandervögel, Köln-Mühlheim 1920-21. Die Zeitschrift erschien ab Nr. 4/1920 unter dem Titel Westland. 47 Vgl. Freund, Wolfgang: Rassen- und Bevölkerungspolitik in einem expandierenden Gau: Rheinpfalz – Saarpfalz – Westmark, in: John, Jürgen/Möller, Horst/Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“ (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte), München 2007 (im Folgenden zitiert als: Freund, Rassen- und Bevölkerungspolitik bzw. John u.a. [Hrsg.], NS-Gaue), S. 334-348, hier: 334; Wolfanger, Dieter: Die Ausdehnung nach Westen: Von der Saarpfalz zur Westmark, in: Zehn statt tausend Jahre. Die Zeit des Nationalsozialismus an der Saar (1935-1945). Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker Schloß, 2. Aufl., Saarbrücken 1988, S. 269-280; ders.: Josef Bürckel und Gustav Simon: Zwei Gauleiter der NSDAP und ihr Streit um die Westmark, in: Haubrichs, Wolfgang/Laufer, Wolfgang/Schneider, Reinhard (Hrsg.): Zwischen Saar und Mosel. Festschrift für Hans-Walter Herrmann zum 65. Geburtstag, Saarbrücken 1995, S. 397-406.
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die Grenze im Sinne der völkischen Ideologie als eine spezifische, aus der Landschaft herauslesbare Synthese von Raum und Volk, als eine deutsche Teillandschaft also, während der Terminus Westraum am ehesten jenen abstrakten Raumbegriff transportierte, der uns in der politisch-geographischen und geopolitischen Theorie, aber auch in militärischen Operations- und administrativen Planungsräumen begegnet – drei subtile Bedeutungsunterschiede also, die es erlaubten, die transformierte Westgrenze zugleich als biopolitisches Regime, als landschaftliche Einheit und als abstrakten, gestaltbaren Raum zu begreifen. Daneben sind auch alternierende, ja konträre Verwendungszusammenhänge belegt. So fand der Mark-Begriff um die Jahrhundertwende auch in der Elsass-Lothringen-Propaganda französischer Revisionisten um Marcel Barrès Verwendung,48 und eine im November 1933 im internationalisierten Saarland gegründete, später von Nationalsozialisten aufgekaufte deutsche Exilzeitschrift trug den Namen Westland.49 Die Vorstellung, dass es ein deutsches Land jenseits der deutschen Staats- und Sprachgrenzen gäbe, war in erster Linie auf Frankreich bezogen und gegen Frankreich gerichtet. Sie entwickelte sich vor dem Hintergrund des deutschen Frankreich-Diskurses des 19. Jahrhunderts, den wir mit Michael Jeismann als die Entfaltung einer „Nagativfolie dessen“ begreifen können, „was man sich selbst zuschrieb“.50 Die Konstituierung des eigenen nationalen Selbstbildes in Abgrenzung zum französischen ‚Erbfeind‘ und zum ‚Geist von 1789‘ führte dabei unmittelbar zur Frage der territorialen Grenze und der politischen Konzepte, mit denen diese legitimiert werden konnte: War der Rhein, wie Georges Danton im Januar 1793 vor der französischen Nationalversammlung konstatiert hatte, die historische und natürliche Grenze Frankreichs,51 oder war er, wie Ernst Moritz Arndt dem entgegensetzte, ein deutscher Strom von der Quelle bis zur Mündung, und wenn ja, wo sollte dann die Grenze verlaufen? In Anlehnung an das Nationsmodell Johann Gottlieb Fichtes hatte Arndt eine erste Antwort entlang völkischer Kategorien entwickelt, indem er ein Zurückdrängen Frankreichs hinter die Sprachgrenze forderte und darauf hinwies, dass die Sprachgrenze in Großen und Ganzen den Gebirgskämmen entspräche und daher zugleich eine „natürliche Grenze“ sei.52 In seiner viel zitierten Kampfschrift Der Rhein Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze hatte er 1813 außerdem zum ersten Mal den Begriff Mark ins Spiel gebracht53 und diesen, nachdem das Konzept der Sprachgrenze auf dem Wiener Kongress nicht zum Tragen gekommen war, zum Gedanken einer militärischen Durchorgani48 Vgl. Freund, Volk, Reich und Westgrenze, S. 38. 49 Vgl. Temmes, Herbert: Westland. Nationalsozialisten kaufen eine Emigrantenzeitung, in: Saarbrücker Hefte 83 (2000), S. 4-12. 50 Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 374. 51 Vgl. Markov, Walter: 1789. Die Große Revolution der Franzosen, Berlin 1977, S. 257f. 52 Vgl. Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation, Hamburg 1955, S. 106 (im Folgenden zitiert als: Fichte, Reden an die deutsche Nation); Arndt, Ernst Moritz: Der Rhein Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze, in: Arndts Werke. Auswahl in 12 Teilen, hrsg. v. Wilhelm Steffens, Berlin u.a. o.J., 11. Teil, S. 37-83, hier: 45 (im Folgenden zitiert als: Arndt, Rhein). 53 Vgl. Arndt, Rhein, S. 71, 74.
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sierung der preußisch gewordenen Rheinlande radikalisiert.54 Außerdem ordnete er die Grenzfrage in ein Narrativ ein, in dem Frankreich durch ein Wechselspiel gewaltsamer Annexionen, diplomatischer Ränke und kultureller Infiltration nach einer Wiederherstellung der römischen Rheingrenze trachte und die französische Geschichte seit dem Mittelalter aus dieser Motivation heraus erklärt werden könne. Diese Unterstellung wurde zu einem Grundmuster des deutschen ‚Westraum‘-Diskurses, rechtfertigte sie die deutschen Ansprüche doch als notwendige und angemessene Sicherheitsvorkehrungen zur Abwehr des französischen Griffs nach dem Rhein. Unter den Schriften der folgenden Jahrzehnte erlangte ein unter dem Eindruck der Rheinkrise von 1840 entstandener Essay Wolfgang Menzels über Die westliche Grenzfrage eine gewisse Bedeutung. Der konservative Historiker reagierte damit auf innenpolitisch motivierte Forderungen des Kabinetts Thiers nach der Rheingrenze. Dabei verwarf er das von Arndt favorisierte Kriterium der Sprache und postulierte für den Fall eines Kriegsausbruchs ein deutsches Recht zur Eroberung sämtlicher frankophoner Gebiete, die einmal dem Heiligen Römischen Reich angehört hatten.55 Er nahm damit die Ausdehnung des späteren ‚Westraumes‘ vorweg, doch geriet sein Aufsatz nach dem Abklingen der Kriegsgefahr zunächst in Vergessenheit, bis der nationalrevolutionäre Publizist Ernst Niekisch ihn wiederentdeckte und 1929 als grenzlandpolitische Grundlagenschrift nachdruckte.56 Zunächst jedoch lenkte Richard Boeckh in seiner grundlegenden statistischen Untersuchung Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Ländern (1869)57 den Blick auf die Sprachgrenze, die 1859 von Johann Kutscheid erstmals kartiert worden war.58 Nach dem Beginn des deutsch-französischen Krieges 1870 schließlich plädierte Heinrich von Treitschke in den Preußischen Jahrbüchern für eine Annäherung der Staats- an die Sprachgrenze durch eine Annexion der größtenteils im 17. Jahrhundert an Frankreich gefallenen elsässischen und lothringischen Gebiete.59 Mit seinen Vorschlägen zur kulturpolitischen Durchdringung der Annexionsgebiete und ethnischen Dekomposition des verkleinerten Frankreichs unter Ausnutzung seiner ungünstigen demographischen Entwicklung nahm Treitschke wesentliche Elemente
54 Vgl. ders.: Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen, in: ebd., Teil 11, S. 143-199, insbes. S. 167ff (zuerst 1815; im Folgenden zitiert als: Arndt, Preußens Rheinische Mark). 55 M[enzel, Wolfgang]: Die westliche Grenzfrage, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, 2. Heft 1841, S. 25-69 (im Folgenden zitiert als: Menzel, Die westliche Grenzfrage). 56 Allerdings schrieb Niekisch den Text fälschlicherweise Helmuth von Moltke zu: Moltke, Helmuth von: Die westliche Grenzfrage. Mit einer Einleitung von Ernst Niekisch, Dresden 1929. 57 Boeckh, Richard: Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Ländern. Eine statistische Untersuchung, Berlin 1869, S. 151-194, 283304 (im Folgenden zitiert als: Boeckh, Der Deutschen Volkszahl). 58 Kutscheid, Johann V.: Karte der Deutsch-Französischen Gränzländer. Mit Angabe der seit dem 17. Jahrhundert von Deutschland abgerissenen Landtheile und der deutsch-französischen Sprachgränze, Berlin 1859 (im Folgenden zitiert als: Kutscheid, Karte der deutsch-französischen Gränzländer). 59 Treitschke, Heinrich von: Was fordern wir von Frankreich? in: Preußische Jahrbücher 26 (1870), S. 367-409 (im Folgenden zitiert als: Treitschke, Was fordern wir).
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späterer Grenzlandpolitik im Westen vorweg, wohingegen er den Gedanken einer weiteren Westverschiebung der Grenze bei späterer Gelegenheit verwarf. Mit dem Ausgang des Krieges, der Gründung des Kaiserreiches und der Errichtung des Generalgouvernements und späteren Reichslandes ElsassLothringen, für das Treitschke 1870 vermutlich als erster die Bezeichnung ‚Westmark‘ verwendete61 und die in den folgenden Jahrzehnten zum Laboratorium für die Eingliederung einer überwiegend frankophilen und teilweise frankophonen Gesellschaft in das Reich werden sollte, schien die westliche Grenzfrage dauerhaft gelöst. Zwar erhob Kurd von Strantz in einer zunächst wenig beachteten Schrift über das „verwelschte Deutschtum“ in Frankreich und Belgien 1886 ähnlich radikale Forderungen wie Menzel, doch blieb die Wirkung solcher Schriften auf die entstehenden völkisch-alldeutschen Bewegungen beschränkt.62 Dominant blieb die im deutschen Nationsentwurf angelegte Idee einer Angleichung der Staats- an die Sprachgrenze, nicht aber die Vorstellung eines von der Kanalküste bis zur Schweiz auf frankophones Terrain übergreifenden Deutschland. Die Etablierung genau dieses nicht mehr durch die Sprachgrenze begrenzten Raumkonzepts beruhte auf dem Impuls der Politischen Geographie. Waren die Grenzen, wie Ratzel behauptete, ihrem Wesen nach nicht linear, konnte eben auch die Westgrenze nur ein Raum, genauer: ein Raum des Kampfes um Lebensraum sein. In diesem Sinne beschrieb Ratzel die deutsche Westgrenze als einen durch den Kampf zwischen Deutschen und Franzosen strukturierten Raum. Die in diesem Raum entstandenen Feudalstaaten Lothringen, Savoyen und Burgund sowie die modernen Staaten Schweiz, Niederlande, Belgien und Luxemburg waren für ihn lediglich Nebenprodukte dieses Kampfes und Strukturelemente des ‚Grenzsaums‘. Dies bedeutete, dass sie ungeachtet ihrer juristischen Souveränität ‚Zwischenländer‘ darstellten, deren tatsächliche Souveränität nachrangig gegenüber derjenigen Deutschlands und Frankreichs sei: obschon formal unabhängig, blieben sie Grenze zwischen den beiden Kontrahenten.63 Damit wurde eine Westgrenze denkbar, die sich über die vier unabhängigen Staaten erstreckte und diese gleichsam absorbierte. Auf dieser Grundlage griffen die Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes64 Ernst Hasse und Heinrich Claß den im ausgehenden 19. Jahrhundert auf 60 Zum demographischen Diskursstrang vgl. Weipert, Matthias: Mehrung der Volkskraft, Paderborn 2006, S. 66; Overath, Petra: Zwischen Krisendeutung und Kriegsszenarien. Bevölkerungspolitische Vorstellungen in Deutschland und Frankreich (1870-1918), in: Comparativ 3 (2003), S. 65-79 (im Folgenden zitiert als: Overath, Krisendeutung). 61 Treitschke, Was fordern wir, S. 379, 385. Freund gibt als ersten Beleg für den Westmark-Begriff an: Lorenz, Ottokar/Scherer, Wilhelm: Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark, Berlin 1871 (vgl. Freund, Volk, Reich und Westgrenze, S. 35f). Eine Sichtung der politischen Publizistik, insbesondere der Tagespresse, könnte möglicherweise weitere und frühere Belege für den Terminus zu Tage fördern. 62 Strantz, Kurd von: Das verwelschte Deutschtum jenseits der Westmarken des Reiches. Antwort auf das französische Rachegeschrei, 2. erg. Aufl., Leipzig 1903 (im Folgenden zitiert als: Strantz, Das verwelschte Deutschtum). 63 Ratzel, Allgemeine Eigenschaften, S. 67f. 64 Zur Geschichte des Verbandes vgl. Hering, Rainer: Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890-1939, Hamburg 2003; Kruck, Alfred: Geschichte
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das Reichsland beschränkten Terminus ‚Westmark‘ auf und übertrugen ihn auf das Projekt einer Militärgrenze im Westen des Reiches.65 Im Kontext der alldeutschen Kriegszielprogrammatik bezeichnete der Begriff schließlich ein großflächig von seinen frankophonen Bewohnern zu räumendes und von deutschen Wehrbauern zu besiedelndes Annexionsgebiet westlich der Sprachgrenze, wobei das von Treitschke eingeführte demographische Argument für ein verkleinertes Frankreich ein zentrales Legitimationsmuster bildete. Damit verbunden war der konkrete Entwurf einer neuen Westgrenze, die in einem weiten Bogen von der französischen Kanalküste über die Höhenzüge der Ardennen und Argonnen zur schweizerischen Grenze verlaufen sollte,66 dabei die bestehende Reichsgrenze an keinem Punkt mehr berührte und mit der Einbeziehung des nordostfranzösischen Montanreviers in den Departements Nord und Pas de Calais sowie der luxemburgisch-lothringischen Minette zentrale Kriegsziele der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie integrierte.67 Die Alldeutschen modernisierten und radikalisierten damit die im 19. Jahrhundert nur sporadisch erhobenen Maximalforderungen, indem sie sie auf das theoretische Fundament der Politischen Geographie stellten und in ein Szenario großflächiger Bevölkerungsverschiebungen im Falle eines deutschen Sieges68 einfügten. Der Erste Weltkrieg stellte auch deshalb eine Schlüsselsituation dar, weil er mit den Stellungskämpfen an der Westfront zum ersten Mal eine physisch erfahrbare tabula rasa schuf, die sich wie eine archaische Grenzwüstung zwischen Deutschland und Frankreich auftat und mit einer bis dahin schier unvorstellbaren Dimension von Gewalt verbunden war.69 Die von deutschen
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des Alldeutschen Verbandes 1890-1939, Berlin 1954; Chickering, Roger: We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886-1914, Boston u.a. 1984; ders.: Die Alldeutschen erwarten den Krieg, in: Dülffer, Jost/Holl, Karl (Hrsg.): Bereit zum Krieg, Göttingen 1986; Hartwig, Edgar: Alldeutscher Verband (ADV), in: Fricke, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Parteiengeschichte, Bd. 1, Köln u.a. 1983, S. 13-47; Peters, Michael: Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914). Ein Beitrag zur Geschichte des völkischen Nationalismus im spätwilhelminischen Deutschland, Frankfurt a.M. u.a. 1992; Schildt, Axel: Radikale Antworten von rechts auf die Kulturkrise der Jahrhundertwende. Zur Herausbildung und Entwicklung der Ideologie einer „Neuen Rechten“ in der Wilhelminischen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 4 (1995), S. 63-87; Peters, Michael: Der „Alldeutsche Verband“, in: Puschner u.a. (Hrsg.), Handbuch der „völkischen Bewegung“, S. 302-315; ferner Hagenlücke, Heinz: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreichs, Düsseldorf 1997 (im Folgenden zitiert als: Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei). Vgl. Hasse, Ernst: Deutsche Politik, Bd. I, Heft 2: Die Besiedlung des deutschen Volksbodens, München 1905, S. 154f. Vgl. Claß, Denkschrift. Vgl. Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Sonderausgabe, Düsseldorf 1967, S. 216-230 (im Folgenden zitiert als: Firscher, Griff nach der Weltmacht). Vgl. exemplarisch Hänsch, Felix: An der Schwelle des größeren Reiches. Deutsche Kriegsziele in politisch-geographischer Begründung, München 1917 (im Folgenden zitiert als: Hänsch, An der Schwelle). Vgl. Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; Winter, Jay (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002; Keegan, John: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, 2. Aufl., Reinbeck 2003; Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/
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Kriegsverbrechen begleitete völkerrechtswidrige Besetzung Belgiens löste in der politischen und wirtschaftlichen Elite des Reiches eine Debatte über den künftigen Status des Landes aus, in der eine Vielzahl von Optionen durchgespielt und legitimiert wurde. Zwischen die Forderungen nach einer vollständigen Annexion und einer Entlassung in die Eigenstaatlichkeit traten unterschiedliche Ideen einer Aufteilung des Landes entlang wirtschaftlich, militärgeographisch oder völkisch definierter Linien.70 Hatte das Reichsland Elsass-Lothringen ein erstes Laboratorium für die Assimilation einer frankophilen und teils frankophonen Bevölkerung innerhalb eines zuvor bereits annektierten Gebietes geboten, so wurde das besetzte Belgien zu einem Laboratorium für die Ausdifferenzierung und Legitimation bio- und geopolitischer Neuordnungskonzepte im Vorfeld einer erst noch zu vollziehenden Neuordnung. Als besonders folgenreich erwies sich das Ausspielen des flämischen Nationalismus gegen den belgischen Gesamtstaat, das im Dezember 1917 in der Unabhängigkeitserklärung des Rats von Flandern mündete.71 Hatte der Kriegsausbruch das alldeutsche Konzept der ‚Westmark‘ zunächst ungemein forciert und radikalisiert, so desavouierte die Kriegsniederlage es mit einem Schlage. Angesichts der Versailler Nachkriegsordnung und der in Westdeutschland virulenten Kriegsfolgen konnte es in der von den Alldeutschen geprägten Form unmöglich fortgeschrieben werden. Der konservative Publizist Paul Rohrbach bezichtigte den Verband, mit seiner Kriegszielkampagne und ausdrücklich auch seinen Vorstellungen über die ‚Westmark‘ mitverantwortlich für die deutsche Katastrophe zu sein,72 und auch der industrienahe Verleger Theodor Reismann-Grone, ein langjähriger Akteur alldeutscher Westpolitik und Fürsprecher des flämischen Nationalis-
Langewiesche, Dieter/Ullmann, Hans-Peter (Hrsg.): Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges, Essen 1997. – Einen bildlichen Eindruck von der Gewalterfahrung vermitteln nach wie vor die in der Nachkriegszeit erschienenen Fotodokumentationen, insbesondere: Der Weltkrieg 1914-1918 in seiner rauhen Wirklichkeit („Das Frontkämpferwerk“). 600 Original-Aufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes und des Kriegsphotographen Hermann Rex im Dienste der Obersten Heeresleitung 1914-1918, München o.J. 70 Vgl. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 219-230, 384-390, 522-526; Ypersele, Laurence van: Belgien, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Renz, Irina (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn 2003, S. 44-49; Wende, Frank: Die belgische Frage in der deutschen Politik des ersten Weltkrieges, Hamburg 1970. 71 Vgl. Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 389 sowie Willemsen, Arie Wolter: Het Vlaams Nationalisme, 1914-1940, Groningen 1958; Wils, Lode: Flamenpolitik en activisme. Vlaanderen tegenover België in de Eerste Wereldoorlog, Leuven 1974; Dolderer, Winfried: Deutscher Imperialismus und belgischer Nationalitätenkonflikt. Die Rezeption der Flamenfrage in der deutschen Öffentlichkeit und deutsch-flämische Kontakte 1890 – 1920, Melsungen 1989 (im Folgenden zitiert als: Dolderer, Deutscher Imperialismus); Vanacker, Daniël: Het aktivistisch avontuur, Gent 1991; Tiedau, Ulrich: Deutsche Kulturpolitik in Belgien 1914-1918, in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlandestudien 1996/97, S. 223-230; ders.: De Duitse cultuurpolitiek in België tijdens de Eerste Wereldoorlog, in: Cahiers d’histoire du temps présent 11 (2003), S. 21-45. 72 Vgl. Rohrbach, Paul/Hobohm, Martin: Die Alldeutschen (= Rohrbach, Paul [Hrsg.]: Chauvinismus und Weltkrieg, Bd. 2), Berlin 1919 (im Folgenden zitiert als: Rohrbach u.a., Die Alldeutschen).
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mus, stellte sich offen gegen den Verband.73 Einschlägige alldeutsche Schriften über die ‚Westmark‘ oder über Flandern blieben in den grenzlandpolitischen Bibliographien der Zwischenkriegszeit weitgehend ausgeklammert. Eine Neujustierung des Diskurses stand auf der Tagesordnung, und es waren die Vordenker und Aktivisten der jungkonservativen Grenzlandbewegung – und mit diesen die Funktionsgeneration des Zweiten Weltkrieges –, die diese Transformation leisteten. Diese Neujustierung geschah angesichts der Prekarisierung innerdeutscher Grenzgebiete. Nach der im Gefolge des Waffenstillstandes erfolgten Besetzung des Rheinlandes oktroyierte der Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 die Abtretung von Elsass-Lothringen an Frankreich sowie der preußischen Landkreise Eupen und Malmedy an Belgien, die Auflösung und Angliederung des preußisch-belgischen Kondominats Neutral-Moresnet an Belgien, die Verwaltung des Saargebietes durch den Völkerbund bis zu einem Plebiszit im Jahre 1935, die Aufhebung der vertraglichen Verbindungen Luxemburgs mit dem Reich, die Internationalisierung des Schiffverkehrs auf dem Rhein sowie umfassende Reparationsleistungen zur Behebung der Kriegsschäden.74 Unter Verweis auf ausstehende Reparationen besetzten französische Truppen im Januar 1923 weite Teile des Ruhrgebietes und lösten damit die bis zum Jahresende andauernde Ruhrkrise aus.75 Im Oktober und November des gleichen Jahres versuchten rheinische Separatisten außerdem, die bereits 1919 von Hans Adam Dorten in Wiesbaden proklamierte Rheinische Republik zu realisieren.76 Diese Ereignisse schienen die – nicht nur in der völkischen Propaganda – unterstellte französische Expansionsabsicht an den Rhein zu bestätigen. Während eine Vielzahl staatlicher, halb73 Reismann-Grone, Theodor: Der Erdenkrieg und die Alldeutschen, Mülheim/ Ruhr 1919 (im Folgenden zitiert als: Reismann-Grone, Erdenkrieg). 74 Vgl. Kolb, Eberhard: Der Frieden von Versailles, München 2005; Cohrs, Patrick O.: The unfinished peace after World War I. America, Britain and the stabilisation of Europe, 1919-1932, Cambridge 2006, ferner: Lorenz, Thomas: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!“ Der Versailler Vertrag in Diskurs und Zeitgeist der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u.a. 2008. – Zur Bewertung des Vertrags vgl. auch Haffner, Sebastian: Der Vertrag von Versailles, Frankfurt 1988. 75 Vgl. Schwabe, Klaus (Hrsg.): Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1985 (im Folgenden zitiert als: Schwabe, Ruhrkrise); Jeannesson, Stanislas: Poincaré, la France et la Ruhr. Histoire d’une occupation, Strasbourg 1989; Krumeich, Gerd/Schröder, Joachim (Hrsg.): Der Schatten des Weltkriegs. Die Ruhrbesatzung 1923, Essen 2004 (im Folgenden zitiert als: Krumeich u.a. [Hrsg.], Schatten des Weltkriegs); Fischer, Conan: The Ruhr crisis, 1923 – 1924, Oxford 2003. 76 Bischof, Erwin: Rheinischer Separatismus 1918-1924. Hans Adam Dortens Rheinstaatsbestrebungen, Bern 1969; Krüger, Hans Jürgen: Rheinische Republik der Separatisten. Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Koblenz, Koblenz 1983; Scheuren, Elmar/Trapp, Christoph: Separatisten im Siebengebirge. Die „Rheinische Republik“ des Jahres 1923 und die „Schlacht“ bei Aegidienberg, Königswinter 1993; Gräber, Gerhard: Revolverrepublik am Rhein. Die Pfalz und ihre Separatisten, Bd. 1: November 1918 – November 1923, Landau 1992; Gräber, Gerhard/Spindler, Matthias: Die Pfalzbefreier. Volkes Zorn und Staatsgewalt im bewaffneten Kampf gegen den pfälzischen Separatismus 1923/24, Ludwigshafen 2005 (im Folgenden zitiert als: Gräber u.a., Pfalzbefreier). Vgl. ferner die Autobiographie Dorten, Jean Adam: Die Rheinische Tragödie, übers. v. W. Münch, Bad Kreuznach 1979.
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staatlicher und privater Akteure einen nationalistischen Widerstand mobilisierte, waren jungkonservative Akteure unmittelbar an gewaltsamen Aktionen gegen die Ruhrbesetzung und an der blutigen Niederschlagung der Separatisten beteiligt. 77 Retrospektiv erlangte das Jahr 1923 eine Symbolik als Wendepunkt der Nachkriegskrisen und Fanal einer nationalen Erhebung des Rheinlandes, welche von der NSDAP nach 1933 im Sinne eines Durchbruchs des Nationalsozialismus am Rhein fortgeschrieben werden sollte.78 Auch setzte sich im Krisenjahr 1923 der von Paul Wentzcke ins Spiel gebrachte Gedanke durch, das Jahr 1925 als tausendjähriges Jubiläum der Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Deutschland in Szene zu setzen.79 So kam es Mitte der 1920er Jahre zu einer Reihe grenzlandpolitischer Großkundgebungen, zu denen neben den eigentlichen Jahrtausendfeiern auch die „Befreiungsfeier“ auf dem Kölner Domplatz nach dem Abzug der Besatzungstruppen 192680 oder die Pfingsttagungen des Deutschen Schutzbundes in Münster (1925) und Essen (1928)81 zu zählen sind. Bereits 1920 waren mit dem Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn und dem Wissenschaftlichen Institut der Elsass-Lothringer im Reich an der Universität Franfurt a.M. zwei zentrale Einrichtungen der akademischen Westforschung entstanden, wobei das Frankfurter Institut die Forschungstradition der deutschen Universität in Straßburg fortführte und der neuen Situation anpasste. Zusammen mit dem 1931 etablierten Alemannischen Institut der Stadt Freiburg i.Br. bildeten sie die tragenden Säulen der 1931 gegründeten Rheinischen und späteren Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG). Mit einer Vielzahl angeschlossener regionaler Institute und Organisationen, einer aktiven Anbindung grenzlandpolitisch erfahrener Nachwuchswissenschaftler sowie einem tragfähigen grenzübergreifenden Kontaktnetz war dies die größte, wenn auch nicht die einzige Organisation 77 Vgl. Krüger, Gerd: „Wir wachen und strafen!“. Gewalt im Ruhrkampf von 1923, in: Krumeich u.a. (Hrsg.): Schatten des Weltkriegs, S. 233-255 (im Folgenden zitiert als: Krüger, „Wir wachen und strafen!“). Exemplarisch vgl. auch die Rekonstruktion der politischen Sozialisation des späteren Chefs der Innenverwaltung im besetzten Frankreich, Werner Best, als Aktivist in der Rheinlandpolitik des Deutschen Hochschulrings durch Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, 2. Aufl., Bonn 1996, S. 69-87 (im Folgenden zitiert als: Herbert, Best). 78 Vgl. Müller, Thomas: Der Gau Köln-Aachen und Grenzlandpolitik im Nordwesten des Deutschen Reiches, in: John u.a. (Hrsg.), NS-Gaue, S. 314-333, hier: 316f (im Folgenden zitiert als: Müller, Gau Köln-Aachen). 79 Vgl. Wein, Franziska: Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919-1930, Essen 1992 (im Folgenden zitiert als: Wein, Deutschlands Strom); Haude, Rüdiger: „Kaiseridee“ oder „Schicksalsgemeinschaft“. Geschichtspolitik beim Projekt „Aachener Krönungsausstellung 1915“ und bei der „Jahrtausendausstellung Aachen 1925“ (Beihefte der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Bd. 6), Aachen 2000 (im Folgenden zitiert als: Haude, „Kaiseridee“); Breuer, Dieter/Cepl-Kaufmann, Gertrude (Hrsg.): „Deutscher Rhein – fremder Rosse Tränke?“ Symbolische Kämpfe um das Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg, Essen 2005. 80 Vgl. Lippert, Hans-Georg: Der politische Kölner Dom, in: ebd., S. 113-128. 81 Vgl. Loesch, Karl C. von/Unger, Fr. von: Zehn Jahre Deutscher Schutzbund, in: Zehn Jahre Deutscher Schutzbund 1919-1929, hrsg. v. Deutschen Schutzbund, Berlin o.J. [1929], S. 33ff, 36f (im Folgenden zitiert als: Loesch u.a., Zehn Jahre).
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einer explizit dem ‚Westraum‘ und seinen Teilregionen gewidmeten ‚Volksund Kulturbodenforschung‘.82 Die westpolitischen Akteure der jungkonservativen Grenzlandbewegung bewegten sich in einem Politik- und Forschungsfeld, das stets auch von gemäßigten Kräften besetzt war. Dabei ging ihr Konzept eines ‚deutschen Westlandes‘ weit über die verbreitete Abwehrhaltung gegen den Versailler Vertrag und seine Konsequenzen hinaus. Zum einen ließ sich die zu Grunde liegende Vorstellung eines deutschen Raumes beiderseits der Sprachgrenze in keiner Weise aus einer solchen Abwehrhaltung ableiten, sondern rekurrierte auf jener Grenztheorie der Politischen Geographie (und der entstehenden Geopolitik), mit der auch die Alldeutschen ihre Kriegsziele legitimiert hatten. Im Gegensatz zur alldeutschen ‚Westmark‘ war das ‚Westland‘ der Jungkonservativen jedoch kein unmittelbar erreichbares Kriegsziel mehr, sondern eine historische, geographische, ethnographische und wirtschaftsräumliche Formation, die den aktuellen Verhältnissen als eine letzten Endes mächtigere Realität entgegen gesetzt werden konnte. Das in die Vergangenheit projizierte und für die Zukunft projektierte ‚Westland‘ war aus ihrer Sicht Ausdruck des ‚Willens‘ zu einer politischen Offensive hin zu den vermeintlichen Grenzen des mittelalterliches Reiches und den aufgelassenen Schützengräben des Weltkrieges, deren Vollzug man weniger der Weimarer Demokratie, sondern erst einem ‚Dritten Reich‘ zutraute. Die zum Raum transformierte Westgrenze der demokratischen Republik geriet zum ‚Westland‘ eines utopischen, erst noch zu erkämpfenden ‚Volksstaates‘. Zweitens beobachten wir ein Einschreiben der zwischen heroischem Romantizismus und zynischer Sachlichkeit oszillierenden jungkonservativen Leitbilder der Tat, der Jugend, der Gewalt, des Willens und der Bedingungslosigkeit in das ‚Westland‘, das innerhalb dieser Ideologie nun seinerseits eine spezifische Symbolik und Funktion gewann: Der ‚Westraum‘ wurde gleichsam zu einer territorialen Überschreibung der westlichen Werte der Aufklärung, des Liberalismus, des Rechtsstaates und der Demokratie. Unter dem ‚Firnis‘ dieser Werte glaubten die Autoren ein germanisches ‚Volkstum‘ mit gänzlich eigenen Werten freilegen und auf frankophonem Terrain so etwas wie einen deutschen Gegen-Westen konstituieren zu können. Der im ‚Westraum‘ situierte Kampf geriet von einem materiellen Interessenkonflikt zu einem Ringen zweier von Grund auf verschiedener Zivilisationsmodelle mit inkompatiblen Wertesystemen, Raumansprüchen und Grenzkonzepten – zu einem Kampf also, der sich, eben weil er ein „totaler“ war, der politischen Verhandelbarkeit, der juristischen Fixierbarkeit, ja selbst der militärischen Rationalität entzog und der stattdessen, mit Ernst Jünger gesprochen, eine „totale Mobilmachung“83 aller dem ‚Westland‘ innewohnenden Kräfte mit dem Ziel seiner vollständigen Aneignung (und der Gefahr seines gänzlichen Verlustes) erfordere. Was in diesem militanten Voluntarismus anklang, war der Frontmythos der Kriegs- und Kriegsjugendgeneration. Mit den in der konkreten Landschaft sichtbar gebliebenen Frontverläufen, den nach wie vor entwaldeten und unbevölkerten Gebietsstreifen, den erst noch entstehenden 82 Vgl. zusammenfassend Müller, Thomas/Freund, Wolfgang: Westdeutsche Forschungsgemeinschaft, in: Haar u.a. (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 743-751 (im Folgenden zitiert als: Müller/Freund, Westdeutsche Forschungsgemeinschaft) sowie die weiter unten besprochene Literatur. 83 Jünger, Ernst: Die totale Mobilmachung, in: ders. (Hrsg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 10-30.
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Gedenkstätten und dem „unsichtbaren Denkmal“ der individuellen Erinnerung stand das ‚Westland‘ in einer physisch erfahrbaren Beziehung zur Westfront des Ersten Weltkrieges. In der Funktionsgeneration der nationalsozialistischen Neuordnungspolitik wurde, so scheint mir, ein Raumbild diskurs- und handlungsmächtig, in dem Westgrenze, ‚Westraum‘ und Westfront ein untrennbares Ganzes bildeten. Die Transformation der Westgrenze war damit eine dreifache Transformation in einen geographischen Raum, ein ideologisches Ziel und eine militärische Front zugleich, während die tabula rasa der Westfront im Umkehrschluss zum Prototyp der modernen Grenze mutierte. Diese Symbiose von Westfront und ‚Westraum‘ entsprach geradezu idealtypisch der Vorstellung des ‚Grenzlandes‘ als Raum suspendierter Normalität, heroischer Prekarität und perpetuierter Gewalt. Ihren praktischen Ausdruck fand diese Haltung u.a. in einer ausgeprägten Sympathie für die jeweils radikalsten Strömungen des flämischen Nationalismus. Zum dritten schließlich griffen die jungkonservativen Akteure eine im geographischen Denken des 19. Jahrhunderts angelegte Dreigliederung der Westgrenze auf und machten sie zur Grundlage einer strategischen Operationalisierung des ‚Grenzlandes‘. Obschon ein unteilbares Ganzes, gliederte sich das ‚Westland‘ der Jungkonservativen in einen nordwestlichen, mittleren und südwestlichen Abschnitt, die im Sinne einer Festungsarchitektur zueinander in Beziehung gesetzt waren. Das ‚Westland‘ stellte sich also nicht nur in einem allgemeinen Sinne als Front dar, vielmehr war es eine im Verlauf der Geschichte zerstörte, eines Tages jedoch wieder aufzurichtende Festung mit einer nördlichen Bastion im niederländisch-flämischen Mündungsdelta von Rhein, Maas und Schelde, einer südlichen Bastion im alpinen Quellgebiet des Rheins und der von beiden Bastionen geschützten Westflanke des Reiches.85 Der Schutz der Westgrenze erforderte aus dieser Sicht zwingend eine deutsche Hegemonie über die kleineren neutralen Staaten, da diese die Überreste der früheren Bastionen bildeten. Hierbei rückte erneut Flandern in den Fokus, indem der flämische Nationalismus nicht als Teil eines innerbelgischen Konflikts, sondern als Kampf um die Nordwestbastion und damit indirekt als Kampf um die Macht über den ‚Westraum‘ interpretiert wurde. Daneben wies die Festungsmetapher auch den übrigen Regionen des ‚Westlandes‘ spezifische Bedeutungen und Funktionen zu: Burgund etwa war das frühzeitig verlorene Vorland der Festung, Elsass-Lothringen das angreifbar gewordene Kernland des Oberrheins, die Pfalz der Brennpunkt des französischen Griffs nach dem Rhein, Eifel und Hunsrück wichtige natürliche Sperrlandschaften und das Ruhrgebiet der Kraft spendende Energiequell im Hinterland der Grenze.86 Ein solches Herunterbrechen des ‚Westraumes‘ von der Mesoebene auf die Mikroebene fungierte, so ist zu vermuten, auch als integratives Element praktischer Grenzlandpolitik, indem es den lokalen Akteuren eine bestimmte taktische Funktion innerhalb einer strategischen Raum-Ordnung – der ‚Festung‘ – zuwies.
84 Ziese, Maxim/Ziese-Beringer, Hermann: Das unsichtbare Denkmal. Heute an der Westfront, Berlin o.D. (ca. 1927). 85 Vgl. exemplarisch: [Ziegfeld, Arnold Hillen]: Der Kampf ums Westland. Eine Rückschau und Zusammenfassung aus drei Jahren Westarbeit von „Volk und Reich”, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 608-730 (im Folgenden zitiert als: Ziegfeld, Kampf ums Westland). 86 Vgl. ebd.
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Hier stellt sich nun die Frage, über welches geographische Gebiet und über welche historische Spanne sich der ‚Westraum‘ dieser spezifischen Generation von Akteuren konkret erstreckte. Beginnen wir mit seiner zeitlichen Dimension. Diese umfasste eine symbolhafte Zeitspanne von tausend Jahren,87 wobei entweder das merowingische Austrasien, das karolingische Reich, das aus seiner Teilung hervorgegangene Lotharingien oder die Vereinigung Lotharingiens mit dem Ostreich als Ursprünge und Urformen, der Westfälische Frieden, die Eroberung der Niederlande und des Rheinlandes durch die französischen Revolutionstruppen, die Gründung des Rheinbundes durch Napoleon und der Versailler Vertrag als Tiefpunkte sowie die Ereignisse des Jahres 1923 als Wendepunkt begriffen wurden. Dieses Narrativ ermöglichte eine Fortschreibung in dem Sinne, dass der Anschluss des Saargebietes 1935 und die Niederlage Frankreichs im Juni 1940 als Etappen einer ‚Neuordnung Europas‘ interpretiert werden konnten, die den tausendjährigen Kampf beendete. Eng damit verbunden war die Vorstellung, dass das ‚Westland‘ der zum ‚Grenzraum‘ gewordene und durch Grenzlinien zergliederte Kern des karolingischen Europa und des ottonischen Reiches sei und es daher die Mission und das Potenzial in sich trüge, wieder Mitte eines germanischen Reiches in einem ‚neugeordneten Europa‘ zu werden. Das ‚Westland‘ erschien als ein Raum, dessen ursprüngliche Einheit sich aller ‚künstlichen Grenzen‘ zum Trotz im Stromgebiet von Maas, Rhein und Schelde, im Netz seiner Städte und Verkehrswege, in den grenzübergreifenden Rohstofflagerstätten, in der Leistungsfähigkeit seiner Wirtschaftszentren, in seinen technischen Funktionszusammenhängen, im kulturellen Erbe seiner Regionen und in der völkisch-rassischen Disposition seiner Bewohner erhalten habe.88 In seiner geographischen Dimension erstreckte sich der ‚Westraum‘ über das deutsche Rheinland, die abgetretenen und internationalisierten Gebiete, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Nordostfrankreich sowie die deutschsprachigen Teile der Schweiz. In Varianten kamen das Ruhrgebiet, die übrige Schweiz und die Franche Comté sowie die historischen Feudalstaaten Austrasien, Lotharingien, Burgund und gelegentlich auch Savoyen hinzu.89 Grob umrissen, erstreckte sich der ‚Westraum‘ also vom innerdeutschen Hinterland der Grenze über die belgische Nordsee- und französische Kanalküste im Norden, den Rand des Pariser Beckens und die Vogesen im Westen bis zur Schweiz im Süden, konnte im Südwesten jedoch erheblich weiter gefasst sein und das historische Burgund an Rhône und Doubs einbeziehen. Eine exakte, d.h. lineare Abgrenzung dieses Raumes suchen wir vergebens. Statt eine Westgrenze des ‚Westraumes‘ zu lokalisieren, zogen die Akteure diffuse Verweise auf Gebirgszüge, Wasserscheiden oder Verbreitungsgrenzen kultu87 Vgl. exemplarisch Stegemann, Hermann: Der Kampf um den Rhein. Das Stromgebiet des Rheins im Rahmen der großen Politik und im Wandel der Kriegsgeschichte, Stuttgart 1924; Wentzcke, Paul: Rheinkampf, 2 Bde., Berlin 1925 (im Folgenden zitiert als: Wentzcke, Rheinkampf); Linnebach, Karl: Die gerechte Grenze im deutschen Westen – ein 1000jähriger Kampf. 42 Karten mit begleitendem Text unter Mitwirkung von Ernst Hengstenberg, Berlin 1926 (im Folgenden zitiert als: Linnebach, Gerechte Grenze); Rose, Franz: Nie wieder Krieg um den Rhein. 1000 Jahre Kampf gegen deutsche Einheit, Berlin 1940. 88 Vgl. Ziegfeld, Kampf ums Westland in Verbindung mit Heiß, Friedrich (Hrsg.): Deutschland und der Westraum, Berlin 1941 (im Folgenden zitiert als: Heiß [Hrsg.], Deutschland und der Westraum). 89 Vgl. ebd.
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reller oder kulturlandschaftlicher Phänomene vor oder fassten die Westgrenze des ‚Westraums‘ ihrerseits als einen Grenzraum auf.90 In diesen ‚Grenzraum des Westraumes‘ hinein zeichnete Staatssekretär Wilhelm Stuckart wenige Wochen nach dem deutschen Überfall vom 10. Mai 1940 die künftige Grenze eines vergrößerten Deutschlands gegenüber einem verkleinerten Frankreich: eine bogenförmige Linie, die von der Mündung der Somme entlang des Pariser Beckens zu den Argonnen verlief, um von dort westlich der Franche Comté in Richtung zur Schweizer Grenze zu verlaufen.91 Das Bemerkenswerte ist, dass diese neue Grenze vor dem Hintergrund des ‚Westraum‘-Diskurses in keiner Weise überrascht, sondern eher wie die Quintessenz eines im Verlauf von fünf Jahrzehnten innerhalb der Rechten allmählich etablierten, konkretisierten und operationalisierten Raumkonzepts wirkt. Dieser Eindruck bestätigt sich um so mehr, als vergleichbare Gutachten wie die (ihrem konkreten Inhalt nach nur indirekt bekannte) Denkschrift des Leiters der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft, Friedrich Metz, über die Neugestaltung des Raumes Lothringen-Oberrhein-BurgundSchweiz92 oder die Denkschrift der Reichsstelle für Raumordnung über Raumplanerische Möglichkeiten einer Grenzziehung und Einteilung der Grenzräume im Westen93 zwar nicht en detail, aber doch in ihren Grundzügen mit Stuckarts Planung konvergierten. Der ‚Westraum‘ des Zweiten Weltkrieges wurde so zur Zone zwischen einer noch bestehenden und einer künftigen, diese am Ende des Krieges ersetzenden Westgrenze, mit anderen Worten also zur Zone einer gewaltsamen geo- und biopolitischen Transformation des ‚Grenzlandes‘ der Vorkriegszeit in das Inland eines Nachkriegsreiches. Neben der Definition des neuen Grenzverlaufs umfasste Stuckarts Planung die Aussiedlung von rund fünf Millionen Franzosen aus dem beanspruchten Gebiet,94 und in der Tat ist der Beginn einer systematischen Germanisierungs- und Siedlungspolitik nachweisbar. Als Zwischenraum und Transformationszone zwischen zwei Westgrenzen existierte der ‚Westraum‘ also keineswegs nur auf dem Papier, 90 Vgl. Geisler, Walter: Der Grenzraum zwischen West- und Mitteleuropa (Zur Wirtschaftsgeographie des deutschen Westens, Bd. 1), Berlin 1937 (im Folgenden zitiert als: Geisler, Grenzraum). 91 In: Schöttler, Peter: Eine Art „Generalplan West“. Die Stuckart-Denkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg, in: Sozial.Geschichte 18 (2003), S. 83-130 (im Folgenden zitiert als: Schöttler, „Generalplan West“); vgl. auch Umbreit, Hans: Auf dem Weg zur Kontinentalherrschaft, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs, Erster Halbband: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen, hrsg. v. Militärhistorischen Forschungsamt, Stuttgart 1988, S. 1-345, hier: 129f (im Folgenden zitiert als: Umbreit, Weg zur Kontinentalherrschaft). 92 Vgl. hierzu Freund, Volk, Reich und Westgrenze, S. 296f; Fahlbusch, Michael: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden-Baden 1999, S. 474, Anm. 8 (im Folgenden zitiert als: Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst). – Die Denkschrift selbst konnte bislang nicht aufgefunden werden. 93 Leiter der Reichsstelle für Raumordnung: Raumplanerische Möglichkeiten einer Grenzziehung und Einteilung der Grenzräume im Westen, 15.7.1940, PAAA, R 105124. Für die Zusendung der Denkschrift danke ich Ingo Haar und Wolfgang Freund. 94 Vgl. Schöttler, „Generalplan West“, S. 94f, 101.
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sondern war gewaltsame Wirklichkeit. Dies bedeutet, dass wir den ‚Westraum‘ des Zweiten Weltkrieges im Kontext der nationalsozialistischen Politik der ‚Neuordnung Europas‘95 situieren müssen. Die dabei im ‚Ostraum‘ praktizierte Politik einer selektiven Vernichtung, rassischen Hierarchisierung und sozialen Neuzusammensetzung der osteuropäischen Bevölkerungen96 besaß zwar im ‚Westraum‘ kein unmittelbares Gegenstück, doch waren Ost- und Westkolonisation auf vielfältige Weise miteinander verbunden.97 Peter Schöttler spricht in diesem Zusammenhang von „eine[r] Art“ – aber eben nur einer Art – „Generalplan West“:98 „Wollte man all dies auf den Begriff bringen, so könnte man [mit Blick auf die Denkschrift Stuckarts] tatsächlich von einem ‚Generalplan West‘ sprechen, der analog zu den verschiedenen ‚Generalplänen Ost‘ auf eine völlige Neugestaltung Westeuropas und eine weitreichende ethnische ‚Flurbereinigung‘ im Interesse des NSStaates hinauslief. Dennoch gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Denkschriften für Ost und West: So ist [bei Stuckart ...] an keiner Stelle von der jüdischen Bevölkerung die Rede, und auch die anderen nicht-deutschen Bevölkerungsteile werden – trotz völkischer und rassischer Kriterien – bei weitem nicht so geringschätzig beschrieben, wie dies für Polen, Russen, Ukrainer usw. im Osten der Fall war. Zwar mag der sprachliche Unterschied zwischen ‚Aussiedeln‘ (West) und ‚Ausmerzen‘ (Ost) zunächst wie eine Nuance wirken, die eine spätere Radikalisierung nicht ausschloss, doch drücken sich darin eben unterschiedliche Prioritäten aus, 99 die zumindest kurzfristig lebensrettende Bedeutung haben konnten.“ 95 Vgl. Gruchmann, Lothar: Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin“, Stuttgart 1962; Kahrs, Horst/Aly, Götz (Hrsg.): Modelle für ein deutsches Europa. Ökonomie und Herrschaft im Großwirtschaftsraum (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 10), Berlin 1992; Hoensch, Jörg K.: Nationalsozialistische Europapläne im Zweiten Weltkrieg, in: Plaschka, Richard Georg (Hrsg.): Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1995, S. 307-325; Röhr, Werner/Berlekamp, Brigitte (Hrsg.): „Neuordnung Europas“. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung 1992-1996, Berlin 1996; Overy, Richard J.: Die „Neuordnung“ Europas. NS-Wirtschaftspolitik in den besetzten Gebieten, Berlin 1997; Heinemann, Isabel: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003. 96 Vgl. Müller, Rolf-Dieter: Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt a.M. 1991; Rössler, Mechthild/Schleiermacher, Sabine (Hrsg.): Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien nationalsozialistischer Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993 (im Folgenden zitiert als: Rössler u.a. [Hrsg.], „Generalplan Ost“); Wasser, Bruno: Himmlers Raumplanung im Osten. Der „Generalplan Ost“ in Polen 1940-1944, Basel 1994; Madajczyk (Hrsg.), Generalplan Ost; Haar, Ingo: Der „Generalplan Ost“ als Forschungsproblem. Wissenslücken und Perspektiven, in: Bruch, Rüdiger vom/Kaderas, Brigitte: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 362-368; Heidemann, Wissenschaft – Planung – Vertreibung. 97 Vgl. Bosma, Koos: Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation, in: Rössler (Hrsg.), „Generalplan Ost“, S. 198-214 (im Folgenden zitiert als: Bosma, Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation). 98 Schöttler, „Generalplan West“. 99 Ebd., S. 101.
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Neben der Germanisierung, die in Himmlers Planungen zur Schaffung eines Ansiedlungsgebiets für die deutschsprachigen Südtiroler in Burgund einen Höhepunkt erreichte, beobachten wir eine durch die Kriegswende forcierte Werbung um die frankophone Bevölkerung auf der Basis der nationalsozialistischen Europaideologie, die in der Division Charlemagne der Waffen-SS, in kollaborativen Kulturorganisationen wie der Communauté Culturelle Wallonne100 oder in Verweisen auf intellektuelle Kollaborateure wie den französischen Prähistoriker und Burgund-Mystiker Jean-Jacques Thomasset101 ihren Ausdruck fand.102 Es darf nicht verwundern, dass sich mit dem Übergang von der Grenzland- zur Neuordnungspolitik auch die Semantik des ‚Westraumes‘ veränderte. Am vermeintlichen Schlusspunkt des tausendjährigen Kampfes begegnet uns ein verändertes Raumbild, in dem die Kampf-, Front- und Festungsmetaphorik der Vorkriegszeit in eine Metaphorik des Verbindenden von Germanen- und Romanentum übergegangen ist. Diese neue Inszenierung schlug sich im Selbstbild und in der Benennung zahlreicher Institutionen, Medien und Projekte nieder: In Metz sollte aus teilweise geraubten Bestände eine zentrale Westraumbibliothek aufgebaut werden,103 in Aachen und Posen entstanden Karten für einen Westraum-Atlas,104 in Flandern gründeten kollaborierende Literaten einen Westland-Prijs und eine Literaturzeitschrift Westland,105 in Amsterdam entstand ein Westland-Verlag,106 in der gleichen Stadt 100
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Vgl. Conway, Martin: Collaboration in Belgium. Léon Degrelle and the Rexist Movement, New Haven/London 1993, S. 119 (im Folgenden zitiert als: Conway, Collaboration in Belgium). Vgl. Olivier, Laurent/Legendre, Jean-Pierre: Jean-Jacques Thomasset, un préhistorien au service de l’Allemagne nazie, in: Legendre, Jean-Pierre/Olivier, Laurent/Schnitzler, Bernadette (Hrsg.): L’archéologie nazie en Europa de l’Ouest, Gollion 2007 (im Folgenden zitiert als: Legendre u.a. (Hrsg.): L’archéologie nazie), S. 177-202. Zur intellektuellen Kollaboration vgl. Betz, Albrecht/Martens, Stefan (Hrsg.): Les intellectuels et l’Occupation 1940-1945. Collaborer, partir, résister, Paris 2004; Betz, Albrecht: Gegen das „Ancien régime“ – Für den „Ordre nouveau“. Semantische Aspekte der französischen Kollaboration, in: Bollenbeck, Georg/Knobloch, Clemens (Hrsg.): Resonanzkonstellationen. Die illusionäre Autonomie der Kulturwissenschaften, Heidelberg 2004, S. 193-203; Durand, Yves: Le nouvel ordre europeen nazi. La collaboration dans l’Europe allemand (1938-1945), Bruxelles 1990; Siess, Jürgen: Widerstand, Flucht, Kollaboration. Literarische Intelligenz und Politik in Frankreich, Frankfurt/M. 1984. Vgl. Freund, Volk, Reich und Westgrenze, S. 363-367. Vgl. Müller, Thomas: „Ausgangsstellung zum Angriff“. Die ‚Westforschung‘ der Technischen Hochschule Aachen, in: Dietz, Burkhard/Gabel, Helmut/ Tiedau, Ulrich (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (19191965), Münster u.a. 2003, S. 819-850 (im Folgenden zitiert als: Müller, „Ausgangsstellung“ bzw. Dietz u.a. [Hrsg.], Griff nach dem Westen). Westland. Kultureel-letterkundig tijdschrift voor Vlaanderen, hrsg. v. Filip de Pillecijn, 3 Jge., Antwerpen 1942-44. Zum Selbstverständnis der Zeitschrift vgl. Pillecijn, Filip de: „Westland“, in: Westland 1 (1942), S. 3f; Tijdschrift Westland: De „Westland-Prijs“, in: ebd. 2 (1943), S. 475. Anschlüsse an den deutschen Diskurs geschahen u.a. durch die Rezeption von Christoph Stedings Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur (Vos, H. de: „Alles voor het Rijk“, in: ebd. 1 [1942], S. 208-227), die deutsche Romantik (Truyts,
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gab Reichskommissar Seyß-Inquart die Zeitschrift Westland mit dem programmatischen Untertitel Blätter für Landschaft, Geschichte und Kultur an Rhein, Mosel, Maas und Schelde heraus,107 und innerhalb der Waffen-SS bestand seit 1940 eine Standarte Westland, der vor allem niederländische und flämische Freiwillige angehörten.108 Eine besondere Verdichtung erfuhr das neue Bild des ‚Westraums‘ schließlich mit dem Regionskonstrukt Burgund. Die Region, die im jungkonservativen Diskurs ein marginales, von historischen und geographischen Verwechslungen und Fehlschlüssen geprägtes Schattendasein geführt hatte, stand nun pars pro toto für das ‚Westland‘ in seiner Bedeutung als Ost und West, Nord und Süd verbindender Raum inmitten Europas.109 Inmitten des ‚Westraumes‘ finden wir Orte wie Straßburg, Luxemburg oder Brüssel. Es sind Städte, die im grenzlandpolitischen Diskurs als Symbolorte frankophoner ‚Überfremdung‘ fungierten und von denen nunmehr behauptet wurde, dass sie in einem ‚Neuen Europa‘ wieder ihre ursprüngliche Bedeutung als Städte des ‚deutschen Westens‘ erlangen würden. – Wenige Jahre später sollten sie eine ganz andere Symbolisierung erfahren, nämlich Schauplätze und Zentren des europäischen Integrationsprozesses der demokratischen Nachkriegsstaaten zu werden und als Sitze der tragenden Institutionen pars pro toto für die heutige Europäische Union zu stehen. Diese neue Symbolisierung geschah außerhalb des ‚Westraumes‘, sofern wir die oben umrissenen zeitlichen und räumlichen Dimensionen zugrunde legen. Doch gerade deshalb werden wir am Ende der vorliegenden Untersuchung fragen, was der ‚Westraum‘ unmittelbar vor jenem befreienden Augenblick war, als der Versuch seiner Realisierung mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches scheiterte.110
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J.: De Duitse Beweging, in: ebd. 2 [1942], S. 603-613, 691-701), den Antisemitismus Richard Wagners (Pols, André M.: Richard Wagner en het Jodendom, in: ebd. 2 [1943], S. 898-903) und eine nationalsozialistische Deutung der niederländisch-belgischen Geschichte (Roosbroek, Rob. van: De verpaste gelegenheid, in: ebd. 3 [1944], S. 131-144). Siehe auch die bibliographische Erfassung der Zeitschrift durch Roemans, Robert: De tijdschriften opgericht tussen 1940 en 1944: Westland, Podium, Nieuwe Stemen, Hasselt 1963. Vgl. Groeneveld, Gerard: Zwaard van de geest. Het bruine boek in Nederland 1921-1945, Nijmegen 2001, S. 101-103. Westland. Blätter für Landschaft, Geschichte und Kultur an Rhein, Mosel, Maas und Schelde, hrsg. v. Arthur Seyß-Inquart, 2 Jge., Amsterdam 1943/441944/45. Vgl. In ’t Veld, N. K. C. A. (Hrsg.): De SS en Nederland. Documenten uit SS archieven, s’Gravenhage 1976, Bd. 1, S. 311-330 (im Folgenden zitiert als: In’t Veld, SS en Nederland). Vgl. exemplarisch Kerber, Franz (Hrsg.): Burgund. Das Land zwischen Rhein und Rhone, Straßburg 1942; Boehm, Max Hildebert: Geheimnisvolles Burgund. Werden und Vergehen eines europäischen Schicksalslandes, München 1944 (im Folgenden zitiert als: Boehm, Geheimnisvolles Burgund). Vgl. auch Freund, Wolfgang: NS-Volksforschung im Nibelungenland, in: Bönnen, Gerold/Gallé, Volker (Hrsg.): Die Nibelungen in Burgund, Worms 2001, S. 138159 (im Folgenden zitiert als: Freund, NS-Volksforschung im Nibelungenland). Allerdings ist zu fragen, inwiefern das ‚Westraum‘-Konzept in revisionistischen und rechtsextremen Kreisen fortbestand. Einen Ansatz zur weiteren Untersuchung böte die Zeitschrift: Der Westen, hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft Der Westen, 29 Jge. (1951-1979). Die herausgebende Arbeitsgemeinschaft
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D e r „W e st r a u m “ al s G e g e n st an d d e r F o r sc h u n g Die akademische Karriere der Schlüsselbegriffe ‚Grenzland‘ und ‚Westland‘ blieb nicht ohne Nachhall über das Jahr 1945 hinaus. Denn wir haben es zunächst mit einer Kontinuität der West- wie auch der Ostforschung zu tun, wenngleich die mit der Westintegration der Bundesrepublik, der beginnenden europäischen Integration und der deutsch-französischen Annäherung veränderten Rahmenbedingungen das Konzept eines ‚deutschen Westraums‘ nachhaltig erodieren ließen. Wollte man die Vorstellung eines geographisch, kulturell, historisch und wirtschaftlich zusammengehörigen Raumes an Rhein, Maas und Schelde aufrecht erhalten, so war es unabdingbar, sie aus dem Kontext der deutschen Kriegsziele und Neuordnungspläne herauszulösen und auf die belastete Begrifflichkeit ‚Westmark-Westland-Westraum‘ zu verzichten – eine Umcodierung, die auf der Basis der bei Kriegsende virulenten Semantik des Verbindenden und Europäischen durchaus machbar war. Davon abgesehen beobachten wir ein unreflektiertes Festhalten an der Volksboden- und Kulturraumforschung,111 eine Fortsetzung der meisten akademischen Karrieren, Lehrsätze und Fachdebatten und nicht zuletzt eine Rekonstituierung tragender Institutionen und Netzwerke der Westforschung: 1950 trat die Arbeitsgemeinschaft für westdeutsche Volks- und Landesforschung die Nachfolge der WFG an112 und fand ähnliche Strukturen staatlicher Alimentierung vor, wie sie für die Zwischenkriegszeit charakteristisch gewesen waren.113 Innerhalb dieser kartellartigen Strukturen war eine kritische Thematisierung der Forschungstradition und ihrer Raumkonzepte tabuisiert.114 „It is striking“, resümierte jüngst Georg G. Iggers, „that from 1945 until the early 1990s there was complete silence about the criminal activities of the scholars involved in the planning of ethnic cleansing.”115 Erst nach dem Tod der meisten NS-Historiker und der Emeritierung vieler ihrer Schüler, die aus „Angst
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umfasste die Erwin-von-Steinbach-Stiftung, den Bund der Elsässer und Lothringer e.V. und den Bund Vertriebener aus Elsaß-Lothringen und den Weststaaten im Bundesgebiet e.V. So etwa in Bezug auf Franz Petris zentrale These vom ‚germanischen Volkserbe‘ auf frankophonem Terrain (Petri, Franz: Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und den Niederlanden und die Bildung der germanisch-romanischen Sprachgrenze, Bonn 1937). Vgl. exemplarisch ders.: Zum Stand der Diskussion über die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze, Darmstadt 1954; ders.: Die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze in der interdisziplinären Diskussion, Darmstadt 1977. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 783f. Vgl. ebd. 784. Schöttler, Peter: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 19181945. Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 7-30, hier: 10, 12 (im Folgenden zitiert als: Schöttler [Hrsg.], Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft). Iggers, George G.: Foreword, in: Haar, Ingo/Fahlbusch, Michael (Hrsg.): German Scholars and Ethnic Cleansing, 1919-1945, New York/Oxford 2005, S. vii-xvii, hier: xv (im Folgenden zitiert als: Haar u.a. [Hrsg.], German Scholars).
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vor dem symbolischen ‚Vatermord‘“116 schwiegen, wurde die Westforschung in Deutschland zum Gegenstand kritischer Forschung – dies allerdings auf dem Umweg über die Ostforschung. Die vorliegende Studie stützt sich in erster Linie auf Arbeiten, die im Zuge dieser wissenschaftshistorischen Aufarbeitung entstanden sind. Zu Grunde liegt ihnen ein neues Verständnis der Relevanz wissenschaftlicher Expertise in der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis, insbesondere in den Konzepten einer geo- und biopolitischen Neuordnung der ost- und südosteuropäischen Bevölkerungen. Diese neue Forschungsperspektive ging mit einer Internationalisierung der NS- und Holocaustforschung einher. Während in Deutschland Karl-Heinz Roth, Bruno Wasser, Sabine Schleiermacher und andere die Dimensionen des Generalplans Ost rekonstruierten,117 Susanne Heim und Götz Aly die Funktion der wissenschaftlich-technischen Eliten als „Vordenker der Vernichtung“ analysierten118 und Mechthild Rössler und Winfried Schulze den Anteil geographischer und historiographischer Forschungen an der Volkstums- und Vernichtungspolitik aufzeigten,119 problematisierte die deutsch-amerikanische Konferenz Paths of Continuity am Deutschen Historischen Institut in Washington den Mythos eines Neuanfangs der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945.120 Bereits zuvor hatte Michael Burleigh mit seiner Pionierstudie Germany turns eastwards den Fokus auf die deutsche Ostforschung gerichtet.121 Indem Burleigh auf breiter empirischer Basis deren konzeptionelle, personelle und institutionelle Dimension umriss und ihre Mitwirkung und Mittäterschaft an der Vertreibung, Versklavung oder Vernichtung ganzer Gesellschaftssegmente offen legte, regte er eine Reihe aufschlussreicher Folgestudien an. Zu diesen zählen Ingo Haars Pionierstudie über das Zusammenspiel von jungkonservativem Grenzlandaktivismus, Antisemitismus und Ostforschung an der Universität Königsberg,122 Willi Oberkromes Überblick über das Handbuch des Grenz- und
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Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, S. 14. Siehe die Verweise in Fußnote 96. Aly, Götz/Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1990. Rössler, Mechtild: „Wissenschaft und Lebensraum“: Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Hamburg u.a. 1990; Schulze, Winfried: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989. Lehmann, Hartmut/van Horn Melton, James/Lazar, David/Mauch, Christof (Hrsg.): Paths of continuity. Central European historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge u.a. 1994. Burleigh, Michael: Germany turns eastwards. A study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge u.a. 1989. Haar, Ingo: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000; ders.: „Revisionistische“ Historiker und Jugendbewegung. Das Königsberger Beispiel, in: Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, S. 52103; ders.: German Ostforschung and Anti-Semitism, in: ders. u.a. (Hrsg.), German Scholars, S. 1-27. – Vgl. hierzu auch Kossert, Andreas: „Grenzlandpolitik“ und Ostforschung an der Peripherie des Reiches. Das ostpreußische Masuren 1919-1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 117-146.
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Auslanddeutschtums und Michael Fahlbuschs materialreiche Analyse der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften.124 Hierbei warfen die Erkenntnisse über die Teilhabe namhafter Historiker wie Werner Conze, Otto Brunner, Hermann Aubin und Theodor Schieder am Verbrechen der ‚ethnischen Flurbereinigung‘ grundsätzliche Fragen nach der konkreten Mitschuld der Wissenschaftler sowie den Mechanismen des Beschweigens oder Relativierens in ihrem akademischen Umfeld auf, die auch in der Medienöffentlichkeit aufgegriffen und diskutiert wurden. Richtete sich das Interesse also zunächst auf die Beteiligung prominenter Historiker an der Ostforschung, so lenkte der Skandal um den früheren SS-Funktionär Hans Ernst Schneider, der unter seinem 1945 angenommenen Pseudonym Hans Schwerte das Germanistische Institut der RWTH Aachen geleitet, das Amt des Rektors bekleidet und die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen in Bezug auf die niederländische Hochschullandschaft beraten hatte, den Blick auf die Westforschung, insbesondere die Wissenschaftspolitik der SS in den westlichen „germanischen Randstaaten“ und die dort mobilisierte intellektuelle Kollaboration.125 Auch dieser Skandal löste heftige Kontroversen um moralische 123
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Oberkrome, Willi: Geschichte, Volk und Theorie. Das „Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, in: Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, S. 104-127. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst. Vgl. Zondergeld, Gjalt: Hans Ernst Schneider in den Niederlanden. Vortrag auf Einladung der Fachschaft Philosophie in Aachen am 23. Mai 1995, in: Fachschaft Philosophie der RWTH Aachen (Hrsg.): „Die Feierlichkeiten sind nicht betroffen“. Die Fälle Schneider, Gehlen und Rohrmoser im 125. Jahr der RWTH Aachen (philfalt EXTRA), Aachen 1995; AutorInnenkollektiv für Nestbeschmutzung: Schweigepflicht. Eine Reportage, Der Fall Schneider und andere Versuche, nationalsozialistische Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte aufzudecken, Münster 1996; Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Hrsg.): Ein Germanist und seine Wissenschaft. Der Fall Schneider/Schwerte (Erlangener Universitätsreden, 53/1996, 3. Folge), Erlangen 1996; Rusinek, Bernd-A.: Zwischenbilanz der Historischen Kommission zur Untersuchung des Falles Schneider/Schwerte und seiner zeitgeschichtlichen Umstände, Ms., Düsseldorf 1996; Müller, Thomas: Der gute Mensch von der SS. Die Düsseldorfer Zwischenbilanz zum Fall Schneider zeigt, wie einfach Geschichtsschreibung funktioniert, in: Ein Loch in der Zensur, Heft 69/1996; König, Helmut/Kuhlmann, Wolfgang/Schwabe, Klaus (Hrsg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997 (im Folgenden zitiert als: König u.a. [Hrsg.], Vertuschte Vergangenheit); Loth, Wilfried /Rusinek, Bernd-A. (Hrsg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a.M. u.a. 1998; König, Helmut (Hrsg.): Der Fall Schwerte im Kontext, Opladen/Wiesbaden 1998; Jäger, Ludwig: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/Schwerte und die Diskretion der Germanistik, München 1998; Leggewie, Claus: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, München 1998; Antirassismus-Referat der Studentischen Versammlung der Universität Erlangen (Hrsg.): Ungeahntes Erbe. Der Fall Schneider-Schwerte: Persilschein für eine Lebenslüge, Aschaffenburg 1998; Lerchenmüller, Joachim/ Simon, Gerd: Wie der SS-Hauptsturmführer Schneider zum BRD-Hochschulrektor wurde und andere Geschichten über die Wendigkeit deutscher Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Tübingen 1999; Henkes, Barbara/Rzoska, Björn: Volkskunde und „Volkstumspolitik“ der SS in den Niederlanden. Hans Ernst
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Schuld, über die Neubewertung wissenschaftlichen Schaffens, über Mitwisserschaft und nicht zuletzt über die Anatomie der Enttarnung auf – Fragen, die trotz einer Vielzahl von Publikationen nicht abschließend beantwortet sind. Bereits im Zuge der Erforschung des Generalplans Ost hatte der Amsterdamer Architekturhistoriker Koos Bosma am Beispiel der „Ostsiedlung der Niederländer“ sehr konkrete Verbindungslinien zwischen den west- und ostpolitischen Planungen aufgezeigt,126 und auch Mechtild Rössler belegte am Beispiel des Geographen Walter Geisler direkte, personelle und konzeptionelle Verknüpfungen von Ost- und Westforschung. Mit seiner Dissertation Volksgeschichte – Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945 lenkte schließlich Willi Oberkrome den Blick auf die Westforschung und ihre wichtigste Organisation, die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft.127 Er skizzierte einen in die Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges zurückreichenden Etablierungsprozess, der zunächst unter der Ägide der Leipziger Stiftung für deutsche Volksund Kulturbodenforschung stand und sich, wie auch die Ostforschung, in den Dienst des ‚Grenzkampfes‘ stellte. Die in multidisziplinären Pilotprojekten erprobte Methodik der Volks- und Kulturbodenforschung entfaltete, so Oberkrome, eine hohe Attraktivität und wurde von den neuen, politisch agierenden Forschungseinrichtungen wie dem Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande rasch adaptiert. Parallel hierzu beobachtete Oberkrome einen Radikalisierungsprozess, in dessen Verlauf sich Westforscher nach dem Vorbild der Königsberger Ostforschung als ‚kämpfende Wissenschaft‘ begriffen und verstärkt raum- und rassentheoretischen Paradigmen zuwandten. Von herausragender Bedeutung für das Verständnis der institutionellen, personellen und thematischen Verbindung von Ost- und Westpolitik ist die umfangreiche Studie Michael Fahlbuschs über die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG). Im Anschluss an Oberkrome macht sie deutlich, wie sich auf der Grundlage der Volks- und Kulturbodenforschung zwischen 1931 und 1934 eine wissenschaftliche Großorganisation herausbildete, die die meisten Repräsentanten der akademischen Grenzlandforschung umfasste und bis in den Zweiten Weltkrieg hinein eine hegemoniale Stellung einnahm.128 Ihre Leitung rekrutierte sich, wie Fahlbusch belegt, vor allem aus dem Umfeld der jungkonservativen Grenzlandbewegung,129 deren Akteure damit über einen „größeren politischen Handlungsspielraum“ verfügten, „als bisher angenommen wurde.“130 Die Organisation, die eng mit
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Schneider und seine großgermanischen Ambitionen für den niederländischen Raum, in: Dietz u.a. [Hrsg.], Griff nach dem Westen, S. 1111-1140. Bosma, Koos: Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation. Oberkrome, Willi: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; ders.: Reformansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit, in: Prinz, Michael/Zitelmann, Rainer (Hrsg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991, S. 216-238. Zur Entstehungsgeschichte der VFG vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 66-72. Fahlbuch nennt insbesondere den Juniclub, den Volksdeutschen Klub und die Münchener Deutsche Akademie. Vgl. ebd., S. 788ff. Ebd., S. 787.
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staatlichen (und nach 1933 nationalsozialistischen) Einrichtungen kooperierte und öffentlich nicht in Erscheinung trat,131 gliederte sich in fünf regionale Forschungsgemeinschaften: Die Nord- und Ostdeutsche, die Westdeutsche, die Alpenländische, die Südostdeutsche und die Überseeische Forschungsgemeinschaft; als sechste kam nach dem Überfall auf die Sowjetunion die Osteuropäische Forschungsgemeinschaft hinzu. Sieht man von der Überseeischen Forschungsgemeinschaft ab, so repräsentierte und bearbeitete jede dieser Organisationen einen bestimmten, auf der Mesoebene konzeptualisierten Abschnitt des ‚deutschen Grenzlandes‘. Eine Schlüsselrolle spielten grenznah angesiedelte Forschungsinstitute, die eine weitere regionale Spezialisierung der Forschungen vornahmen, lokale Ressourcen in die Grenzlandforschung einbrachten, die regionale Kulturpolitik beeinflussten und Verbindung zu Organisationen jenseits der Grenze unterhielten.132 Die nichtöffentlichen Tagungen der Forschungsgemeinschaften führten neben akademischen Experten gerade auch diese politischen und teils verdeckt arbeitenden Akteure auf der Mesoebene der ‚Grenzraum‘-Konstrukte zusammen. Nach Kriegsbeginn griffen die Forschungsgemeinschaften rasch auf die okkupierten Länder über, indem sie ihre Expertise in die Planung und Evaluierung von Neuordnungs-, Umsiedlungs- und Vernichtungsmaßnahmen einbrachten,133 am Raub kultureller Güter mitwirkten134 und intellektuelle Kollaboration in den besetzten Ländern organisierten. Fahlbusch unterscheidet dabei drei Hierarchieebenen, denen wir neben ihren spezifischen Funktionen und Ambitionen auch spezifische Operationsräume und Raumkonzepte zuordnen können: der Berliner Führungsebene den gesamten ‚Grenzraum‘ des Deutschen Reiches, der zweiten Ebene der einzelnen Forschungsgemeinschaften die Raumkonstrukte der Mesoebene und der dritten Ebene der Institute schließlich die unmittelbaren Grenzregionen. Was die VFG in unserem Kontext so interessant macht, ist, dass sie in ihrer Organisationsstruktur geradezu idealtypisch die transformierte Grenze widerspiegelten: Sie stellten so etwas wie einen organisatorischen Nachbau des ringförmig um Deutschland gelagerten ‚Grenzlandes‘ mit seinen spezifischen Ausprägungen nach Osten, Westen, Norden, Süden und Südosten dar. Der ‚Westraum‘ besaß in der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft also ein institutionelles und paradigmatisches Pendant. Neben der Rekonstruktion der WFG durch Oberkrome und Fahlbusch markiert Peter Schöttlers programmatischer Aufsatz Die historische „Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und territorialer Offensive (1997) den Beginn einer kritischen Historiographie der Westforschung. Ohne das zu Grunde liegende Raumkonzept explizit zu thematisieren, definierte er die Westforschung als ein auf eine territoriale Verkleinerung Frankreichs gerichtetes Handeln, das letzten Endes auf die Legitimation einer völlig neuen Westgrenze und der Germanisierung der durch sie abgetrennten frankophonen Gebiete hinauslief. Schöttler stützte sich dabei auf die verschollen geglaubte Denkschrift Stuckarts über die künftige deutsch-französische Grenze vom Juni 1940, die er unter dem provokativen Titel Eine Art „Generalplan West?“ editierte. Diese rhetorische Frage zielte darauf ab, die West131 132 133 134
Vgl. ebd., S. 79-85. Vgl. die Übersicht ebd., S. 791. Vgl. ebd., S. 512-522. Vgl. ebd., S. 499ff.
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forschung als Fundament einer bevölkerungspolitischen Neuordnung des Westens zu begreifen, die dem gleichen planerischen Optimierungskalkül folgte wie der Generalplan Ost, jedoch nicht dessen mörderische Qualität erreichte. Diese Arbeiten boten einen Deutungsrahmen für eine Vielzahl regional ansetzender Studien über die deutsche Volkstumspolitik und -forschung beiderseits der Westgrenze. Neben Lothar Kettenackers Pionierstudie über das Elsass135 gehören hierzu etwa die Arbeiten Ludwig Linsmayers über das Saargebiet,136 Karl Ditts über den Provinzialverband Westfalen, Klaus Pabsts über Eupen-Malmedy137 und Gjalt Zondergelds über die deutsch-niederländischen Grenzgebiete.138 Ich selbst steuerte einige Beiträge über die Rheinprovinz, Belgien, die Niederlande und das Aachener Grenzgebiet bei.139 Kaum rezipiert ist in der deutschsprachigen Forschung hingegen die in Belgien und den Niederlanden umfangreich untersuchte flämisch-nationalistische und die mit ihr verwandte großniederländische Bewegung. Zu nennen sind hier insbesondere die beiden in den 1970er und 1990er Jahren erschienenen Enzyklopädien.140 135
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Kettenacker, Lothar: Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973. Vgl. ferner Lankenau, Irmgard: Die Elsass-Lothringer im Reich 1918-1933: Ihre Organisationen zwischen Integration und „Kampf um die Seele der Heimat“, Frankfurt a.M. u.a. 1984; Rothenberger, Karl-Heinz: Die elsaß-lothringische Heimat- und Autonomiebewegung zwischen den beiden Weltkriegen, Bern u.a. 1975; Rigoulot, Pierre: L’Alsace-Lorraine pendant de la guerre: 1939-1945, Paris 1997. Linsmayer, Ludwig (Hrsg.): Der 13. Januar. Die Saar im Brennpunkt der Geschichte, Saarbrücken 2005; ders.: Politische Kultur im Saargebiet 1920-1932. Symbolische Politik, verhinderte Demokratisierung, nationalisiertes Kulturleben in einer abgetrennten Region, St. Ingbert 1992. Zur Entwicklung des Saargebietes nach 1945 vgl. ergänzend Hudemann, Rainer/Heinen, Armin (Hrsg.): Das Saarland zwischen Frankreich, Deutschland und Europa 19451957. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Saarbrücken 2007. Zur bundesrepublikanischen Neuauflage grenzlandpolitischer Methoden gegenüber der Saar vgl. Elzer, Herbert: Die deutsche Wiedervereinigung an der Saar. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und das Netzwerk der prodeutschen Opposition 1949-1955, St. Ingbert 2007. Pabst, Klaus: Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1914-1940, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 76 (1964), S. 206-515 (im Folgenden zitiert als: Pabst, Eupen-Malmedy). Zondergeld, Gjalt: De Friese Beweging in het tijdvak de beide Wereldoorlogen, Leeuwarden 1978; vgl. auch Reeken, Dietmar von: Heimatbewegung, Kulturpolitik und Nationalsozialismus: Die Geschichte der „Ostfriesischen Landschaft“ 1919-1949 (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Bd. 75), Aurich 1995. Müller, Thomas: Die Formierung des „Grenzraums“. Die ‚Abteilung G‘ des Reichsinspekteurs und Landeshauptmanns Haake, in: Dietz u.a. (Hrsg.), Griff nach dem Westen, S. 763-790 (im Folgenden zitiert als: Müller, Formierung); ders., „Ausgangsstellung“; ders.: Identitätspolitik; ders.: Gau Köln-Aachen; ders.: Belgien im „Westmark“-Diskurs, in: Begenat-Neuschäfer, Anne: Belgien im Blick. Interkulturelle Bestandaufnahmen / Regards croisés sur la Belgique contemporaine / Blikken op België. Interculturale beschouwingen, Frankfurt a.M. u.a. 2007. Encyclopedie van de Vlaamse Beweging, hrsg. v. Josef Deleu, Tielt 1973-75; Nieuwe encyclopedie van de Vlaamse Beweging, hrsg. v. Reginald de Schryver, Tielt 1998. Vgl. auch Dolderer, Deutscher Imperialismus.
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Mit ihrem Sammelwerk Griff nach dem Westen unternahmen Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau 2003 den Versuch, die einzelnen Fäden aufzunehmen. In den ersten beiden Teilbänden, die den „nordwesteuropäischen Raum“ mit den Niederlanden und Belgien behandelten, finden sich eine Reihe weiterführender Arbeiten wie Heribert Müllers exemplarische Analyse der Historiographie Burgunds in der Westforschung,142 Stephan Laux’ und Ine van Linthouts Beiträge über den deutsch-flämischen Transfer wissenschaftlicher und politischer Programme,143 Marnix Beyens Beitrag zur Wallonenforschung144 und Wilfried Maxims Darstellung der räumlichen Strukturierung der Forschungen des Bonner Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande nach „Frontabschnitten“.145 Doch liegt in der Fokussierung auf die späteren Benelux-Staaten, wie Schöttler treffend angemerkt hat,146 der entscheidende Mangel: Westforschung erscheint weniger als ein gegen Frankreich gerichtetes Agieren auf der Grundlage eines strategisch operationalisierbaren Raumkonzepts, in dem die kleineren neutralen Staaten spezifische Sonder- und Nebenrollen spielten, sondern als ein gleichrangig oder gar primär auf den „Nordwesten“ fokussiertes Vorgehen. Mit anderen Worten also zeigte Griff nach dem Westen eine spezifische Ausdifferenzierung der Westforschung, nicht jedoch ihr eigentliches Motiv und das aus ihm resultierende Raumkonzept. Genau dieses Versäumnis, das durch die Realisierung der zunächst angekündigten Fortsetzungsbände des ambitionierten Werks über die Frankreichforschung leicht hätte behoben werden können, unterlief auch Hans Derks, der in seinem zeitgleich vorgelegten Band Deutsche Westforschung147 ebenfalls nur die Niederlande- und einzelne Aspekte der Belgienforschung behandelte. Methodische Mängel, vor allem aber die von schroffen Angriffen auf dessen Nachfolger begleitete Fokussierung auf Petri, führten zu einer überwiegend negativen Rezeption, die einen wesentlichen Impuls Derks übersah. So hatte er mit Nachdruck nicht nur nach dem strukturellen, methodischen und thematischen Nachleben der deutschen 141 142
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Dietz u.a. (Hrsg.), Griff nach dem Westen. Müller, Heribert: „Von welschem Zwang und welschen Ketten des Reiches Westmark zu erretten“. Burgund und der Neusser Krieg 1474/75 im Spiegel der deutschen Geschichtsschreibung von der Weimarer Zeit bis in die frühe Bundesrepublik, in: ebd., S. 185-292. Laux, Stefan: Flandern im Spiegel der „wirklichen Volksgeschichte“. Robert Paul Oszwald (1883-1945) als politischer Funktionär, Publizist und Historiker, in: ebd., S. 247-290 (im Folgenden als: Flandern im Spiegel); Linthout, Ine van: „Flandern, halte dich bereit, als Westmark in dieser Welt deinen Platz einzunehmen“. ‚Westforschung‘, (Literatur-)wissenschaft und Flandern im Nationalsozialismus, in: ebd., S. 325-350. Beyen, Marnix: Eine lateinische Vorhut mit germanischen Zügen. Wallonische und deutsche Gelehrte über die germanische Komponente in der wallonischen Geschichte und Kultur, in: ebd., S. 351-382 (im Folgenden zitiert als: Beynen, Lateinische Vorhut). Maxim, Wilfried: „Frontabschnitte“ der ‚Westforschung‘ in der Publizistik der Bonner Schule, in: ebd., S. 673-688. Zum Bonner Institut vgl. aktuell Groten, Manfred/Rutz, Andreas (Hrsg.): Rheinische Landeskunde an der Universität Bonn. Traditionen – Entwicklungen – Perspektiven, Bonn 2007. Vgl. Schöttler, Rezension Griff nach dem Westen. Derks, Hans: Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, Bd. 4), Leipzig 2001 (im Folgenden zitiert als: Derks, Westforschung).
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Westforschung bis in die Gegenwart hinein gefragt, sondern zusätzlich die Westforschung vor allem der niederländischen Kollaborateure in den Blick gerückt und am Beispiel der Trockenlegung der Zuiderzee das Zusammenwirken deutscher und niederländischer Raumplaner, Siedlungsexperten, Kulturwissenschaftler und Sozialhygieniker analysiert.148 Freilich hatte Bosma bereits 1993 mit einer zu Unrecht wenig beachteten Studie über die Kollaboration der niederländischen Raumplanung wichtige Grundlagen hierfür geliefert.149 In den zuletzt vorgelegten Arbeiten zur Westforschung ist diese Verengung auf den Nordwesten überwunden. So untersuchte Petra Overath die Diskussion um den französischen Geburtenrückgang,150 während Uwe Mai die Agrar- und Siedlungspolitik im NS-Gau Westmark erforschte und in die Genese sozialhygienischer und rassenideologischer Planungen einordnete.151 In wissenschaftshistorischen Arbeiten kamen Forschungen und Forschungsprogramme in den Blick, die nicht oder nur am Rande der WFG zugerechnet werden können, so etwa die Westforschung der Technischen Hochschule Aachen,152 das Westforschungsprogramm der Arbeitsstelle für auslandsdeutsche Volksforschung am Deutschen Ausland-Institut (DAI) in Stuttgart153 und die Westforschung der Universitätsarbeitsgemeinschaften für Raumforschung mit ihren westeuropäischen Teilprojekten des Europäischen Raumforschungsprogramms des Reichsführer-SS.154 Marc Engels zeigte am Beispiel des Kölner Wirtschaftsgeographen Bruno Kuske einen entscheidenden Wandel der Westforschung während des Zweiten Weltkrieges auf, der im Hervortreten der anwendungsorientierten gegenüber den bislang vor allem untersuchten legitimationsstiftenden Disziplinen bestand, solcher Disziplinen also, die für die wirtschaftliche und infrastrukturelle Erschließung des ‚Westraumes‘ und seine Einbindung in den deutschen ‚Großwirtschaftsraum‘ von hoher praktischer Bedeutung waren; darüber hinaus thematisierte er die Vorläufer der wirtschaftswissenschaftlichen Westforschung im Kriegszieldiskurs des Ersten Weltkrieges und lieferte wertvolle Hinweise auf die Zeitschrift
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Vgl. ebd., S. 128-205. Vgl. auch den neueren Beitrag: Derks, Hans: German Westforschung, 1918 to the Present: The Case of Franz Petri, 1903-1993, in: Haar u.a. (Hrsg.), German Scholars, S. 175-199. Bosma, Koos: Ruimte voor een nieuw tijd. Vormgeving van de Nederlandse regio 1900-1945, Rotterdam 1993. Overath, Krisendeutung; dies.: Transfer als Verengung? Zur internationalen Diskussion über den Geburtenrückgang in Frankreich in Texten von Fernand Boverat, Roderich von Ungern-Sternberg, Joseph John Spengler in den späten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Chatriot, Alain (Hrsg.): Figurationen des Staates in Deutschland und Frankreich, 1870-1945, München 2006, S. 185211. Mai, Uwe: „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002; vgl. auch ders.: Ländlicher Wiederaufbau in der „Westmark“ im Zweiten Weltkrieg, Kaiserslautern 1993. Müller, „Ausgangsstellung“. Ders./Freund, Westforschung, S. 759f. Haupts, Leo: Die „Universitätsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ und die politische Indienstnahme der Forschung durch den NS-Staat. Das Beispiel der Universität zu Köln, in: Rheinische Vierteljahresblätter 68 (2004), S. 172200.
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Westland. Diese disziplinäre Ausdifferenzierung der Westforschung vollzog sich parallel zu einer zunehmenden Kontrolle und Hegemonie der SS, die von Fahlbusch am Beispiel der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften und der WFG erstmals dargestellt und nunmehr weiter rekonstruiert werden konnte.156 Insgesamt also erwies sich die Westforschung als ein politisches Handeln auf mehreren Ebenen: Neben der Legitimation der Expansion und ihrer Unterstützung durch Fach- und Prozesswissen gehörte hierzu die Etablierung deutscher Forschungseinrichtungen in den besetzten Gebieten (also eine Expansion der Wissenschaft selbst), die Organisierung intellektueller Kollaboration, die Mitwirkung am Raub kultureller und materieller Güter und das systematische Abschöpfen von Wissen. In seiner Dissertation über die völkischen Wissenschaften in der Pfalz hat Wolfgang Freund das Agieren der wichtigsten regionalen Westforscher auf diesen unterschiedlichen Handlungsebenen im Prozess der schrittweisen Expansionsbewegung Pfalz-SaarLothringen herausgearbeitet157 und durch Studien über die Bedeutung Burgunds in der Westforschung und Westpolitik der SS ergänzt.158 Eine detailreiche Ergänzung bietet der mehrsprachige Ausstellungsband L’archéologie nazie en Europe de l’Ouest, der am Beispiel der Archäologie die Expansion der deutschen Wissenschaft in den besetzten ‚Westraum‘ und die Integration intellektueller Kollaborateure darstellt.159 Insgesamt richtet sich das Forschungsinteresse zudem auf die Interaktion von West- und Ostforschung, wie Matthias Midells und Ulrike Sommers vergleichender Sammelband über die Geschichtswissenschaften, Ingo Haars und Michael Fahlbuschs exzellenter Band German Scholars and Ethnic Cleansing 1919-1945 und das jüngst von ihnen herausgegebene Handbuch der völkischen Wissenschaften unterstreichen.160 Darin schlagen Wolfgang Freund und ich eine Definition der Westforschung als politisch motivierte Forschung vor, deren Paradigma und Gegenstand das seit den 1890er Jahren innerhalb der deutschen Rechten vorhandene Raumkonzept der ‚Westmark‘ war.161 Eine Untersuchung dieses Raumkonzepts steht bislang aus und soll mit der vorliegenden Arbeit versucht werden. Überblicken wir die Literatur, so setzen die meisten Studien unhinterfragt mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Versailler Frieden an. Es ergibt sich damit das unvollständige Bild einer zunächst defen155
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Engels, Marc: Die „Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes“. Bruno Kuske und die wirtschaftswissenschaftliche Westforschung zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Aachen 2007 (im Folgenden zitiert als: Engels, „Wirtschaftsgemeinschaft“). Fahlbusch, Michael: The Role and Impact of German Ethnopolitical Experts in the SS Reich Security Main Office, in: Haar u.a. (Hrsg.), German Scholars, S. 28-50; ders.: Reichssicherheitshauptamt Abteilung VI G (Reichsstiftung für Länderkunde), in: Haar, Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 545555. Freund, Volk, Reich und Westgrenze. Ders., NS-Volksforschung im Nibelungenland; Müller/ders., Westforschung, S. 758f. Legendre u.a. (Hrsg.), L’archéologie nazie. Midell, Matthias/Sommer, Ulrike (Hrsg.): Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – Verflechtungen und Vergleich, Leipzig 2004; Haar u.a. (Hrsg.), German Scholars; dies. (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Müller/Freund: Westforschung, S. 752ff.
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siven Grenzlandforschung, die sich unter dem Einfluss völkischer und jungkonservativer Ideologien schrittweise radikalisierte, ihre Methodiken und Forschungspraxen allmählich mit rassenideologischen Elementen anreicherte und sich im Zuge dieses Prozesses erst Regionen zuwandte, die nicht nur außerhalb der deutschen Vorkriegsgrenzen, sondern auch außerhalb der deutschen Sprachgrenze lagen. Demgegenüber fasse ich die Westforschung der Nachkriegszeit als einen Verwissenschaftlichungsprozess bestehender, aber nur unzureichend wissenschaftlich flankierter Raumkonzepte auf, der sie aus dem brisanten Kontext des Kriegszieldiskurses herauslöste und unter dem Druck unerwarteter politischer Ereignisse und Restriktionen konkretisierte. Der Druck, unter den Bedingungen der Besatzung auf den Versailler Vertrag reagieren und den virulenten Krisen begegnen zu müssen, erzeugte einen gleichzeitigen Bedarf an verbesserten wissenschaftlichen, publizistisch-propagandistischen und praktisch-politischen Konzepten, der den nackten Materialismus und unverhohlenen Zynismus der alldeutschen Raumkonzepte rasch obsolet werden ließ und sich in einer engen Interaktion von Grenzlandforschung und Grenzlandpolitik ausdrückte. Die auf ‚Abwehr‘ zielende Westforschung der ersten Nachkriegsjahre wäre dann also als eine defensive Neuformulierung eines tatsächlich bereits etablierten offensiven Raumkonzepts zu verstehen. Die Fokussierung des Forschungsinteresses auf die Westforschung verführt zudem zu einer vorschnellen Ausblendung jener un-, halb- und populärwissenschaftlichen Literatur über die Westgrenze, die einen erheblichen Anteil der zeitgenössischen Diskurse ausmachte und deren raumkonzeptionelle Bedeutung keineswegs unterschätzt werden darf. Sowohl der alldeutsche ‚Westmark‘-Diskurs, als auch die jungkonservative Neujustierung und grenzlandpolitische Operationalisierung vollzogen sich zu einem Großteil nicht in fachwissenschaftlichen Medien, sondern in einer Vielzahl populärwissenschaftlicher, politischer und propagandistischer, oft nur als graue Literatur überlieferter Schriften und Bilder. Dieses diskursive Umfeld aber war es, in dem die nachrückende Generation von Westforschern, Experten und Funktionsträgern ihr politisches Verständnis des ‚Grenzraumes‘ ausbildete und kommunizierte. Es gilt also, gerade auch diese Seite des Diskurses in den Blick zu nehmen. Nicht zuletzt stellt sich – aber dies geht über das Ziel der vorliegenden Studie hinaus – die Frage nach dem Transfer der Raumkonzepte, -bilder und -ideologien zwischen Deutschland und seinen Nachbarstaaten,162 aber auch nach gegenläufigen Raumkonzepten, auf denen eine kritische Forschung aufbauen kann. Einen wichtigen Impuls in diese Richtung setzte Schöttler mit 162
Vgl. zum deutsch-polnischen Transfer Piskorski, Jan M. (Hrsg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück u.a. 2002. Berthold Petzinna weist zum deutsch-französischen Transfer auf die Vorbildfunktion der neuen französischen Rechten um Maurice Barrès für die deutschen Jungkonservativen hin. Vgl. Petzinna, Berthold: „Erziehung zum deutschen Lebensstil“. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918-1933, Berlin 2000 (im Folgenden zitiert als: Petzinna, Erziehung); ders.: Die Wurzeln des Ring-Kreises, in: Schmitz, Walter/Vollnhals, Clemens (Hrsg.): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005, S. 139-150, hier: 141 (im Folgenden zitiert als: Petzinna, Wurzeln des „Ring“-Kreises).
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seiner Übersetzung und Kommentierung von Lucien Febvres 1931 gemeinsam mit dem Geographen Albert Demangeon veröffentlichten Schrift Le Rhin – Problèmes d’histoire et d’économie,163 die, wie er treffend feststellt, als eine „Mentalitätsgeschichte des deutsch-französischen Grenzraumes“ gelesen werden kann. In diametralem Gegensatz zur deutschen Westforschung gehe es Febvre nicht um völkische oder rassische Dispositionen und das Erkennen ihrer landschaftlichen, kulturellen oder wirtschaftlichen Indikatoren, sondern um die Rekonstruktion der „in den Grenzräumen gewachsenen oder zerstörten Sozialstrukturen und [der …] emotionalen Beziehungen zwischen den Bewohnern“, um eine konsequent sozialhistorische und entmythologisierende Perspektive also, die eine Dekonstruktion des ‚Westraumes‘ ermöglicht.164 In den vergangenen Jahren sind Grenzen und Grenzregionen in der Tat zu einem bevorzugten Forschungsfeld der Sozial-, Mentalitäts-, Kultur- und Nationalismusgeschichte geworden. Aktuell forcieren etwa die beiden von Etienne François und Christophe Duhamelle herausgegebenen Sammelwerke Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion und Grenzregionen eine interdisziplinäre Forschung über die Konstruktion des Nationalen, die territoriale Fixierung der Nation und die Nationalisierung des Raumes.165 In diesem Kontext analysierten Daniel Nordmann die Herausbildung des Konzepts der Nationalgrenze im frühneuzeitlichen Frankreich,166 Stefanie Schlesier die Wahrnehmung der Grenzen in Lothringen und der preußischen Rheinprovinz167 und Nicolas Beaupré die Grenzdiskurse im internationalisierten Saargebiet.168 Nicht zuletzt lenken die Forschungen Guntram Herbs über das Medium der Suggestivkarten,169 Vanessa Conzes über den Grenzdiskurs als
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Febvre, Lucien: Der Rhein und seine Geschichte. Hrsg., übers. u. mit einem Nachwort v. Peter Schöttler, 3. Aufl., Frankfurt a.M. u.a. 2006. Schöttler, Peter: Lucien Febvres Beitrag zur Entmythologisierung der Rheinischen Geschichte. Nachwort, in: ebd., S. 218-265, hier: 240f. Duhamelle, Christophe/Kossert, Andreas/Struck, Bernhard (Hrsg.): Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2007; Françoise, Etienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hrsg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2008 (im Folgenden zitiert als: Françoise u.a. [Hrsg.], Grenze als Raum); vgl. auch Loew, Peter Oliver/ Pletzing, Christian/Serrier, Thomas (Hrsg.): Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas, Wiesbaden 2006. Nordman, Daniel: Von Staatsgrenzen zu nationalen Grenzen, in: Françoise, Grenze als Raum, S. 107-134. Schlesier, Stephanie: Vereinendes und Trennendes. Die Grenzen und ihre Wahrnehmung in Lothringen und preußischer Rheinprovinz, 1815-1914, in: ebd., S. 135-162. Beaupré, Nicolas: (Wieder-)Herstellen, löschen, verschieben. Grenzen in den Köpfen. Das Saarland zwischen Krieg und Volksabstimmung in den ersten Jahren der „Besatzungszeit“, in: ebd., S. 163-182. Herb, Guntram: Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda, 1918-1945, London u.a. 1997 (im Folgenden zitiert als. Herb, Under the Map); ders.: Von der Grenzrevision zur Expansion. Territorial-Konzepte in der Weimarer Republik, in: Schröder, Iris/Höhler, Sabine (Hrsg.): WeltRäume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt 2005, S. 175-203.
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Überschreibungsstrategie der Kriegsniederlage170 und Werner Kösters über den politischen Raumdiskurs171 den Blick auf den Konzeptualisierungsprozess des ‚deutschen Raumes‘ jenseits der Ost- oder Westforschung. An diesem Punkt berührt die Erforschung des ‚Westraumes‘ auch jene neuen kultur- und politisch-geographischen Ansätze, die ein neues Verständnis der Geographie als – immer auch diskursiv vermittelter und ideologisch durchsetzter – Konzeptualisierungsprozess von Räumen und Grenzen entwickelt haben.172
K o n z e p tg e sc hi c h te u n d D i sk u r sgemeinschaften: Zur Methodik „Gegenüber den Schriften der NS-Historiker“ sei, so Peter Schöttler, ein „doppeltes methodisches Korrektiv angebracht: Erstens müssen sie stets in ihrem praktischen Zusammenhang betrachtet und zweitens als Texte ernster genommen, also wirklich gelesen werden. Die scheinbar innovativen Schriften eines Franz Petri oder Werner Conze oder Otto Brunner lesen sich anders, wenn man weiß, daß sie im Zusammenhang oder im Auftrag der West- oder Nordost- oder Südostdeutschen Forschungsgemeinschaften entstanden sind und dass sich ihre Autoren damit in politische Projekte einschrieben. Doch sie lesen sich auch anders, wenn man sie nicht nur von außen kritisiert, sondern von innen dekonstruiert, also Satz für Satz, Argument für Argument, Begriff für Begriff, Quelle für Quelle gegen den Strich bürstet.“173 Ich möchte ein drittes Korrektiv hinzufügen, denn die Lesart verändert sich ebenfalls, wenn wir die Westforschung als Bestandteil des Konstruktions- und Aneignungsprozesses des ‚Westraumes‘ begreifen und die Entstehung und Wandlung genau dieses Raumkonzepts in den Blick nehmen. Dieser Versuch – eine Konzeptgeschichte des ‚Westraumes‘ – wird in der vorliegenden Studie unternommen. Mit anderen Worten wird es also darum gehen, aus der Fülle des diskursiven Materials jene Vorstellungen einer zum Raum transformierten Westgrenze herauszufiltern, die der (als politisches Handeln verstandenen)174 Westforschung in zeitlicher und erkenntnistheoretischer Hinsicht vorausgegangen waren und ihr entweder implizit als eine imaginative Geographie oder explizit als ein politisch motiviertes oder strategisch intendiertes Raumbild zu Grunde lagen, um gleichzeitig von ihr objektiviert, legitimiert und operationalisiert zu werden. Entscheidend scheint mir, dass das zu befragende diskursive Material nur zum geringen Teil aus wissenschaftlich ausgearbeiteten oder akademisch adressierten Texten der Westforscher besteht, sondern 170 171 172
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Conze, Grenzen der Niederlage. Köster, Rede über den „Raum“. Vgl. Ara, Angelo (Hrsg.): Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen: Elsaß-Lothringen/Triest 1870-1914, Berlin 1998; Kaser, Karl/GramshammerHohl, Dagmar/Pichler, Robert (Hrsg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt 2004. Schöttler, Peter: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 19181945. Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, S. 7-30, hier: 19. Vgl. Müller/Freund, Westforschung, S. 743.
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diese vielmehr auf einem breiten (und von den politisch engagierten Westforschern aktiv vergrößerten) Fundus politischer Theorie- und Schulungsschriften, propagandistischer Pamphlete, Reden und Karten, gruppeninterner Zirkulare, Lageberichte und Denkschriften bis hin zu nur archivalisch überlieferten Korrespondenzen und Notizen aufsetzte.175 Eine diskursanalytische Untersuchung dieses Materials wäre zweifelsohne fruchtbar, wenn es darum ginge, die Summe der Aussagen und die Struktur des Wissens über die Westgrenze und das ‚Westland‘ zu erfassen, und ebenso, wenn es darum ginge, mit Foucault nach dem Verhältnis dieser diskursiven Formation zu den Dispositiven der Macht zu fragen, welche – man denke etwa an seine brillante Genealogie der Biopolitik – die Moderne kennzeichnen, ihre Modi des Denkens und Handelns durchziehen und ihre Subjekte konstituieren.176 Aus Foucaults Baukasten lassen sich dekonstruktivistische Werkzeuge entnehmen, die es erlauben, ‚Raum‘ als Diskurs lesbar zu machen, ihn zugleich jedoch als eine irreduzibel nichtdiskursive Wirklichkeit zu begreifen, die, wie der Raumdiskurs selbst, von Macht durchzogen ist. Allerdings bleibt der Raumbegriff in Foucaults Werk in hohem Maße allgemein, wenn es etwa um die panoptische Blickrichtung der disziplinierenden Macht in Überwachen und Strafen,177 um das Tableau und den Operationstisch als räumliches Diagramm des enzyklopädischen Wissens in Die Ordnung der Dinge178 oder um die heterotopischen Repräsentationen von Orten in Andere Räume179 geht. Gleichwohl erblickte Foucault in einer Untersuchung der räumlichen Dimension dieser Machtdispositive eine folgerichtige Erweiterung seines Ansatzes, den er analog zum Begriff der Biopolitik als Geopolitik definierte: „The further I go in my work, the more it seems to me that formation of discourse and the genealogy of knowledge ought to be analysed not in terms of consciousness, modalities of perception or forms of ideology, but as tactics or strategies of power. These tatics and strategies are deployed by means of implantation, distribution, sections, control of territories, organization of domains, which taken together could constitute a sort of geopolitics, at which point my own preoccupations and scholarship meet up with yours, as Geographers.”180 175
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Bis 1929 erschienen rund 2500 selbständige Publikationen über „Westfragen“, darunter eine umfangreiche graue Literatur mit propagandistischer Stoßrichtung. Vgl. Reismüller, Georg/Hoffmann, Josef: Beschreibendes Verzeichnis des Schrifttums über die Westfragen mit Einschluß des Saargebietes und Eupen-Malmedys, Breslau 1929. Vgl. hierzu in komprimierter Form Foucault, Michel: Wie wird Macht ausgeübt?, in: ders.: Botschaften der Macht: Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien, hrsg. v. Jan Engelmann, Stuttgart 1999, S. 172-201. Vgl. ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994. Vgl. ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt 1971, S. 19; Foucault reflektiert zudem über Konzepte der convenienia, der aemulatio, der Analogie und der Sympathie/Antipathie als räumliche Inbeziehungsetzungen der Dinge (S. 46ff). Ders.: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heidi/Richter, Stefan (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmungen heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 6. Aufl., Leipzig 1998, S. 34-45. Ders. in Said, Edward: The Problem of Textuality. Two Exemplary Positions, in: Smart, B. (Hrsg.): Michel Foucault. Critical Assessments, vol. II, London 1994, S. 123. – Für den Hinweis danke ich Hannah Reich, Berlin.
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An diesem Punkt nun setzte vor rund zwei Jahrzehnten der cultural turn in der Politischen, Kultur- und Sozialgeographie – das Pendant zum spatial turn in den Kulturwissenschaften – an.181 Diese Öffnung der Raumwissenschaften gegenüber den postmodernen (und postkolonialen) Theorien182 ist für uns von hohem Wert, wollen wir den vielschichtigen und schillernden Grundbegriff ‚Raum‘ besser verstehen. So tue ich mich schwer, diese Geschichte des Grenz- und West-‚Raumes‘ nicht in erster Linie diskursanalytisch zu untersuchen. Die von Jürgen Link entwickelte Methode etwa, den Dispositiven der Macht durch eine Analyse der zwischen den verschiedenen Diskurssträngen und Diskursebenen fluktuierenden Interdiskurse und der in ihnen sichtbaren synchronen Systeme von Kollektivsymbolen auf die Spur zu kommen,183 ließe sich durchaus auf unser Thema anwenden: So können wir das diskursive Zusammenwirken der unterschiedlichen Disziplinen der Grenzlandforschung, der einzelnen Akteure des Grenzlandaktivismus und der von beiden adressierten Gruppen der ‚Frontgeneration‘, der ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘ oder der ‚kämpfenden Wissenschaft‘ durchaus als Interdiskurs ansehen, dessen Symbolwelt zu einem guten Teil durch Raumsymbole und Symbolräume – etwa die Symbolisierung der Grenze als Land, Festung, Front, Körper, Organ, Kampf, Haltung, Brücke, Netz, System etc.184 – geprägt sein dürfte. Links Forschungen über 181
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Vgl. Philo, Chris: Foucault’s Geography, in: Crang, Mike/Thrift, Nigel (Hrsg.): Thinking Space, London u.a. 2000 (im Folgenden zitiert als: Crang u.a. [Hrsg.], Thinking Space), S. 205-238; ders.: Details, Verschiedenheiten und Geographie – Anmerkungen zur Geographie von Michel Foucault, in: Matznetter, Walter: Geographie und Gesellschaftstheorie. Referate im Rahmen des „Anglo-Austrian Seminar of Geogrpahy and Social Theory“ in Zell am Moos, Oberösterreich, Wien 1995, S. 57-69; siehe ferner die Überlegungen zur Foucaults Heterotopiebegriff in Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Oxford u.a. 1996, S. 154-163. Vgl. hierzu Crang, Mike/Thrift, Nigel: Introduction, in: Crang u.a. (Hrsg.), Thinking Space, S. 1-30; Soja, Edward: Postmodern Geographies. The Reassertation of Space in Critical Social Theory, 3. Aufl., London u.a. 1993. – In der deutschsprachigen Literatur liegen zahlreiche Sammelbände über Raumkonstruktionen, Wissens- und Symbolräume vor, u.a.: Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hrsg.): Raum – Wissen – Macht, Frankfurt a.M. 2002; Geppert, Alexander C. T./Jensen, Uffa/Weinhold, Jörn (Hrsg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005; Stockhammer, Robert (Hrsg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005; Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008 (im Folgenden zitiert als: Döring u.a. [Hrsg.], Spatial Turn). Vgl. zusammenfassend Kemper, Franz-Josef: Landschaften, Texte, soziale Praktiken – Wege der angelsächsischen Kulturgeographie, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 147 (2003), S. 6-17. In diesen Kontext fällt auch Karl Schlögels Plädoyer für eine Erweiterung der Geschichtswissenschaft um die Raumkomponente: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. Vgl. zusammenfassend Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 2. Aufl., Duisburg 1999, S. 127-142. Jeder dieser Begriffe ist, mit Link gesprochen, im Interdiskurs der Grenzlandpolitik anzutreffen und wird im Verlauf der vorliegenden Studie entsprechend belegt.
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das Dispositiv der Normalität – den Normalismus, wie er es nennt – führt zudem zu einem Verständnis der Entlinearisierung von Grenzen als einem nicht nur auf Territorien bezogenen, sondern interdiskursiven Modernisierungsprozess, der sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in so unterschiedlichen Bereichen wie der Grenzziehung zwischen dem Gesunden und dem Kranken, dem Vernünftigen und dem Wahnsinnigen, dem Bürgerlichen und dem Deliquenten, dem Heterosexuellen und dem Homosexuellen, der politischen Mitte und dem politischen Extrem, der gesellschaftlichen Mittelschicht und ihren Abweichungen nach ‚oben‘ und ‚unten‘, ja selbst in Verfahren der technischen Normung und Kontrolle beobachten lässt: Überall fanden, so Link, Prozesse einer Flexibilisierung und Differenzierung oder, wenn man so will, einer Verräumlichung zunächst fix und linear vorgestellter Grenzen statt.185 Die von mir untersuchte Transformation der Grenzen zwischen In- und Ausland, zwischen Deutsch-Germanischem und FranzösischRomanischem, würde hier logisch anschließen und die im sozialen und diskursiven Raum beobachtete Wandlung des Grenzkonzepts auf den geographischen Raum rückbeziehen können. Aber eben darum geht es: um die Wandlung des Grenzkonzepts weniger in einem symbolischen oder diskursiven, sondern vielmehr in einem konkreten geographischen und historischen Raum, der sich synchron auf das Rheinland, das Ruhrgebiet, die Benelux-Staaten, Nordost- und Ostfrankreich und die Schweiz und diachron auf den Zeitraum zwischen den merowingischen, karolingischen bzw. lotharingischen Feudalstaaten und der in den Weltkriegen versuchten Neuordnung Europas bestimmen lässt. Es muss also darum gehen, aus dem (inter-)diskursiven Material genau jene grundlegenden Konzepte herauszulesen, die erforderlich waren, um dieses Gebiet als ‚westdeutschen Grenzraum‘ oder ‚Westraum‘ begreifbar zu machen. Während ein diskursanalytisches Verfahren die innere Struktur und die machtförmige Durchdringung dieses Diskurses ausleuchten kann, geht es mir um ein kritisches Verständnis der Schlüsselbegriffe ‚Grenzraum‘ (mit seinen Verwandten ‚Grenzsaum‘, ‚Grenzland‘, ‚Grenzmark‘, ‚Grenzdeutschtum‘ usw.) und ‚Westraum‘ (mit ‚Westland‘, ‚Westlande‘, ‚Westmark‘, ‚Westfront‘ usw.) als politische und soziale Konzepte, die, wie Reinhart Koselleck betont, stets in spezifischen Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten situiert sind.186 Unter Konzepten verstehe ich hierbei konsistente intellektuelle Konstruktionen, die politische, ökonomische und soziale Wandlungsprozesse registrieren und forcieren, zugleich aber im Sinne der angelsächsischen history of concepts spezifische Sprachen oder Diskurse darstellen, die es zu entschlüsseln gilt.187 In unserem Fall wäre dann zu fragen, „wann, wo, von wem und für 185 186 187
Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 2. Aufl., Opladen 1999. Vgl. hierzu Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375. Vgl. hierzu auch die vergleichende Darstellung der deutschen Begriffsgeschichte und der englischsprachigen history of political and social concepts bei Richter, Melvin: Reconstructing the History of Political Languages: Pocock, Skinner, and the Geschichtliche Grundbegriffe, in: History and Theory XXIX (1990), S. 38-70, insbes. S. 67-70; ders.: The History of Political and Social Concepts: A Critical Introduction, Oxford 1995 sowie die Debattenbeiträge hierzu in: History of European Ideas 25 (1999), S. 1-37. Zum Spannungsfeld zwischen deutschen, französischen und angelsächsischen Ansätzen
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wen welche Absichten und welche Sachlagen wie begriffen wurden“, welche sprachliche Pragmatik und Semantik aus diesem Begreifen resultierte und welche „zeitliche Binnenstruktur“ der Konzepte wir erkennen können,188 aber auch, wie diese intellektuellen Konstrukte in den geographischen Raum hinein konstruiert und in ihm verortet werden konnten, und schließlich, welche spezifisch räumliche Pragmatik und Semantik sie in welcher zeitlichen Folge aufwiesen. Unterscheiden wir mit Koselleck zwischen Erfahrungsregistratur-, Erfahrungsstiftungs- und Erwartungsbegriffen, so können wir ‚Grenzraum‘ und ‚Westraum‘ als Erfahrungsstiftungsbegriffe definieren, die „nicht nur auf Erfahrung“ – etwa der politischen, sozialen und ökonomischen Folgen von Grenzziehungen – aufsetzten und diese reflektierten, sondern auf ihre Veränderung zielten und eine vorgeblich bessere territoriale Ordnung begründeten.189 Die utopische und symbolische Aufladung, die das Grenzkonzept im alldeutschen und vor allem jungkonservativen Kontext erfuhr und die schließlich in gigantomanischen geo- und biopolitischen Planungen mündete, machte es schließlich zu einem Erwartungs- und Zukunftsbegriff, der zumindest in den drei Jahrzehnten der beiden Weltkriege zu einem unhinterfragbaren und unersetzbaren Grundbegriff gerann. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen stehen solche konzeptuellen Konstruktionen im Mittelpunkt meiner Untersuchung, die sich innerhalb bestimmter politischer und wissenschaftlicher Diskursgemeinschaften – den Alldeutschen und den Jungkonservativen, der Politischen Geographie und der Geopolitik – vollzogen und sich in ihrer Publizistik niedergeschlagen haben. Ihre „Entzauberung“190 wird die Prozesse ihrer Konstruktion und ihrer politischen Adressierung ebenso aufzeigen müssen, wie die Friktionen und Neujustierungen zwischen Kaiserreich, Weimarer Demokratie und Nationalsozialismus. Der Rekurs auf die Diskursgemeinschaften verspricht hierbei Aufschlüsse jenseits der vielzitierten Schriften eines Fichte oder Arndt, eines Ratzel oder Haushofer oder auch eines Metz oder Petri.191 Dieser Versuch setzt eine Reflexion über den Begriff des Raumes voraus. Für diese Reflexion bieten der cultural bzw. spatial turn brauchbare Ansatzpunkte. Denn „Raum“ bezeichnet in diesem neuen Verständnis nicht etwas objektiv Gegebenes, sondern kann als ein politisches und soziales Konzept aufgefasst werden, das die physische Wirklichkeit in ihrer räumlichen Dimension nicht eins zu eins abbildet. Vielmehr ist neben anderen Metanarra-
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der Begriffs- und Diskusgeschichte vgl. auch die Beiträge der vom dortigen Max-Planck-Institut für Geschichte ausgerichteten Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft in Bödeker, Hans Erich (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2002. Koselleck, Reinhart: Stichwort: Begriffsgeschichte, in: ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 99-102, hier: 100. Ders.: Die Geschichte der Begriffe und die Begriffe der Geschichte, in: ebd., S. 56-76, hier: 60. Im Sinne von Palonen, Kari: Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004. Eine solche diskursgeschichtlich erweiterte Begriffgeschichte wendet etwa Jörn Leonhard in seiner Studie über den Liberalismus in Deutschland, England, Italien und Frankreich an: Leonhard, Jörn: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines Deutungsmusters, München 2001.
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tiven der Moderne auch die Rede vom Raum als ein von Machtverhältnissen durchzogener Diskurs erkannt worden, der bestimmten Regularien, Filtern und Ordnungsvorstellungen folgt, der mit anderen Worten eine Praxis des Raum-Konzeptualisierens darstellt. In den Mittelpunkt des Interesses rücken, so Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer, „die geopolitischen Weltbilder, die feste Bestandteile vieler bis dahin für wahr und unverrückbar gehaltener ‚großer Erzählungen‘“ bildeten. Eine so verstandene kritische Politische Geographie ziele daher „auf eine Analyse der sprachlichen Diskurse, auf die geopolitischen Erzählungen, strategischen Raumbilder etc.“, mit deren Dekonstruktion zugleich „deren Rolle im Kontext raumbezogener Auseinandersetzungen und Konflikte auf allen Maßstabsebenen deutlich“ werde.192 Dieser Ansatz eröffnet die Möglichkeit, ‚Raum‘ als Diskurs in seiner von Foucault beschriebenen Bedeutung als Formation von Wissen und Macht zu begreifen.193 Das Einschreiben der diskursiv transportierten Weltbilder und Interessen in den Raum geschieht jedoch nicht beliebig, sondern gebrochen und strukturiert durch eine power of place.194 Eine Analyse der im Medium des ‚Raumes‘ vollzogenen Transformation der Grenze setzt eine fundamentale Unterscheidung zwischen space als dem Abstraktem und place als dem Konkretem voraus, und auf beiden Ebenen können wir fragen, wie Raum, Macht und Wissen miteinander verschränkt seien. „Räumliche Strukturen werden aus dieser Perspektive zu Geographien der Macht, zu Codes politischer und sozialer Kommunikation“, und „[i]n der Rekonstruktion raumbezogener Auseinandersetzungen“ lässt sich zeigen, „wie die Akteure mit Hilfe einer strategischen Konstruktion und Instrumentalisierung geographischer Zusammenhänge aktiv Politik im Sinne ihrer Interessen“ machten.195 Mithin gehe es mit Benno Werlen also darum, „jene Geographien zu untersuchen, die von den handelnden Subjekten von unterschiedlichen Machtpositionen aus gemacht und reproduziert werden.“196 Wenn wir das Konzept des ‚Westraumes‘ erforschen, haben wir also zu bedenken, dass es sich zum einen stets auf place bezieht und aus konkreten Orten erwächst: aus Orten, die die Autoren und Akteure nicht selten erlebt und bereist haben, die sie mit Erinnerungen und Emotionen verbinden, aus denen sie den historischen Prozess erleben und in ihn eingreifen; Orten, in denen die Rede vom ‚Westraum‘ ihre Wirkung entfaltet oder in denen sie verpufft; Orte schließlich, die zum Gegenstand der Erforschung und Erschließung werden, Orte, in denen man agiert und mit denen man plant: Orte, in und zwischen denen space entsteht, indem sie in einer bestimmten Weise abstrahiert und arrangiert, geordnet und gewertet, beschrieben und kartiert, ideologisiert und 192
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Reuber, Paul/Wolkersdorfer, Günter: Die neuen Geographien des Politischen und die neue Politische Geographie – eine Einführung, in: dies. (Hrsg.): Politische Geographie. Handlungsorientierte Ansätze und Critical Geopolitics, Heidelberg 2001, S. 1-16, hier: 3f (im Folgenden zitiert als: Reuber u.a., Die neuen Geographien); vgl. auch Wardenga, Ute: Zur Konstruktion von ‚Raum‘ und ‚Politik‘ in der Geographie des 20. Jahrhunderts, in: ebd., S. 17-31. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, Sonderausgabe, Frankfurt a.M. 1998. Agnew, John A./Duncan, James S. (Hrsg.): The Power of Place. Bridging together geographical and sociological imaginations, Boston (Mass.) u.a. 1989. Reuber u.a. Die neuen Geographien, S. 5f. Werlen, Benno: Sozialgeographie alltäglicher Rationalisierungen, Bd. 1: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Stuttgart 1995, S. 6.
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inszeniert, der politischen Durchdringung geöffnet und der Planung verfügbar gemacht werden. Der ‚Westraum‘ besteht vor diesem Hintergrund zwar aus gegebenen Orten mit ihren spezifischen Geographien und Historiographien, stellt als space jedoch eine von Machtpositionen aus formulierte oder Macht beanspruchende geographische Imagination dar und fungiert aus Sicht der grenzlandpolitischen Akteure als ein strategisches Raumbild.197 Zeigt sich seine Dimension als geographische Imagination etwa im Metanarrativ des tausendjährigen Kampfes um den Rhein, so verweist die Spekulation über die Unhaltbarkeit der bestehenden und die Vorteile einer neuen Grenze auf seine synchrone Dimension als strategisches Raumbild. Edward Said hat in seinem Werk Orientalism198 gezeigt, dass der Orient keine in den gemeinten Ländern und Gesellschaften vorfindbare Wirklichkeit, sondern eine geographische Imagination des Okzidents ist. „Just as none of us”, so verallgemeinert er, „is outside or beyond geography, none of us is completely free from the struggle over geography. That struggle is complex and interesting because it is not only about soldiers and cannons but also about ideas, about forms, about images and imaginings.”199 In diesem Sinne können wir auch den ‚Westraum‘ als eine imaginative geography, als einen imaginierten Westen, begreifen, allerdings in einer spezifischen Weise: war der ‚Orient‘ nach Said das imaginierte Andere, so stellte der ‚Westraum‘ das imaginierte Eigene auf dem Terrain des Anderen dar, und zwar eines Anderen, das seinerseits als die radikale Negation des Eigenen imaginiert war. In diesem imaginierten Deutschland jenseits der deutschen Grenze spiegelten sich die deutschen Fremdbilder über das Französische, Romanische oder Westliche wieder, es war die über die konkreten Orte gebreitete Folie, auf die der Einzelne, eingebunden in die diskursiven Ströme seiner Gegenwart, seinen Rhein, sein Straßburg, sein Sedan und sein Verdun eintragen konnte und die ihm zugleich eine Vorstellung zu suggerieren vermochte, wo Straßburg, Sedan und Verdun wohl erschienen, legte man die mental maps aller Deutschen übereinander. Mit Denis Cosgrove können wir diesen Prozess als eine Praxis des mapping verstehen, also als einen Akt „of visualizing, conceptualizing, recording, representing and reading spaces geographically.“200 In diesem Sinne ließ der ‚Westraum‘ es zu, die Orte und Regionen jenseits der Westgrenze neu zu kartieren, zu selektieren und zu hierarchisieren, sie zueinander, zum Eigenen und zum Anderen in Beziehung zu setzen, sie mit neuen Namen und Bedeutungen zu belegen, sie mit Normen und Ideologien aufzuladen, ihren Erinnerungsort und Symbolwert neu zu justieren, sie auf neuer Basis der Forschung, der Wirtschaft und der Kultur zu erschließen und sie, nicht zuletzt, unter Verwendung des örtlich vorgefundenen Materials lebens197
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Vgl. Miggelbrink, Judith/Redepfennig, Marc: Die Nation als Ganzes? Zur Funktion nationalstaatlicher Schemata, in: Beiträge zur deutschen Landeskunde 78 (2004), S. 313-337, hier: 331. Said, Edward: Orientalismus, übers. v. Liliane Weissberg, Frankfurt a.M. 1981. Edward Said in Culture and imperialism, zit. n. Gregory, Derek: Edward Said’s Imaginative Geographies, in: Crang u.a., Thinking Space, S. 302-348, hier: 302. Cosgrove, Denis: Introduction: Mapping Meaning, in: ders. (Hrsg.): Mappings, London 1999, S. 1-23, hier: 1; vgl. auch Dünne, Jörg: Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums, in: Döring u.a. (Hrsg.), Spatial Turn, S. 50-69.
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weltlich in Szene zu setzen – kurzum, wir können die nach Westen gerichtete Grenzlandpolitik als ein politisches Handeln in Bezug auf diese imaginative Geographie analysieren. Hanna Reich führt in diesem Zusammenhang den Begriff des „sozialen Konzeptraumes“ als eines „Raum[es] aus Worten“ ein, „der sich mit der Streuung der Aussagen einer diskursiven Formation auffächert“ und „verortet“.201 Hier nun eröffnet der von Derek Gregory, Gearóid Ó Tuathail und anderen Vertretern einer kritischen Politischen Geographie eingeführte Begriff der strategischen Raumbilder eine weiterführende Forschungsperspektive. Dieser Ansatz geht davon aus, dass räumliche Strukturen stets einen Doppelcharakter besitzen, indem sie zum einen Ressourcen beinhalten, auf die sich bestimmte Machtinteressen richten, und zum anderen über strukturelle Machtmittel verfügen, mit deren Hilfe sich Interessen durchsetzen lassen. Dabei werden ‚Räume‘ erst als diskursive Konstruktionen der Politik zugänglich, und zwar in dreifacher Hinsicht: Zunächst als Wahrnehmung einer räumlichen Ausgangssituation, die ihrerseits bereits durch individuelle und kollektive Erinnerungen, Bewertungen, Ideologien, Symbolisierungen und Normen geprägt ist; zweitens als raumbezogene Zielvorstellung der Akteure innerhalb ihres jeweiligen Handlungsrahmens; und drittens schließlich als strategische Raumbilder im Sinne einer bewussten Konstruktion des Raumes auf der Grundlage der gefassten Ziele. Strategische Raumbilder beinhalten sowohl die Legitimation (oder Tarnung) der eigenen Absichten nach außen, als auch eine sinnstiftende Interpretation der Orte und ihrer Verflechtung entsprechend der eigenen Vorstellungen. Neben der Zieldimension implizieren sie Handlungsstrategien, die sich in Raumdiskursen und Repräsentationen wie etwa Karten und Abbildungen widerspiegeln. „Die Produktion und öffentliche Verbreitung Strategischer Raumbilder gehört für alle Akteure“, so Reuber, „zum Alltagsgeschäft ihres politischen Handelns, insbesondere in raumbezogenen Konflikten. Sie werden zum Teil in Reden, Diskussionsrunden, Debatten etc. ad hoc entwickelt, zum Teil aber auch als differenzierte, ausgefeilte Konzepte schriftlich fixiert. Je nach den eigenen autoritativen Ressourcen (Finanzen, personelle Kapazitäten etc.) reichen sie von einfachen Begründungen bis zur Anfertigung durch fachlich qualifizierte Institutionen mit entsprechender Reputation“.202 Betrachten wir die Raumauffassung völkischer, jungkonservativer und nationalsozialistischer Couleur, so fällt eine bestimmte Strukturierung sowohl der imaginativen Geographie, als auch der strategischen Raumbilder, auf, die wir mit Foucault panoptisch nennen können und die insofern einer für die Repräsentation von Macht in der Moderne konstitutiven Struktur des Sehens folgt. Aus dem Zentrum des panoptischen Raumes betrachtet, erkennen wir eine vollständig zum Raum (space) transformierte Grenzlinie (place). Der Raum erscheint als ein organisches Gefüge von ‚Grenzländern‘, die das historische Reich wie ein Saum, ein Körper, ein Wall oder eine Festung umgaben, im Verlauf der Geschichte jedoch zu Ruinen und Trümmerfeldern,
201 202
Reich, Hannah: Medien und Konflikt. Der Landdiskurs in Palästina, Stuttgart 2003, S. 152. Reuber, Paul: Möglichkeiten und Grenzen einer handlungsorientierten Politischen Geographie, in: ders./Wolkersdorfer, Günter (Hrsg.): Politische Geographie. Handlungsorientierte Ansätze und Critical Geopolitics, Heidelberg 2001, S. 77-92, hier: 86.
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ja zu einem „Dornenkranz der Grenzmarken“203 geworden sind. Wir erkennen, dass der zerstörte Ring der Grenzmarken keineswegs der realen Staatsgrenze entspricht – weder denen vor, noch denen nach dem Versailler Frieden –, sondern dass er ihnen vorgelagert und teilweise ganz von ihnen gelöst ist. Seine Geographie ist nicht nur konzentrisch, sondern zugleich vertikal gegliedert: wir erkennen eine ‚Nordmark‘, eine ‚Südmark‘ und klarer konturiert, den ‚West-‘ und den ‚Ostraum‘. Dies sind Räume, die die transformierte Grenze von der innerdeutschen Grenzregion bis zum äußersten Saum des ‚Kulturbodens‘, von der gegenwärtigen Staatsgrenze bis zur Grenze eines künftigen Reiches, vom deutschen Kernland zur Peripherie Mitteleuropas hin überspannen, den Blick jedoch von innen nach außen in eine bestimmte Richtung und auf die in diese Richtung gelegenen Orte lenken. Der panoptische Raum wird von Richtungslinien durchzogen, strukturiert und zu strategischen Raumbildern arrangiert, während sich in den Farben und Bildern, Szenen und Symbolen, die wir wahrnehmen, wenn unsere Augen der Richtungslinie nach Westen folgen, und den Assoziationen und Emotionen, die sie hervorrufen, gleichsam die imaginative Geographie des ‚Westraumes‘ entfaltet. Diese nach Himmelsrichtungen benannten Raumkonzepte der Mesoebene gleichen Klammern, die places zu einer strategischen Ordnung innerhalb des space zusammenfügen, aus ihren jeweiligen Staaten herauslösen, im eigenen Raum verorten und in eine komplementäre Beziehung zu den anderen Richtungsräumen des Panoptikums setzen. Die Begriffe panoptischer Raum, imaginative Geographie und strategisches Raumbild legen mithin also unterschiedliche Dimensionen des ‚Westland‘-Konzepts frei: Während die panoptische Vorstellung den ‚Westraum‘ zu den übrigen handlungsleitenden Raumkonzepten der Grenzlandaktivisten in Beziehung setzt, erlaubt sein Verständnis als imaginative Geographie es, die zirkulierenden Semantiken und Symboliken in den Blick zu nehmen, die sich an die Orte des ‚deutschen Westens‘ hafteten, wohingegen der Begriff des strategischen Raumbildes uns eine Analyse der politischen Ziele und Kalküle, materiellen Ressourcen und ideologischen Horizonte, politischen Handlungen und diskursiven Strategien, Wissensvorräte und Forschungen der Akteure gestattet. Es geht also darum, die ‚Westraum‘-Literatur der genannten Diskursgemeinschaften im Sinne der eingangs zitierten Aufforderung Schöttlers „wirklich zu lesen“ und in ihr die intellektuelle Konstruktion einer neuen geo- und biopolitischen Ordnung zu erkennen. Meine eingangs vorgestellte Hypothese lautet, dass das Konzept des ‚Grenzraumes‘ in seiner als ‚Ost-‘ oder ‚Westraum‘ konkretisierten Form zum ersten Mal als Verschränkung des völkischen Nationskonzepts der Politischen Romantik mit dem abstrakten Raumkonzept der Politischen Geographie auftauchte und vom Zeitpunkt dieser Verschränkung an allmählich die Geltung der Staats- und Sprachgrenzlinien unterminierte. Bereits aus einer oberflächlichen Sichtung des diskursiven Materials ergibt sich eine zweite Hypothese, nämlich dass diese Transformation der Grenze nicht einer singulären Argumentationslinie folgte, sondern ein ganzes Set von Begründungen umfasste, die den ‚Grenzraum‘ beispielsweise als das Auseinanderklaffen zweier Staatsgrenzen, als eine Prägung nichtdeutscher Gebiete durch ‚deut203
Lange, Friedrich: Deutschland und das Deutsche Reich, in: Berensmann u.a. (Hrsg.), Deutsche Politik, 10. Teil, S. 1-16, hier: 14 (im Folgenden zitiert als: Lange, Deutschland und das Deutsche Reich).
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sche‘ Merkmale, als einen in sich zusammenhängenden Kultur-, Verkehrsoder Wirtschaftsraum, als ein Organ des seinen ‚Lebensraum‘ ausfüllenden Staates, als eine zur Linie geschrumpfte archaische Grenzwüstung, als die räumlich gestaffelte Front epochaler Kämpfe und schließlich sogar als das im Raum angeordnete Gefüge der grenzlandpolitischen Organisationen begriffen. Ich schlage daher vor, zunächst fünf abstrakte Modelle zu diskutieren, die wir unserer Untersuchung als typologisierendes Werkzeug zu Grunde legen können.
Raum A
Raum B
Raum A
Abb. 1: Grenzraum nach dem Divergenzmodell Das einfachste dieser Modelle möchte ich als Divergenzmodell bezeichnen (Abb. 1). Der Grenzraum ergibt sich aus der Divergenz verschiedener Territorien: er kann ein von mehreren Staaten beanspruchtes Gebiet (links) oder ein Gebiet zwischen einer realen und einer fiktionalen Grenze des Staates bzw. zwischen den Grenzen verschiedener Definitionsmerkmale der Nation (rechts) sein. Neben der Divergenz von Staat, Land und Sprache konnte er auf eine Vielzahl weiterer, etwa wirtschaftlicher, infrastruktureller, kulturlandschaftlicher oder sozialer Indikatoren rekurrieren. Der Innenraum der Nation war in solchen Fällen stets von einem Bündel von Grenzen umgeben, unter denen die Staatsgrenze mitunter keine Relevanz mehr besaß. Das eigene Territorium grenzte aus dieser Sicht nicht mehr unmittelbar an andere Territorien, sondern war von einem ringförmigen Raum der Indifferenz umgeben, in dem Innen und Außen verschmolzen. Das Divergenzmodell implizierte das Konstrukt eines zweiten, äußeren Staatsvolkes, das nicht innerhalb des Staates, sondern innerhalb seines Grenzraumes verortet wurde.
Raum A
Abb. 2: Grenzraum nach dem Diffusionsmodell
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Das Diffusionsmodell (Abb. 2) flexibilisierte den Grenzraum in ähnlicher Weise wie das Divergenzmodell und operierte mit dem gleichen Set geographischer, kultureller, politischer, ökonomischer oder sozialer Indikatoren. Der entscheidende Unterschied jedoch war, dass es nicht die Flächenhaftigkeit des Divergenzraumes, sondern die Unschärfe seiner Begrenzung in den Vordergrund stellte: suggerierte das Divergenzmodell einen linear begrenzten Zwischenraum, so zeichnete das Diffusionsmodell einen weichen Übergang, der sich durch ein spezifisches Distinktions- und Mischungsverhältnis der Elemente vom Zentrum unterschied und der bei sachgerechter Erfassung, Gewichtung, Bewertung und Abstraktion seiner Struktur eine optimale Grenzführung versprach. Auf den gleichen Raum angewandt und nach den gleichen Kriterien bemessen, generierte es daher zwangsläufig eine andere Grenze als das Divergenzmodell, das die Grenze nicht als Mittel-, sondern Randwert des Grenzraumes vorstellte. Anders als das Divergenzmodell war es in der Lage, die Hybridität von Grenzregionen zu erfassen und bis hinab auf die Mikroebene zu verfolgen. So war der diffuse Grenzraum nicht, wie der divergente, primär von ‚Grenzdeutschen‘ bevölkert, sondern konnte von einer grenzspezifischen Gemengelage geprägt sein. Das Diffusionsmodell warf damit zwangsläufig die Frage auf, wie hybride Phänomene wie Mehrsprachigkeit und binationale Sozialformen zu bewerten seien. Dabei überlagerten sich die möglichen Antworten, Hybridität als produktiven und vermittelnden Faktor oder als Gefahrenherd biologischer Unterwanderung und politischer Zersetzung zu begreifen.
Ur-Raum A
Raum A
Ur-Raum B
Raum C
Raum B
Abb. 3: Grenzraum nach dem Repräsentationsmodell Mit seiner Annahme, dass die optimale Grenzlinie stets ein abstrahierter Mischungsraum sei, stand das Diffusionsmodell in enger Beziehung zu einem Repräsentationsmodell (Abb. 3), das die Räumlichkeit der Linie allerdings nicht aus der Erfassung im Raum verteilter Merkmale, sondern aus anthropologischen Theorien über den Zivilisationsprozess herleitete. Für Friedrich Ratzel und seine geopolitischen Adepten waren alle modernen Staatsgrenzen zu Linien verdichtete ‚Grenzwüstungen‘ oder ‚-marken‘, die im Medium des Krieges eruptiv aus der Linie hervorbrechen konnten. Das Repräsentationsmodell unterschied sich von den bislang diskutierten Modellen auch dadurch, dass es den Grenzraum als ursprünglich leer annahm und die Grenze daher nicht als Übergangsraum, sondern Kluft zwischen den Völkern vorstellte. Die
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Völker hatten ihre Grenzwüstungen nach dieser Sicht erst allmählich besiedelt und mit Verkehrs- und Militäranlagen ausgestattet, bis sie schließlich an einer Linie zusammentrafen. Das Verschwinden der tabula rasa bedeutete aus dieser Sicht den Übergang zur modernen Staatlichkeit. Anders als das Divergenz- und Diffusions- stellte das Repräsentationsmodell auch keine Methode zur Ermittlung einer optimalen Grenzlinie bereit. Was es sehr wohl lieferte, war jedoch die Vorstellung einer in den Staatsgrenzen der Moderne stets noch präsenten Räumlichkeit, die für Ratzel, wie wir weiter unten sehen werden, auf den eigentlichen ‚Lebensraum‘ des Volkes verwies.
Abb. 4: Grenzraum nach dem Organismusmodell Stellten das Divergenzmodell den Grenzraum als eine Fläche und das Diffusionsmodell ihn als eine Verteilung vor, so begriff das Organismusmodell (Abb. 4) ihn entweder als Teil eines Volks- bzw. Staatskörpers oder aber als eigenen Grenzorganismus, der sich zellulär aus den ‚Marken‘ zusammensetze. Das Organismusmodell griff damit Vorstellungen des Repräsentationsmodells auf und entfaltete sie auf der Folie eines organizistischen Staatsund Gesellschaftsbegriffs. Die Grenze übernahm eine Vielzahl körperlicher, geistiger und seelischer Fähigkeiten des Menschen: das Ausbilden von Extremitäten und das Ausführen von Bewegungen, die Wahrnehmung taktiler oder visueller Reize und nicht zuletzt die Fähigkeit, ein Bewusstsein seiner selbst zu entwickeln, Gefühle auszudrücken, strategisch handeln und mit den gesellschaftlichen Subjekten kommunizieren zu können. Der subjekthafte Grenzraum war beweglich, elastisch und dynamisch, ergab sich jedoch nicht aus divergierenden Gebietsansprüchen oder der Streuung der im Raum verteilten Merkmale, sondern war den ‚Landschaften‘ wesenhaft eingeschrieben und insofern unverschiebbar. Die ‚Zellen‘ bzw. ‚Marken‘ konnten zwar okkupiert, durch neue Grenzen zerteilt und voneinander isoliert werden, einzelne von ihnen konnten degenerieren oder sterben, prinzipiell bestand der Grenzorganismus jedoch unabhängig von der aktuellen Größe und Verfasstheit des Staates. Er fungierte damit auch als Verheißung eines ewigen Reiches innerhalb eines natürlich begrenzten ‚Lebensraumes‘. Anders als der Grenzraum des Repräsentationsmodells, waren die ‚Zellen‘ des Grenzkörpers keine besiedelten Klüfte, sondern Miniaturen der Nation: sie waren an die Peripherie projizierte Wertezentren der Nation, in denen sich das ‚Volkstum‘
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bewahrte und bewährte. Die Gesellschaft der Grenzkörperzellen musste daher bis zu einem gewissen Grade immer als homogen vorgestellt werden.
Abb. 5: Grenzraum nach dem Formierungsmodell Erforderten es die bislang diskutierten Modelle, aus dem geographischen Raum Indikatoren oder Prinzipien für die Begrenzung und die Grenzform der Nation herauszulesen, so kann das fünfte Modell in umgekehrter Weise als das Einschreiben einer politisch-strategischen Struktur in den geographischen Raum verstanden werden; wir können daher von einem Formierungsmodell des Grenzraumes sprechen (Abb. 5). Die Grenze erschien als ein von strategisch dislozierten und vernetzten Einrichtungen überzogener und strukturierter Raum, und als solcher war sie stets ein Raum des kulturellen, politischen oder militärischen Kampfes. Sie glich einer Front, die sich über die gegebene Landschaft bewegte, sich in sie einkerbte und sie nach taktischen Gesichtspunkten veränderte. Dieser Raum war nicht an sich, sondern erst durch seine Funktion als Träger strategisch angeordneter Anlagen, Institutionen, Diskurse, Normen, Medien, Techniken usw. ein Grenzraum und konnte diese Funktion bei einer Veränderung der Lage auch wieder verlieren. Entsprechend war auch das ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ weniger als solches von Bedeutung, sondern als ein taktisch einsetzbares Mittel im Kampf um höhere Ziele, in dessen Verlauf Identitätsdiskurse und Regionskonstrukte entund wieder verworfen werden konnten. Das Formierungsmodell ließ sich leicht mit jedem anderen Modell verknüpfen: Eine Region, die nicht in das Divergenzschema passte, konnte mit Blick auf das eigene strategische Ziel vielleicht als Diffusionsraum eines ‚deutschen‘ Merkmals interpretiert werden, und eine ‚Mark‘, die nach dem Organismusmodell historisch nie existiert hatte, ließ sich vielleicht aus dem Repräsentationsmodell herleiten. Grenzlandpolitisches Handeln stellte insofern stets die Schaffung eines nach dem Formierungsmodell gedachten ‚Grenzraumes‘ dar. Dies bedeutet, dass der ‚Grenzraum‘ auf der Basis dieses Modells letzten Endes mit dem grenzlandpolitischen Handeln zusammenfiel. Nicht die Grenze als solche, wie natürlich oder künstlich, konfliktreich oder friedlich, gerecht oder ungerecht sie sein mochte, konstituierte in dieser Lesart den ‚Grenzraum‘, sondern die grenzlandpolitische Diskursgemeinschaft und ihre organisatorische Formierung selbst.
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Gliederung und Quellen Die Untersuchung besteht im Kern aus vier Kapiteln, in denen die Grenzkonzepte der Diskursgemeinschaften Politische Geographie, Alldeutscher Verband, Geopolitik und Grenzlandaktivismus untersucht werden, letztere differenziert in zwei weitere Diskursgemeinschaften: den Deutschen Schutzbund und die Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit mit ihrer Zeitschrift Volk und Reich. Diesen vier Kapiteln vor-, bei- und nachgestellt sind drei weitere Kapitel, die die Vorgeschichte des ‚Westraum‘-Konzepts seit der Politischen Romantik, die konkrete Operationalisierung des Raumkonzepts im Zuge der grenzlandpolitischen Praxis sowie seine semantische Neucodierung im Kontext des Zweiten Weltkrieges darstellen. Die Kapitel sind im Wesentlichen chronologisch angeordnet, allerdings behandeln sie im Wechsel entweder die abstrakte Konzeption der Grenzen als Räume oder die konkrete Konzeption der Westgrenze als ‚Westraum‘. Auf diese Weise wird ein Wechselspiel von Konzepten der Makroebene – etwa dem panoptisch vorgestellten Grenzland mit seinen sektoralen Richtungsräumen – und der Mesoebene – etwa dem als dreifach gegliederte Festung vorgestellten Richtungsraum nach Westen – sichtbar. Am Anfang des ersten Kapitels, das die Diskussion der ‚westlichen Grenzfrage‘ im 19. Jahrhundert behandelt, stehen die radikalen Veränderungen der Grenzen infolge der Französischen Revolution und des Wiener Kongresses. Anhand der im späteren Diskursverlauf kanonisierten Schriften Fichtes und Arndts werde ich zunächst die Entwürfe einer durch Sprache konstituierten deutschen Nation und das daraus resultierende Primat der sprachlichen gegenüber der geographischen Grenzlegitimation skizzieren. Im Anschluss daran werde ich Menzels 1841 entwickelte Vorschläge für eine Grenzziehung jenseits der Sprachgrenze untersuchen, die in der Schlüsselsituation der Jahre 1870/71 zwar wirkungslos blieben, von den Grenzlandaktivisten der späten 1920er Jahre jedoch rezipiert wurden. Gegenüber dieser radikalen, das spätere ‚Westraum‘-Konzept vorwegnehmenden Forderung verfestigte sich im 19. Jahrhundert die Aufwertung der Sprachgrenze zur ‚natürlichen Grenze‘ zwischen Deutschland und Frankreich. Ihre 1869 abgeschlossene Lokalisierung durch den Statistiker und späteren VDA-Vorsitzenden Richard Boeckh bedarf daher größerer Aufmerksamkeit, und zwar zum einen, weil Boeckh ein exaktes Verfahren entwickelte, um auch innerhalb diffuser Gemengelagen eine Linearität der Sprachgrenze zu erzeugen, und zum anderen aufgrund der politischen Wirkungen, die dieses Konzept während des deutsch-französischen Krieges und für die Annexion ElsassLothringens entfaltete. Boeckhs Bestimmung der westlichen Sprachgrenze steht gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis zu den zeitgleich veröffentlichten Essays Wilhelm Heinrich Riehls, der diese Linearisierung kategorisch ausschloss und – wegweisend für spätere ethnographische Studien – gerade die Räumlichkeit der Grenzen herausarbeitete. Mit seiner Darstellung der elsässischen Geschichte entlang der Begriffsreihe ‚Straßen-‘, ‚Kriegs-‘, ‚Zwischen-‘ und ‚Grenzland‘, denen er bestimmte Geometrien des Raumes zuordnet, entwickelte er ein auf lange Sicht wirkungsmächtiges strategisches Raumbild. Als dritten und wiederum divergierenden Beitrag der Jahre 1870/71 schließlich untersuche ich Heinrich von Treitschkes Essay Was fordern wir von Frankreich?, dessen Bedeutung in der Ausformulierung einer
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grenzlandpolitischen Strategie für die ‚Westmark‘ (Elsass-Lothringen), in der Spekulation auf eine weitere Verkleinerung Frankreichs durch ethnische Dekomposition und in der Legitimation einer solchen Verkleinerung durch den französischen Geburtenrückgang zu sehen ist. Ein erstes Zwischenfazit, das die Gegenläufigkeit linearisierender und entlinearisierender Grenzbegriffe herausarbeitet und zeigt, wie die Sprachgrenze schon im Moment ihrer wissenschaftlichen Lokalisierung wieder zum Verschwimmen gebracht wurde, schließt das erste Kapitel ab. Handelte es sich bei diesen Entwürfen um Antworten auf eine konkrete Grenzfrage, so formulierte Friedrich Ratzel eine Theorie der Räumlichkeit jeglicher Grenze, die von solchen konkreten Fragen entkoppelt war und Anspruch auf universale Geltung erhob. Diese Politische Geographie der Grenzen war sowohl für die geographischen und geopolitischen Grenztheorien des frühen 20. Jahrhunderts, als auch für die politischen Konzepte der alldeutschen Bewegung und der jungkonservativen Grenzlandaktivisten grundlegend. Sie ist daher Gegenstand des zweiten Kapitels. Ausgehend von einem kurzen Rekurs auf die geographischen Antworten auf die westliche Grenzfrage im 19. Jahrhundert untersuche ich zunächst Ratzels biologistischevolutionären Staatsbegriff und die beiden daraus abgeleiteten Konzeptionen des ‚peripherischen Organs‘ und der ‚organischen Grenze‘, von denen sich die letztere nicht auf den Staat selbst, sondern dessen ‚Lebensraum‘ bezog. Eng damit verbunden sind Ratzels Vorstellungen einer ‚Korrelation‘ zwischen dem Zentrum des Organismus und seiner Peripherie, die er als komplementäre ‚politische Räume‘ definierte. Ein zweiter Argumentationsstrang Ratzels knüpfte an das zeitgenössische ethnologische Wissen über außereuropäische Gesellschaften an und verallgemeinerte die in Afrika, Asien und Nordamerika beobachteten Grenzwüstungen zwischen Gentilstaaten als räumliche Urform der Grenze schlechthin. Diese Beobachtung begründete das oben skizzierte Modell des Repräsentationsgrenzraumes und erlaubte es, die politischen Grenzen der Nationalstaaten als linearisierte ‚Grenzmarken‘ zu deuten, deren Räumlichkeit im Krieg wieder aus ihnen hervorbräche. Nach einem kurzen Überblick über die Binnenstruktur der Ratzel’schen ‚Grenzsäume‘ wende ich mich wieder der ‚westlichen Grenzfrage‘ zu. Denn indem Ratzel seine Theorie der ‚Grenzsäume‘ auf die Westgrenze übertrug, entwickelte er als vermutlich erster Autor das Konzept eines zusammenhängenden ‚Zwischenlandes‘, das unabhängig vom aktuellen Verlauf der Staatsund Sprachgrenze den eigentlichen ‚Grenzsaum‘ zwischen Deutschland und Frankreich bilde. Das dritte Kapitel behandelt den Wandel von der ‚westlichen Grenzfrage‘ hin zu einem expansiven und aggressiven ‚Westmark‘-Konzept, das auch, aber nicht ausschließlich, auf Ratzels Grenzsaum- und Lebensraum-Theorien beruhte. Nach einem Überblick über die Ursprünge einer völkischen Grenzlandpolitik im Westen, die sich zunächst am Nationalitätsbegriff Boeckhs orientierte, ihr Vorbild in der Alliance Française erblickte und von der entstehenden Bewegung der Alldeutschen rasch radikalisiert wurde, untersuche ich zunächst die im Alldeutschen Verband und dem an seinem rechten Rand angesiedelten Heimdall-Kreis in den 1890er Jahren zirkulierenden Vorstellungen ‚neuer deutscher Militärgrenzen‘ bzw. ‚neuer Marken‘, die sowohl die Minderheitenfragen an der Westgrenze lösen, als auch die Besiedlung einer erst noch zu erobernden ‚Westmark‘ ermöglichen sollten. Von besonderem Interesse ist hierbei die Zusammenfassung der später als ‚Westland‘ und
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‚Westraum‘ deklarierten frankophonen Gebiete zu einem Richtungsraum, dessen Realisierung Teil der Vision eines europäischen Neuordnungskrieges als Medium einer von enormen Bevölkerungsverschiebungen flankierten ‚Landnahme‘ war. So begegnen uns in den ersten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zahlreiche ‚Westmark‘-Entwürfe, die sich im Medium von Kriegsfiktionen und Zukunftsentwürfen weiter radikalisierten. Im Kontext des Ersten Weltkrieges gerannen diese in Bezug auf ihre territorialen Forderungen oszillierenden Entwürfe schließlich zu einem mit ökonomischen Interessengruppen abgestimmten Kriegsziel, das in der Endphase des Krieges zunehmend antisemitische, antienglische und antiamerikanische Einschläge aufwies. Die Kriegsniederlage hingegen muss als eine tief greifende Zäsur verstanden werden, die eine ungebrochene Fortschreibung des ‚Westmark‘Konzepts blockierte. Nach einem zweiten Zwischenfazit wende ich mich daher der Neujustierung der politisch-geographischen Grundlagen dieses Konzepts zu. Diese Neujustierung – sie ist Gegenstand des vierten Kapitels – lässt sich am Beispiel der Geopolitik aufzeigen. Die schillernde Persönlichkeit ihres Protagonisten Karl Haushofer, seine Rolle als politischer Vordenker der äußersten Rechten, seine spätere Funktion in der nationalsozialistischen Volkstumspolitik und nicht zuletzt der eklektische, von politischen, ideologischen und selbst esoterischen Elementen durchzogene Charakter seines wissenschaftlichen Programms erfordern zunächst eine Reflexion des geopolitischen Konzepts als solchem, wobei zu fragen ist, an welche theoretischen Vorläufer Haushofer anschloss, um seine Theorie der Grenzen von der Kriegszielpolitik der Alldeutschen abzuheben. Näher untersuche ich auf dieser Basis Haushofers Zuspitzung der Ratzel’schen Vorstellung des ‚peripherischen Organs‘ zum Konzept des dreidimensionalen ‚Grenzkörpers‘, der wiederum Ausdruck der rassisch und historisch bedingten Raumpolitiken der Völker sei und daher in einem unauflöslichen Gegensatz zu den ‚Grenzkörpern‘ anderer Rassen stünde. Die damit begründete Vorstellung der Grenze als Ort suspendierter Normalität und perpetuierter Gewalt gipfelte in einer Deutung der Westfront als Manifestation des ‚Grenzkörpers‘ und Prototyp der modernen Grenze. Zugleich relativierte Haushofer dieses aggressive Konzept, indem er zwischen mehreren Typen von Grenzräumen unterschied, die teils auf eigene Expansion, teils auf Abwehr fremder Expansion und teils auf einen Gleichgewichtszustand hinwirkten. Ich werde herausarbeiten, wie er diese durchaus widersprüchliche Theorie mit der Utopie eines ‚Dritten Reiches‘ verband, sie in ein politisches, an die jungkonservativen Grenzlandaktivisten adressiertes Programm übersetzte und nicht zuletzt eine geopolitische Westforschung anregte, die Ratzels Vorstellung des ‚Zwischenlandes‘ aktualisierte und das Gebiet von Rhein, Maas und Schelde als homogenen Grenzraum im Westen definierte. Die Analyse des geopolitischen Diskurses führt uns zu den Grenzkonzepten der jungkonservativen Bewegung. Nach einer Skizze der neuen territorialen Ordnung infolge der Kriegsniederlage, die wir mit Blick auf die Oktroyierung grenzbegleitender Sonderzonen als eine negative Transformation der Grenze auffassen können, wird es im fünften Kapitel zunächst um den Grenzlandbegriff jungkonservativer Vordenker und Funktionäre gehen. Untersucht wird vor allem die ideologische, symbolische und utopische Aufladung des Begriffs, die das ‚Grenzland‘ zu einem Erinnerungsort des Kriegserlebnisses, zu einem Symbolraum der Nation, zu einem Kampfraum
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für ein ‚Drittes Reich‘ und damit zu einem zentralen politischen, organisatorischen und publizistischen Projekt der antidemokratischen Rechten werden ließ. Dieses semantisch ungemein erweiterte Grenzkonzept werde ich zunächst am Beispiel des 1919 gegründeten Deutschen Schutzbundes genauer untersuchen, wobei die jährlichen Schutzbundtagungen als gemeinschaftsstiftende und diskursmächtige Manifestationen jungkonservativer Grenzlandpolitik im Mittelpunkt meines Interesses stehen. Im Medium der Schutzbundtagungen beobachten wir eine Verständigung der im Schutzbund kooperierenden Akteure auf ein bestimmtes, von Anfang an mit demographischen Zahlen untermauertes Konzept der ‚deutschen Westlande‘ innerhalb eines panoptisch vorgestellten Raumes. Die Untersuchung der Genese dieses Raumkonzepts führt uns zur Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, einem 1925 unter dem Dach des Schutzbundes etablierten Koordinationsgremium der grenzlandpolitisch aktiven Jugend- und Studentenbünde, aus denen sich zugleich der Nachwuchs der akademischen Westforschung und die Funktionsgeneration der nationalsozialistischen Besatzungs- und Bevölkerungspolitik rekrutieren sollte. Aus diesem Grunde ist der Mittelstelle und ihrer Zeitschrift Volk und Reich, dem Nukleus des gleichnamigen Verlages, breiterer Raum gewidmet. Nach einem Überblick über die Mittelstelle, ihre grenzlandpolitischen Strategien und ihrem westpolitischen Arbeitsschwerpunkt in den Jahren 1926-29 folgt eine Analyse von drei in Volk und Reich zu beobachtenden Konzeptualisierungen des ‚Westlandes‘: einer Herleitung aus dem Mitteleuropabegriff der jungkonservativen und geopolitischen Vordenker, einer Herleitung im visuellen Medium der neuen, in den Krisenjahren intensiv genutzten Form der suggestiven Kartographie und schließlich einer Herleitung aus den einzelnen Regionen und Regionaldiskursen heraus, die das abstrakte Konzept des ‚Westlandes‘ gleichsam erdete und den realen Orten eine spezifische symbolische und strategische Bedeutung innerhalb des Ganzen zuwies. Hierbei spielte, wie gezeigt werden wird, die Festungsmetapher eine tragende Rolle, doch war diese mit alternierenden Raumbildern verknüpft. Exemplarisch untersuche ich schließlich die Operationalisierung des jungkonservativen und geopolitischen Raumkonzepts durch den verdeckt operierenden Kreis um Wolfgang Ispert, einem von mehreren frühen Akteursnetzen der unmittelbaren Grenzlandpolitik im Westen. Dieser Kreis eignet sich deshalb für eine eingehendere Untersuchung, weil er während des gesamten Zeitraums von der Entstehung grenzlandaktivistischer Gruppen zu Beginn der 1920er Jahre bis hin zur Besatzungspolitik der 1940er Jahre auf der Basis des ‚Westraum‘-Paradigmas operierte. Damit wird ein Operationalisierungsprozess offenkundig, der das ‚Westraum‘-Konzept in eine Reihe organisatorisch-administrativer und wissenschaftlicher Projekte (außerhalb der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft) übersetzte. In diesem Rahmen noch einmal die Hauptlinien der völkischen Westforschung zu rekonstruieren, hätte den Rahmen der Untersuchung gesprengt. Allerdings erschien es unverzichtbar, eine neue Semantik des ‚Westraumes‘ nachzuzeichnen, die sich nach der Niederlage Frankreichs 1940 und vor allem nach der Kriegswende von Stalingrad auf dem Fundament eben dieser Westforschung entfaltete. Diese veränderte Semantik kann nur im Kontext einer geo- und biopolitischen Neuordnung Westeuropas begriffen werden, die den ‚Westraum‘ als Zone zwischen einer noch bestehenden und einer bereits geplanten künftigen Westgrenze in einer brutalen Weise Wirklichkeit werden ließ. Am Beispiel der ‚Westraum‘-Publizistik des Volk und Reich-
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Verlages, der mit dem Sammelband Deutschland und der Westraum (1941) und der Zeitschrift Westland (1943-44) zwei aufschlussreiche Publikationen verlegte, werde ich im sechsten Kapitel ein verändertes Raumbild beleuchten, das zwar nach wie vor auf eine Verkleinerung Frankreichs zielte, jedoch ein neues Arrangement der Regionen und Orte etablierte, in dem Semantiken des Verbindenden und Vernetzten die Vorstellung einer germanisch-romanischen Kultur-, Wirtschafts- und Kampfgemeinschaft evozierten. In diesem Kontext entstand das eigenartige Konstrukt eines nicht durch die Gegnerschaft Frankreichs, sondern Englands konstituierten ‚Westraumes‘ mit abweichenden räumlichen und zeitlichen Dimensionen. Abschließend wird es darum gehen, wie der ‚Ostraum‘ und die ‚Neuordnung Europas‘ im Spiegel der ‚Westland‘Publizistik dieser letzten Phase aussahen und inwiefern vom ‚Westland‘ als Symbolraum eines nationalsozialistischen Europas gesprochen werden kann. Um die in den Quellen verwendeten veralteten oder erfundenen deutschen Formen frankophoner und niederländischer Ortsnamen und anderer geographischen Bezeichnungen verständlich zu machen, ist der Arbeit ein entsprechendes Verzeichnis beigefügt. Nicht aufgeführt sind allgemein gebräuchliche Namen wie ‚Straßburg‘ oder ‚Lüttich‘. Abgesehen von den im ersten, zweiten und vierten Kapitel analysierten Grundlagentexten des 19. Jahrhunderts, der Politischen Geographie und der Geopolitik, stützt sich die Studie im Wesentlichen auf wenig erschlossene Primärliteratur der untersuchten Diskursgemeinschaften. Hierzu zählen u.a. die Alldeutschen Blätter, die Zeitschrift Heimdall, mehrere frühe Periodika des VDA sowie eine Vielzahl bislang unbeachteter Broschüren und Bücher alldeutscher Akteure. Für die Analyse der jungkonservativen Publizistik wurden neben den einschlägigen Programmschriften und ideologiebildenden Blättern wie Das Gewissen, Widerstand und Das Dritte Reich in größerem Umfang Tagungs- und Tätigkeitsberichte des Deutschen Schutzbundes, der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit und einiger angeschlossener Organisationen ausgewertet. Als Referenzmedien dienten hierbei die Zeitschrift Volk und Reich und das Programm des gleichnamigen Verlages, für die semantische Wendung der Konzepte im Zweiten Weltkrieg schließlich vor allem die Zeitschrift Westland. In begrenztem Umfang musste ich außerdem auf archivalische Quellen zurückgreifen. Dies geschah vor allem dort, wo es galt, nichtöffentliche Diskursverläufe zu rekonstruieren, die von erheblicher raumkonzeptioneller Bedeutung waren. So wurden Bestände des Bundesarchivs und des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes einbezogen, die den Kontext der Kriegszieldenkschrift des alldeutschen Verbandsvorsitzenden Claß von 1914 sowie die Entwicklung der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit und des Volk und Reich-Verlages erhellen; ferner ein Bestand des Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie in Amsterdam über die Zeitschrift Westland. Im Wesentlichen auf Archivquellen stützt sich die Fallstudie über den IspertKreis, wofür insbesondere der Bestand VDA Rheinland im Pulheimer Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland eine wertvolle Quelle ist.
DIE „WESTLICHE GRENZFRAGE“ I M 19. J A H R H U N D E R T
Die neuen Grenzen Das Konzept eines deutschen Raumes jenseits der deutschen Westgrenze ist nicht vom deutschen Nationsentwurf des beginnenden 19. Jahrhunderts zu trennen, der seinerseits eine Antwort auf die radikalen Neuformierungen der europäischen Machtverhältnisse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war. Die Expansionskriege des revolutionären Frankreich hatten die westlichen Territorien des räumlich, politisch und konfessionell zersplitterten Alten Reiches erstmals in einen modernen Nationalstaat inkorporiert, dessen Grenze seine Bürger eindeutig und linear von einer noch nicht nationalstaatlich verfassten Umwelt abhob. Durch die Gesetze vom Mai 1793 und Oktober 1794 waren zunächst Liège und Stavelot, dann die gesamten habsburgischen Niederlande Teil der jungen Republik geworden; ein Jahr später hatten die französischen Truppen das gesamte linke Rheinufer von der Mündung bis Straßburg eingenommen, und der Frieden von Lunéville legalisierte 1801 den neuen territorialen Zustand. Mit dem Rhein hatte Frankreich, der Argumentation Dantons und Carnots folgend, eine „natürliche Grenze“ im Osten erlangt.1 Diese neue territoriale Situation vereinigte für knapp zwei Jahrzehnte den größten Teil derjenigen Gebiete, die ein Jahrhundert später unter dem Begriff der ‚Westmark‘ zusammengefasst werden sollten. Die Expansion Frankreichs und die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches ließen die politische Zukunft als prekär, zugleich aber in einem Maße als gestaltbar erscheinen, wie es die politischen Restriktionen und territorialen Grenzen des Reiches bislang nicht zugelassen hatten. Für Intellektuelle wie Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt, Heinrich von Kleist und Joseph von Goerres war die Nation daher ein in die Zukunft gerichtetes Projekt, das sich weder unter dem Dach einer napoleonischen Universalmonarchie, noch durch eine Restauration der feudal-absolutistischen „Kleinstaaterei“ realisieren ließ. Das neue Deutschland, das sie im Kampf gegen Napoleon zu konstituieren hofften und dessen Nationalmythos sie als intellektuelle Waffe konzipierten, stellte daher einen – ebenfalls modernen – Gegenentwurf zu Frankreich und dessen Nationskonzept dar.2 Dabei speiste sich der antifranzösische Reflex dieser Intellektuellen mitunter, wie bei Goer-
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Vgl. Mieck, Deutschlands Westgrenze, S. 213. Vgl. Johnston, Otto W.: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms, Stuttgart 1990 (im Folgenden zitiert als: Johnston, Nationalmythos).
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res, aus einer enttäuschten Hoffnung, im Windschatten der Französischen Revolution eigene jakobinische Vorstellungen realisieren zu können.3 Die Frage nach der westlichen Grenze eines künftigen Deutschland war in diesem Kontext eng mit der Frage verwoben, in welchem Maße Frankreich nach einem Sieg über Napoleon zurückgedrängt bzw. verkleinert werden solle. Der intellektuelle Rekurs auf Sprache und Abstammung – auf „Volkstum“,4 wie Friedrich Ludwig Jahn seinen teutomanischen Staatsentwurf 1810 titulierte – ermöglichte eine Neubestimmung der Westgrenze nicht mehr anhand dynastischer, sondern kultureller Kriterien. In der Situation der antinapoleonischen Mobilisierung resultierten hieraus Idealvorstellungen einer künftigen Westgrenze. Der Entwurf einer idealen, alle deutschen Sprachgebiete im Westen einbeziehenden Grenze war eingebettet in das Narrativ eines Jahrhunderte währenden französischen Frevels an deutschem Boden und deutschen Menschen. Die französischen Revolutions- und Expansionskriege stellten darin kein singuläres Ereignis mehr dar, sondern entsprangen einem vermeintlich überzeitlichen französischen Drang nach dem Rhein. Dem gegenüber erschien die geforderte Verkleinerung Frankreichs als die legitime Wiederherstellung eines einseitig gebrochenen Rechtszustandes, wenn nicht gar als Garantie eines ewigen Friedens. Bei der Neubestimmung der Grenzen durch den Wiener Kongress konnte sich das neue Konzept der Volkstumsgrenze nicht gegen die konkurrierenden etatistischen und dynastischen Prinzipien durchsetzen. Insbesondere die preußische Regierung war nicht bereit, die von Arndt erhobenen Forderungen nach einer Rückgewinnung des Elsass’, Lothringens und Luxemburgs sowie einer Einbeziehung der niederländischsprachigen Gebiete in den Deutschen Bund zu übernehmen.5 Gegenwärtig war indes das Kalkül einer dauerhaften Schwächung Frankreichs durch umfangreiche territoriale Beschneidungen, wobei in Gneisenaus Forderung nach Abtretung aller französischen Festungen an Rhein, Maas, Mosel, Schelde und Lys die Vorstellung einer räumlichen Einheit des Stromgebietes, über das zu verfügen entscheidend für die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent sei, bereits anklang.6 Doch setzten sich Vorstellungen dieser Art nicht gegen das Konzept eines europäischen Interessenausgleichs durch, wie es insbesondere die österreichischen und britischen Außenminister, Clemens Fürst Metternich und Viscount Castlereagh, vertraten. Statt zu einer Amputation Frankreichs kam es zu einem 3
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5
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Vgl. Cepl-Kaufmann, Gertrude: Weltbürger und Europäer – Joseph Goerres in seiner jakobinischen Zeit, in: dies.: R(h)ein gedacht. Ausgewählte Aufsätze zur Kulturregion Rheinland, neu hrsg. v. Esther Cepl u.a., Essen 2007, S. 89-109. Bezeichnend für den Irrationalismus der Kategorie ist die einleitende Bemerkung Friedrich Ludwig Jahns zu seiner programmatischen Schrift Deutsches Volkstum (1810): Um zu begreifen, was „der Name Volkstum in sich begreift“, müsse man die „Geheimschrift der Natur entziffern“, „in den Strudel des Vor-, Nach- und Übersinnens hinuntertauchen“, „die Erde von Volk zu Volk umwandern“, „die Weltgeschichte wie ein einziges Blatt mit dem Auge der Weltordnung überschauen“ und schließlich „in die aufgeweckten Toten […] Leben hineinatmen und Sprache hineinhauchen“ – Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volkstum, Frankfurt a.M. o.J., S. 10. Zur Isolation Arndts und des „Tugendbundes“ auf dem Wiener Kongress vgl. Spiel, Hilde (Hrsg.): Der Wiener Kongreß in Augenzeugenberichten, 3. Aufl., Düsseldorf 1966, S. 293f, 353. Vgl. Jacob, Karl: Bismarck und die Erwerbung Elsass-Lothringens 1870-1871, Straßburg 1905, S. 12.
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Übereinkommen mit der militärisch unterlegenen Macht. Der Erste Pariser Friedensschluss vom 30. Mai 1815 beließ Frankreich in seinen Grenzen von 1792 und sicherte ihm zudem die Hoheit über einige frühere deutsche Exklaven. Napoleons Herrschaft der Hundert Tage indes hatte eine strategisch motivierte Verkleinerung Frankreichs zur Folge. Zwar bestätigte der Zweite Pariser Frieden vom 20. November 1815 im Wesentlichen die früheren Beschlüsse, doch erzwang er die Abtretung der Festungen Philippeville und Marienburg und des Herzogtums Bouillon an die Niederlande, der Festung Saarlouis und Saarbrückens an Preußen sowie der Festung Landau und des linken Lauterufers mit Ausnahme von Weißenburg an Bayern.7 Statt Volkstümer zu konstituieren, hatten die europäischen Mächte eine balance of power ausgehandelt, die auf der Schaffung zweier handlungsfähiger, jedoch nicht übermächtiger Gegenpole im Osten Frankreichs basierte, gleichzeitig aber die strategischen Interessen Großbritanniens an der Kanalküste und der Rheinmündung wahrte. Da Österreich nicht mehr an einer Rückgewinnung seiner früheren Territorien im Westen interessiert war, fiel diese Rolle dem neu konstituierten Königreich der Niederlande sowie Preußen zu, dem das Rheinland angeschlossen wurde und dessen Grenze nun parallel zur Maas, jedoch ohne Zugang zum Fluss verlief.8 Zusätzlich wurde das Großherzogtum Luxemburg formal unabhängig, trat jedoch dem Deutschen Bund bei und blieb durch Personalunion mit der niederländischen Krone verbunden, sodass es faktisch eine niederländische Provinz bildete. Infolge lokaler Grenzstreitigkeiten um die Erzgrube Altenberg südlich von Aachen entstand ferner das Kondominat Neutral-Moresnet, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges als Provisorium existierte.9 In dieser Form blieb die Grenze bis 1871 bzw. 1919 stabil, wenngleich die Konstitution der früheren habsburgischen Niederlande als dreisprachiger belgischer Nationalstaat (1830), die Luxemburg und Limburg betreffenden Vereinbarungen im Zuge der niederländischen Anerkennung Belgiens (1839)10 und die tatsächliche Unabhängigkeit Luxemburgs (1867) neue territoriale Verhältnisse schufen.11 7
Vgl. zusammenfassend Craig, Gordon A.: Geschichte Europas 1815-1980. Vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 1989, S. 23-30. 8 Vgl. ebd., S. 26f. 9 Da bei der Feststellung des genauen Grenzverlaufs vor Ort eine Einigung über die Gemeinde Moresnet nicht möglich war – hier ließen die Wiener Beschlüsse verschiedene Interpretationen zu –, wurde die Gemeinde dreigeteilt und teils den Niederlanden, teils Preußen zugeschlagen. Der dritte Teil, in dem die Erzgrube, der eigentliche Streitpunkt, lag, wurde zum neutralen Gebiet erklärt. Es handelt sich dabei um die heutige belgische Ortschaft Kelmis/La Calamine. Vgl. Pabst, Klaus: Das Problem der deutsch-belgischen Grenzen in der Politik der letzten 150 Jahre, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 77 (1966), S. 183-210, hier 187-191 (im Folgenden zitiert als: Pabst, Problem der deutschbelgischen Grenzen). 10 Mit der Anerkennung Belgiens stimmten die Niederlande 1839 dem Verbleib der westlichen Hälfte Luxemburgs um Arlon/Arel bei Belgien zu. Im Gegenzug verzichtete Belgien auf das übrige Luxemburg und einen Teil Limburgs. Wie bereits Luxemburg, trat der niederländische Teil Limburgs dem Deutschen Bund bei, dem es bis zu dessen Auflösung im Zuge des Krieges von 1866 angehörte. Anders als Luxemburg, das 1867 seine Unabhängigkeit erlangte, verblieb Limburg im niederländischen Staatsverband. Vgl. Pabst, Problem der deutschbelgischen Grenzen, S. 194ff. 11 Vgl. ebd., S. 194f.
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Das gescheiterte Konzept einer durch die Sprache definierten Volkstumsgrenze fungierte nunmehr als ein Element der Kritik an der neuen Staatenordnung. Dabei trat der deutsche Anspruch auf französische Gebiete in radikalisierter Form hervor, als während der Rheinkrise 1840 der Ausbruch eines französisch-preußischen Krieges unmittelbar bevorzustehen schien. Die Argumentation, dass sich das vermeintliche Versäumnis des Wiener Kongresses, nämlich eine deutlich rigorosere Verkleinerung Frankreichs, in einem kommenden Krieg bitter rächen würde und es daher unabdingbar sei, diese in einem künftigen Friedensschluss zu oktroyieren, sollte sich über die Rheinkrise hinaus als konstitutiv für den ‚Westmark‘-Diskurs erweisen. Detaillierte Erörterungen, was in Wien hätte erreicht werden müssen, um Deutschland eine endgültige Sicherheit zu gewähren, finden sich während des Krieges von 1870/7112 ebenso wie in den Programmschriften des Alldeutschen Verbandes am Vorabend des Ersten Weltkrieges.13 Insofern muss die Analyse des ‚Westraum‘-Konzepts bei der Formulierung eines völkischen Gegenentwurfs zum Nationskonzept des revolutionären Frankreich ansetzen, den wir zugleich als den Entwurf eines deutschen Gegen-Raumes, einer imaginativen Geographie des Deutschen auf französischem Terrain, auffassen dürfen. Die Beschreibung und Deutung der Geschichte dieses Gegenraumes ermöglichen es, Calais ebenso wie Köln, Metz ebenso wie Trier, Besançon ebenso wie Freiburg als deutsche Symbolorte zu sehen und sie in eine historische Tragödie mit enormen Opfern auf deutscher Seite einzuordnen. Die zunächst zwei und schließlich vier souveränen Staaten innerhalb dieses Raumes – die Niederlande und die Schweiz, später Belgien und schließlich Luxemburg – wurden aus dieser Perspektive zu Spielbällen französischer Politik. Wo er also nicht bereits von Frankreich in Besitz genommen war, erschien der Raum von Frankreich bedroht, und zwar auch dort, wo Deutschland und Frankreich gar nicht aneinander grenzten. Angesichts dieser Totalität der Bedrohung ließ sich ohne weiteres die Forderung nach einer Gegenwehr begründen, die nur dann dauerhaften Frieden garantiere, wenn Frankreich den Raum, den es widerrechtlich in Besitz genommen habe und aus dem heraus es Deutschland bedrohe, wieder verlöre. Unsere Analyse der frühen völkischen Konzepte hat daher das Ziel, jene Aussagenkomplexe herauszuarbeiten, die über den Entwurf einer idealen Westgrenze hinaus einen solchen Raum konstruierten; relevant sind dabei solche Schriften, die zu kanonisierten Bausteinen des ‚Westraum‘-Konzepts werden sollten. Beginnen wir mit Fichte und Arndt.
12 So war Treitschkes Essay Was fordern wir von Frankreich? (siehe Kapitel Die Entlinearisierung der Grenzlandschaften: Riehls ethnographisches Konzept) in den Preußischen Jahrbüchern ein Aufsatz vorangestellt, der ein Nachholen des in Wien Versäumten im Zuge des deutsch-französischen Krieges einforderte: Anonymus: Die deutschen Forderungen von 1815, in: Preußische Jahrbücher 26 (1870), S. 344-366. 13 Siehe Kapitel „Westmark“-Entwürfe und Kriegsfiktionen vor 1914.
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D a s K o n z e p t d e r V o l k st u m sg r e n z e : F i c h te , A r n d t u n d J ah n Folgen wir der Argumentation Otto W. Johnstons, so stellen Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) die zentrale politisch-philosophische Begründung des deutschen Nationskonzepts dar.14 Als Gegenentwurf zu Frankreich entwickelte Fichte ein Konzept der Deutschen als „Volk schlichtweg“.15 Er begründete diese Idealisierung der Deutschen mit der Kontinuität ihrer sprachlichen Entwicklung. Indem sie anders als die Franzosen, die er als romanisierte Germanen begriff, noch ihre germanische Muttersprache besäßen, verfügten sie über eine unmittelbare Bindung an Schöpfung und Natur und seien daher als einzige zu einer wirklichen und zugleich universal gültigen Kultur fähig. Dieses Ideologem des „Urvolkes“16 bezog seinen Stoff aus einer radikalen Abwertung der Franzosen, denen der Zugang zu Natur, Religion, Philosophie und Kunst durch den Verlust ihrer germanischen Ursprache verstellt sei und die daher allenfalls eine oberflächliche, mechanische, äußerliche, entwurzelte und leblose Kultur hervorbringen könnten. Der Gegensatz zwischen Deutschen und Franzosen war für Fichte damit überhistorisch und irreversibel,17 und entsprechend war eine klare und undurchlässige Grenze erforderlich – eine Grenze, die nicht allein die Staatsgebiete voneinander trennte und den Verkehr von Menschen, Gütern und Kapital unterband, wie er es in seinem Konzept eines Geschloßnen Handelsstaates (1800) verlangt hatte,18 sondern auch und gerade den kulturellen Transfer radikal verhinderte. Wo aber sollte eine solche Grenze verlaufen? Im Geschloßnen Handelsstaat beantwortete Fichte diese Frage mit dem Verweis auf die zeitgenössische Geographie: „Gewisse Teile der Oberfläche des Erdbodens, samt ihren Bewohnern, sind sichtbar von der Natur bestimmt, politische Grenzen zu bilden. Ihr Umfang ist durch große Flüsse, Meere, unzugängliche Gebirge von der übrigen Erde abgesondert [...] – Diese Andeutungen der Natur, was zusammenbleiben, oder getrennt werden sollte, sind es, welche man meint, wenn man in der neueren Politik von den natürlichen Grenzen der Reiche redet [...].“19
Explizit knüpfte Fichte damit an die klassische geographische Auffassung an, derzufolge „natürliche Grenzen“ wie Flüsse, Meere und Gebirge auch optimale politische Grenzen seien. Wo diese Übereinstimmung fehle, wie es im feudalen Europa der Fall war, löse ihre Diskrepanz „Krieg“ und „Nationalhaß“ aus. Ihre Angleichung erschien daher als Voraussetzung und Garantie des Friedens. Der Staat hatte folglich bis zu seiner „wahren“ Grenze zu exVgl. Johnston, Nationalmythos. Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 106. Ebd. Vgl. ebd., S. 72f. Vgl. ders.: Der geschlossne Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik, Leipzig 1922, S. 98-117 (zuerst 1800). 19 Ebd., S. 94 (Herv. i. Orig).
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pandieren oder einen Teil seines Territoriums aufzugeben und sich hinter diese Grenze zurückzuziehen.20 Acht Jahre später galt die Priorität der ‚natürlichen Grenzen‘ für Fichte nicht mehr. Als ‚Redner an die deutsche Nation‘ verwies er das geographische Konzept auf eine sekundäre Ebene und setzte die Schlüsselkategorie seines Nationsmodells, die Sprache, an dessen Stelle: „Die ersten, ursprünglichen und wahrhaft natürlichen Grenzen der Staaten sind ohne Zweifel ihre inneren [i.S.v. immanenten] Grenzen. Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur mit einer Menge von unsichtbaren Banden aneinandergeknüpft; es versteht sich untereinander und ist fähig, sich immerfort klärer zu verständigen, es gehört zusammen und ist natürlich eins und ein unzertrennliches Ganzes. [...] Aus dieser inneren, durch die geistige Natur des Menschen selbst gezogenen Grenze ergibt sich erst die äußere Begrenzung der Wohnsitze als die Folge von jener, und in der natürlichen Ansicht der Dinge sind keineswegs die Menschen, welche innerhalb gewisser Berge und Flüsse wohnen, um deswillen Ein Volk, sondern umgekehrt wohnen die Menschen beisammen und, wenn ihr Glück es so gefügt hat, durch Flüsse und Berge gedeckt, weil sie schon früher durch ein weit höheres Naturgesetz Ein Volk waren.“21
Ohne hieraus selbst einen konkreten Grenzvorschlag abzuleiten, wies Fichte damit den Weg für eine völkisch legitimierte Grenze Deutschlands. Es war vor allem Ernst Moritz Arndt, der diesen Gedanken popularisierte und im Kontext der antifranzösischen Mobilmachung zum Vorschlag einer idealen Westgrenze konkretisierte. Die „einzig gültige Naturgrenze“ war für ihn die Sprachgrenze – und „Teutschland“ entsprechend das „Land der teutschen Zunge“. Die Sprachgrenze erschien als eine von Gott gesetzte „Scheidewand der Völker und Länder“, der er die Funktion zuschrieb, die Völker zu permanentem „Kampf“ zu reizen und sie auf diese Weise immer wieder zu revitalisieren.22 Die Sprachgrenze war damit also keineswegs eine fixe, sondern eine prinzipiell dynamische Linie, deren Verlauf von der Stärke der Kontrahenten abhänge. Arndt führte diesen Gedanken der Dynamik jedoch nicht weiter aus und umschrieb die Grenzen vielmehr mit dem ausgesprochen statischen Bild der Festungsmauer. Auf symbolischer Ebene setzte er so die dynamische Grenze der Sprache mit der statischen Grenze der natürlichen Sperrlandschaften in eins: Die ideale Westgrenze war eine Sprachgrenze, die wie eine monumentale Mauer auf den Kämmen der Gebirgszüge aufragte. Der militärgeographischen Wirkung der Gebirgskämme entsprach die Eigenschaft der Sprachgrenze, „die Völker durch Verschiedenheit und Ungleichheit“, ja durch „Abneigung und Haß“ voneinander abzusondern.23 Sprachlich-kulturelle Übergangsräume besaßen in diesem Konzept keine Bedeutung; sie waren Abweichungen, die Arndt entweder durch Umsiedlungen24 oder durch allmähliche Assimilation25 beseitigt sehen wollte.
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Ebd., S. 96f. Ders., Reden an die deutsche Nation, S. 207. Arndt, Rhein, S. 41. Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. ders.: Die Frage über die Niederlande und die Rheinlande, Leipzig 1831, S. 12ff (im Folgenden zitiert als: Arndt, Frage über die Niederlande).
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Arndt beließ es nicht dabei, die Grenze als sprachlich-kulturelle und zugleich militärische Scheide- und Kampflinie vorzustellen. Vielmehr setzte er diese in unmittelbare Beziehung zu einem Raum, den er wiederum als unteilbar und in seiner Gänze deutsch vorstellte. Dieser Raum war das Stromgebiet des Rheins, also nicht der lineare Flusslauf an sich, wenngleich der Flussname pars pro toto für den Raum stand. Diese begriffliche Verdopplung des Rheins als Linie und als Raum war die Pointe von Arndts viel zitierter Kampfschrift Der Rhein Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze (1813). Bereits im Titel spielte er das räumliche gegen das lineare Verständnis des ‚Rheins‘ aus, um einen deutschen Expansionsanspruch zu begründen: „Ich meine mit dieser Überschrift, die beiden Ufer des Rheins und die umliegenden Lande und Menschen müssen teutsch sein, wie sie sonst waren, die entwendeten Lande und Menschen müssen dem Vaterlande wiedererobert werden.“26
In Arndts Geschichtsbild hatte allein das mittelalterliche Reich eine schützende Westgrenze besessen. Sie repräsentierte eine Art harmonischen Urzustand, in dem die politische Grenze im Wesentlichen der sprachlichen und natürlichen Grenze entsprach und das Stromgebiet des Rheins vereinigte. Dabei ignorierte Arndt, dass die mittelalterliche Grenze keineswegs der Sprachgrenze folgte, sondern vielmehr einen breiten Streifen frankophoner Gebiete wie die Wallonie, Lothringen, Burgund und Savoyen eingeschlossen hatte. Die neuzeitliche Geschichte erschien dem gegenüber als ein fortdauernder französischer Vorstoß an den Rhein mit dem Ziel, ihn als natürliche Grenze Frankreichs einzurichten und von ihm aus weiter auf deutschen Boden vorzudringen. Anders als die von Gebirgen geschützte mittelalterliche, sei die moderne Grenze eine „offene Grenze“, die militärisch nicht zu verteidigen und daher abzulehnen sei: „Wenn Frankreich den Rhein und seine festen Stellungen besitzt, so ist das Niederland und die Schweiz und also auch der größte Teil von Oberitalien geradezu von ihm abhängig, so liegt ihm das übrige Deutschland bis an die Elbe und den Böhmerwald offen, und es mag ungestraft hineinbrechen und streifen und ziehen, soweit es will; zu ihm aber darf ungestraft kein Heer nur bis an den Rhein, geschweige denn über den Rhein kommen. Will man also den Franzosen das Übergewicht in der Tat entwinden und nicht bloß zum Schein, so müssen Deutschlands alte Grenzen wiedergewonnen werden. [...] Diese uralte germanische Grenze steht auf dem Vogesus, dem Jura und den Ardennen durch Art und Sprache des Volkes unverkennlich und unverrücklich fest, und nichts Französisches, welches nur verderben würde, soll von Deutschen je begehrt noch genommen werden.“27
Konkret schlug Arndt eine Grenze vor, die „in gerader Linie von Dunkerken südlich unter Mons und Luxemburg hin“ bis Saarlouis verlaufe, von dort „längs der Saar und dem Vogesus“ der deutschen Sprachgrenze bis „Möm-
26 Ders., Rhein, S. 44. 27 Ders.: Geist der Zeit III, in: Arndts Werke. Auswahl in 12 Teilen, hrsg. v. Wilhelm Steffens, Berlin u.a. o.J., 8. Teil, S. 122 (zuerst 1813 – im Folgenden zitiert als: Arndt, Geist der Zeit)
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pelgard“ (Montbéliard) folge und von dort aus die „Rheinbucht bei Basel“ erreiche.28 Dieser Entwurf einer zugleich sprachlich, geographisch und historisch legitimierten Westgrenze bildete gleichsam den äußeren Rahmen eines Raumbildes, das die Gebiete beiderseits des Rheins zunächst als Zentrum, dann aber als Peripherie ‚Teutschlands‘ imaginierte. Deutlich zeigt sich darin das Motiv eines zur Grenze werdenden Kernlandes, und erstmals stoßen wir auf die beiden Schlüsselbegriffe Grenzland und Mark. Solange er zum „heiligen Krieg“ gegen das „Franzosenungeziefer“29 mobilisiert hatte, waren die Gebiete beiderseits des Rheins für Arndt „der Kern“ des „teutschen Volkes“ gewesen. Hier verortete er den historischen „Mittelpunkt“ des Reiches, und hier glaubte er noch eine „rechte Teutschheit“ zu finden.30 Das Rheinland erschien als Symbolraum und Wertezentrum der Nation schlechthin: „Hier an beiden Ufern des Rheins, [...] hat sich das Germanische mitten in allen Stürmen der Jahrhunderte in allen Umkehrungen und Wechseln der Völker immer zusammengedrängt erhalten, ja es ist gerade durch die Stürme und Wechsel derselben fester zusammengedrängt worden: ich würde sagen, es ist dichter und gediegener geworden durch sie. [... Zugleich] ist das Germanische reiner und ungemischter geblieben, und dahin muß man wallfahrten, wenn man das echte Teutsche sehen will, da muß man die reinen und germanischen Geister suchen: jene fröhliche Gemütlichkeit und Frömmigkeit, jene kindliche Unbefangenheit und Natürlichkeit, jenen feurigen Stolz auf Wahrheit und Freiheit, jene feinherzige und freimütige Geradlinigkeit und Derbheit. Jenes unbeschreibliche Eigentümliche in Leben, Sprache und Sitten, endlich selbst jenen Schlag der Leiber, jenen Bau der Schenkel und Brüste, jenen Wurf des Haars, jenen Blick der Augen, kurz jene ganze Art und Weise, jenes Anschauliche, aber nicht Beschreibliche, was man ein eigenes Volk bezeichnet.“31
Diese Inszenierung des Rheinlandes als Fluchtpunkt nationaler, religiöser und nicht zuletzt erotischer Phantasien gipfelte in Arndts Vorschlag, im Zentrum dieses Raumes einen neu gegründeten Deutschritterorden anzusiedeln. Lediglich dem Kaiser untertan, sollte der Männerbund eine Reihe deutscher Grenzfestungen aufbauen, die Nation mit einem Netz autonomer Niederlassungen überziehen und in einer „großen ritterlichen Erziehungsanstalt“ – hier knüpft Arndt an Fichtes Idee der „Nationalerziehung“ an32 – eine kämpferische Führungselite heranziehen.33 Unter dem Eindruck der für ihn enttäuschenden Pariser Friedensschlüsse konzipierte Arndt diesen Raum noch einmal. In seiner noch 1815 publizierten Abhandlung Über Preußens Rheinische Mark und über Bundesfestungen34
28 Ders., Rhein, S. 45. 29 Einen Teil seiner politischen Schriften trug Arndt in einem solchen Gestus des nationalen Hasspredigers vor. Vgl. exemplarisch die Schlusspassage seines Letzten Wort[es] an die Deutschen in: ders., Geist der Zeit II, Teil 7. 30 Ders., Rhein, S. 71, 74. 31 Ebd., S. 71f. 32 Vgl. hierzu Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 158-191. 33 Vgl. Arndt, Rhein, S. 78ff. 34 Ders, Preußens Rheinische Mark.
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präsentierte er das rheinische Kernland als „Grenzland“,35 das von einem am Oberrhein verbleibenden Frankreich von neuem bedroht werde. Mit Blick auf die früheren „Grenzmarken“ Frankenreiches gegen die Sarazenen und Preußens gegen die Slawen schlug er nun vor, das Rheinland in eine „Rheinische Mark gegen Frankreich“ umzuwandeln. Die Bewohner erschienen nun weniger als das freimütig dahinlebende Völklein im Herzen Deutschlands. Um „die Herzen der Menschen“ sollte vielmehr „ein eiserner Panzer“ gelegt und die Jugend durch „fortgehende kriegerische Einrichtungen und Übungen zu einem rechten, kriegerischen Markvolke erzogen werden“, denn nur so könne aus der „Rheinischen Mark [...] eine wirklich bewaffnete und wahrhafte Mark“ hervorgehen, „hinter deren eisernem Bollwerk die übrigen Deutschen sicher wohnen möchten.“36 Es verwundert kaum, das sich die souveränen Niederlande in solcher Sicht auf „ein Außenwerk Deutschlands“37 oder, wie Arndt unter dem Eindruck der belgischen Revolution von 1830 schrieb, eine „Gränzwehr“ des Deutschen Bundes „gegen wälsche Habsucht“38 reduzierten. In grotesker Übersteigerung dieses ‚Mark‘-Gedankens forderte Friedrich Ludwig Jahn schließlich die Herstellung einer „Wüste“ zwischen Deutschland und Frankreich. Dem Zeugnis eines Schülers zufolge argumentierte er in seinen Berliner Vorlesungen, schon „in Altdeutschland sei ein Stamm und Ort umso berühmter gewesen, je größer und undurchdringlicher der Wald sein Gebiet ummarkt habe“. Auch in der Gegenwart sei es nicht schwer, eine solche Wildnis anzulegen, doch „müsse der Natur durch Kunst nachgeholfen werden“. Um gegen Frankreich einen undurchdringlichen Streifen zu schaffen, solle man Marschen und Niederungen versumpfen lassen, Höhen unpassierbar machen, Flussläufe stauen und Wildtiere ansiedeln. Damit nicht genug, entwarf Jahn eine fiktionale Ruinenlandschaft, in der eigens angelegte Architekturen, Befestigungen und technische Hilfsmittel jeglichen Kontakt zwischen Deutschen und Franzosen unterbinden sollten: „Aus alten Klöstern entstehen dann Eulenschläge, Adlerhorste aus ausgebrannten Turmzinnen, durch Feuersbrünste ist zu Hyänenbauten vorgearbeitet, unterirdisch aufgebaute Irrgebäude dienen gleich Schneckenbergen zu Werken für Giftschlangen. Die mit einer Doppelreihe von Verwallungen und Dornhecken eingezäunte Wüste ist wenigstens ein Grad breit, kein Leichtfuß kann sie ohne Rast durchhüpfen. Hungrige Wölfe, Bären und der gleichen passen Einschleichern, Kundschaftern und Landstreichern auf den Dienst; beginnen die reißenden Tiere sich einander selbst zu verspeisen, so werden sie mit Drehern und Seglern von Schafen, Franzosenkühen, unbrauchbaren Pferden usw. gefüttert, und der beständige Kampf, den die in der Wüste wohnenden Leute mit ihnen zu führen genötigt, ist die beste Vorschule für die Landwehr.“39
Bemerkenswert ist, dass Jahn die Grenze sowohl undurchdringlich und lebensfeindlich eingerichtet wissen wollte, sie zugleich aber als einen be35 36 37 38 39
Ebd., S. 165. Ebd., S. 167. Ebd., S. 169. Ders., Frage über die Niederlande, S. 24. So in der Wiedergabe durch Adolph Streckfuß, zit. n. Fernbach, Leo (Hrsg.): 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt. Geschichte und Sagen, Berlin 1990. Für den Hinweis danke ich Frau Dr. Maria Porrmann, Köln.
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wohnten Raum halluzinierte, in welchem der ‚beständige Kampf‘ zwischen Mensch und Tier eine ‚Vorschule‘ für das Militär darstelle. In roher Form klingt hier bereits die Vorstellung der transformierten Grenze als ein Zwischenraum bewusst suspendierter Normalität zwischen den Staaten an. Doch sollte es der alldeutschen Bewegung überlassen sein, am Ende des 19. Jahrhunderts entsprechende Vorschläge für die Zurichtung der Grenzen zu unterbreiten. Alles in allem können wir im Diskurs der politischen Romantik also bereits einige Grundstrukturen späterer Grenzlandideologie erkennen. Der Rhein, von vornherein als prekärer Raum vorgestellt, stand für zwei unvereinbare Grenzkonzepte: ein lineares französisches und ein räumliches deutsches. Stellte der Fluss aus französischer Sicht die Grenze dar, repräsentierte er aus deutscher einen Raum mit einer eigenen Grenze, die mit der natürlichen, sprachlichen und historischen Grenze Deutschlands identisch sei und deren Verlauf Arndt in groben Zügen umriss. Dieser Raum habe sich vom Zentrum in eine Peripherie des Reiches verwandelt, er stellte sich also als ein Raum des gleichzeitigen Innen und Außen dar. Er wurde zum Raum der nationalen Bewährung innerhalb eines überhistorischen Kampfes, woraus die Notwendigkeit einer militärischen Durchorganisation und mentalen Ausrichtung der Bevölkerung auf den Grenzschutz unmittelbar folgte. Die romantische Vorstellung eines Ritterordens radikalisierte sich zum Gedanken einer modernen Grenzmark.
T e m p o r ä r e Ra d i k a l i s i e r u n g : Menzel und die Rheinkrise Nachdem Frankreich in der Orientpolitik eine diplomatische Niederlage gegenüber Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen hatte hinnehmen müssen, kam es 1840 zur so genannten Rheinkrise: Das Kabinett Thiers erhob, innenpolitischen Druck nach dem Misserfolg fürchtend, Forderungen nach dem Rhein als der natürlichen Grenze Frankreichs, was einen Bruch der Verträge von 1814/15 bedeutet und einen neuerlichen europäischen Krieg provoziert hätte.40 Im Kontext des nationalistischen Gegendiskurses, den dieses politische Manöver auf deutscher Seite auslöste, radikalisierte der konservative Historiker und Publizist Wolfgang Menzel die Vorstellung einer idealen Westgrenze. Sein Essay Die westliche Grenzfrage41 erschien Anfang 1841 anonym in der von Cotta verlegten Deutschen Vierteljahrs Schrift.42 40 Vgl. Gruner, Wolf D.: Der Deutsche Bund, die deutschen Verfassungsstaaten und die Rheinkrise von 1840. Überlegungen zur deutschen Dimension einer europäischen Krise, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 53 (1990), S. 51-78. 41 Menzel, Die westliche Grenzfrage. Der volle Name des Autors wird im Erstdruck nicht genannt (Initiale: M.), was die weiter unten behandelte Zuordnung zu Moltke erleichterte. 42 Die vom Verlag der Cotta’schen Buchhandlung herausgegebene und redigierte Zeitschrift war von Menzel mit konzipiert worden und diente ihm zufolge dazu, „zeitgemäße Abhandlungen auf[zu]nehmen, die für gewöhnliche Tagesblätter zu umfangreich wären.“ Die Beiträge „sollten, wenn auch wissenschaftlich, so doch zugleich praktisch sein“ und „Zeitfragen beurtheilen“. Wolfgang Menzel’s
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Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde der Text allerdings dem jungen Helmuth von Moltke zugeschrieben und als solcher rezipiert, bevor Rudolf Craemer 1941 auf den Irrtum aufmerksam machte.43 Menzels Essay war Teil einer Erörterung militärischer Vorkehrungen und Optionen für den Fall eines deutsch-französischen Krieges, die sich seit 1840 über mehrere Jahrgänge der Deutschen Vierteljahrs Schrift hinzog.44 Dem Text vorangestellt waren zwei „Memoires“, die nach Auskunft ihrer anonymen Verfasser Vorüberlegungen eines größeren „Operationsplans gegen Frankreich“ darstellten.45 Im Mittelpunkt des ersten Memoires standen das französische „Defensivsystem“ zwischen Kanalküste und Seealpen und die möglichen Vormarschlinien deutscher Truppen zur Eroberung von Paris und Lyon. Nicht die Staatsgrenzen, sondern das Netz der Flussläufe, Gebirge, Verkehrswege, Forts und Städte dieses Raumes bildete aus Sicht der Autoren die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland; die Grenze stellte also eine Festung dar, wenngleich eine von Frankreich beherrschte. So erschien die „Nordgrenze Frankreichs“46 als ein mehrfach gestaffeltes System von Verteidigungslinien, die sich im Gebiet von Maas, Schelde und Sambre zwischen den Orten Dünkirchen und Longwy, Saint-Omer und Landrecy, SaintQuentin und Soissons, Thionville und Bitsch sowie Metz und Pfalzburg erstreckten, während die Südostgrenze durch die Linie Straßburg-Schlettstadt-Neu-Breisach und die Festungen Besançon und Auxonne gebildet würde.47 Sowohl für den Norden, als auch für den Südosten Frankreich gelte, dass die Inbesitznahme dieses „Defensivsystems“ kriegsentscheidend sei, da sie einen ungehinderten Vormarsch auf Paris bzw. Lyon ermögliche, gleich ob Deutschland seinen „Invasionskrieg“ von Belgien, dem Oberrhein oder Italien aus beginne.48 Im Gegensatz dazu verfüge Deutschland, so das zweite Memorire, über kein vergleichbares „Defensivsystem“. Insbesondere am
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Denkwürdigkeiten, hrsg. von seinem Sohne Konrad Menzel, Bielefeld u.a. 1877, S. 363 (im Folgenden zitiert als: Menzel, Denkwürdigkeiten). Vgl. Craemer, Rudolf: Die Westgrenze im Werden Deutschlands seit 1648, in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 215-255, hier: 232 (im Folgenden zitiert als: Craemer, Westgrenze). Die fälschliche Zuschreibung findet sich in der Westforschung noch in: Meynen, Emil: Deutschland und Deutsches Reich. Sprachgebrauch und Begriffswelt des Wortes Deutschland, hrsg. v. d. Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland, Leipzig 1935, S. 197f. Hierzu gehören Anonymus: Ueber die Vertheidigung des südwestlichen Deutschlands in einem Kriege des deutschen Bundes mit Frankreich, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, Heft 1, 1840, S. 315-326; Anonymus: Ueber den strategischen Werth einiger Punkte im südlichen Deutschland, in: ebd. 1843, S. 332-343 (im Folgenden zitiert als: Anonymus, Über den strategischen Werth); Anonymus: Der Centralpunkt Deutschlands und das seine Vertheidigung befördernde System von Eisenbahnen, in: ebd., Heft 2, 1842, S. 312-330 (im Folgenden zitiert als: Centralpunkt). Anonymus: Frankreichs Nord- und Ostseite, militärisch betrachtet, in: ebd., Heft 2, 1841, S. 1-9, hier: 9 (im Folgenden zitiert als: Anonymus, Frankreichs Nord- und Ostseite); Anonymus: Das südwestliche Deutschland, als Kriegsschauplatz betrachtet, in: ebd., Heft 2, 1841, S. 10-24 (im Folgenden zitiert als: Anonymus, Das südwestliche Deutschland). Anonymus, Frankreichs Nord- und Ostseite, S. 1. Vgl. ebd., S. 1-4. Ebd., S. 5.
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Oberrhein, wo ein französischer Angriff am ehesten zu befürchten sei, stellten weder der Rhein, noch der Schwarzwald eine natürliche Barriere dar. Allerdings könnten einzelne Orte „bei einem bevorstehenden Kriege der Franzosen gegen Deutschland“ eine strategische Bedeutung erlangen.49 Der Autor plädierte daher für den Ausbau der Stadt Ulm zum „Stütz- und Schwenkpunkt“ der deutschen Operationen50 und riet ferner, die Bewohner des Schwarzwaldes „nach Art der spanischen Guerilla’sbanden“ für die „geheiligte Sache des gesammten Vaterlandes zu begeistern und in Insurrekationszustand zu versetzen“.51 Menzels Argumentation war durch die Memoires also in ein bestimmtes Kalkül integriert: dass Deutschland einem französischen Angriff in seinen aktuellen Grenzen zwar schutzlos ausgeliefert sei, jenseits dieser Grenze jedoch ein Raum bestünde, über den zu verfügen ihm die endgültige Macht über Frankreich verleihen würde. Der historische Rekurs fungierte als Folie, auf der Menzel eine neue territoriale Ordnung entfaltete, die genau diesen Raum einschloss und damit weit über Arndts Konzept der sprachbegründeten Volkstumsgrenze hinausreichte, und insofern können wir hier erstmals von einer Antizipation des späteren ‚Westraum‘-Konzepts sprechen: „Keinem Deutschen darf es verborgen oder gleichgültig bleiben, daß, wenn Frankreich und Deutschland je mit einander abrechnen, alles Soll auf seiner, alles Haben auf unserer Seite steht. Nur wir haben an Frankreich zu fordern, was es uns widerrechtlich entrissen. Frankreich dagegen hat nichts von uns zu fordern, nicht ein Dorf, nicht einen Baum. Der Rhein ist, wie Arndt kurz und gut gesagt hat, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze. Geht man vom historischen Recht aus, so ist Alles, was Frankreich seit dem dreizehnten Jahrhundert an seinen östlichen Grenzen gewonnen hat, ein Raub an Deutschland gewesen; so sind alle burgundischen und lothringischen Lande unser altes, uns widerrechtlich entrissenes Eigenthum, und wir hätten demnach noch weit mehr zu reclamiren, als die Sprachgrenze.“52
Und mit Blick auf die konkrete Kriegsgefahr fügte er hinzu: „Wenn nun aber Frankreich jene Verträge von 1814 und 1815 [...] bricht und Krieg beginnt, so sollten wir uns in dem festen Entschluß vereinigen, so Gott will und der gerechten Sache den Sieg verleiht, jene Verträge nie wieder zur Basis eines neuen Friedens zu machen, sondern das Schwert nicht eher in die Scheide zu stecken, bis
49 Anonymus: Das südwestliche Deutschland, S. 24. 50 Ebd., S. 14. – Die Schwenkpunkt- oder Pivot-Funktion des Südwestens beschäftigte auch einige weitere Autoren der Deutschen Vierteljahrs Schrift. So benannte ein Anonymus neben Ulm auch Rastatt und Donaueschingen als „Drehpunkte der Armee“ im Fall eines deutsch-französischen Krieges (Anonymus, Ueber den strategischen Werth, S. 338), und ein anderer wollte das System der Eisenbahnen um die „Mittelpunkte Mainz, Frankfurt und Ulm“ nach strategischen Gesichtspunkten ausgebaut wissen (Anonymus, Centralpunkt Deutschlands, S. 314). Der Pivot-Gedanke wurde im geopolitischen Westraum-Diskurs wieder aufgegriffen (siehe Kapitel Die Regionen der Flanke). 51 Anonymus, Das südwestliche Deutschland, S. 12. 52 Menzel, Die westliche Grenzfrage, S. 67f.
76 | IMAGINIERTER WESTEN uns unser ganzes Recht geworden ist, bis Frankreich seine ganze Schuld an uns bezahlt hat.“53
Menzel legitimierte diese territoriale Forderung, indem er aus der spätantiken und mittelalterlichen Geschichte eine spezifische Raum-Ordnung ableitete. Alle deutsch-französischen Auseinandersetzungen waren für ihn Folgen einer kulturellen Divergenz zwischen Germanen, Römern und Galliern. Assoziierte er die Germanen mit Freiheitsstreben, Kraft und Würde und die Römer mit Tyrannei, Verfall und Frivolität, so wies er den Galliern einen zwitterhaften Charakter zu und behauptete, dass sie als Sklaven Roms dessen Laster noch übertroffen hätten.54 Erst die Eroberung und Besiedlung gallischer Gebiete durch Franken, Goten und Burgunder – für ihn: die „Deutschen“ – habe dem „sklavischen“ Volk überhaupt ein Nationalgefühl gegeben: „Die Niederlassung der deutschen Eroberer in ihrem Lande war eben so sehr ein Glück und Heil für die Gallier, als früher die Niederlassung der Römer ein Unglück und Unheil für sie gewesen war. Durch die Römer hatten sie die Nationalität, die Selbstständigkeit, die Freiheit, die guten Sitten und gesunde Existenz verloren, durch die Deutschen erhielten sie dieselben wieder. Erst durch die Vermischung der sklavischen und in Laster versunkenen Bevölkerung mit den freien und kräftigen Franken, Gothen und Burgundern, kam wieder ein gesundes Leben in die Bevölkerung Galliens, ein neues Nationalgefühl, eine neue Volkssitte, gegründet auf die Ehre, und ein neuer Rechtszustand, gegründet auf die Freiheit.“55
Die französische Nation war demnach erst durch die „Vermischung“ der Gallier mit den Deutschen gestiftet worden. Im mittelalterlichen Frankreich habe deshalb ein „Übergewicht der Deutschen“ bestanden, das bis ins dreizehnte Jahrhundert von den Franzosen als „so natürlich und historisch so wohl begründet“ anerkannt gewesen sei, „daß es erst einer langen Umwandlung der Zeiten bedurfte, bis es der französische Neid wagen konnte, sich an der Majestät deutscher Nation zu vergreifen.“56 Menzel übersetzte diese kulturelle Suprematie in eine konkrete territoriale Ordnung: „Bis tief ins dreizehnte Jahrhundert blieb Frankreich auf die Gebiete der Garonne, Loire und Seine beschränkt und nur wie durch einen Zufall besaß es auch die deutsche Grafschaft Flandern, die durch ihren Grafen Balduin, den Eidam Karls des Kahlen, unter französische Lehnsherrlichkeit gekommen war. Dagegen gehörte das ganze übrige Niederland, Luxemburg, Lothringen, die Freigrafschaft Burgund (franche comté), und das ganze Gebiet der Saone und Rhone (das alte Königreich Bur53 Ebd., S. 68. – Implizit nahm Menzel damit zwei andere Optionen einer Grenzziehung zurück, die er im Anschluss an das vorausgegangene Zitat formuliert hatte: dass nämlich „vom nationalen Standpunkt aus“ die Sprachgrenze zur „natürlichen Grenze der Nationen“ gemacht werden könne und „uns [damit] der ganze Rhein mit seinem ganzen linken und rechten Ufer [gehört]“, sowie dass vom Standpunkt des „positiven Recht[s]“ gemäß der Verträge von 1814/15 Frankreich zwar „seinen unrechtmäßigen Besitz Lothringens und des Elsaßes geheiligt“ habe, es jedoch „von jedem Anspruch an die übrigen Theile des linken Rheinufers“ ausgeschlossen sei (ebd.). 54 Vgl. ebd., S. 25ff. 55 Ebd., S. 27. 56 Ebd., S. 29.
„WESTLICHE GRENZFRAGE“ IM 19. JAHRHUNDERT | 77 gund oder Arelat) zum deutschen Reich. Mit Ausnahme Flanderns griff mithin die politische Grenze unseres Reiches weit über die Sprachgrenze hinaus, und dies war natürlich; denn seit dem fünften Jahrhundert war ja das alles und noch weit mehr, das ganze ehemalige Reich der Römer, eine rechtmäßige Eroberung der Deut57 schen.“
Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Raum-Ordnung das aktuelle französische ‚Defensivsystem‘ einschloss und auf eine neuerliche Übermacht der Deutschen über ein massiv verkleinertes Frankreich hinauslief. Dieses Geschichtsbild und die Kriegsziele, die es legitimierte, behielten für Menzel auch nach der Rheinkrise ihre Gültigkeit. So veröffentlichte er den Text in einer anderen Krisensituation, nämlich zwischen dem deutschösterreichischen und dem deutsch-französischen Krieg, ein zweites Mal. Allerdings bildete dieser nun den Auftakt des Buches Unsere Grenzen, in dem Menzel alle seiner Meinung nach historisch begründeten Ansprüche auf Gebiete im Westen, Norden, Osten und Süden zusammenstellte.58 Anders als 1841, als die Westgrenze eine Art Achse des Konflikts gebildet hatte, zeichnete Menzel nun das Bild einer ringförmigen Zwischenzone um den Norddeutschen Bund und Österreich. Gleichzeitig schrieb er der Westgrenze eine Schlüsselrolle für die Gesamtnation zu, da Deutschland „vom Westen [...] mehr als von jeder anderen Seite her und fast unaufhörlich bedroht“59 werde. Die Lösung der westlichen Grenzfrage sah er unverändert in der Wiederherstellung der Reichsgrenzen des 13. Jahrhunderts, die im Norden und Süden zusätzlich durch zwei „Bollwerk[e]“, nämlich die Niederlande60 und die Schweiz, zu sichern seien.61 In der Schweiz erblickte er überdies das Modell für die innere Ordnung der beanspruchten Gebiete, da die Eidgenossenschaft 57 Ebd., S. 29. 58 Menzel, Wolfgang: Unsere Grenzen, Stuttgart u.a. 1868 (im Folgenden zitiert als: Menzel, Unsere Grenzen). Die Schrift Die westliche Grenzfrage (1841) ist darin mit unwesentlichen Überarbeitungen als Kapitel I.1 („Die Grenze an Frankreich“ , S. 9-42) enthalten. Im gleichen Jahr verfasste Menzel zudem die nicht veröffentlichte Abhandlung Einige Bemerkungen über die schöne Literatur der Franzosen, in der er einen „gallorömischen, heidnischen und unsittlichen Grundzug“ der französischen Literatur „vom Beginn derselben bis auf Victor Hugo und Eugen Sue“ nachzuweisen versuchte. Vgl. ders., Denkwürdigkeiten, S. 489. 59 Ders., Unsere Grenzen, S. 9. 60 Menzel widmete den Grenzen zu den Niederlanden und Belgien ein eigenes Kapitel, in dem er den Niederlanden einen Verrat ihrer Schutzfunktion für Deutschland vorwarf, dem belgischen König jedoch zubilligte, im Rahmen seiner Möglichkeiten im deutschen Interesse gehandelt zu haben. Vgl. ebd., S. 4352, insbes. S. 48ff. 61 Die Festungs-Metapher war in der Deutschen Vierteljahrs Schrift bereits während der Rheinkrise präsent gewesen. So begann ein Aufsatz über die Möglichkeiten eines Anschlusses der Schweiz an den Deutschen Bund mit der Feststellung, Frankreich habe „im Norden und Süden [...] je aus einer deutschen Provinz neutrale Bollwerke geschaffen, durch die es den Stier bei den Hörnern hält: die Niederlande und die Schweiz; mitten darin hat es Elsaß und Lothringen weggerissen und sitzt in der Burg, die die Straße nach Oberdeutschland beherrscht [i.e. Straßburg, d.Verf.], stets wachsam und schlagfertig.“ Anonymus [E. D.]: Deutschland und die Schweiz, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, 1. Heft 1841, S. 73-112, hier: 74.
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zwar Territorien jenseits der Sprachgrenze erworben und eingegliedert habe, dabei jedoch ein deutsches Staatswesen geblieben sei.62 Eine solche Lösung der westlichen Grenzfrage schaffe zugleich die Voraussetzung für eine Kolonisation des Ostens und Südostens, mit der die Deutschen ihre fehlenden überseeischen Kolonien kompensieren und die „welthistorische[.] Ueberlegenheit“ ihrer „Race“63 beweisen könnten.64 Freilich: Menzels Plädoyer für die Restauration der mittelalterlichen Westgrenze verhallte zunächst ungehört, und insbesondere die Grenzziehung des Jahres 1871 beeinflusste es nicht. Heinrich von Treitschke, der sich im August 1870 zum Fürsprecher der Annexion des Elsasses und Lothringens machte, zitierte Menzel ebenso wenig wie Richard Boeckh, der die Forderung mit empirischen Forschungen zur Sprachgrenze untermauerte. Menzels Essay entfaltete seine Wirkung erst im jungkonservativen Diskurs. Denn die fälschliche Zuschreibung an die Adresse Moltkes – offenbar ein Versehen des Herausgebers der Gesammelten Schriften und Denkwürdigkeiten des Generalfeldmarschalls65 – ließ den Text in einem anderen Licht erscheinen. Denn liest man ihn als das frühe politische Bekenntnis des siegreichen Feldherrn des deutsch-französischen Krieges, so erscheinen die Annexion ElsassLothringens und Moltkes Eintreten für eine strategisch günstigere Grenzziehung westlich der tatsächlich realisierten Linie nicht als Schlusspunkte eines in der Reichsgründung mündenden Prozesses der Nationsbildung, sondern lediglich als Etappen eines sehr viel elementareren Kampfes um einen sehr viel größeren Raum im Westen. Zu dieser Rezeption trug vor allem Ernst Niekisch bei, der „Moltkes“ Text 1929 im nationalrevolutionären Widerstand-Verlag neu herausgab.66 In diesem abermals veränderten Kontext war er als Plädoyer für eine radikale Westpolitik lesbar, welche die Katastrophe der Jahre 1918/19 durch eine rechtzeitige Amputation Frankreichs hätte verhindern können. Entsprechend umgab Niekisch den Text mit einer Aura der Zeitlosigkeit und des Sakralen, indem er ihm „unantastbare[.] Gültigkeit“ 67 zubilligte und „Moltkes Geist“
62 Vgl. Menzel, Unsere Grenzen, S. 64ff. 63 Ebd., S. 92, vgl. auch S. 94f. 64 Hierbei schwebte Menzel eine Wiederherstellung des polnischen Staates „in einer so intimen Verbindung mit Norddeutschland, wie Ungarn mit Süddeutschland“ vor, wodurch Polen als „Vormauer gegen das übermächtige Russland“ fungieren würde (ebd., S. 122f); auch dachte er daran, die sonst zur Auswanderung nach Übersee genötigte „deutsche Ueberbevölkerung“ „längs der Donau und am Pruth“ anzusiedeln, so dass sich die deutschen Siedlungen „an die deutschen Colonien in der Nähe von Odessa“ anschlössen und das „Gewicht in der Wagschale der europäischen Politik zu Gunsten Deutschlands“ verschöben (ebd., S. 145), wodurch dem russischen Vordringen auf den Balkan und in die Türkei gleichzeitig ein Riegel vorgeschoben würde (ebd., S. 110). Vgl. hierzu auch ders., Denkwürdigkeiten, S. 560. 65 So erschien der Text mit falscher Zuschreibung als: Moltke, Helmuth von: Die westliche Grenzfrage, in: Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmuth von Moltke, Bd. 2: Vermischte Schriften, Berlin 1892, S. 171-228. 66 Moltke, Helmuth von: Die westliche Grenzfrage. Mit einer Einleitung von Ernst Niekisch, Dresden 1929. 67 Niekisch, Ernst: Einleitung, in: ebd. S. VII.
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anrief, „das deutsche Gewissen wieder zu erwecken“ und den „Zorn“ gegen Frankreich zu „schüren“.68
Die Linearisierung der Sprachgrenze: B o e c k h u n d d i e S p r a c h s ta ti s t i k Den bislang behandelten Konzepten war gemeinsam, dass ihnen keine empirische Forschung über die anvisierten Grenzen zu Grunde lag. Unmittelbar politisch motiviert, speisten sie sich vielmehr aus den historiographischen Narrativen ihrer Zeit. Dies gilt insbesondere für die Sprachgrenze, deren Verlauf die Autoren eher vage andeuten als konkret angeben konnten: Auf den Höhen der Vogesen sollte sie verlaufen, früheren Reichsgrenzen sollte sie entsprechen oder sich dort befinden, wo die deutsche Sprache verklinge. Dabei konvergierte das Konzept der Sprachgrenze mit Konzepten der natürlichen und historischen Grenze. Doch wo genau die Grenze zu suchen, nach welchen Kriterien und mit welchen Methoden ihr konkreter Verlauf festzustellen und wie mit der mitunter erheblichen räumlichen Divergenz der möglichen Linienführungen umzugehen sei, wurde nicht erörtert. Die Sprachgrenze war zunächst eine Grenze ohne konkreten Verlauf. Erste Versuche ihrer Lokalisierung begegnen uns in der Kartographie und Statistik. 1859 legte Johann Kutscheid eine Karte der Deutsch-Französischen Gränzländer mit Angabe der seit dem 17. Jahrh. von Deutschland abgerissenen Landtheile und der Deutsch-Französischen Sprachgränze vor,69 1867 folgte Heinrich Kieperts Specialkarte der deutsch-französischen Grenzländer mit Angabe der Sprachgrenzen,70 1870 schließlich die Historische Karte von Elsaß und Lothringen zur Uebersicht der territorialen Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert von Kiepert und Richard Boeckh.71 Von diesen bildete lediglich Kutscheid das Gebiet von der Nordsee bis zur Schweiz ab, wobei er die Sprachgrenze, als rote Linie dargestellt, zu den geltenden Staatsgrenzen und den „seit dem 30jähr. Kriege von Deutschland abgerissenen Ländern“72 in Beziehung setzte. Sie verlief von Gravelines über Saint-Omer in relativ gerader Linie östlich bis Limburg, von dort entlang der preußisch-belgischen Grenze nach Süden, wich im Gebiet von Arel geringfügig nach Westen ab und traf auf den luxemburgisch-belgisch-französischen Dreiländerpunkt bei Longwy, verlief sodann in südwestliche Richtung bis Zabern und schließlich westlich von Schlettstadt, Colmar und Mülhausen in einer Kurvenlinie bis zur schweizerischen Grenze. Kutscheids Kartierung stimmte in groben Zügen mit den späteren Darstellungen überein, allerdings lokalisierte er die Sprachgrenze weniger weit 68 Ebd., S. XVI. 69 Kutscheid, Karte der Deutsch-Französischen Gränzländer. 70 Kiepert, Heinrich: Specialkarte der deutsch-französischen Grenzländer mit Angabe der Sprachgrenze, Berlin 1867; vgl. ferner ders.: Nationalitäts-Karte von Deutschland, Weimar 1848; ders.: Völker- und Sprachen-Karte von Deutschland und den Nachbarländern im Jahre 1866, Berlin 1867. 71 Boeckh, Richard/Kiepert, Heinrich: Historische Karte von Elsass und Lothringen. Zur Übersicht der territorialen Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert nach Original-Quellen bearbeitet, Berlin 1870. 72 Kutscheid, Karte der Deutsch-Französischen Gränzländer, Legende.
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im Westen als acht Jahre später Kiepert. Bei ihm wanderten etwa Longwy, Thionville, Sarrebourg und Ribeauvillé, die bei Kutscheid noch frankophone Orte waren, auf die deutsche Seite der Sprachgrenze, die wiederum wesentlich detaillierter dargestellt war und in Lothringen mehrere schraffierte Übergangszonen auswies. Auch ergänzte Kiepert frankophone Ortsnamen wesentlich konsequenter mit deutschen Varianten: Thionville etwa erschien als Diedenhofen, Sarrebourg als Kaufmanns-Saarbrücken, Ribeauvillé als Rappoldsweiler. Schließlich bildete Kiepert die Sprachgrenze erstmals auf einer topographischen Karte ab, sodass ihr Verlauf auf der Folie des Höhenreliefs und damit in Relation zur ‚natürlichen Grenze‘ der Höhenzüge sichtbar wurde. Dabei konzentrierte er sich auf Luxemburg, Lothringen und das Elsass. Seine während des deutsch-französischen Krieges gemeinsam mit Boeckh vorgelegte Historische Karte schließlich situierte die Sprachgrenze, nun wieder ohne Übergangszonen gezeichnet, innerhalb eines bunten Flickenteppichs feudaler Besitztümer, die unter dem Gesichtspunkt ihres früheren Status im Heiligen Römischen Reich sowie des Zeitpunktes und der Umstände ihres Erwerbs durch Frankreich kategorisiert und kartiert waren. In diesem zunehmenden Konkretions- und Komplexitätsgrad der Darstellung spiegelt sich eine Verwissenschaftlichung der westlichen Grenzfrage. So exakt wie möglich im geographischen Raum fixiert, wurde die Sprachgrenze zugleich der politischen Planung verfügbar. Die Grundlage hierfür hatte vor allem der Statistiker Boeckh gelegt.73 Seit 1852 im Königlichen Statistischen Bureau in Berlin74 für die Bearbeitung der auswärtigen Statistik verantwortlich,75 hatte er 1854 eine erste Untersuchung und eine Karte der flämischwallonischen Sprachgrenze in Belgien veröffentlicht.76 Gleichzeitig verfasste er einige Studien über Elsass und Lothringen, die er 1859 unveröffentlicht gegen sprachstatistisches Material eintauschte, das der Kartograph Heinrich Berghaus in den Ostseeprovinzen erhoben hatte.77 Er selbst trieb im Zuge der 73 Zur Bedeutung Boeckhs als einer der einflussreichsten Vertreter der Sprachund Nationalitätenstatistik im 19. Jahrhundert vgl. Haarmann, Harald (Hrsg.): Sprachenstatistik in Geschichte und Gegenwart. Mit Beiträgen von Richard Böckh [sic] (Die statistische Bedeutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität [1866]) und Heinz Kloss/Grant M. McConnell (Linguistic Composition of the Nations of the World: Introduction [1974]), Hamburg 1979, S. 19 (im Folgenden zitiert als: Haarmann, Sprachstatistik). 74 Zum Statistischen Bureau vgl. auch Boeckh, Richard: Die geschichtliche Entwicklung der amtlichen Statistik des Preußischen Staates. Im Auftrage des Direktors des Königlichen Statistischen Bureaus Herrn Dr. Engel dargestellt. Eine Festgabe für den Internationalen Statistischen Congress in Berlin, Berlin 1863. 75 Anonymus: Lebensgang, in: Zur Erinnerung an Richard Boeckh, Geheimen Regierungsrat und Professor der Statistik an der Universität Berlin. Reden bei der Trauerfeier am 9. Dezember 1907, Lebensgang und Schriftenübersicht, o.O.u.D (Berlin 1907/08), S. 8-44, hier: 11 (im Folgenden zitiert als: Anonymus, Lebensgang). – Der als Beigabe zur Trauerrede veröffentlichten biographischen Skizze lagen, wie der Verfasser – vermutlich Otto Pfleiderer – anmerkt, „zum Teil eigene Aufzeichnungen Boeckhs zu Grunde“. Allerdings ist im Text nicht ersichtlich, wo und wie die autobiographischen Notizen eingearbeitet worden sind. 76 Vgl. Boeckh, Richard: Die Sprachgrenze in Belgien, in: Zeitschrift für Erdkunde, Bd. III, S. 81-97. 77 Vgl. Anonymus, Lebensgang, S. 12, 14.
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preußischen Volkszählung von 1861 die Erfassung der Volkssprachen voran, nutzte die Daten für eine Sprachkarte des preußischen Staates78 und weitete seine Forschungen auf deutsche Ansiedlungen in allen europäischen Staaten aus.79 Seine Hauptwerke Die statistische Bedeutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität (1866)80 und Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Staaten (1869)81 waren der Versuch einer umfassenden theoretischen Grundlegung und praktischen Anwendung seiner sprachstatistischen Methode. Doch blieb dieser Versuch unvollständig. Denn lediglich in einer einzigen Region, nämlich dem nach dem preußischdänischen Krieg annektierten Teil des Herzogtums Schleswig, hatte er seine Methodik als Leiter der preußischen Volkszählung im Herbst 1864 tatsächlich erproben können.82 Für alle anderen Staaten und Regionen blieb er auf die Interpretation heterogener, zum Teil auch unvollständiger und veralterter Daten ausländischer Volkszählungen angewiesen. Von diesen waren lediglich die belgischen und italienischen Volkszählungen von 1846 bzw. 1857 mit Boeckhs sprachstatistischen Kategorien kompatibel.83 Boeckhs baute seine Sprachstatistik auf einer universalen Theorie der Nationalitäten auf, der zufolge sich die „Völkerindividuen“ nicht anhand der „Staats-“, sondern der „Volkssprache“ unterscheiden ließen. Der Terminus Volkssprache bezeichnete dabei die lebensweltlich, insbesondere in den Familien, gesprochene Sprache.84 Jede Nation, so postulierte Boeckh in Anlehnung an sein Arndt,85 dem er sein Hauptwerk widmete, „erstreckt sich so weit, wie die Verständigung mittels einer Volkssprache erfolgt.“ 86 Konsequent plädierte der Statistiker daher für die „wissenschaftliche Anerkennung der Sprache als des eigentlichen Trägers der Nationalität“, und die „Erforschung des Sprachverhältnisses“ erschien gleichbedeutend mit einer objektiven Abgrenzung der Nationen.87 Sein zentrales methodisches Postulat besagte, dass sowohl für jedes Individuum, als auch für jede Ortschaft eine 78 Vgl. Boeckh, Richard: Sprachkarte vom Preußischen Staat nach den Zählungsaufnahmen im Jahre 1861, i. Auftrage des Kgl. Statistischen Bureaus bearbeitet, 2. Blätter, Berlin 1863. 79 Anonymus, Lebensgang, S. 19. 80 Boeckh, Richard: Die statistische Bedeutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität, Berlin 1866 (im Folgenden zitiert als: Boeckh, Statistische Bedeutung der Volkssprache). 81 Boeckh, Der Deutschen Volkszahl. 82 Vgl. Anonymus, Lebensgang, S. 18. 83 Die Erfassung der langue parlée habituellement im Zuge der belgischen Volkszählung von 1846 und der lingua parlata ordinariamente in Italien 1857 entsprachen aus Boeckhs Sicht seinem Konzept der Volkssprache (vgl. Boeckh, Der Deutschen Volkszahl, S. 21ff). Nachdem auch der erste Internationale Statistikerkongress 1853 in Brüssel die Bedeutung der belgischen Zählung von 1846 für die Sprachstatistik betont hatte, strebte Boeckh eine internationale Verständigung über gemeinsame nationalitätenstatistische Normen an, gleichzeitig bezog er Stellung gegen die Befürworter einer ethnographisch orientierten Nationalitätenstatistik. Vgl. hierzu auch Haarmann, Sprachstatistik, S. 22. 84 Vgl. Boeckh, Statistische Bedeutung der Volkssprache, S. 309. 85 Boeckhs Verehrung zeigt sich u.a. darin, dass er den greisen Arndt 1859 dazu bewegte, die Patenschaft für seinen ältesten Sohn August Boeckh zu übernehmen. Vgl. Anonymus, Lebensgang, S, 19. 86 Boeckh, Der Deutschen Volkszahl, S. 1. 87 Ebd., S. 7.
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(und nur eine) eindeutige sprachliche und damit nationale Zuordnung möglich sei. Praktisch zu erreichen sei dies durch eine Erhebungsmethode, bei der die Bewohner gemischtsprachiger Gebiete eine der von ihnen gesprochenen Sprachen zu priorisieren hätten: „Erst für den Einzelnen ist die Zweiheit der Sprachen in der Statistik auszuschließen, hier aber unbedingt: Der Einzelne kann die Volkssprache wechseln, aber nicht zweien zugleich angehören, da etwas vollkommen gleiches, das in der Natur nicht vorhanden ist, auch in der Statistik nicht angenommen werden soll. Nur der Zweifel bleibt auch für die Statistik bestehen, und eben deshalb hat sie danach zu streben, durch bestimmte theoretisch scheidende Begränzungen die zweifelhaften Fälle der einen oder der anderen Seite zuzutheilen.“88
Durch diese restlose Zuweisung der Individuen entlang „theoretisch scheidende[r]“ Kriterien stellte die Sprachstatistik eine Trennschärfe her, die eines der wichtigsten Charakteristika von Grenzregionen, nämlich ihre Gemischtsprachigkeit, aus der statistischen Wirklichkeit ausblendete – sie schuf Homogenitäten, wo Hybridität der Fall war und ermöglichte eine Linearisierung der Sprachgrenze dort, wo Sprachen einander überlagerten und ineinander übergingen. Die Sprachstatistik lieferte also notwendigerweise eine lineare Abbildung der Sprachgrenze, die insofern als ein höchst artifizielles Konstrukt zu verstehen ist. Allerdings negierte Boeckh die Gemischtsprachigkeit nicht vollständig. Denn da die Sprachstatistik exakte Daten über den Anteil der einzelnen Volkssprachen in den Ortschaften beiderseits der Linie bereitstellte, machte sie es möglich, auch Grenzen derjenigen Orte zu bestimmen, in denen zehn, zwanzig, dreißig usw. Prozent der Einwohner die deutsche Volkssprache angegeben hatten.89 Die Sprachgrenze begegnet uns also in zweierlei Gestalt: als lineare Abstraktion einerseits und als abgestufter Raum mit quantifizierten sprachlichen und damit nationalen Minderheiten andererseits. Beides, Grenze und Minderheit, stellten Schlüsselkategorien des politischen Konzepts des Statistikers dar. Was Boeckh politisch anstrebte, war weniger eine gewaltsame Neuordnung des europäischen Kontinents entlang der wissenschaftlich festgestellten Nationalitätengrenzen, sondern vielmehr die Etablierung von Schutzrechten durch eine Aufnahme des so genannten Nationalitätsprinzips in das internationale Recht. Daraus ergaben sich drei Hauptforderungen, die unverändert in die Programmatik des 1881 von Boeckh mitbegründeten Allgemeinen Deutschen Schulvereins für das Deutschtum im Ausland, des späteren VDA,90 übergehen sollten: das Recht zur „Pflege und Lehre der Muttersprache in den Schulen“, das Recht zum „gemeinsamen Gottesdienst in der Muttersprache“ und das Recht zur Vertretung aller „öffentlichen und persönlichen Angelegenheiten“ in der Volkssprache.91 Ein Laboratorium zur Erpro88 Ebd., S. 20. 89 Vgl. ebd. die entsprechenden Aufstellungen über die Schweiz (S. 283, 286) und Belgien (S. 287, 290). 90 Weidenfeller, Gerhard: VDA, Verein für das Deutschtum im Ausland, Allgemeiner Deutscher Schulverein (1881-1918). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Nationalismus und Imperialismus im Kaiserreich, Bern 1976, S. 164ff (im Folgenden zitiert als: Weidenfeller, VDA). 91 Boeckh, Der Deutschen Volkszahl, S. 12.
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bung dieses Minderheitenrechts erblickte Boeckh im geteilten Herzogtum Schleswig: „In der Forderung von Garantien für die Achtung der Nationalität der in Nordschleswig lebenden deutschen Bevölkerung ist der Grundsatz gegeben, welcher eine neue Grundlage des künftigen Staatsrechtes geben kann, sobald ihm von deutscher Seite die entsprechende Zusicherung der Achtung der dänischen Nationalität bei denjenigen mit Norddeutschland vereinigten Wohnsitzen, welche theilweise dänische Besiedlung enthalten, als richtige Ergänzung hinzugefügt und diese gegenseitige Versicherung unter den Schutz aller derjenigen Mächte gestellt wird, welche sich in der gleichen Weise verpflichten, das Nationalitätsprincip, das heißt die Achtung der geistigen Selbständigkeit jeder Bevölkerung in ihrer Volkssprache auch innerhalb ihres Machtgebietes zur Anwendung zu bringen.“92
Das schleswigsche Modell ist für uns deshalb von Interesse, weil Boeckh es 1869 unmittelbar mit der französischen Verwaltung des Elsasses kontrastierte, wo er eine „geistige Unterwerfung“ und systematische „Ausrottung der Sprache“ zu erkennen glaubte.93 Das Elsass erschien also als eine Ausnahmeregion, in der die Bedingungen für einen gegenseitig garantierten Ausgleich „ohne Veränderung der Staatsgrenze“94 nicht gegeben waren. Damit war der Punkt gegeben, an dem Boeckhs Argumentation unversehens in Chauvinismus umschlug. Die Einforderung des Nationalitätsprinzips im Elsass geriet zur „unverjährbaren Pflicht“ aller Deutschen, die Annahme dieser Forderung durch die französische Regierung zur Bedingung jeglicher Verständigung, die Fortführung der französischen Kultur- und Schulpolitik aber wurde zum casus belli: „Die Wiedereinsetzung der deutschen Sprache im Elsaß und Westreich95 in ihr altes Recht als geltende Landessprache und die Zurückdrängung der französischen Sprache in eine Stellung, welche ihr als gemeinsamer Staatssprache und als der Volkssprache eines kleinen Theiles der angestammten und eingewanderten Bevölkerung zukommt, wäre die unerlässliche Bedingung, unter welcher der erstarkende deutsche Volksgeist die fortdauernde Verbindung eines wichtigen Theiles der Nation mit einem fremden Reiche ohne Entwürdigung betrachten könnte; sie allein könnte, ohne Veränderung der Staatsgrenze, der deutschen Nation das rechte Pfand des Friedens und der Freundschaft geben. Wenn nun im Gegentheil die neuesten Verhandlungen des französischen Senats den Regierungen dieses Staates die Anerkennung geben, dass sie kein Mittel unversucht gelassen haben, die deutsche Sprache in diesen Landestheilen zu vernichten, und wenn der französische Senat die Beseitigung des Deutschen aus dem Unterricht für eine nationale Aufgabe ersten Ranges erklärt, was ist dies anders als eine offene Kriegserklärung gegen die deutsche Nation!“96
Boeckh spitzte diese Haltung während des deutsch-französischen Krieges zur Forderung nach einer „Wiedervereinigung des Elsasses und Deutsch92 93 94 95 96
Ebd., S. 16f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 17. Gemeint ist die Region Westrich. Ebd., S. 17. (Herv. i. Orig.)
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Lothringens mit dem Deutschen Reiche“ zu.97 Gemeinsam mit Kiepert, der zu seinen Berliner Mitarbeitern zählte und mit dem er während des Krieges die Historische Karte von Elsaß und Lothringen bearbeitete, griff er außerdem aktiv in die Grenzpolitik ein: Durch Intervention beim deutschen Generalgouvernement in Nancy erreichten die beiden zunächst eine Verschiebung der provisorischen Grenze auf den Kamm der Vogesen, und im Vorfeld des Frankfurter Friedensschlusses wiesen sie in einer Eingabe an Bismarck erfolgreich auf mehrere bis dahin übersehene deutschsprachige Dörfer hin.98 Boeckh selbst zog im Spätsommer 1871 vorübergehend nach Straßburg und leitete die erste, mit einem Optionsrecht für die Bewohner verbundene Volkszählung im Reichsland Elsass-Lothringen. Allerdings scheiterte der Versuch des Straßburger Oberpräsidenten Eduard von Möller, ein statistisches Amt unter seiner Leitung zu gründen, und auch die anvisierte Berufung an die Universität Straßburg erfolgte nicht.99 Kaum unterschätzt werden kann indes die Wirkung, die von Boeckhs nüchternen sprachstatistischen Tabellen in Der Deutschen Volkszahl als „moralische Grundlage“100 der Annexion ausging. „In allen Zeitungen vom Preußischen Staatsanzeiger abwärts,“ so heißt es in einer auf nachgelassenen autobiographischen Fragmenten beruhenden Lebensskizze, „ging man, sobald die Rede auf unsere nationalen Forderungen für die künftige Westgrenze kam, auf die Resultate von Boeckhs Forschungen“,101 insbesondere aber seine Untersuchungen über die „Ausdehnung des deutschen Sprachgebiets in Elsaß-Lothringen“, zurück.102 Tatsächlich aber war Boeckhs Lokalisierung der westlichen Sprachgrenze in hohem Maße spekulativ. Denn weder lagen seiner Untersuchung eigene sprachstatistische Erhebungen zu Grunde, noch konnte er auf Datenmaterial zurückgreifen, das seinen Anforderungen entsprach. Für Belgien standen ihm zwar die Ergebnisse der Zählung von 1846 mit ihrer Angabe der langue parlée habituellement zur Verfügung, doch war eine solche Erfassung bei der belgischen Zählung 1866, deren Ergebnisse ohnehin nur für zwei
97
Boeckh, Richard: Die natürlichen Grenzen Deutschlands gegen Frankreich, in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart (Monatsschrift zum Conversations-Lexikon), NF, 6 (1870), S. 353-372, hier: 372 (im Folgenden z itiert als: Boeckh, Die natürlichen Grenzen). 98 Vgl. Anonymus, Lebensgang, S. 21; Weidenfeller, VDA, S. 164ff. Einen Überblick über die Struktur der Besatzungsverwaltung vermittelt Löning, Edgar: Die Verwaltung des General-Gouvernements im Elsaß. Ein Beitrag zur Geschichte des Völkerrechts, Straßburg 1874. 99 Vgl. Anonymus, Lebensgang, S. 22, 24, 32. 100 Ebd., S. 20. 101 Ebd., S. 22. 102 Insofern bestätigt dies die Position Lothar Galls, der gegenüber Walter Lipgens These, Bismarck habe die deutsche Öffentlichkeit erst durch eine gezielte Pressemanipulation für die Annexion Elsaß-Lothringens gewonnen, auf eine Vielzahl von Texten hinwies, die bereits vor dem deutsch-französischen Krieg eine Rückgewinnung Elsaß-Lothringens gefordert oder nahe gelegt hatten. Vgl. Gall, Lothar: Zur Frage der Annexion von Elsaß und Lothringen 1870, in: Historische Zeitschrift, Bd. 206 (1968), S. 265-326; Lipgens, Walter: Bismarck, die öffentliche Meinung und die Annexion von Elsaß und Lothringen, in: ebd., Bd. 199 (1964), S. 31-113.
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Provinzen vorlagen, nicht mehr erfolgt.103 Für die Schweiz nutzte er die Volkszählung von 1860, der er jedoch methodische Schwächen bescheinigte,104 und für die Niederlande fehlten sprachstatistische Daten völlig,105 was jedoch nicht weiter ins Gewicht fiel, da Boeckh das Königreich ohnehin dem niederdeutschen Sprachgebiet zurechnete.106 Das gravierendste Problem Boeckhs aber war das vollständige Fehlen sprachstatistischer Erhebungen in Frankreich. Er sah sich daher gezwungen, „das deutsche Sprachgebiet in Frankreich in seine territorialen Bestandtheile“, nämlich die elsässisch-lothringischen Departements Bas-Rhin, HautRhin, Meurthe et Vosges und Moselle einerseits sowie – von ihm ebenfalls in den Blick genommen – die ‚flämischen‘ Departements Nord und Pas de Calais „zu zergliedern“,107 anhand der Ortsnamen das mutmaßlich deutsche Gebiet zu identifizieren und ihm nach einem bestimmten Schlüssel die in der französischen Volkszählung von 1861 angegebenen Einwohnerzahlen zuzuordnen: „Zu diesem Behufe mußte zuerst das deutsche Sprachgebiet selbst bestimmt abgegränzt werden, so daß es sich nach Flächenraum, Zahl der Gemeinden und Bevölkerungszahl übersehen ließ. Eine solche Abgränzung bot beim Elsaß nur an wenigen Stellen Schwierigkeit, wo das Verhältniß einzelner Gemeinden so zweifelhaft ist, daß sie für die frühere oder jetzige Zeit als gemischt betrachtet werden mußten. Schwieriger war diese Abgränzung in Lothringen; dort ist im allgemeinen so verfahren worden, daß das ganze Gebiet der deutschen Ortsnamen als deutsches Sprachgebiet gerechnet ist mit Einschluß der doppelnamigen Orte (während im Elsaß in der Regel die doppelnamigen Orte nicht als deutsch gerechnet sind). Von den doppelnamigen sind jedoch diejenigen lothringer Orte, welche jenseits der Gränzen der vormaligen Allemagne im Anschluß der französisch-namigen gelegen sind, nur als halb deutsch oder gemischt betrachtet und nur halb gerechnet worden [...].“108
Die weitere Untersuchung basierte überwiegend auf französischen Quellen, insbesondere den auch für die Historische Karte verwendeten Werken von Henri Lepage über das Departement Meurthe,109 Louis Emmanuel de Chastellux über das Departement Moselle,110 Georges Stoffel für das Departement Haut-Rhin111 und Paul Ristelhuber über das Elsass;112 hinzu kamen
103 104 105 106 107 108 109
110 111
Es handelte sich um die Provinzen Limburg und Ost-Flandern. Vgl. Boeckh, Der Deutschen Volkszahl, S. 287. Vgl. ebd., S. 283. Vgl. ebd., S. 290. Vgl. ders., Statistische Bedeutung der Volkssprache, S. 314-318. Ders., Der Deutschen Volkszahl, S. 291. Ebd., S. 291. (Herv. i. Orig.) Lepage, Henri: Dictionnaire topographique du Département de la Meurthe comprenant les noms de lieu anciens et modernes, Paris 1862; ders.: Les communes de la Meurthe. Journal historique des villes, bourgs, villages, hameaux et censes de ce departement, Nancy 1852-53; ders.: Le Departement de la Meurthe. Statistique historique et administrative, Nancy 1843. Chastellux, Louis Emmanuel de: Géographie de la Moselle, Metz 1857; ders.: Le territoire du Département de la Moselle. Historie et statistique, Metz 1860. Stoffel, Georges: Dictionnaire topographique du Département du Haut-Rhin comprenant les noms de lieu ancienes et modernes, Paris 1868.
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die Sprachkarte Kieperts und eine unveröffentlichte kartographische Skizze des Sprachforschers Heinrich Nabert.113 Aus dem Abgleich der so gewonnenen geographischen, historischen und statistischen Angaben folgerte Boeckh die ursprüngliche Ausdehnung des „angenommenen deutschen Sprachgebietes“ und bestimmte eine Zone derjenigen Orte, welche als „französiert“ anzusehen seien. Darüber hinaus verglich er den vermuteten Umfang des Sprachgebietes mit der „natürlichen Begränzung Deutschlands“, wobei er „die Wasserscheide der Rhone (Doubs) gegen den Rhein (Ill), der oberen Mosel und Meurthe mit der Besouze und Seille gegen die Saar, der französischen Nied gegen die deutsche Nied, der oberen Mosel mit der Orne gegen die Mosel unterhalb der Orne-Mündung und der Maas gegen das untere Mosel-Gebiet“ als natürliche Grenze annahm.114 Dieser überraschende Rekurs auf das geographische Konzept der ‚natürlichen Grenzen‘ kann nur als Kompensation der fehlenden sprachstatistischen Daten verstanden werden. Im Kontext des Krieges und mit Blick auf eine künftige territoriale Neuordnung nahm Boeckh denn auch eine pragmatische Umdeutung seines Konzepts sprachstatistisch exakt lokalisierter Grenzen vor, deren Grundzüge er unter dem programmatischen Titel Die natürliche Grenze Deutschlands gegen Frankreich darlegte. Die „hydrographische Grenze“ zwischen dem Rhein-, Maas- und Scheldegebiet einerseits und dem Rhônebzw. Seinegebiet andererseits eigne sich, so argumentierte er, im Prinzip „vortrefflich“ für eine Begrenzung der deutschen und französischen Nation, weshalb sie nach dem Vertrag von Verdun (870) lange Zeit auch „als historische Grenze Deutschlands“ bestanden habe.115 Da „zwischen dem Rheinstrome und der Wasserscheide“ jedoch „mehr als vier Millionen Franzosen, noch dazu in geschlossener Masse“ lebten, komme es allerdings nicht in Betracht, „diese Linie als die natürliche Grenze Deutschlands festzuhalten; es müßte denn sein, daß man unter Deutschland etwas anders verstände als das Land der deutschen Nation!“116 Boeckhs Kunstgriff bestand nun darin, Sprachgrenze und Wasserscheide so zueinander in Beziehung zu setzen, dass die Sprache zwar das ausschlaggebende Kriterium für die Grenzziehung zwischen Deutschen und Franzosen blieb, ihre Genese jedoch als eine regional in unterschiedlichem Maße vollzogene und von der örtlichen Geographie unterschiedlich stark beeinflusste Annäherung an die hydrographische Grenze interpretiert wurde: eine Identität von Sprachgrenze und Wasserscheide stellte demnach den Ideal-, eine mehr oder weniger ausgeprägte Divergenz beider Linien aber den Normalfall dar. Ohne das Nationalitätsprinzip aufzugeben, wurden geographische Kriterien damit als Indikatoren für die Bestimmung der nationalen Westgrenze nutzbar, wo diese sprachstatistisch nicht zu bestimmen war: „Die Einwirkung von Höhe und Niederung zusammen mit der nicht minder wichtigen der Gliederung nach Wasserbecken tritt [...] namentlich in jener Nationalgrenze hervor, welche in großem Bogen von den Walliser Alpen, dem Monte-Rosa, 112
113 114 115 116
Ristelhuber, Paul: L’Alsace ancienne et moderne, ou dictionnaire géographique, historique et statistique du Haut et du Bas-Rhin, 3. Aufl., Strasbourg 1865. Vgl. Boeckh, Der Deutschen Volkszahl, S. 291. Ebd. Boeckh, Die natürliche Grenze, S. 359. Ebd., S. 360.
„WESTLICHE GRENZFRAGE“ IM 19. JAHRHUNDERT | 87 durch das weitverzweigte Rheingebiet bis zu jener Stelle hinzieht, an welcher die Gewässer des Deutschen Meeres mit denen des Britischen Kanals zusammenfließen. In der Begrenzung der deutschen und der an die Stelle der romanisierten Gallier getretenen französischen Nation hat sich eine Linie gebildet, welche in ihren Wendungen sich deutlich der Bodengestaltung anschließt und zwar um so mehr von dieser beeinflußt wurde, je mächtiger die entgegenstehende Naturbildung war, während sie da, wo die natürliche Abtheilung weniger scharf hervortrat, sich in einfachern und größern Zügen hielt und gewissermaßen die allzu großen Windungen der Naturgrenzen zu vereinfachen bestrebt war.“117
Die „natürliche Grenze Deutschlands gegen Frankreich“ war also nicht die hydrographische Grenze selbst, sondern die von ihr gleichsam an sich gezogene, jedoch nicht vollständig mit ihr verschmolzene Sprachgrenze. Insofern erscheint es treffend, nicht von einem Konzept der Sprachgrenze oder der Naturgrenze im engeren Sinne, sondern einem solchen der sprachlichnatürlichen Grenze als einer Synthese zu sprechen. Abstrahierte bereits die sprachstatistische Methode, so sie denn zur Anwendung kam, die sprachlichen Übergangszonen zu trennscharfen Linien, so macht Boeckhs notgedrungene Kombination des Sprachlichen mit dem Geographischen den Konstruktcharakter der Grenze vollends offensichtlich. Betrachten wir das Konstrukt der sprachlich-natürlichen Westgrenze nun genauer. Was zunächst auffällt, ist ihre Gliederung in drei Abschnitte. Boeckh folgte dabei im Wesentlichen der Vorstellung einer Dreistufigkeit Deutschlands, wie etwa der Geograph August Zeune sie 1830 in seinem Hauptwerk Gea dargelegt hatte: „Von den Alpen senkt sich dieses Land der Deutschen in drei Stufen gegen Norden [...]. Diese drei Stufen sind: Ober-, Mittel- und Niederdeutschland.“118 In diesem Sinne unterschied auch Boeckh zwischen einem südlichen Abschnitt, der „die oberrheinische Ebene von Basel bis unter Bingen mit den anschließenden Höhen und Gebirgstälern bis zur Wasserscheide gegen die Mosel“ umfasste, einem mittleren Abschnitt, bestehend aus dem „Moselgebiet mit dem oberen Maasgebiet“, und einem nördlichen Abschnitt mit der „niederrheinische[n] und der flandrische[n] Ebene mit dem mittleren Maasgebiete“ bis hin zu „den Gebieten der Kanalflüsse (der Somme und Seine)“.119 Innerhalb dieser drei Abschnitte wies Boeckh der Sprachgrenze „im Vergleich mit den betreffenden hydrographischen Gebieten“ folgenden Verlauf zu: Ausgehend von Großlützel, „dem schweizerischen Grenzorte, in welchem die Nationalitäten zusammentreffen“, stimme die Sprachgrenze im südlichen Elsass „mit der natürlichen Begrenzung durch die Wasserscheide des Rhône- und durch den Kamm des Wasgenwaldes im allgemeinen überein“, wobei „das Französische“ im Quellgebiet der Lützel und der Larg, bei Bretten sowie im Weißbach-, Leber-, Albrechts- und Breuschtal über die hydrographische Grenze hinausgreife.120 In Lothringen sei der ursprüngliche Verlauf der Sprachgrenze „sowol aus der Benennung der Ortschaften“, als auch aus der Abgrenzung der früheren 117 118
119 120
Ebd., S. 361. Zeune, August: Gea. Versuch die Erdrinde sowohl im Land als Seeboden mit Bezug auf Natur- und Völkerleben zu schildern, 3. Aufl., Berlin 1830, S. 264f. Boeckh, Die natürliche Grenze, S. 362. Ebd., S. 366f.
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Allemagne gegen die übrigen Landesteile ersichtlich. Dabei scheine die Sprachgrenze „von der Saarquelle am Donon ab [...] mit der Naturgrenze des Saargebietes gegen die Plaine und Besouze zusammengefallen zu sein“, während sie weiter nördlich der „Wasserscheide zwischen der deutschen und der französischen Nied“ entspräche. Allerdings sei diese Naturgrenze „keine sehr scharfe“. Die deutsche Sprache habe sich daher im Gebiet der oberen Seille bis „La Haye des Allemands (Deutsch-Hagen)“ über die Wasserscheide hinweg ausbreiten und in Anlehnung an eine Reihe kleinerer Wasserläufe „eine Art Naturgrenze“ ausbilden können, sei infolge einer „seit 120 Jahren geübte[n] Französierung“ inzwischen jedoch wieder verdrängt. Auch eine Reihe östlich der Wasserscheide gelegener Orte, insbesondere der Oberlauf der Weißen Saar, müssten als „verwelscht“ betrachtet werden.121 Zum Moselgebiet hin setzte sich die „Naturgrenze“ für Boeckh westlich der Kammer fort, in deren Quellgebiet sich das Französische bei VillerBettnach, Aboncourt und Bettlainville leicht über die Naturgrenze hinweg ausgedehnt habe. Von dort habe die Sprachgrenze ursprünglich bei Blettagne gegenüber der Ornemündung die Mosel erreicht, „während am linken Moselufer sich das Deutsche weiter aufwärts [...] bis Marange-Silvange, erstreckte und nördlicher an der Orne wahrscheinlich bis Rosselange reichte,“ von wo sie „auf die Wasserscheide zwischen der Orne und dem Krebsbache hinaufging“ und „bis zur heutigen Grenze des Großherzogtums Lützemburg bei Hüßigny mit der Naturgrenze fast zusammen[fiel]“. Insgesamt sei „das Deutsche hier etwas über die Wasserscheide zurückgedrängt, sodass die Linie Knütange, Angeviller, Redange die Grenze der deutschen Sprache“ bilde.122 „Das Verhältnis der Sprachgrenze von hier bis zur Hohen Veen und weiter bis zur Maas hinauf“ ließ sich für Boeckh auf die bemerkenswerte Formel bringen, „dass die Sprachgrenze als eine berichtigte Naturgrenze erscheint, indem sie die Windungen der letztern mehrfach abschneidet und das Gebiet derselben abrundet“, sodass „in den Ardennen bei Arlon die Quellen der Sauer und Wilz im französischen, und wieder nördlicher in der Hohen Veen die Quellen der Ambleve und Weser im deutschen Gebiet ihren Ursprung nehmen.“ Südwestlich von Aachen schließlich verlaufe die Sprachgrenze über Membach, Limburg und Henri-Chapelle zur Maas.123 Für den nördlichen Abschnitt konstatierte Boeckh eine „große Regelmäßigkeit der Sprachgrenze westlich der Maas“. Hier jedoch falle sie „nur auf eine kurze Strecke, nämlich an dem oberen Theile des Gebiets der Jaer (oberhalb Tongern), mit einer hydrographischen Grenze, nämlich der Grenze des Maas- und Scheldegebiets, zusammen“. Westlich durchschneide sie „infolge der gleichmäßigen Zurückschiebung der Wallonen aus der Ebene und ihrer gleichmäßigen Behauptung in den südlichen Theilen sämmtliche zur Schelde gehenden Flußgebiete [...] und endlich das der Schelde selbst“, wobei „eine den natürlichen Gegebenheiten sich anpassende Ausbiegung“ entstanden sei.124 Ausführlich ging Boeckh schließlich auf die Verschiebung der Grenze des flämischen Sprachgebiets in Nordostfrankreich ein: „Von Meenen ab ging die Sprachgrenze vormals längs der Lys aufwärts“, wobei sie wahr121 122 123 124
Ebd., S. 367f. Ebd., S. 268f. Ebd., S. 269. Ebd., S. 369f.
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scheinlich „sogar links dieses Flusses noch weiter bis vor Teruanne“ verlaufen sei, „von wo sie sich nordwestlich wandte, den größten Theil des Aagebiets umfaßte und in gleicher Richtung das Cap Graunese erreicht“. Weiter westlich reiche das flämische Sprachgebiet „bis in die Vorstadt von SaintOmer“, sodass „Watten und Holk noch vlämisch gemischt, Saint-Mariekerque und Saint-Omer-Chapelle noch halb vlämisch sind und das wirklich französierte Gebiet mit Grevelingen und Loon an der Nordsee abschließt.“ Eine klare Naturgrenze gebe es in diesem Gebiet nicht, allenfalls könne „der Gegensatz zwischen den höher und niedriger liegenden Theilen als derjenige bezeichnet werden, welcher der natürlichen Sonderung der Volksstämme entsprechen würde.“ Demgegenüber stelle die französische Staatsgrenze eine „widernatürliche Grenze“ dar, da sie die Sprachgrenze „fast senkrecht“ durchschneide und „keine andere Folge“ habe, „als Dünkirchen, den Haupthafen Flanderns gegen England zu, von seiner Landschaft zum Schaden beider abzulösen.“125 Ähnlich vernichtend beurteilte Boeckh die gesamte französische Ostgrenze: „Daß überhaupt die heutigen Grenzen Frankreichs vom Jura bis zum Meere unnatürlich und eigentlich nur darauf berechnet sind, die Nachbarstaaten lahm zu legen, dürfte aus dem Vorgesagten sich ergeben haben und überdies nachgerade genugsam bekannt sein.“ Am Ende des Krieges werde es also darum gehen müssen, „an die Stelle derselben natürlichere Grenzen zu setzen“, die durch Anerkennung des Nationalitätsprinzips einen dauerhaften Frieden ermöglichten.126 Für den oberrheinischen Abschnitt legte Boeckh denn auch einen konkreten Vorschlag vor, mit dem er dem Nationalitätsprinzip den Vorrang vor jenen militärstrategischen Kalkülen gab, welche für die tatsächliche Grenzziehung des Jahres 1871 mitentscheidend sein sollten: „Beginnen wir mit dem Rheinthal, so ist hier nicht der Rhein eine natürliche Grenze, wohl aber wird eine solche durch die mächtige Höhe des Wasgenwaldes gebildet. Dieser aber berührt den Jura nicht und hier sagt mancher, daß Deutschland das ganze Elsaß mit Einschluß des einstmals burgundischen Theils, also mit Einschluß von Delle und Belfort, wiedernehmen solle; denn das ist die wichtigste Angriffsposition, welche den Zugang nach Burgund eröffnet. Dies ist aber nicht ein Grund des Friedens, sondern des Krieges, und mit demselben Rechte würde unter gleichen Verhältnissen Frankreich Altkirch und Pfirt verlangen können, deren Besitz ihm den Eingang des Rheinthals offen hielte. Die Nationen haben sich selbst friedlich, aber mit deutlichem Worte, nämlich durch die Sprache, die große Wasserscheide zur Scheide ihrer Wohnsitze gewählt, und die Staaten sollten diesem Beispiele folgen.“127
Schwieriger indes sei eine künftige Grenze in Lothringen zu bestimmen, wo es „an einer unbedingt maßgebenden und festen Naturgrenze“ fehle: „Die nächstliegende natürliche Grenze würde die von uns beschriebene sein, welche das obere Saargebiet mit dem in diese hineinverschlungenen Gebiete der deutschen Nied und dem westlich anschließenden Moselgebiet bis zum Einfluß der Orne hin125 126 127
Ebd., S. 370. Ebd. (Herv. i. Orig.) Ebd., S. 371. (Herv. i. Orig.)
90 | IMAGINIERTER WESTEN auf zu Deutschland fügte. [...] Sie ist allerdings auf der Hochfläche etwas gewunden; indeß braucht man die Wasserscheide nicht mit solcher Genauigkeit als maßgebend zu betrachten, könnte dieselbe vielmehr in der Art verkürzen, wie es die Nationen selbst auf solchen Hochflächen z.B. in den Ardennen gethan haben. Eine Linie von Sanct-Georg auf Pontigny und Gondreville, durch welche die diesseits gelegenen und von derselben durchschnittenen vormals und theilweise noch jetzt deutschen Ortschaften dem deutschen Theile verbunden würden, bietet eine solche zweckmäßige Verkürzung zu Gunsten Deutschlands, wogegen auf der Moselseite die Linie von Gondreville auf die Ornemündung zugezogen werden und auf der anderen Seite der Mosel durch eine ähnliche Verkürzung die [...] längs der Wasserscheide liegenden altfranzösischen Dörfer von dem deutschen Theile ausgeschlossen werden könnten. Das hiermit zu Deutschland kommende Gebiet würde etwa ein Fünftel von Lothringen innerhalb der alten Reichsgrenze, nämlich etwa 77 Quadratmeilen von 384 mit 320000 Einwohnern enthalten.“128
Die geringe Ausprägung der Wasserscheiden, das Fehlen einer statistischen Fixierung der Sprachgrenze und die Verschiebungen seit dem 18. Jahrhundert ließen zugleich alternative Entwürfe zu, sodass wir es letztlich mit einem Bündel möglicher Grenzen zu tun haben, von denen keine ganz hydrographische und ganz sprachliche Grenze war: „Wir müssen zugeben, daß sich demnächst in Lothringen noch andere natürlich gleichfalls berechtigte Linien vorfinden. Eine solche läuft, wie oben gezeigt, zunächst jenseits der französischen Nied; dann findet sich eine noch stärkere Grenze jenseits der Seille, und diese letztere würde zugleich das weit über die Hochfläche verzweigte Ornegebiet, im ganzen etwa ein zweites Fünftel Lothringens mit Metz als seinem Mittelpunkte, in sich schließen. Dann würde etwa das Meurthegebiet mit der Ebene um Nancy, dann das obere Moselgebiet mit Toul, dann das Maasgebiet um Verdun und endlich das ganze Maasgebiet bis zur großen Wasserscheide zwischen dem Deutschen Meere und dem Britischen Kanal folgen.“129
Die 1871 realisierte Grenze war also nicht die von Boeckh favorisierte, jedoch die von ihm als mögliche Alternative legitimierte Linie unter Einschluss von Metz, Nancy und Toul, nicht jedoch von Verdun.130 Die Bedeutung Boeckhs liegt, so können wir festhalten, darin, dass er eine politisch motivierte und planerisch anwendbare empirische Forschung über die westliche Grenze der Nation begründete, die über das Statistische Bureau unmittelbar in die preußische Politik integriert war. In diesem Sinne können wir seine Bestimmung der westlichen Sprachgrenze als den Vorläufer der deutschen Westforschung im Sinne eines auf Aneignung oder Durchdringung zielenden wissenschaftlichen Arbeitens sprechen. Ihre synthetische Methodik lässt sich dabei als ein Versuch beschreiben, divergierende zeitgenössische Konzepte, was Grenze sei und wie sie bestimmt werden könne, zu einem wissenschaftlich objektivierten Vorschlag zu integrieren. Der gleichzeitige Bezug auf sprachliche, hydrographische und historische Gren128 129 130
Ebd. Ebd. Boeckh wies auf die Übertragbarkeit des Verfahrens auf andere Regionen hin und spekulierte über eine „Erweiterung des belgischen Gebiets längs der Küste gegen Calais“ im Zuge einer weiteren Schwächung und Verkleinerung Frankreichs (ebd., S. 370).
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zen konstituierte einen Divergenzraum, in den hinein der Wissenschaftler nicht nur eine Grenze, sondern ein Set alternativer Entwürfe zeichnen konnte; die vorgeschlagene Grenze war, wenngleich als ‚natürlich‘ apostrophiert, also keineswegs absolut, sondern politisch gestaltbar. Gerade dort, wo die empirische Basis für die Bestimmung der Sprachgrenze am dünnsten war, in Lothringen also, war diese Flexibilität besonders ausgeprägt. Ohne dass Boeckh dies explizit reflektierte, trat neben die in einem radikalen Sinne linear gedachte Grenze zudem ein Konzept von Grenzräumen: Flussgebiete, aber auch Hochebenen oder Täler, erschienen als homogene, quasi organische Einheiten, an welche sich die Sprachgrenze im Idealfall anlehne und die daher nicht von einer staatlichen Grenze geteilt werden dürften. Mit der Volkszählung im Reichsland waren Boeckhs Forschungen über die westliche Sprachgrenze im Wesentlichen abgeschlossen. Die Auswertung und Aufbereitung der nun vorliegenden Daten übernahm Kiepert, der 1874 eine verbesserte Karte der elsass-lothringischen Sprachgrenze vorlegte.131 Boeckh selbst wandte sich, 1875 zum Direktor des Statistischen Bureaus ernannt, 1881 als Professor für Statistik an die Universität Berlin berufen132 und 1892 zum Vorsitzenden des späteren VDA gewählt, nun verstärkt den deutschen Minderheiten in Südtirol, Siebenbürgen, Posen und Westpreußen zu.133 Allerdings übernahm er nach dem Tod Heinrich Naberts im Mai 1890 die Fertigstellung der Karte Die Verbreitung der Deutschen in Europa 18441888, die nach ihrer Veröffentlichung durch den VDA in den Kanon der völkischen Verbände und Wissenschaften eingehen sollte.134 Die Karte zeigte ein abermals differenzierteres Bild der westlichen Sprachgrenze. Für Lothringen wies sie eine ausgeprägte sprachliche Übergangszone aus, und erstmals waren auch für die Schweiz und Nordostfrankreich kleinere Übergangszonen und einzelne Sprachinseln erkennbar. Ihre eigentliche Bedeutung lag jedoch in der Kartierung der osteuropäischen Sprachgebiete. Betrachten wir dieses Gesamtbild, so stand der vergleichsweise klaren westlichen Sprachgrenze eine grundlegend andere Struktur im Osten gegenüber: eine Streuung 131
132
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134
Vgl. Kiepert, Heinrich: Die Sprachgrenze in Elsass-Lothringen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 9 (1874), S. 307-316; ders.: Specialkarte des Deutschen Reichslandes Elsass-Lothringen. Im Auftr. d. Kaiserlichen Oberpräsidenten zu Straßburg nach amtlichen Quellen bearb., 2. Aufl., Berlin 1888. Vgl. Pfleiderer, Otto: Gedächtnisrede gehalten am Sarge in der Kapelle des Alten Luisen-Kirchhofs in Charlottenburg am 9. Dezember 1907, in: Zur Erinnerung an Richard Boeckh, Geheimen Regierungsrat und Professor der Statistik an der Universität Berlin. Reden bei der Trauerfeier am 9. Dezember 1907, Lebensgang und Schriftenübersicht, o.O.u.D. (Berlin 1907/08), S. 1-6, hier: 3. Vgl. Anonymus, Lebensgang, S. 36f. Das dort beigefügte Schriftenverzeichnis Boeckhs weist mit Ausnahme einer kurzen Abhandlung Zur vlämischen Frage (in: Mitteilungen des Allg. Deutschen Schulvereins, NF, Nr. 6 [1891], S. 7ff) ab 1871 keine westpolitischen Veröffentlichungen mehr nach. Nabert, Heinrich: Die Verbreitung der Deutschen in Europa 1844-1888. Zwei Karten im Maßstab 1:2,5 Mio, Nachdruck mit Begleittext von Wolfgang Hendlmeier (Schriftenreihe des Bundes für deutsche Sprache und Schrift, Heft 12), Bayreuth o.D. [1994]. Zur Entstehung der Karte vgl. ebd. (Begleittext), S. 3f. – Die Kommentierung des Nachdrucks zeigt exemplarisch die Fortschreibung völkisch-nationalistischer Paradigmen im heutigen Grenzraum von Konservativismus und Rechtsextremismus.
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kleiner und kleinster Sprachgebiete, die, durch die farbige Darstellung der Karte noch unterstrichen, wie Inseln oder Zellen bis zum Finnischen Meerbusen, an den Kaukasus und ans Asowsche Meer reichten: die sprachliche Ostgrenze erschien als weit ausgreifender Raum, während die Westgrenze im Wesentlichen eine Linie blieb. Wenden wir uns vor diesem Hintergrund zwei anderen Autoren zu, die sich im Kontext des deutsch-französischen Krieges ebenfalls mit der Westgrenze befassten und eine Annexion Elsass-Lothringens legitimierten: Wilhelm Heinrich Riehl und Heinrich von Treitschke.
D e r E n tl i n e a r i si e r u n g d e r G r e n z l a n d s c h a f t e n : R i e hl s e t hn o g r a p hi sc he s K o n z e p t Hatte Boeckh die Ethnographie als Methode zur Abgrenzung der Nationen verworfen,135 so war sie bei Riehl das Fundament eines Raumkonzepts, das eine völlig neue Sicht auf die Grenzen zuließ. Diese Sicht war eingebettet in eine Modernisierung des romantischen Nationskonzepts, deren Kern laut George Mosse darin bestand, „die vielen grundsätzlichen Gebote völkischen Denkens [zu] standardisier[en]“ und zu einem ständischen Gesellschaftsentwurf zu verdichten. Der Rekurs auf Riehl, das „Wiederaufgreifen seiner Gedanken“ und die Fortentwicklung seiner ethnographischen Studien zur wissenschaftlichen Disziplin der Volkskunde durchziehen die Geschichte der völkischen Bewegung, ohne dass es größerer Uminterpretationen oder Entstellungen durch ihre späteren Protagonisten bedurfte.136 Wir können also annehmen, dass auch die subtil in seine ethnographischen Beschreibungen eingeflochtenen Raumbilder ihre Wirkung auf die völkische Bewegung nicht verfehlten. Im Gegensatz zur linearisierten Sprachgrenze Boeckhs betrachtete Riehl die Grenzen des ‚Volkstums‘ in einem sehr fundamentalen Sinne als Räume oder, wie er es nannte, als Landschaften, die im Konzert mit den binnendeutschen Regionen die Nation konstituierten. Diese Landschaften zu durchwandern, sich gar temporär in ihnen niederzulassen, und die gemachten Beobachtungen einer wissenschaftlichen Reflexion zu unterziehen, war Riehls neuartiger Ansatz ethnographischer Erkenntnisgewinnung137 – und lieferte zugleich das Material seines restaurativen Gesellschaftsentwurfs. Konsequent stellte Riehl die Grenzen daher aus der subjektiven Perspektive des forschenden Wanderers vor, dessen Bestreben es sei, aus dem unmittelbaren Erleben von „Land und Leuten“138 eine tiefere Kenntnis des ‚Volkstums‘ zu erlangen. Er ging davon aus, dass das ‚Volkstum‘ in der ‚Land135
136 137
138
Vgl. Boeckh, Der Deutschen Volkszahl, S. 6. – Allerdings erkannte Boeckh an, dass ethnographische Verfahren eine primär sprachstatistische Abgrenzung der Nationen ergänzen könnten (vgl. ebd., S. 38f) Vgl. Mosse, Die völkische Revolution, S. 32. Vgl. Riehl, Wilhelm Heinrich: Wanderbuch. Als zweiter Teil zu „Land und Leute“ (Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, Bd. 4), 4. Aufl., Stuttgart u.a. 1903, S. 3f (im Folgenden zitiert als: Riehl, Wanderbuch). Ders.: Land und Leute (Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, Bd. 1), 11. Aufl., Stuttgart u.a. 1908.
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schaft‘, die er als eine Synthese von Volk und Raum auffasste, repräsentiert und aus ihr gleichsam herauslesbar sei. Indem er neben der Sprache auch Bodenbeschaffenheit und Bodenbewirtschaftung, Verkehrswege und Siedlungen, Alltagskultur und Ornamentik, Kleidung und Brauchtum, Ökonomie und Technologie – auch und gerade in ihrem Wechselspiel – als kennzeichnend für eine ‚Landschaft‘ begriff, wurde eine Ethnisierung von nahezu allem möglich, was sich im regionalen Raum und in der regionalen Gesellschaft wahrnehmen ließ. Neben der Sprache gewann Riehl damit ein multiples Set zusätzlicher, wenngleich diffuser Merkmale, die eine Einordnung der ‚Landschaft‘ in die völkisch definierte Nation zuließen,139 gerade dadurch aber die sprachstatistische Abstraktion einer trennscharfen Grenzlinie unterliefen. Waren sprachlich-kulturelle Übergangsgebiete bei Arndt und Treitschke Abweichungen, die es zu eliminieren galt, wurden sie bei Riehl zur Regel. Neben die Semantik des Trennenden mit ihren Bildern der Mauer, Wand, Festung und Linie trat nun eine Semantik des Übergangs, der Mischung und der Überlagerung. Der Grenzbegriff erfuhr damit eine wesentliche Erweiterung hin zu einem Raum, der a priori weder ein Raum des Kampfes, noch ein Raum des Ausgleichs war, sondern dessen friedliche oder kriegerische Bedeutung sich im Wechselspiel von Geographie, Geschichte und Ethnographie immer wieder von neuem ergab. Dabei verstand Riehl es hervorragend, sein ethnographisches Material zu abstrakten Raumbildern zu verdichten, in denen Linien, Netze, Richtungen und Flächen die Grundstruktur der ‚Landschaft‘ (und zugleich ein strukturierendes Element ihrer Darstellung) bildeten. Inmitten dieser zugleich konkreten und abstrakten Konzeptualisierung des Raumes nun finden wir sowohl einen erneuten Rekurs auf den Begriff Mark, als auch eine richtungsweisende Bestimmung des Terminus Grenzland. Riehls ethnographisches Konzept der Grenze lässt sich aus drei Studien über Grenzregionen erschließen, die er am Vorabend bzw. während des deutsch-französischen Krieges publizierte und von denen zwei die Westgrenze behandelten: der Beschreibung des Burgenlandes und der Niederlande im Wanderbuch (1869) und den im April 1871 zunächst in Friedrich Raumers Historischem Taschenbuch veröffentlichten, später dann in das Wanderbuch aufgenommenen Elsässischen Kulturstudien.140 Von diesen drei Regionen kam das Burgenland Riehls Vorstellung einer Grenz-‚Landschaft‘ am nächsten. Diese basierte auf dem Bild unterschiedlicher geographischer, politischer und ethnographischer Raumebenen, die einander regional überschnitten, aber nicht zur Synthese gelangten. Viel139
140
Vgl. die Rezeption Riehls aus Sicht der völkischen Grenzlandforschung bei Metz, Friedrich: Wilhelm Heinrich Riehl und die Erforschung der deutschen Grenzlande, in: ders.: Land und Leute. Gesammelte Beiträge zur deutschen Landes- und Volksforschung. Aus Anlass seines 70. Geburtstages hrsg. v. E. Meynen und R. Oehme, Stuttgart 1961, S. 25-47, hier: 45 (im Folgenden zitiert als: Metz, Riehl). Riehl, Wilhelm Heinrich: Elsässische Kulturstudien, in: Wanderbuch, S. 349402 (im Folgenden zitiert als: Riehl, Elsässische Kulturstudien). – Riehl verfasste den Text im September und Oktober 1870 unter dem Eindruck der Gefangennahme Napoleons III. und der fortdauernden Kriegshandlungen (Belagerung von Metz). Publiziert wurde der Aufsatz erstmals im April 1871 in Raumers Historischem Taschenbuch, bevor Riehl ihn 1892 in die dritte Auflage des Wanderbuchs aufnahm.
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mehr verfügten sie über je eigene Ausdehnungen und Abgrenzungen, die es Deutschen, Ungarn und Kroaten gleichermaßen möglich machten, begründete Ansprüche auf das Grenzland geltend zu machen: „Von Pressburg bis Bruck ist die politische Grenze Ungarns zugleich eine landschaftliche: deutsches Hügelland auf der einen, ungarisches Flachland auf der anderen Seite. Eine Volks- und Sprachgrenze ist sie aber nicht, denn die überwiegend deutschen Ansiedlungen reichen hier bis in die Schütt und bis Raab hinüber; die Landschaft spricht also viel früher ungarisch als das Volk. Südlich von Bruck läuft die politische Grenze teilweise auf der Wasserscheide des Leithagebirges und umspannt ein Bergland zwischen Leitha und Neusiedlersee, welches uns landschaftlich ganz in deutsche Mittelgebirgsszenerien versetzt. [...] Hier haben wir also deutsche Landschaft auf ungarischem Boden. Die Ortschaften dieses welligen Berg- und Hügellandes sind entweder deutsch oder kroatisch, die Ortsnamen deutsch und magyarisch. Die Deutschen haben die Kulturund Sprachherrschaft; die Magyaren suchen hier und anderswo mit ihrem neugewonnenen politischen Regiment auch ihre Sprache und Sitte breiter einzubürgern [...]. Alles zusammengenommen macht die Gegend am Leithagebirge und am Neusiedlersee den Eindruck einer deutschen ‚Mark‘, im mittelalterlichen Sinne des Wortes, das heißt: wir finden uns auf fremdem Boden, aber dieser äußerste Saum fremden Landes steht unter deutscher Kulturherrschaft, er ist ein zur Schutzwehr der wirklichen Grenze ins Ausland vorgeschobener Vorwall.“141
Zentral für dieses Verständnis der Grenze ist die Aktualisierung des ‚Mark‘Begriffs, den Riehl explizit im „mittelalterlichen Sinne des Wortes“, also als peripheres und noch nicht befriedetes Gebiet, verstanden wissen will. Mit diesem Rekurs löste er die Frage der nationalen Zugehörigkeit des ‚Grenzlandes‘ nicht, formulierte sie jedoch in einer Weise neu, die wir in späterer Terminologie geopolitisch nennen können. Nicht die sprachliche, kulturelle oder geographische Grenzlinie an sich war entscheidend, sondern die Funktion des Grenzlandes als „Schutzwehr“ zwischen der „wirklichen Grenze“ und ihrem „Vorwall“. Idealtypisch war das ‚Grenzland‘ also eine vorgeschobene Region, in der Außen und Innen einander überlagerten: ein strategisch wertvolles Stück „fremde[n] Bodens“ unter „deutscher Kulturherrschaft“.142 Doch nicht jedes Grenzgebiet entsprach diesem Idealtypus. Am Beispiel des Elsass stellte Riehl ein ‚Grenzland‘ vor, das im Gegensatz zum Burgenland (und, wie wir sehen werden, anders als bei Treitschke) keine Mark war. Sein Kennzeichen war vielmehr eine mehrfache Transformation der ‚Landschaft‘ von einem „Straßen-“ und „Kriegsland“ hin zu einem „Grenz-“ und „Zwischenland“143 – vier einander teils ablösende, teils überlagernde Raumbilder also, die er zu einem für die spätere Westforschung richtungsweisenden Konzept verband. Riehl entwickelte sie auf der Folie eines gleichsam geometrisch strukturierten Raummodells, das er am Anfang der Elsässischen Kulturstudien darlegte. Mit seinen Linien, Vektoren und Flächen wirkt es wie 141 142
143
Zit. n. Metz, Riehl, S. 42. Ebd. – Der ‚Mark‘-Charakter verlieh der Landschaft für Riehl eine herausragende Bedeutung; ausdrücklich riet er der habsburgischen Krone, dem Burgenland größte Aufmerksamkeit und Fürsorge angedeihen zu lassen. Vgl. die Kapitelüberschriften in Riehl, Elsässische Kulturstudien.
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die textliche Vorwegnahme der geopolitischen Skizzen und Suggestivkarten der Zwischenkriegszeit, was ein weiterer Grund seiner späteren Attraktivität sein mag. Riehl entwarf dieses Raumbild zunächst auf symbolischer Ebene, indem er das Wappen von Straßburg, wie auch die Stadt selbst, pars pro toto für das „Straßen-“ und „Kriegsland“ präsentierte: „Es ruht ein feiner Sinn in diesem [...] Wappenschilde. Straßburg ist [...] eine Burg der Straßen wie wenig andere Städte, und ein Waffenplatz, zu welchem schon oft die Blutstraße großer Entscheidungskriege führte. Wie aber jenes Wappen Straßburg symbolisiert, so Straßburg das Elsaß. Das ganze Land ist ein Land der Straßen und war dazu seit alter Zeit ein Land der Kriegsstraßen, ein Kriegsland. Die Natur selbst hat ihm diese zwiefache Signatur aufgeprägt […]. Man kann die ganze Rheinebene des linken Ufers, wie sie von Basel bis Mainz geradeaus nordwärts zwischen Fluß und Gebirg sich breitet, eine große Naturstraße nennen, und seit alter Zeit ziehen denn auch hier drei Straßen parallel nebeneinander: der Strom, die Uferstraße und die Straße am Bergsaume. Hierzu gesellt sich noch für das Elsaß (wenigstens von Basel bis Straßburg) ein Kanal und endlich die Eisenbahn, als fünf gleichlaufende Straßen von Süd nach Nord. So ist dem ganzen Elsaß sein Hauptweg gewiesen; es stellt die westlichste Verbindungslinie her zwischen Ober- und Mitteldeutschland. (Als Ethnograph bin ich so frei, auch die deutsche Schweiz zu Oberdeutschland zu rechnen.) Erst in zweiter Linie kommen dann die Straßen, welche vom Rheine durchs Gebirge westwärts nach Frankreich führen; nur zwei derselben (von Straßburg nach Nanzig und von Mülhausen nach Besançon) sind gleichfalls durch die Bodenform scharf und notwendig vorgezeichnet; und auch hier laufen auf engem Raume je dreierlei Wege nebeneinander: Landstraße, Eisenbahn und Kanal. Um aber diese Querverbindungen durchs Gebirge den Straßen längs des Rheins gleichzustellen, musste die Kunst das meiste tun, dort tat es die Natur.“144
Betrachten wir die „Signatur“, die Riehl in der ‚Landschaft‘ zu erkennen meinte, genauer: Das „Straßenland“ strukturiert sich demnach als Raster von fünf Nord-Süd- und zwei (jeweils dreifach ausgeprägten) Ost-West-Linien, die einander rechtwinklig kreuzen und von denen erstere die bedeutenderen und zugleich natürlicheren seien. Diese Nord-Süd-Linien machten das Elsass zu einer Art Gesamtstraße, einem „Straßenland“ eben, indem sie den Rhein durch Straßen-, Kanal- und schließlich Eisenbahnbauten technisch reproduzierten. Das zur Straße gewordene Land verband das alpine mit dem mittelgebirgigen Deutschland und bildete dadurch so etwas wie eine westliche Klammer der Nation, worin der Gedanke eines ‚deutschen Westraumes‘ bereits anklingt. Indem Riehl von der „magische[n] Verbindungskraft des deutschesten Flusses“145 sprach, projizierte er zugleich die nationalistische Rhein-Semantik seiner Zeit in das ‚Straßenland‘ hinein, das als eine Art verräumlichter Rhein damit eine einzigartige Intensität des ‚Deutschtums‘ verkörperte. Die beiden rechtwinklig zum Rhein und seinen technischen Nachbildungen verlaufenden Querverbindungen zu Frankreich waren dem gegenüber nur von untergeordneter Bedeutung. Transformierte sich das ‚Straßen-‘ jedoch in das ‚Kriegsland‘, trat ihre Bedeutung hervor. Denn anders als die Nord-Süd-, stellten die Ost-West-Verbindungen im Grunde 144 145
Ebd., S. 352. (Herv. i. Orig.) Ebd., S. 360.
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Vektoren dar, die in Kriegs- und Friedenszeiten in entgegengesetzte Richtungen zeigten. Der entscheidende Schachzug der französischen Politik habe nun darin bestanden, diesen Raum gegen Deutschland zu formieren: „Elsaß, das Straßenland, kehrt also von Haus aus sein Gesicht Deutschland, den Rücken Frankreich zu, und Elsaß, das Kriegsland, macht es folgerecht umgekehrt. Wollten nun die Franzosen, nachdem sie das Elsaß äußerlich an sich gerissen, gerade in dem Straßen- und Kriegslande den Schlüssel zur Umwandlung des deutschen Elsässers in einen ‚Rheinfranzosen‘ finden, so galt es einen geographischen Frontwechsel des ganzen Landes: dasselbe musste kehrt machen, den Rücken gegen Deutschland im friedlichen Verkehre, und andererseits, den Rücken gegen Frankreich, das Gesicht gegen Deutschland im Kriege – zwei verschiedene Stellungen, die aber doch mit demselben Ruck hergestellt werden konnten.“146
Die französische Macht über das Elsass gründete sich folglich auf einem Ausbau der Ost-West- auf Kosten der Nord-Süd-Verbindungen. Indem der Rhein nun nicht mehr die primäre Richtung vorgab, verlor das ‚Straßenland‘ für Riehl gleichsam seine Substanz, und gleichzeitig büßte die deutsche Nation die westliche Verklammerung ihrer alpinen und mittelgebirgigen Landschaftsgürtel ein. Das Elsass wurde zum Vakuum, Westdeutschland zur offenen Flanke, in die Frankreich immer weiter und immer erfolgreicher habe eindringen können. Am Ende des „geographischen Frontwechsels“ stand die Transformation des Rheins vom „Straßenland“ zum „Grenzgraben“: „War einmal die natürliche Straße aufgegeben, so kam die natürliche Grenze von selbst.“147 Erst diese neue Geometrie machte das ‚Straßen-‘ und ‚Kriegsland‘ zum „Grenzland an der Scheidelinie zweier grundverschiedener Nationen“.148 Anders als das Burgenland war das Grenzland jedoch nicht zugleich Grenzmark, sondern ein durch ungünstige historische Entwicklungen zur Grenze gewordenes deutsches Binnenland: „Zur alten Reichszeit lag das Elsaß zwar auch schon an der großen Heerstraße, aber nicht an der großen Grenze. Erst durch die Zurückdrängung des deutschen Elements in Burgund und Lothringen, dann durch den Abfall dieser Provinzen an Frankreich wurde unser Land an den Rand gedrückt“.149
Mit dem Terminus „Grenzland“ beschrieb Riehl nicht allein die entstandene Grenzlage, sondern die Transformation des gesamten Elsass in ein gigantisches „Bollwerk Frankreichs gegen Deutschland“.150 Diese Transformation bestand nicht allein in der militärischen, ökonomischen und infrastrukturellen Zurichtung des Landes, sondern ebenso in dessen „Französierung“. Diese kulturelle Durchdringung und die Auswirkungen, die sie auf die elsässische Mentalität zeitigte, bilden das zentrale Thema der Elsässischen Kulturstudien. Erneut unterschied Riehl dabei zwischen mehreren Ebenen, auf denen sich die kulturelle und mentale Entwicklung ungleichzeitig und wider146 147 148 149 150
Ebd., S. 354. (Herv. i. Orig.) Ebd., S. 358f. Ebd., S. 354. Ebd., S. 354f. – Riehl gibt diese Sätze als fiktives Zitat ,der Elsässer‘ im Sinne eines in das kollektive Bewusstsein übergegangenen Narrativs wieder. Ebd., S. 370.
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sprüchlich vollzogen habe: Sei die „Französierung“ auf politischem und ökonomischem Gebiet weitgehend gelungen, habe sie überall dort ihre Grenzen gefunden, wo sie „deutsche Sitte und Sprache“ habe „ausrotten“ wollen.151 Im „Grenzland“ schob sich also eine Ebene des französischen Staates über eine Ebene der deutschen Volkskultur, anders als im Burgenland fanden sie jedoch zu einer Art unvollständiger Synthese. Diese bestand für Riehl in der Herausbildung eines elsässischen Selbstbildes als einem verbindenden Dritten zwischen Deutschen und Franzosen, das keiner der beiden Nationen ganz angehöre und gegenüber beiden eine mentale Außengrenze errichtet habe. Diesen räumlich-mentalen Zustand bezeichnete er als „Zwischenland“.152 Der Begriff „Zwischenland“ verdeutlicht vielleicht am besten Riehls Verräumlichung der Grenzen: So wie das „Straßenland“ eine verräumlichte Straße und ein verräumlichter Rhein, das „Kriegsland“ eine verräumlichte Front und das „Grenzland“ eine verräumlichte Grenzbefestigung darstellten, können wir das „Zwischenland“ als eine Verräumlichung jener sprachlichgeographischen Grenze auffassen, deren exakte Lokalisierung Boeckh unmittelbar zuvor versucht hatte. Ohne dass er selbst eine Kartierung versuchte, entwickelte Riehl denn auch ein quasi kartographisches Gegenbild: „In einem Grenzlande, welches zugleich Straßenland ist, schmeidigt sich der Volkscharakter, kreuzen sich die Nationalitäten, und dem genauen Forscher wird es zuletzt unmöglich, die Stammes- und Sprachgrenze auf der Karte als Linie zu zeichnen; denn eine verschwimmend abgetönte Fläche wäre genauer, gerade weil sie hinlänglich ungenau ist.“153
Die wissenschaftlich exakte Darstellung der westlichen Grenze der Nation war für Riehl also keine Linie, sondern eine diffundierende Fläche ohne lineare Begrenzung. Legen wir die eingangs vorgestellte Typologie der Grenzraumkonzepte zugrunde, so negierte Riehl das bis dahin vorherrschende Modell des Divergenzraumes zwischen nichtidentischen Grenzlinien und ersetzte es durch das Modell eines Diffusionsraumes, das eine solche lineare Begrenzung a priori ausschloss. Eine noch konsequentere Konzeptionalisierung der Grenze als Diffusionsraum findet sich in Riehls Essay Auf dem Weg nach Holland. Aus der Perspektive des forschenden Wanderers beschrieb er ein Grenzland, das noch stärker als das Elsass vom Ideal der ‚Grenzmark‘ abwich. Denn Holland sei, so argumentierte er, nie eine ‚Landschaft‘ außerhalb der deutschen Nation gewesen. Durch den Sonderweg der niederländischen Staatsgründung sei lediglich eine Art scheinbares Grenzland entstanden, das die Siedlungsgebiete dreier deutscher „Stämme“, nämlich der Friesen, Franken und Niedersachsen, künstlich überlagere.154 Zwischen Deutschland und den Niederlanden erkannte Riehl daher allenfalls „landschaftliche Übergänge und neugestaltete Stammesmischungen auf derselben gemeinsamen Urgrundlage von Land und Leuten“.155 Die „Scheidelinie“ zwischen ihnen sei lediglich ein „von den Zentren beider Länder [...] hervorgekünstelter Unterschied“, wäh151 152 153 154 155
Ebd., S. 384. Ebd. Ebd., S. 354. Vgl. Riehl, Wanderbuch, S. 42. Zit. n. Metz, Riehl, S. 27.
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rend man „an den Peripherien“ noch „den natürlichen Zusammenhang“156 finde: „,Auf dem Wege nach Holland‘157 treten uns die Holländer als nächste Verwandte und Volksgenossen entgegen; überspringen wir dagegen diesen Weg, verschlafen wir ihn in einem Nachteilzuge der Eisenbahn dergestalt, daß wir etwa von Köln unmittelbar nach Rotterdam versetzt werden, so finden wir uns in einer fremden Welt, und die Gegensätze deutscher und holländischer Art überraschen und bestürmen uns. Aber man braucht nicht einmal Köln und Rotterdam oder vollends Amsterdam gegeneinander zu stellen: nehmen wir die zwei nachbarlichen Grenzstädte meines rheinfränkischen Weges, Cleve und Nymwegen; sie sind kaum drei Meilen entfernt, liegen aber im Charakter ihrer Bevölkerung eine Welt weit auseinander, während die Dörfer von preußisch Geldern und Cleve den benachbarten holländischen Dörfern auffallend verwandt sind. Die Tatsache erklärt sich dadurch, daß eben das ursprüngliche Volkstum, wie es der Bauer am treuesten bewahrt, ein gemeinsames war, während der Gang der politischen Kultur, die in den Städten gipfelt, Holland und Deutschland seit drei Jahrhunderten auseinandergerissen hat.“158
Waren es im Burgenland Schichten unterschiedlichen ‚Volkstums‘, die sich in ein und derselben ‚Landschaft‘ wie geologische Schichten übereinander schoben, und war es im Elsass der deutsch-französische Antagonismus, der das ‚Grenzland‘ konstituierte, so lag hier also lediglich ein abweichender Urbanisierungs- und Modernisierungsprozess vor, der durch den politischen Sonderweg der Niederlande (und Belgiens) innerhalb der deutschen Nationalgeschichte bedingt sei. Das deutsch-niederländische Grenzland war damit kein Grenzland zwischen Nationen, sondern lediglich ein soziokulturelles Übergangsgebiet, in dem sich eine urbane niederländische über eine authentische niederdeutsche Gesellschaftsschicht gelegt habe und eine am internationalen Seehandel orientierte Ökonomie die traditionelle Landwirtschaft überlagere. Anders als im burgenländischen und elsässischen Beispiel, grenzte dieses Übergangsgebiet nicht ab, sondern wurde zum Bindeglied einer imaginierten Gesamtnation. Die Grenzübergänge erschienen als „Brücken“,159 und „das ganze Land zwischen Rhein und Maas“ führte als „eine natürliche Straße nach Holland“.160 Die Semantik des Verbindenden ersetzte hier völlig die der Trennung und des Kampfes. Dieses Grenzlandbild war jedoch nur auf den ersten Blick ein konfliktfreies. Mit der Verlagerung des wirtschaftlichen Gravitationszentrums von der niederländischen Handelsmacht des Goldenen Zeitalters auf die aufstrebende preußische Industriemacht an Rhein und Ruhr waren für Riehl zwei Entwicklungen wahrscheinlich: Zum einen sei die Herausbildung einer schroffen, lediglich noch von lokalen Bindungen überlagerten Kulturgrenze 156 157
158 159 160
Riehl, Wanderbuch, S. 42. Mit den Anführungszeichen verweist Riehl zum einen auf den Titel Auf dem Wege nach Holland, zum anderen können sie als Hinweis auf die Doppeldeutigkeit des Titels gelesen werden, die erst am Ende des Textes deutlich wird, wo Riehl die ethnographische Wanderung als ersten Schritt einer politischen Angliederung betrachtet. Ebd., S. 42f. Ebd., S. 55, vgl. auch S. 33f. Ebd., S. 76.
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zwischen einem starken Deutschland und seinem kleinen niederländischen Nachbarn zu erwarten, der dann „doppelt eifrig und eifersüchtig seine Art zu wahren und sich aus einer halbwüchsigen zu einer vollwüchsigen Nationalität aufzurecken suchen“ werde.161 Denkbar sei zum anderen jedoch auch eine „kriegerische[.] Katastrophe“ europäischen Ausmaßes, in deren Verlauf ein siegreiches Deutschland die Niederlande absorbieren würde. In diesem Fall werde Deutschland „nicht stehen bleiben bei den von 1648 bis 1815 aufgezwungenen Grenzen“, sondern „nach dem Vollbestand seines ganzen nationalen Gebietes“ streben: „Und wenn in einem europäischen Kriege, wie er hier gedacht werden muß, solche kleine Staatengebilde wie Holland zerrieben werden, dann könnte den Deutschen gar leicht auch der Gedanke mit Macht erwachsen, daß Holland doch nur eben so echtes und gutes Niederdeutschland ist, wie die deutsche Schweiz ein notwendiges Stück unseres allemannischen Oberdeutschlands, wir würden dann noch einen anderen Weg nach Holland suchen als den des ethnographischen Studiums, und die Übergänge würden zuletzt wieder völlig werden, was sie von Anfang eigentlich gewesen sind, bloße Stammesübergänge, sie würden zur Wiederherstellung der alten Gemeinschaft führen.“162
Die Beschreibung des Grenzlandes als Übergangsraum und Bindeglied erhielt hier eine überraschende Wendung hin zur Legitimation einer territorialen Neuordnung, die neben dem Elsass auch die Niederlande und die Schweiz in ein großdeutsches Reich inkorporieren und die westliche Grenzfrage durch eine radikale Westverschiebung der Grenze lösen würde. Die Furcht vor dem Ausmaß eines europäischen Krieges ließ Riehl allerdings für eine weichere Variante plädieren: „Man braucht darum nicht an eine Eroberung Hollands und der deutschen Schweiz zu denken. Eine Nation wie die deutsche wird, wenn sie erst wieder einmal zu ihrer vollen Kraft und Gesundheit gelangte, die früher abgelösten Elemente zunächst ethnographisch, dann auch politisch wieder zu sich heranziehen.“163
Riehls grenzüberschreitende Wanderungen durch die Volkstumslandschaften entpuppen sich hier als grenzlandpolitisches Projekt: als die zugleich wissenschaftliche und literarische Ouvertüre der politischen Suprematie eines künftigen Deutschlands. Der Schritt des Wanderers über die Grenze wird damit zum ersten Schritt einer Aneignung, die Riehl lieber schleichend auf politisch-kulturellem als abrupt auf militärischem Wege realisiert sehen wollte. Riehl folgerte hieraus die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Forschung, die sich nicht, wie bei Boeckh, auf die Feststellung einer optimalen Grenze, oder, wie bei Treitschke, auf die kulturelle Assimilation des Reichslandes konzentrieren sollte. Vielmehr müsse „eine zusammenhängende Geographie, Ethnographie und Kulturgeschichte des ganzen nordwestlichen Deutschlands“ geschrieben werden, die „alle seine versteckten Bindungen mit Deutschland“ bloßlege und den Nachweis erbringe, „wie deutsch“ die Nie-
161 162 163
Ebd., S. 58. Ebd. Ebd.
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derlande und „der größere Teil Belgiens“ seien.164 Mit dieser Verschränkung geographischer, ethnologischer und kulturwissenschaftlicher Disziplinen, aber auch mit seiner populären Darstellung des erwanderten Raumes, war Wilhelm Heinrich Riehl in der Tat der Vorläufer einer völkischen Grenzlandforschung, als den der Leiter der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft Friedrich Metz ihn 1937 präsentieren sollte.165
Grenzpolitischer Pragmatismus u n d d e m o g r a p h i s c h e s K a l k ü l : T r e i t sc h k e Bertachten wir vor dem Hintergrund der beiden konträren Raumkonzepte Boeckhs und Riehls nun Heinrich von Treitschkes Lösungsvorschlag der westlichen Grenzfrage. Hatte der Historiker, wie sein Biograph Andreas Dorpalen anmerkt, unter dem Eindruck einer Elsass-Reise noch in den 1860er Jahren jede Hoffnung auf eine Rückgewinnung der beiden Regionen zunächst für sinnlos erklärt,166 so entwickelte er unter dem Eindruck der deutschen Kriegserfolge ein politisches Programm, das auf die Annexion Elsass-Lothringens zielte. Treitschke stand zu diesem Zeitpunkt auf dem Gipfel seines politisch-publizistischen Einflusses und genoss, wie Ulrich Langer resümiert, den „Ruf eines ‚Propheten‘ des Reiches“.167 Seine Tendenz zur Apotheose des Machtstaatsgedankens erfuhr eine Radikalisierung hin zu einem „militanten Nationalismus“, der sich, gespeist aus dem „Glauben an die Überlegenheit der deutschen Kultur“ über die westliche Zivilisation, zur „Beschwörung eines archaischen Kriegsethos“ verdichtete. Sein Eintreten für eine Annexion Elsass-Lothringens – eine logische Konsequenz seines unitarischen Staatskonzepts – kulminierte denn auch in einer „Abstammungsmetaphysik“. Von hier aus war es, folgen wir Langer, „nur noch ein winziger Schritt bis zu dem extremen Pangermanismus der Alldeutschen, deren Prominenz nicht zu geringen Teilen an Treitschkes Vorlesungen und seinen Kollegs über Politik teilgenommen hatte.“168 Es wird noch zu zeigen sein, worin dieser spezifische Schritt bestand. Angesichts der militärischen Erfolge veröffentlichte Treitschke in den Preußischen Jahrbüchern einen noch 1870 mehrfach nachgedruckten Essay mit dem programmatischen Titel Was fordern wir von Frankreich?169 Neben einer historischen Legitimation der Annexion finden sich darin die Grundzüge eines Raumkonzepts, dessen Konsequenz eine weitaus radikalere
164 165
166 167 168 169
Ebd., S. 132. Metz sah Riehl darüber hinaus als Vorläufer der im folgenden Kapitel behandelten Geographen Friedrich Ratzel, Joseph Partsch und Albrecht Penck; vgl. Metz, Riehl, S. 46. Vgl. Dorpalen, Andreas: Heinrich von Treitschke, 2. Aufl., Port Washington 1973, S. 164 (im Folgenden zitiert als: Dorpalen, Treitschke). Langer, Ulrich: Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1988, S. 376. Ebd., S. 377. – Vgl. hierzu auch Dorpalen, Treitschke, S. 234f. Treitschke, Was fordern wir. – Die Schrift fand darüber hinaus Eingang in den Kriegszieldiskurs des Ersten Weltkrieges, vgl. ders.: Was fordern wir von Frankreich?, in: Vor 45 Jahren. Worte aus großer Vergangenheit. Mit einer Einleitung von Paul Brönnle, 3. Aufl., Leipzig 1915, S. 1-48.
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Schwächung und Verkleinerung Frankreichs war, als es die Annexion selbst bedeutete. Paradoxerweise bildet gerade die Beschränkung der territorialen Ansprüche auf Elsass-Lothringen die Voraussetzung dieses strategischen Kalküls. Die Annexion selbst stellte für Treitschke einen singulären Vorgang dar. Sie hole, so argumentierte er, das Versäumnis von 1815 nach, womit die territorialen Ansprüche Deutschlands im Westen saturiert seien.170 Die neue Grenze, so fuhr er fort, solle sich nach Möglichkeit an die Sprachgrenze anlehnen, in der er zugleich eine Kulturgrenze hin zu einer tiefer stehenden und landschaftlich verödeten Welt erblickte. Eine Annexion der frankophonen Territorien des mittelalterlichen Reiches lehnte er ab, plädierte im Fall von Belfort und Metz jedoch für Ausnahmen, da militärische Gründe und diplomatische Erwägungen ihren Anschluss ratsam erscheinen ließen.171 Treitschkes Programm verband also das volkstumspolitische Ziel, „Deutsche und Wälsche ehrlich zu trennen“,172 mit der handfesten Absicht, „so viel wälsches Land“ hinzuzufügen, wie es zur „Sicherung“ der deutschen Länder „unentbehrlich“ sei. Für das auf diese Weise entstehende Gebiet führte er die Bezeichnung „Westmark“ ein.173 Treitschke war damit, soweit erkennbar, der Erfinder dieses Namens. Völlig zu Recht ging Treitschke davon aus, dass sich die Annexion nur gegen den Willen der Annektierten werde durchsetzen lassen, da diese sich unabhängig von ihrer Sprache als loyale Franzosen begriffen. Die deutschsprachigen Elsässer und Lothringer seien ein „verirrtes Volk“, das infolge der „entdeutschten Zucht des Landes“174 jede Bindung an ihre ursprüngliche Nation verloren hätten, ohne indes ihre kulturelle Identität aufzugeben: „Wir wollen ihnen wider ihren Willen ihr eigenes Selbst zurückgeben“.175 Für die frankophonen Bewohner favorisierte er eine Lösung nach dem Vorbild der so genannten Preußischen Wallonen, einer kleinen frankophonen Minderheit im preußischen Kreis Malmedy, die als loyale Staatsbürger ohne Separationsbestrebungen galten. „Zwang wider ihr Volksthum“, so versicherte Treitschke, „haben die Wälschlothringer und die Bewohner der wenigen wälsch redenden Vogesendörfer ebenso wenig zu fürchten wie unsere wackeren Wallonen in Malmedy“,176 und ebenso lehnte er eine Germanisierung französischer Ortsnamen ab.177 Alle wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen an Frankreich hingegen gelte es rigoros zu unterbrechen: „Welche Arbeit, bis all die tausend Fäden abgeschnitten sind, die von Straßburg und Colmar nach Paris hinüberführen“.178 Das Bild des durchtrennten Netzes bedeutete eine Absage an das elsässische Selbstbild des Vermittlers zwischen der romanischen und deutschen Kultur, wie es u.a. von Charles Dollfus vertreten
170 171 172 173 174 175 176 177 178
Vgl. Treitschke, Was fordern wir, S. 375ff. Vgl. ebd., S. 379. Ebd., S. 371. Ebd., S. 379, 385. Ebd., S. 388f. Ebd., S. 371. Ebd., S. 380. Vgl. ebd., S. 378. Ebd., S. 395.
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worden war179 und wie es in Riehls Begriff des ‚Zwischenlandes‘ ebenfalls anklang. In der Praxis solle die deutsche Politik vielmehr nach den gleichen Grundsätzen verfahren, die Preußen beim Anschluss der Rheinprovinz, Posens und Schleswigs angewandt habe. Die Militärverwaltung sei mit Vollzug der Annexion zunächst in eine befristete „Dictatur“ zu transformieren,180 konkrete Maßnahmen sollten gegen den katholischen Klerus, die aus französischer Zeit stammende Verwaltung und die organisierte Industriearbeiterschaft ergriffen werden. Das Hauptaugenmerk lag jedoch auf der kulturpolitischen Durchdringung des „Grenzlandes“,181 die in der Neugründung der zerstörten Universität Straßburg ihre Krönung finden sollte.182 Sieht man von Treitschkes Spekulationen darüber ab, ob nach der Annexion Elsass-Lothringens auch das Großherzogtum Luxemburg durch diplomatischen Druck und wirtschaftliche Zwänge zu einem Anschluss an das entstehende Reich genötigt werden könne,183 so folgten aus diesem Programm keine weiteren territorialen Ansprüche. Allerdings, und hier liegt seine Pointe, plädierte Treitschke für eine Wiederholung des elsässischen Exempels durch andere Nachbarstaaten Frankreichs: Legitimierte der deutsche Sprachgebrauch einen Anschluss Elsass-Lothringens an Deutschland, so rechtfertigten die Reste der italienischen und der flämischen Sprache auch einen Anschluss Savoyens an Italien und der Nordost-Departements an Belgien. Weitere Optionen völkischer Segregation erkannte er darüber hinaus in den keltischen Sprachgruppen der Normandie und der Bretagne. Hieraus ergab sich also das Szenario einer sukzessiven Verkleinerung Frankreichs durch ethnische Dekomposition. Im Gegensatz zu Boeckh, der auf Minderheitenschutzrechte innerhalb der bestehenden Grenzen setzte (und für den die Annexion Elsass-Lothringen eher die Ausnahme, als der Präzedenzfall gewesen war), legte Treitschke das Nationalitätsprinzip also aggressiver aus und gelangte damit zu einem neuartigen Raumkonzept. Entlang der französischen Grenze bestand aus dieser Perspektive eine Zone weiterer ‚Zwischenländer‘, deren Zugehörigkeit zu Frankreich in Frage zu stellen war. Treitschke untermauerte sein Raumkonzept mit einer demographischen Argumentationslinie, die uns im weiteren Diskursverlauf immer wieder begegnen wird. Die tatsächliche Zahl der Franzosen sei, so argumentierte er, weit geringer, als es die amtlichen französischen Statistiken mit ihren fehlenden sprachstatistischen Daten auswiesen.184 Die frankophonen Franzosen zeichneten sich zudem durch eine im Vergleich zu Deutschland geringere 179
180 181 182 183 184
Ebd., S. 390. – Während Treitschke den Gedanken für Elsass-Lothringen verwarf, stellte er die Schweiz als positives Beispiel eines Mittlers dar (S. 391). Ebd., S. 406. Ebd., S. 400. Ebd., S. 407. Die Umstände der Zerstörung der Straßburger Universität wurden von Treitschke geflissentlich übergangen. Vgl. Dorpalen, Treitschke, S. 172. In einer vergleichenden demographischen Abhandlung über Frankreich, England und Preußen hatte bereits Boeckh 1853 auf die niedrige Geburtenrate in Frankreich hingewiesen. Vgl. Boeckh, Richard: Ueber die Anzahl und Dichtigkeit der Bevölkerung von Frankreich, England und Preußen im allgemeinen und nach den einzelnen Landesteilen, sowie über die Vermehrung ihrer Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten, in: Mitteilungen des Statistischen Bureaus in Berlin, Nr. 9-10 (1853), S. 142-205.
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Geburtenrate aus. Entgegen dem äußeren Anschein gehörten die Franzosen daher zu den „sinkenden Völkern“,186 die sich lediglich durch den Zustrom fremden Blutes lebendig erhalten könnten. Eine territoriale Verkleinerung war in dieser Logik also lediglich der Nachvollzug einer quasi naturgesetzlichen Entwicklung; die Entmachtung Frankreichs durch massive territoriale Verluste erschien, in der Terminologie der späteren Geopolitik gesprochen, als Wiederherstellung eines Gleichgewichts von ‚Bevölkerungsdruck‘ und ‚Lebensraum‘. Zwischen der einmalig vorgeschobenen deutschen Westgrenze und dem infolge der demographischen Entwicklung schrumpfenden Frankreich tat sich also eine prekäre Zone auf, die sich weder auf eine sprachliche, noch eine geographische oder historische Grenzlinie zurückführen ließ. Die Grenze erhielt damit eine Dynamik, die in der Biologie der beiden Nationen begründet schien. In gewissem Sinne verweist dieses von Treitschke eher angedeutete als ausformulierte Konzept also bereits auf die dynamischen Grenzvorstellungen der Politischen Geographie.
E r s te s Z w i sc h e n f a z i t Betrachten wir die diskutierten Vorschläge zur Bestimmung einer idealen Westgrenze, so erscheinen die Jahre um 1870 in mehrfacher Hinsicht als Zäsur. Denn die unter dem Eindruck des Wiener Kongresses und der Rheinkrise entstandenen Entwürfe hatten ihre Tauglichkeit für eine territoriale Neuordnung nicht beweisen müssen. Sie blieben diskursive Gegenbilder einer politischen Gegenwart, die durch das Fehlen eines deutschen Nationalstaats und mithin auch durch das Fehlen einer verbindlich fixierten Westgrenze gekennzeichnet war. Um diese ideologische Funktion zu erfüllen, reichte ein vages Wissen über eine sprachlich, geographisch oder historiographisch bestimmbare Reichweite der Nation gegenüber Frankreich also völlig aus, ja mehr noch: je weniger der konkrete Grenzverlauf feststand, umso leichter ließen sich die drei Linien der Sprach-, der Natur- und der mittelalterlichen Reichsgrenze zu einer ideellen Gesamtgrenze analogisieren. Die Grenzen blieben dabei zunächst Linien. Wollen wir von einer Verräumlichung sprechen, dann nur insofern, als dass sie einen Divergenzraum zwischen sich und den Westgrenzen der deutschen Teilstaaten, also einen Raum deutscher Nation außerhalb der deutschen Staaten, definierten. Dieser Raum wurde von allen diskutierten Autoren als ein zusammenhängender Streifen zwischen der Nordsee- bzw. Kanalküste und den schweizerischen Alpen aufgefasst, doch bestanden unterschiedliche Vorstellungen seiner Ausdehnung nach Westen. Neben den Rekurs auf die Sprachgrenze trat, von Menzel als Erweiterung des Arndt’schen Konzepts formuliert, der Anspruch auf einen zusammenhängenden frankophonen Streifen, doch blieb diese Position im Diskurs minoritär. Inmitten dieses Raumes schließlich existierten Regionen, deren territoriale Zugehörigkeit nach 1815 tatsächlich mehrdeutig geblieben war: Luxemburg und Limburg mit ihrer Überlagerung niederländischer und preußischer Hoheitsrechte und das Kondominat Neutral-Moresnet zwischen der preußischen und niederländischen bzw. belgischen Grenze. In gewissem 185 186
Treitschke, Was fordern wir, S. 372. Ebd., S. 373.
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Sinne stellte der Divergenzraum eine Verallgemeinerung dieser Überlagerungen dar. Allerdings blieben dies temporäre Phänomene, die, sieht man von Neutral-Moresnet ab, mit der Auflösung des Deutschen Bundes und der Unabhängigkeit Luxemburgs eindeutigen staatlichen Zugehörigkeiten wichen. Was die Zäsur der Jahre um 1870 ausmachte, waren nicht allein die untrennbar verwobenen Ereignisse des deutsch-französischen Krieges, der Annexion Elsass-Lothringens und der Kaiserkrönung im Spiegelsaal von Versailles. Vielmehr kamen in diesem Kontext zum ersten Mal empirische Wissensbestände zum Tragen, die eine wissenschaftlich legitimierte Grenzziehung möglich machten. An die Stelle des Nichtwissens um den konkreten Verlauf der sprachlichen oder natürlichen Grenzen trat ein wissenschaftlich validiertes, kommuniziertes und akzeptiertes Wissen über die Topographie einer Linie, die so trennscharf wie möglich Deutsches von Nichtdeutschem trenne. Eine solche Grenze setzte die Entstehung moderner statistischer Verfahren und ihre Anwendung in Form von amtlichen Volkszählungen voraus, wie sie zur Zeit der Romantik schlicht noch nicht zur Verfügung gestanden hatten. Seit den 1840er Jahren hingegen waren in Belgien, Preußen und Italien statistische Methoden der Spracherfassung zum Einsatz gekommen, in denen Boeckh den Schlüssel für eine Lokalisierung der Sprachgrenze als der eigentlichen Grenze der Nation sah. Wenngleich er dieses Verfahren nicht unmittelbar auf die westlichen Nachbarstaaten anwenden konnte, versuchte er am Vorabend des deutsch-französischen Krieges unter Zurhilfenahme allgemeiner geographischer Konzepte und historischer Quellen eine exakte Bestimmung der westlichen Sprachgrenze. Obschon ihr Verlauf aufgrund lückenhafter, heterogener und veralterter Daten über weite Strecken nur spekulativ bestimmt war, gingen Boeckhs Forschungen, öffentlich breit rezipiert, unmittelbar in die Legitimation der Annexion und die Bestimmung des künftigen Grenzverlaufs ein, um, angereichert durch die Ergebnisse der ersten deutschen Volkszählung im Reichsland, fortan als gesichertes Wissen zu gelten. Boeckhs politische Interventionen im Zuge der Annexion und sein Engagement im entstehenden völkischen Verbandswesen des Kaiserreichs lassen ihn als einen Vorläufer der völkischen Westforschung erscheinen. Boeckhs Raumkonzept zielte zwingend auf die Zusammenziehung sprachlich-kultureller Übergangsräume zu einer abstrakten Linie (oder, wo dies mangels Daten nicht möglich war, zu mehreren jeweils plausiblen Linien). Doch war diese Linearisierung von einem gegenläufigen Raumkonzept konterkariert, das ebenso zwingend auf eine Entlinearisierung dieser Grenze hinauslief: dem ethnographischen Konzept Riehls. Beide waren inkompatibel. Wo Boeckh auf die Sprache als entscheidendem Kriterium zur Abgrenzung der Nationen beharrte, führte Riehl eine Vielzahl ethnographischer Merkmale mit je eigenen Reichweiten ein; wo Boeckh ein sprachliches Übergangsgebiet in seine beiden Hälften separierte, fügte Riehl diese zu einer Grenzlandschaft zusammen; und zeichnete Boeckh eine Linie, beharrte Riehl auf einer Fläche als der wissenschaftlich adäquaten Visualisierung der Grenze. Neben die Vorstellung der westlichen Peripherie als Divergenzraum zwischen der staatlichen und der sprachlich-natürlichen Grenzlinie trat die Vorstellung eines Diffusionsraumes, dessen Ausstrahlung über diese Grenze hinauswies. Damit öffnete die ethnographische Diffusion also genau jenen Raum wieder, den die Sprachstatistik abschließend begrenzt hatte. Wenngleich Riehl diese Konsequenz selbst nicht zog, bereitete diese Diffusion der
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Grenze den Boden für eine Aktualisierung des Menzel’schen Anspruchs auf frankophone Territorien westlich der Sprachgrenze. Unter dem Gesichtspunkt künftiger Expansionen stellt sich die Inkompatibilität von Linearisierung und Verräumlichung seit dem deutsch-französischen Krieg also als das Nebeneinander eines begrenzenden und eines entgrenzendes Konzepts von Grenze dar. Freilich blieb dieser Widerspruch zunächst ohne politische Folgen. Die Grenzen des Reichslandes Elsass-Lothringen waren pragmatisch gezogene Linien, die wo möglich durch die Sprachgrenze legitimiert, wo nötig aber in frankophone Gebiete vorgeschoben waren. Treitschkes Vorschläge entsprachen diesem Pragmatismus ganz, doch war dieser die realpolitische Basis seines sehr viel weiter greifenden strategischen Kalküls, das den Rahmen der bisherigen Raumkonzepte überschritt. Denn indem er seine Strategie einer Verkleinerung Frankreichs ohne weitere deutsche Expansionen mit dem Argument eines demographischen Rückgangs der im völkischen Sinne französischen Bevölkerung stützte, nahm er jene dynamisierte Auffassung der Grenzen als pulsierende Linien zwischen ungleich wachsenden Bevölkerungen vorweg, der wir uns im folgenden Teil unserer Untersuchung eingehender widmen werden. Gleichwohl weisen die skizzierten Raumkonzepte eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, die grundlegend für den späteren Westraum-Diskurs werden sollten. Dies war zum einen ihr Anspruch, die als offen betrachtete westliche Grenzfrage in einer Weise zu lösen, die der deutschen Seite dauerhafte Sicherheit vor Frankreich garantiere. Eine territoriale Beschneidung Frankreichs erschien jedem der Autoren unverzichtbar. Dabei verwiesen sie in der Regel auf die Sprache, bezogen in unterschiedlichem Maße jedoch auch geographische, militärstrategische und schließlich bevölkerungspolitische Argumente ein. Der beanspruchte Raum war damit nicht allein das deutsche Sprachgebiet, sondern ebenfalls ein zusammenhängendes Stromgebiet, ein Gefüge schützender Gebirgsketten oder ein System militärischer Festungslinien. Dabei tendierten die Autoren zu einer dreifachen Gliederung des Raumes und analogisierten sie mit den Motiven einer dreigeteilten Festung, einer Dreistufigkeit der deutschen Landschaften oder einer Verbindung und Verklammerung der westlichen Grenzregionen durch den Rhein und die ihn begleitenden Verkehrswege. Die beginnende Deutung von Mosel, Maas und Schelde als Nebenströme des Rheins vervielfachte gleichzeitig die nationalistische Symbolik des Stroms als Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze, und machte sie für ausgreifende territoriale Forderungen verfügbar. Gemeinsam ist den untersuchten Konzepten aber auch das Fehlen einer übergreifenden Bezeichnung dieses Raumes. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Raum in erster Linie als ein Gefüge einzelner Teilräume (wie Elsass, Lothringen, Luxemburg, Niederlande usw.), nicht jedoch als so etwas wie der ‚Westraum‘ wahrgenommen wurde. Wo die Begriffe Grenzland und Mark auftauchen, also bei Arndt, Riehl und Treitschke, bezeichneten sie eben nicht das Ganze, sondern lediglich eine Teilregion sowie das Set jener Maßnahmen, die mit Blick auf deren jeweilige Eingliederung in den Staat zu treffen seien. So waren nacheinander die preußische Rheinprovinz und Elsass-Lothringen Grenzland und Mark, und es fällt auf, dass auch diese mit Vorstellungen militärischer Formierung, kultureller Germanisierung und diktatorialer Verwaltung einhergehenden Bezeichnungen im Ge-
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samtdiskurs nur eine untergeordnete Rolle spielten. Am deutlichsten wird dies vielleicht am Beispiel Elsass-Lothringens: Obschon Treitschke das okkupierte Gebiet frühzeitig als Westmark bezeichnete, setzte sich doch der Terminus Reichsland als offizieller Name durch.
DAS KONZEPT
DE R
POLITISCHEN GEOGRAPHIE
Friedrich Ratzel im Kontext d e r G e o g r a p h i e d e s 1 9 . J a h r h u n d e r ts Bisher sind wir nicht der Frage nachgegangen, welche Konzepte die Geographie von den Grenzen des Staates und der Nation entwickelte und welchen Anteil sie an ihrer Transformation von Linien zu Räumen hatte. Dabei stellten die epochalen Umbrüche an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, wie Hans-Dietrich Schultz gezeigt hat, gerade in der Geschichte des geographischen Denkens eine Zäsur dar. Denn die revolutionären Umbrüche begegneten der Geographie in Form einer rasanten Auflösung und Neuzusammensetzung der politischen Landkarte Europas, deren Dynamik und Radikalität mit den traditionellen Methoden einer am Staatsbegriff orientierten geographia politica weder zu beschreiben, noch zu legitimieren war. Einen Ausweg aus dieser Krise boten auf lange Sicht Alexander von Humboldts naturwissenschaftliche, Carl Ritters historiographische und Friedrich Ratzels darwinistische Modernisierungen der Geographie. Auf die konkrete Situation der napoleonischen Expansion jedoch reagierte die Disziplin mit ihrer Hinwendung zu einer geographia naturalis, die sich nicht mehr an der Kategorie des Staates, sondern der des Landes orientierte. Diese scheinbare Absage an die politische Theorie machte die Geographie zu einer höchst politischen Wissenschaft, denn das Primat des Landes gegenüber dem Staat führte unmittelbar zu der Frage, wo die ‚natürlichen Grenzen‘ der Länder verliefen, in welchem Verhältnis die Länder zu den Staaten stünden und wie Land und Staat zur Deckung gebracht werden könnten. Zwischen Staat und Land tat sich also ein Divergenzraum auf. So bezeichnete auch der Terminus Deutschland nun zweierlei: einen noch nicht gegründeten Staat und ein unabhängig von seiner Konstituierung in den natürlichen Raum eingeschriebenes Land.1 Die Geographie erhob damit parallel zu den Intellektuellen der Politischen Romantik den Anspruch, ungeachtet der politischen Situation ideale Grenzen zu bestimmen, indem sie aus dem Raum herauslas, was die Natur in ihn eingeprägt hatte. Las der Geograph die Signaturen des Raumes richtig und folgte die Politik seinem Rat, so eröffnete sich die Perspektive eines ewigen Friedens. Verkannte er sie jedoch oder ging die Politik einen
1
Vgl. Schultz, Hans-Dietrich: Deutschlands „natürliche“ Grenzen, S. 249f; ders.: Die deutsche Geographie im 19. Jahrhundert und die Lehre Friedrich Ratzels, in: Diekmann, Irene/Krüger, Peter/Schoeps, Julius H. (Hrsg.): Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Potsdam 2000, Bd. 1, S. 39-84 (im Folgenden zitiert als: Schultz, Deutsche Geographie im 19. Jahrhundert bzw. Diekmann u.a. [Hrsg.], Geopolitik).
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anderen Weg, verwandelte sich die Friedensvision unversehens in ein Erklärungsmodell, wenn nicht gar in eine Legitimation für den Krieg.2 Dabei dominierte zunächst das traditionelle Konzept der ‚natürlichen‘, entweder durch ‚nasse‘ (Meere, Ströme) oder ‚trockene‘ Barrieren (Gebirgskämme, Wasserscheiden, Wüsten) gesetzten Grenzen. Analog zu Fichtes ‚Urvolk‘ bezeichnete der Berliner Geograph und Germanist Johann August Zeune sie im Jahre 1810 als „Urmarken“, die durch „keine Menschenhand“ verändert werden könnten.3 Allerdings rekurrierte er keineswegs, wie Fichte, auf die Sprache, sondern erblickte – ein größerer Gegensatz zur Volkstumsgrenze ist kaum denkbar – in Rhein und Oder die natürlichen Grenzen Deutschlands. Erst im Anschluss an Arndts Rhein-Schrift näherte er sich dessen Vorstellungen an. Mit dem Pamphlet Der Rheinstrom. Deutschlands Weinstrom, nicht Deutschlands Rainstrom (1814) kolportierte er nicht nur deren Titel, sondern ließ die ‚Urmarken‘ aus dem Flussbett auf die Gebirgskämme emporsteigen und mit der Sprachgrenze verschmelzen.4 Wie Fichte, Arndt und der überraschend geographisch argumentierende Jahn5 umschrieb Zeune die Grenzen dabei als Mauern, Pfeiler, Steine oder Furchen,6 mit alltagsweltlichen Symbolen also, die die Linearität der Grenzen unterstrichen. Einen dynamischeren Begriff finden wir zwar bei Johann Gottfried von Herder, dessen Modell einer ‚klimatisch‘ bedingten Individualisierung der Länder und Völker die Vorstellung einer beweglichen Grenze beinhaltete, deren „Schwingungen“ und „Oscillationen“ das natürliche Gleichgewicht der Völker regulierten und den Frieden auf diese Weise wieder herstellten, wo das Gleichgewicht aus dem Lot geraten sei.7 Den Bewegungen der Grenzen waren dadurch aber ihrerseits Grenzen gesetzt: Sie stellten lediglich ein Korrektiv dar, das einen besseren, jedoch nicht grundlegend neuen Zustand herstellte, und sie zielten nicht auf eine einseitige Expansion. Um die Grenzen jedoch a priori als Räume aufzufassen, bedurfte es eines weiteren Schrittes. Hatten sich die Geographen angesichts der europäischen Umbrüche zunächst vor der Herausforderung gesehen, die natürlichen Grenzen zu erkennen und die Länder sozusagen von ihrer äußeren Hülle her zu bestimmen, so eröffnete sich ihnen mit der Etablierung des Land-Konzepts auch der umgekehrte Weg, nämlich aus der Bestimmung dessen, was das Wesen eines Landes sei, auf dessen Grenzen zu schließen. Der Blick von der Peripherie auf das Ganze verkehrte sich also in einen Blick vom Inneren des 2 3 4 5
6 7
Schultz, Deutschlands „natürliche“ Grenzen, S. 250. Zeune, August: Thuiskon. Ueber Teutschlands Urmarken. Von dem Verfasser der Gea, Berlin 1813, S. 13, zit. n. ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 253f. Jahn definierte zunächst neun durch Naturgrenzen (Gebirge) vorgegebene Länder Europas, darunter ein deutsches „Nordalpenland“ und ein französisches „Westalpenland“. Die Grenze zwischen dem Nord- und Westalpenland verlief für ihn, ähnlich wie für Arndt, von der schweizerischen Grenze über Vogesen und Ardennen bis zur Kanalküste. Da die Naturgrenzen allerdings nur lückenhaft durch Gebirge markiert seien, boten sie für Jahn den Hauptanlass künftiger Kriege, die er als „heilige Kriege“ ausdrücklich befürwortete. Zur Position Jahns vgl. auch Schultz, Deutsche Geographie im 19. Jahrhundert, S. 54. Die Begriffe ‚West-‘ bzw. ‚Nordalpenland‘ übernahm Jahn von Gatterer, der die europäischen Länder 1775 anhand ihrer Lage zu den Alpen klassifiziert hatte (ebd.). Vgl. die Zitate bei Schultz, Deutschlands „natürliche“ Grenzen, S. 251-254. Vgl. Schultz, Deutsche Geographie im 19. Jahrhundert, S. 53.
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Ganzen auf die Peripherie. Aus dieser neuen Perspektive betrachtet, erschienen die natürlichen Grenzen der Länder nicht mehr als Linien, sondern als Säume. Das Nationsmodell der Politischen Romantik stellte mit seinen Konzepten des ‚Urvolks‘ (Fichte), der ‚Teutschheit‘ (Arndt) oder des ‚Volkstums‘ (Jahn) nun ein Set sprachlicher, kultureller und historischer Merkmale bereit, das sich leicht in das neue länderkundliche Denken integrieren ließ. Bildete das Innere des Landes eine Zone der Verdichtung der Nation, erschienen die Grenzen als eine Zone ihrer Diffusion. Die Geographie wies damit den Weg zu Riehls Konzept einer wesenhaft bestimmbaren und intuitiv erlebbaren, jedoch nicht linear abgrenzbaren ‚Landschaft‘,8 und auch Ratzel sollte, wie seine Beschreibung des österreichisch-italienischen Grenzgebiets illustriert, entsprechend argumentieren: „Wenn wir von Bozen nach Trient gehen, sehen wir nicht die Grenze zwischen deutschem und italienischem Volkstum; wir können auch tagelang in den Algäuer [sic] Bergen wandern und die deutsch-österreichische Grenze rechts und links überschreiten, ohne es zu merken; denn wir sehen sie nicht. Doch haben wir vielleicht das Gefühl, in einem Land mehr fremde Gesichter, fremden Schnitt in der Kleidung von hoch und nieder, fremde Inschriften zu sehen als auf der anderen Seite. Das sind Anzeichen, daß irgendwo in der Nähe die Grenze ist, aber wir sehen nicht die Linie, sondern nur diese vereinzelten Erscheinungen. Wollten wir nun diese Grenze, wie wir sie erfahren, auf eine Karte eintragen, so würden wir einen mehr oder weniger breiten, verwischten Streifen als Grenzgebiet zu zeichnen haben.“9
Freilich wies dieses Konzept eine Lücke auf, denn die Adaption des völkischen Nationsbegriffs beantwortete die Frage nach dem spezifisch geographischen Wesen Deutschlands nicht. Völlig folgerichtig verneinte Bernhard Cotta 1854 denn auch die Frage, ob es im geographischen Sinne überhaupt ein Deutschland gäbe. Er bezeichnete „Deutschland“ als „ein[en] künstliche[n] Begriff“ für ein Gebiet, das in Wirklichkeit ein „geologisches (wie politisches) Conglomerat“ zwischen anderen Ländern sei, „aber kein einheitliches Land“.10 Einen Ausweg fand die Geographie in der Anerkennung und Strukturierung genau jener Heterogenität, die Cotta als strukturlos wahrgenommen hatte. Dabei folgte sie dem um 1810 im Umfeld Carl Ritters entstandenen Modell einer Dreistufigkeit des deutschen Raumes, dessen drei Stufen durch harmonische Übergänge und eine sinnvolle Interaktion miteinander verbunden seien und ein unteilbares Ganzes oder, wie Joseph Partsch ein knappes Jahrhundert später schrieb, einen „Dreiklang Alpen, Mittelgebirge, Tiefland“11 bildeten. Dieses von Zeune, Riehl, Ratzel und anderen fortgeschriebene Modell stellte nicht allein die inländischen Übergänge und Austauschbeziehungen zwischen dem alpinen, mittelgebirgigen und niederdeutschen Raum dar, sondern war auch auf die Grenzen anwendbar: Gehörten die Schweiz oder Südtirol nicht ebenso unzweifelhaft zum Siehe Kapitel Die Entlinearisierung der Grenzlandschaften: Riehls ethnographisches Konzept. 9 Ratzel, Politische Geographie, S. 384. (Herv. i. Orig.) 10 Cotta, Bernhard: Deutschlands Boden, sein geologischer Bau und dessen Einwirkungen auf das Leben der Menschen, Leipzig 1854, Abt. I., S. 4f. 11 Partsch, Joseph: Mitteleuropa. Die Länder und Völker von den Westalpen und dem Balkan bis an den Kanal und das Kurische Haff, Gotha 1904, zit. n. Schultz, Deutschlands „natürliche“ Grenzen, S. 266. 8
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deutschen ‚Alpenland‘, wie die Vogesen oder das Sudentenland Teil des ‚Mittellandes‘ waren und die Niederlande zum ‚Niederland‘ gehörten? Es bedurfte also lediglich einer landschaftlichen Ähnlichkeit mit einem Teilgebiet Deutschlands, um die Zugehörigkeit einer im staatlichen und unter Umständen auch im sprachlichen Sinne nichtdeutschen Region zu Deutschland zu postulieren. Die Gründung des deutschen Nationalstaates stellte aus geographischer Sicht eine Fixierung des Deutschland-Begriffs dar. Jenseits der Grenzen des verbindlich definierten Landes erstreckte sich nun aber ein enormer sprachlich-kultureller Divergenzraum. Während die entstehenden nationalistischen Verbände den Gedanken eines großdeutschen Staates aktualisierten, konzeptualisierten Geographen wie Alfred Kirchhoff und Joseph Partsch diesen Raum unter dem Begriff Mitteleuropa neu. Hatte der 1808 von Zeune eingeführte Terminus12 zunächst eine von Frankreich bis zum Ural reichende Zone zwischen dem skandinavischen Norden und dem mediterranen Süden Europas bezeichnet, so war das „Mitteleuropa“ Kirchhoffs ein durch „deutsche Gesittung“ geprägter Raum, der mit dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches in Einzelstaaten zerfallen sei, in geographischer, ethnographischer und historischer Hinsicht jedoch nach wie vor ein „Germanien in Europas Mitte“ repräsentiere.13 Die Grenzen dieses neuen Raumes ließen sich, wie die folgende Argumentation Partschs belegt, ohne weiteres aus dem landschaftlichen ‚Dreiklang‘ ableiten: „Wo einer seiner Töne ausklingt, ist Mitteleuropa zu Ende. Seinen westlichsten Punkt bezeichnet die sich auskeilende Westspitze des großen Tieflandes bei Dünkirchen, einen Markstein seines Ostrandes das polnische Mittelgebirge bei Sandomierz. Im Westen nehmen Ardennen und Vogesen an der Umschließung des im Zentrum Westeuropas liegenden Pariser Beckens teil, ohne Mosel und Maas am Übertritt ins Rheingebiet zu hindern. Diese Gebirge und die von den Alpen sich abzweigende Jurakette sind die Westgrenzen Zentraleuropas, unterbrochen durch Pforten für den Verkehr und die Kämpfe der Völker. Im Osten öffnet sich das norddeutsche Tiefland frei gegen das russische. Hier kann nur die Willkür Grenzen ziehen.“14
Damit ist in groben Zügen der disziplinäre Kontext umrissen, in dem Ratzel eine geographische Theorie vorlegte, welche die Grenzen in einem sehr grundlegenden Sinne als Räume begriff. Anders als die bisher diskutierten Autoren entwickelte er diese Theorie losgelöst von den deutschen Grenzfragen, wenngleich er diesen als Mitbegründer des Alldeutschen Verbandes15 alles andere als uninteressiert gegenüberstand. Doch statt die Räumlichkeit der deutschen Grenzen aus der Geschichte des mittelalterlichen Reiches, der Reichweite der deutschen Sprache oder der Homogenität der Landschaft abzuleiten, folgerte der Leipziger Ordinarius sie aus einer universalen Theorie der Räume und ihrer Dynamik. 12 Zeune, August: Erdansichten oder Abriß einer Geschichte der Erdkunde, Berlin 1815, S. 94. 13 Kirchhoff, Alfred: Deutschlands natürliche Gliederung und seine geschichtliche Grenzverengung, in: Aus allen Weltteilen 28 (1897), zit. n. Schultze, Deutschlands „natürliche“ Grenzen, S. 262f. 14 Partsch, Mitteleuropa, S. 4. 15 Siehe Kapitel Anfänge einer völkischen Grenzlandpolitik an der Westgrenze.
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Bereits in seinem ersten Hauptwerk, der Anthropo-Geographie (1882), hatte er den für das beginnende Zeitalter des Imperialismus geradezu paradigmatichen Lehrsatz aufgestellt: „Da die Völker in beständiger Bewegung sind, so können ihre Abgrenzungen auf dem Bewohnbaren der Erde weder absolut noch dauernd sein, ausser wo sie das Unbewohnbare berühren.“16 Folgerte er diese Relativierung der Grenzen noch aus einem historischen Vergleich der antiken und modernen Staaten,17 so stellte er sie zehn Jahre später auf ein naturwissenschaftliches Fundament18 und erhob den Anspruch, ein gemeinsames räumliches Grundmuster der belebten und unbelebten Natur aufzudecken. Dies bedeutete eine radikale Naturalisierung des Grenzbegriffs, der nun völlig losgelöst von der menschlichen Tätigkeit konzipierbar wurde. Vor diesem Hintergrund begriff Ratzel Räumlichkeit und Beweglichkeit als irreduzible Prinzipien jeglicher Grenze. Statt als Linien, waren sie für ihn allein als Grenzsäume real, die sich dem Betrachter entweder als Zwischenräume oder Mischzonen darstellten: „Der Grenzsaum ist das Wirkliche, die Grenzlinie die Abstraktion davon.“19 Ratzel entfaltete dieses Verständnis am Beispiel der Meeresküste. Darin lag eine enorme suggestive Kraft, illustrierten Strand und Brandung, Dünen und Sandbänke doch wie kaum eine andere geographische Erscheinung die Unmöglichkeit, eine lineare und fixe Grenze zu definieren. In der Küste sah er „die grösste und für die Umbildung der Erdoberfläche folgenreichste Erscheinung“ eines Grenzsaumes,20 der gleichzeitig Ausdruck einer fortwährenden Bewegung sei: „Bewegungen, die ihrem Wesen nach beständig fortschreiten müssen, wandeln weite Gebiete in Grenzflächen um und die Erdoberfläche ist gegenüber den Meeren ein einziges grosses Grenzgebiet, in welchem jeder Strich einmal Meer, Land oder Küste war und sein wird.“21
In gewissem Sinne war die Grenze also nicht nur räumlich, sondern ubiquitär, und die „scheinbar starre Grenze“ erschien „nur“ als „das Haltmachen einer Bewegung“.22 Die Karte einer Schärenküste mit ihrer gewundenen Linie, ihren Buchten und vorgelagerten Inseln zeigte für Ratzel den gleichen Vorgang wie etwa eine Karte der deutsch-slowenischen Sprachgrenze in Kärnten und der Steiermark in ihrer ebenfalls gewundenen, Buchten und Exklaven bildenden Struktur. Auf beiden Karten sah Ratzel die Grenze vor16 Ratzel, Friedrich: Anthropo-Geographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte, Stuttgart 1882, S. 113f (im Folgenden zitiert als: Ratzel, Anthropo-Geographie). 17 Vgl. ebd., S. 113-143. 18 Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 53-104. – Der Text und das beigefügte Kartenmaterial bildeten die Grundlage der die Grenzen betreffenden Kapitel der Politischen Geographie. 19 Ebd., Politische Geographie, S. 385. 20 Ebd., Allgemeine Eigenschaften, S. 55. – Ratzel beabsichtigte ein Handbuch der Küstengeographie zu schreiben, doch gelangte der Plan nicht zur Verwirklichung; allerdings nahm die Küstengeographie in seinem Werk Die Erde und das Leben. Eine vergleichende Erdkunde (Leipzig 1901-02) breiten Raum ein. Vgl. Buttmann, Günther: Friedrich Ratzel. Leben und Werk eines deutschen Geographen 1844-1904, Stuttgart 1977, S. 96f (im Folgenden zitiert als: Buttmann, Ratzel). 21 Ratzel, Allgemeine Eigenschaften, S. 57. 22 Ders., Politische Geographie, S. 286.
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dringen oder zurückweichen und sich, sobald man ihre früheren Verläufe auf dem gleichen Kartenblatt abbildete, „vervielfältigen“.23 Und wie sich die Schneegrenze eines Hochgebirges bei näherer Betrachtung als der Raum zwischen einer orographischen und klimatischen Grenze erwies oder sich die Waldgrenze in eine Wald- und Baumgrenze aufspalte, sah er auch „Sprach-, Rasse-, Kultur-, Religions- und Wirtschaftsgebiete“ durch Säume begrenzt, in denen sich „die Schärfe der Linie [...] auflöst.“24 Vor diesem Hintergrund wurde jegliche lineare Darstellung der Grenze zur Fiktion. Ihr hafte „etwas Symbolisches, Scheinbares“ an; sie sei lediglich „die Momentphotographie eines in lebendigem Wachstum befindlichen Zellgewebes“ und eine „durch die künstlichen Mittel der Verträge zum Stillstand gebrachte“ Völkerbewegung.25 Axiomatisch postulierte er: „Jedwede Grenze hat in der Natur wie im Völkerleben eine objektive Berechtigung nur in zeitweiligen Stillständen einer im Wesen immer fortschreitenden Bewegung“,26 und noch radikaler: „Selbst die an die Natur sich lehnenden Grenzen der Völker und Staaten schwanken, und wir haben auf absolute Grenzen zu verzichten.“27 Eine Konzeption der Grenze als Linie war auf dieser Basis im Grunde gar nicht mehr denkbar. Gleichwohl aber stellten Linien den Normalfall territorialer Grenzen dar. Ratzel löste diesen Widerspruch auf, indem er sein naturalistisches Grenzraum-Konzept mit zwei weiteren Diskursen verknüpfte. Dies war zum einen das im Zuge der Kolonialisierung massiv angewachsene ethnographische Wissen über außereuropäische Gesellschaften, das er in seiner zwischen 1885 und 1888 vorgelegten Völkerkunde aufbereitet hatte28 und das es ihm erlaubte, die naturalistische Konzeption der Grenzlinie als abstrahierter Grenzsaum in eine anthropologische Konzeption der Grenzlinie als linearisierte ‚Grenzmark‘ zu übersetzen. Zum anderen erlaubten es biologische Theorien über die Funktionsweise und Evolution der Organismen, den Staat nicht nur als ein linear begrenztes Territorium, sondern als einen organisch begrenzten ‚Lebensraum‘ zu begreifen. Erst in dieser doppelten Erweiterung nahm Ratzel seine Grenztheorie 1897 in sein Hauptwerk Politische Geographie auf. Das Politische dieser Geographie bestand nun nicht mehr, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in einer geographischen Beschreibung der Staaten und Völker. Vielmehr zielte sie auf ein Verständnis der dynamischen Wechselwirkungen von Raum und Bevölkerung. Besonders interessierte dabei das Verhältnis einer wachsenden Bevölkerung und Ökonomie zu den Grenzen des Staates. Erst das Wissen um die Dynamik, die diesem Beziehungsgefüge innewohne, ermöglichte es, so glaubte Ratzel, dem politisch Handelnden, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.29 Damit trat eine Konzeption der Grenze in den Diskurs ein, die wir als biopolitisch kennzeichnen können.
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Ebd., S. 388. Ebd., S. 385. Ebd., S. 834f. Ebd., S. 388. Ebd., S. 387. (Herv. i. Orig.) Ders.: Völkerkunde, Leipzig 1885-88. Vgl. hierzu Jacobsen, Hans-Adolf: Karl Haushofer. Leben und Werk, Bd. I, Boppard a.Rh. 1979, S. 243ff (im Folgenden zitiert als: Jacobsen, Haushofer).
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„ P e r i p h e r i sc h e s O r g a n “ und „organische Grenze“ Ratzels biopolitisches Konzept der Grenze beruhte auf einer Auffassung des Staates als Organismus. Diese Auffassung war nicht neu. Schon Carl Ritter hatte den Globus, die Kontinente und die Länder unter Verweis auf die Fruchtbarkeit des Bodens und die Eigenschaften der Völker als Organismen erster, zweiter oder dritter Ordnung beschrieben, allerdings, wie Ratzel einwandte, ohne das „nothwendig Bewegliche und Wachsende der Staaten“ angemessen zu berücksichtigen.30 Das Neue bestand also zum einen in einer Dynamisierung dieses Konzepts. Zum anderen stellte Ratzel es auf ein breiteres Fundament, indem er es zum Organismuskonzept der Zoologie, zur Evolutionstheorie Charles Darwins, zum Sozialdarwinismus Herbert Spencers, zur biogenetischen Lehre Ernst Haeckels und nicht zuletzt zur positivistischen Soziologie Auguste Comtés in Beziehung setzte.31 Dabei übertrug Ratzel das biologische Organismuskonzept nicht eins zu eins auf den Staat. Nahm die Biologie eine Ausdifferenzierung des Organismus aus ursprünglich selbständigen „Elementarorganismen“, den Zellen, an, so behielten die „Elementarorganismen“ des Staates, nämlich die Menschen, ihre Selbständigkeit und Individualität. Statt durch „Umgestaltung und Verschmelzung“ seiner Elemente, konstituiere sich der Staatsorganismus durch ihre „Vertheilung und Verbindung“ im Raum.32 Die Entwicklung des Staates war demnach nichts anderes als eine „Einwurzelung [...] der Einzelnen und der Gesammtheit auf dem gemeinsamen Boden“.33 Wie andere Lebewesen auch, nehme der Staat hierbei die spezifischen Eigenschaften des Bodens in sich auf und entwickle eine Individualität, die ihn von anderen Staaten unterscheide. Ausdruck dieser Individualisierung sei, so folgerte Ratzel, das Nationalbewusstsein: „So wird uns denn der Staat zu einem Organismus, in den ein bestimmter Theil der Erdoberfläche so mit eingeht, dass sich die Eigenschaften des Staates aus denen des Volkes und des Bodens zusammensetzen. Die wichtigsten davon sind Grösse, Lage und Grenzen, dann Art und Form des Bodens sammt seiner Bewachsung und seinen Gewässern, und endlich sein Verhältniss zu anderen Theilen der Erdoberfläche. [...] Sie alle bilden zusammen ‚das Land‘. Sprechen wir aber von ‚unserem Land‘, so verbindet sich in unserer Vorstellung mit dieser natürlichen Grundlage alles, was der Mensch darin und darauf geschaffen und von Erinnerungen gleichsam hineingegraben hat. Und so erfüllt sich der ursprünglich rein geographische Begriff nicht bloss mit politischem Inhalt, sondern er geht eine geistige und gemüthliche Verbindung mit uns, seinen Bewohnern und unserer ganzen Geschichte ein. Der Staat ist uns nicht ein Organismus bloss weil er eine Verbindung des lebendigen Volkes mit dem starren Boden ist, sondern weil diese Verbindung sich durch Wechselwirkung
30 Vgl. Ratzel, Staat und sein Boden, S. 30. 31 Zum Anschluss an Spencer vgl. ebd., S. 8. Zu den zoologischen Arbeiten Ratzels, seiner Anknüpfung an Darwin und seiner persönlichen Beziehung zu Haeckel vgl. Buttmann, Ratzel, S. 25-29. 32 Ratzel, Staat und sein Boden, S. 43. 33 Ebd., S. 13.
114 | IMAGINIERTER WESTEN so sehr befestigt, dass beide eins werden und nicht mehr auseinandergelöst gedacht werden können, ohne dass das Leben entflieht.“34
Ratzel verwandte den Organismusbegriff, wie er selbst betonte,35 keineswegs metaphorisch. Als ein „an und von der Erdoberfläche lebende[r]“, beweglicher und wachsender Organismus wies der Staat für ihn tatsächlich „Lebenserscheinungen“ auf, wenn auch solche höherer Ordnung.36 Hieraus folgte unmittelbar, dass auch die Grenzen belebt seien. Ratzel definierte sie als „peripherisches Organ“ des Staates37 und beschrieb sie als die „lebenerfüllten Werkzeuge einer der großartigsten Lebenserscheinungen, die die Erde kennt.“38 Wie dem Staat schrieb er auch ihnen die Eigenschaften des Wachstums und der Beweglichkeit zu. Auch sie sah er einem Evolutions- und Selektionsprozess unterworfen, und in ihrer räumlichen Entwicklung rekapitulierten sie, Haeckels biogenetischer Regel folgend, die Entwicklungsgeschichte der Peripherie seit den frühesten Staatenbildungen der Menschheit. Die Grenzen der Gegenwart erschienen so als das Archiv aller vorausgegangenen Grenzen. Als lebendes Wesen war der Staat für Ratzel aber auch jenen Differenzierungsprozessen unterworfen, die in der Biologie zur „Aussonderung“ spezifischer Organe, zur „Correlation“ der Organe untereinander und zur „Concentration“ auf ein zentrales Organ geführt hatten. Auf den Staat übertragen, beschrieb Ratzel einen Prozess der „Aussonderung rein politischer Räume“. Darunter verstand er die „Zutheilung rein politischer Funktionen an den Boden“, sodass dieser der privaten Verfügung und Nutzung entzogen und dem Staat vorbehalten werde.39 Das ‚peripherische Organ‘ sei ein Ergebnis dieses Prozesses, doch stellten neben der Grenze auch Verkehrswege und Marktplätze ‚politische Räume‘ dar. Die Grenze wurde damit Teil eines komplexen Funktionsgefüges, das „jeden Theil mit jedem anderen in Verbindung“ setze. Dies galt besonders für das Verhältnis von Peripherie und Zentrum: „Ueberall ist die Peripherie des Staates mit dem politischen Mittelpunkte besonders eng verbunden, denn beide dienen in verschiedener Weise dem Schutz des Ganzen.“40 Das zentrale und das periphere Organ traten also in eine symbiotische Beziehung, die Ratzel in biologischer Terminologie als „concentrische[.] Differenzierung“ des Organismus um sein zentrales Organ auffasste. Indem beide einander gerade in ihrer Gegensätzlichkeit entsprachen und einander um der Lebensfähigkeit des Ganzen willen benötigten, lud Ratzel die Grenze zu einem ungemein bedeutenden Raum auf. „[N]ur in der Grenze gibt es Orte, deren Bedeutung für das Ganze der des politischen Mittelpunktes gleichkommt.“41 In gewissem Sinne erschien die Grenze also nicht nur als ein räumliches, sondern als ein ubiquitäres, besonders aber im Zentrum der Macht repräsentiertes Gebilde. Sie wurde zum Symbolraum der
34 Ebd., S. 19. 35 Vgl. ebd., S. 16. 36 Ebd., S. 6. – Ratzel sprach in diesem Zusammenhang von einem Aggregatorganismus. 37 Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 96. 38 Ders., Staat und sein Boden, S. 6. 39 Ebd., S. 49. 40 Ebd., S. 50. 41 Ders., Politische Geographie, S. 436.
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staatlichen Macht oder, wenn man so will, zu deren zweitem, nach außen gekehrtem Zentrum. Die Vorstellung einer biologischen Evolution des Staates und seiner Organe hatte noch eine weitere und folgenreichere Konsequenz. Denn die Evolution der Staaten folgte für Ratzel zwar allgemeinen Prinzipien, hing gleichwohl jedoch von den spezifischen Eigenschaften des Bodens ab: Zwar nutze der Mensch den Boden nach seinem Willen, doch setze der Boden dieser Nutzung objektive Grenzen. Dieser Eigensinn des Bodens komme vor allem dort zur Geltung, wo verkehrsfördernde und -hemmende Faktoren wie Flusssysteme oder Gebirge die menschliche Tätigkeit beeinflussten. Ratzel folgerte hieraus, dass Wirtschaft und Verkehr aufgrund ihrer besonders engen Bindung an den Boden wesentlich genauer als staatliche und ethnische Grenzen zusammengehörige „Naturgebiete“ anzeigten, die den idealen „Lebensraum“ für einen Staatsorganismus bildeten.42 In der Struktur der Verkehrswege und Wirtschaftsräume glaubte Ratzel also Vorformen und Indikatoren lebensräumlicher Einheiten zu erkennen, die sich im Verlauf der Evolution früher oder später als Staaten oder Reiche konstituieren würden. Der Grad dieser Anlehnung der staatlichen Grenzen an den ‚Lebensraum‘ zeige dabei die „Reife“ des staatlichen Organismus an. Da die Staaten diese Reife jedoch in unterschiedlichen Zeitspannen erreichten, stelle sich kein stabiler Endzustand her, sondern so etwas wie ein ständiges Pulsieren von Ausdehnungen und Rückgängen.43 In Anlehnung an die Bevölkerungstheorie Thomas Malthus’ setzte Ratzel dabei einen permanenten Expansionsdrang der Staaten voraus, der sich notwendig aus dem Wachstum ihrer Bevölkerungen und der Begrenztheit ihrer verfügbaren Fläche ergebe. Diesen Zusammenhang bezeichnete er als Gesetz der wachsenden Räume.44 Aus diesem Raumkonzept ergab sich ein völlig neuer Typ von Grenze, nämlich eine Grenze im Sinne des eingangs skizzierten Organismusmodells. Nicht mehr durch staatliche, sprachliche oder ethnographische Kriterien definiert, umgab die Grenze ein potenzielles Staatsgebiet, das dem ‚Lebensraum‘ eines wachsenden Organismus entsprach und dessen Umfang in erster Linie an verkehrs- und wirtschaftsräumlichen Zusammenhängen, mithin also aus den ‚politischen Räumen‘, ablesbar sei. Neben seiner rechtlichen Grenze verfügte jeder Staat damit über eine zweite Peripherie, die Ratzel als seine „organische Grenze“ bezeichnete. Da sie „aus dem Leben des Staatsorganismus“ selbst resultiere, unterschied er diese Grenze grundlegend von den „todten Grenzen eines abgemessenen Flächenraumes“ und schrieb ihr eine ausgesprochene Flexibilität und Beweglichkeit zu. Hatten traditionelle Geographen vor allem die Divergenz der Staatsgebiete bzw. von Staat und Nation betrachtet, so konzipierte Ratzel also eine Divergenz zweier Grenzarten – eine Divergenz zudem, die nicht aus zwischenstaatlichem Dissens resultierte, sondern eine Grundeigenschaft moderner Staatlichkeit sei. Er veranschaulichte und untermauerte dieses Konzept durch den Verweis auf eine Reihe von Sonderformen der Grenzziehung und des Grenzverkehrs. Was die traditionelle Geographie als Ausnahmefälle gewertet hatte, wurde dabei zur Regel: 42 Vgl. Ratzel, Staat und sein Boden, S. 30-35. 43 Vgl. ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 68. 44 Vgl. Ratzel, Gesetze des räumlichen Wachstums, S. 97-107. Vgl. auch ders., Anthropo-Geographie, S. 116f.
116 | IMAGINIERTER WESTEN „Dazu gehören in erster Linie die Vor- und Zurückschiebungen der eigentlichen Grenze durch das Uebergreifen oder Zurücktreten des Staates, die Nichtübereinstimmung der Zollgrenze mit der politischen Grenze, wie sie in der Umschliessung Luxemburgs durch die Zollvereinsgrenze verdeutlicht wird, die freie Zone auf der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, und das Recht beider Staaten über die Grenze weg die räuberischen Indianerhorden auf die Nachbargebiete zu verfolgen, die freien Durchgangslinien für gewisse Erzeugnisse der Vereinigten Staaten im südlichen Neubraunschweig und viele ähnliche Erscheinungen. Auch das Aufsichtsrecht Oesterreichs über die Küsten Montenegros, das ausschliessliche Recht Russlands auf dem Kaspischen Meer Kriegsschiffe zu halten, wie auch alle die Besatzungs- und Besetzungsrechte eines Staates auf dem Gebiet eines anderen gehören dazu. Im Grunde bedeutet auch die Unterstützung des Baues der Gotthardbahn durch Deutschland und Italien, das Hinüberreichen der Verkehrswege auf ein Nachbargebiet, das Recht freier Schifffahrt eines Landes auf den Flüssen eines andern, ein Hinausgreifen des Unternehmungstriebes über die Grenzen. Sieht man, wie oft die politischen Grenzen solcher Ausdehnung der wirtschaftlichen gefolgt sind, wie sogar grosse Reiche durch Zolleinigung sich gebildet oder vorgebildet haben, so erscheinen diese sog. Ausnahmen von der vertragsmässigen Grenze als im Wesen der Peripherie eines lebendigen Körpers tief begründet, ja nothwendig. Sie scheinen nur der Grenze von ihrem Werth zu nehmen, indem sie sie durchbrechen; in Wirklichkeit setzen sie das Wesen der Grenze als peripherisches Organ eines lebendigen Körpers in das richtige Licht. Es entspricht der Natur dieses Körpers, da er organisch ist, dass er die unorganischen Schranken der politischen Grenzlinie durchbricht, wo seine Lebensthätigkeit es verlangt.“45
Die Definition der Grenze als ‚peripherisches Organ‘, ihre symbiotische Bindung an das Zentrum der Macht und die Erfindung der ‚organischen Grenze‘ transformierten die Grenze in mehrfacher Hinsicht in einen Raum. Zugleich aber, und hier scheint mir die Pointe des Konzepts zu liegen, verortete Ratzel diese Grenze inmitten der wirtschaftlichen und demographischen Dynamik der Zweiten Industriellen Revolution. Damit veränderte sich nicht zuletzt ihre Funktion. Sie war nicht mehr allein Mittel der Markierung territorialer Ansprüche, sondern Organ des in ‚seinen‘ Lebensraum hinein expandierenden Staates. Ratzels Politische Geographie der Grenze war daher wie geschaffen für das Zeitalter des Imperialismus. Und indem er ein Organismusmodell des Staates und der Grenze vorlegte, öffnete er sie zugleich für die biologistischen und vitalistischen Ideologien seiner Epoche. Doch ist seine Theorie der Grenze damit nur unvollständig beschrieben.
D i e G r e n z e a l s l i n e a r i s i e r t e G r e n z w ü st u n g Das durch die Entdeckungsreisen des 19. Jahrhunderts angewachsene Wissen über außereuropäische Gesellschaften eröffnete Ratzel die Möglichkeit, sein biopolitisches Konzept der Grenze zu anthropologisieren. Die kleinräumigen Gentilstaaten indigener Gesellschaften fasste er dabei als Urform des Staates auf: „Das Dorf des Häuptlings im Mittelpunkt, rings umher Dörfchen in Garten- und Ackerstücken und darüber hinaus die Grenzwildniss, durch die ein
45 Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 25f.
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Pfad oder zwei in die Nachbargebiete führen.“46 Geradezu idealtypisch zeige sich in einem solchen „Elementarorganismus“47 eine konzentrische Siedlungsstruktur, die sich „um den Machtmittelpunkt“ verdichte, nach außen „immer spärlicher“ werde und schließlich in „die leeren Grenzgebiete“ übergehe.48 In den Grenzlinien der Moderne sah Ratzel die zu Linien zusammengezogenen Grenzwildnisse dieser ursprünglichen Staaten. Der Afrikaforscher Heinrich Barth hatte diese „Grenzsäume“ nach seiner von 1849 bis 1855 dauernden Timbuktu-Expedition erstmals als allgemeines Phänomen afrikanischer Gesellschaften beschrieben.49 Ratzel verallgemeinerte diese von anderen Entdeckungsreisenden bestätigte Beobachtung zur These, dass die Grenzen aller ursprünglichen Gesellschaften solche diffusen und veränderlichen Zwischenräume gewesen seien. Sie bildeten „eine Abschliessung vom Nachbar“, indem sie „etwas Drittes, Fremdes zwischen zwei Staaten“ legten, und hielten die Staaten auf diese Weise „nicht bloss politisch auseinander“, sondern stellten eine regelrechte „Zwischenlagerung“ zwischen ihnen dar.50 Dabei sei die Räumlichkeit der Grenzen keineswegs Ausdruck ‚rassischer‘ Minderwertigkeit, sondern eine den spezifischen Gegebenheiten angemessene Organisationsform des Staates, „in der ebensoviel Verstand und System wie in der europäischen“ liege.51 Der nichtlineare Grenzsaum sei daher keineswegs überall gleich, sondern könne sehr unterschiedliche Formen annehmen: Dienten manche Grenzsäume den benachbarten Völkern gemeinsam zur Jagd oder zur Holzgewinnung, so bildeten andere unbesiedelt gelassene, durch religiöse Gebote tabuierte oder auch gewaltsam entvölkerte Puffer. In manchen Fällen könnten solche leeren Räume Flüchtlingen, Jägern, Soldaten oder Räubern eine Lebensgrundlage bieten, aus deren Ansiedlungen sich zuweilen eigenständige Staaten oder auch herrschaftsfreie Gemeinwesen entwickelten, und in Ausnahmefällen schließlich stellten sich die Grenzsäume sogar als reguläre Siedlungsgebiete dar, in denen die Besitz- und Nutzungsrechte der Staatsoberhäupter einander nach bestimmten Regeln überlagerten und der Einzelne zuweilen diesem, zuweilen jenem Souverän untertan sei. Sofern der Grenzsaum ein staatsloses „Niemandsland“ darstellte, bezeichnete Ratzel ihn mit dem Begriff Grenzmark, den er damit aus dem Kontext der deutschen Geschichte herauslöste und zu einer allgemeinen anthropogeographischen Vokabel erhob. Konsequent stellte er denn auch eine außereuropäische Grenze, nämlich die 1879 von Ferdinand von Richthofen beschriebene Zwischenzone zwischen China und Korea, als das „klassische Beispiel“ einer Grenzmark vor.52 Ders., Staat und sein Boden, S. 21. Ebd. Ebd., S. 52f. Ratzel bezog sich u.a. auf: Bart, Heinrich: Reisen und Entdeckungen in Nordund Central-Afrika in den Jahren 1849 bis 1855. Tagebuch seiner im Auftrag der Britischen Regierung unternommenen Reise, Gotha 1857-58. – Er wandte sich außerdem gegen die lineare Kartierung Afrikas durch Habenicht und Lüddecke, denen er vorwarf, hierdurch ein „aufgezwungenes europäisches Schema“ abgebildet zu haben (Ratzel, Allgemeine Eigenschaften, S. 95). 50 Ratzel, Allgemeine Eigenschaften, S. 96; er übernahm die Sequenz wörtlich in Staat und sein Boden, S. 90. 51 Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 101, vgl. auch S. 99. 52 Ebd., S. 88f. Weitere „Marken“ beschrieb er für den Tschad, die Goldküste, Korea und Illinois. 46 47 48 49
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Vor diesem Hintergrund erschien jede Staatsgrenze in ihrem Ursprung als ein Grenzraum oder eine Grenzmark, die von den wachsenden Staaten allmählich in Besitz genommen und zu einem Raum mit der Ausdehnung Null, einer Linie, zusammengedrängt worden sei. Das Gesetz der wachsenden Räume bedingte also eine Linearisierung der Grenze. Diese Beseitigung des Dritten, Fremden oder Leeren war für Ratzel die wichtigste Zäsur in der Evolution der Staatsorganismen, der gegenüber alle späteren Veränderungen der Grenze wenig mehr als „Verschiebungen und Ausbesserungen“ waren.53 Er betrachtete dies im Wesentlichen als eine europäische Entwicklung des 16. bis 19. Jahrhunderts, die durch den Fortschritt geodätischer Verfahren bedingt gewesen sei, während in anderen Teilen der Welt die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für eine solche „mathematisch scharfe Grenzbestimmung“ gefehlt hätten.54 Das Verschwinden der Zwischenräume und das Zusammentreffen der Wirtschaftsräume habe dann jene Wachstumsdynamik frei gesetzt, die in den globalisierten Beziehungen der industriellen Moderne mündete: „In der Wegräumung dieser Hindernisse liegt der Anlass zu einem mächtigen Umschwung der ganzen Staatsentwicklung. So wie die Schranken fallen, erhalten alle das Wachsthum fördernden Kräfte freie Bahn. Das durch die dicht hintereinanderfolgenden Grenzen zerschnittene Netz der Verkehrswege entwickelt rasch durchlaufende Wege, die sich in dem freien Raume nach allen Seiten verzweigen. Die vorher getrennten Kleinstaaten nähern sich, endlich berühren sie einander und die Verschmelzung wird mit der Zeit unvermeidlich. Die Besiedlung der Grenzöden bricht also einem Grössenwachsthum Bahn, das, wie die Geschichte lehrt, nicht aufhört, als bis es den Rand einer Wüste oder des Meeres erreicht hat und endlich ganze Erdtheile umfasst. Und mit ihm wachsen alle politischen Raumvorstellungen und alle Schätzungen des Werthes des Bodens. Es liegt daher in der Durchbrechung dieser Art von Grenzen einer der grössten Wendepunkte in der Geschichte der Beziehungen zwischen Volk und Land überhaupt“.55
Es lag Ratzel also fern, die Bedeutung der neuen, linearen Grenze zu negieren oder sie gar in einem antimodernistischen Sinne zu delegitimieren. Die Pointe seiner Linearisierungsthese lag vielmehr darin, dass er der modernen Grenze einen Doppelcharakter zuschrieb: Zwar erschien sie als Linie, doch war die Linie ein zur Linie gewordener und in ihr repräsentierter Raum. Der modernen Grenze wohnte also noch eine Grenzmark inne, deren Spuren in den räumlichen Anlagen zur Grenzüberwachung und -markierung zu finden seien.56 Ratzel führte damit genau jenes Modell der Grenze ein, das wir als
53 Ders., Staat und sein Boden, S. 91. 54 Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 79. – Eine neuere Diskussion der Praxen geodätischer und statistischer Verfahren in der Genese der modernen Nationalstaaten und der Durchsetzung des linearen Grenzkonzepts bietet Behrisch, Lars (Hrsg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raumes im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2006, darin insbesondere die Beiträge von Martin Aust und Achim Landwehr. 55 Ratzel, Staat und sein Boden, S. 91. 56 Ratzel zählte hierzu z.B. die Markierung der Staatsgrenze durch die beiderseitige Rodung eines wenige Meter breiten Streifens oder die Anlage grenzbegleitender Verkehrswege zur Erleichterung der grenzpolizeilichen Kontrolle.
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Repräsentationsmodell von den älteren Divergenz- und Diffusionskonzepten abgegrenzt haben. Doch Ratzel erkannte nicht nur Spuren, die solche Grenzmarken in den Landschaften der Moderne hinterlassen hatten. Vielmehr sah er den Raum mit archaischer Gewalt wieder aus der Linie hervorbrechen, sobald der Krieg die Grenze zur Front transformiere: „Für den Feldherrn kann die Grenze nur einen Raum mit mehr oder weniger günstigen Bedingungen für militärische Operationen bedeuten, welche bald diesseits, bald jenseits der abstrakten Grenzlinie verwirklicht sind, dieselbe durchkreuzend und unterbrechend. Die moderne Kriegskunst schafft zwar keine Grenzsäume durch Verwüstung, wie die Negerstaaten und wie die Germanen ‚in barbarischer Strategik‘ einst meilenweit um ihre Gebiete herum taten. [...] Heute lassen feindliche Armeen bei Waffenstillständen nur zu jeder Seite einer ‚Demarkationslinie‘ Räume von bestimmter Breite frei, in die keiner von beiden Kriegführenden vordringen darf.“57
Ratzel schrieb die im historischen Prozess überwundene Räumlichkeit der Grenze also durchaus in die Gegenwart und Zukunft fort. Hierbei konnte sie sich als militärisches Operationsgebiet darstellen, doch erlaubte das Konzept der ‚organischen Grenze‘ noch eine andere Folgerung. Denn auch indem die ‚politischen Räume‘ des Verkehrs und der Wirtschaft den Raum des Staates überschritten, ging die linearisierte wieder in eine entlinearisierte Grenzmark über: Um die lineare Grenze sah Ratzel eine „Zone voll Regsamkeit, Unruhe, Streit und Schaffen“ entstehen, einen „Wachstumssaum“,58 in dem sich die gesamte „vorwärts treibende Energie des Wachstums“ konzentriere oder in der „die Mächte der Zurückdrängung und des Verfalls“ wirksam würden.59 Statt die Gewalt der Staaten zu bändigen, indem sie die Staatsgebiete voneinander isolierte, waren die Grenzsäume der Moderne also durch genau jene Gewalt gekennzeichnet, die das Verschwinden ihrer Vorläufer freigesetzt hatte.
Die Binnenstruktur des Grenzsaums Die zum Raum transformierte, mit Leben erfüllte und von der Dynamik des demographischen und ökonomischen Wachstums getriebene Grenze begegnet uns also als ein höchst vielschichtiges und keineswegs widerspruchsfreies Konstrukt: Sie ist die abstrakt in den Grenzsaum eingeschriebene Linie ebenso, wie sie der zur Linie zusammengezogene Grenzsaum ist; als solche ist sie das peripherisches Organ des Staatskörpers, verläuft als dessen organische Grenze jedoch zugleich außerhalb seines Territoriums; und nicht zuletzt erscheint sie im Boden verwurzelt, obschon ihre grundsätzliche Beweglichkeit sie zumindest auf lange Sicht der terristischen Fixiertheit enthebt. Weitaus simpler erscheint demgegenüber Ratzels Beschäftigung mit konkreten Grenzgebieten. Alle Grenzsäume wiesen, so glaubte er, eine spezifische Binnenstruktur in Form parallel verlaufender „Streifen“ auf. Diese resultierten zwingend aus 57 Ders., Politische Geographie, S. 397. 58 Ebd., S. 384. 59 Ebd., S. 435.
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dem dynamischen Zusammentreffen „einander entgegenwachsender Gebiete“, sodass ein Grenzraum dem Geographen stets als ein dreifach abgestuftes „Gebilde“ begegne: „Ein solches Grenzgebiet setzt sich in der Regel aus drei Streifen zusammen: eine Welle hüben, eine Welle drüben, Zusammentreffen, Ineinanderschieben, Vermischung oder auch der leerbleibende Raum. So finden wir es in der todten Natur, wo zwischen Land und Meer die Küste [...] liegt, und so auch in der Welt der Völker, wo zwischen den compakten Völkergebieten sich die oft breiten Streifen des Ueberganges entwickeln und wo in alter Zeit zwischen zwei politischen Gebieten, den Vorfahren unserer Staaten, der neutrale Boden der Mark, der Vorfahr unserer Grenzen, lag. Und wie die Küste und das Ufer selbständigen Entwicklungen amphibischer Natur Ursprung geben, so liegen zwischen den grossen Staaten des heutigen Europa kleinere Zwischengebilde, wie die Schweiz oder Luxemburg [...].“60
Hier zeigt sich bereits die Möglichkeit, ganze Regionen und sogar Staaten als Bestandteile eines ‚Grenzsaumes‘ zu begreifen. Doch erklärt sich dies nicht aus der Geometrie der drei Streifen allein. Ratzel nahm daher eine zweite, die Streifen kreuzende Strukturierung des Grenzraumes an, der dadurch eine zusätzliche, vertikale Gliederung erfuhr. Diese „natürlichen Abschnitte“61 des Grenzsaumes waren für Ratzel keineswegs gleichartig, sondern unterschieden sich aufgrund der konkreten „historischen Bewegung“, deren Ausdruck und Archiv sie waren.62 „Nicht nur stammen die Grenzen eines Landes aus verschiedenen Zeiten und sind unter verschiedenen geschichtlichen Bedingungen gezogen, sondern auch heute noch ist ihr Werth nicht an allen Stellen derselbe, da sie nicht an allen in gleichem Masse Träger dieses Wachsthums sind.“63 Die „in historischen Stürmen ausgeglichene deutsch-französische Völkergrenze“ etwa weise mit ihrem geradlinigen und exklavenfreien Verlauf eine andere Qualität auf als die „in Vorposten aufgelöste Grenze der Deutschen im Osten“, die noch dazu „von einem Kontakthof gemischter Verbreitung umgeben ist.“64 Die unterschiedlichen Dynamiken der Abschnitte richtig zu erkennen und einzusetzen, war daher von höchster politischer Bedeutung. Besonders deutlich wird dies in der Vorstellung von Grenzabschnitten als „Wachstumsspitze“.65 Aus der Biologie übernommen, stand dieser Begriff für einen besonders intensiv mit Energie und Leben erfüllten und besonders eng mit dem Zentrum des Staates korrelierenden Typus von Grenze, in dem sich die expansive Dynamik des Staats verdichte: „In solchen Gebieten concentrirt ein Staat seine ganze Energie, sie befestigt er, sie stattet er mit Eisenbahnen, mit Garnisonen aus und ist an ihnen mehr als an der ganzen übrigen Grenze für jede Verletzung und Bedrohung empfänglich. Es scheint oft, als marschire der ganze Staat in Front hinter einer solchen Grenzstrecke auf. [...] Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 64. Ebd., S. 72. Ebd., S. 62. Ebd., S. 72f. Ders., Politische Geographie, S. 388f. – Bereits 1882 hatte Ratzel diesen Vergleich zwischen West- und Ostgrenze gezogen. Vgl. ders., Anthropo-Geographie, S. 123. 65 Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 73. 60 61 62 63 64
KONZEPT DER POLITISCHEN GEOGRAPHIE | 121 Die natürlichen Eigenschaften solcher Gebiete machen ihre Vor- und Nachtheile in verstärktem Masse geltend, sie sind nicht nur als vielumkämpfter Boden [...] historisch merkwürdig, sondern stehen auch an politischem Werth nur hinter den grossen Centren zurück und gehören zu den wissenschaftlich besterforschten, auch wenn sie so entlegen sind, wie das obere Amu Darja- oder das Pamirgebiet.“66
Auf der Landkarte des ausgehenden 19. Jahrhunderts glaubte Ratzel eine Reihe solcher ‚Wachstumsspitzen‘ zu erkennen, so etwa die französischen Grenzabschnitte zwischen Belfort und Verdun sowie zwischen Grenoble und Nizza, das russische Grenzgebiet zwischen Memel und Dnjestr und die oben erwähnten Gebiete an der russisch-afghanischen Grenze.67 Das Gegenbild solcher ‚Wachstumsspitzen‘ bildeten Regionen, die ihre ‚Korrelation‘ mit dem Zentrum verloren hätten und in denen die Vitalität des Staates zum Erliegen gekommen sei. Ratzel sah das Alte Reich von solchen Grenzabschnitten umgeben, die er mit der Metapher einer bröckelnden Wand, eines verfallenen Gebäudes und eines zurückbleibenden Trümmerfeldes beschrieb, mit Bildern also, die auf das Sterben des ‚peripherischen Organs‘ hindeuteten: „Als das Haus des deutschen Reiches schadhaft wurde, verfielen zuerst seine Mauern. Und diese Mauern waren ohnehin schon lange schwach, denn zu den organischen Fehlern des alten Reiches gehörte die Bildung schwacher Staaten an den wichtigsten Grenzlinien. Die Risse, Sprünge und Löcher in Deutschlands westlicher Mauer, die zahllosen Enclaven und Exclaven im Grenzgebiet erleichterten den Franzosen das Eindringen ins Elsass und die Gewinnung des Rheines, der seit Odoaker ein deutscher Strom gewesen. [...] Deutschlands Grenzen erinnern wie die Oesterreichs noch heute daran, dass es in einem beide gemeinsamen geschichtlichen Process von Westen her zurückgedrängt worden ist. Die Niederlande, Luxemburg, die Schweiz theilen mit beiden Eigenthümlichkeiten der Grenze, die in alter Gemeinsamkeit der Geschichte begründet sind, liegen auch auf der Karte wie Bruchstücke, denen man ansieht, dass sie nicht immer unser Land von den Quellen und der Mündung des Rheines trennten.“68
Die Grenze changierte damit zwischen den Extremen des Wachstums und Zerfalls. Sie konnte ‚Wachstumsspitze‘ oder Trümmerfeld sein, jedoch auch, wie Ratzel am Beispiel Elsass-Lothringens zeigte, zwischen beiden Zuständen wechseln – wir werden hierauf noch zurückkommen. Zwischen diesen beiden extremen Qualitäten verortete Ratzel allerdings eine Art Normalzustand von Grenzabschnitten. Er bestand in einem fließenden Übergang zwischen den Nationen – eine Vorstellung übrigens, die zwingend aus seinem naturalistischen Postulat der Räumlichkeit jeglicher Grenze folgte. „Es ist, als ob das Nachbarland seinen Schatten über die Grenze würfe“ und man in den „Bann“ der Grenze trete, „ehe man sie erreicht“. Die Bevölkerung, der man begegne, sei „genöthigt, dem eigenen Lande halb den Rücken zu wenden“, um „in die Fremde zu schauen. Sie fühlt stärker die Unterschiede und trägt zu ihrer Vermittlung bei.“69 Zwar sei die Grenzlinie 66 67 68 69
Ebd., S. 73f. Ebd., S. 74. Ebd., S. 69f. Ebd., S. 78. Vgl. wortgleich ders., Politische Geographie, S. 437.
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„als eine Thatsache der Uebereinkünfte“ im Grenzgebiet existent, doch gelange sie aufgrund der gleichzeitig vorhandenen und „nie scharf vorzustellenden Grenzen der Sprachen-, Rassen-, Cultur- [und] Religionsgebiete“ niemals zur vollen „Schärfe“; die Pluralität der Grenzen stelle vielmehr einen „Spielraum“ her, „welcher die scharfe Linie zu verbreitern scheint“ und damit die Räumlichkeit unaufhörlich wieder herstelle. Diese vermittelnde Mischung von Eigenem und Fremdem verleihe dem Grenzgebiet eine Eigenständigkeit und Sonderstellung innerhalb der Staatenwelt.70 „Die Entfernung vom Mittelpunkte und Wechselwirkung mit den Nachbargebieten“ mache sie zugleich zum Nährboden für „politisch, wirtschaftlich, ethnisch neue Bildungen“, die mitunter in „Abgliederung[en]“ münden könnten,71 aber auch ein Widerstandspotenzial gegen die Despotie einer Zentralmacht in sich bürgen.72 Diese Sicht der Grenze als ein Raum der Vermittlung und Mischung relativierte die Konstruktion der linearen Sprachgrenzen im Sinne Boeckhs, ohne auf die ethnographische Methode und das Landschaftskonzept Riehls zurückgreifen zu müssen. Vielmehr waren fließende und dynamische Übergänge jeder Grenze immanent, so wie ihr auch die Möglichkeiten der Expansion oder des Rückgangs innewohnten. Ratzels Betonung der Übergänge widersprach der Adaption durch den völkischen Radikalismus zwar nicht, rief jedoch auch Gegner wie den Gobineau-Übersetzer Ludwig Schemann auf den Plan, der ihm vorwarf, nicht rassisch bedingte „Klüfte“, sondern lediglich „Gradunterschiede“ zwischen den Völkern und Staaten anzuerkennen.73
R a t z e l s K o n z e p t i o n d e r W e s tg r e n z e Ratzels biopolitisches Konzept eröffnete die Möglichkeit, die Westgrenze inmitten eines komplexen Spiels von Repräsentationen zu verorten. Wie jede andere Grenze, repräsentierte sie von vornherein dreierlei: das diffuse und vermittelnde Übergangsgebiet zwischen den nationalen Kulturen, den Raum der Bewegung wachsender oder schrumpfender ‚Lebensräume‘ und den zur Linie zusammengezogenen Zwischenraum, der jede staatliche Grenze in ihrem Ursprung einmal war. In diesem Sinne repräsentierte die Westgrenze in sich eine Westmark. Auch als peripherisches Organ des Staates war sie ein Raum, doch trat hier zugleich eine Verdopplung ein. In den Adern der Infrastruktur, mit dem Pulsieren der Wirtschaft und dem Wachstum der Bevölkerung wuchs sie gleichsam in einen ‚Lebensraum‘ im Westen hinein, dessen ‚organische Grenze‘ sie zugleich war. Die Westgrenze barg in sich also eine
70 Vgl. ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 76. 71 Ebd., S. 78. 72 Vgl. hierzu Ratzels frühe Überlegungen über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in Anthropo-Geographie, S. 130f. 73 Schemann, Ludwig: Die Rassenfragen im Schrifttum der Neuzeit, München 1931, S. 214. – Schemann wies allerdings darauf hin, dass Ratzel sich in seinem Spätwerk rassenideologischen Positionen angenähert habe (ebd., S. 215; vgl. Ratzel, Friedrich: Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektiven, in: Historische Zeitschrift 93 [1904]). Ein kritische Auseinandersetzung mit Ratzels Standpunkt zur Rassenideologie liefert Schultz, Deutsche Geographie im 19. Jahrhundert, S. 71ff.
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Expansionsbewegung; sie war der von dieser Bewegung beschriebene Raum, oder genauer: der Raum zwischen dem Raum der heutigen und dem Raum einer zukünftigen Westgrenze. Als solcher war sie immer auch ein ‚politischer Raum‘, der die Ökonomie, die Infrastruktur und das Zentrum des Staates in sich spiegelte und in ihnen gespiegelt war. Sie repräsentierte gleichsam Berlin am Rhein und war ihrerseits dort repräsentiert. Sie wurde als das nach Westen gekehrte Wertezentrum des Staates vorstellbar, und wie der Staat erschien sie dabei als lebendiger Organismus. Dabei überschnitten sich die Modelle, nach denen der Grenzsaum konzipiert werden konnte. Während das traditionelle Divergenzmodell kaum mehr eine Rolle spielte, betrachtete Ratzel die Grenze zwar als Diffusionsraum, doch eröffneten die neuen Organismus- und Repräsentationskonzepte eine theoretische Perspektive, die mit ihren Analogiebildungen zur belebten und unbelebten Natur und ihren Bildern des Lebens, des Bewegens, des Konkurrierens und des Sterbens eine Fülle neuer Anschlussmöglichkeiten erschloss. Ratzel schöpfte dieses Repertoire von Möglichkeiten in seinen Ausführungen zur Westgrenze bei weitem nicht aus – dies sollte erst im geopolitischen und jungkonservativen Diskurs der Zwischenkriegszeit geschehen. Sein Beitrag zur Transformation der Westgrenze bestand daher zunächst darin, dass er überhaupt ein abstraktes Modell bereitstellte, das die Räumlichkeit der Westgrenze aus universal geltenden Prinzipien ableitbar machte. Dies bedeutete, dass er das Konzept der Westgrenze von den konkreten Geographien und insbesondere von der Sprachgrenze entkoppelte. Die Größe eines westlichen ‚Grenzsaumes‘ ergab sich nicht mehr notwendigerweise aus Boeckhs abstrakter Linie, Riehls ethnographischer Diffusion oder der Ausdehnung der drei ‚deutschen‘ Landschaftsstufen.74 Gleichwohl war Ratzel vermutlich der erste Autor, der – wenn auch nicht expressis verbis – von einem ‚Westraum‘ im Sinne einer zum Raum transformierten Westgrenze sprach. Dieser Raum war für ihn durch eine ungleiche Entwicklungsdynamik der französischen und der deutschen Nation konstituiert. Ratzel ging dabei von der These aus, dass die „Herausbildung fester Grenzen eines der Merkmale geschichtlicher Reife“ sei und diese Reife dort am schnellsten erreicht sei, wo die „Natur selbst“ das Gebiet des Staates umgrenze, mit anderen Worten also: wo ein Naturgebiet den idealen ‚Lebensraum‘ des Staates anzeige. „Diese Gunst der Grenze ist nicht unentbehrlich für die Reife eines Volkes, aber sie beschleunigt ihren Eintritt und macht das Volk früher ‚fertig‘, dessen Entwicklung sie im wahren Sinne ‚Grenzen zieht‘.“75 Folgten jedoch die benachbarten Staaten diesem Vorbild, kehre sich das Kräfteverhältnis um und „der frühreife Staat“ werde „ebenso rasch überholt, als er vorausgeschritten war“.76 Ratzel fasste Frankreich als einen solchen „frühreifen“,77 das Deutsche Reich hingegen als einen politisch und kulturell spät entwickelten und daher in der Gegenwart dynamischeren Staat
74 Letzteres lehnte Ratzel mit der Begründung als naiv ab, dass sich aus gleichen Landschaften durchaus unterschiedliche Gesellschaften herausbilden könnten. Vgl. Ratzel, Friedrich: Die deutsche Landschaft, in: Kleine Schriften von Friedrich Ratzel, hrsg. v. Hans Helmolt, Bd. 1, München u.a. 1906, S. 126-150, hier: 128. 75 Ders., Allgemeine Eigenschaften, S. 65. 76 Ebd., S. 68. 77 Ebd. – Als zweites Beispiel eines ‚frühreifen Staates‘ nannte er Dänemark.
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auf.78 Darin deutete sich das jungkonservative Ideologem vom höheren „Recht der jungen Völker“79 bereits an, doch interessiert uns an dieser Stelle zunächst die Bedeutung der Ungleichzeitigkeitsthese für Ratzels Sicht der Westgrenze und ihrer Entstehung. Ratzel interpretierte die französische Geschichte als „ein wahres Hinund Herwogen, besonders zwischen Westen und Osten, bis die sogenannten natürlichen Grenzen gewonnen waren.“ Die territorialen Veränderungen zwischen dem antiken Gallien und der Französischen Republik stellten demnach nichts anderes als eine Suchbewegung dar, doch vollzog sich diese nicht beliebig, sondern – hier erinnert Ratzels Argumentation an die Boeckhs – als Annäherung an die natürlichen Grenzen: „Für das alte Gallien werden Ocean und Mittelmeer, Pyrenäen, Alpen und Rhein als Grenzen angesehen; das neue Frankreich entwickelte sich in den Grenzen Ocean, Mittelmeer, Pyrenäen, Rhone-Saône und Maas“. Die französische wich also vor allem dort von der gallischen Grenze ab, „wo die germanischen Einbrüche und Eroberungen [sie] nach Westen zurückgedrängt hatten.“80 Zwischen der gallischen Rheinund der französischen Rhône-Saône-Maas-Grenze spannte sich damit ein Raum auf, in dem sich das ‚Hin- und Herwogen‘ des französischen Staates als eine Art Oszillation der Grenzlinie darstellte. Und genau in diesem Raum glaubte Ratzel eine organische Einheit, einen Grenzsaum im Sinne eines eigenständigen Zwischenraumes zwischen den eigentlichen Staatsorganismen, zu erkennen: „Ein Blick in die geschichtliche Vergangenheit der Grenzgebiete vollendet den Eindruck der organischen Eigenartigkeit. [...] Die ideale Linie sehen wir in diesem Raume bald hier- bald dorthin schwanken. Denken wir an die burgundischen und lotharingischen Länder mit ihren Grenzen an der Saône und dem Rhein, der Maas, Mosel und Saar, auf den Vogesen und Ardennen. Diese Grenzlinien sind an so vielen Stellen gewesen, dass der ganze Streifen zwischen westfränkischem und ostfränkischem Lande ein einziger breiter Grenzsaum geworden ist.“81
Ratzel konzipierte die Westgrenze also als einen eigenständigen, nicht durch Staats- und Sprachgrenzen definierten Grenzraum zwischen Deutschland und Frankreich. Diese Perspektive veränderte auch den Blick auf die historischen und modernen Staaten innerhalb dieses Raumes. Burgund und Lothringen, aber auch die Niederlande, Belgien, Luxemburg und die Schweiz, wurden zu Zwischenländern zwischen Deutschland und Frankreich, deren Entstehungsprozess dem gleichen Prinzip folgte, nach dem sich in den Grenzmarken der Gentilstaaten separate Gemeinschaften bildeten und eine temporäre oder dauerhafte Eigenständigkeit erlangten. Die kleineren Staaten waren also Grenzländer in jenem radikalen Sinne, dass sie selbst Grenze waren. Ratzel nahm an, dass die moderne Westgrenze in der frühen Neuzeit aus einem Gefüge solcher Grenzländer heraus entstanden sei. Konkret habe sie „in Artois, Cambresis, Champagne und Burgund“ eine „einzige Linie erreicht, die als natürliche Grenze Frankreichs zu den Niederlanden gelten 78 Ebd., S. 69. 79 Moeller van den Bruck, Arthur: Das Recht der jungen Völker, München 1919 (im Folgenden zit. als: Moeller van den Bruck, Recht der jungen Völker). 80 Ratzel, Allgemeine Eigenschaften, S. 65. 81 Ebd., S. 79. (Herv. i. Orig.)
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kann.“ Die Grenzveränderungen des Absolutismus stellten demgegenüber nur noch eine „Vervollständigung der Grenzen“ dar, indem sie die staatliche weiter an die natürliche Grenze anglichen: „Es gab damals noch weniger als heute etwas, das man ‚Wissenschaft der Grenzen‘ hätte nennen mögen oder können; aber der Staatsmann (Mazarin), der Artois, Stücke von Luxemburg und vom Hennegau und den Nordabfall der Cerdagne und damit die Wasserscheide der Pyrenäen, endlich das Elsass gewann, arbeitete mit Bewusstsein an der Vervollständigung der Grenzen Frankreichs. Die Natur selbst machte das Ziel leichter kenntlich, das die räumliche Entwicklung des Staates sich setzen musste, und darin liegt ein Vorzug der französischen vor der deutschen Geschichte.“83
Während Frankreich also frühzeitig über eine ‚reife‘ Ostgrenze verfügte, die es bis zur Französischen Revolution nach einem in sich logischen „Plan“ optimierte, sah Ratzel die deutsche Westgrenze infolge der inneren Degeneration des Reiches zu einer Trümmerwüste zerfallen, aus der die Niederlande, Luxemburg und die Schweiz, wie oben zitiert, als „Bruchstücke“ einer früheren Grenzfestung hervorragten. Die modernen ‚Zwischenländer‘ erfuhren damit eine den vormodernen entgegengesetzte Wertung: Was vitaler Abschnitt des Grenzorganismus gewesen war, war nun nur noch Fragment einer verwüsteten Landschaft,84 wenngleich die Annexion Elsass-Lothringens das Ende des Zerfalls und den Beginn einer neuen Dynamik anzeigte. Innerhalb dieses ins Negative gekehrten Grenzsaumes beschrieb Ratzel den französischen „Nordosten“, also das niederländisch-belgische Mündungsgebiet von Rhein und Maas, als latenten Konfliktherd. Die Frage der Grenzziehung sei dort deshalb besonders kompliziert, weil „die aus Frankreich kommende Maas mit dem Rhein zusammen mündet.“ Zwar könne man „den Knoten im Westen durchschneiden“, indem man die Maas als „Nebenfluss des Rheins“ definiere und die Maas- der Rheinmündung zurechne, doch löse dies das Problem nur zum Schein. Denn in „solch unsicherer Begrenzung“ lauerten „unvermeidlich die Konflikte, welche zu Völkerkriegen zu führen pflegen.“ Ohne auf die entstehende flämische Bewegung zu verweisen, verortete Ratzel im Nordwesten jenen im Diskursverlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder beschworenen Konflikt- und Kriegsherd, welchen das 19. Jahrhundert noch an der elsässischen Rheingrenze verortet – und annektiert – hatte. Auch aus Ratzels Sicht kamen für Deutschland lediglich zwei Lösungsmöglichkeiten des Nordwest-Problems in Betracht, nämlich „sich bis zur nächsten besseren, d.h. Naturgrenze auszudehnen oder sich so mächtig zu machen, dass auch ohne besondere Kraftanstrengung die schlechte Grenze zu ertragen ist.“ 85 Er selbst favorisierte den letzteren Weg. Beobachten wir nun die Metamorphosen, die Ratzels allgemeines Konzept und seine Anwendung auf die Westgrenze in der entstehenden völkischen Bewegung der wilhelminischen Zeit und insbesondere innerhalb der alldeutschen Diskursgemeinschaft erfuhren.
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Ebd., S. 67. Ebd. Ebd., S. 67-70. Ratzel, Anthropo-Geographie, S. 134f.
D I E „W E S T M A R K “
DER
ALLDEUTSCHEN
A n f ä n g e e i n e r v ö l k i sc h e n G r e n z l a n d p o l i ti k a n d e r W e s tg r e n z e Die bislang diskutierten Konzepte der Grenze implizierten ein konkretes politisches und unter Umständen auch militärisches Handeln. Schon die tradierte Vorstellung der Westgrenze als Festung mit Bastionen im Norden und Süden und einer durchbrochenen Flanke in der Mitte applizierte allein aufgrund ihrer Symbolik eine bestimmte, auf Kampf und Krieg bezogene Handlungsoption. Arndts Empfehlungen zur ‚Rheinischen Mark‘ und Menzels Vorschlag zur Lösung der westlichen Grenzfrage schlossen sich an Kampfappelle an, wobei Arndt zusätzlich auf eine umfassende mentale und organisatorische Mobilisierung der Grenzbevölkerung zielte. Seine Überlegungen zur Neugründung eines deutschen Ritterordens, zur Vermittlung einer militanten Mentalität oder zur Nutzung der Niederlande als Vorfeld der Westgrenze lassen sich als ein früher grenzlandpolitischer Entwurf lesen, der von Treitschke zwar als romantizistisch verworfen,1 von den völkischen und jungkonservativen Grenzlandaktivisten jedoch wieder aufgenommen wurde. Boeckh, Riehl und Treitschke wiederum entwickelten oder aktualisierten ihre Konzepte der Westgrenze im Kontext des deutsch-französischen Krieges und wendeten sie auf die Definition oder Legitimation des neuen Grenzverlaufs an. Ratzel schließlich erklärte die Grenze zum ‚politischen Raum‘ sui generis, setzte sie zum Zentrum der politischen Macht in Beziehung und beschrieb die Möglichkeit ihres bewussten Ausbaus zur ‚Wachstumsspitze‘ des expandierenden Staates. Die Anfänge einer systematisch betriebenen Grenzlandpolitik im Westen sind hingegen schwer auszumachen, doch dürfte es nicht verfehlt sein, sie im Kontext der Annexion und Umwandlung Elsass-Lothringens in das Reichsland zu suchen. So finden sich in Treitschkes Essay Was fordern wir von Frankreich? nicht nur Vorschläge für eine Angleichung der Staats- an die Volkstumsgrenze und eine ethnische Segregation Frankreichs,2 sondern auch für ein innenpolitisches Programm für das „Grenzland[.]“,3 das auf einer repressiven und einer kulturpolitischen Komponente beruhte. Zum einen: „Nach einer kurzen Übergangszeit strenger Dictatur können die Lande ohne Gefahr in den Vollgenuß preußisch-deutscher Verfassungsrechte eintreten. Ist das Beamtenthum erst einmal durch massenhafte Pensionierungen gesäubert, verfolgt unbarm-
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Treitschke, Was fordern wir, S. 406. Siehe Kapitel Grenzlandpolitischer Pragmatismus und demographisches Kalkül: Treitschke. Treitschke, Was fordern wir, S. 400.
„WESTMARK“ DER ALLDEUTSCHEN | 127 herzige Strenge jeden Versuch des Verraths, so werden eingeborene landeskundige Beamte hier, wie überall in den neuen Provinzen, gerne verwendet werden.“4
Und zum anderen: „Wenn in den Schulen die Muttersprache wieder ernst und rein gelehrt wird, wenn die evangelische Kirche wieder in ungeschmälerter Freiheit sich bewegen darf, wenn eine verständige deutsche Provincialpresse das Land wieder einführt in die Kenntniß deutschen Lebens, so hat die Heilung des erkrankten Landes begonnen. Und ist es müßige Spielerei, einen Gedanken auszusprechen, der einem Gelehrten sich unwillkürlich aufdrängt? Warum sollte Straßburgs ehrwürdige Hochschule, wiederhergestellt nach schimpflicher Verstümmelung, für die deutsche Gesittung am Oberrhein nicht ebenso segensreich wirken wie Bonn gewirkt hat für den Niederrhein?“5
Im Grunde umriss Treitschke damit die Grundzüge der deutschen Reichslandpolitik des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Als reichsunmittelbares Gebiet bildete es eine Zone staatlicher Sondervollmachten, die in mehreren Schritten soweit zurückgenommen wurden, dass am Ende des Ersten Weltkrieges eine weitgehende Angleichung an die Verfassungen der anderen Länder erreicht war. Der politische Status des Reichslandes blieb also beinahe bis zuletzt eine Art verstetigter Übergangszustand von autokratischer Fremdbestimmung zu föderaler Selbstverwaltung. Weder durch seine repressiven, noch seine kulturpolitischen Maßnahmen gelang es dem Reich jedoch, die mentalen Bindungen der elsässischen und lothringischen Bevölkerung an Frankreich gänzlich zu durchbrechen, und prägend blieb das von Riehl treffend beschriebene Selbstbild des vermittelnden ‚Zwischenlandes‘.6 Dieses regionalistische Beharren sollte von jungkonservativen Autoren nach dem Ersten Weltkrieg zur Vorform der prodeutschen ‚Heimatbewegung‘ der Zwischenkriegszeit umgedeutet werden. Für die entstehenden völkisch-nationalistischen Verbände des Kaiserreichs jedoch war der elsässische Regionalismus zunächst eine enorme Irritation, die in überzogenen Schilderungen frankophiler Vorfälle, Forderungen nach einem rigoroseren Vorgehen der deutschen Behörden und einer radikalen sprachlichen Germanisierung sowie in politischen Kampagnen gegen den Föderalisierungsprozess ihren Ausdruck fand. Die Verbandspresse zeugt von einer ebenso kontinuierlichen wie feindseligen
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Ebd., S. 406. Ebd., S. 407. Vgl. Priebusch, Sophie Charlotte: Verfassungsentwicklung im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871-1918. Integration durch Verfassungsrechte?, Berlin 2006 (im Folgenden zitiert als: Priebusch, Verfassungsentwicklung); Zur Politik der Assimilation vgl. Rimmele, Eva: Sprachenpolitik im Deutschen Kaiserreich vor 1914. Regierungspolitik und veröffentlichte Meinung in Elsaß-Lothringen und den östlichen Provinzen Preußens, Frankfurt a.M. u.a. 1996; Riederer, Günter: Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871-1918), Trier 2004; ferner Cornejo, Paloma: Zwischen Geschichte und Mythos. La guerre de 1870/71 en chansons, Würzburg 2004. – Siehe auch Kapitel Die Entlinearisierung der Grenzlandschaften: Riehls ethnographisches Konzept.
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Beobachtung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Reichslandes.7 Treitschkes Konzept einer allmählichen Überführung diktatorialer Sondervollmachten in ein kulturpolitisches Assimilationsprogramm bezog sich ausschließlich auf das Innere des neuen Staates. Die Möglichkeit einer über die neue Staatsgrenze hinaus reichenden Grenzlandpolitik hingegen kam bei ihm noch nicht vor. Mit der Herausbildung der völkischen Bewegung und der nationalistischen Großverbände seit den 1880er Jahren entstand jedoch eine neue politische Handlungsebene, auf der nicht mehr allein der Staat, sondern bürgerliche Organisationen und Zirkel mit ganz eigenen Vorstellungen von deutschen Grenzen agierten. Unter diesen Akteuren wies der 1881 unter dem Vorsitz von Julius Falkenstein und auf Grundlage der Nationalitätentheorie Boeckhs gegründete Allgemeine Deutsche Schulverein (ADV), der spätere VDA, die größte Kontinuität auf. Allerdings ging der Gründungsimpuls nicht von der westlichen Grenzfrage, sondern den seit der österreichischen Niederlage im Jahr 1866 zugespitzten Nationalitätenkonflikten zwischen deutschen, ungarischen und tschechischen Bevölkerungsgruppen der habsburgischen Doppelmonarchie aus. Die dort entstehenden ‚Schutz-‘ bzw. ‚Schulvereine‘ waren von der Vorstellung getragen, dass einem ungarischen und tschechischen Vordringen Einhalt geboten werden müsse.8 Im Vertrauen auf die Anziehungskraft deutschen Kulturguts setzten die Vereine auf die Förderung deutschsprachiger Schulen und Büchereien sowie die Entwicklung genossenschaftlicher Wirtschaftsvereinigungen, von denen sie sich eine Stabilisierung deutscher Dorfstrukturen in ‚bedrohten‘ Gebieten erhofften.9 Auch der ADV engagierte sich bis zum Ersten Weltkrieg vor allem in Österreich und ordnete die dortigen Situationen in den von Boeckh entwickelten Deutungsrahmen ein. Boeckh selbst amtierte von 1892 bis 1899 mit einer kurzzeitigen Unterbrechung als Vorsitzender des Vereins.10 In Abgrenzung zu Boeckhs durchaus gemäßigten Vorstellungen über zwischenstaatlich garantierte Minderheitenrechte bei gleichzeitiger individueller Willensfreiheit begann in den 1890er Jahren eine schrittweise Annäherung des Vereins an expansionistische, rassistische und antisemitische Positionen. Motor dieser Radikalisierung war zum einen der antisemitische Kyffhäuserbund der Vereine Deutscher Studenten (VDSt), der dem ADV seit 1894 korporativ angehörte und eine vereinsinterne Opposition bildete. Ein 7
Die Berichterstattung über vermeintlich antideutsche Tendenzen nahm z.B. in den Alldeutschen Blättern breiten Raum ein. Hierbei wurden einzelne Vorkommnisse skandalisiert und als Indizien für eine antideutsche Gesamtstimmung dargestellt. Vgl. exemplarisch die am Vorabend des Krieges erschienenen Beiträge: Anonymus: Die Liga zur Verteidigung Elsaß-Lothringens, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 129f; Kühn, Hans: Zum Verständnis der elsässischen Seele, in: ebd., S. 134ff; Anonymus: Die „Liga zur Verteidigung Elsaß-Lothringens“ gegen Klebers Schrift „Wir verläumdeten Elsässer“, in: ebd., S. 139; Claß, Heinrich: Aufruf!, in: ebd., S. 165f. 8 Vgl. Puschner, Völkische Bewegung, S. 106-115. 9 Vgl. Weidenfeller, VDA, S. 102-121. 10 Boeckh wurde in der Gründungssitzung des ADV zum zweiten Vorsitzenden gewählt und rückte nach Falkensteins Rücktritt 1892 zum Vorsitzenden auf. 1896 ging der Vorsitz an Wilhelm Wattenbach über. Nach dessen Tod im September 1897 übernahm Boeckh das Amt bis zum Frühjahr 1899, schied sodann endgültig aus der Vereinsleitung aus und wurde zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Vgl. Anonymus, Lebensgang, S. 35.
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früher Repräsentant dieser Richtung, der völkisch-antisemitische Publizist und Gründer des Deutschbundes Friedrich Lange, gehörte nach 1918 zu den aktivsten älteren Vordenkern der jungkonservativen Grenzlandpolitik.11 Zum anderen entstand mit der Ausdifferenzierung des nationalistischen Verbandswesens ein erheblicher Konkurrenzdruck, da auch der 1891 gegründete Alldeutsche Verband12 und der 1894 entstandene Ostmarkenverein13 als Fürsprecher der ‚Auslandsdeutschen‘ auftraten. Insbesondere die Konkurrenz zu den Alldeutschen führte zu einer Adaption aggressiver Vorstellungen vom mitteleuropäischen ‚Auslandsdeutschtum‘ als Bevölkerungsbasis deutscher ‚Weltpolitik‘, was die ursprünglich defensive Zielsetzung der Schulvereine ins Imperialistische verkehrte.14 Neben die Unterstützung ‚auslandsdeutscher‘ Schulen und Büchereien trat nun ein differenziertes kulturpropagandistisches Konzept, das alle deutschsprachigen Bevölkerungssegmente des Auslandes einschloss und ihre Unterstützung durch die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Reiches einforderte.15 Ziel wurde die völkische Mobilmachung der ‚Auslandsdeutschen‘ zu einer geschlossenen ‚Abwehrfront‘ gegen eine Unterwanderung des ‚deutschen Volksbodens‘ durch slawische, ungarische, italienische und französische Organisationen, die sich – hier tauchen die apokalyptischen Einkreisungsszenarien der Zwischenkriegszeit bereits auf – wie ein Ring um die Grenzen gelegt hätten.16 Davon ausgehend veränderten Begriffe wie ‚Grenzschutz‘ und ‚Grenzstützung‘ ihre Bedeutung und bezeichneten die Formierung einer ihrerseits in die Nachbarstaaten hinein wirkenden Gegenorganisation. Seit 1908 forcierte der VDA zudem die wissenschaftliche Untermauerung seiner Grenzlandpolitik durch die Gesellschaft zur Erforschung des Deutschtums im Ausland unter der Leitung des Historikers Karl Lamprecht.17 Im Zuge der Kriegszieldebatte schließlich
11 Weidenfeller, VDA, S. 230. Lange hatte sich u.a. mit seiner Schrift Reines Deutschtum (Berlin 1904) als Protagonist einer rassisch-antisemitischen Utopie der kulturellen Reinheit etabliert. Zu seinem Wirken als Schlüsselfigur der völkischen Bewegung dieser Zeit vgl. Fricke, Dieter: Der „Deutschbund“, in: Puschner u.a. (Hrsg.), Handbuch der „völkischen Bewegung“, S. 328-340; Gossler, Ascan: Friedrich Lange und die „völkische Bewegung“ des Kaiserreichs, in: Archiv für Kulturgeschichte 83 (2001), S. 377-411. Zur grenzlandpolitischen Publizistik Langes vgl. exemplarisch ders., Deutschland und das Deutsche Reich. 12 Zur Gründungsgeschichte vgl. Werner, Lothar: Der Alldeutsche Verband 18901918. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Meinung in den Jahren vor und während des Weltkrieges (Historische Studien, Heft 278), Berlin 1935, S. 24-38 (im Folgenden zitiert als: Werner, Der Alldeutsche Verband). 13 Vgl. Oldenburg, Jens: Der Deutsche Ostmarkenverein (1894-1934), Berlin 2002. 14 Vgl. Weidenfeller, VDA, S. 253-262. 15 Vgl. ebd., S. 304. 16 Barta, Erwin/Bell, Karl: Geschichte der Schutzarbeit am deutschen Volkstum, Dresden o.J. [1930], S. 223. 17 Vgl. Schorn-Schütte, Luise: Karl Lamprecht. Wegbereiter einer historischen Sozialwissenschaft, in: Hammerstein, Notker: Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 153-191.
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vollzog sich eine weitgehende Annäherung des VDA an die aggressive Programmatik des Alldeutschen Verbandes.18 An der Westgrenze wurde der ADV vermutlich 1883 zum ersten Mal aktiv, indem er nach österreichischem Vorbild das deutschsprachige Büchereiwesen in Luxemburg unterstützte.19 Das Engagement im Westen blieb jedoch zunächst punktuell. In den 1889 gegründeten Mitteilungen des Allgemeinen Deutschen Schul-Vereins zur Erhaltung des Deutschtumes im Auslande findet sich zwar eine kontinuierliche Berichterstattung über die Lage des ‚Deutschtums‘ in Österreich-Ungarn, Krain, Südtirol und den russischen Ostseeprovinzen, die Westgrenze indes blieb nahezu unberücksichtigt.20 Bezeichnend ist, dass auch der rheinische Provinzialverband des Schulvereins um 1890 keinerlei Interesse am Westen zeigte, sondern seine ideelle wie finanzielle Unterstützung den deutschsprachigen Böhmen zuteil werden ließ, während die spärliche Förderung der deutschsprachigen Belgier vom schleswig-holsteinisch-lauenburgischen Verband und der Frankfurter Ortsgruppe geleistet wurde.21 Ausgenommen vom Desinteresse an der Westgrenze waren allerdings die Schweiz, wo ein organisatorischer Ableger mit Sitz in Zürich bestand,22 und Flandern, wo der Verein einen „kerndeutschen Stamm“ sächsischen, friesischen und fränkischen „Volkstums“ erblickte, dessen Sympathien für Deutschland „für uns die Hoffnung einer deutschen Zukunft“ mehrten.23 So rückte das Mündungsgebiet von Rhein und Maas früher und stärker als die übrigen Gebiete jenseits der Westgrenze in den Fokus. Seit 1894 solidarisierte der ADV sich mit der Flämischen Bewegung und dem ein Jahr später mit Sitz in Dodrecht gegründeten großniederländischen Algemeene Nederlandsche Verbond.24 1898 erklärte der Verein die „vlämische Frage“ zur Schlüsselfrage „für die Zukunft und Entwicklung unseres heutigen Reiches“ samt seiner künftigen „Weltpolitik“, und zwei Jahre später nährte der an der Schnittstelle zum Alldeutschen Verband agierende Wilhelm Gross die Hoffnung auf einen durch wirtschaftliche Zweckmäßigkeiten legitimierten Anschluss der Niederlande und der Schweiz an das Reich.25 Ein wesentlicher Antrieb, sich der Westgrenze zuzuwenden, ging außerdem von der 1883 unter dem Vorsitz des französischen Nationalisten Charles Tissot als Vereinigung pour la Propagation de la Langue Française dans les Colonies et á l'Etranger gegründete Alliance Française aus. Seit 1884 vom 18 Diese Annäherung fand unter dem Vorsitz von Franz von Reichenaus statt, einem Anhänger des alldeutschen Verbandsvorsitzenden Heinrich Claß. Vgl. Weidenfeller, VDA, S. 356f. 19 Ebd., S. 215. 20 Vgl. exemplarisch Wattenbach, Wilhelm: Wirksamkeit des Allgemeinen Deutschen Schulvereins zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande, in: Mitteilungen des Allgemeinen Deutschen Schul-Vereins zur Erhaltung des Deutschtumes im Auslande, hrsg. v. Freiherr von Ungern-Sternberg, Neue Folge, Heft 6 (1891), S. 1-7. 21 Vgl. die Übersicht: Bestand der Ortsgruppen, in: ebd., Heft 1 (1889), S. 38-48, insbes. S. 39, sowie die Meldungen der Rubrik Aus dem Vereinsleben, ebd., S. 32 sowie in Heft 3 (1890), S. 16. 22 Vgl. Anonymus: Aus der Schweiz, in: ebd., Heft 3 (1890), S. 19f; Anonymus: Deutscher Schulverein in Zürich, in: ebd., S. 20ff. 23 Anonymus [R. B.]: Die flämische Frage, in: ebd., Heft 6 (1891), S. 7ff, hier: 9. 24 Vgl. Weidenfeller, VDA, S. 322, 460. 25 Ebd., S. 272.
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ADV wahrgenommen, verfolgte die mit der politischen Elite eng verflochtene Organisation zwei Ziele: die französische Sprachgemeinschaft durch eine gezielte Sprachpolitik in den Kolonien zu vergrößern und die im Ausland lebenden Franzosen und Freunde der französischen Sprache an Frankreich zu binden; die Unterhaltung französischer Schulen, Bibliotheken, Waisenhäuser und ähnlicher Einrichtungen diente diesen Zielen.27 Das Verhältnis des ADV zur Alliance Française war ambivalent. Betonte der Verein 1884 noch die Gleichartigkeit beider Organisationen,28 so hob er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Diametralität hervor. Den Anlass hierfür gaben insbesondere die Kongresse der Alliance Française in Lüttich (1905) und Arel/Arlon (1908), in denen die französische Presse eine Gegenbewegung gegen eine vorschreitende Germanisierung, die deutschen Nationalisten hingegen Belege für ein französisches Vordringen gegen die deutsche Sprachgrenze erblickten.29 Den französischen Gegenpart imitierend, ging der nunmehrige VDA30 zu einer systematischen Kulturpropaganda jenseits der Sprachgrenze über und entwickelte mit Stipendien für Auslandsdeutsche, Auskunftsstellen für Wirtschaftsfragen, Kooperationsabkommen mit auslandsdeutschen Vereinen und ‚nationalen Wallfahrten‘ in die betreffenden Gebiete neue grenzlandpolitische Instrumentarien.31 Gleichwohl war die Politik des Vereins vor 1914 noch nicht mit einem Raumkonstrukt unterlegt, das dem politisch-geographischen ‚Grenzsaum‘ oder der alldeutschen ‚Westmark‘ entsprochen hätte. Das 1904 von Friedrich Paulsen herausgegebene Handbuch des Deutschtums im Ausland suggerierte kein geschlossenes deutsches Sprach- oder Kulturgebiet jenseits der Westgrenze, sondern stellte separate Sprachinseln und Migrantenmilieus einzeln vor. Die beiden größten als deutsch wahrgenommene Gebiete waren hier die deutschsprachige Schweiz und das Großherzogtum Luxemburg.32 Für Belgien wies das Handbuch lediglich ein in Wahrheit frankophones Gebiet „in und um Verviers“ als deutschsprachig aus, nicht hingegen die deutschsprachigen Gemeinden um Arel und Montzen sowie das neutrale Moresnet. Auch beschränkte sich der Hinweis auf die „Niederdeutschen (Vlaamen)“ auf Belgien und bezog die flämischen Sprachreste in Nordostfrankreich nicht ein.33 Dieser Widerspruch zu den Untersuchungen Boeckhs erklärt sich daraus, dass Petersen vor allem die „deutschen Kolonien“ in den Städten und Industriezentren als ‚Auslandsdeutschtum‘ begriff, ein durch Arbeitsmigration entstandenes Bevölkerungssegment also, das im späteren Diskurs kaum
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Vgl. ebd., S. 319. Vgl. ebd., S. 317f. Vgl. ebd., S. 318. Vgl. ebd., S. 319. Der Schulverein wurde nach jahrelanger Diskussion im Juni 1908 umbenannt. Vgl. ebd., S. 305. 31 Vgl. ebd., S. 319ff. 32 Allgemeiner Deutscher Schulverein zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande (Hrsg.): Handbuch des Deutschtums im Auslande. Mit einer Einleitung von Fr. Paulsen u. einer statistischen, geschichtlichen und wirtschaftlichen Uebersicht von J. H. Henoch sowie einem Adressbuch der deutschen Auslandsschulen v. W. Dibelius u. G. Lenz, Berlin 1904, S. 83f, 90f. 33 Ebd., S. 88ff.
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mehr eine Rolle spielen sollte.34 Dieser Blick auf die Westgrenze erstaunt, wenn wir bedenken, wie sehr sich im alldeutschen Diskurs bereits um die Jahrhundertwende die Vorstellung eines homogenen deutschen Raumes von der Kanalküste bis zur Schweiz entwickelt hatte. Anders als der VDA hatte der Alldeutsche Verband die Westgrenze von Anfang an als politisches Aktionsfeld ausgemacht. Seine Westpolitik war auf die Möglichkeit eines neuerlichen Krieges hin orientiert, an dessen Ende, wie Kurd von Strantz in seiner zwischen 1887 und 1918 mehrfach aktualisierten Programmschrift Das verwelschte Deutschtum jenseits der Westmarken des Reiches35 prophezeite, ein „um Lothringen, Französisch-Flandern, Artrecht, Kammerich und die Freigrafschaft geschwächte[s] Frankreich“ stünde. Dabei ging er davon aus, dass die „Wiedergewinnung“ der „Westmarken“ bereits vor Kriegsausbruch vorbereitet werden müsse. Hierzu bedürfe es einer „offen und amtlich“ betriebenen Offensive in den „Außenländern“,36 um „den französischen Einfluß [...] zu brechen und das einheimische Volkstum daselbst wieder zu Ehren zu bringen.“ Ganz in Arndt’scher Tradition betrachtete Strantz „die gemeinsame Muttersprache“ als das „Band, welches Deutschland mit seinen deutschen Außenländern“, insbesondere mit den Niederlanden und der Schweiz, „verbindet“.37 Mit Blick auf die Chancen, die solche Gemeinsamkeiten boten, klammerte Strantz die beiden Staaten aus seinen Anschlussphantasien aus. Für Belgien hingegen setzte Strantz auf ein politisches Bündnis mit der Flämischen Bewegung, von der er eine Wiederbelebung der „deutschen, herrlichen Vergangenheit“ des Landes und einen aktiven Kampf gegen die Wallonen erhoffte, welche aus seiner Sicht „gar kein eigenes Volkstum“ darstellten, sondern „französierte[.] Vlamländer“ und „Verräter an der heimischen, deutschen Sache“ seien.38 Für den Nordosten Frankreichs und Loth34 So vermerkt das Handbuch zu Frankreich: „Man schätzt die Zahl der Deutschsprachigen, auf annähernd 500.000. Sie wohnen durchweg in den großen Städten und sind Kaufleute, Gelehrte, Künstler, Handwerker, Arbeiter usw., aber auch Erzieherinnen und Hausmädchen. Im Kohlengebiete der Pikardie sind als fluktuierendes Element deutsche Arbeiter.“ (Ebd., S. 88) Die Zählung der ‚Auslandsdeutschen‘ endete denn auch nicht in Frankreich, sondern bezog Großbritannien, Spanien, Portugal und Monaco ein. Auch die beiden vom Schulverein getragenen Schulen befanden sich in Städten mit deutschen Kolonien, nämlich in Amsterdam und Rotterdam (ebd., S. 164). Darüber hinaus listete der Band die Adressen von zwei weiteren Schulen in den Niederlanden, sechs in Belgien, zwei in Frankreich, acht in Großbritannien und Irland, vier in Spanien und einer in Portugal auf, ohne dass ersichtlich ist, ob diese Unterstützung aus Deutschland erfuhren. 35 Strantz, Das verwelschte Deutschtum (2. Aufl.). Die Erstauflage von 1887 ließ sich bibliothekarisch nicht mehr ermitteln und war im Bearbeitungszeitraum auch antiquarisch nicht greifbar. Erweiterte Überarbeitungen der Broschüre sind: ders.: Ihr wollt Elsaß und Lothringen? Wir nehmen ganz Lothringen und mehr! Antwort auf das französische Rachegeschrei, Berlin 1912; ders.: Unser völkisches Kriegsziel. Die Wiederherstellung der alten geschichtlichen Reichsund Volksgrenzen im Osten, Süden und Westen, sowie die künftige deutsche Übersee, Leipzig 1918 (im Folgenden zitiert als: Strantz, Unser völkisches Kriegsziel). 36 Strantz, Das verwelschte Deutschtum, S. 64. 37 Ebd., S. 5f. 38 Ebd., S. 15.
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ringen wiederum präferierte er die Mobilisierung des regional erhaltenen flämischen bzw. deutschen „Volkstums“. Er rechnete außerdem mit einer allmählichen sozialen Umschichtung durch Arbeitsmigranten aus Flandern und Deutschland, wenngleich ihm bewusst war, dass das industrielle Proletariat kaum für die völkische Ideologie zu begeistern sein würde: „Die Erfüllung des französischen Norddepartements mit unserem Volkstum ist freilich als Vorläufer der späteren politischen Wiederbesetzung nur freudig zu begrüßen, sofern diese Arbeiterbevölkerung an ihrem Volkstum festhält, was leider bei deren sozialistischer Verseuchung kaum zu erwarten ist. Die Rückgewinnung dieses altdeutschen Landstrichs ist aber durch die beständige Befruchtung mit dem noch erhaltenen ursprünglichen Volkstum jenseits der Grenze wesentlich erleichtert. Die regelmäßige Abwanderung aus Belgien in dieses heutige französische Gebiet verdeutscht das Land ebenso, wie die elsässische Volkswoge Lothringen jenseits des Vogesenkammes, mögen auch die deutschen und vlämischen Eindringlinge nur wenig von nationaler Gesinnung getragen sein oder leider unser Reich mit offener Feindseligkeit verlassen haben.“39
Strantz adressierte diese grenzlandpolitische Strategie an den Alldeutschen Verband, den er als wichtigsten Akteur einer solchen annexionsvorbereitenden Westpolitik ansah.40 Getragen von der Erwartung eines bevorstehenden Krieges, schloss sich der Verband dieser Linie 1911 offiziell an.41 Sieht man von den Kampagnen gegen die Föderalisierung des Reichslandes ab, so konzentrierten die Alldeutschen ihre Westpolitik vor allem auf die Niederlande, Belgien und Nordostfrankreich. Der Verband hatte den flämischen Nationalismus 1893 als Verbündeten entdeckt und kurz darauf einen Sonderausschuß für vlamische Angelegenheiten unter dem Vorsitz des Generalsekretärs des Essener Bergbauvereins und Zeitungsverlegers Theodor Reismann-Grone konstituiert.42 Welche Methoden der Verband dabei anwandte, fasste Lothar Werner in einer 1935 erschienenen Untersuchung zusammen: „Im Jahre 1895 nahmen Vertreter des AV an dem niederländischen Sprachkongreß in Antwerpen teil, und auf dem alldeutschen Verbandstag des gleichen Jahres sprach unter großem Beifall der Vlamenführer und Dichter Prof. Pol de Mont. Nach einer vorübergehenden Trübung des Verhältnisses zum Vlämischen Volksrat, die ‚durch 43 das Ungeschick und den Übereifer Unberufener‘ ausgelöst war, wurde die Bedeutung der Vlamenfrage durch Einsetzung eines Ausschusses zu ihrer Bearbeitung innerhalb des Verbandes anerkannt, der unter der Leitung von Dr. Reismann-Grone und Dr. Ellenbeck-Krefeld stand. Der Annäherung zwischen Reichsdeutschen und Vlamen und der Vertiefung des gegenseitigen Verständnisses diente die 1898 von 39 40 41 42
Ebd., S. 17f. Ebd., S. 67. Vgl. Strantz, Unser völkisches Kriegsziel, S. 8. Vgl. [Reismann-Grone]: Unsere Stellung zu den Vlamen, in: Alldeutsche Blätter 8 (1898), S. 113f, hier: 113; Werner, Der Alldeutsche Verband, S. 121ff. – Zu Reismann-Grone vgl. auch Frech, S.: Theodor Reismann-Grone (18631949). Ein radikaler Nationalist zwischen Kaiserreich und Entnazifizierung, in: Essener Beiträge 114 (2002), S. 35-57. 43 Werner zitiert hier den in den Alldeutschen Blättern 10 (1900), S. 83ff, abgedruckten Rechenschaftsbericht des Verbandes.
134 | IMAGINIERTER WESTEN dem Vorstandsmitglied des AV Frhrn. von Ziegesar-Brüssel begründete deutschvlämische Monatsschrift ‚Germania‘, die freilich trotz der Unterstützung des Verbandes nur auf einen kleinen gebildeten Leserkreis beschränkt blieb und schon nach wenigen Jahren ihr Erscheinen wieder einstellen mußte. Um das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Niederdeutschen in breiterer Öffentlichkeit zu beleben, veranstalteten rheinische Mitglieder des Verbandes eine Wanderausstellung vlämischer Malerei in verschiedenen Städten des Reiches, und an den Familienabenden einzelner Ortsgruppen wurde aus den Werken vlämischer Dichter vorgetragen. Zahlreiche Beiträge in den Alld. Blättern gaben einen Überblick über die Fortschritte der vlämischen Bewegung – so über ihren Kampf um die Vlamisierung der Genter 44 Hochschule – zugleich aber über die welsche Gegenarbeit.“
Sukzessive entwickelten die Alldeutschen also eine Vielzahl medialer Inszenierungen der deutsch-flämischen Zusammengehörigkeit – von der Dichterlesung im kleinen Kreis über Kunstausstellungen bis hin zu einer ersten grenzübergreifend konzipierten Zeitschrift, die ungeachtet ihres geringen Erfolgs einen frühen Vorläufer der grenzlandpolitischen Gründungen der Kriegs- und Zwischenkriegszeit darstellte.45 Den flämischen Nationalismus flankierend, wies der Alldeutsche Verband den Niederlanden die Rolle eines Bündnispartners zu. Er kalkulierte damit, dass ihre wirtschaftlichen Beziehungen zum deutschen Hinterland und die Notwendigkeit zur Verteidigung ihres Kolonialbesitzes die Niederländer am Ende zu einer engeren Anlehnung an das Deutsche Reich bewegen würden.46 Gegenüber den Niederlanden setzte der Verband also weniger auf eine völkische Mobilisierung, sondern auf einen gemeinsame Interessen betonenden Pragmatismus. Die alldeutsche Haltung gegenüber Luxemburg blieb hingegen ambivalent. Tendierte der Verbandsvorsitzende Heinrich Claß zeitweise dazu, das Großherzogtum „im Buche des gesamtdeutschen Volkstums [...] als toter Posten“ abzuschreiben,47 so hoffte man andererseits, ein in der luxemburgischen Landbevölkerung vermutetes ‚Deutschtum‘ nach der Annexion des Landes wieder zur Geltung bringen zu können. Welchen Raumkonzepten aber folgte die alldeutsche Westpolitik? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst das alldeutsche Konzept der Grenze klären. Dieses beruhte auf zwei Säulen: einer Aktualisierung des Grenzmark-Begriffs durch den Rekurs auf die Militärgrenzen des habsburgischen Reiches sowie einer politischen Anwendung und Fortschreibung der Theorien jenes Friedrich Ratzel, der seit dem Gründungsjahr 1891 dem Gesamtvorstand des Alldeutschen Verbandes angehörte.48
44 Werner, Der Alldeutsche Verband, S. 121f. 45 Die Zeitschrift, deren Redaktionsrat Vertreter der flämischen Bewegung angehörten, sollte als Sammelbecken des flämischen Nationalismus und als dessen Sprachrohr im Deutschen Reich dienen. Zur Zeitschrift vgl. ausführlich Corte, Bruno de: De tijdschrift Germania (1898-1905) in det kader van de VlaamsDuitse betrekkingen, Diss., Leuven 1982. 46 Vgl. Werner, Der Alldeutsche Verband, S. 122f. 47 Einhart [pseud.: Heinrich Claß]: Deutsche Geschichte, 11. Aufl., Leipzig 1922, S. 347. 48 Vgl. Werner, Der Alldeutsche Verband, S. 32.
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„ M ar k e n “ u n d „ M i l i t är g r e n z e n “ Der Rekurs auf die Marken des mittelalterlichen und die Militärgrenzen des neuzeitlichen Reiches bildeten den Kern des alldeutschen Konzepts der Grenze. Allerdings fand dieser Rekurs erst auf dem Umweg über radikale Zukunftsentwürfe Eingang in die offizielle Verbandspolitik, deren Autoren mit ihren extremen militaristischen, rassistischen und antisemitischen Positionen den äußersten rechten Rand der alldeutschen Diskursgemeinschaft bildeten. Dieser Umweg erlaubte es, radikalisierende Positionen anonym zur Diskussion zu stellen, um sie über Rezensionen und Debattenbeiträge in der Verbandspresse diskursfähig zu machen und es dem Verband zu ermöglichen, sich innerhalb eines nach rechts geöffneten Spektrums neu zu positionieren. Der politische Extremismus und der häufig dilettantische Charakter solcher Schriften belasteten den Verband dabei nicht, sondern blieben Sache des ungenannten Verfassers. Positionierte der Alldeutsche Verband sich als eine zwar bürgerliche, aber über dem bürgerlichen Nationalstaat stehende Vertretung der völkisch verstandenen Nation, so gingen die Anonymi einen Schritt weiter, indem sie sich rascher und heftiger als der Verband von den Normen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Mechanismen zur Begrenzung der Gewalt lossagten. Die Forderung nach neuen Marken verband das Ziel, Siedlungsland zu schaffen, mit der Absicht, die von französischen, dänischen und polnischen Minderheiten bewohnten Grenzgebiete des Reiches zu germanisieren. Bereits 1875 hatte der Orientalist Paul Bötticher alias Paul de Lagarde die Ansiedlung von Unteroffizieren zur Kolonisierung der gemischtsprachigen Gebiete an der polnischen und dänischen Grenze vorgeschlagen. Anders als die alldeutschen Anonymi ordnete er diese Forderung jedoch noch nicht in das Szenario eines kommenden Krieges ein, sondern entwickelte sie im Zusammenhang mit Überlegungen zur Landgewinnung durch innere Kolonisation und die Abdeichung des deutschen Wattenmeeres.49 In einer 1895 unter dem Titel Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1950 veröffentlichten Zukunftsvision hingegen wurde der Krieg zum Medium der Transformation des Deutschen Reiches in einen großdeutschen „Volksstaat“, der zwar „nicht ausschließlich von Deutschen bewohnt“, jedoch „ausschließlich von Deutschen beherrscht“ werde. Der anonyme Autor legitimierte diesen Herrschaftsanspruch durch den Verweis auf die mittelalterlichen Ostmarken: „Dadurch, daß die Deutschen allein politische Rechte ausüben, im Heer und in der Marine dienen und Grundbesitz erwerben können, erlangen sie das im Mittelalter vorhandene Bewusstsein wieder, ein Herrenvolk zu sein. Sie dulden die unter ihnen lebenden Fremden gern zur Ausführung der niederen Handarbeiten“.50 Konkreter sprach sich ein weiterer Anonymus aus, der eine künftige deutsche Regierung fünf Jahre später aufforderte, Frankreich und Russland in einem kommenden Krieg „breite Landstriche abzunehmen und 49 Vgl. Lagarde, Paul de: Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs, ein Bericht, in: ders.: Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand. 3. Abdruck, Göttingen 1892, S. 98-167, hier: 109f. 50 Anonymus: Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1950. Von einem Alldeutschen, 2. Aufl., Berlin 1895, S. 47f (im Folgenden zitiert als: Anonymus, Großdeutschland und Mitteleuropa). (Herv. i. Orig.)
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als Marken vor unsere West- und Ostgrenze zu legen“. Ihm schwebte vor, durch die Ausweisung nichtdeutscher Bewohner „tabula rasa zu machen“ und die „Marken“ anschließend „deutsch zu kolonisieren“.51 Einen noch radikaleren Ton schlug das 1896 von Adolf Reinecke52 gegründete Blatt Heimdall53 an. Reinecke zählte neben Houston Stewart Chamberlain, Paul de Lagarde, Ludwig Schemann, Philipp Stauff, Friedrich Lange, Theodor Fritsch, Friedrich Lienhard, Adolf Bartels und anderen zu den frühen Vordenkern und Akteuren völkischer Zirkel der wilhelminischen Zeit. Mit einer Reihe assoziierter Gruppen, der so genannten HeimdallGemeinde, stand Reineckes Blatt um die Jahrhundertwende im Zentrum eines extremen, rassenideologisch und antisemitisch untermauerten und ‚deutschgläubig‘ überwölbten Expansionismus.54 In Heimdall fungierten die Marken als Bausteine eines „Germanischen Bundes“, der nach dem Ende des „Zukunfts-Krieges“ aus dem Deutschen Reich und Österreich erwachsen55 und eine Weltherrschaft der „Arier“ unter dem Zeichen des Hakenkreuzes56 begründen werde. Die Marken wurden hier Teil einer Utopie der rassischen Reinheit, zu der neben einem Programm der „Rassen-Veredelung“ und der „[Befreiung] von der Judenplage“57 auch der „Zug“ germanischer Siedler „nach dem Osten“ gehörte, wo nach der Auslöschung anderer Völker „Land in Fülle“58 zur Verfügung stehen werde. Während das Konzept erneuerter 51 Anonymus: Deutschland bei Beginn des XX. Jahrhunderts. Von einem Deutschen, Berlin 1900, S. 213. – Bezeichnend ist, dass die geforderte Vertreibung in ein besiegtes und verkleinertes Frankreich mit der Feststellung eines französischen Bevölkerungsrückgangs einherging, der zum Verlust der französischen Weltmachtstellung führen und Deutschland unweigerlich das Übergewicht geben werde (ebd. S. 54-59). 52 Zu Reineckes Bedeutung als Schlüsselfigur der völkischen Bewegung vgl. Puschner, Völkische Bewegung, S. 31-35. 53 Die Zeitschrift Heimdall entstand 1896 aus den von Reinecke herausgegebenen Mittheilungen des Deutschen Sprachvereins Berlin, der Mittheilungen des Allgemeinen Deutschen Schriftvereins und Frei-Deutschland. Die Rubriken Reines Deutschtum und All-Deutschtum stellten die Verbindung zum Alldeutschen Verband sowie zu zahlreichen antisemitischen, rassenideologischen und heidnisch-esoterischen Vereinen her. Vgl. Schriftleitung: Geleitwort, in: Heimdall 1 (1896), S. 1. – Im 25. Jahrgang ging Heimdall 1920 in den für die Herausbildung der NS-Ideologie aufschlussreichen Sis-Verlag von Richard Jubelt über. Vgl. Ulbricht, Justus H.: Das völkische Verlagswesen im deutschen Kaiserreich, in: Puschner u.a. (Hrsg.), Handbuch der „völkischen Bewegung“, S. 277-301, hier: 283, 294f (Anm. 94); Puschner, Völkische Bewegung, S. 31-35. 54 Vgl. Puschner, Uwe: Adolf (Ferdinand L.) Reinecke, in: ders. u.a. (Hrsg.), Handbuch der „völkischen Bewegung“, S. 922f. 55 Reinecke, Adolf [anonym]: Mehrung des Reiches und sonstige Gestaltungen der Zukunft, in: Heimdall 2 (1897), S. 1-3, hier: 3 (im Folgenden zitiert als: Reinecke, Mehrung des Reiches). 56 Aryaduta [Pseud.]: Die Erkenntnis des Rassentums, in: Heimdall 8 (1903), S. 17ff, 26ff, 33f, 40-44; dort auch eine der frühesten grafischen Darstellungen des Hakenkreuzes. 57 Anonymus: Ein Hochbild späterer Geschlechterfolgen, in: Heimdall 1 (1896), S. 25f. 58 Reinecke: Mehrung des Reiches, S. 3. – Zur Ostpolitik hieß es in der Zeitschrift auch: „Aber denken müssen wir ernstlich auch, dass es unsere uns von der Vorsehung zugewiesene Aufgabe ist, dass wir die für eigene Staaten-Bildung und Gesittung unfähigen Zwergvölker auslöschen müssen. Ehe wir diese Aufgabe
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Marken hier also frühzeitig eine Zuspitzung erfuhr, die zentrale Elemente des Nationalsozialismus vorwegnahm, entwickelte es sich in der offiziellen Presse des Alldeutschen Verbandes moderater. Im Oktober 1894 veröffentlichte der Verbandsvorsitzende Ernst Hasse59 in den Alldeutschen Blättern einen kurzen, aber programmatischen Artikel über die militär-, haushalts- und sozialpolitischen Probleme, die sich aus Sicht des Verbandes aus der Verkürzung der militärischen Dienstpflicht und der dadurch bedingten Verknappung des Unteroffiziersnachwuchses ergaben. Hasse fürchtete, dass die längere Beanspruchung der verbleibenden Unteroffiziere zu einer „Entfremdung dieser Elemente unseres Volkes [...] aus dem eigentlichen Erwerbsleben“ führen und dazu beitragen werde, dass Soldaten bäuerlicher Herkunft nicht wieder zur Landwirtschaft zurückkehrten. Die Armeeverwaltung solle sich deshalb bemühen, „einen Teil des am meisten der landwirtschaftlichen Arbeit entfremdeten Elements“, nämlich die so genannten Unteroffizierskapitulanten, „dem Landleben wieder zuzuführen.“60 Unter der Überschrift Neue deutsche Militärgrenzen schlug er nun vor, die Kapitulanten nicht mehr mit Prämien, Renten oder Beamtenposten zu versorgen, sondern zur Germanisierung der gemischtsprachigen innerdeutschen Grenzgebiete heranzuziehen: „Wir schlagen deshalb vor, solchen gedienten Unteroffizieren, die aus dem bäuerlichen Stande und aus dem der bäuerlichen Arbeiter hervorgegangen sind, die landwirtschaftlich gebildete Frauen geheiratet haben und einige andere wirtschaftliche Bedingungen erfüllen können, anstelle barer Prämien oder Renten lieber bäuerliche Rentengüter zu verleihen. Und zwar sind ihnen diese Güter in geschlossenen Ansiedlungen in den deutschen Ost-, Nord- und Westmarken anzuweisen. Denn wie alle militärischen und wirtschaftlichen Maßregeln müssen auch diese in Zukunft in den Dienst der deutsch-nationalen Sache gestellt werden. Das französische Sprachgebiet in Lothringen, das dänische in Nordschleswig, vor allem aber das polnische und littauische [sic] im Osten können auf diese Weise allmählich germanisiert und bäuerlich neu besiedelt werden.“61
Neu war, dass Hasse den Rekurs auf die Marken zum Konzept der ‚Militärgrenzen‘ weiterentwickelte. Denn anders als die Marken waren diese keine historiographisch tradierte, sondern eine zeitgenössisch erlebte Einrichtung, die einen Sonderfall in der Geschichte der modernen europäischen Grenzen darstellte. Während sich die übrigen Staatsgrenzen, wie Ratzel betont hatte, zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert zu mathematisch bestimmten Linien entwickelt hatten, bestand mit der Militärgrenze ein großflächiger, durch spezifische Rechtsformen, Militärverbände, Verwaltungsorgane und Sozialstrukturen charakterisierter Grenz-Raum, der vor allem dem Schutz vor dem Osmanischen Reich diente. 1535 hatte Ferdinand I. erstmals slawische nicht gelöst und diese Völkerschaften nicht beseitigt haben, werden wir keine Ruhe zu großzügiger Staatskunst, zu lebensvoller Ausbildung unserer deutschen Gesittung erlangen. Diese Völker müssen zerrieben, vertilgt werden.“ (Reinecke, Adolf: Östliche Zukunfts-Staatskunst Alldeutschlands, in: Heimdall 10 [1905], S. 61ff, hier: 61). 59 Hasse war Statistikprofessor in Leipzig und Mitglied des Reichstages. Vgl. Werner, Der Alldeutsche Verband, S. 34ff. 60 Hasse, Neue deutsche Militärgrenzen, S. 166. 61 Ebd.
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Flüchtlinge, die sich dem kaiserlichen Heer angeschlossen hatten, in Oberslawonien angesiedelt. Gemeinsam mit einem zweiten, 1544 in Kroatien gebildeten Gebiet bildete es den Kern der Konfin, wie die Militärgrenze in Anlehnung an lat. confinium auch genannt wurde. Die Bevölkerung der Militärgrenze bestand aus Wehrbauern, die als Gegenleistung für ihre permanente Militärpflicht mit Land belehnt und von der Leibeigenschaft befreit waren. Nach mehrfacher Vergrößerung war zu Beginn des 19. Jahrhunderts die gesamte habsburgische Südostgrenze zwischen der kroatischen Adriaküste und den Karpaten als Militärgrenze eingerichtet. Allerdings verlor dieser Cordon sanitaire mit der Krise des Osmanischen Reiches seine militärische Bedeutung, sodass er im 19. Jahrhundert vor allem polizeilichen und bevölkerungsyhgienischen Zwecken wie der Bekämpfung des Schmuggels oder dem Schutz vor Epidemien diente. Mit dem österreichisch-ungarischen Grenzgesetz von 1850 und der Gemeindeverfassung von 1862 schließlich setzte eine Entmilitarisierung und Verkleinerung der Militärgrenze ein, die mit der Auflösung ihrer letzten Abschnitte am 1. August 1881 ihren Abschluss fand.62 Hasse plädierte weniger für eine Wiederherstellung dieses Cordons, sondern entwarf ein modernisiertes Konzept der Militärgrenze, indem er die biopolitische Funktion, die sie zuletzt besessen hatte, mit volkstumspolitischer Zielsetzung neu formulierte: Hatte die alte Militärgrenze der Abwehr äußerer Gefahren gedient, sollten die neuen Militärgrenzen Instrument der nationalen Homogenisierung, ethnischen Hierarchisierung und sozialen Harmonisierung im Inneren sein. Sie sollte, wie er mit den Worten des Generals Leopold von Gerlach sagte, den Staat befähigen, „die herrschenden Teile seiner Einwohner zu vermehren und den unterworfenen Teil zu vermindern.“63 Hasse unterließ es zunächst, seinen Vorschlag weiter zu konkretisieren. Erst in seinem programmatischen Hauptwerk Deutsche Politik (1905-08) griff er den Gedanken wieder auf und ordnete ihn in die Vision eines autoritär geführten Großdeutschlands ein, das seine Staatsgrenzen mit dem „deutschen Volksboden“ in „Uebereinstimmung“ gebracht haben würde. Um dieses Ziel zu erreichen, forderte er im Anschluss an die Lebensraum-Theorie Ratzels, dass der Staat seine gesamte innere und äußere Politik darauf konzentrieren müsse, „alle noch fremdvölkisch besiedelten Reste des Reichsgebietes einzudeutschen und dem ausdehnungsbedürftigen deutschen Volke nach dem Maße seiner Ausdehnungskraft und Ausdehnungslust neuen Volksboden zur Verfügung zu stellen.“ Gelänge eine solche „Erweiterung des deutschen Volksbodens in Mitteleuropa“, so vollendeten die Deutschen 62 Vgl. Amstadt, Jakob: Die k. k. Militärgrenze; Heeresgeschichtliches Museum (Hrsg.): Die k. k. Militärgrenze. Beiträge zu ihrer Geschichte (Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums, Bd. 6), Wien 1973; Kaser, Karl: Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft in der kroatischslawonischen Militärgrenze (1535-1881), Graz 1986. Hingewiesen sei auch auf das Teilprojekt B3 „Permanente Kriegserfahrung. Raumkonstruktion und Lebensform in der Österreichischen Militärgrenze“ des SFB 437 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ der Universität Tübingen. 63 Zit. n. Hasse, Neue deutsche Militärgrenzen (orig.: Gerlach, Leopold v.: Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold von Gerlachs, Generals der Infanterie und General-Adjutanten König Friedrich Wilhelms IV., Berlin 1891/92, Bd. II, S. 24).
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ihr größtes, mit der Germanisierung der slawischen „Grenzmarken“ begonnenes Werk – versäumten sie es, so drohe der Untergang.64 Hatte Hasse die neuen Militärgrenzen zunächst innerhalb des Staates verortet, waren sie nun zugleich Bestandteile eines expansionistischen Programms. Die Legitimation hierfür entlehnte er der Politischen Geographie Ratzels. Wie dieser, betrachtete er die Grenzen nur als temporäre Fixierung einer „im ewigen Flusse“ befindlichen Bewegung,65 die aus dem Gesetz der wachsenden Räume notwendig folge: „Die Erde wird unausgesetzt neu aufgeteilt unter die Starken und Mächtigen. Die kleinen Völker verschwinden, sie müssen in größeren Nachbargebilden aufgehen.“66 In dieser Logik fielen Expansions- und Grenzlandpolitik in eins: „Die besten Siedlungskolonien, die Deutschland erwerben kann, liegen nicht in fernen Weltteilen, sondern in Europa an den Grenzen des Deutschen Reiches. Sie brauchen nicht erst erworben und neu besiedelt zu werden, sondern wir müssen sie nur festhalten und mit deutschem Blute wieder auffrischen und staatlich organisieren, was deutsches Blut und deutsches Staatstum früher erworben haben.“67
Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, das Hasse einen Band der Deutschen Politik ausschließlich der Grenzpolitik widmete und das Thema im Band Die Besiedlung des deutschen Volksbodens ebenfalls aufgriff. Gestützt auf historische Quellen zur rechtlichen Privilegierung der deutschen gegenüber der slawischen Bevölkerung in den mittelalterlichen Ostmarken, konkretisierte er dabei vor allem die innenpolitische Seite seines Konzepts. Die in den Gebieten mit französischen, dänischen und polnischen Bewohnern einzurichtenden „Marken“ seien, so forderte er, „mit Sonderrechten“ zu versehen, die die bürgerlichen Freiheiten auf Deutsche im völkischen Sinne beschränkten und fremdsprachige Staatsbürger für einen Zeitraum von 30 bis 50 Jahren von ihnen ausschlössen.68 Durch forcierte Bodenkäufe und Enteignungen hoffte er, Land für deutsche Siedler gewinnen und die sprachlichen Minderheiten durch einen zusammenhängenden deutschen Gebietsstreifen von der Grenze abtrennen zu können. Eine Reihe alltagsweltlicher Repressalien sollte die Angehörigen der Minderheiten nötigen, die Militärgrenze aus eigenen Stücken zu verlassen. Ein Ausbau des landwirtschaftlichen Schulwesens, der kommunalen Selbstverwaltung und der Genossenschaften sollte im Gegenzug Anreize für siedlungswillige Deutsche schaffen. Weitere Maßnahmen beschränkten den Aufenthalt und Grundbesitz in der Nähe von Festungen, Kriegshäfen und strategisch bedeutenden Punkten und richteten das Verkehrs- und Nachrichtenwesen der Militärgrenze auf den Kriegsfall aus. Die regionale Verwaltung der Militärgrenzen betrachtete Hasse nach habsburgischem Vorbild als Aufgabe von Offizieren, während ein neu einzuset64 Hasse, Ernst: Deutsche Politik, Bd. I, Heft 2: Die Besiedlung des deutschen Volksbodens, München 1905, S. 125f (im Folgenden zitiert als: Hasse, Deutsche Politik – Besiedlung). 65 Ders.: Deutsche Politik, Bd. I, Heft 3: Deutsche Grenzpolitik, München 1906, S. 10 (im Folgenden zitiert als: Hasse, Deutsche Politik – Grenzpolitik). 66 Ebd., S. 169. 67 Ebd., S. 171. 68 Vgl. ders.: Deutsche Politik, Bd. I, Heft 1: Das Deutsche Reich als Nationalstaat, München 1905, S. 51 (im Folgenden zitiert als: Hasse, Deutsche Politik – Das Deutsche Reich).
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zender „Minister für die Marken“ die zersplitterten Kompetenzen mit straffer Hand zusammenführen müsse.69 Deutete Hasse die Einrichtung weiterer Militärgrenzen im Zuge eines großdeutschen Expansionskrieges bereits an, so stellte sein Nachfolger, der Mainzer Rechtsanwalt Heinrich Claß, sie in das Zentrum seines grenzlandpolitischen Programms. In seiner viel zitierten, am Vorabend des Ersten Weltkrieges unter dem Pseudonym Daniel Frymann veröffentlichten Programmschrift Wenn ich der Kaiser wär’ findet sich die Forderung nach Einrichtung eines Militärgrenzregimes, sowohl mit Blick auf das Reichsland Elsass-Lothringen, als auch auf die im Falle eines Krieges zu annektierenden Gebiete im Osten und Westen des Reiches. Unmittelbar nach Kriegsbeginn spitzte er diese Vorstellung zum Konzept einer „Annexion frei von Menschen“ zu, auf das wir weiter unten noch eingehen werden.70 Wie sein Vorgänger stützte auch Claß sich auf die Geographie Ratzels, allerdings vermittelt über Felix Hänsch, einen Ratzel-Schüler, der nach Hasses Tod die Bearbeitung und Herausgabe der Deutschen Politik übernommen hatte und bei Beginn des Ersten Weltkrieges zu den engsten Vertrauten des neuen Verbandsvorsitzenden zählte.71 Während des Krieges arbeitete Hänsch das politisch-geographische Fundament der Annexionsforderungen des Verbandes weiter aus und entwickelte eine Reihe konkreter politischer, juristischer und administrativer Empfehlungen, die er 1917 in seiner Monographie An der Schwelle des größeren Reiches zusammenfasste.72 Mit ihr legte er ein wissenschaftlich fundiertes Programm zur territorialen und ethnischen Neuordnung Europas vor, das die alldeutschen Annexionsforderungen auf ein realisierbar erscheinendes Maß beschränkte, ohne das strategische Ziel eines mitteleuropäisch expandierten Staates mit homogener deutscher Bevölkerung aufzugeben. Hänsch rekurrierte nicht mehr allein auf Marken und Militärgrenzen. Vielmehr schloss er sein Programm an die bodenreformerischen Vorstellungen und Utopien seiner Zeit an, in denen die Suche nach „Neu-“ oder „Freiland“ jenseits der durch Landflucht und Proletarisierung geprägten Lebenswelten ein Grundmotiv bildete.73 Doch verortete er die „Neuländer“ nicht innerhalb, sondern außerhalb der Grenzen, und entsprechend sollten nicht die Neuverteilung des Großgrundbesitzes oder die Urbarmachung von Wildnissen, sondern gewaltsame Eroberungen die sozialpolitischen Probleme der Zweiten Industriellen Revolution lösen. „Wir wollen neuen Raum“,74
69 Vgl. ders., Deutsche Politik – Besiedlung, S. 127-137, 149ff. 70 Siehe Kapitel Die „Westmark“ als Kriegsziel im Ersten Weltkrieg. 71 Vgl. Claß, Heinrich: Wider den Strom. Vom Werden und Wachsen der nationalen Opposition im alten Reich, Leipzig 1932, S. 119, 134. 72 Hänsch, An der Schwelle. 73 Zum Stellenwert der Begriffe „Neuland“ und „Freiland“ – letzterer eng verbunden mit der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell – innerhalb der Reformbewegungen vgl. Feuchter-Schawelka, Anne: Siedlungs- und Landkommunebewegung, in: Ferbs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 277-244 (dort auch Belege für die Verwendung des Begriffs „Landnahme“ durch die völkische Siedlungsbewegung, S.234); Onken, Werner: Freiland – Freigeld, in: ebd., S. 277-288. 74 Hänsch, An der Schwelle, S. 8.
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„Wir sollen und wollen Land nehmen, viel Land“,75 „Der Krieg muß einem kommenden Geschlechte deutscher Siedler neue Wege weisen – über die heutigen Grenzen hinaus in angrenzende Landgebiete“,76 so lautete die zuweilen parolenartig wiederholte Kernforderung des Buches. Das Konzept der Militärgrenzen bedeutete nun eine Politik der „Landnahme“77 und des „Austausch[es] der Bevölkerungen“.78 Hänsch ging davon aus, dass diese Bevölkerungsverschiebungen nicht allein mit den Mitteln eines Militärgrenzregimes, also durch eine ethnische Hierarchisierung der Bevölkerung,79 eine Enteignung nichtdeutschsprachiger Grundbesitzer und einen „stille[n] Bevölkerungsaustausch“, vollzogen werden könne.80 Er forderte daher mit Claß eine „Annexion frei von Menschen“: Die besiegten Staaten sollten per Friedensdiktat genötigt werden, die von Deutschland beanspruchten Gebiete vor der Annexion von ihren Bewohnern zu räumen und diese auf eigene Kosten neu anzusiedeln und zu entschädigen; das Land sollte menschenleer, aber mitsamt seiner Produktionsanlagen, Rohstoffe, Gebäude und Verkehrsnetze an Deutschland fallen. Anders als Claß sprach sich Hänsch jedoch nicht für Bevölkerungsverschiebungen im Millionenmaßstab, sondern für eine differenzierte Anwendung dieses Gewaltmittels aus und wollte es insbesondere in der Umgebung von Festungen, an strategisch wichtigen Verkehrswegen sowie entlang der Grenzen angewandt sehen.81 Auf dem wissenschaftlichen Fundament der Politischen Geographie machte sich der Verband also einen Teil der extremen Zukunftsvisionen der Jahrhundertwende zu Eigen. Dabei löste er die zunächst in die Zukunft projizierten geo- und biopolitischen Maßnahmen aus ihrem utopischen Kontext heraus und bezog sie auf die Handlungsmöglichkeiten, die sich in der Situation des Krieges für eine alldeutsche Politik zu eröffnen schienen. Betrachten wir nun, wie die Konzepte der ‚Marken‘ und ‚Militärgrenzen‘ vor dem Ersten Weltkrieg auf die Westgrenze übertragen wurden.
„ W e stm a r k “ - E n t w ü r f e und Kriegsfiktionen vor 1914 Wie das Konzept der Marken, Militärgrenzen und Bevölkerungsverschiebungen, so entwickelte sich auch die Vorstellung einer ‚Westmark‘ im Wechselspiel der offiziellen Verbandspolitik und radikalerer Strömungen, die um die Jahrhundertwende eine Vielzahl von Entwürfen eines territorial, so-
75 Ebd., S. 7. 76 Ebd., S. 10. 77 Der Begriff „Landnahme“ wurde im alldeutschen Diskurs auf verschiedene Weise begründet; neben der Verkopplung mit innerer Kolonisation und der Bodenreformbewegung leitete der Rechtsprofessor Erich Jung aus dem Gewaltbegriff des bürgerlichen Rechts, insbesondere den Bestimmungen für Zwangsvollstreckung, Notwehr und Selbsthilfe, ein „Recht auf Landnahme“ ab. Vgl. Jung, Erich: Unser Recht auf Landnahme, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 226-229, insbes. S. 228. 78 Hänsch, An der Schwelle, S. 12. 79 Ebd., S. 61ff. 80 Ebd., S. 71ff. 81 Ebd., S. 58.
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zial und ethnisch auf brutale Weise neu geordneten Kontinents publizierten. Dabei teilten die Akteure zwar die Erwartung, dass das Deutsche Reich in einem kommenden Krieg eine großflächige Westexpansion vollziehen werde, doch unterschieden sich ihre Vorstellungen hinsichtlich der räumlichen Dimension und bevölkerungspolitischen Rigorosität erheblich. Im Diskursverlauf können wir daher zunächst zwei, später drei Raumkonzepte erkennen: Erstens den Entwurf einer Angleichung der Staats- an die Sprachgrenze im Sinne Arndts und Boeckhs, der sich im Verband allerdings nicht durchsetzen konnte. Allerdings korrespondierte er mit Vorstellungen einer niederländischflämischen Sonderrolle, die durchaus wirksam bleiben sollten. Zweitens findet sich, im alldeutschen Kontext erstmals formuliert von Kurd von Strantz, die auch für den jungkonservativen Diskurs prägende Vorstellung der Annexion eines romanischen Streifens von der Kanalküste bis zur Rhône. Drittens schließlich begegnet uns, wenngleich erst im unmittelbaren Vorfeld des Krieges, das Szenario einer vollständigen Annexion und Zonierung Frankreichs. Wir haben es also mit einer Oszillation von drei konzeptionell unterschiedlichen West-Räumen zu tun. Beginnen wir mit Strantz und seiner bereits erwähnten Schrift Das verwelschte Deutschtum jenseits der Westmarken des Reiches.82 Die Haltung ihres Autors gegenüber Frankreich war von der Kriegsbegeisterung des Jahres 1871 und der Idee eines zweiten und finalen „Rachekrieg[es]“ beherrscht, der die „Volks- und Reichgrenzen“ von 1552 auf französischem Terrain wieder herstellen werde.83 Wie Menzel angesichts der Rheinkrise, sah er seine Aufgabe darin, der deutschen Politik für den Fall dieses Krieges eine Legitimation für die ‚erforderlichen‘ Annexionen an die Hand zu geben.84 Dabei verwendete er den Begriff ‚Westmark‘ noch nicht für die beanspruchten frankophonen Gebiete selbst, sondern für die deutschsprachigen Gebiete entlang der Westgrenze. Das jenseitige Terrain hingegen beschrieb er als einen „breiten Gebietsstreifen“, der die Sprachgrenze „von Norden nach Süden“ begleite und „dessen Bewohner durch Geschichte und Nationalität dem Deutschtume zugewiesen“ seien. Diesen Streifen identifizierte er mit dem 1512 unter Maximilian I. eingerichteten Burgundischen Reichskreis.85 Strantz unterschied zwischen einem schwäbischen Süden und einem fränkischen Norden dieses Streifens, wobei er die vorausgegangenen militärischen und kulturellen Leistungen beider Stämme als konstitutiv für die deutsche Nationswerdung ansah. Der Burgundische Reichskreis erschien dadurch als Klammer zweier im Verlauf der Geschichte teilweise „verwelschter“ und „französierter“ Kernräume der deutschen Geschichte, als ein doppeltes symbolisches Zentrum der Nation außerhalb ihrer aktuellen staatlichen und sprachlichen Grenzen. Strantz folgerte hieraus, dass nicht Frankreich, sondern allein Deutschland einen legitimen Anspruch auf dieses Gebiet besäße.86 Er beließ es jedoch nicht dabei, Argumente für ein geschichtliches Recht Deutschlands auf den Burgundischen Reichskreis zusammenzustellen. Vielmehr konzeptualisierte er den beanspruchten Raum noch auf eine zweite 82 Strantz, Das verwelschte Deutschtum; siehe auch Kapitel Anfänge einer völkischen Grenzlandpolitik an der Westgrenze. 83 Ders., Unser völkisches Kriegsziel, S. 1. 84 Ders., Das verwelschte Deutschtum, S. 6. 85 Ebd., S. 3f. 86 Ebd., S. 1.
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Weise. Abweichend von der tatsächlichen Ausdehnung des Burgundischen Reichskreises unterschied er die Teilgebiete „Niederlande“, „Lothringen“ und „Burgund“. Jedem dieser Teilgebiete unterstellte er eine ursprüngliche Deutschsprachigkeit und versuchte, diese anhand bestimmter Besonderheiten im Sprachgebrauch der Landbevölkerung, vor allem aber anhand germanischer Wurzeln von Ortsnamen nachzuweisen. Den Nachweis dieser Diffusion des ‚Deutschtums‘ über die Sprachgrenze hinweg führte er mit Hilfe alphabetischer Listen, in denen er insgesamt 555 deutsche Varianten frankophoner Ortsnamen angab. Die erste dieser Teilregionen, die „Niederlande“, umfasste Holland, Belgien, Luxemburg und Nordostfrankreich, welches Strantz als „die französischen Niederlande“ oder „Welsch-Flandern“ bezeichnete und dem er den „Hennegau“, „Namen“ (Namur) und das „Gebiet von Artrecht und Kammerich“ (Artois und Cambrai) zurechnete. Für dieses Gebiet listete er 180 Ortsnamen auf, deren flämischer und mithin deutscher Ursprung aus seiner Sicht unverkennbar war.87 Wie die „Niederlande“, reichte auch „Lothringen“ für Strantz über die Reichsgrenze hinaus. Er legte daher zwei getrennte Namenslisten vor, die 127 Ortsnamen auf französischem und 96 auf deutschem Staatsgebiet umfassten. Dabei räumte er ein, dass das „ursprüngliche Wortbild“ der Ortsnamen zum Teil nicht belegt, sondern „durch Analogie mit Ortsnamen des übrigen Westdeutschland“ von ihm „regermanisiert“ worden sei.88 Für einzelne Namen musste er überdies einen römischen Ursprung zugeben, machte jedoch geltend, dass man auch diesen Umstand „nicht als Beleg[.] für die Romanisierung“ geltend machen könne, da sonst auch „urdeutsche Städtebezeichnungen“ wie Köln und Koblenz als „romanische Siedlungen“ gelten müssten.89 Am schwierigsten jedoch stellte sich der Nachweis für „Burgund“ dar. Strantz argumentierte, dass vom burgundischen Reich des 11. Jahrhunderts lediglich das nördliche Hochburgund als ursprünglich deutsch zu betrachten, dort jedoch zwischen den späteren schweizerischen (Bern, Wallis, Freiburg, Waadt, Lausanne und Neufchâtel) und französischen Teilgebieten (Franche Comté) zu unterscheiden sei. Während die französische Sprache im schweizerischen Teil mit seinen 76 Ortsnamen deutschen Ursprungs „nur ein zäher Firnis“ sei, „der das Volkstum nicht durchdrungen“ habe,90 stelle sich die Situation in der „Freigrafschaft“ (Franche Comté) anders dar. Zwar erkannte Strantz in ihr ein alemannisch beeinflusstes schwäbisches Stammesgebiet auf gallischem Boden mit versprengten Spuren noch älterer germanischer Besiedlung, doch musste er eingestehen, dass sich die französische Sprache dort bereits im 17. Jahrhundert allgemein durchgesetzt habe.91 Um „unhaltbare Annahmen zu vermeiden, die dem Gegenstande nur schaden können“, verzichtete er denn auch darauf, die Ortsnamen der Franche Comté durch Analogiebildungen zu „regermanisieren“.92 Als eine weitere Teilregion behandelte er schließlich den „Sundgau“ mit seinem Hauptort „Mümpelgart“ (Montbeliard), dessen 76 „verwelschte“
87 88 89 90 91 92
Vgl. ebd., S. 19-22. Ebd., S. 33. Die Listen der Ortsnamen finden sich ebd., S. 34-37 u. 39. Ebd., S. 32. Ebd., S. 51; vgl. auch S. 45, 51-61. Vgl. ebd., S. 41. Ebd., S. 58.
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Ortsnamen er allerdings weder Burgund noch Lothringen, sondern dem Elsass zurechnete.93 Mit dem Rekurs auf den Burgundischen Reichskreis und den drei jeweils grenzübergreifenden Gebieten „Niederlande“, „Lothringen“ und „Burgund“ verfügte Strantz also über ein Raumkonzept, das die Annexion eines aktuell frankophonen Gebietes von der Kanalküste bis zur Rhône legitimierte: „Die Hoffnung der französischen Flanderer, welche noch treu ihr Volkstum bewahrt haben, ist mit dem letzten Kriege wieder erwacht, damit das neue Reich die schwächliche Pflichtvergessenheit des alten sühne. Ehe nicht in Dünkirchen, Hesdingen (Hesdin), Ryssel (Lille), Artrecht und Kameryk im niederdeutschen Land, und in Nanzig, Lunstadt (Lienhardstadt = Lunéville), Leuk (Toul) und Verdun (deutsch gesprochen) im alten deutschen Stammesherzogtum Lothringen die französische Trikolore zu Füßen des deutschen Aars liegt, ist das Reich nicht gesättigt und die alte Schuld nicht beglichen. [...] Aber noch eine weitere Grenzmarke im Westen harrt der Erlösung von der Fremdherrschaft. Die drei Departements Doubs, Haute-Saône und Jura bilden die alte Freigrafschaft Hochburgund.“94
Strantz erwog in diesem Zusammenhang, nach einem Sieg über Frankreich „die französischen Niederlande, Belgien und die Freigrafschaft der Schweiz zu überlassen“, verwarf dies aber mit dem bezeichnenden Argument, dass „diese Kleinstaaten“ zu schwach seien, um „eine kräftige Verdeutschung ins Werk zu setzen“. Er schlug daher eine territoriale Neuordnung in Form von „Reichsländern“ vor: Das bisherige Elsass-Lothringen sollte getrennt und in die jeweils nach Westen erweiterten Reichsländer „Elsass“ und „Lothringen“ überführt werden; aus der Franche Comté sollte ein Reichsland „Freigrafschaft“ und aus den Departements Nord, Pas de Calais und dem nördlichen Teil von Aisne ein Reichsland „Südniederland“ hervorgehen.95 Strantz vertrat damit genau jenes der drei alldeutschen Raumkonzepte, das dem ‚Westraum‘ am nächsten kommen sollte. In der alldeutschen Diskursgemeinschaft aber musste sich dieser Entwurf erst gegen die beiden anderen Konzepte einer ausschließlichen Annexion der deutschsprachigen Gebiete und einer vollständigen Annexion Frankreichs durchsetzen. So entwarf der anonyme Verfasser der 1895 veröffentlichten Zukunftsvision Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1950 einen großdeutschen Bund unter Ausschluss aller frankophonen Gebiete. Im Westen sollte der Bund daher ‚nur‘ das Großherzogtum Luxemburg, die Niederlande und ein zu gründendes Königreich „Vlamland“ umfassen, während der Schweiz anheim gestellt werden solle, dem Bund entweder als Ganzes oder „zusammengeschmolzen auf ihr deutsches Gebiet“ beizutreten.96 Ein weiterer Anonymus schlug mit gleicher Stoßrichtung 1896 eine gezielte Kulturpropaganda vor, die bewirken sollte, „daß die Holländer, Belgier, Lützelburger, Schweizer ihre Länder wieder als Teile Deutschlands“ und „sich selbst
93 Vgl. ebd., S. 59ff. 94 Strantz, Kurd von: Der Neue Kurs, in: Zeitschrift für öffentliche Angelegenheiten, 1.11.1893, zit. n. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 246. 95 Ebd., S. 246f. 96 Anonymus, Großdeutschland und Mitteleuropa, S. 47f.
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als Deutsche“ zu betrachten lernten – „Alles weitere findet sich dann von selbst.“97 Innerhalb dieses Diskursstrangs findet sich die bereits von Ratzel bekannte Vorstellung einer niederländisch-flämischen Sonderrolle. Sie äußerte sich zum einen, wie bereits dargestellt, in einem politischen Bündnis der Alldeutschen mit der Flämischen Bewegung und zum anderen in der Vorstellung einer gegen England gerichteten Zusammenarbeit von Deutschen, Flamen, Niederländern und Buren auf der Basis gemeinsamer wirtschaftsund kolonialpolitischer Interessen. So entwickelte der Leiter der Flamenpolitischen Sektion Theodor Reismann-Grone im Jahre 1899 ein ausgesprochen pragmatisches Programm, das eine Verbindung der niederländisch-flämischen Seehäfen mit dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet auf der Grundlage eines deutsch-niederländischen Zollvereins und eines gemeinsamen Ausbaus der Eisenbahnen und Wasserstraßen vorsah, eine Wiederherstellung früherer territorialer Verhältnisse jedoch entschieden ablehnte.98 Gleichwohl verband der Chefredakteur der Ostpreußischen Zeitung Fritz Bley99 dieses Kalkül mit der Hoffnung, Frankreich in einem kommenden Krieg zur Abtretung von Dünkirchen und „Boonen“ (Boulogne) an Belgien zwingen und Luxemburg zum Anschluss an das Deutsche Reich bewegen zu können.100 Im Rahmen eines gesonderten „deutsch-niederländischen Bündnisses“ sollten Deutschland die Nutzungsrechte an der Rheinmündung zugesichert werden; darüber hinaus sollte es eine „gemeinsame Land- und Seewehrverfassung“ und eine gemeinsame Verwaltung der niederländischen Kolonien geben.101 Fiktionen wie diese wiesen dem Mündungsdelta von Rhein und Maas also eine Sonderrolle zu, die eine deutsche Suprematie ohne formale Annexion sicherstellen sollte. Als Vorsitzender des Verbandes orientierte Hasse sich zunächst an der traditionellen Linie einer Annexion bis zur Sprachgrenze, allerdings ging er weit vorsichtiger ans Werk als die Autoren der alldeutschen Zukunftsvisio97
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Anonymus: Deutschnational. Ein Weckruf an Deutschlands Studentenschaft zur 25jährigen Jubelfeier der Reichsgründung. Von einem Alldeutschen, Leipzig 1896, S. 24. Reismann-Grone, Theodor: Die deutschen Reichshäfen und das Zollbündnis mit den Niederlanden. Bericht erstattet dem Alldeutschen Verbandstag zu Hamburg am 30. August 1899 (Flugschriften des Alldeutschen Verbandes, Heft 12), München 1899. Vgl. auch Anonymus: Ein deutsch-niederländischer Zollverein, in: Alldeutsche Blätter 9 (1899), S. 310f. – In eine ähnliche Richtung zielten Vorschläge alldeutscher Autoren für ein gemeinsames deutschniederländisches Postwesen (Anonymus: Ein deutsch-niederländischer Postverein, in: Alldeutsche Blätter 11 [1901], S. 107) und ein strategisch begründetes Kanalprojekt zwischen der Kieler Bucht und Rotterdam (Zimmermann: Strategische Kanäle, in: Alldeutsche Blätter 11 [1901], S. 362-365). Fritz Bley (1853-1931) wurde nach seinem Studium in Leipzig 1881 Redakteur der Kölnischen Zeitung; 1885 schloss er sich der Kolonialbewegung Karl Peters an und organisierte zwischen 1886 und 1889 die deutsche EminPascha-Expedition; 1897-99 Chefredakteur der Ostpreußischen Zeitung; 1905 Gründung der Zeitschrift Zeitfragen in Berlin. Bley publizierte vor allem Schriften über Ostafrika, die Buren sowie das Jagdwesen. Bley, Fritz: Die alldeutsche Bewegung und die Niederlande (Der Kampf um das Deutschtum, Heft 11), München 1897, zit. n. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 199. Zit. n. ebd., S. 293ff.
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nen. Wenn er in seiner Deutschen Politik von der Schaffung einer „Westmark“ sprach, bezeichnete er damit zunächst nichts anderes als die Errichtung eines Militärgrenzregimes im bestehenden Reichsland Elsaß-Lothringen. Diese Militärgrenze sollte die Kreise Metz-Land, Diedenhoven, ChâteauSalins und Saarburg mit einer Gesamtfläche von 400.483 ha und einer Bevölkerungszahl von 319.980 Einwohnern umfassen, unter denen sich „nahezu die Gesamtheit, nämlich 85 % der französisch sprechenden Bevölkerung“ befinde.102 Diese Maßnahme sollte die „Eindeutschung des französischen Sprachgebiets [...] durch eine planmäßige, bäuerliche, reichsdeutsche Siedlung“ mit militärischen Kalkülen in Einklang bringen. Eine eigene Reichsbehörde sollte „das in französischer Hand befindliche Gelände, besonders in der Nähe von Metz und Diedenhofen, auf[.]kaufen und in der Form von unverschuldbarer Erbpacht deutscher Hand zu[.]führen“. Ein Aufenthaltsverbot für Ausländer sollte verhängt und diejenigen Bewohner ausgewiesen werden, die im Jahre 1872 für Frankreich optiert hatten.103 Seine Brisanz erhielt das Konzept dadurch, dass Hasse die Militärgrenzen nicht nur als innenpolitisches Ordnungsmodell, sondern auch als Modell für zukünftige Eroberungen und Siedlungspläne begriff.104 Er legitimierte diese nicht, wie Strantz, mit historischen Zugehörigkeiten oder sprachlichen Befunden – so spielten die vorliegenden Ortsnamenslisten für ihn keine Rolle – sondern mit Ratzels universaler Vorstellung der Staatsgrenze als peripherisches Organ und linearisierter Grenzsaum des in seinen Lebensraum hineinwachsenden Staates.105 Hasse argumentierte, dass lediglich Deutsche, Skandinavier, Franzosen, Italiener, Südslawen („mit Ausnahme der Slowenen“), Rumänen, Ruthenen und Großrussen eigenständige europäische Völker, alle übrigen Staaten hingegen „Zwischenländer“ im Sinne Ratzels seien, die früher oder später zwischen den „künftigen großen Nationalstaaten“ aufgeteilt werden würden.106 Auch zwischen Frankreich und Deutschland bestehe ein solches „Zwischenland“,107 das sich „von der Rhonemündung bis zu Rheinmündung“ erstrecke. Wie Ratzel erblickte Hasse in Lotharingien, Burgund, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und der Schweiz die Bestandteile dieses „Zwischenlandes“, mithin also Staatsgebilde minderen Ranges, deren Existenz allein dem deutsch-französischen Kampf geschuldet sei.108 Deutschland dürfe daher mit Recht all jene Gebiete wieder erwerben, „die bis zum Westfälischen Frieden als unzweifelhaft deutsch angesehen worden waren“. Dieses Recht sei mit dem Frankfurter Frieden vom 10. Mai 1871 zwar zu einem gewissen Teil, jedoch noch nicht vollständig eingelöst wor102
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Hasse, Deutsche Politik – Besiedlung, S. 154f. – Alternativ schlug Hasse einen kleineren Zuschnitt der Militärgrenze ohne die Kreise Diedenhofen (Thionville) und Saarburg vor, „wo bereits starke deutsche Mehrheiten vorhanden sind“, sprach sich aus „völkischen und militärischen Gründen“ jedoch dafür aus, den Landkreis Metz unbedingt in eine Militärgrenze umzuwandeln. Ebd., S. 142f. – Im Jahre 1872 forderte die Regierung die Einwohner auf, bis zum 1. Oktober zu erklären, ob sie Franzosen oder deutsche Reichsangehörige sein wollten; hierbei optierten 160.000 Einwohner für Frankreich, von denen nach Angabe Hasses rund 50.000 auswanderten. Hasse, Deutsche Politik – Das Deutsche Reich, S. 52. Hasse, Deutsche Politik – Grenzpolitik, S. 7. Ebd., S. 169. Ebd., S. 7. Ebd., S. 14.
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den. Konkret listete Hasse sechs grenzpolitische Versäumnisse Bismarcks auf, die es zu korrigieren gelte: „1. Daß nicht wirklich das ganze Elsaß erworben wurde, sondern daß man Belfort mit Umgebung sowie die Grafschaft Mömpelgard bei Frankreich belassen hat. 2. Daß nicht alle Schlachtfelder der Umgebung von Metz in das deutsche Gebiet einbezogen worden sind. 3. Daß die deutsche Grenze nicht Longwy eingeschlossen und bis zur belgischen Grenze fortgeführt worden ist, sodaß Luxemburg durch einen schmalen Streifen deutschen Landes von der staatlichen und Zollgrenze Frankreichs abgeschnitten worden wäre. 4. Daß Gibet und die vlämischen Gebiete des nördlichen Frankreich (Lille und Dünkirchen) nicht an Belgien abgetreten worden sind. 5. Daß im Austausch hiergegen nicht das hochdeutsche Gebiet von Arles an Luxemburg zurückgegeben worden ist. 6. Daß Luxemburg und Limburg nicht wieder zu Teilen des Deutschen Reiches gemacht worden sind.“109
Anders als Strantz, der das gesamte ‚Zwischenland‘ reklamiert hatte, schwebte Hasse also eher dessen Aufteilung zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien vor – eine Aufteilung freilich mit einseitigem deutschem Gewinn. Indem er den territorialen Status vor dem Westfälischen Frieden zum Maßstab machte, schloss er die Niederlande zwar ein, schrieb ihr jedoch sogleich die oben umrissene Sonderrolle zu: Statt ihren „Wiedereintritt“ in das Reich gewaltsam zu erzwingen, müsse sie auf „föderativer Grundlage“110 unter Wahrung der gemeinsamen Interessen an Deutschland gebunden werden.111 In groben Zügen nahm Ratzel damit die politische Linie des Verbandes am Ende des Ersten Weltkrieges vorweg. Bis zum Ausbruch des Krieges jedoch beobachten wir eine Radikalisierung der Expansionsziele und der mit ihnen verbundenen bevölkerungspolitischen Programme im Westen. Sie vollzog sich erneut im Medium meist anonymer Zukunfts- und Kriegsfiktionen, die sich in dieser Phase als ideale Projektionsflächen einer Utopie der gewaltsamen Auflösung und Neuzusammensetzung der europäischen Staaten und ihrer Bevölkerungen erwiesen. Die Radikalisierung begegnet uns zunächst als eine rassenideologische Aufladung des von Strantz vertretenen Raumkonzepts. Bereits 1893 hatte Adolf Reinecke die Listen der ‚verwelschten‘ Ortsnamen als Nachweis des ‚Deutschtums‘ der westlichen Schweiz, der Franche Comté, des französischen Lothringen, Nordostfrankreichs und der Wallonie aufgegriffen und den deutschen Kampf um diese Gebiete in einen Kampf der „Germano-Arier“ umgedeutet.112 Vier Jahre später entwickelte er in seinem Blatt Heimdall eine Zukunftsvision, in der „diese alten westlichen Grenzmarken“ von einem siegreichen Deutschland annektiert und die „vier westlichen Kleinstaaten“ infol109 110 111 112
Ebd., S. 52f. (Herv. i. Orig.) Ebd., S. 57f. Ebd., S. 59f. – Hasse zitierte zur Begründung u.a. Friedrich List: Das nationale System der politischen Oekonomie, Stuttgart 1841, S. 550ff. Reinecke, Adolf: Die Grenzgebiete des alten Reiches, Teil 1: Das Deutschtum im Westen außerhalb des jetzigen Reiches, in: Heimdall 2 (1897), S. 73-76, hier: 73 (Nachdruck aus der Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert, AprilHeft 1893).
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gedessen „völlig vom Reichsgebiete umschlossen“ würden, „so daß ihnen ein Weiterbestehen ohne Eintritt in den deutschen Bundesstaat einfach unmöglich würde.“ In „Hochburgund, Lothringen usw.“ würden dem Reich gleichzeitig „gesegnete, fruchtbare Gebiete zur Besiedlung erschlossen.“ Unter Berufung auf Treitschke schlug Reinecke vor, dem besiegten Frankreich „die vertragliche Verpflichtung“ abzunötigen, die Bewohner des „einverleibten Gebietsteiles auf Staatskosten in seinem (des Besiegten) Lande anzusiedeln oder ihnen dort ein wirtschaftliches Fortkommen zu gewährleisten.“113 Reinecke nahm hier das Konzept einer ‚Annexion frei von Menschen‘ vorweg, verband es mit der Forderung einer „rein soldatische[n] Herrschaft“ über die Siedlungsgebiete und legitimierte sie mit dem demographischen Argument, das wir von Treitschke bereits kennen: „Im Westen wäre [...] eine solche Maßregel umsomehr am Platze, als Frankreich ein nur mäßig bevölkertes Land ist, dessen Bevölkerungszahl sich erwiesener Maßen statt zuzunehmen beständig vermindert, dem also ein Bevölkerungs-Zuwachs nur erwünscht sein könnte.“114
Reinecke stellte die Vision einer „deutschen Besiedlung der alten Grenzlande“115 konsequenter als andere Publizisten in den Kontext einer nordischarischen Rassenmystik. In einer nachgeahmten Runenschrift gesetzt, führte Heimdall ab 1901 im Kopftitel die Losung „Fon Skagen bis zur Adria! Fon Boonen bis Narwa! Fon Brisanz bis ans Schwarze Meer!“, und erläuterte dies wie folgt: „Skagen – Nordspitze von Jütland, Boonen (wälsch Boulogne) – westlichste Stadt Franz.-Vlanderns, Brisanz (wälsch Besançon) – Hauptstadt der vormals deutschen Freigrafschaft Hochburgund“.116 Sieben Jahre später schließlich fasste Reinecke seine westlichen Expansionsziele erstmals unter dem Begriff der „deutschen Westmark“ – nun nicht mehr ein Gefüge mehrerer ‚Grenzmarken‘, sondern ein übergeordneter Raum – zusammen: „Unter der deutschen ‚Westmark‘ verstehen wir nicht das jetzige Reichsland ElsaßLothringen, nicht das preußische Rheinland, auch nicht Luksemburg [sic] oder die beiden Niederlande, nein westlichere jetzt den Franzen gehörende Lande, die aber deutschen Volkes und deutschen Reiches uraltes Erb und Eigen sind. Es sind das französische Niederland, das französische Maasgelände, Französisch-Lothringen, die alte Freigrafschaft Hochburgund und der elsässische Sundgau (BelfortBergfried). [...] Und wir wollen sie heimholen, immer aufs neue, trotz der jetzigen verwälschten Bevölkerung. Die französische Bevölkerung geht ziffernmäßig immer mehr zurück und man könnte die Lande bei einem neuen Friedensvertrage mit Frankreich von dem größten Teil der heutigen Bevölkerung entblößen und mit deut117 schem Menschenstoffe neu besiedeln.“
In diesem Sinne fasste der Terminus ‚Westmark‘ das geopolitische Ziel einer Expansion mit dem biopolitischen Ziel eines Bevölkerungsaustauschs unmittelbar zusammen. 113 114 115 116 117
Reinecke, Mehrung des Reiches, S. 2. Ebd. Ebd. Zit. n. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 201. Reinecke, Adolf: Von der deutschen Westmark, in: Heimdall 13 (1908), S. 43. – Weitere Belege finden sich bei Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 202f.
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Diese Verknüpfung geo- und biopolitischer Vorstellungen lag einer Vielzahl von Fiktionen zu Grunde, wie in einem erhofften Krieg mit den frankophonen Bewohnern der ‚Westmark‘ zu verfahren sei. Unter dem Pseudonym Otto Richard Tannenberg erschien 1911 die Schilderung einer großdeutschen Reichsgründung118 am Ende eines bereits als Weltkrieg begriffenen Waffengangs.119 Die Gründung von 278 deutschen Dörfern durch die preußische Ansiedlungskommission in Westpreußen und Posen im Zeitraum von 1888 bis 1911 diente hierbei als Vorbild für eine Germanisierung des französischen Ostens, die aus dem Staatsschatz des unterlegenen Gegners finanziert werden sollte.120 Wie Treitschke, der die Annexion Elsass-Lothringens als Realisierung des 1815 Versäumten, und Hasse, der eine abermalige Grenzverschiebung als Verbesserung des 1871 Erreichten legitimiert hatte, forderte ‚Tannenberg‘: „Hätten wir 1871 die widerstrebenden Elsässer vertrieben, Frankreich zur Zwangsansiedlung überwiesen, und hätten wir das Land an unsere tapferen Soldaten als Ansiedler verteilt, wir brauchten uns heute über die Französelei im Lande nicht zu ärgern. Hätten wir 1871 das ganze Mosel- und Maaßgebiet genommen, die Bewohner verjagt und das Land neubesiedelt, wir hätten Frankreich statt der 5 Milliarden 25 Milliarden abgenommen. [...] Ein solcher Verlust hätte Frankreich für alle Zeiten die Möglichkeit genommen, die Zahl unserer Feinde zu verstärken.“121
Auch ‚Tannenbergs‘ Frankreichbild war von der Vorstellung eines unaufhaltsamen biologischen Niedergangs beherrscht. Unter Verweis auf britische Statistiken und Emile Zolas Anklage gegen die Kinderlosigkeit behauptete er, das Land werde im Verlauf der nächsten 30 Jahre durch Geburtenrückgang die Hälfte seiner Bevölkerung verlieren.122 Aus diesem Grund sah er einen 118
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Tannenberg, Otto Richard: Groß-Deutschland die Arbeit des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1911, S. 233-236 (im Folgenden zitiert als: Tannenberg, GroßDeutschland). – Die Identität des Autors ist nicht geklärt. Esaïe Djomo vermutet hinter „Tannenberg“ den Regierungsrat a.D. Rudolf Martin; er unterlässt es allerdings, entsprechende Belege anzugeben (vgl. Djomo, Esaïe: „Des Deutschen Feld, es ist die Welt!“ Pangermanismus in der Literatur des Kaiserreichs, dargestellt am Beispiel der deutschen Koloniallyrik. Ein Beitrag zur Literatur im historischen Kontext [Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 31], St. Ingbert 1992, S. 33). Zweifel hieran meldet Sönke Neitzel an (vgl. Neitzel, Sönke: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn u.a. 2000, S. 204f). ‚Tannenberg‘ ging davon aus, dass der Krieg durch die großserbische Bewegung ausgelöst werde und sich nach dem Kriegseintritt Deutschlands zunächst in Osteuropa abspielen werde. Nach einem Sieg von nationalistischen Aufständen und einem von einem japanischen Einmarsch in Sibirien begleiteten Sieg über Russland sah ‚Tannenberg‘ die deutsche Reichswehr ein demoralisiertes Frankreich überrennen und nach kurzer Zeit vollständig besetzen. Gleichzeitig würden Belgien und die Niederlande dem Deutschen Reich freiwillig, aber bedingungslos, beitreten. Tannenberg, Groß-Deutschland, S. 1ff, 241ff. – Aufschlussreich sind zudem die Überlegungen zur Schaffung der Provinzen „Südmark“ und „Deutsches Küstenland“ in Venetien, Slowenien und der dalmatinischen Adriaküste (ebd., S. 61ff). Ebd., S. 84. Ebd., S. 168ff.
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raschen Sieg des „volkreichen Deutschland“ über das „volksarme Frankreich“ als selbstverständlich an, sobald es zum Krieg käme.123 Was es dabei zu erzwingen gelte, fasste er in den zwölf Paragraphen des Friedens von Brüssel, einem fiktionalen Friedensvertrag, zusammen: „§ 1. Frankreich tritt an Deutschland ab die Departements 85, Vogesen mit Epinal; 54 Mosel und Maas mit Nanzig und Lünstadt; die östliche Hälfte von 55 und 8, Mosel mit der Stadt Verdun und Ardennen mit Sedan; zusammen etwa 17.114 Quadratmeter. Das Land ist zur Zeit nur dünn bevölkert, 69 auf den Quadratkilometer. Das ist kaum die Hälfte von der Bevölkerungsdichtigkeit in Deutschland. Nur 1.192.453 Einwohner hat dies an Deutschland abzutretende Land am Oberlauf von Maas und Mosel. Diese neue Provinz erhält den Namen Westfranken, Hauptstadt und Sitz der höchsten Behörden, des neuen Armeekorps und einer Universität ist Nanzig. [...] Die neue Westgrenze liegt auf der Wasserscheide zwischen Maas und den rechten Zuflüssen der Seine. § 2. Frankreich übernimmt die Einwohner dieser Gebiete und siedelt sie anderweitig an. Die Übersiedlung hat binnen einem Jahre vom Tage der Unterschrift unter den Friedensvertrag an zu geschehen. Das Land wird in Bauernhöfe von 40 bis 60 Morgen, je nach Güte geteilt, und als Ehrengabe an deutsche Soldaten verliehen, die sich im Kriege verdient gemacht haben. Das Besitztum an Liegenschaften in den Städten wird in Losen von annähernd demselben Werte ebenso verteilt. Auch Soldaten, die im Kriege von 1870 und 71 mitgekämpft haben, sind zur Bewerbung zugelassen. [...] § 3. Frankreich erklärt sich einverstanden mit dem Eintritt von Holland und Belgien in das Deutsche Reich. Damit ist im Westen Deutschlands fast die alte Grenze des Reiches unter Karl V. wieder hergestellt. [...] § 4. Frankreich übernimmt die in Belgien wohnenden Wallonen zur Ansiedlung in die menschenleeren Gebiete Frankreichs. Die Übersiedlung hat binnen drei Jahre zu geschehen. Der Besitz der Wallonen und der im oberen Mosel- und Maasgebiet und der neuen Provinz Westfranken Wohnenden von Häusern und Land wird von Sachverständigen abgeschätzt und mit Anweisungen auf die von Frankreich an Deutschland zu zahlende Kriegsentschädigung bezahlt, die von der Republik auszulösen sind. In das leer werdende Grenzgebiet an der mittleren Maas wandern deutsche Soldaten ein, die im Kriege mit Auszeichnung gefochten haben, so daß diese Grenz124 provinz in wenigen Jahren eine rein deutsche Bevölkerung besitzt.“
Gestützt auf das demographische Argument radikalisierte Tannenberg das Szenario eines Bevölkerungsaustauschs im Westen, indem er nicht mehr nur die französische, sondern auch die wallonische Bevölkerung Belgiens zur potenziellen Verschiebemasse degradierte. Ludwig Reimer, ein Anhänger der Rassenlehre Arthur Comte de Gobineaus und der Ariosophie Guido von Lists,125 wendete die Eroberungswünsche in einer extremen Weise ins Rassistische. In seiner Fiktion eines „pangermanischen Deutschland“126 von 1905 klassifizierte er die Bevölkerung der im erwarteten Krieg unterlegenen Staaten in drei Gruppen: „reine 123 124 125 126
Ebd., S. 236. Ebd., S. 237-240. Vgl. Puschner, Völkische Bewegung, S. 89f. Reimer, Josef Ludwig: Ein pangermanisches Deutschland, Berlin 1905, S. 137.
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Germanen“, „Halbgermanen“ und „Agermanen“ bzw. „Nichtgermanen“. Lediglich den „reinen Germanen“ wollte er die „civitas Germanica“, d.h. das volle Bürgerrecht, zusprechen. Die „Halbgermanen“ hingegen sollten mit einem Eheverbot belegt und die auf der untersten Hierarchiestufe stehenden „Agermanen“ aus der „Zeugungsgemeinschaft“ ausgeschlossen, mit einem „Kinderverbot“ belegt sowie enteignet werden. „[W]ie im Altertum die Heloten oder Sklaven“, so verlangte er, müssten sie „zu härtesten und ungesundesten Arbeiten“ gezwungen und auf diese Weile „allmählich mit allen Mitteln ausgeschieden oder ausgetilgt werden“, wobei die „Eugenik [...] praktisch zur Regel werden“ müsse.127 Reimer betrachtete diese auf Rassentrennung, Zwangsarbeit und sukzessive Vernichtung zielende Hierarchisierung als konstitutiv für das pangermanische Deutschland. In diesem Staat sollten allein „die in Betracht kommenden skandinavischen und niederländischen Germanenstaaten“ eingedeutscht werden, wohingegen die „Masse [der] agermanischen Völker in ihre Komponenten“ zu zerlegen und einer Selektion zu unterziehen sei.128 Die Entscheidung darüber, welche Bevölkerungssegmente als „germanisch“ oder „agermanisch“ einzustufen seien, sollte in den Händen einer mit „Anthropologen, Züchtern, Künstlern und Ärzten“ besetzten „Kommission“ liegen.129 Reimer wollte diese Vorwegnahme der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik nicht nur im Osten, sondern gleichermaßen im Westen angewandt sehen. Er forderte zu diesem Zweck eine Dreiteilung des „unterworfene[n] Frankreich“, legte anders als alle bislang untersuchten Autoren jedoch keine sprachlich, historisch, geographisch oder demographisch, sondern ausschließlich rassenpolitisch begründete Trennungslinien zu Grunde. Ziel war nicht mehr die Herauslösung und Germanisierung einer begrenzten ‚Westmark‘, sondern eine Eroberung und Zonierung des gesamten französischen Staatsgebiets. Reimer zerlegte Frankreich in drei Zonen mit unterschiedlicher rassischer Klassifizierung ihrer Bevölkerungen. Dabei sollten zunächst der „Norden und Nordwesten“ Frankreichs mit den „Landschaften Artois, Picardie [und] Normandie“ zusammengefasst werden. Nach einer „Übergangszeit, welche […] zur Rassenreinigung und Verdeutschung benützt wird“, solle die Bevölkerung die „civitas Germanica“ und damit „die vollberechtigte Aufnahme in den Reichsverband“ erlangen; ähnlich sei mit der Wallonie zu verfahren.130 Westlich und südlich sollte sich eine zweite Zone anschließen, die das „Zentrum“131 Frankreichs mit einer Bevölkerung von rund 20 Millionen Franzosen umfasse. Für diese Zone schlug Reimer den Fortbestand der französischen Sprache, der republikanischen Institutionen und der Selbstverwaltung vor, sofern dies „mit der Oberhoheit des Reiches und mit der Eigenschaft des betreffenden Gebietes als Teil des deutschen Wirtschaftsgebietes und der allmählichen, schonend vorzubereitenden Verbreitung der deutschen Sprachkenntnisse vereinbar“ sei. Zur „allmählichen Auslese und Heranziehung des hier lokal vielleicht noch ziemlich starken germanischen Elements“ solle gleichzeitig eine selektive Rassenpolitik einsetzen, die „Einzelindividuen“ oder „ganze[n] Gemeinden“ die „civitas 127 128 129 130 131
Ebd., S. 148. Ebd., S. 137. Ebd., S. 139. Ebd., S. 158f. Bestehend aus Bretagne, Maine, Anjou, Vendée, Saintonge, Angoumois, Poitou, Limousin, Perigord, Berry, Orleans, Touraine, Îsle de France, Auvergne.
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Germanica“ unter der Auflage verleihe, sich nicht mit den „Agermanen“ zu vermischen.132 Anders als der annektierte Norden und das formal unabhängige Zentrum, sollte die dritte Zone, der Süden und Osten, zu einer „germanischen“ Siedlungskolonie werden, „wobei man [...] die später zur Kolonisation kommenden Departements durch Begünstigung der Kinderlosigkeit darauf vorzubereiten hätte“. Reimer begründete diese Forderung mit dem geopolitischen Argument, dass „wir im Westen, so unvermittelt im Rücken des Reiches, keinen Grundstock der uns fremden und gefährlichen Rasse mehr dulden dürfen, um vor rassenhaften und politischen Rückschlägen gesichert zu sein.“ Die Kolonisierung müsse demnach gerade hier auf die Eliminierung der romanischen Bevölkerung zielen, wodurch die „Germanen“ gleichsam nebenbei „an das Mittelmeer und den Atlantischen Ozean vorrücken“ und von dort aus „die Verbindung mit Südamerika“ herstellen könnten, welches „einen Teil des neuen Reichs- und Wirtschaftsgebietes bilden muß.“133 So grotesk diese Expansionsphantasie selbst im alldeutschen Diskurs wirkt, so war sie mir ihrer Rassifizierung des Imperialismus keineswegs einzigartig. Ein Jahr vor Kriegsbeginn postulierte der Südtiroler Rasseforscher Karl Felix Wolff,134 auf dessen Frankreichbild wir noch zu sprechen kommen werden, in den Alldeutschen Blättern ein Recht der „Arier“ auf „Eroberung“ und „Vernichtung der Überwundenen“.135 Im Deutschen Volkswart sprach er im gleichen Jahr von einem bevorstehenden „Rassenkrieg“, nach dessen „furchtbaren Erschütterungen“ ein „Sieg der Deutschen“ und eine „dritte Ausbreitung der Nordeuropäer über die Nachbarländer“ einsetzen werde. Dies ahnend, hätten die „Fremdrassen“ damit begonnen, Deutschland einzukreisen, um es nach Ausbruch des Krieges umso leichter vernichten zu können.136 Wir werden sehen, wie Wolffs apokalyptische Zukunftsvision in den ‚Westmark‘-Diskurs der Kriegszeit eingehen sollte.
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Ebd. Ebd. Karl Felix Wolff (1879-1966) war nach dem Besuch geographischer, prähistorischer und rassenkundlicher Veranstaltungen an mehreren deutschen Universitäten zunächst journalistisch tätig. Seit 1903 sammelte und erforschte er ladinische Sagen, deren Nacherzählungen er zu populären Sammelwerken zusammenstellte. Aufgrund seiner Sagenforschung wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ehrenmitglied der Universität Innsbruck ernannt. Zu den rassenideologischen Vorstellungen Wolffs vgl. seine Schriften: Rassenlehre. Neue Gedanken zu Anthropologie, Politik, Wirtschaft, Volkspflege und Ethik, Leipzig 1927; ders.: Der heutige Stand der Rassenforschung, Leipzig 1928; ders.: Rassenkunde als Grundlage der Räterforschung, Bozen 1957. Zur Anerkennung Wolffs durch den nationalsozialistischen Volkskundler und Westforscher Adolf Helbok vgl. ders.: Karl Felix Wolff, in: Der Schlern. Illustrierte Monatshefte für Heimat und Volkskunde 23 (1949), S. 275f. Wolff, Karl Felix: Vorbehalt der politischen Rechte, in: Alldeutsche Blätter, Jg. 1913, S. 282ff, zit. n. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 229f. Zit. n. Anonymus: Die Rassenverschwörung, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 328-331, hier: 329. – Wolffs dort ausführlich zitierter Artikel erschien im November 1913.
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D i e „W e stm ar k “ al s K r i e g sz i e l i m E r s t e n W e l tk r i e g Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges endete die alldeutschen Erwartung eines Krieges, und die ins Gigantomanische gesteigerten Visionen einer grundlegend neuen geo- und biopolitischen Ordnung wichen einem Kriegszieldiskurs, dessen Akteure, wollten sie politisch glaubwürdig bleiben, auf die realen militärischen Situationen, politischen Konstellationen und wirtschaftlichen Interessenlagen Rücksicht zu nehmen hatten. Die zunächst großflächigen Geländegewinne der Reichswehr ließen die Aussicht auf künftige Annexionen im Westen durchaus realistisch erscheinen. So erwähnt Reichskanzler Bethmann Hollweg in seinen Kriegsziel-Richtlinien vom September 1914 den Vorschlag des Kaisers, die „eventuell von Belgien und Frankreich zu annektierende[n] Gebietsteile“ zu evakuieren und „mit Militärkolonien in der Form von Landzuweisungen an verdiente Unteroffiziere und Mannschaft“ neu zu besiedeln.137 Sehr viel konkreter forderte August Thyssen stellvertretend für eine Reihe weiterer Industrieller im September 1914 eine Grenzziehung, die das nordostfranzösische Montanrevier in den Departements Nord und Pas de Calais mit den Häfen Dünkirchen und Boulogne, das lothringische Minette-Gebiet in den Departements Meurthe und Moselle sowie den französischen Festungsgürtel an der Maas bis zu den Departements Vosges und Haute-Saône im Süden in Form eines „Reichslandes“ einschloss.138 Innerhalb der beginnenden Kriegszieldebatte spielte die Zukunft Belgiens eine zentrale Rolle. Denn entgegen dem internationalen Kriegsrecht hatte das Deutsche Reich die belgische Neutralität gebrochen, um die französischen Verteidigungsanlagen umgehen zu können. Bis zum Ende des Krieges blieb Belgien besetztes Gebiet, ohne dass über seinen künftigen Status entschieden wurde. Die Frage, wo das Deutsche Reich seine Westgrenze endgültig ziehen werde, war daher aufs engste mit der belgischen Frage verflochten,139 deren Grundpositionen der Berliner Staatswissenschaftler Veit Valentin 1921 prägnant zusammenfasste: „Neben die entschiedenen Annexionisten traten Personen, die sich ein Abhängigkeitsverhältnis dachten, wobei Deutschland das Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen sowie das Besatzungsrecht von Festungen innehaben sollte. Bescheidenere wollten sich mit der Maaslinie begnügen. Andere legten das Hauptgewicht auf den Hafen Antwerpen und die flandrische Küste, die als Basis für die deutsche Flotte angeblich von unentbehrlicher Wichtigkeit sein sollte. Interessenten der verschiedensten Kreise wirkten für eine Angliederung Belgiens an das Deutsche Reich: die Großindustriellen, in erster Linie die Schwerindustrie, die die belgischen Kohlenschätze für sich haben wollte, dann natürlich die Marine, und schließlich zahlreiche,
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Kriegsziel-Denkschrift Bethmann Hollwegs z. Hd. des Staatssekretärs Clemens v. Delbrück (Bethmann Hollwegs „Septemberprogramm“), in: Opitz, Europastrategien, S. 215ff, hier: 216. Denkschrift von August Thyssen, überreicht durch den Abgeordneten Erzberger, September 1914, in: ebd., S. 221-225, hier: 222. Vgl. zusammenfassend Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 321-340.
154 | IMAGINIERTER WESTEN mehr oder weniger romantische Vertreter des germanischen Gedankens, die es für nötig hielten, die Flamen von dem wallonischen Joche zu befreien.“140
Der Alldeutsche Verband positionierte sich mit seiner von Heinrich Claß verfassten Kriegszieldenkschrift frühzeitig am rechten Rand dieser Debatte. Der Verbandsvorsitzende aktualisierte darin ein politisches Programm, das er 1912 in Wenn ich der Kaiser wär’141 dargelegt hatte. Darin polemisierte er zunächst gegen die von Bethmann Hollweg im Jahre 1911 in die Wege geleitete Umwandlung des Reichslandes Elsaß-Lothringen in einen Bundesstaat.142 Claß verurteilte die Bevölkerung des Reichslandes als „nationale Hermaphroditen“, die als Träger einer „vermittelnden Doppelkultur“ nicht in der Lage seien, etwas anderes als einen „deutschfeindlichen Partikularstaat“ an der gefährdetsten Stelle der Westgrenze zu schaffen, und prognostizierte, dass sie sich früher oder später wieder an Frankreich anschließen werde.143 Diese Gefahr rechtfertigte es für Claß, die in seinen Augen fehlgeschlagene Entwicklung seit 1871 mit einem Schlag zu revidieren: Alle deutschsprachigen Einwohner sollten von neuem vor die Wahl gestellt werden, entweder „offen und rückhaltlos“ für Deutschland zu optieren, die französische Sprache weder in der Öffentlichkeit noch im Privaten zu verwenden und keinerlei französische Literatur zu beziehen, oder aber „in kurzer Frist das Land zu verlassen“.144 Die Verfassung, die Volksvertretungen und alle Behörden, „die nach staatlicher Selbständigkeit des Landes aussehen“, sollten abgeschafft und ein Minister eingesetzt werden, der das Land „diktatorisch regiert“ und „nur dem Kaiser“ verantwortlich sei.145 Mit anderen Worten sollte es darum gehen, „in dem Lande auf längere Sicht nichts anderes zu sehen als eine Art ‚Militärgrenze‘.“146 Das Reichsland wurde damit zum Modell für die im „Angriffskrieg“ gegen Frankreich zu besetzenden Gebiete. Auch hier legte Claß ein ähnlich negatives Bild der Einwohner zu Grunde. Die Annexion „französischen Bodens“, so erklärte er, solle einzig und allein der „endgültig[en] Sicherung“ des Reiches dienen,147 und selbst in den Niederländern erblickte er „kein Menschenmaterial, das als Zuwachs in irgendeiner Form sehr willkommen wäre“.148 Dieses Verdikt legitimierte die Forderung nach einer diktatorischen Verwaltung aller betroffenen Gebiete. Im September 1914 nun legte Claß seine westpolitischen Ordnungsvorstellungen in der Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts- und
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Valentin, Veit: Deutschlands Aussenpolitik von Bismarcks Abgang bis zum Ende des Weltkrieges, Berlin 1921, S. 238-255, hier: 249. Claß, Hermann [pseud: Daniel Fryman]: Wenn ich der Kaiser wär’. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, 2. Aufl., Leipzig 1912 (im Folgenden zitiert als: Claß, Wenn ich der Kaiser wär’). Vgl. Priebusch, Verfassungsentwicklung. Claß, Wenn ich der Kaiser wär’, S. 83f. – Einen Überblick über die ElsassLothringen-Politik des Alldeutschen Verbandes bietet: Werner, Der Alldeutsche Verband, S. 108-113. Claß, Wenn ich der Kaiser wär’, S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 88. Ebd., S. 151. Ebd., S. 154.
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sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege dar.149 Um die Militärzensur zu täuschen, war die Schrift als Privatdruck in kleiner Auflage getarnt; tatsächlich aber wies Claß den Münchener Verleger Victor Lehmann an, zwischen 2.000 und 3.000 Exemplare herzustellen und an Repräsentanten der politischen, militärischen und ökonomischen Elite zu versenden.150 Aus der Konsultation einiger Vertrauter vor Drucklegung151 gingen außerdem zwei weitere Denkschriften sowie mehrere Karten und Statistiken hervor, die Claß dem Druck als anonyme Anlagen beifügte. Diese legitimierten ein allgemeines Recht des Deutschen Reiches auf Annexionen und behandelten die Einrichtung von Militärgrenzen in den umkämpften oder besetzten Gebiete im Osten und Westen.152 Nach der militärischen Wende infolge der Marneschlacht wurde die Denkschrift am 25. Oktober 1914 Gegenstand der Gesamtvorstandssitzung des Alldeutschen Verbandes. Dabei zeigte sich, dass die Mehrzahl der Ortsgruppen die Kriegsziele teilte, einzelne Vorstandsmitglieder aber für radikalere territoriale Forderungen sowie für eine Verknüpfung mit der „Judenfrage“ plädierten.153 Bis zum Jahreswechsel 1914/15 hatte Claß die auf diese Weise autorisierte Schrift an etwa 1650 Adressaten versandt,154 deren überwiegend positive Stellungnahmen der Verband systematisch sammelte und auswertete.155 Die starke Verbreitung veranlasste die Militärzensur am 2. Januar 1915 zur Beschlagnahmung und Rückforderung der bereits versandten Exemplare, da der Text, sollte er in feindliche Hände fallen, „die deutschen Reichsinteressen in schwerster Weise
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Claß, Denkschrift, S. 238ff. – Eine prägnante Zusammenfassung findet sich bei Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, S. 53ff. – Die in der Opitz’schen Edition fehlenden Anhänge finden sich in: BArch, R 8048-633, p. 151ff. Vgl. Claß an Lehmann, 7. September 1914, BArch, R 8048-634. Es handelte sich um Admiral Breusing, General von Gebsattel, General Liebert, General Keim, Justizrat Putz, Dr. Pohl, H. Ripper, Lutz Korondi, Paul Winter, Pastor Reuß, Senator Neumann sowie einige weitere Vertraute. – Vgl. Claß an Lehmann, 2. September 1914, BArch R 8048-634. Es handelt sich um die Anlagen: 1. Bemerkungen zur osteuropäischen Frage von einem Kenner Russlands, der russischen Geschichte u. Politik; 2. Vorschläge für den dem Deutschen Reiche notwendigen Landerwerb von einem Fachmann für Siedlungsfragen (im Folgenden zitiert als: Anonymus, Vorschläge); 3. Zahlentafel betr. die Bevölkerung Belgiens und des Nordens und Westens von Frankreich; 4. Kartenskizze des russischen Reiches, in: Anlagen zu: Claß, Denkschrift, BArch, R. 8048-633, p. 152ff. So plädierte u.a. der Major a.D. Mey aus Berlin dafür, „bei der großen Neuordnung aller Dinge auch die Judenfrage anzuschneiden und die Herrschaft der Juden in Deutschland zu brechen.“ Zit. n. Verhandlungsbericht über die Sitzung des Gesamtvorstandes des Alldeutschen Verbandes am 25. Oktober 1914 in Berlin, gez. Claß u. Sontag, streng vertraulich, BArch R 8048-634, p. 42-47. – Weitere Belege hierfür gibt Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, S. 50. Vgl. Bethmann-Hollweg an Claß, 6. Februar 1915, BArch R 8048-635, p. 357. Vgl. exemplarisch die briefliche Stellungnahme Berthold Körtings, der die Bildung eines „breite[n] Gürtel[s] einer rein deutschen Bevölkerung [...] als unabweisbare Bedingung“ begrüßte und auf weitere Fürsprecher des Militärgrenzen-Konzepts wie den Justizrat Kleinath hinwies. Körting an Claß, 26. Dezember 1914, BArch, R 8048-634, p. 129. Dort eine Vielzahl weiterer Dankes- und Antwortschreiben an Claß.
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[...] schädigen“ könne.156 Claß nahm dies zum Anlass, den Verband in forcierter Konfrontation zu Reichskanzler Bethmann Hollweg zu profilieren, was nicht unwesentlich zu seiner späteren Krise und Isolation beitragen sollte. Nach der Lockerung der Militärzensur im Jahre 1917 schließlich veröffentlichte Claß eine überarbeitete Fassung der Denkschrift157 in Massenauflage und ließ sie unter anderem an die im Westen eingesetzten Soldaten des Heeres verteilen.158 Claß legte beiden Fassungen der Schrift ein Raumkonzept zu Grunde, das die Grenzen aus dem normativen System des internationalen Rechts herauslöste und als Räume begriff, die den Staat als Sonderzonen suspendierter Normalität umgäben und seiner Peripherie damit eine besondere „Elastizität“ hinsichtlich der künftigen „Angliederungsformen“ verliehen.159 Innerhalb dieses ‚elastischen‘ Raumes sollte der belgische Staat aufgelöst und dessen Name getilgt werden. An seine Stelle sollten eine „wallonische“ und eine „flämische Mark“ treten, die, wie Claß’ am Beispiel Elsass-Lothringens durchgespielt hatte, dem Kaiser zu unterstellen und diktatorisch zu verwalten seien. Allerdings sollte die deutsche Diktatur in den beiden „Marken“, dem Prinzip der Elastizität folgend, unterschiedliche Ziele durchsetzen und den Einwohnern unterschiedlich hart entgegentreten.160 In den Wallonen sah Claß zunächst, ganz auf der Linie seines Kaiserbuchs, ein „entartetes Volk“, das hauptsächlich aus „romanisierten Kelten mit längst verbrauchtem fränkischen Einschlage“ bestünde und in jeder Hinsicht einen „höchst unerfreuliche[n] Zuwachs für uns“ darstelle. Entsprechend solle die Diktatur sie „zur Ruhe und Ordnung erziehen, aber dauernd darauf verzichten, sie ‚einzudeutschen‘.“161 Unter Verweis auf die Erfahrungen der Besatzungsbehörden revidierte Claß seine antiwallonische Haltung in der Neufassung von 1917, stellte die Wallonen nun als „verwelschte Moselfranken“, also als romanisch sprechende Deutsche, vor und plädierte dafür, sie in ihrer Mehrheit einzudeutschen.162 In den Flamen hingegen erblickte Claß in alldeutscher Tradition „Blutsverwandte“ rheinisch-fränkischer Herkunft, die „in unglücklicher Geschichte [...] aller Zucht [...] entwöhnt“ worden seien und, wenn man sie richtig behandle, wieder „gleichwertige Mitglieder des größeren deutschen Volkes werden“ könnten. Die Diktatur sollte in der „flämischen Mark“ daher zeitlich befristet sein, ihren Einwohnern größere Privilegien gewähren als den Wallo-
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Vertrauliche Mitteilung Claß’ an einen nicht genannten Adressaten (verm. Lehmann), 2.1.1915, BArch R 8048-635, p. 2. – Allerdings hob der Reichkanzler bereits 1915 die Beschlagnahmung der Denkschrift auf. Vgl. hierzu Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, S. 54f. Claß, Heinrich: Zum deutschen Kriegsziel. Eine Flugschrift, München 1917 (im Folgenden zitiert als: Claß, Zum deutschen Kriegsziel). Dreieinhalb Monate nach Korrektur des Manuskripts (Datierung nach: Lehmann an Claß, 16. Mai 1917, BArch, R 8048-636, p. 5) verlegte Lehmann bereits die dritte Auflage der Broschüre; er verwies auf eine starke Nachfrage und teilte mit, dass sie von verschiedenen Stellen des Heeres, u.a. dem Elsässischen Generalkommando, an die Soldaten verteilt werde. Vgl. Lehmann an Claß, 30. August 1917, BArch, R 8048-636, p. 89. Claß, Zum deutschen Kriegsziel, S. 30f, vgl. auch ders., Denkschrift, S. 237f. Ders., Denkschrift, S. 238, vgl. ders., Zum deutschen Kriegsziel, S. 31f. Ders., Denkschrift, S. 239. Ders., Zum deutschen Kriegsziel, S. 32f.
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nen und die Gründung eines flämischen Bundesstaates im Deutschen Reich vorbereiten.163
Abb. 6: Kartenbeilage der Kriegsziel-Denkschrift von Heinrich Claß, September 1914 (Quelle: BArch, R 8048-633, p. 149) Mit solchen Vorschlägen zur völkischen Segregation Belgiens lag Claß durchaus auf der Linie der Besatzungsverwaltung, die am 21. März 1917 getrennte Verwaltungen für Flandern und die Wallonie einrichtete. Claß legte darüber hinaus zwei alternative Vorschläge einer neuen Westgrenze vor. 163
Ders., Denkschrift, S. 239f.
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Ausschließlich durch frankophones Gebiet verlaufend, schlossen beide Varianten die von der westdeutschen Schwerindustrie geforderten Gebiete ein und zielten auf die Zerstörung der politischen, ökonomischen und militärischen Substanz Frankreichs auf lange Sicht.164 Die erste, von ihm favorisierte Grenze (Abb. 6) sollte „in westnordwestlicher Richtung vom äußersten Vorsprung der Schweizer Grenze über den Doubs in sanfter Krümmung bis zur Mündung der Somme“ verlaufen: „Unsere neue Grenze gegen Frankreich würde dann von der Schweizer Ecke über Mömpelgard (Montbeliard), Beffert (Belfort) an die Mosel gehen, ihr über Epinal bis Tull (Toul) folgen, dann an die Maas herüberspringen, sie über Verdun, Sedan bis Charleville begleiten, dann über St. Quentin unter Vermeidung von Amiens zum Unterlauf der Somme ziehen und schließlich bei Cayeux den Ärmel-Kanal erreichen.“165
Die neue Grenze sollte nach Berechnungen des Verbandes insgesamt 28.526 Franzosen unter deutsche Herrschaft bringen, darunter sämtliche Einwohner der Departements Nord (5274 Einw.) und Pas de Calais (6752) sowie einen Teil der Einwohner der Departements Somme (2700 von 6277), Aisne (1500 von 7428), Ardennes (2000 von 5253), Meuse (3000 von 6241), Meurthe et Moselle (4300 von 5280) und Vosges (3000 von 5903).166 Alternativ brachte Claß eine „weiter vorwärts“ gezogenen Grenzlinie ins Spiel, die „auf französischem Gebiet nördlich von Genf ansetzen, über Brisanz (Besancon), Langres, Bar-le-duc, Laon gehen und sich dann mit der zuerst vorgeschlagenen zur Somme ans Meer ziehen“ sollte.167 Im Unterschied zum ersten bezog dieser zweite Vorschlag also einen Teil des früheren Burgund in ein künftiges Reich ein. Diese Variante wurde von einzelnen Ortsgruppen des Alldeutschen Verbandes favorisiert oder sogar noch übertroffen: So verlangte der Königsberger Theologe Friedrich Lezius auf der Gesamtvorstandssitzung im Oktober 1914 die Annexion der Normandie, während der Berliner Professor Kranz „den Franzosen das ganze Gebiet nördlich und östlich der Loire abgenommen“ wissen wollte.168 Die Alldeutschen Blätter forcierten zur gleichen Zeit die verbandsinterne Diskussion über den „Nationalitätenaustausch“ zum Zwecke der „Landnahme“ und spekulierten offen, ob es „durchführbar ist, unter Umständen Millionen zu verpflanzen und dergestalt eine Völkerwanderung größten Stils planmäßig zu leiten?“169 164
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Ebd., S. 240f, vgl. auch ders., Zum deutschen Kriegsziel, S. 35f. – In der letzteren Textversion werden bereits der durch den Krieg eingetretene „Blutverlust“ und die „gewaltigen wirtschaftlichen Opfer“ als eine Schwächung Frankreichs „auf Menschenalter hinaus“ begrüßt (ebd., S. 35). Claß, Denkschrift, S. 241. Anonymus: Zahlentafel betr. die Bevölkerung Belgiens und des Nordens und Westens von Frankreich, Tab.: Größe und Einwohnerzahl des von Frankreich zu erwerbenden Gebietes, als Anlage Nr. 3 zu: ebd., S. 63f, hier: 64. Claß, Denkschrift, S. 241. Zit. n. Verhandlungsbericht über die Sitzung des Gesamtvorstandes des Alldeutschen Verbandes am 25. Oktober 1914 in Berlin, gez. Claß u. Sontag, streng vertraulich, BArch, R 8048-634, p. 42-47. Anonymus: Der Weg ins größere Deutschland, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 433-436, hier: 435f.
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Ungeachtet der exakten Linienführung stand für Claß und die Mehrzahl der Ortsgruppen fest, dass der französische Osten „frei von Menschen“ annektiert und in eine „Militärgrenze“ verwandelt werden müsse.170 Die Annexion sollte also mit der Deportation der Einwohner einhergehen, und in einem Friedensvertrag sollte Frankreich sich verpflichten, sie „in sein verbleibendes Gebiet“ aufzunehmen und „auf französische Kosten“ zu entschädigen. Die Vorbilder für diese „Maßregel“ erblickte Claß nun nicht mehr in den mittelalterlichen Marken und der habsburgischen Militärgrenze, sondern in den Vertreibungen während der Balkankriege, wenngleich er anmerkte, dass man als Deutsche weniger „roh“, sondern „in fester Ordnung“ und „mit allem denkbaren Rechtsschutz für die Betroffenen“ vorgehen würde.171 Hierbei komme den Deutschen zupasse, dass der Krieg an der Westfront bereits „eine sehr weit betriebene Räumung von den Bewohnern herbeigeführt hat – ein Zustand, der die Verwirklichung meines Vorschlags wesentlich erleichtert.“172 Lediglich die vermeintlich flämischen Gebiete im Nordosten Frankreichs, die der „flämischen Mark“ zugeschlagen werden sollten, sowie die frankophone Bevölkerung der dicht besiedelten Industriegebiete nahe der belgischen Grenze, die gegebenenfalls an die „wallonische Mark“ fallen könnten, sollten von der „Ausräumung“ verschont bleiben. Im Falle der letzteren lehnte Claß die Deportation auch deshalb ab,173 weil die westdeutsche Wirtschaft sie als „Industrieproletariat“ oder, wie der Hamburger Rechtsanwalt Jacobsen unumwunden erklärte, als „Heloten“ benötige.174 Der entvölkerte Raum sollte nun in eine Militärgrenze mit dem Namen „Westmark“175 umgewandelt und deutsch besiedelt werden: „Das ganze, uns frei von Menschen überlassene Gebiet wird Militärgrenze[,] der man den Namen ‚Westmark‘ beilegen könnte; seine gesamte innere Einrichtung müßte dem Zweck der militärischen Sicherung entsprechen; Einzelvorschläge zu machen ist hier nicht die Stelle, aber ein paar allgemeine Vorschläge dürften angezeigt sein um deutlich zu machen, wie ich mir diese Militärgrenze denke. Sie wird wohl, mindestens längere Zeit, diktatorisch verwaltet werden müssen, und die geeignete Verwendung des Landes wäre von Reichs wegen zu ordnen [...]. Als Ansiedler kommen vor allem gediente Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere in Betracht; auch Familien, von denen Angehörige jetzt im Kriege gefallen oder ermordet wurden, sollten bevorzugte Berücksichtigung finden. Die Begabung mit Land stellt 170 171 172 173 174
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Claß, Zum deutschen Kriegsziel, S. 39; ders., Denkschrift, S. 243. Ebd., S. 242; ders., Zum deutschen Kriegsziel, S. 38. Ders., Zum deutschen Kriegsziel, S. 39. – In der Denkschrift von 1914 fehlt diese Anmerkung. Ders., Denkschrift, S. 244. Zit. n. Verhandlungsbericht über die Sitzung des Gesamtvorstandes des Alldeutschen Verbandes am 25. Oktober 1914 in Berlin, gez. Claß u. Sontag, BArch, R 8048-634, p. 42-47. – Claß nahm damit die Zwangsrekrutierung belgischer Arbeiter in den Jahren 1916/17 vorweg. Vgl. hierzu Rawe, Kai: Kriegsgefangene, Freiwillige und Deportierte. Ausländerbeschäftigung im Ruhrbergbau während des Ersten Weltkrieges, in: Tenfelde, Klaus/Seidel, Hans-Christoph (Hrsg.): Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Bd. 1, Essen 2005, S. 35-61, hier: 53ff. Im Text von 1917 taucht der Namensvorschlag ‚Westmark‘ nicht mehr auf, wenngleich die sonstigen Überlegungen gleich bleiben. Vgl. Claß, Zum deutschen Kriegsziel, S. 37-40.
160 | IMAGINIERTER WESTEN hier geradezu die Belohnung für die geleisteten Kriegsdienste dar. Auf diese Art 176 werden wir hier bald eine prächtige deutsche Bevölkerung heranziehen.“
Der Terminus ‚Westmark‘ stand auch hier für ein geo- und biopolitisches Ordnungsmodell, das die bestehenden Grenzen und Gesellschaften des ‚elastischen Raumes‘ vollständig zur Disposition stellte. Es legte in einem Zwischenschritt gleichsam eine entvölkerte Grenzwüstung zwischen Deutschland und Frankreich, um diese in ein Siedlungsland für Deutsche zu transformieren. Der anonyme Verfasser der Vorschläge für den dem Deutschen Reiche notwendigen Landerwerb, die Claß seiner Denkschrift von 1914 beifügte, plädierte ebenfalls für eine deutsche Besiedlung der zu annektierenden Gebiete. Allerdings lehnte er eine „vollständige Ausräumung“, wie der Verbandsvorsitzende sie unter Verweis auf „die Gefahr der Rassenmischung“ forderte,177 zugunsten einer Politik partieller Enteignungen und Vertreibungen ab. Gleichwohl aber konkretisierte er die alldeutschen Siedlungspläne für die ‚Westmark‘. Wie Claß setzte er voraus, dass die großflächigen Zerstörungen infolge der Kämpfe und der damit verbundene Ruin der zumeist evakuierten Kleinbauern die Germanisierung enorm vereinfachen würden. Er sah darin die Möglichkeit, auch unabhängig von einem späteren Friedensvertrag mit dem An- und Verkauf der faktisch wertlosen Grundstücke und Betriebe durch eine Treuhandstelle zu beginnen: „Wenn die Zerstörung der Gebäude die Siedlung technisch erschwert, so erleichtert sie andererseits den Erwerb der Grundstücke und den Auskauf der Eigentümer außerordentlich. Auf genügende Kaufnachfrage seitens ihrer Landsleute können die Franzosen keinesfalls rechnen, weil in den eigentlichen Kriegsbezirken die meisten Landwirte mehr oder minder bankerott sind, da ihnen in vielen Tausenden von Fällen nur der nackte, zertretene und unbestellte Grund und Boden verbleibt. Aber selbst wenn ihre Gebäude nicht oder nicht ganz zerstört sind, so haben sie doch sehr häufig ihr lebendes und totes Inventar, ganz oder teilweise, sowie den Ertrag von 1-2 Ernten verloren. Sind sie irgend nennenswert verschuldet, so gehört besonders bei Zerstörung der Gebäude ihr ‚Besitz‘ in Wirklichkeit den meist wohl städtischen Hypothekengläubigern oder den Banken. Diesen gegenüber ist irgendwelche Rücksichtnahme bei der Preisbemessung zu Lasten der künftigen Käufer nicht am Platze. Es muss wohl als selbstredend gelten, dass die Grundstücke und Dörfer mit mehr oder minder zerstörten Baulichkeiten und mehr oder minder ruinierten Besitzern ausnahmslos erworben und deutsch besiedelt werden. In den unzerstörten Dörfern wird man mit der Bewertung und Bezahlung der Grundstücke entgegenkommender 178 sein müssen, um die Leute zur Auswanderung geneigter zu machen.“
Konkrete Vorstellungen bestanden auch hinsichtlich der Herkunft der Siedler: „Als Siedlerquelle für den Westen kommt in erster Linie Süd- und Westdeutschland in Betracht. Für die Küstenstriche allerdings, die eine gute deutsche seemännische
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Ders., Denkschrift, S. 243; vgl. auch ders., Zum deutschen Kriegsziel, S. 39f. Claß, Heinrich: Vorwort zu den Anlagen, in: Denkschrift, BArch, R 8048/633, p. 152. Anonymus, Vorschläge, S. 57f.
„WESTMARK“ DER ALLDEUTSCHEN | 161 Bevölkerung erhalten müssen, wird die Bauern- und Fischerbevölkerung der deutschen Küsten das Siedlermaterial liefern müssen und wird dies auch reichlich tun. Gerade für den Westen werden die Truppenteile, die dort gekämpft haben, sehr viele 179 und wertvolle Käufer stellen.“
Aus Sicht des anonymen Experten eröffnete sich damit die Chance einer landwirtschaftlichen Rationalisierung, die in der „Schaffung einer zweckmäßigen Dorfanlage“ durch die deutschen Siedler ihren Ausdruck finden sollte.180 Eine etwas andere Vorgehensweise entwarf der Anonymus gegenüber den Wallonen, deren „Aussiedlung (Enteignung)“ er überhaupt „nur in beschränktem Umfange“ für geboten hielt.181 Allerdings sei es unabdingbar, die so genannten „Freischärlerdörfer“ in „deutschen Besitz zu bringen“. Dieser Vorschlag schloss unmittelbar an die in den ersten Kriegsmonaten verübten Kriegsverbrechen der deutschen Armee an der Zivilbevölkerung belgischer Ortschaften an, in denen Widerstandshandlungen stattgefunden hatten oder deren Unterstützer vermutet worden waren.182 Ganz in diesem Sinne schlug der Siedlungsfachmann vor, nicht nur „einzelne Gehöfte oder Gehöftegruppen“, die „wegen hinterrückischen Angriffs niedergebrannt sind“, an deutsche Siedler abzugeben, sondern „noch andere Besitzungen hinzu zu enteignen, um das Deutschtum im Orte möglichst zu stärken“ und im Idealfall „rein deutsche Dörfer zu schaffen.“183 Die Germanisierung erscheint hier also auch als ein Instrument der Disziplinierung und kollektiven Bestrafung der als feindlich wahrgenommenen wallonischen Bevölkerung. Die Kriegsziele oszillierten nach Kriegsbeginn nicht mehr zwischen minimalen, mittleren und maximalen Ansprüchen. In der alldeutschen Diskursgemeinschaft setzte sich die Position des Vorsitzenden durch, deren Grundzüge der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Leopold von Vietinghoff-Scheel, 1915 in einer für die breite Öffentlichkeit bestimmten Schrift zusammenfasste.184 Gleichwohl ist es aufschlussreich, die Entwicklung des ‚Westmark‘-Konzepts auch im Spiegel der Verbandspresse zu verfolgen. Hier war es zunächst Kurd von Strantz, der den Kriegsschauplatz an der Westfront Anfang 1915 als „alten deutschen Volksboden“ beschrieb und eine Wiederherstellung der „nationalen und geschichtlichen Marken des alten Deutschen Reiches“ wünschte.185 Die Annexion antizipierend, griff er auf seine Ortsnamenlisten zurück und verlangte eine sofortige Einführung der deutschen Namensformen in den amtlichen Sprachgebrauch. Bezeichnend sind etwa seine Ausführungen über den lothringischen Osten Frankreichs: „Alle lothringischen Schlachtfelder tragen deutsche Ortsnamen, und es wäre erwünscht, daß auch amtlich diese ursprüngliche Namensform mindestens in Klam179 180 181 182 183 184 185
Ebd., S. 58. Ebd., S. 58ff. Ebd., S. 60. Vgl. hierzu ausführlich: Horne, John/Kramer, Alan: German Atrocities, 1914. A History of Denial, New Haven u.a. 2001. Anonymus, Vorschläge, S. 61. Vietinghoff [-Scheel], Leopold von: Die Sicherheiten der deutschen Zukunft, Leipzig 1915. Strantz, Kurd von: Die altdeutschen Ortsnamen in Frankreich, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 21f.
162 | IMAGINIERTER WESTEN mern verwendet würde. Es handelt sich um alten deutschen Volksboden, um den wir nicht wieder vergeblich kämpfen wollen und dürfen. Er ist und war nicht französisch. Die 150 Jahre französischer Herrschaft spielen bei echtem deutschen Geblüt keine Rolle. Das französische viller, villers ist durchaus unfranzösisch. Es bedeutet einfach unser ‚Weiler‘; Aillevillers = Agliosweiler vom deutschen Eigennamen Aglio; Badonviller = Badenweiler von Bodo; Erbéviller = Erbenweiler; Gerbéviller = Giselbertsweiler; Rambervillers = Rappersweil, vergl. Rapperswyl in der Schweiz; Vanvillers = Waldweiler; Villersexel = Sechsweiler. Dann noch einige französische Vermummungen: Badonville = Badenhausen; Baitelenville = Bettsdorf; Bleurville = Blederichshausen; Bonconville = Brikenheim, von Bukko; Bulquéville = Bolchenhausen; Einville = Eginweil; Frémonville = Freimuntshausen; Frémereville = Friemar; Gondreville = Guntershausen; Lexin (Lexville) = Lexheim; Luy = Laach; Winbey = Wimbach; Xupney = Sunnach; Villé-le-Sec = Widilach. Warum bringen unsere Kriegsberichte nicht auch die deutschen Ortsnamen? Wir wissen alle, daß Lunéville eigentlich Lünstadt, Remirémont Reimersberg, Pont-à-Mousson Moselbruck, Verdun Wirten, Toul Tull, auch niederdeutsch Leuk, Plombières Plumbers heißen. Ja, es gibt keinen lothringischen Ortsnamen, der nicht deutschen Ursprungs wäre. Die politische Forderung angesichts dieser deutschen Herkunft des Landes nach Sprache und Volkstum liegt nahe.“186
Strantz, der während des Krieges der Besatzungsverwaltung in Belgien angehörte,187 lieferte damit einen Anknüpfungspunkt für den Bonner Sprachforscher Moritz Trautmann, der im Zusammenhang mit Überlegungen zu einem Sprachgesetz für die frankophonen Gebiete im Januar 1915 erstmals die Möglichkeit einer großflächigen Zwangsumsiedlung öffentlich ansprach.188 Allerdings waren die sprachpolitischen Vorstöße eines Strantz oder Trautmann nicht repräsentativ für den alldeutschen ‚Westmark‘-Diskurs des ersten halben Kriegsjahres. Vielmehr überwog in den Alldeutschen Blättern zunächst eine rassenideologische Deutung und Überhöhung des Krieges gegen Frankreich. Unmittelbar nach Kriegsbeginn hatte Vietinghoff-Scheel an die deutschen Soldaten appelliert, ihren Blick „auf die rassischen Unterschiede“ zwischen dem französischen „Mischlingsvolk“ und der deutschen „Nordrasse“ zu richten.189 Es war jedoch vor allem Karl Felix Wolff, der den Krieg in einen „Rassenkrieg“ umdeutete. Auf der Grundlage seiner 1911 im Selbstverlag publizierten Schrift Die Germanen als Begründer der europäischen Kultur190 erklärte der Autodidakt die deutsch-französischen Auseinandersetzungen zur Etappe eines Jahrtausende alten Kampfes zwischen zwei ungleichwertigen Rassen, die im Gebiet des Rheins aufeinander stießen:
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Ebd., S. 21f. – In ähnlicher Weise argumentierte er für das „französische Flandern“ und den „Hennegau“. Nicht mehr berücksichtigt ist im Gegensatz zu den früheren Schriften Burgund (ebd.). Vgl. Beyen, Lateinische Vorhut, S. 374. Trautmann, Moritz: Die deutsche Sprache in den feindlichen Gebieten, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 28f. Vietinghoff-Scheel, Leopold von: Rasse, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 312f, hier: 313 (22. August 1914). Wolff, Karl Felix: Die Germanen als Begründer der europäischen Kultur. Mit einem Vorwort von Gustaf Kossinna und Anmerkungen von Fritz Hommel, Bozen 1911.
„WESTMARK“ DER ALLDEUTSCHEN | 163 „Das Rheingebiet bildet die Verbreitungsgrenze zwischen der nordeuropäischen Rasse im Osten und der mittelländischen im Westen! Und alle Kämpfe zwischen Franzosen und Deutschen, wie zwischen Galliern und Germanen, haben ihre tiefste seelische Veranlassung in der schroffen Unvereinbarkeit dieser beiden großen Rassen. Der nordeuropäischen Rasse gehören [...] alle arischen (indogermanischen) 191 Stämme, vor allem aber die Germanen, an.“
Wolff gründete seine selbst unter Alldeutschen nicht unwidersprochen gebliebenen192 Spekulationen auf prähistorische Befunde, denen zufolge das spätere Frankreich nach dem Ende der letzten Eiszeit zunächst von einer nordisch-arischen Urrasse besiedelt worden sei, deren erste kulturelle Blütezeit die Bandkeramik gewesen sei. Frankreich sei dadurch zum Ausgangspunkt „für die ganze spätere Entwicklung der weißen Rasse“ und zur Wiege der „europäischen Kultur“ geworden. Zu Beginn des Neolithikums jedoch hätten „Menschen afrikanischen (zwar nicht negroiden, aber berberoiden) Stammes“ die nordische Rasse in Frankreich verdrängt und die minderwertigere CroMagnon-Kultur193 begründet, sodass in Frankreich anders als in Deutschland jegliche kulturelle Entwicklung abgerissen sei: „Welch ein Bild [...] bietet uns das neolithische Frankreich [...]? – Frankreich ist tot, in Frankreich herrscht eine dumpfe Stille, eine gähnende Leere, Frankreich hat keine wirkenden, schaffenden, fortschrittsfreudigen Menschen mehr, Frankreich bildet im neolithischen Europa ein geistiges Ödland.“194
Auf der Folie dieser prähistorischen Teilung Europas in einen kulturlosen Südwesten und einen schöpferischen Nordosten schrieb Wolff auch dem modernen Frankreich eine rassische Minderwertigkeit und einen daraus resultierenden Vernichtungswillen gegen die Deutschen zu: „Diese eurafrikanische oder – wie sie meistens genannt wird – mittelländische Rasse hat längst ihre alte Sprache verloren und vergessen, aber unbewußt steckt noch immer in ihr ein Gefühl der Abneigung und des Hasses gegen die ureinheimischen Europäer. [... Die heutigen Franzosen] führen den Namen der germanischen Franken, aber germanischen Geblütes sind heute nur noch einige Familien der royalistischen Partei; sonst aber schlägt überall der mittelländische Typus mit seiner eigentümlich wilden Rassenpsyche durch. [...] Daraus entspringt die grimmigste Feindschaft gegen die berufenen Vertreter echten Europäertums und diese Feindschaft treibt sie zu Rassenkriegen, von denen der jetzige nicht der letzte sein wird. Rassen-
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Wolff, Karl Felix: Frankreich und Deutschland. Eine rassenpolitische Betrachtung, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 368-370 u. 376-379, hier: 376. (Herv. i. Orig.) Die von Heinrich Driesmans erhobenen Einwände bezogen sich auf die Frage der Rassereinheit der angeblichen nordischen ‚Urrasse‘. Driemans, Heinrich: Die Kelten und Iberer in Frankreich, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 13f. Hierzu sei angemerkt, dass die Cro-Magnon-Menschen vor rund 10.000 bis 35.000 Jahren lebten, die Bandkermanikkultur jedoch zwischen 5.000 und 5.600 v. Chr. bestand. Wolff, Karl Felix: Frankreich und die älteste europäische Kultur. Eine kulturund rassengeschichtliche Betrachtung, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 50-52 u. 58-61, hier: 59.
164 | IMAGINIERTER WESTEN kriege aber, mögen sie auch lange dauern und wechselnde Erfolge zeitigen, führen 195 schließlich zu großen Entscheidungen und zur Vernichtung des einen Teiles.“
Auf den Schlechtfeldern an Marne und Aisne kämpften aus dieser Sicht also nicht die Armeen zweier Staaten, sondern die Rassen selbst, und entsprechend ging es in diesem Krieg nicht um eine Lösung der westlichen Grenzfrage, sondern um die Eliminierung des Rassenfeindes. Wolff unterstrich dies appellativ: „Der Krieg gegen dieses Frankreich ist ein [...] Krieg gegen Jene, welche die älteste europäische Kultur in ihrer Entwicklung gestört haben und aus Eigenem nicht imstande waren, den abgerissenen Faden weiterzuspinnen, – er ist ein Krieg gegen Jene, welche der Mitte Europas nie etwas gegeben, sondern nur von ihr empfangen haben, denn der ganze spätere Kulturaufschwung Frankreichs war ein Werk der europäischen Herrenschichten, – dieser Krieg ist, so seltsam das für alle der Anthropologie Fernstehenden auch klingen mag, in vollstem Sinne des Wortes ein Krieg der Europäer gegen die Afrikaner. Und dieser Krieg wird, selbst wenn er zur Vernichtung des französischen Volkes führen sollte, keine geistigen Kulturgüter zerstören, denn alle Keime der werdenden Kultur sind einst in grauer Vorzeit von den aus Frankreich verdrängten Europäern nach Norden gerettet und später in Nord- und Mitteleuropa zur Entwicklung gebracht worden.“196
Das „französische Volk“ zu vernichten, war für Wolf also nicht nur eine Notwendigkeit, die sich aus dem Charakter des Krieges als Rassenkrieg ergab, sondern fiel schlechterdings auch gar nicht ins Gewicht, da die Franzosen aufgrund ihrer rassischen Minderwertigkeit ohnedies nicht Teil der europäischen Kultur seien. Wolff unternahm noch einen zweiten Versuch, den westlichen Kriegsgegnern rassische Minderwertigkeit zu bescheinigen. Unter Verweis auf Moeller van den Brucks Charakterisierung der Angelsachsen197 zog er die Zugehörigkeit der Engländer zu den germanischen Völkern in Zweifel und mahnte eine Untersuchung darüber an, ob England nicht in Wirklichkeit „ein keltisches Reich mit gewissen germanischen Formen und Überlieferungen“ sei, die „mit der Verdrängung der englischen Bauern“ überdies „nach Amerika und in die Kolonien abgeströmt“ seien.198 Allerdings gelang es Wolff nicht, die vorherrschende Sicht der Alldeutschen auf England als ein modernes Karthago, das es in einer Art Bruderkampf niederzuringen gelte, zu durchbrechen.199 195 196 197 198
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Ebd., S. 60f. Ebd., S. 61. (Herv. i. Orig.) Wolff referiert vor allem auf Moeller van den Bruck, Arthur: Die Deutschen, 9 Bde., Minden i.W. 1904-1910. Wolff, Karl Felix: Die Rassenverschwörung, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 328-331, hier: 329. – Ähnlich stellte 1915 auch Adolf Schmitt die Briten als „Mischvolk“ vor. Schmitt, Adolf: England und das Festland, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 53. So schreibt F. Waterstradt Anfang September 1914: „Doch Englands Söhne, Brüder vom gleichen Blut, hassen uns aus Krämerneid und haben die Feinde, die uns meuchelmörderisch von Ost und West anfallen, erst gedungen.“ Unter Verweis auf die Punischen Kriege führt er fort: „Das ist das bitterste an diesem Kampf, das wir von Lebensnot gezwungen, Blutsgenossen austilgen müssen von der Menschenerde [...] Britannien muß vernichtet werden!“ (Wa-
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Im Zuge dieser rassenideologischen Überhöhung des beginnenden Krieges schienen die alldeutschen Siedlungspläne keiner weiteren Legitimation mehr zu bedürfen, ergab sich aus der rassischen Überlegenheit des künftigen Siegers doch ohne weiteres sein Recht auf „Landnahme“. Für den völkischen Publizisten Adolf Bartels hatte der Krieg das „alte Humanitätsideal“ ein für allemal beseitigt und die Aussicht auf „Land! Land! Land!“ eröffnet.200 Philipp Stauff, als Präsident der Guido von List-Gesellschaft und Mitbegründer des Germanenordens ein wichtiger Akteur im späteren Übergangsfeld zum Nationalsozialismus, proklamierte in den Alldeutschen Blättern ein Naturrecht der Völker, ihre Grenzen „vorzuschieben, einerlei, auf wessen Kosten das geht.“ Das deutsche Volk folge dabei einem Grundprinzip der „arischen Menschheit“, die immer dann, „wenn ihre Gebiete übervölkert waren“, neue Länder erobert und das „unterlegene Volk“ auf diejenigen „Teilbezirke seiner früheren Besitzungen beschränkt“ hätte, „die seiner Volkskraft und Lebensnotwendigkeit angemessen waren.“ Dieses Prinzip wollte Stauff ausdrücklich auf das unterlegene Frankreich angewandt sehen. Aus dem demographischen Argument folgte in dieser Logik eine jeglicher bürgerlicher Moral (wie sie in der Vorstellung einer Entvölkerung durch legale Übernahme der Grundstücke und finanzielle Entschädigung der Eigentümer aus der Kasse des unterlegenen Staates noch rudimentär vorhanden war)201 enthobene „Pflicht des deutschen Volkes“, seinen Lebensraum „auf Kosten eines an Kraft und Raumbedarf zurückgehenden Volkstums in seiner Nachbarschaft“ auszuweiten.202 Mit den Beiträgen Wolffs und Stauffs erreichte die Rassifizierung des „Westmark“-Diskurses jedoch bereits ihren Höhepunkt. Mit seiner Kriegszieleingabe an Bethmann Hollweg203 und seiner Mitwirkung an der gemeinsamen Kriegszieleingabe der sechs größten Wirtschaftsverbände204 verknüpfte der Verband das ‚Westmark‘-Konzept vielmehr mit einem zweckrationalen wirtschaftsgeographischen Kalkül. Insbesondere bestand Übereinstimmung hinsichtlich der Kernforderungen der Wirtschaftsverbände nach einer Aneignung des belgischen und nordostfranzösischen Kohlebeckens in den Depar-
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terstradt, F.: Germanenrecht, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 325ff, hier: 327. Bartels, Adolf: Eins ist not, in: Alldeutsche Blätter 26 (1916), S. 105f. In ähnlicher Weise hatte auch Gustav Buchholz in Anlehnung an einen Beitrag in den Süddeutschen Monatsheften mit Blick auf den Balkan das Prinzip einer geregelten Umsiedlung in ethnisch homogene Siedlungsgebiete bei voller persönlicher Entschädigung der Betroffenen vorgeschlagen. Vgl. Buchholz, Gustav: Der Grundsatz der Aussiedlung und des Bevölkerungstausches, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 369f. Stauff, Philipp: Natürliche Rechte der Völker, in: Alldeutsche Blätter 26 (1916), S. 405f. Die Kriegsziel-Eingabe des Alldeutschen Verbandes, in: Alldeutsche Blätter 26 (1916), S. 477ff. Die Kriegsziel-Eingabe der Wirtschaftsverbände, in: Alldeutsche Blätter 26 (1916), S. 501-505 (im Folgenden zitiert als: Kiegsziel-Eingabe der Wirtschaftsverbände). Die Eingabe erfolgte im Namen des Bundes der Landwirte, des Deutschen Bauernbundes, des Vorortes der christlichen deutschen Bauernvereine (Westfälischer Bauernverein), des Zentralverbandes deutscher Industrieller, des Bundes der Industriellen und des Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes. – Zur Rolle von Claß vgl. Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, S. 57-61.
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tements Nord und Pas de Calais, des Minette-Gebiets von Longwy und Briey, eines Anschlusses des belgischen Eisenbahn- und Wasserstraßennetzes, des Besitzes der französischen Kanalküste bis zur Mündung der Somme als Basis „für unsere künftige Seegeltung“ sowie der Festungslinie von Verdun bis Belfort.205 Vor diesem Hintergrund relativierte Vietinghoff-Scheel weiterreichende Forderungen nach ‚Landnahme‘.206 Diese Neujustierung der politischen Linie spiegelt sich auch in Felix Hänschs politisch-geographischer Fundierung der Kriegsziele wider. Ausschlaggebend sollte demnach sein, dass die Annexionen den deutschen Truppen einen jederzeitigen „Zugang zu Frankreich“ sicherten. Außerdem sollte sie „unser Wirtschaftsleben um wertvolle Erzlagerstätten“ in Lothringen und Nordostfrankreich bereichern, Frankreich seiner wichtigsten Industriegebiete berauben, es auf diese Weise nachdrücklich schwächen und „unsere Seestreitkräfte in greifbare Nähe der englischen Küste“ bringen.207 Wie Hasse, zielte Hänsch auf die Annexion von Belfort und Montbéliard, des Westabhangs der Vogesen und des Minette-Gebiets, einige kleinere „Grenzberichtigung[en]“ im Gebiet der Festung Givet und in den Ardennen sowie auf den Anschluss des nordostfranzösischen Industriegebiets an Flandern.208 Belgien sollte in die „Verteidigungsfront“209 gegen Frankreich aufgehen und gemeinsam mit dem Nordosten Frankreichs die „Wachstumsspitze unseres Staates“ zum Atlantik hin bilden:210 „Stehen wir auf diesen Dünen [an der flämischen Kanalküste], so können wir Mutterhäfen für den Unterseebootkrieg schaffen und den englischen Kanalverkehr sperren. Deutsche Heere, 30 km vor den Kreidefelsen von Dover entfernt, bedrohen diese Küsten mit zukünftigen Einfall, beim Angriff auf Frankreich bietet die Küste eine vorzügliche Seitendeckung für unsere durch Belgien aufmarschierenden Heere, während das weit ins Binnenland zurückgezogene Antwerpen dem westdeutschen Handel neue Tore öffnet. Die belgische Küste ist also uns Deutschen für Angriff, Verteidigung und friedliche Entfaltung gleich wichtig.“211
Der Ratzel-Schüler dachte hier bereits an einen zweiten Weltkrieg, auf den es sich vor dem Ende des ersten vorzubereiten gelte. Denn nur wenn Deutschland in einem von ihm diktierten Frieden die geforderte „Sicherung“ der Westgrenze durchsetze, könne ein solcher Krieg entweder verhindert oder gewonnen werden. So verstanden, zielte die Aneignung des westlichen ‚Grenzsaumes‘ auf die Schaffung des militärischen Dispositivs eines abermaligen ‚Zukunfts-Krieges‘, wozu neben der territorialen Neuordnung auch eine zielgerichtete Formierung der ökonomischen, ethnischen und sozialen Verhältnisse gehören musste. Damit tauchte ein Argumentationsmuster auf, das die Westexpansion von den unmittelbaren Kriegszielen löste und ins205 206 207
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Kriegsziel-Eingabe der Wirtschaftsverbände, S. 502f. Vgl. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 184f. Hänsch, An der Schwelle, S. 27. – In den Akten des Alldeutschen Verbandes findet sich hierzu die undatierte Denkschrift: Zur belgischen Frage. Vom maritimen Standpunkt aus. Von Vizeadmiral z.D. Kirchhoff, BArch, R 8048648, p. 41. Vgl. Hänsch, An der Schwelle, S. 16, 23-27. Ebd., S. 17. Ebd., S. 19. Ebd., S. 18.
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besondere den Nordwesten als Entscheidungsraum deutscher Weltgeltung schlechthin konzeptualisierte. Der alldeutsche Diskurs konzentrierte sich in der zweiten Kriegshälfte daher vor allem auf zwei Teilgebiete der ‚Westmark‘, nämlich den flämischfranzösischen Nordwesten und den lothringischen Südwesten. Flandern erschien nunmehr als Kern einer deutschen „Nordwestmark“,212 um deren Besitz es im Krieg mehr als um jede andere Region im Westen gehe.213 Das Interesse der Alldeutschen Blätter galt daher der militärischen und wirtschaftlichen Bedeutung der flandrischen Küste und des belgischen Wasserstraßennetzes,214 vor allem aber der Flämischen Bewegung.215 Der Verband begrüßte das Zustandekommen des Vlaamsche Nationallanddag, der am 4. Februar 1917 in Brüssel den eng mit der Besatzung kollaborierenden Raad van Vlaanderen einsetzte. Unter Berufung auf die Erklärungen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zum Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie des deutschen Kanzlers Bethmann Hollweg zur „Befreiung der Vlamen von der Französisierung“ propagierten die Funktionäre des Rates eine eigene Vertretung Flanderns auf der erwarteten Friedenskonferenz,216 bevor sie im Dezember 1917 die Unabhängigkeit Flanderns proklamierten. Als scheinbar neutraler Fürsprecher der flämischen Unabhängigkeit ließ der Alldeutsche Verband am Ende des Krieges auch Niederländer zu Wort kommen, die der grootdietschen Bewegung nahe standen.217 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die ab 1917 in einer Auflage von über einer halben Million Exemplaren verbreitete Broschüre Warum und Wie muß Deutschland annektieren? des früheren niederländischen Oberleutnants Hans Clockener, in der er eine Einheit der Germanen in einem von strategisch günstigen Grenzen geschützten Reich anpries, die Forderung nach einer Umsiedlung der ansässigen Bevölkerungen aber durch die Aussicht auf garantierte Minderheitenrechte für die nicht deutschsprachigen Bewohner ersetzte.218 Den alten Wunsch nach einer germanisierten ‚Westmark‘ hoffte der Verband indessen in Lothringen zu verwirklichen. Bereits Ende 1914 hatten die Alldeutschen Blätter die Forderung „landwirtschaftlicher Kreise“ nach Enteignung und Umwandlung der im Reichsland liegenden französischen
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Anonymus: Deutsche Vlamenpolitik, in: Alldeutsche Blätter 26 (1916), S. 175ff, hier: 176. Vgl. v. Liebert: Belgien, in: Alldeutsche Blätter 27 (1917), S. 478f. Vgl. v. Grapow: Müssen wir Belgien militärisch, politisch und wirtschaftlich in der Hand behalten?, in Alldeutsche Blätter 27 (1917), S. 46ff; ders.: Die Kanäle und Wasserstraßen Belgiens, in: ebd., S. 66f. Vgl. Anonymus: Zur Vlamenfrage, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 6669; Anonymus: Die vlämische Hochschule, in: ebd. 26 (1916), S. 23f; Anonymus: Deutsche Vlamenpolitik, in: ebd., S. 175ff. Vgl. Anonymus: Die Forderungen Flanderns für den Friedensschluß, in: ebd., 27 (1917), S. 77ff. Darin auch der Abdruck der Gründungserklärung des Rates. Vgl. Steinmetz, R.: Darf Deutschland Flandern im Stiche lassen?, in: Alldeutsche Blätter 28 (1918), S. 181ff. Clockener, Hans: Warum und Wie muß Deutschland annektieren? Mahnruf an das deutsche Volk von dem Holländer Hans Glockner, 400.-600. Tsd., Berlin, o.J. [1917/18]. Zur Datierung vgl. die Verlagsanzeige in den Alldeutschen Blättern 27 (1917), S. 258 (26. Mai 1917).
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Güter in preußische Domänen aufgegriffen.219 Nach dem Beschluss der Reichsregierung vom 15. März 1917 zur Liquidation von Unternehmen und Grundbesitz französischer Eigentümer unternahmen die Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation und der Bund deutscher Bodenreformer Vorstöße zur Gründung einer gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft nach dem Vorbild der Siedlungsgemeinschaften Rothe Erde (Westfalen) und Rheinisches Heim (Rheinprovinz), die den enteigneten Grundbesitz im Sinne der Kriegerheimstättenbewegung an deutsche Soldaten und ihre Familien vermitteln sollte.220 Die Enteignung des lothringischen Grundbesitzes, dessen Wert mit 150 Millionen Mark veranschlagt wurde, war im Sommer 1917 soweit gediehen, dass die elsässisch-lothringische Regierung Verzeichnisse von 250 zur Zwangsversteigerung an deutsche Ansiedler gelangenden Grundstücken, Bauerngütern, Landhäusern und Industriegeländen vorlegte.221 Anfang 1918 schließlich kam es in Straßburg zur Gründung einer Landgesellschaft Westmark, doch lag ihr Aktionsfeld nicht mehr innerhalb, sondern außerhalb der Reichsgrenze. Vorbild waren nun weniger die innerdeutschen Siedlungsgesellschaften, sondern die seit dem Vorjahr im Osten tätige Landgesellschaft Kurland und die zu ihrer Finanzierung gegründete Neuland AG. Neben der „Kolonisation“ des „uns auch im Westen [zufallenden] Neuland[es]“ verband der Alldeutsche Verband damit die Hoffnung auf umfassende bevölkerungspolitische und landwirtschaftliche Rationalisierungen in Süd- und Westdeutschland: „Für die Besiedlung dieses Gebietes würden neben deutsch-russischen Kolonisten, in erster Linie der Süden und Westen Deutschlands als Kolonisator in Betracht kommen. Maßgebend für diesen Grundsatz sind die besonderen, schweren Bodenverhältnisse, die Eigenart in Sitte und Sprache der Bewohner und besonders auch die vom östlichen Deutschland verschiedenen Anbauverhältnisse, für die insbesondere vielfach auch Kenntnisse im Weinbau erforderlich sein würden. Allen diesen Verhältnissen würden sich süd- und westdeutsche Kolonisten weit besser und schneller anpassen können als solche aus Mittel- oder Norddeutschland. [...] Als Ansiedler für das westliche Neuland könnten nicht nur die starke, bisher ab- oder ausgewanderte ländliche Überschußbevölkerung des deutschen Südens und Westens, sondern auch ein Teil der angesessenen kleinbäuerlichen Bevölkerung dieser Gebiete herangezogen werden, die durch weitgehende Bodenzersplitterung stark übervölkert sind.222 [...] Es wäre in wirtschaftlicher wie sozialer Hinsicht ein Segen, wenn die Zahl der hauptberuflichen Landwirte in diesen übervölkerten Gebieten vermindert würde;
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Anonymus: Schafft staatliche Domänen in Lothringen, in: Alldeutsche Blätter 24 (1914), S. 419f; Anonymus: Die staatlichen deutschvölkischen Gegenmaßnahmen im Reichsland und Verwandtes, in: Alldeutsche Blätter 25 (1915), S. 4f. Die entsprechenden Eingaben der beiden Organisationen sind dokumentiert in: Anonymus: Siedlerfrage und französischer Grundbesitz in ElsaßLothringen, in: Alldeutsche Blätter 27 (1917), S. 342f. – Der gleiche Text erschien auch in: Archiv für innere Kolonisation 9 (1917), S. 272-276. Vgl. Anonymus: In Elsaß-Lothringen, in: Archiv für innere Kolonisation 9 (1917), S. 250f; Anonymus: Deutsche Ansiedler in Elsaß-Lothringen, in: ebd., S. 364. Genannt werden die elf Bezirke Wiesbaden, Koblenz, Pfalz, Neckarkreis, Schwarzwaldkreis, Freiburg, Karlsruhe, Mannheim, Rheinhessen, Unterelsass und Oberelsass.
„WESTMARK“ DER ALLDEUTSCHEN | 169 verkaufte ein Teil der Besitzer dieser nur schwach lebensfähigen Stellen ihr Land und siedelten sich ins Neuland unter günstigeren Bedingungen an, so würde dadurch für die zurückbleibende Bevölkerung etwas mehr Raum geschaffen werden.“223
Hierzu freilich kam es nicht mehr. Bereits im Sommer 1918 hob der Reichstag auf Initiative Matthias Erzbergers und der sozialdemokratischen Fraktion den zwischen der Landgemeinschaft Westmark und dem Deutschen Reich geschlossenen Vertrag auf und stellte der Straßburger Regierung die Gründung einer „elsaß-lothringischen Siedlungsgesellschaft“ anheim, sofern deren Arbeit mit den „Erfordernissen des Reiches“ vereinbar wäre.224 Der zuletzt von den Erfolgen der deutschen Frühjahrsoffensive beflügelte Wunsch der Alldeutschen, dass die Westgrenze eines größeren Deutschlands nun doch noch mit einem „Gürtel von Marken“ umkränzt werden könne,225 war damit gescheitert. Mit der Gründung der Deutschen Vaterlandspartei durch Alfred von Tirpitz, Wolfgang Kapp und Alfred Hugenberg im Jahre 1917 kam es indessen zu einer Renaissance der rassenideologischen Aufladung der Kriegsziele.226 Die Partei, die als außerparlamentarische Sammlungsbewegung der an den alldeutschen Kriegszielen orientierten Nationalisten bis Kriegsende einen starken Mitgliederzuwachs erzielte, propagierte unter dem Eindruck des Friedensschlusses von Brest-Litowsk zwar vor allem eine radikale Ostexpansion, griff aber auch die westpolitischen Kriegsziele auf und formulierte sie unter antisemitischen, antibritischen und antiamerikanischen Vorzeichen neu. In der vom Alldeutschen Verband und der Deutschen Vaterlandspartei gegründeten Zeitschrift Deutschlands Erneuerung227 äußerte sich diese Umcodierung in einer veränderten Feindbestimmung: Die „überstaatliche Macht“ eines imaginierten „englisch-amerikanische[n] Geldkönigtum[s]“, das sich auf die englische Seemacht stütze, in der Londoner City und an der New Yorker Wall Street beheimatet sei und sich auf politischer Bühne in Form einer „parlamentarischen Plutokratie“ manifestiere, überlagerte nun die traditionelle Stoßrichtung gegen Frankreich.228 Diese Vorstellung erfuhr eine anti223 224 225
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Stolt, Max: Deutsche Besiedlung der Ost- und Westmarkgebiete, in: Alldeutsche Blätter 28 (1918), S. 232f. (Herv. i. Orig.) Zit. ebd., S. 233. Unter dem Eindruck des Vertrags von Brest-Litowsk und der Offensive im Westen verkündeten die Alldeutschen Blätter am 6. April 1918: „Ein sieghafter deutscher Frieden hat uns bereits im Osten mit einer Reihe neuer Marken umkränzt, die dem Schutze des Reiches, dem Schutze unseres Volkstums dienen. Unser Ziel im Westen muß gleichfalls ein Gürtel von Marken, von Schutzgebieten, sein.“ Anonymus: Zum Siege im Westen, in: Alldeutsche Blätter 28 (1918), S. 109f, hier: 109. Vgl. Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei; Ullrich, Robert: Die Deutsche Vaterlandspartei 1917/18. Zur Entstehung, Rolle und Funktion einer extrem reaktionären Partei des deutschen Imperialismus und zu ihrem Platz im bürgerlichen Parteiensystem, Diss., Jena 1971. Zur Gründung des Blattes vgl. Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, S. 106ff. – Die Zeitschrift erschien bei Lehmann, dem Hausverlag der Alldeutschen. Zum Selbstbild der Zeitschrift vgl. exemplarisch Kühn, E.: „Deutschlands Erneuerung“, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 1-5. Gruber, M. von: Völkische Außenpolitik, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 74-87, hier: 74, 79 (im Folgenden zitiert als: Gruber, Völkische Außenpolitik). – In ähnlicher Manier erklärte Tirpitz, der Sinn des Krieges sei
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semitische Zuspitzung, indem die Zeitschrift der „überstaatlichen Geldmacht“ eine „angelsächsisch-jüdische[.] Volkszugehörigkeit“ bescheinigte und eine Absicht zur „Vernichtung Deutschlands“ mit nichtmilitärischen Mitteln unterstellte.229 In antisemitischer Diktion taucht hier also das Motiv eines Rassenkrieges wieder auf, allerdings war dieser nun in einen künftigen Frieden hinein verlängert. Aus dieser Logik ergab sich eine Verschiebung der Kriegsziele von der Verkleinerung Frankreichs hin zur Bekämpfung der „Plutokraten“ jenseits des Meeres: „Je gewisser es ist, daß England künftig Amerika zum Bundesgenossen haben wird, umso notwendiger ist es, daß seine Seeherrschaft endgültig jetzt gebrochen wird, solange Amerika uns gegenüber noch machtlos ist. Nur wenn wir die flandrische Küste besitzen, vermögen wir England dauernd mit einem Stoß ins Herz so zu bedrohen, daß es sich sanft verhalten muß. Wenn irgendmöglich müssen wir auch den nördlichen Teil des Pas de Calais mit Dünkirchen, Cales (Calais) und Bohnen (Boulogne) zu Flamland schlagen, um es unmöglich zu machen, daß Frankreich und England unterm Meere durch einen Tunnel sich zusammenschließen.“230
Auch die Siedlungspläne der Alldeutschen erschienen nun in einem neuen, antisemitischen Licht. So forderte Deutschlands Erneuerung Anfang 1918 nicht nur eine vollständige Deportation der frankophonen Einwohner aus den süd- und ostfranzösischen Gebieten, wo „die schweren Kriegsverluste der ohnehin sinkenden französischen Bevölkerung“ eine Germanisierung begünstigten.231 Mit der Begründung, dass jüdische Politiker dem „Siedlungsunternehmen“ im Wege stünden, verlangte sie im gleichen Atemzug die Eliminierung des „Judentums“ im „neuen Deutschen Staate“.232 In diesem Kontext veröffentlichte Strantz 1918 eine zum Buch erweiterte Fassung seiner dreißig Jahre zuvor entstandenen Broschüre über das verwelschte Deutschtum. Unter dem Titel Unser völkisches Kriegsziel pries er den „Vergeltungskampf, wie wir diesen Weltkrieg richtiger heißen müssen,“ als Erfüllung seines Lebenstraumes.233 Im Gestus der Kriegsphantasien der Vorkriegszeit beschrieb er das erwartete Kriegsende als deutschen Sieg, dem ein „deutscher Vergeltungsfrieden“ folgen werde. Dabei griff er den Terminus ‚Westmark‘ als übergreifende Bezeichnung für eine territoriale Neuord-
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die „Freiheit des europäischen Kontinents und seiner Völker gegen die alles verschlingende Tyrannei des Anglo-Amerikanismus.“ Zit. n. Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, S. 195. Dort auch nähere Angaben zur Funktion Grubers (S. 229, 231). Junker, Melchior: Die notwendige Erweiterung unserer Kriegsziele, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 510-517, hier: 514ff; zur Verwendung des Begriffs „Plutokratie“ zur Denunziation parlamentarischer Mitbestimmung als Herrschaftsinstrument der „goldenen Internationale“ vgl. auch Gruber, Völkische Außenpolitik, S. 79. Gruber, Völkische Außenpolitik, S. 83. Siegfried, Wolfgang: Siedlungsgedanken, in: Deutschlands Erneuerung 2 (1918), S. 33-48, hier: 42, 45. Ebd., S. 47. – Neben antisemitischen Zuschreibungen bezog sich Siegfried auf die Ablehnung der deutschen Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts sowie der annexionistischen Kriegszielpolitik durch die Sozialdemokratie, die er auf jüdischen „Einfluß“ zurückführte. Strantz, Unser völkisches Kriegsziel, S. 1.
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nung im Westen wieder auf, deren Kernelemente ein „um Lothringen, Französisch-Flandern, Artrecht, Kammerich und die Freigrafschaft geschwächte[s] Frankreich“,235 eine Lösung der belgischen Frage durch eine rasche Annexion, die Durchsetzung der deutschen Sprache in der Wallonie236 und der Aufbau einer prodeutschen Sammlungsbewegung in der Schweiz nach flämischem Vorbild237 waren. Auf dieser Basis schließlich entwickelte er die Vision einer „germanisch-romanischen“ Annäherung und Zusammenarbeit in einem künftigen Europa auf der Grundlage einer gemeinsamen Überlegenheit über den „slawischen Osten“.238 Der alldeutsche ‚Westmark‘-Diskurs erfuhr im Ersten Weltkrieg also eine mehrfache Umcodierung: Herrschte zunächst eine Fortschreibung der ebenso radikalen wie naiven Zukunftsvisionen und Kriegsphantasien der unmittelbaren Vorkriegszeit vor, die sich in einer Rassifizierung der Kämpfe ausdrückte, so reagierte der Verband auf die Situation des Stellungskrieges mit einer Angleichung der alldeutschen Kriegsziele an die Interessen der westdeutschen Industrie, einer Aktualisierung der politisch-geographischen Legitimationsmuster der Vorkriegszeit und einer Konzentration auf die realpolitischen Möglichkeiten im Nordwesten und Südwesten. Mit dem Übergang zu einer Politik der Sammlung der nationalistischen Parteien und Verbände im letzten Kriegsjahr schließlich setzte eine Aktualisierung des rassenideologischen und antisemitischen Diskursstranges ein. Das Konzept eines westlich der Westgrenze gelegenen deutschen Raumes, den es nach vollständiger oder teilweiser Zwangsumsiedlung der frankophonen Bewohner durch deutsche Siedler zu germanisieren gelte, durchlief indessen jede dieser Metamorphosen, wobei es am Ende des Krieges in einem Deutungszusammenhang stand, der mit seiner Feindbestimmung gegen die ‚überstaatliche Macht‘ einer jüdisch-britisch-amerikanischen ‚Plutokratie‘ und einer ‚germanisch-romanischen‘ Annäherung innerhalb eines von Deutschland dominierten Europa an die nationalsozialistische Propaganda des Zweiten Weltkriegs denken lässt. Wie aber reagierten die Alldeutschen auf die Kriegsniederlage, und was bedeutete ihre Reaktion für das Konzept der ‚Westmark‘?
Ü b e r g ä n g e i n d i e N a c h k r i e g sz e i t Auf das Ende des Krieges reagierte der Alldeutsche Verband mit einer Transformation seiner ‚Landnahme-‘ in eine Grenzlandprogrammatik. Diese Transformation hatte sich bereits in der Definition der Nachkriegsaufgaben durch Vietinghoff-Scheel auf dem Kasseler Verbandstag im Oktober 1917 abgezeichnet. Der Hauptgeschäftsführer sah im Falle eines Sieges eine der hauptsächlichen Aufgaben in der Betreuung des „Auslandsdeutschtums“, das infolge des Krieges „vielerorts geradezu zersprengt“ und seiner Entwicklungsmöglichkeiten beraubt sei. „Haß und Rachsucht“, so prophezeite er, würden es „noch nach Jahrzehnten hinaus verfolgen und bedrohen“. Aus diesem Grunde bedürfe es einer „weitestgehende[n] Hilfeleistung, teilweise 234 235 236 237 238
Ebd., S. 204. Ebd., S. 203. Ebd., S. 124f. Ebd., S. 214-223. Ebd., S. 203.
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sogar durchgreifender Umordnung, ja Umpflanzung, sollen nicht Millionen Stammesbrüder verloren gehen.“239 Das Programm einer planmäßigen Umsiedlung im Millionenmaßstab war also über das Kriegsende hinaus gedacht, nun allerdings in das Gewand eines Managements der bevölkerungspolitischen Folgen des Krieges und der territorialen Neuordnung gekleidet. Um „alle nationalen Vereinigungen, Kräfte und Mittel“ in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen, hatte der Alldeutsche Verband eine eigene Körperschaft, die Vereinigung für deutsche Siedlung und Wanderung,240 ins Leben gerufen, die bis in die 1920er Jahre hinein in Kooperation mit staatlichen Institutionen die Rückwanderer ins Deutsche Reich betreute. „Schulter an Schulter mit ihr und den anderen schon älteren Vereinigungen mit ähnlichen Zielen“ werde, so Vietinghoff-Scheel, auch der Alldeutsche Verband nach Kriegsende seine Kräfte vor allem „den Deutschen draußen widmen.“241 Es war daher nur die Übertragung einer offensiven in eine defensive Programmatik notwendig, damit Claß die Mitglieder des Verbandes im November 1918 zur Unterstützung der in den Nachbarländern und in den voraussichtlich abzutretenden Gebieten verbleibenden Deutschen auffordern konnte.242 Allerdings beanspruchte der Verband damit ein Aktionsfeld, das durch den VDA bereits besetzt war und auf dem nach Kriegsende ein relativ autonomer Organisierungsprozess einsetzte, der rasch in der Gründung des Deutschen Schutzbundes mündete. In diesem Prozess sollte der Alldeutsche Verband keine relevante Rolle mehr spielen.243 Anders reagierte der Kreis um die Zeitschrift Deutschlands Erneuerung auf das Kriegsende. An die Stelle der antisemitisch und antiamerikanisch umcodierten Kriegszielforderungen trat eine Konzentration auf die „Judenfrage“, die 1919 zum hegemonialen Deutungsmuster aller inneren und äußeren Umbrüche, insbesondere aber einer imaginierten Vernichtung Deutschlands durch die Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles wurde.244 In diesem veränderten Kontext transformierte Kurd von Strantz sein ‚völkisches Kriegsziel‘ in eine neue Westpolitik, die den Nordwesten in den Mittelpunkt stellte und eine gemeinsame Zugehörigkeit von Flamen und Wallonen zur deutschen Nation unterstrich. Unter Verweis auf die Wortstämme der Ortsnamen und sprachliche Besonderheiten des Wallonischen erklärte er die Wallonie zu einem „rein urdeutschen Volksboden“, der, wie auch Lothrin239
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So Vietinghoff-Scheel in einem Vortrag über „Die Aufgaben des Alldeutschen Verbandes nach dem Kriege“, zit. n.: Alldeutscher Verbandstag in Kassel, in: Alldeutsche Blätter 27 (1917), S. 413-425, hier: 424 (im Folgenden zitiert als: Alldeutscher Verbandstag). Die so genannte Rückwanderung ins Deutsche Reich am Ende des Ersten Weltkrieges ist kaum erforscht. Einen Einblick am Beispiel Wolhyniens vermittelt: Günther, Oliver: Die Rückwanderung von Wolhynien nach Deutschland bis 1918. Eine Recherche im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), Berlin 2003, im Internet: (16. August 2005). Zit. n. Alldeutscher Verbandstag, S. 424. Vgl. die Aufrufe in den Nummern 46 und 47 der Alldeutschen Blätter 28 (1918). Siehe Kapitel Die Diskursgemeinschaft „Deutscher Schutzbund“. Vgl. exemplarisch Liek, Walter: Der Anteil des Judentums an dem Zusammenbruch Deutschlands, in: Deutschlands Erneuerung 3 (1919), S. 29-43; Gruber, M. von: Der Vernichtungsfriede (Teil 1), in: ebd. 4 (1920), S. 2-13. (Der angekündigte zweite Teil erschien nicht.)
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gen, erst in jüngster Zeit romanisiert worden sei.245 Große Hoffnungen setzte er in Vorwegnahme nationalrevolutionärer Positionen auf die wallonische Arbeiterschaft, die nach dem Abklingen des kriegsbedingten Hasses auf die deutschen „Eindringlinge“ den höheren Lebensstandard der Arbeiter in einem sozialistisch gewordenen Deutschland erkennen und für den Anschluss an dieses Reich eintreten würde. Den wallonischen Sozialisten hielt er in diesem Zusammenhang zu Gute, dass sie sich während des Krieges nicht durch antideutsche Propaganda hervorgetan hätten.246 Einen Einfluss auf die jungkonservativen Grenzlandaktivisten und die spätere NS-Volkstumspolitik hatte dies freilich nicht. Strantz’ Bemühen, auf der Basis einer 1936 vorgelegten nordisch-mystischen Deutung der deutsch-französischen Konflikte247 Anschluss an das SS-Ahnenerbe zu finden,248 scheiterte im Zweiten Weltkrieg ebenso wie sein Versuch, die deutsche Besatzungsverwaltung in Belgien von der Aktualität seiner Thesen zum ‚Deutschtum‘ der Wallonen zu überzeugen.249 Dieses Thema jedoch war zwischenzeitlich von der professionellen Westforschung aufgegriffen worden, und diese war es auch, die nun zum Zuge kam. Das Beispiel Strantz ist symptomatisch. Es gelang den Vertretern der alldeutschen Kriegsziele nur in Ausnahmefällen, Anschluss an den völkischen und jungkonservativen ‚Westland‘-Diskurs der Zwischenkriegszeit zu finden. Ein solches Beispiel ist der Journalist Karl Mehrmann, der als Chefredakteur der Koblenzer Zeitung250 in den Alldeutschen Blättern seit den 1890er Jahren eine Reihe tagespolitischer Beiträge veröffentlicht, jedoch nicht zu den Protagonisten des ‚Westmark‘-Konzepts gezählt hatte.251 Hinzu kamen Reise-
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Strantz, Kurd von: Das Deutsche Reich, Flandern und die Wallonei, in: Deutschlands Erneuerung 3 (1919), S. 12-18, hier: 13f. – In weiteren Beiträgen beschäftigte sich Strantz u.a. mit Nordschleswig und Helgoland. Ebd., S. 18. Ders.: Der Romanismus als 2000jähriger Fluch des Germanentums, besonders des Deutschtums (Völkisches Erwachen, Bd. 5), Leipzig 1936 (im Folgenden zitiert als: Strantz, Romanismus als 2000jähriger Fluch des Germanentums). – Die gesamte Reihe Völkisches Erwachen zeichnete sich durch einen neuheidnischen, dezidiert antikatholischen und antisemitischen Grundcharakter aus. Vgl. exemplarisch die im zeitlichen Zusammenhang mit Strantz erschienenen Hefte: Maag, Erich: Wider das „arische Judentum“, Leipzig 1936; Lappenbusch, Johanna: Gudrun und wir. Ein Beitrag zur Rassenfrage, Leipzig 1936. Strantz bot dem Ahnenerbe-Stiftung Verlag eine Neuauflage seiner Broschüre Romanismus als 2000jähriger Fluch des Germanentums an. Der Verlag lehnte im März 1943 ohne weitere Begründung ab. Vgl. SS-Untersturmführer (Ahnenerbe-Stiftung Verlag) an Frl. Schmidt, 17. Januar 1942 u. AhnenerbeStiftung Verlag an Strantz, 9. März 1942, BArch, NS 21/227, n.p. (Für den Hinweis und die Quelle danke ich Wolfgang Freund, Saarbrücken). Vgl. hierzu Beyen, Lateinische Vorhut, S. 374. Dr. Karl Mehrmann (geb. 1866, Todesdatum unbekannt) war von 1893 bis 1896 zunächst Lehrer in Straßburg; von 1895 bis zu seiner Ausweisung 1923 leitete er die Redaktion der Koblenzer Zeitung; 1924 wurde er Geschäftsführer des Deutscher Rhein e.V. und 1933 Geschäftsführer des Bundes Deutscher Westen. Vgl. exemplarisch Mehrmann, Karl: Deutsche Leichtgläubigkeit und der Menschheitsbeglücker Wilson, in: Alldeutsche Blätter 28 (1918), S. 110ff.
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berichte über die Westfront252 und die deutschen Siedlungsgebiete in Litauen253 sowie einige Broschüren großdeutscher Stoßrichtung,254 die auf eine deutsche Nachkriegspolitik der balance of power auf Basis der realisierten Kriegziele im Osten und Westen zielten.255 Nach seiner Ausweisung aus dem besetzten Rheinland durch die französischen Behörden im Jahre 1923 gelang es ihm, als Geschäftsführer des Vereins Deutscher Rhein und des Bundes Deutscher Westen Einfluss auf die grenzlandpolitische Publizistik zu gewinnen. Nachdem er zunächst gegen die Besatzung und Entmilitarisierung des Rheinlandes agiert hatte, gehörte er zum Autorenstamm der jungkonservativen Zeitschrift Volk und Reich, bevor er einige wichtige Beiträge zur Einordnung Burgunds in das nationalsozialistische ‚Westraum‘-Konzept des Zweiten Weltkrieges lieferte.256 Allerdings wird an seinem Beispiel ein wesentlicher Unterschied zu Strantz deutlich: Denn anders als dieser, konnte sich Mehrmann weitgehend unbelastet durch jene Eroberungs- und Germanisierungsfiktionen in den Nachkriegsdiskurs einfügen, die den Alldeutschen Verband in den Augen der neuen Akteure nachhaltig diskreditierten. Wir können also nicht von einem bruchlosen Übergang vom alldeutschen ‚Westmark-‘ zum jungkonservativen ‚Westland‘-Diskurs sprechen. Denn wenngleich Claß ein einflussreicher Hintermann der äußersten Rechten und Hoffnungsträger für den von ihr erhofften Staatsstreich blieb,257 so wenig eignete sich seine Kriegszieldenkschrift als Basis einer Grenzlandpolitik unter den Bedingungen der Kriegsniederlage. Umso mehr galt dies für die nunmehr grotesk wirkenden Entwürfe großflächiger Annexionen, diktatorialer Militärgrenzen und millionenfacher Bevölkerungsverschiebungen. Hinzu kam, dass die meisten Autoren es unterlassen hatten, ihre Kriegsziele durch wissenschaftliche Forschungen zu untermauern und an die bürgerlichen Normen des 19. Jahrhunderts rückzubinden. Der machtbestimmte und gewalttätige Gestus aber, der den Krieg als notwendige Voraussetzung einer weit ausgreifenden Lebensraumpolitik begrüßt und auf jede andere Legitimation als die der eigenen Stärke und Überlegenheit verzichtet hatte, trug den prekären und instabilen Situationen der Nachkriegsjahre in keiner Weise mehr Rechnung. Es verwundert daher nicht, dass die einschlägigen Schriften in den maßgeblichen Publikationen der jungkonservativen Grenzlandpolitik nicht mehr zitiert und bibliographiert wurden,258 und noch im ‚Westraum‘-
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Ders.: Auf den Schlachtfeldern Belgiens und Frankreichs, Coblenz o.J. [1915]. Dort schildert er eine vom 8. Armeekorps genehmigte Reise von Lüttich nach Longwy und Luxemburg. Ders.: Neu-Deutschland in Litauen, Coblenz 1917. Ders.: „Groß-Deutschland“. Unsere Stellung in der Weltstaatengesellschaft, Dresden 1915. Ders.: Das Neue Gleichgewicht der Staaten, Dresden o.J. [1917] (im Folgenden zitiert als: Mehrmann, Das Neue Gleichgewicht). Siehe hierzu Kapitel Das neue Arrangement der Regionen und die Semantik des Verbindenden. Vgl. als zeitgenössisches Zeugnis: Alter, Junius [i.e. Franz Sontag]: Nationalisten. Deutschlands nationales Führertum der Nachkriegszeit, 2. Aufl., Leipzig 1932, S. 20-26. Vgl. exemplarisch Anonymus: Einführendes Schrifttum zu den Westfragen, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 731-737.
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Diskurs des Zweiten Weltkrieges finden sich Distanzierungen von den alldeutschen Kriegszielkampagnen.259 Allerdings waren es nicht allein situativ bedingte Reaktionen und Kalküle, sondern tiefer reichende politische Divergenzen, die zum Abbruch des alldeutschen ‚Westmark‘-Diskurses führten. So wandte sich Theodor Reismann-Grone, der den Alldeutschen Verband mitbegründet hatte und als Leiter seiner Flamenpolitischen Sektion sein vielleicht wichtigster westpolitischer Funktionsträger gewesen war, nach einem Zerwürfnis mit Claß öffentlich gegen die Verbandsführung.260 In seiner Streitschrift Der Erdenkrieg und die Alldeutschen (1919) polemisierte er gegen deren außenpolitische Positionen und warf ihr eine völlige Fehleinschätzung der europäischen Mächtekonstellation der Vorkriegszeit vor. Für Reismann-Grone trugen weniger Frankreich und Russland, sondern das „englische Weltreich“ und die „katholisch-habsburgische Weltidee“ die Hauptschuld am Krieg. Statt sich als nationale deutsche Elite gegen die habsburgische Politik zu wenden, habe sich der Verband von ihr vereinnahmen lassen:261 „Die alldeutsche Schuld ist: mitgelaufen zu sein.“262 Diese Vereinnahmung zeige sich in geradezu grotesker Form in Claß’ Kriegszieldenkschrift von 1914. Während sie das habsburgische Reich durch großzügige Annexionen in Südosteuropa zu einem mächtigen Imperium gemacht hätte, wären die deutschen Annexionen auf ein „geradezu verrückte[s]“ Gebilde hinaus gelaufen, das sich wie ein „ungeheurer ausgezogener Fladen“ von Calais bis zum Peipus-See erstreckt hätte und im Kriegsfall nicht zu verteidigen gewesen wäre.263 Die Denkschrift stelle damit ein Dokument der politischen Unreife dar, das der alldeutschen Sache schwersten Schaden zugefügt und verhindert habe, dass der Verband ein „vernünftiges Kriegsziel“ habe propagieren können.264 Die wohl pointierteste Kritik aber formulierte der konservative Publizist Paul Rohrbach in einer bereits 1916 als vertrauliche Denkschrift für die „maßgebenden Reichsstellen“ begonnenen265 und im Juli 1919 unter dem Titel Chauvinismus und Weltkrieg publizierten Untersuchung, in der er anhand der alldeutschen Publizistik die annexionistischen, rassenideologischen und bevölkerungspolitischen Positionen des Verbandes analysierte und ihre Rezeption in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Italien und Skandinavien rekonstruierte. Ausgehend von Strantz’ Griff nach dem verwelschten Deutschtum wies er nach, dass die alldeutsche Bewegung lange vor Ausbruch des Krieges das Bild des säbelrasselnden Teutomanen geprägt und der gegnerischen Kriegspropaganda schließlich unmittelbar in die Hände gespielt habe. So habe der französische Abgeordnete Jules Roche bereits während der Verhandlung des Heereshaushalts im März 1895 die Befürchtung geäußert, die Eroberungswünsche von Strantz gäben den Geist der deut-
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Vgl. Craemer, Westgrenze, S. 242. Reismann-Grone, Erdenkrieg. Ebd., S. 99. Ebd., S. 104. Ebd., S. 102. Ebd., S. 126. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. III. – Rohrbach war während des Krieges in der Zentralstelle für Auslandsdienst des Auswärtigen Amtes tätig, die in ihrer Außenpropaganda auf eine ethische Legitimation des Krieges setzte. Vgl. hierzu Petzold, Wegbereiter.
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schen Heeresvorlage von 1893 wieder.266 Bei Beginn des Krieges legten französische Wissenschaftler wie der Germanist Charles Andler267 und der Historiker Georges Blondel,268 beide führende Autoritäten zu Fragen der deutschen Politik und Geschichte, umfassende Studien über den Pangermanismus vor, in denen sie Hasses Adaption der Politischen Geographie, Claß’ Überlegungen zur Vertreibung der frankophonen Bevölkerung, Tannenbergs Friede von Brüssel, Wolffs Spekulationen über die rassische Minderwertigkeit der Franzosen und Reimers Plan einer rassischen Hierarchisierung und territorialen Separierung ausführlich behandelten.269 Rohrbach umriss die Alarmstimmung, die das Bekanntwerden der alldeutschen Forderungen in Frankreich hervorgerufen hatte, und kam zu dem Schluss: „Man erkennt nun, was die Lehre von dem ‚immer feindseligen Deutschland‘ in Frankreich für eine gefährliche quellenmäßige Begründung erfahren hat. Man sieht, wem wir es verdanken, wenn so ein wütender Demagoge wie Clémenceau sich vor dem Kriege in die Brust werfen und rufen durfte: ‚Die Deutschen hassen uns so stark, daß sie durch ihre ganze Presse überall verkünden, es sei notwendig, für einen Vernichtungskrieg gegen uns zu rüsten; und wir haben mit einem plötzlichen Angriff zu rechnen.“ [... D]ie französischen Tagesschriftsteller tischen alle Tage von neuem die alldeutschen ‚Belege‘ dafür auf, daß Deutschland schon lange nach allen jenen Gütern Frankreichs getrachtet habe. Wer will den Schaden abschätzen, den solche Verhetzung für Deutschland jetzt und in Zukunft bedeutet? Wer will ihn verantworten?“270
Wenngleich Rohrbach der französischen Politik also einen instrumentellen Umgang mit den alldeutschen Forderungen vorwarf, so ließ er keinen Zweifel daran, dass die Alldeutschen „in der Tat, wie unsere Gegner behaupten“, die „Weltherrschaft gefordert“ hätten, und ausdrücklich unterstrich er, dass die radikalen Kriegsvisionen keineswegs als „gelegentliche Übertreibungen oder Verfehlungen“ anzusehen seien, sondern „die Spitzen der von Grund auf sich hebenden alldeutschen Woge“ darstellten. „Dieselbe politische Bega266
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Vgl. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 247f. – Roche bezog sich auf Kurd von Strantz’ Aufsatz Die Frucht des künftigen Krieges im Osten und Westen von 1893 (Auszüge ebd., S. 245ff). Vgl. Andler, Charles: Le Pangermanisme. Ses plans d’expansion allemande dans le monde, Paris 1915 (dt.: Die alldeutsche Bewegung. Ihre Pläne deutscher Ausbreitung in der Welt, Paris 1915; engl.: Pan-Germanism. Its plans for German expansion in the world, Paris 1915); ders.: Le pangermanisme continental sous Guillaume II. de 1888 à 1914. Textes trad. l’allemand, avec un préface par Charles Andler, Paris 1915. Vgl. Blondel, Georges: La doctrine pangermaniste, Paris 1915; ders.: La Guerre Européenne et la doctrine pangermaniste, Paris 1915. Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 225-260. – Rohrbach bezog sich außerdem auf Vergnet, Paul: La France en danger. L’oeuvre des Pangermanistes, Paris 1913 (engl.: France in Danger. Translated by Beatrice Barstow, London 1915) und Chéradame, André: La Paix que voudrait l’Allemagne, Paris 1915. Vgl. auch ders.: Les Bénéfices de guerre de l’Allemagne et la formule boche „Ni annexions, ni indemnités", Paris 1917; ders.: Le plan pangermaniste démasqué. Le redoutable piège berlinois de „la partie nulle". Ouvrage accompagné de 31 cartes originales, Paris 1916 (engl.: The Pangerman Plot Unmasked, New York 1917). Rohrbach u.a., Die Alldeutschen, S. 262f.
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bung, die dazu gehörte, der Welt offen die deutsche Knechtschaft anzukündigen und dafür mit dem Gedanken zu werben, die Welt werde ‚am deutschen Wesen genesen‘, durchtränkte alles.“271 Die Alldeutschen trügen, so folgerte Rohrbach, damit eine Mitschuld am Ausbruch des Krieges und daran, dass die Entente den Deutschen die Kriegsschuld hätte zuweisen können. Innenpolitisch trügen sie darüber hinaus „den Hauptanteil der Schuld“ an der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung, da diese den Eindruck gewonnen habe, die konservativen Kräfte würden „den Durchhaltewillen des Volkes für übermäßige und gefährliche Ziele auf[.]bieten“.272 Rohrbach formulierte damit eine diametrale Gegenposition zur Dolchstoßlegende der Nachkriegsrechten, wie sie in den antisemitischen Projektionen der Zeitschrift Deutschlands Erneuerung bereits anklang. Bedeutend war Rohrbachs Kritik auch aufgrund seines persönlichen Profils. Denn bereits bei Kriegsbeginn hatte er mit dem Konzept einer ethisch und kulturpolitisch akzentuierten Mitteleuropapolitik273 eine konservative Alternative zum Annexionismus der Alldeutschen aufgezeigt, die von diesen scharf befehdet worden war, nun aber weitaus bessere Anknüpfungspunkte für eine jungkonservative Grenzlandpolitik bot.
Z w e i t e s Z w i sc he n f az i t Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Westgrenze in mehrfacher Weise als ein Raum begreifbar geworden: als der Raum zwischen der Reichsgrenze und der sprachlich-natürlichen Grenze der Nation im Sinne Boeckhs, als ein darüber hinaus reichender Raum zwischen der heutigen und einer früheren Reichsgrenze im Sinne Menzels, als ein ethnographisches ‚Grenzland‘ im Sinne Riehls und als ‚Zwischenland‘ im Sinne Ratzels. Die entstehenden völkisch-nationalistischen Verbände des Kaiserreichs ergänzten diese Konzeptualisierungen der Grenze durch eine politische Praxis, die sich teils im Anschluss an Boeckhs Nationalitätsprinzip in einer kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten, teils aber auch im Sinne der alldeutschen Bewegung in gewaltsamen Zugriffsstrategien ausdrückte. Insbesondere die Alldeutschen schrieben die westliche Grenzfrage über die Lösung von 1871 hinaus fort und verbanden sie mit einer radikalen Neuformulierung der inneren und äußeren Politik nach Maßgabe eines völkisch-rassisch fundierten Imperialismus. Für dieses politische Programm lieferte die Politische Geographie Ratzels mit ihrer Apologie der expandierenden ‚Lebensräume‘ und ihrem biopolitischen
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Ebd., S. 180. Ebd., S. IV. Ders.: Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf 1912. Vgl. auch Mogk, Walter: Der Weg Paul Rohrbachs zum politischen Publizisten, Marburg 1969; ders.: Paul Rohrbach und das „Größere Deutschland“. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kulturprotestantismus, München 1972; Bieber, Horst: Paul Rohrbach. Ein konservativer Publizist und Kritiker der Weimarer Republik, München 1972; Bruch, Rüdiger vom: Weltpolitik als Kulturmission. Auswärtige Kulturpolitik und Bildungsbürgertum in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Paderborn 1982.
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Konzept der dynamischen, organischen und räumlichen Grenze einen theoretischen Ankerpunkt. Hatte der Begriff ‚Westmark‘ seit Treitschke zunächst für das Reichsland Elsass-Lothringen gestanden, wurde er im alldeutschen Diskurs zur Bezeichnung für die in ihrem gesamten Verlauf als ein „einziger breiter Grenzsaum“ (Ratzel)274 wahrgenommene Westgrenze. Erst hier haben wir es also mit der Konstruktion einer ‚Westmark‘ im Sinne der späteren Raumkonzepte ‚Westland‘ und ‚Westraum‘ zu tun. Allerdings vollzog sie sich erst sukzessive, schloss nur bedingt an die oben umrissenen Konzepte an, oszillierte zwischen unterschiedlichen territorialen Forderungen und ergab sich additiv aus mehreren teils nebeneinander verlaufenden, teils einander kreuzenden Diskurssträngen. Ihr Ausgangspunkt bildete Kurd von Strantz’ Versuch, den Nordosten und Osten Frankreichs sowie die Wallonie als einen zusammenhängenden Streifen ursprünglich deutschsprachiger Territorien zu beschreiben und ihre Regermanisierung im Zuge eines künftigen Krieges zu legitimieren. Strantz griff damit das Raumkonzept Menzels wieder auf, allem Anschein jedoch ohne dessen Schriften zu kennen, und auch die Ansätze Boeckhs, Riehls und Ratzels hatten auf seine historiographisch unterlegte philologische Argumentation keine erkennbare Wirkung. Auch bezeichnete Strantz den beanspruchten Raum zunächst nicht als ‚Westmark‘, sondern brachte ihn mit dem früheren Burgundischen Reichskreis in Verbindung. Gleichwohl aber erlaubten seine Spekulationen über einen deutschen Ursprung der frankophonen Ortsnamen dieses Gebietes es, die Sprachgrenze nicht mehr als ausschlaggebend für das Ausmaß der territorialen Expansion anzusehen. Um die Jahrhundertwende adaptierten radikale Rassenideologen diese Argumentationslinie, fassten die beanspruchten Gebiete als ‚Marken‘ auf und bezeichneten sie nun explizit mit dem Terminus ‚Westmark‘. Hinzu kam ein zweiter Diskursstrang, dessen Ausgangspunkt der Gedanke des alldeutschen Verbandsvorsitzenden Ernst Hasse war, die frankophonen Gebiete an der Westgrenze in eine ‚Militärgrenze‘ mit dem Namen ‚Westmark‘ umzuwandeln und die frankophone Bevölkerung mit Hilfe diktatorialer Maßnahmen durch deutsche Wehrbauern zu ersetzen. Im Gegensatz zu Strantz stützte sich Hasse dabei auf die Grenztheorie Ratzels. Auf dieser Grundlage übertrug sein Nachfolger Heinrich Claß den Gedanken einer ‚Militärgrenze Westmark‘ nach Kriegsbeginn auf die beanspruchten französischen Gebiete und konzipierten die künftige Westgrenze in ihrer Gesamtheit als ein ‚elastisches‘ räumliches Gefüge mehrerer ‚Marken‘. Gleichzeitig radikalisierte er die Vorstellung einer Verdrängung der frankophonen Bewohner zum Gedanken einer ‚Annexion frei von Menschen‘ und griff damit alldeutsche Vorstellungen auf, im Zuge des Krieges eine ethnische Neuordnung des europäischen Kontinents durch millionenfache Bevölkerungsverschiebungen in die Wege zu leiten. Innerhalb dieses zweiten Diskursstranges war die ‚Westmark‘ also nicht allein ein beanspruchtes Gebiet jenseits der Staats- und Sprachgrenze, sondern als ‚Mark‘ zugleich das diktatorisch zu handhabende Instrument ihrer gewaltsamen Germanisierung. Die ‚Westmark‘ war also nicht nur die zum Raum transformierte Grenze, sondern ein bevölkerungspolitisches Programm der Vertreibung und Neubesiedlung im Medium der transformierten Grenze. Treitschkes Verweis auf die gegen274
Ratzel, Allgemeine Eigenschaften, S. 79.
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läufige demographische Entwicklung der Deutschen und Franzosen wurde in diesem Zusammenhang zum stereotypen Argument für die Umsiedlung der frankophonen Bevölkerung in das Innere eines verkleinerten und entmachteten Frankreichs. Konstitutiv für beide Diskursstränge war die Erwartung eines künftigen Krieges als Geburt einer totalitären, von den politischen Restriktionen und normativen Schranken der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entbundenen deutschen Weltmacht.275 Nahezu alle untersuchten ‚Westmark‘Konzepte waren Teil solcher Zukunftsentwürfe und Kriegsfiktionen. Sie erlaubten es ihren Autoren, die alldeutsche Programmatik losgelöst von realpolitischen Rücksichten in besonders radikaler Form auszuformulieren. Über die expansionistische und bevölkerungspolitische Konzeptualisierung hinaus wurde die ‚Westmark‘ damit zur Projektionsfläche für politische Zukünfte, die mit ihrer Apologie des ‚Ariertums‘, ihrer Verbindung von territorialer Expansion und rassenhierarchischer Neuordnung und nicht zuletzt ihren Vorstellungen einer neuen Sklavenkaste wesentliche Elemente der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis vorwegnahmen. In diesem Kontext entstanden Raumkonzepte, die in territorialer wie auch bevölkerungspolitischer Hinsicht weit über die oben umrissenen Vorstellungen hinausgriffen, indem sie auf eine vollständige Annexion, territoriale Zonierung und rassische Hierarchisierung des unterworfenen Frankreichs zielten, eine rassische Minderwertigkeit der Franzosen postulierten oder den Krieg als ‚Rassenkrieg‘ auffassten, der in der Vernichtung des französischen Volkes münden könne und solle. Der Ausbruch des Krieges stellte vor diesem Hintergrund einen Fluchtpunkt und zugleich Prüfstein dar, an dem sich die Tauglichkeit dieser hypertrophen Kriegsfiktionen erst noch erweisen musste. Beobachten wir vor 1914 eine Oszillation der Raumkonzepte und der künftigen Grenzen, so bewirkte der Kriegsbeginn eine verbandsinterne Integration und Hegemonialisierung der von Strantz entwickelten territorialen und von Hasse und Claß vertretenen bevölkerungspolitischen Konzeptionen, die mit zentralen Kriegszielforderungen der Wirtschaftsverbände zur Deckung gebracht wurden. Die Bedeutung der Kriegszielpolitik für das ‚Westmark‘-Konzept lag zum einen in dieser Integration. Mit ihr gelang es den Alldeutschen, die im 19. Jahrhundert formulierten (und in Elsass-Lothringen weitgehend eingelösten) territorialen Ansprüche mit einem weit darüber hinaus gehenden bevölkerungspolitischen Programm zu verknüpfen, das aufgrund seiner immanenten Gewalt erst im Medium jener neuen Qualität von Krieg realisierbar wurde, die ab 1914 erreicht war. Dabei fokussierte sich das alldeutsche Interesse auf Flandern und die flämische Bewegung sowie auf das französische Lothringen und die dortigen Anfänge einer deutschen Siedlungspolitik, bevor es in der Endphase des Krieges zu einer Umcodierung unter antibritischen, antiamerikanischen und antisemitischen Vorzeichen kam. Noch viel mehr aber lag die Bedeutung der Kriegsfiktionen und Kriegsziele in ihrem realpolitischen Versagen, das eine Neujustierung des ‚Westmark‘-Konzepts zwingend erforderte. Keiner der weiter unten behandelten völkischen, jungkonservativen und nationalsozialistischen Autoren der Zwi275
Vgl. hierzu der nach wie vor grundlegenden Begriffsbestimmung des Totalitären in Abgrenzung von den ‚Panbewegungen’ durch Hannah Arendt: Elemente und Ursprüng totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 12. Aufl., München u.a. 2008.
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schenkriegszeit schloss unmittelbar an die alldeutsche Publizistik an. Insofern ist von einer Zäsur zu sprechen, die durch das konkrete Kriegserlebnis, die Neukonfiguration der Rechten und die Herausbildung neuer grenzlandpolitischer Situationen, Akteure und Konzepte noch verstärkt wurde. Gleichwohl aber werden sich Elemente des alldeutschen Diskurses in jungkonservativem Gewand wieder finden. Hierzu zählen der ungefähre räumliche Umfang der ‚Westmark‘, die Fokussierung auf die flämische Bewegung und die Vorstellung einer niederländischen Sonderrolle, darüber hinaus auch die enge konzeptionelle Verschränkung von Bio- und Geopolitik, die Begrifflichkeiten der ‚Landnahme‘, des ‚Neulandes‘ und des ‚Volksbodens‘, der Glaube an die grundsätzliche Machbarkeit großer Bevölkerungsverschiebungen, die Vorstellung der Grenze als einer Zone suspendierter bürgerlicher Normen und nicht zuletzt die Verheißung eines „nationalen und sozialen Neudeutschland“.276 Wir werden die jungkonservativen ‚Westland‘-Texte also immer auch als eine Transkription des ‚Westmark‘-Diskurses lesen müssen. Dies schließt die Folgerung ein, dass wir das ‚Westland‘ nicht als eine den spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit entsprungenes Raumkonzept auffassen können, das sich erst allmählich von der Defensive zur Offensive radikalisiert habe, sondern dass wir es im Gegenteil mit einer Störung innerhalb einer genuin aggressiven Konzeption zu tun haben. Ein wesentliches Element der zu leistenden Transkription war die Neuformulierung einer politisch-geographischen Theorie der Grenze, die sich zwar auf Ratzel, nicht aber auf seine alldeutschen Adepten stützte. Ihr werden wir uns nun zunächst zuwenden.
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Vgl. Beerfelde, von: Neudeutschland, wie wir es wollen!, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 193f, hier: 194.
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DE R
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Karl Haushofer und die Neuformulierung der Politischen Geographie Die wohl folgenreichste Weiterentwicklung des theoretischen Fundaments, das Ratzel für das Verständnis der Grenzen als Räume gelegt hatte, geschah durch Karl Haushofer.1 Betrachtet man das theoretische Konzept des ersten Professors für das Fach Geopolitik einer deutschen Universität, so findet sich eine Vielzahl neuer Aspekte, aktueller Beispiele, ideologischer Aufladungen und politischer Handlungsempfehlungen, jedoch wenig essentiell Neues. Haushofer radikalisierte vielmehr Ratzels biopolitisches Konzept einer Räumlichkeit, Dynamik und Belebtheit der Grenze und schrieb dessen Vorstellungen einer in der Grenzlinie repräsentierten ‚Grenzwüstung‘, einer Gleichartigkeit geologischer, biologischer, kultureller und politischer ‚Grenzsäume‘, einer ‚Korrelation‘ zwischen Grenze, Zentrum und Staatsganzem und einer Ausformung von Grenzlandschaften zur ‚Wachstumsspitze‘ eines zur Expansion gedrängten ‚Lebensraumes‘ fort.2 Konsequent blendete er die
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Haushofers Geopolitik war in den Vereinigten Staaten bereits im Zweiten Weltkrieg Gegenstand mehrerer Arbeiten; so Dorpalen, Andreas: The world of General Haushofer. Geopolitics in action, with an introduction by Colonel Herman Beukema, New York u.a. 1942; Weigert, Hans Werner: Generals and Geographs, New York 1942. Eine grundlegende deutschsprachige Darstellung und Quellensammlung bietet Jacobsen, Haushofer; vgl. hierzu auch Bakker, Geert: Duitse Geopolitiek 1919-1945. Een imperialistische Ideologie, Utrecht 1967. Zur neueren Bewertung Haushofers vgl. Korinman, Michel: Quand l’Allemagne pensait le monde. Grandeur et décadence d’une geopolitique, Paris 1990; Diner, Dan: Weltordnungen. Über Geschichte und Wirkung von Recht und Macht, Frankfurt a.M. 1993; Ebeling, Frank: Geopolitik. Karl Haushofer und seine Raumwissenschaft 1919-1945, Berlin 1994; Sprengel, Rainer: Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1913-1944, Berlin 1996; Murphy, David Thomas: The heroic earth. Geopolitical thought in Weimar Germany, Kent (Ohio) 1997; Polelle, Mark: Haushofer and the pursuit of German Geopolitics, in: ders: Raising cartographic consciousness. The social and foreign policy vision of geopolitics in the twentieth century, Lanham u.a. 1999, S. 91-116; Diekmann u.a. (Hrsg.), Geopolitik; Wolter, Heike: „Volk ohne Raum“. Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs, Münster 2003; Pierik, Perry: Karl Haushofer en het nationaal-socialisme, Soesterberg 2006. Neben Ratzel bezog er sich auf dessen Leipziger Weggefährten Karl Lamprecht und dessen Schüler Hans Helmolt, Arthur Dix und Emil Schöne (vgl. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 34-40). Haushofer verwies insbesondere auf: Dix, Arthur: Politische Geographie, München 1921; ders.: Politische Erdkunde, Breslau 1922; Helmolt, Hans: Welt-
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Adaption dieser Theoreme durch die alldeutsche Kriegszielpolitik aus und machte sie damit für den völkischen und jungkonservativen Grenzlandaktivismus als scheinbar unbelasteten Wissensbestand verfügbar. Bereits frühe Rezensenten hatten bemerkt, dass Haushofer zwar über einen weiten Horizont und einen unkonventionellen Stil, nicht aber über eine fundierte geographische, historische oder staatswissenschaftliche Ausbildung verfügte.3 Der Generalmajor neigte vielmehr dazu, seine militärgeographischen Kenntnisse und subjektiven Erfahrungen als wissenschaftlich validiertes Wissen aufzufassen und seine Argumentation durch einen expressiven Sprachstil zu ästhetisieren. Seine 1928 unter dem Titel Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung4 dargelegte Theorie der Grenzen erscheint im Vergleich zu Ratzel daher als ein disparates Gefüge, dessen Bedeutung sich erst erschließt, wenn wir sie nicht nur als politisch-geographische Spielart der aufkommenden wissenschaftlichen Grenzlandforschung, sondern zugleich als politische Schrift eines ideologischen Vordenkers und Akteurs der jungkonservativen Grenzlandbewegung lesen. Haushofer Bild der Grenzen hing aufs engste mit der im Ersten Weltkrieg aufgeschienenen Möglichkeit einer Neuordnung der mitteleuropäischen Staaten durch ein siegreiches Deutsches Reich zusammen. Im letzten Kriegsjahr hatte er in privaten Briefen einen Anschluss Österreichs und eine Sicherung der deutschen Ost- und Westgrenzen durch Annexionen, Pufferstaaten und Bündnisse favorisiert: im Osten ein „machtvolles Dammsetzen“ gegen die Sowjetunion durch „ehrliche Hilfe“ für „Finnland, Kurland, Deutschriga [und] die wackeren Bauern der Ukraine“, „feste Hand gegen die Polentücke“ und „Freundschaft auf Do-ut-des-Boden mit Ungarn und Bulgaren“; im Westen durch „Festhalten“ des eroberten „Pfandes, bis Friedenswille sich in Achtung der Reichsgrenze und der germanischen Minderheiten ausserhalb davon“, vor allem der Flamen, niederschlage.5 Mit dieser zwar expansionistischen, im Zeichen des Separatfriedens von Brest-Litowsk6 jedoch nicht ungewöhnlichen Haltung grenzte er sich von den radikaleren Forderungen des Alldeutschen Verbandes ab, dem er vorwarf, „den Blick für das Mögliche verloren“ zu haben und das „Volk“ mit überzogenen Forderungen „zum Amoklauf“ zu verleiten.7 Am Anfang seiner Monographie über die Grenzen schilderte er retrospektiv die Herausbildung seiner eigenen „Anschauung“ im Zuge seiner Kriegseinsätze und Reisen. In einer Art grenzlandpolitischem Panoramabild ließ Haushofer den Blick von der „deutsch-romanische[n] Mark in ihrer ganzen Ausdehnung von Flandern längs der Maas und Mosel bis zu den Vogesen und der burgundischen Pforte“, von der ‚Westmark‘ also, über den „Verlauf der italienischen Alpengrenze“ hin zu den „Spielarten“ der „deutsch-westund ost-slawische[n] Grenzdurchdringung“ wandern, bevor er internationale
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geschichte, Bde. I-VIII, Leipzig u.a. 1913; Schöne, Emil: Politische Geographie, Leipzig 1911. So bereits Heinrich Waentig in einer Besprechung von Haushofers Japan-Buch Dai Nihon (1914), zit. bei Jacobsen, Haushofer, Bd., 1, S. 92ff. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung. Brief Haushofers an seine Frau vom 18.2.1918, zit. n. Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 131. Vgl. hierzu ausführlich Baumgart, Winfried: Deutsche Ostpolitik 1918 – Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien 1966. Haushofer am 12.12.1917, zit. n. Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 130.
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Grenzfragen wie „die Religions- und Rassenscheide am Himalaya“ und „das chinesisch-japanisch-russische Grenzproblem in der Mandschurei und Mongolei“ thematisierte und schließlich auf den Ausgangspunkt seiner Betrachtung, die Westfront, zurückkam: „Als ich dann schließlich – im Gegensatz zu soviel Grenzinstinkt und Grenzbewußtsein, die ich an fremden Völkern wahrgenommen hatte –, im Spätherbst 1918, als Führer einer Reservedivision aus den Trümmern der Reichsmarken landeinwärts ziehend, die ganze Instinktlosigkeit in Grenzfragen des sonst so hochbegabten Volkes erfuhr, sein blindes Vertrauen in feindliche Grenzphraseologie kennenlernte, seine Selbsttäuschungen über die Tatsachen des unausgesetzten Grenzkampfes um Lebensraum auf der Erde schmerzlich mit durchlebte, – da schuf die eigene innere Not und die vorausgesehene kommende meines Volkes Antrieb und Plan dieser Arbeit.“8
Diese Fixierung auf die Westfront durchzieht Haushofers Geopolitik der Grenzen und wird uns bei ihrer Analyse daher noch häufiger begegnen. Doch noch in einer anderen Hinsicht war das Kriegserlebnis konstitutiv. Denn während des Krieges hatte Haushofer ein politisches Weltbild entwickelt, das mit seinem Primat der Tat und des Kampfes, seiner Ablehnung der konservativen Eliten des Kaiserreichs, seinem Antidemokratismus und Antiliberalismus und nicht zuletzt seiner antisemitisch durchwobenen innenpolitischen Feindbestimmung vieles mit den jungkonservativen Ideologien der Nachkriegszeit gemeinsam hatte.9 Nach der Niederlage bewog diese Haltung ihn, die militärische Laufbahn zugunsten des Katheders aufzugeben, um sich einer ‚wehrwissenschaftlichen‘ Erneuerung der politisch und militärisch relevanten Disziplinen zuzuwenden10 und Ratzels Theorie in den Dienst der Grenzlandpolitik zu stellen. Hatte Ratzel eine universale Theorie der Räume und ihrer Grenzen formulieren wollen – wenn auch mit deutlichen imperialistischen Implikationen –, so nationalisierte Haushofer diesen Ansatz, indem er die ‚grenz-‘, ‚volks-‘ und ‚auslandsdeutschen‘ Gebiete der Nachkriegszeit in den Mittelpunkt rückte und eine durch internationale Vergleiche objektivierte Legitimation ihrer Rückgewinnung formulierte. Er sah sich dabei auch in der Rolle eines „Volkserziehers“ und nutzte die neuen Medien des Rundfunks und der politischen Großkundgebung, um ein Massenpublikum anzusprechen. Gezielt wandte er sich außerdem an die jungkonservativen und studentischen Bünde, denen er seine Monographie als „theoretische Propädeutik für die praktische Grenzlandarbeit“11 offerierte. An der Schnittstelle von wissenschaftlicher Forschung, völkischem Verbandswesen und militantem Rechtsextremismus übte Haushofer auch selbst grenzland- und volkstumspolitische Funktionen aus. Während der im Juli Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. XIf. Jacobsen liefert eine Vielzahl von Belegen aus persönlichen Aufzeichnungen und Briefen Haushofers. Vgl. exemplarisch ders., Haushofer, Bd. 1, S. 120ff u. zusammenfassend ebd., S. 132ff. 10 Vgl. hierzu Haushofers rückblickende Abschiedsvorlesung Gibt es Erziehung zu wehrhaftem Wissen? an der Münchener Universität im Februar 1939, in: Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 173-178. Exemplarisch auch ders.: Wehrwille als Volksziel. Wehrkunde, Wehrgeographie und Wehrgeopolitik im Rahmen der Wehrwissenschaften, Stuttgart 1934. 11 Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 5.
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1927 abgeschlossenen12 Niederschrift der Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung gehörte er dem Vorstand des bayerischen Landesverbandes des VDA an, dessen Vorsitz er 1924/25 kurzfristig innegehabt hatte und dem die Betreuung des ‚Deutschtums‘ in Südtirol und Böhmen oblag. Er war Senator der 1925 als neuerliches deutsches Gegenstück zur Alliance Française gegründeten Deutschen Akademie in München, deren Praktische II. Abteilung er in der Gründungsphase 1924/25 geleitet hatte.13 Ihre Aufgabe bestand in der Transformation der wissenschaftlichen Forschung der Akademie in eine wirkungsvolle „Kulturpropaganda“, die die deutsche Gesellschaft zu „nationaler Disziplin und Verantwortlichkeit“ erziehen und die „Deutschen in den abgetretenen und gefährdeten Gebieten“ sowie „im Ausland“ an die Gesamtnation binden sollte.14 Als akademischer Lehrer und persönlicher Freund von Rudolf Hess, den er während dessen Festungshaft in Landsberg nach dem Hitler-Putsch von 1923 mehrfach aufsuchte und bei der Lektüre von Ratzels Politischer Geographie beriet, hatte Haushofer außerdem einige Ausführungen über ‚Lebensraum‘ und ‚Raumpolitik‘ in Hitlers Mein Kampf inspiriert.15 Die Freundschaft mit Heß, den Hitler 1933 mit der Volkstumspolitik der NSDAP beauftragte, bildete die Grundlage für eine Reihe einflussreicher politischer Funktionen, die Haushofer nach 1933 annahm, darunter den Vorsitz des im Oktober 1933 von Hess zur Koordination der grenzlandpolitischen Organisationen ins Leben gerufenen Volksdeutschen Rates (bis 1935),16 die Präsidentschaft der Deutschen Akademie (1934-1937)17 und die Leitung des VDA (1938-1941).18 Haushofer schloss sein geopolitisches Konzept der Grenzen sowohl an die deutschsprachige Ratzel-Rezeption außerhalb der alldeutschen Bewegung, als auch an internationale Fachdiskurse an. Betrachten wir zunächst seine Anschlüsse an die deutschsprachige Literatur, so bildete die Mitteleuropa-Konzeption Josef Partschs einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Die großdeutsche Reichsidee über die Staatsgründung von 1871 hinaus fortschreibend, hatte dieser 1897 einen durch die drei ‚deutschen‘ Landschaftstypen konstituierten ‚mitteleuropäischen‘ Raum postuliert und einen Zusammenschluss seiner Staaten zu einem imperialen Wirtschaftsraum unter deutscher Hegemonie vorgeschlagen.19 Die zum Raum transformierte Grenze war auf dieser Basis nicht mehr allein der diffuse ‚Grenzsaum‘ des Reiches, sondern zugleich die Peripherie ‚Mitteleuropas‘. Hieraus ergab sich die Frage, wie weit ‚Mitteleuropa‘ über die deutsche Staatsgrenze hinausreiche. Diese Frage war vor allem mit Blick auf die deutschen Ordnungsvorstellungen des Ersten Weltkrieges von erheblicher Bedeutung, doch ließ sie sich aufgrund der Dynamik des Krieges eben nicht mehr mit dem Verweis auf a priori vorhandene ‚natürliche‘ Grenzen beantworten. In seinem stark rezi12 Vgl. Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 472. 13 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 188-201, insbes. S. 191. 14 So der erste Präsident der Praktischen II. Abteilung, Prof. Georg Pfeilschifter, im Juni 1924, zit. n. ebd., Bd. 1, S. 197ff, hier: 198. 15 Vgl. hierzu den ausführlichen Textvergleich Ratzel-Haushofer-Hitler ebd., Bd. 1, S. 241-258. Zum Verhältnis zu Heß vgl. ebd., S. 224-240, insbes. 238ff. 16 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 280ff. 17 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 305f. 18 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 319-332, insbes. S. 320ff. 19 Partsch, Joseph: Mitteleuropa. – Siehe auch Kapitel Friedrich Ratzel im Kontext der Geographie des 19. Jahrhunderts.
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pierten Essay Das geographische Wesen Mitteleuropas (1917) hatte der österreichische Geograph Hugo Hassinger daher vorgeschlagen, Mitteleuropa nicht anhand eines einzelnen Kriteriums wie Sprache, Landschaft oder Wirtschaft zu definieren, sondern von Fall zu Fall zu entscheiden, welches dieser Kriterien das jeweils angemessenere sei.20 Hieraus ergab sich eine Vielzahl möglicher Grenzen und Legitimationen, sprich: ‚Mitteleuropa‘ selbst war von einem ringförmigen Grenzraum umgeben, in dem die eigentliche Grenze erst noch gefunden werden müsse. Haushofer orientierte sich in diesem Zusammenhang an zwei weitgehend vergessenen Autoren, deren Ansätze ich daher kurz skizzieren möchte: Gustav Braun und Karl Kiesel. Der schweizerische Geograph Braun hatte 1917 ein politisch-geographisches Modell vorgelegt, das die indifferente Peripherie Hassingers als einen zusammenhängenden Gürtel von mitteleuropäischen ‚Grenzmarken‘ begriff.21 Haushofer erblickte hierin einen der wichtigsten Vorstöße hin zu einer geopolitischen Theorie der Grenze seit Ratzel, und als Zeichen dieser Wertschätzung legte er seiner Monographie Brauns Leitfrage zu Grunde: „Wie ist unter Ausnutzung der von der Natur gegebenen und historisch gewordenen Grenzmarken die politische Grenzlinie von Mitteleuropa so zu ziehen, daß einerseits die Einheit von Industrie- und Ackerbaulandschaften im Innern gewahrt bleibe, andererseits die Grenzmarken eine wirksame Schutzzone bilden.“22
Anders als die Alldeutschen präsentierte sich Braun nicht als Verfechter von Annexionen und Bevölkerungsverschiebungen, sondern legte ein an den akademischen Nachwuchs und die politischen Entscheidungsträger adressiertes Einführungsbuch vor, in dem er den Begriff ‚Mitteleuropa‘ klärte und die Regionen darstellte, die aufgrund ihrer geographischen Lage und historischen Entwicklung die „Grenzmarken“ bildeten.23 Dieser Begriff umschrieb für ihn das „Wesen“ solcher „Landschaft[en]“, die in der Geschichte „immer wieder“ eine Grenze gebildet hätten24 und daher „die Randzonen germanischer Siedlung nach Norden, Süden, Osten und Westen“ darstellten: „es sind Zonen starker Schwankungen der politischen Grenze zwischen Nationalstaaten; es sind Zonen kleiner zwischengroßstaatlicher Gebilde mit gemischter Bevölkerung.“25 Dieser im historischen Prozess und in kulturellen Divergenzen manifeste Grenzcharakter einer Region hänge mit einer spezifischen Topographie in dem Sinne zusammen, dass schwer zu passierende „Grenzplateaus und Grenzwildnisse[.]“ den Verkehr auf bestimmte „Grenzlücken“ konzen-
20 Hassinger, Hugo: Das geographische Wesen Mitteleuropas nebst einigen grundsätzlichen Bemerkungen über die geographischen Naturgebiete Europas und ihre Begrenzung, Wien 1917. 21 Braun, Gustav: Mitteleuropa und seine Grenzmarken. Ein Hilfsbuch für geographische Studien und Exkursionen, Leipzig 1917 (im Folgenden zitiert als: Braun, Mitteleuropa). 22 Zit. n. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 7. 23 Vgl. Braun, Mitteleuropa, S. 3. – Zur Adressierung des Buches an Studierende und Nachwuchswissenschaftler der Geographie vgl. auch das Schlusskapitel, in dem Studienreisen und Exkursionen vorgeschlagen werden (S. 155-160). 24 Ebd., S. 154. 25 Ebd., S. 115.
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trierten.26 Erst das richtige Erkennen dieser regulativen Elemente böte, so dachte Braun, die Gewähr für eine relative Stabilität der Grenze: „Je mehr sich eine Grenze auf Plateaus und Wildnisse stützen kann, desto günstiger ist sie, als desto stabiler im Lauf der Ereignisse hat sie sich erwiesen. Es kommt dabei nicht auf die Einzelheiten in der Landschaft an, an welche sich die Grenzziehung der Diplomaten so gerne klammert, wie Flußläufe, Bergkämme u.ä., sondern auf den Gesamtcharakter einer Landschaft, den richtig in allen seinen Komponenten und Folgeerscheinungen zu erfassen, eben nur der geographische Fachmann in der Lage ist.“27
Braun kam zu dem Schluss, dass es zwölf ‚mitteleuropäische Marken‘ gäbe, die diesem Anspruch genügten: Als „westliche Grenzmarken“ eine „Flandrische“, „Lothringische“, „Elsässische“ und „Schweizer Mark“; als „Ostmarken“ eine „Preußische“, „Posener“ und „Schlesische Mark“; als „Südostmarken“ „Mähren“, die „Mark Österreich“, die „Steiermark“ und „Krain“ sowie als „Südmarken“ die Gebirgsmassive und Talengen der Südalpen.28 Eine Kartenskizze (Abb. 7) zeigte, graphisch am stärksten hervorgehoben, die „Grenzplateaux [sic] und Grenzwildnisse“, die einen von den „germanischen“ Kernländern größtenteils kolonisierten Raum umschlossen und zwischen denen eine Reihe von „Lücken“ und „Pforten“ verblieb. Zusätzlich waren die wichtigsten Industriegebiete markiert, womit Braun unterstrich, dass kein vergangener, sondern ein gegenwärtiger oder künftiger Zustand abgebildet war. Die Marken selbst kartierte er nur schemenhaft und ließ ihre genaue Ausdehnung offen. Doch gerade dadurch suggerierte die Karte eine harmonische, organische und zelluläre Struktur, die als frühe Visualisierung einer nach dem Organismusmodell vorgestellten Grenze gelten darf. Zugleich suggerierte Brauns Darstellung eine größere Bedeutung der westlichen und östlichen Grenzmarken gegenüber dem Süden und Norden und machte zudem deutlich, dass der Gürtel der ‚Marken‘ zwar eine innere Grenze besitze, nach außen jedoch offen sei und erst durch die Ausfallstellungen der Kriegsgegner definitiv begrenzt werde. In einem solchen, auf militärische und ökonomische Zweckmäßigkeiten abgestimmten, durch Sperrlandschaften und Verkehrspforten strukturierten Gürtel von ‚Marken‘ erblickte Haushofer den Idealtypus der deutschen Grenze. Einen wesentlich konkreter auf die Westgrenze zugeschnittenen Anknüpfungspunkt fand Haushofer in Karl Kiesels Monographie Petershüttly – Ein Friedensziel in den Vogesen (1918),29 die mit ihrer Kombination historiographischer, ethnographischer und politisch-geographischer Methoden als Vorwegnahme der späteren Westforschung zu lesen ist. Auf Ratzels Diktum der grundsätzlichen Räumlichkeit aller Grenzen basierend, analysierte Kiesel die räumliche Struktur der Vogesengrenze, insbesondere aber die Bedeutung der westlich des Gebirgskammes und beiderseits der Reichsgrenze gelegenen Hochweiden des Münstertals mit Petershüttly als ihrem westlichsten Punkt.30 26 27 28 29
Ebd., Tafel II. Ebd., S. 154. Ebd., S. 114-153. Kiesel, Karl: Petershüttly. Ein Friedensziel in den Vogesen, Berlin 1918 (im Folgenden zitiert als: Kiesel, Petershüttly). 30 Vgl. die Karte „Die Hochweiden des Münstertals auf dem Kamme und westlich des Kammes, in: ebd., nach S. 14.
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Abb. 7: Politisch-geographische „Skizze von Mitteleuropa und seinen Grenzmarken“ von Gustav Braun, 1917 (Braun, Mitteleuropa, o.S.) Anders als Treitschke sah er in der dort 1871 realisierten Anlehnung der Staatsgrenze an die Kammlinie keine akzeptable Lösung: „Der große Historiker“ habe es sich „hier wirklich etwas leicht gemacht.“31 Die französische Okkupation der zehn deutschen Gemeindebezirke des Münstertals32 im August 1914 machte das Konzept der Kammlinie bzw. der Wasserscheide als natürlicher Grenze für Kiesel obsolet; andererseits aber offenbarte der Kriegsverlauf dort exemplarisch die Bedeutung des westlichen Vogesenabhangs für die Stabilität der „elsässische[n] Grenzmark“, die den deutschen Oberrhein in der gleichen Weise schütze „wie das Plateau von Langres“ die
31 Ebd., S. 71. 32 Es handelte sich um Mittlach, Sondernach, Metzeral, Mühlbach, Breitenbach, Luttenbach, Stoßweiler, Sulzern, Hohrod und Münster.
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Mittelrheinebene.33 In diesem Sinne erschien das Gebirge als ein einziger Grenzsaum, in dem unterschiedliche Grenzlinien divergierten: historische Grenzen früherer Territorien, sprachlich-kulturelle Grenzen von Dialekten oder Bräuchen, ökonomisch-gesellschaftliche Grenzen von Landbewirtschaftungsformen und Weiderechten sowie naturentlehnte Grenzen geologischer Formationen oder botanischer Spezies. Die Erforschung dieser regionalen und lokalen Mikrostrukturen bis hin zur Historiographie eines einzelnen Dorfes oder Ereignisses34 entpuppt sich hier als eine Strategie, um das hegemoniale Konzept der „Kammgrenze“ in einem Bündel möglicher Grenzen aufzulösen und das gesamte militärstrategisch relevante Gebiet als mehr oder weniger deutsch auszuweisen: „Der Landstreifen, den wir als Heimatschutz fordern, ist unser durch Natur und Geschichte, ist unser durch tausendjährige Arbeit fleißiger deutscher Hände.“35 Was Haushofer interessierte, war sicherlich die Art und Weise, wie Kiesel allgemeine Erkenntnisse der Politischen Geographie auf einen strategisch zentralen Grenzabschnitt anwandte und mit einer mikrostrukturellen Analyse der lokalen Gegebenheiten verband. Sicherlich war es jedoch auch der Pragmatismus, mit dem Kiesel herausarbeitete, dass „das deutsche Hoffen auf eine ‚unangreifbare Vogesenstellung‘“ weiterhin „eine Utopie“ bleiben werde,36 gleichwohl aber Kriterien für eine verbesserte Grenzziehung existierten. Wende man sie an, so erweise sich eine Grenzziehung nach der Formel „Engtalgrenze bei Rawon (Raon l’Etape), Volognemassiv, Kammlandschaft am linken Ufer der Obermosel, Sankt Antonsbelchen“37 als die militärisch,38 zugleich aber auch als politisch vorteilhafteste Möglichkeit, da die „zu beiden Seiten der Grenze sich ausbreitenden Landzonen“ nur dünn besiedelt seien und keinen Anreiz für weitere Eroberungen böten.39 Irrelevant hingegen war für Kiesel die Sprachgrenze. Statt auf Boeckhs Linearisierung zu rekurrieren, klassifizierte er die Bevölkerung in fünf Untergruppen mit unterschiedlichen Mischungsgraden germanischer und romanischer Elemente40 und schlug eine allmähliche Germanisierung durch die Einrichtung deutscher Garnisonen in dünn besiedelten Gebieten,41 den Erwerb von Siedlungsland42 und die punk33 Kiesel, Petershüttly, S. 94f sowie Anm. 305e (S. 198). – Hier auch Anschlüsse an das ‚Marken‘-Konzept Gustav Brauns. 34 Vgl. exemplarisch die Kapitel über das Dorf Woll und den durch weidende Kühe ausgelösten Grenzzwischenfall des Jahres 1909, ebd., S. 21-25, 44-49. 35 Ebd., S. 8. 36 Ebd., S. 118. 37 Ebd., S. 148. 38 Ebd., S. 119-121. 39 Ebd., S. 149. 40 Diese Kategorien waren: „Romanischer Bevölkerungsgrundstock, in dessen Sprache die deutschen Urbestandteile nur noch für den wissenschaftlichen Forscher erkennbar sind“, „romanisierte deutsche Elemente aus der Zeit vor 1750“, „französische Zuwanderung“, „deutsche Zuwanderung während der Zeit von 1750 bis 1870, die romanisiert oder französiert wurde“ sowie „elsässische Einwanderung seit 1871, die […] zum größten Teil […] nicht nur ihren deutschen Charakter, sondern auch ihr elsässer Ditsch rein und ungebrochen bewahrt hat“ (ebd., S. 140). 41 So hielt er die „Germanisierung der Belchenkette“ für ein „Werk weniger Wochen“, wenn die bestehenden französischen Garnisonen samt ihren zivilen Angehörigen abmarschierten und die verbleibenden Bewohner der „Soldatendörfer“ freiwillig deutsch lernten (ebd., S. 142).
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tuelle Enteignung und Neubesiedlung einzelner Dörfer vor,43 ohne indes die alldeutschen Umsiedlungsphantasien zu teilen. Was Kiesels Ansatz für Haushofer attraktiv machte, war nicht zuletzt sein Geschick, dieses de facto expansive Programm aus dem alldeutschen Diskurszusammenhang zu lösen, auf unverdächtige französische und englische Quellen zu stützen und durch Zitate liberaler und sozialdemokratischer Politiker zu flankieren.44 Haushofers Anschluss an Braun und Kiesel stand zudem im Kontext einer intensiven Rezeption der deutschen und internationalen Militärgeographie. Helmuth von Moltke, der Feldherr der Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich, war für Haushofer einer „der ersten, leider nur in einem engen Fachkreise genug bekannten Grenzgeographen“,45 dessen Schriften einer neuen grenzlandpolitischen Auswertung bedürften.46 Ähnliches gelte für die Arbeiten französischer, japanischer, englischer und sowjetischer Militärgeographen,47 unter ihnen, gleichsam als reziproke Bestätigung Moltkes, des früheren französischen Oberbefehlshabers an der Westfront, Marschall Ferdinand Foch.48 Insbesondere die Rezeption des angelsächsischen Diskurses49 ermöglichte es Haushofer, den politisch-geographischen Anteil am Kriegszieldiskurs zu umgehen. Dabei bezog er sich zunächst auf den konservativen britischen Politiker Lord George Nathaniel Curzon of Kedleston, der 1907 in Oxford die These vorgetragen hatte, dass Grenzfragen einen immer größeren Einfluss auf die Politik gewonnen hätten. Kriege, so dessen Folgerung, hätten sich von Religions-, Bündnis-, Empörungs- und Eroberungskriegen, in denen die persönliche Motivation des Kriegführenden zum Ausdruck käme, in Kriege um Grenzen verwandelt. Dieser Wandel des Krieges resultierte für Curzon ganz 42 Kiesel spekulierte, dass bei einer Angliederung etwa des Arrondissements Remiremont der infolge des französischen Geburtenrückgangs und der Landflucht gesunkene Bodenwert um 300 % steigen werde und so Anreize für den Erwerb von Siedlungsland geschaffen werden könnten (ebd.). 43 Kiesel spielte das Szenario einer Enteignung der 309 Bewohner des Dorfes Le Baltin im Hochtal der oberen Meurthe durch, mit der die „letzte Schutzwehr des Münstertals“ in „zuverlässige Hand“ käme (ebd., S. 142f). 44 Vgl. exemplarisch ebd., S. 7. 45 Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 39. 46 Vgl. ebd., S. 216. 47 Haushofer schreibt hierzu: „Lebendig wirkt sich die[.] Spur [der Politischen Geographie Ratzels] aus, so in Mahans und Bryces Amerikatätigkeit, durch Curzon in Asien, im indischen Glacisgebiet, durch Johnston in Afrika, durch Gregory und Griffith in Australien, in der Grenztheorie und Grenzentscheidung durch L. W. Lyde, durch Sir Th. Holdich, Fawcett. Die heutigen Führer der französischen politischen Erdkunde, Jean Brunhes und Camille Vallaux, stehen auf den Schultern von Ratzel, wie sie selbst einräumen.“ (ebd., S. 34f) Darüber hinaus bezog er sich auf die Amerikaner Turner, Windsor und Shaler (S. 35f) und als japanische Quelle auf George Etsujiro Uyehara: The political development of Japan 1867-1909, London 1910. Vgl. hierzu auch Spang, Christian W.: Karl Haushofer und die Geopolitik in Japan. Zur Bedeutung Haushofers innerhalb der deutsch-japanischen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Diekmann u.a. (Hrsg.): Geopolitik, S. 591-629. 48 Zu Haushofers Achtung vor Foch vgl. Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 133. 49 Vgl. Wolkersdorfer, Günter: Politische Geographie und Geopolitik: Zwei Seiten derselben Medaille?, in: Reuber, Paul/ders. (Hrsg.): Politische Geographie. Handlungsorientierte Ansätze und Critical Geopolitics, Heidelberg 2001, S. 3356, hier: 48ff.
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im Sinne Ratzels aus dem Wachstum der politischen Räume, deren Interessen und Ansprüche schärfer zusammenstießen als in der Vergangenheit.50 Diese These hatte eine Fokussierung der Grenzen – im Englischen verstanden als lineare frontier und räumliche boundary – bewirkt, deren historische Entwicklung Charles Bungay Fawcett am Ende des Ersten Weltkrieges eingehend untersuchte.51 Haushofer bezog sich darüber hinaus auf Sir Halford John Mackinder, der 1904 eine Aufteilung der Welt zwischen einem kontinentalen Russland und einem ozeanischen Amerika prognostiziert und die eurasische Landmasse zum Angelpunkt oder „Pivot“ der erwarteten Kriege erklärt hatte.52 Curzon, Fawcett oder Mackinder stützten sich dabei zwar auf das theoretische Fundament Ratzels, griffen zugleich aber auf ein Erfahrungswissen zurück, das mit der globalen Ausdehnung des British Empire entstanden war und deutschen Autoren allenfalls mittelbar zur Verfügung stand. Dieses Wissen kam vor allem in den Arbeiten des Geographen Sir Thomas Hungerford Holdich zu Ausdruck, der zwischen den 1880er und 1910er Jahren mit der Festlegung der nördlichen Grenzen Britisch-Indiens und der Regelung strittiger Grenzfragen in den Anden internationales Ansehen erworben hatte.53 Als Präsident der Royal Geographical Society of London fasste er seinen pragmatischen, von Haushofer häufig zitierten Ansatz 1916 unter dem Begriff boundary making zusammen. Ganz im Sinne der britischen Kolonialgeographie lag eine ideale Grenzziehung für ihn dann vor, wenn die „racial unit“ mit der „geographical unit“ zur Deckung gebracht sei.54 Holdich verstand das Setzen von Grenzen als Grundbedürfnis und Grundvoraussetzung menschlicher Gemeinschaften schlechthin: „From time immemorial, the very 50 Vgl. Curzon, George Nathaniel: Frontiers, 2. Aufl., Oxford 1908. 51 Vgl. Fawcett, Charles Bungay: Frontiers. A study in political geography, Oxford 1918. 52 Vgl. Mackinder, Halford: The scope and methods of geography and The geographical pivot of history, London 1969 (zuerst 1904). – Vgl. auch Ó Tuathail, Gearóid: Introduction to Part One, in: ders./Dalby, Simon/Routledge, Paul (Hrsg.): Geopolitics, 2. Aufl., London u.a. 2006, S. 17-32 hier: 17-21 (dort weiter unten auch Vergleiche der deutschen und angelsächsischen Geopolitik sowie ein Reprint des Mackinder-Aufsatzes); Wolkersdorfer, Günter: Politische Geographie und Geopolitik zwischen Moderne und Postmoderne, Heidelberg 2001, S. 91ff. 53 Holdich beschäftigte sich als Leiter zwischenstaatlicher Grenzkommissionen u.a. mit dem chilenisch-argentinischen und peruanisch-bolivianischen Grenzgebiet; bekannt wurde er außerdem durch zahlreiche Arbeiten über die Grenzgebiete Indiens, Afghanistans und Tibets sowie seine Funktion als Superintendent of Frontier Surveys in Britisch-Indien. Vgl. insbes. Holdich, Thomas: Political frontiers and boundary making, London 1916 (im Folgenden zitiert als: Holdich, Political Frontiers); ders.: Boundaries in Europe and the near East, London 1918. 54 Holdich, Political Frontiers, S. IX. – Holdich bezog sich hierbei auf den Londoner Professor Lyde, der drei Hauptkriterien für die Beurteilung politischer Grenzen aufgestellt hatte. Holdich fasste zusammen: „(1) The racial unit should be as far as possible coincide with the geographical unit, especially if that racial unit has proved incapable of assimilation. (2) That in choosing a new political owner of any inhabited area, first consideration should be given to the capacity of the new owner to assimilate others. (3) That the features used of a frontier should be those where men naturally meet – ‘witch is not on water partings or mountain crests.’” (ebd.)
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beginning of the separation of communities (not necessary races), have barriers been set up. It is barriers that are wanted still“.55 Allerdings sei das Grundbedüfnis nach Grenzen nicht gleichbedeutend mit Kämpfen um dieselben. Holdich betonte vielmehr die Notwendigkeit, dem Krieg um die Grenzen die Möglichkeit des Friedens durch eine dauerhafte Grenzziehung gegenüber zu stellen. Die Kunst des boundary making bestehe also in der verbindlichen Bestimmung einer Linie, „which will be acceptable to both the high contracting parties with all due regard to the local conditions of topography and the will of the peoples who are thus to have a barrier placed between them.“ Die Herstellung einer Grenze war damit immer auch die Herstellung eines Konsensus sowohl zwischen den Souveränen, als auch zwischen lokalen Bevölkerungen. Voraussetzung des Erfolgs sei „a knowledge of local geography and of ethnographical distribution“, wohingegen militärische, politische oder wirtschaftliche Interessen zwar zu berücksichtigen, aber im Zweifelsfall zurückzustellen seien.56 Holdich plädierte also für einen Pragmatismus, der dem richtigen Verständnis der Identitäten, Interessen, Mentalitäten, Erfahrungen und Erwartungen vor Ort den Vorzug vor imperialen Interessen oder abstrakten Kriterien gab.57 Dies entsprach keineswegs Haushofers Konzept der Grenzen als Kampfzonen, doch erlaubte der Anschluss an Holdich es ihm, seine Vorstellungen idealer deutscher Grenzen als vorurteilsfreies boundary making auszugeben. Den Terminus Geopolitik selbst übernahm Haushofer hingegen nicht aus der britischen Geographie, sondern aus dem 1917 ins Deutsche übersetzten Werk Staten som lifsform des schwedischen Staatswissenschaftlers Rudolf Kjellén.58 Dem Professor der Universität Uppsala und konservativen Abgeordneten des schwedischen Reichstages, der sich während des Krieges zur deutschen Seite bekannt hatte,59 ging es allerdings weniger um politischgeographische Fragen, sondern um eine Kategorisierung des Politischen. Im Gegensatz zur „Ökopolitik“, mit der er den Staatshaushalt, zur „Demopolitik“, mit der er das Staatsvolk, zur „Soziopolitik“, mit der er die gesellschaftliche Schichtung und zur „Kratopolitik“, mit der er die Ausübung der Macht bezeichnete, stand „Geopolitik“ bei ihm für die räumliche Dimension des Staatsorganismus.60 In Anlehnung an Ritters Konzept der ‚Naturgebiete’ 55 Ebd., S. 30. 56 Ebd., S. 179. 57 Vgl. hierzu seine Argumentation gegen die Kriterien der Flussgrenzen (ebd., S. 196-199). 58 Kjellén, Rudolf: Der Staat als Lebensform, Leipzig 1917 (Staten som lifsform, Stockholm 1916; im Folgenden zitiert als: Kjellén, Staat als Lebensform). Vgl. auch Haushofers frühe Äußerungen über Kjellén in Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 125 sowie Haushofers Brief an Kjellén v. 10. Oktober 1917, ebd., Bd. 2, S. 1f. 59 Vgl. Kjellén, Rudolf: Warum ich es mit Deutschland in diesem Weltkriege halte, Berlin o.J. [1918], S. 3, 36. – Kjellén vertrat darin die Meinung, dass England der Anstifter des Krieges sei und Russland den Erstschlag geführt hätte; Deutschland sei durch einen historisch einzigartigen Akt der Provokation zum Krieg genötigt und sodann als Schuldiger gebrandmarkt worden (ebd., S. 15f). Im Falle eines deutschen Sieges erhoffte er eine Befriedung des Balkans, einen Schutz Schwedens vor Russland und eine für die neutralen Staaten vorteilhafte Garantie der Freiheit der Meere (ebd., S. 39-42). 60 Vgl. Kjellén, Rudolf: Grundriß zu einem System der Politik, Leipzig 1920, S. 40-46.
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nahm Kjellén an, dass ein Staat zwar keine starren Grenzen, wohl aber einen „ein für allemal festgesetzten Landkern“ besäße, von dem er sich unter keinen Umständen „losreissen“ könne.61 Die Grenze verlief damit stets innerhalb eines Raumes, der nach innen durch ein Kernland und nach außen durch die Wachstumskraft des Organismus begrenzt war. Kjellén unterließ es jedoch, die Grenze selbst zu verräumlichen, sondern hielt an ihrer linearen Konzeption fest und beschränkte sich darauf, in der Tradition des 19. Jahrhunderts die Vor- und Nachteile von Meeres-, Gebirgs- und Flussgrenzen zu diskutieren. Allerdings spekulierte er, ob mit dem Stellungskrieg möglicherweise ein ganz neuer Typus von Grenze entstanden sei, sodass die Staatsgrenzen der Nachkriegszeit eher in die verwüsteten Landschaften der Front gelegt, als an natürliche Barrieren angeglichen werden sollten.62 Neben der deutschsprachigen Ratzel-Rezeption und dem internationalen Diskurs waren jene neuen Ansätze die dritte Säule der Haushofer’schen Theorie, die sich in der Situation der Kriegsniederlage den Grenzen zuwandten. Neben der Volks- und Kulturbodenforschung Albrecht Pencks, den Arbeiten Wilhelm Volz’ über den „Westdeutschen Volksboden“63 und den Schriften des Deutschen Schutzbundes, des Deutschen Ausland-Instituts und des VDA64 gehörten hierzu vor allem Arbeiten aus dem Autorenkreis der Zeitschrift für Geopolitik, die Haushofer 1924 unter Mitwirkung von Ernst Obst, Hermann Lautensach und Otto Maull etabliert hatte. In den ersten Jahrgängen der Zeitschrift finden sich mehrere einschlägige Beiträge über die Folgen des Versailler Vertrages,65 die Bedeutung von Stromgebieten als unteilbare Raumeinheiten66 und die Analyse konkreter Grenzverläufe und Grenzkonflikte.67 61 Kjellén, Staat als Lebensform, S. 55. 62 Vgl. ebd., S. 66-69. 63 Volz, Wilhelm (Hrsg.): Der westdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Westens, Breslau 1925 (im Folgenden zitiert als: Volz [Hrsg.], Der westdeutsche Volksboden). Zum Anschluss Haushofers an Penck und Volz vgl. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 36f. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. Thiessen, Ernst: Der Friedensvertrag von Versailles und die Politische Geographie, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1924), S. 203-219 (im Folgenden zitiert als: Thiessen, Friedensvertrag von Versailles). – Thiessen kam darin zu dem Schluss, dass die vertraglich festgeschriebenen Grenzveränderungen maßgeblich dazu beitrügen, dass der Vertrag keinen Frieden herstellen, sondern Spannungen verschärfen werde. Darüber hinaus habe der Vertrag überwundene (Exklaven) oder erwiesenermaßen ungünstige Grenzformen (Flussgrenzen in schiffbaren Strömen) wieder eingeführt und mit den Abstimmungen eine neue Grenzform, die „labile Grenze“, geschaffen (ebd., S. 212ff, 217f). – Zu einzelnen Grenzfragen vgl. auch Krause-Wichmann, Georg: Saargebiet und Locarno, in: ebd. 3 (1926), S. 227-233; Metz, Friedrich: Die elsässische Kulturlandschaft, in: ebd. 3 (1926), S. 521-536; Geisler, Walter: Politik und Sprachen-Karte. Ein Beitrag zur Frage des „polnischen Korridors“, in: ebd. 3 (1926), S. 701-713; Rheinau, Friedrich-Adolph: Die Pfalz als Ziel des französischen Strebens, in: ebd. 3 (1926), S. 832-838. 66 Vgl. Vogel, Walter: Rhein und Donau als Staatenbildner, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1924), S. 63-73 u. 135-147 (im Folgenden zitiert als: Vogel, Rhein und Donau); Schultz, Georg Julius von: Die Ströme in politischer Beziehung oder Die vier offenen Schäden Europas, in: ebd. 2 (1925), S. 161-171. 67 Sidaritsch, Marian: Größenklassen der Grenzgliederung, in: Zeitschrift für Geopolitik 3 (1926), S. 552-566.
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Zu diesen Schriften gehört eine Systematisierung des Begriffsfelds ‚Grenze‘, die der Grazer Wirtschaftsgeograph Robert Sieger auf dem 21. Deutschen Geographentag im Juni 1925 vorgetragen und kurz darauf in der Zeitschrift für Geopolitik dargestellt hatte.68 Als Synthese der Theorien Ratzels, Kjelléns, der angelsächsischen Geopolitik und der deutschen Volksund Kulturbodenforschung verwarf der jung verstorbene69 Wissenschaftler jeden Versuch, „ein einziges als allgemein gültig vorausgesetztes Kriterium für die Güte und Zweckmäßigkeit politischer Grenzen aufstellen“ zu wollen.70 Er fasste die Qualität einer politischen Grenze vielmehr als ein Verhältnis von Linearität und Räumlichkeit auf und plädierte dafür, die Grenzlinie daraufhin zu untersuchen, wo und wie sie innerhalb „einer naturgegebenen Grenzzone“ verlaufe. Hierfür wiederum sahen Sieger und mit ihm Haushofer mehrere Möglichkeiten: Eine erste basierte auf der Identifikation solcher Regionen, in denen möglichst viele nach länderkundlichen Gesichtspunkten bestimmte „Grenzgürtel“ auf „engem Raum“ zusammenfielen, also etwa ein nach kulturellen Gesichtspunkten bestimmter „Grenzgürtel“ mit einem nach wirtschaftlichen oder geographischen bestimmten konvergiere. Sieger teilte diesen Gedanken mit Geographen wie Johann Sölch, Walter Vogel, Otto Maull und Marian Sidaritsch, die für die gleiche Methode allerdings abweichende Begriffe wie „Chore“, „Charakterlandschaft“ oder „Landschaftseinheit“ eingeführt hatten.71 Eine zweite Möglichkeit erblickte Sieger darin, die politische Grenzlinie in eine Region einzubetten, die durch „Verkehrs- und Bewegungshindernisse“ gekennzeichnet war und mithin „Verkehrsgebiete“ voneinander abgrenze. Er verstand diese Möglichkeit als Modernisierung des klassischen, aus seiner Sicht jedoch unzureichenden Abgrenzungskriteriums der Wasserscheiden.72 Als dritte Möglichkeit schließlich stellte er die Einbettung der Grenzlinie in eine ‚Grenzzone‘ dar, in der sich die Charakteristika der Kernräume in einer typischen und harmonischen Weise „begegnen und durchdringen“ oder „mit einer gewissen Regelmäßigkeit in einander übergehen“. Der die möglichen Grenzlinien begrenzende Raum konnte also als Aufsummierung verschiedener Faktoren (entsprechend dem Divergenzmodell), als natürliches Bewegungshindernis (Organismusmodell) oder als kultureller Übergangsraum (Diffusionsmodell) konzipiert sein. Dies allein reichte für Sieger jedoch nicht aus, einen optimalen Grenzverlauf zu bestimmen. Dieser hänge vielmehr von den „Zwecken und Zielen der Menschen bei der Grenzlegung“ ab, die wiederum „nach Ort, Zeit, kultureller Entwicklung, Anlage und Denkart der Völker“ unterschiedlich aus68 Vgl. Sieger, Rudolf: Die geographische Lehre von den Grenzen und ihre praktische Bedeutung, in: Wissenschaftliche Abhandlungen des Einundzwanzigsten Deutschen Geographentages zu Breslau vom 2. bis 4. Juni 1925, hrsg. v. Walter Behrmann, Berlin 1926, S. 197-211; ders.: Die Grenze in der Politischen Geographie, in: Zeitschrift für Geopolitik 2 (1925), S. 661-671 (im Folgenden zitiert als: Sieger, Grenze in der Politischen Geographie). – Zu Haushofers Anknüpfung an Sieger vgl. ders., Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 36f. 69 Vgl. den Nachruf von Haushofer, Karl/Lautensach, Hermann: Robert Sieger zum Gedächtnis, in: Zeitschrift für Geopolitik 3 (1926), S. 877ff. 70 Sieger, Grenze in der Politischen Geographie, S. 663. 71 Ebd., S. 666. 72 Ebd., S. 666f.
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fielen. Idealiter unterschied er zwischen einer Zweckbestimmung der Grenze als „Schutzgrenze“, die sich an die abschließenden und verkehrshemmenden Elemente der ‚Grenzzone‘ anzulehnen habe, oder als „Verkehrsgrenze“, die auf Kosten der militärischen Sicherheit „allseitig freie Bewegung“ gewähre.73 Beide Grenztypen schlossen einander also aus. Sieger versuchte jedoch eine Synthese, die er als „verkehrsvermittelnde“ Grenze bezeichnete und die uns im Kontext des ‚Westraumes‘ noch beschäftigen wird: „Auch sie“, so führte er aus, „ist an Verkehrsschranken gebunden, aber nicht an abschließende; zwischen den Mauern sind breite, geschützte und gut überwachbare, aber nicht allzuzahlreiche [sic] Pforten, deren jede daher erhebliche relative und auch absolute Bedeutung hat.“74 Die Grundeigenschaft dieser Grenzform lag damit in der Regulierbarkeit ihrer abschließenden und verbindenden Wirkung. Die „verkehrsvermittelnde“ Grenze stelle daher den Normalfall der Grenze moderner Nationalstaaten dar, die er mit Vogel als „strategischkommerzielle[.] Zwecklandschaften“ begriff.75 Haushofer übernahm diese Typologisierung der Grenzformen, differenzierte sie jedoch weiter aus und verknüpfte sie mit Brauns Konzept der ‚Grenzmarken‘, die mit Sieger gesprochen nichts anderes als ‚verkehrsvermittelnde Grenzen‘ waren. Haushofers Verknüpfung wissenschaftlicher, massenmedialer und politischer Angriffe auf die Grenzen der Versailler Friedensordnung erfolgte auf der Basis all dieser Politischen Geographien. Allerdings erschöpfte sich sein Konzept nicht in der bloßen Addition der Braun’schen Grenzmarken, der Sieger’schen ‚verkehrsvermittelnden Grenze‘ und des Kjéllen’schen Landkerns mit Holdichs boundary making und der völkischen Grenzlandforschung. Es erschließt sich vielmehr aus jenen mitunter bizarr wirkenden Elementen der Ideologisierung, Emotionalisierung, Symbolisierung und Radikalisierung, die Haushofer gleichsam um diese theoretischen Fixpunkte herum anordnete und unter denen uns immer wieder der Verweis auf die erlebte Westfront als Prototyp einer Grenze begegnen wird, die ihrem Wesen nach stets ein Raum der Gewalt und des Krieges sei. Betrachten wir diesen Raum nun genauer.
Der „Grenzkörper“ als Ort der Gewalt u n d M an i f e s t a ti o n d e r R a s se Wie für Ratzel waren die Grenzen für Haushofer ausnahmslos räumlich und dynamisch, sie waren belebte Organe eines organisch gedachten Staates und einem Evolutionsprozess unterworfen, der ihre lineare Abstraktion überhaupt erst hervorgebracht hatte. Allerdings beließ Haushofer es nicht bei der Vorstellung einer flächigen Räumlichkeit der Grenze, sondern radikalisierte sie zum Konzept eines „dreidimensionalen Kampfraumes“,76 der nicht allein den Untergrund und die Atmosphäre einbezog, sondern auch in biologischer Hinsicht einen Grenzkörper darstellte. Haushofer unterstrich seine Vorstellung durch Analogien zur menschlichen Anatomie, womit er die transformierte Grenze weit über Ratzels Orga73 74 75 76
Ebd., S. 667f. Ebd., S. 668. Ebd. – Vgl. auch Vogel, Walter: Politische Geographie, Leipzig 1922. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 19.
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nismuskonzept hinaus anthropomorphisierte und subjektivierte. Eine geopolitische Karte einer Grenzregion glich für ihn der „Röntgenaufnahme von einem lebenswichtigen Körperteil“, die erkennen lasse, „wo das tragende Skelett unter der Haut gefährlich nahe bis an bedrohte Stellen heraustritt“, wo „starke Muskelbildungen zur Abwehr bereit sind“ oder „energische, aktive Schutzdrüsen eindringende Fremdkörper auflösen oder einkapseln, die von ihnen ausgehenden Gifte unschädlich machen, ja womöglich den Eindringling einschmelzen und zu einem nützlichen Glied des Ganzen machen.“77 Haushofers zentrale Körpermetapher war allerdings die Haut. Sie begrenze den ‚Lebensraum‘ und bilde, wo nötig, eine „schützenden Hornhaut“; sie gewährleiste den Verkehr mit den Körpern anderer Souveräne, empfange und verarbeite taktile Reize und leite sie an das Gehirn weiter, doch eigne sie sich gleichermaßen „für den von dieser Zentrale befohlenen Zugriff“, indem sie sich in ein „Greiforgan mit angleichender, hinzuwerbender, ‚fesselnder‘ Kraft“ verwandle.78 Haushofers Körpermetaphorik ließ den Gewaltakt der Expansion als eine natürliche und gesunde Lebensäußerung des ‚Grenzkörpers‘ erscheinen. Die Vorstellung der Grenze als Haut war jedoch mehr als eine Metapher. Mit ihr beschrieb Haushofer eine besondere Form der Ratzel’schen ‚Korrelation‘, bei der es sich nicht mehr nur um die Wechselwirkung zwischen dem ‚peripherischen Organ‘ und dem Staatszentrum, sondern zugleich um die Kommunikation zwischen dem ‚Grenzkörper‘ und dem Körper des Forschers handelte. Ein wahres Verständnis der Grenze sei, so behauptete Haushofer, nur als ein Akt solcher Kommunikation möglich; mit anderen Worten konnte also nur ein solcher Wissenschaftler angemessen über die Grenze sprechen, dessen Körpergrenze die Empfindungen und Erfahrungen des ‚Grenzkörpers‘ unmittelbar wahrnehme und empfinde, der in gewissem Sinne also selbst eine Sinneszelle des ‚Grenzkörpers‘ bildete: „Aber die Voraussetzung für solche Forschungen ist doch, dass man die Daseinsnotwendigkeit der Lebensform, zu der man selber gehört, so in sich aufgenommen hat, dass unnatürliche Verstümmelungen und Vergewaltigungen an ihr auch wirklich so schmerzen, wie die gleichen Vorgänge an der eigenen Haut. Erst dadurch wird sich zur wissenschaftlichen Objektivität auch die nötige Feinheit der Empfindungen für das Lebensfeindliche widernatürlichen Grenzenmachens gesellen und das Gefühl, im Kampfe gegen sie in der eigenen Sache eine solche der Menschheit zu verfechten.“79
Haushofer, der von der Existenz übersinnlicher Fähigkeiten überzeugt war und glaubte, selbst die Gabe des Zweiten Gesichts zu besitzen,80 nahm also die Möglichkeit einer telepathischen Bindung des Einzelnen an den ‚Grenzkörper‘ des Volkes an. Die eigenen subjektiven Empfindungen und Erfahrungen, Spekulationen und Ressentiments erhielten auf diese Weise den Rang empirischer Befunde, auf die sich ohne weiteres wissenschaftliche Aussagen über die Grenze gründen ließen.
77 78 79 80
Haushofer, Karl: Weltpolitik von heute, Berlin 1934, S. 160. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 78. Ebd., S. 97. Vgl. hierzu die Selbstzeugnisse bei Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 116ff.
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Haushofer fasste die Kommunikation zwischen dem Grenz- und dem Forscherkörper als Teil einer weitaus umfassenderen Kommunikation auf, die den Grenzkörper untrennbar mit dem ‚Volkskörper‘ verbinde und aus ihm heraus gleichsam beseele. Im Grenzkörper manifestierte und materialisierte sich für ihn ein kollektiver „Grenzwillen“, mit dem die „Volkheit“ ihren Willen „zur Verwirklichung ihrer Kulturmacht“ und zur Durchsetzung ihrer „Wirtschaftsmöglichkeiten [...] im wachsenden Lebensraum“ ausdrücke.81 War dieser Wille stark, so konnte sich der Grenzkörper zur ‚Wachstumsspitze‘ verdichten, ließ er nach, drohte dessen körperlicher Zerfall. Hatte Ratzel lediglich einen Organcharakter der Grenze angenommen, so schrieb Haushofer ihr hierdurch einen Subjektcharakter zu. Der ‚Grenzkörper‘ wurde zu einem blutdurchflossenen, pulsierenden, sich ernährenden, wachsenden, kämpfenden und empfindenden, über Willen und Bewusstseinseigenschaften verfügenden Leib, der den vertraglich fixierten Grenzlinien das „Papiers“ diametral entgegenstand: „Die Grenzempirie zeigt uns die werdende Grenze als Kampfzone, als dreidimensionalen Kampfraum – das Rechtsideal aber, der Rechtsbuchstabe möchte sie am liebsten zur körperlosen Linie machen, mindestens aber zum linear auf der Karte, auf dem Papier eintragbaren Begriff, mit Buchstaben und Zahlen möglichst unverrückbar zu umschreiben und zu beschreiben. So aber finden wir in der Wirklichkeit des Lebens, von seinen Erscheinungen hin- und hergeschoben, die Grenze nicht, nirgendwo und nie, an keinem Ort und zu keiner Zeit.“82
Ein entscheidender Schritt bestand nun darin, dass Haushofer diese Antagonismen Körper versus Linie, Blut versus Vertrag und Kampf versus Recht mit der Vorstellung einer rassischen Determination der Nationen verband und den Schluss zog, dass auch die Unterschiede zwischen linearen und räumlichen Grenzmodellen Ausdruck rassischer Antagonismen seien. Der Kampf der Souveräne um die Grenzen geriet damit zu einem in den Grenzen zum Ausdruck kommenden und gewissermaßen von den Grenzen selbst ausgefochtenen Kampf der Rassen – ein Kampf zudem, in dem es nicht um den Verlauf der Grenzlinie, sondern um die Durchsetzung miteinander konkurrierender und einander ausschließender Arten von Grenzen ging und in dem gleichsam Grenzkörper und Grenzlinie miteinander rangen. „Fast jede Rasse“, so behauptete er 1934 in einem Rundfunkvortrag, verhalte sich anders im „Grenzkampf“, der wiederum ein „Kampf ums Dasein“ sei und „erst mit ihm verschwinden“ werde.83 Diesen Kampf wiederum verortete Haushofer in erster Linie an der deutsch-französischen Grenze, die uns damit als eine Art überhistorische Westfront begegnet, in der germanisch-körperliche und romanisch-lineare Grenzkonzepte aufeinander prallten: „Saum und Linie, der dreidimensionale, durchblutete Grenzkörper und die blut- und körperlose, möglichst mathematische Abstraktion treten als Gegenvorstellungen [...] auf, nicht zuletzt in dem gewaltigen Kampf des Hauptstaatsvolkes der west- und
81 Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 18. 82 Ebd., S. 19. 83 Haushofer, Karl: Grenzen. Vortrag im Rundfunk vom 1.6.1934, in: Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 552-557, hier: 553 (im Folgenden zitiert als: Haushofer, Grenzen).
KONZEPT DER GEOPOLITIK | 197 innereuropäischen Kultur, der Römer, gegen die nordischen Rassen und ihre Nachfahren, die seine ausgeklügelten staatsrechtlichen Grenzkonstruktionen immer wieder niederwarfen.“84
Der Kampf zwischen ‚Römern‘ und der ‚nordischen Rasse‘ steht hier pars pro toto für die Eigenschaft der Grenze als Zone der Gewalt und des Kampfes. Die Ursache hierfür erblickte Haushofer in vorgeschichtlicher Zeit: „Dem Germanen, wie überhaupt dem Menschen aus niederschlagsreichen Gebieten widerstrebt die Teilung des Fluß- oder Stromgebietes; der Fluß, der Strom, sein Einzugsland ist ihm ein Ganzes; gegen die Wasserscheiden zu setzt er am liebsten breite, nur dem Weidebetrieb, der Forstnutzung dienende Schutzgürtel, Almenden, Gemeineigentum – nicht, wie der Romane, subtile Wasserscheidentheorien. Gerne bildet er seine Gaue [...] aus einheitlichen in sich geschlossenen Flußgebieten mit ihrem ganzen Einzugshinterland.“85
Rassen aus trockenen Gebieten tendierten also nach romanischem Beispiel zur linearen Grenzziehung inmitten von Wasserläufen, solche aus feuchten Gebieten hingegen nach germanischem Vorbild zur räumlichen Grenzziehungen, wobei der Wasserlauf die Mitte des ,Grenzkörpers‘ bilde und sein Einzugsgebiet dessen Ausdehnung bestimme. Haushofer universalisierte damit Arndts Formel vom Rhein als Deutschlands Strom und Frankreichs Grenze. Da der Strom jedoch nicht beides zugleich sein konnte, waren die Grenzen auf dieser Grundlage gar nicht mehr anders denkbar denn als „schicksalgewollte[.] Kampfzonen, in denen am Ende der Lebenstüchtigste, der Kampferprobte siegt und die Zone mit seinem Eigenleben erfüllt, bis er wieder hinausrückt oder nach Erfüllung seiner Lebensaufgabe zurückweicht“.86 Die Grenzen waren also archaische Räume suspendierter Normalität, Räume des darwinistischen Daseinskampfes, der rassischen Auslese, der drohenden Vernichtung und der eigenen Vernichtungsbereitschaft.
D i e „W e st f r o n t“ al s p r o to t yp i s c he G r e n z e des 20. Jahrhunderts Auf der Basis dieser radikalen semantischen Aufladung schrieb Haushofer Ratzels Gedanken fort, dass die Grenzen ihre volle Räumlichkeit und Dynamik erst im Krieg, also mit ihrer Transformation in Fronten, offenbarten. Der Krieg jedoch war nicht mehr die begrenzte und kalkulierbare Auseinandersetzung der Jahre 1864, 1866 oder 1870/71, wie Ratzel sie erlebt und beschrieben hatte, sondern hatte erstmals Züge eines totalen Krieges angenommen, in dem der Kampf der Armeen in eine Verfügung über Bevölkerungen umzuschlagen begann und in dessen Verlauf sich zum ersten Mal das technologische Zerstörungspotential der Zweiten Industriellen Revolution manifestierte.87
84 85 86 87
Ders., Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 21. Ebd., S. 75. Vgl. auch ders., Grenzen, S. 553. Ders., Grenzen, S. 556. Vgl. Mommsen, Der Erste Weltkrieg, S. 118.
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Haushofer rekapitulierte den Gedanken einer kriegerischen Rückverwandlung der Lineargrenzen zu Grenzwüstungen vor dem Hintergrund seines konkreten Kriegserlebnisses an der Westfront, an der er wiederholt eingesetzt gewesen war,88 und erklärte die an der Somme und bei Verdun erlebte Transformation der Landschaft in einen völlig neuartigen, durch die Einwirkung der Kriegstechnologie buchstäblich zerlegten und nach militärischen und funktionalen Erfordernissen neu zusammengesetzten Raum zum Prototyp der modernen Grenze schlechthin: „In diesem Zusammenhang [gemeint ist die Dreidimensionalität der Grenze, d.Verf.] müssen wir [...] der Kampfzone des Weltkrieges als eines der am meisten die Begriffe klärenden Grenzkörpers auch in der bildhaften Wirkung gedenken, wie sie sich etwa durch die Reihe der Fesselballone von der Nordsee bis zum Jura im Westen Innereuropas abzeichnete und so die Grenzen des Grenzkörpers in jenem Daseinskampf erfassen ließ, der immerhin zu Lande etwa 128 km89 weit kanonenüberspannt war, auf Minentiefe in die Erde drang und weit darüber hinaus Flieger- und Tauchbootgefährdung in Karten einzutragen gestattete.“90
Im Medium des Krieges war aus der linearen Westgrenze der Vorkriegszeit also auch im physischen Sinne ein ‚dreidimensionaler Kampfraum‘ geworden, mit dem ein völlig neuer und zugleich hoch moderner Typus von Grenze in die Geschichte eintrat. Die aus den ungleichen Grenzarten der Rassen resultierenden Kämpfe hatten sich, anders gesagt, in einem Maße verdichtet, das die Westgrenze des 19. Jahrhunderts irreversibel aufhob. Haushofer löste die Vorstellung eines ‚Westraumes‘ damit in radikaler Weise von den ‚Westmark‘-Konzepten des Kriegszieldiskurses ab und erklärte das Kriegserlebnis selbst zur Geburt eines solchen Raumes. Dies bedeutete zwar nicht, dass die Westgrenze eine Front im physischen Sinne blieb, implizierte aber, das sie, wo auch immer ihre lineare Abstraktion verlaufe, ihrem Wesen nach nichts anderes als ein Kampfraum sein konnte, und mehr noch, dass auch alle anderen Grenzen der modernen Industriestaaten früher oder später eine solche Transformation vollziehen müssten. Den Grund hierfür erblickte Haushofer weniger in rassischen Antagonismen, demographischen Gegensätzen und materiellen Interessen, sondern vor allem in den Fortschritten der militärisch einsetzbaren Technologien und Infrastrukturen. Umfang und Struktur des ‚Grenzkörpers‘ hingen, so nahm er an, unmittelbar von der Funktionsweise und den Wirkungen der verfügbaren Waffen ab. Ein technischer Forschritt in der Luftfahrt oder eine erhöhte Reichweite der Artillerie vergrößerten auch die Höhe und Breite des ‚Grenzkörpers‘, sodass dessen Anteil am Staatsgebiet tendenziell zulasten des ‚Landkerns‘ zunähme. Eine entsprechende Technologie vorausgesetzt, wurde damit ein Zustand denkbar, in dem das gesamte Staatsgebiet in die Reichweite der gegnerischen Kriegstechnologie geraten und es keinen Teil des Staates mehr geben könne, der nicht Teil der Grenze sei und den es nicht, wie diese, auf den Kriegsfall vorzubereiten gelte. Haushofer schrieb der Grenze 88 Haushofer führte zunächst eine Gefechtsstaffel in den Schlachten von Lothringen, Saarburg und Epinal an; nach einem Einsatz in Belgien kämpfte er 1916 u.a. an der Somme und bei Verdun. Vgl. Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 113ff. 89 Die Kilometerangabe bezieht sich auf der Reichweite der im Ersten Weltkrieg eingesetzten Geschütze. 90 Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 11.
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damit das Potenzial zu, von einer peripherischen zu einer ubiquitären Kampfzone zu werden, und indem er diesen Kampf als einen fortdauernden, nicht nur auf den erklärten Kriegszustand beschränkten Verdrängungswettbewerb expandierender Räume auf knappem Boden auffasste, wurde der zunächst in der Grenze verortete Ausnahmezustand zur allgemeinen Regel. Rupert von Schumacher, ein junger österreichischer Adept der Haushofer’schen Geopolitik, formulierte dieses Konzept nach 1933 weiter aus.91 Anknüpfend an Ratzel und Haushofer92 argumentierte er, dass sich mit dem Ersten Weltkrieg ein „Bedürfnis nach einer Zwischenzone geltend gemacht“ habe, das durch eine Anlehnung der politischen Grenzen an natürliche Hindernisse nicht mehr erfüllt werden könne, da die Fortschritte der Luftwaffe und die Reichweite propagandistisch nutzbarer Massenmedien deren Wirkungen zunichte machten. Die modernen Nationalstaaten vollzögen daher einen Paradigmenwechsel von einem linearen hin zu einem räumlichen Grenzkonzept, das auf die Schaffung eines „starken Grenzbereich[s]“ abziele, der „sich als Auffangvorrichtung gegen nachbarliche Einwirkung zwischen die Länder legt.“ Diesen Paradigmenwechsel bezeichnete er als „Wiedererstehung der Mark“.93 Die „Mark“ war für Schumacher nicht der vormoderne ‚Grenzsaum‘, wie Ratzel ihn beschrieben hatte, sondern das Produkt moderner Kriegstechnologie: „Das Wesen der neuen Grenzform ist im Weltkrieg geboren worden.“94 Schumacher ging noch einen Schritt weiter als Haushofer, indem er die Westfront selbst als „Mark“ auffasste. Sei die Front zunächst nichts anderes als die in Bewegung geratene „Lineargrenze“ gewesen, so hätte der Stellungskrieg sie in ein „Niemandsland“ oder eine „Zwischenzone“ transformiert, die, in einer bestimmten Weise strukturiert, als „strategische Waffe“ habe eingesetzt werden können: „Entsprach der Schützengraben-Lineargrenze die Angriffsidee des Durchbruchs unter Einsatz aller verfügbaren technischen Kampfmittel, so hat die Verteidigung die Bedeutung des Niemandslandes als schwer überschreitbarer Zwischenzone aufgegriffen, durchgebildet und realisiert, indem sie das Niemandsland-Schußfeld der Handfeuerwaffen den Ausmaßen des Wirkungsbereichs der anderen technischen Waffen anpasste. So ist jene ungeheure Zwischenzone entstanden, die der deutschen Idee des ‚Gegenstoßes aus der Tiefe‘ zugrunde lag: der Durchbruch der Tanks und Flieger, des Trommelfeuers, Gas- und Flammenwerferangriffs – auf plötzliche überraschende Massenwirkung berechnet – verlief ins Leere, verlor angesichts der Tiefe der Zwischenzone das Überraschungsmoment, verzettelte sich in Teilkämpfen mit 91 Schumacher, Raum als Waffe, S. 107-137. – Die Schrift steht im Kontext einer
Reihe ähnlicher Publikationen Schumachers: ders.: Deutschland-Fibel. Volk, Raum, Staat; Berlin o.J. (1934); ders.: Prinz Eugen, des Reiches Bannerträger an Donau und Rhein (Deutsche Führer zum Osten), Berlin 1935; ders.: Volk vor den Grenzen. Schicksal und Sinn des Außendeutschtums in der gesamtdeutschen Verflechtung, Stuttgart u.a. 1936; ders.: Siedlung und Machtpolitik des Auslandes (Macht und Erde, Heft 5), Leipzig 1937; ders.: Der deutsche Lebensraum (Bausteine für Geschichtsunterricht und nationalpolitische Schulung), Leipzig 1938; ders.: Des Reiches Hofzaun. Geschichte der deutschen Militärgrenze im Südosten, Darmstadt 1942. 92 Schumacher, Raum als Waffe, S. 130. 93 Ebd., S. 110. 94 Ebd.
200 | IMAGINIERTER WESTEN den in diese Zwischenzone eingeschobenen Kräften, zerstreute sich über einen, die massierte Tiefenwirkung verhindernden weiten Raum und gab sich daher von selbst 95 den [recte: dem] Gegenstoß aus der Hauptstellung preis.“
In dieser neuen, funktional eingerichteten und strategisch durchorganisierten „Zwischenzone“ erblickte Schumacher das Modell der modernen ‚Marken‘, mit denen die Staaten von neuem einen „hemmenden Raum von einer Tiefe, die eine unmittelbare Waffenwirkung ohne Grenzüberschreitung des Gegners ausschließt,“ zwischen sich legten.96 Der Staffelung der Westfront in eine erste, zweite und dritte Verteidigungslinie entspreche eine Gliederung der ‚Marken‘ in drei parallel verlaufende Zonen, deren Funktionen sich aus der militärischen Technologie ergäben. Während die „Erste Zone“ die Grenzlinie als ein Streifen von etwa 30 Kilometern Breite begleitete, der im Kriegsfall ohne Grenzüberschreitung beschossen werden könne und in dem sich daher möglichst keine relevanten Industrien, Infrastrukturen und Siedlungen befinden sollten, bilde die „Zweite Zone“ einen Streifen von etwa 120 Kilometern Breite, der durch Fernbeschuss und aus der Luft angegriffen werden könne, bevor die eigene Luftabwehr in Aktion trete. Hier sollten die eigentlichen Vorkehrungen für eine militärische, ökonomische und ideologische Mobilmachung der ‚Mark‘ getroffen werden, während die „Dritte Zone“ weit darüber hinaus alle Gebiete umfasse, die für gegnerische Bombenflugzeuge prinzipiell erreichbar seien. Mit einer geschätzten Breite von 500 Kilometern ließ sie, auf das Deutsche Reich übertragen, keinen Raum mehr übrig, die nicht Teil der wiedergeborenen ‚Mark‘ war.97 Schumachers Grenze war damit also ein letztlich ubiquitärer ‚Grenzkörper‘, der sich nicht mehr nur, wie bei Haushofer, ringförmig um das Reich legte, sondern es zusätzlich wie ein Dach überwölbte.98 Diese Zonierung der Grenze war eine logische Fortführung des Haushofer’schen Theorie. Doch nahm dieser selbst eine andere Binnendifferenzierung vor, die den ‚Grenzkörper‘ nicht in parallel verlaufende Streifen teilte, sondern als ein Gefüge interagierender ‚Zellen‘ auffasste. Betrachten wir diese Konkretisierung des Grenzkonzepts genauer.
Die fünf Grenztypen u n d d as P r i n z i p d e r P r e k ar i t ät Als Momentaufnahme fortdauernder Bewegungen und Kämpfe stellte sich die Grenze für Haushofer ebenso wenig wie für Ratzel in jedem Abschnitt und zu jeder Zeit gleich dar. In Anlehnung an Ratzels Ausführungen über die unterschiedliche strategische Bedeutung der Grenzabschnitte und Siegers Unterscheidung zwischen ‚Schutz-‘, ‚Verkehrs-‘ und ‚verkehrsvermittelnden Grenzen‘ stellte er verschiedene Typologien der Grenze vor. So unterschied er zwischen einem „apathischen“ und einem „tonischen“ Typus von Grenzen, in denen der Fluss des Verkehrs entweder durch Trägheit oder besondere Erregung ausgezeichnet sei; während die apathische „Trägheitsgrenze“ durch 95 96 97 98
Ebd. Ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 112-115, 122f. Vgl. ebd., S. 120f.
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ihre Nähe zur Anökumene eine gewisse Stabilität biete, zeichne sich die tonische „Reizgrenze“ durch ein Übermaß an „Verkehrszufuhr“, ein „flüssigeres Verhältnis der Bevölkerung zu Grund und Boden“, eine „frühere Abkehr“ von der „Autarkie“ zur „Geldwirtschaft“, eine beschleunigte „soziologische[.] Differenzierung“ und „Arbeitsteilung“ sowie eine „schnellere und gründlichere Rassenmischung“ aus.99 Es war also das Maß an Modernisierung und Mobilität, das Haushofer hier in recht simpler Weise zur Typisierung der Grenze vorschlug. Er verband dies mit einer Typologie des französischen Geographen Eugene Ténot, der mit Blick auf die französischdeutsche Grenze nach der Annexion Elsass-Lothringens zwischen einer nicht tolerierbaren frontière démembrée, einer hinnehmbaren frontière neutre und einer wünschenswerten frontière naturelle unterschieden hatte.100 Haushofer übersetzte die Typologie des Franzosen in die Termini einer „entgliederten, nicht anerkannten, vergewaltigten“ Grenze (démembrée), einer „zu überwallenden und zu verschmelzenden“ Grenze (neutre) und einer „natürlichen, als dauernd wünschenswert beiderseits empfundenen“ Grenze (naturelle) und gründete darauf die polemische Behauptung: „In diesem Sinne ist das deutsche Reich von heute, bis auf wenige Stellen, von ‚frontières démembrées‘ umgeben. Als ‚neutre‘ würde die schweizerische und niederländische Grenze, als ‚naturelle‘ nur die Wasserkante empfunden werden können […].“101
In der Hauptsache typisierte Haushofer die Grenzabschnitte jedoch nach einem differenzierteren Schema, das nicht von der Modernität und Akzeptabilität der Grenzen, sondern ihrer strategischen Bedeutung ausging. Es basierte auf einer Skalierung der Grenztypen gemäß ihrer defensiven oder offensiven Wertigkeit. Ihre suggestive Kraft bezog diese Typologie, wie gehabt, aus Analogien zu Organen und Zuständen des menschlichen Körpers. Vier dieser fünf Typen entsprachen der Vorstellung der Grenze als Kampfzone. Im negativsten Fall konnte die Grenze für Haushofer in einen Zustand der „Zersetzung“ übergehen. Wo dies geschehe, verliere der ‚Grenzkörper‘ seinen Willen, seine Energie und sein völkisch-rassisches Bewusstsein, er drohte gleichsam zu sterben. Infolgedessen sei die „Zersetzungsgrenze“ von „labilem Bevölkerungszustand“, „Desorganisation“ und „kleinräumiger Entgliederung“ gekennzeichnet; sie sei eine „entwehrte Region“, der „Durchdringung“ und „Unterwanderung“ durch einen Gegner „preisgegeben“, dessen „Wachstumsspitzen und Verkehrsköpfe“ bereits in sie „eingedrungen“ seien und die Moral ihrer Bewohner „zersetzt“ hätten.102 Haushofer knüpfte an Ténots Begriff der frontière démembrée an und griff das in der völkischen Propaganda der frühen 1920er Jahre vielfach variierte Bild einer Vergewaltigung des Grenzlandes103 auf, in dem „entdeutschte“ und 99 100 101 102 103
Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 154ff. Vgl. Ténot, Eugene: La Frontière, Paris 1894. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 157. Ebd., S. 154. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang die Parole der „schwarzen Schmach“, der die Behauptung einer massenhaften Vergewaltigung deutscher Frauen durch Angehörige der im besetzten Rheinland eingesetzten franzö-
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„entartete“ Figuren als Gegenbild des vitalen, die Grenze verteidigenden „Grenzdeutschen“ auf den Plan traten.104 Im Gegensatz zur „Zersetzungsgrenze“ unterschieden sich die „Schutz-“, „Lauer-“ und „Angriffsgrenzen“ zwar in ihrem defensiven bzw. offensiven Charakter, sie alle aber waren Ausdruck eines gesunden ‚Grenzkörpers‘. Ihre Verkehrs- und Verteidigungsbauten sah Haushofer in eine „hochorganisierte“ Region eingebettet, deren Gesellschaft „jederzeit“ zur „Abwehr“ oder zum „Vorschreiten“ mobilisierbar und bereit sei, ihre „Wachstumsspitzen“ ihrerseits in das Innere des Nachbarlandes zu stoßen.105 Das Motiv der Vergewaltigung schwingt auch hier mit, allerdings erscheint der ‚Grenzkörper‘ nicht mehr in der Rolle des Opfers, sondern des Täters. Haushofers Typologie schloss die Möglichkeit eines jederzeitigen Umschlagens ein: Eine ‚Schutzgrenze‘ konnte zur ‚Wachstumsspitze‘ werden, eine ‚Angriffsgrenze‘ konnte eine defensive Funktion annehmen oder eine ‚Lauergrenze‘ in einen Zustand der ‚Zersetzung‘ übergehen. Der ‚Grenzkörper‘ war damit nicht nur dynamisch und subjekthaft, sondern in hohem Maße prekär, und gerade in dieser Möglichkeit des unvermittelten Wandels einer Region der Abwehr oder des Zerfalls in eine Region des Angriffs oder des Sieges (und umgekehrt) erblickte Haushofer das Charakteristische eines jeden Grenzlandes. Dieser grundsätzlichen Prekarität des Grenzlandes entsprach aus seiner Sicht eine Aporie jeglicher Grenzlandpolitik, denn so sehr diese auch die „Pflege und pflegerische Erhaltung der Grenzlandschaft“ in den Vordergrund stelle, habe sie das Grenzland letzten Endes doch immer „als Machtwerkzeug“ einer völkischen Räson aufzufassen, der es „unter Umständen“ auch geopfert werden müsse.106 Die Vorstellung der Grenze als prekärer Zone des Kampfes schloss also die Möglichkeit ein, dass sich die Gewalt des ‚Grenzkörpers‘ auch gegen seine eigene Bevölkerung richte. Allerdings erschöpfte sich Haushofers Typologie nicht im Durchdeklinieren defensiver und offensiver Dispositionen. Neben die vier defensiven bzw. offensiven Grenzformen stellte er einen fünften Typus: die „Gleichgewichtsgrenze“. Sie ähnelte Ratzels Vorstellung kultureller Übergangszonen, der ‚verkehrsvermittelnden Grenze‘ Siegers, der frontière neutre Ténots und den Kompromisslösungen Holdichs. In der ‚Gleichgewichtsgrenze‘ stelle sich der ‚Grenzkörper‘ nicht mehr gewaltförmig dar, da es hier weder ein signifikantes Machtgefälle zwischen den Staaten, noch einen ungleichen ‚Bevölkerungsdruck‘ gäbe. Im Idealfall handle es sich um eine „apathische“, vom „jähen Druckwechsel“107 der industriellen Moderne verschonte Grenzlandschaft. In ihr habe sich eine Machtbalance eingestellt, und die Dynamik der ‚wachsenden Räume‘ sei zumindest vorübergehend zum Stillstand gekommen. Im Gegensatz zur ‚Zersetzung-‘, ‚Abwehr-‘, ‚Lauer-‘ oder ‚Angriffsgrenze‘ haben wir es also mit einer unter dem Gesichtspunkt des Friedens und der Normalität statt des Kriegs- und Ausnahmezustandes gedachten
104 105 106 107
sischen Kolonialtruppen zu Grunde lag. Vgl. Allen, Henry T.: Die Besetzung des Rheinlands, autorisierte deutsche Ausgabe, Berlin o.J., S. 248-253 (im Folgenden zitiert als: Allen, Besetzung des Rheinlands). Vgl. exemplarisch Loesch, Karl C. von: Eingedeutschte, Entdeutschte und Renegaten, in: ders. (Hrsg.), Volk unter Völkern, S, 213-241. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 152ff. Ebd., S. 225. Ebd., S. 154f.
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Grenze zu tun. Haushofer sprach ihr einen „zugleich scheiden[den] und verbinden[den]“ Charakter zu, der auf „beiderseitigem Einverständnis [über die] zu schaffende Grenzlebensform“ beruhe und die Perspektive einer relativen Stabilität und Prosperität eröffne.108 Eine moderne Form der Gleichgewichtsgrenze sah er in den Kondominaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, also der gemeinsam ausgeübten Herrschaft mehrerer Staaten über ein Gebiet, wie es nach dem Wiener Kongress für Neutral-Moresnet und in gewisser Weise auch für die Stellung Luxemburgs im Deutschen Bund gegolten hatte. Wie die anderen Grenztypen stellte Haushofer auch die ‚Gleichgewichtsgrenze‘ als prekär vor, doch bestand diese Prekarität nicht im Umschlagen zwischen Defensive und Offensive, sondern im Umschlagen von Krieg und Frieden: Die ‚Gleichgewichtsgrenze‘ könne sich, sobald sich wieder ein Machtgefälle ergebe oder ein ‚Bevölkerungsdruck‘ auf sie wirke, von einer Brücke in eine Front verwandeln. Diese Janusköpfigkeit gestattete es dem grenzlandpolitischen Akteur, sich sowohl als Vorhut des Krieges, als auch als Botschafter des Friedens zu gerieren und geschickt mit den Optionen der Kampfbereitschaft und des Verständigungswillens zu jonglieren. So verknüpfte Haushofer das Konzept der ‚Gleichgewichtsgrenze‘ denn auch mit der Forderung der völkischen Verbände nach „großzügiger Autonomie“ für nationale Minderheiten, namentlich für die ‚Volksdeutschen‘ in ElsassLothringen und Südtirol.109 Vordergründig ein Modell des Ausgleichs und der Verständigung, entpuppt sich die ‚Gleichgewichtsgrenze‘ hier als Euphemismus für eine grenzlandpolitische Strategie, die auf die Schaffung eines Gürtels autonomer oder kondominaler Gebiete entlang der Reichsgrenzen, mit anderen Worten also auf eine Durchweichung der Grenzen und eine Unterminierung der nachbarstaatlichen Souveränitäten hinauslief. In der Gegenwart jedoch sah Haushofer das Reich unter entgegengesetzten Vorzeichen von Kondominaten umgeben und überlagert. Doch handle es sich bei ihnen nicht um ‚Gleichgewichtsgrenzen‘ zu beiderseitigem Vorteil, sondern um ‚Angriffsgrenzen‘ der früheren Kriegsgegner: „Saar, Rheinland, Danzig, Memel, Oberschlesien sind doch verschleierte Kondominien geworden oder gewesen, wie es die Mandschurei, die Mongolei, Tibet, Ili, die Neuen Hebriden heute sind“.110 Mit Hilfe suggestiver Karten zeichnete er ein Deutschlandbild, in dem es nur noch dem Anschein nach eine Grenze gab, das Reich tatsächlich aber zu einem entgrenzten Land geworden schien, dessen Peripherie zu einer ‚Zersetzungsgrenze‘ und dessen Zentrum zu einer ‚Schutzgrenze‘ zu degenerieren drohe.111 Ein Kjellén’scher Landkern, der nicht zugleich auch Grenzland war, existierte nicht mehr; Deutschland drohte in einer Welt entfesselter Dynamik zu zerfließen, wenn es nicht gelänge, ein „waches Grenzbewußtsein“ zu erzeugen und den Grenzkörper zu reanimieren.112 Der geschwächte, prekäre und ubiquitäre Grenzkörper bildete also nicht nur einen geographischen, sondern ebenso einen politischen und ideologischen Kampfraum, in dem die Deutschen entweder ihren Willen „zur Verwirklichung ihrer Kulturmacht“ und ihrer „Wirtschaftsmöglichkeiten“ im „wachsenden Lebensraum“113 wiedererlangten – oder aber untergingen. 108 109 110 111 112 113
Ebd., S. 152. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 212-224, 242-246. Ebd., S. 6. Ebd., S. 18.
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D i e G r e n z e a l s Ü b e r g a n g sr a u m i n d a s „ D r i t t e R e i c h“ Indem Deutschland in den Kämpfen um die Grenzen seine Fähigkeit zur Expansion in seinen ‚Lebensraum‘ wieder erlange, vollzog sich für Haushofer zugleich der Übergang zu einem „Dritten Reich“114 im Sinne eines autoritaristischen Staates, der „jeden rasseverwandten Mann, der in diesem Raum leben will, [...] mit seinen Grenzen“ umschließe.115 Der aus rassischen Antagonismen resultierende und in der Westfront prototypisch sichtbar gewordene ‚Grenzkörper‘ war damit also nicht so sehr die verräumlichte Grenzlinie des aktuellen, sondern die eines zukünftigen Deutschland. Das geopolitische Konzept der Grenze gewann damit eine utopische Dimension, die den geographischen Grenz- in einen historischen Übergangsraum von der Weimarer Republik zu einem ‚Dritten Reich‘ transzendierte. Für Haushofer hatte Gustav Braun mit seinem organischen Gefüge zweckmäßig ausgewählter, durch ‚Sperrlandschaften‘ und ‚Pforten‘ strukturierter ‚Marken‘ den auf lange Sicht einzig möglichen ‚Grenzkörper‘ des deutschen ‚Lebensraumes‘ beschrieben. Was es zu realisieren galt, waren also Grenzen, die vollständig von der staatlichen Grenze der Weimarer Republik entkoppelt waren, als überzeitliches Gefüge organisch harmonierender ‚Marken‘ gleichwohl jedoch bereits in der Gegenwart existierten. In diesem Zusammenhang erhielt das Prinzip der Prekarität eine enorme strategische (und sinnstiftende) Bedeutung. Denn indem Haushofer die Grenze als einen Raum begriff, in dem Situationen der Abtrennung, der Bedrohung, des Gleichgewichts, der Stärke und des Wachstums einander seit jeher ablösten und ineinander übergingen, wurde die Prekarität zur Bedingung für die Stabilität des Ganzen: Der ‚Grenzkörper‘ hatte gerade dadurch Bestand, dass seine ‚Marken‘ auch in einer ungewissen und ungünstigen Umwelt, also innerhalb eines fremden Staates, überleben konnten. Nur eine solche ‚wandelbare Grenzform‘ sei die des Stärkeren und bleibe es auch dann, wenn dieser für eine gewisse Zeit auf ein kleineres Territorium zurückgeworfen werde, sofern sein unveräußerlicher ‚Landkern‘ nicht zerstört und die „Verwurzelung“116 der Grenzbevölkerung nicht unterminiert sei. Somit war es die Bereitschaft der Grenzbewohner, sich in einer Situation fortdauernder Ungewissheit und Unsicherheit als ‚völkische‘ Gemeinschaft zu erhalten und als solche Gewalt ebenso zu ertragen wie auszuüben, die Prekarität in Stärke wandelte. Und indem die Geopolitik ihren Beitrag leistete, diese Bereitschaft zu mobili114 115
116
Ebd., S. 4. Haushofer, Karl: „Das Dritte Reich“, in: Bund Oberland (Hrsg.): Oberland. Ziele und Wege des Bundes Oberland, München 1926, S. 5-10, hier: 8 (im Folgenden zitiert als: Haushofer, Das Dritte Reich). Fritz Hesse hatte im Eröffnungsaufsatz des ersten Jahrgangs der Zeitschrift für Geopolitik zwischen „Verwurzelungsgebieten“, in denen das „Volk“ über lange Zeit mit dem Boden verbunden sei, und „Bewegung“ unterschieden, die entweder nomadisch sei oder die Expansionsbewegung eines „verwurzelten“ Gebietes darstelle. Voraussetzung für das räumliche Wachstum im Sinne Ratzels sei die „Verwurzelung“, während bloße Bewegung keine „Dauerwirkungen“ hervorbringen könne. Vgl. Hesse, Ernst: Das Gesetz der wachsenden Räume, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1924), S. 1-4, hier: 3f.
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sieren, trug sie, wie ihr Protagonist glaubte, unmittelbar zur Gesundung des ‚Grenzkörpers‘ und zur Schaffung des ‚Dritten Reiches‘ bei. Es ist evident, dass dieses politische Programm im Kontext der Weimarer Demokratie nicht realisierbar war. Der Generalmajor setzte daher auf die völkischen und jungkonservativen Organisationen wie den Bund Oberland, dessen „extremen Nationalismus“117 er begrüßte und dessen Mitglieder er ausdrücklich zum militanten „Kampf“ um die „Wiedergewinnung“ der „sprach- und kulturdeutschen Landschaften“ motivierte: „Das Anstreben solcher Ziele [...] bedeutet [...] die Erkenntnis, daß ohne Kampf diese Gebiete nicht gewonnen werden können, bedeutet für unsere Seelen irgend einmal ungeheuren Kampf in Kultur und Wirtschaft und wohl auch mit den Waffen der Macht, bedeutet, daß unsere Seelen sich auf lange Zeiträume, wie auf große Kampffelder einrichten müssen! [...] Ein Durchschnittsmaß von Vaterlandsliebe, von Opferwillen, wird den Anforderungen, die das Dritte Reich bei seinen Geburtswehen an uns stellt, nicht gewachsen sein.“118
Haushofers Konzept der Grenze als ein lebendes und empfindendes Kollektivsubjekt, das den Willen und das Bewusstsein der ‚Volkheit‘ in sich vereine, machte den militanten Grenzlandaktivismus selbst zu einem elementaren Bestandteil der Grenze. Die dem ‚Grenzkörper‘ zugeschriebene Gewalt gewann hiermit eine weitere Dimension: sie war nicht mehr allein eine abstrakte Eigenschaft des ‚Grenzkörpers‘, ein in ihn projizierter Kampf ungleicher Bevölkerungen und Rassen oder eine in ihm untergründig fortbestehende Kriegsfront, sondern, mehr noch, ein die Grenze konstituierendes, unmittelbares politisches Handeln. Der ‚Grenzkörper‘ existierte für Haushofer im nationalistischen Bewusstsein, in der schlagkräftigen Organisation und in der konkreten Tat der Grenzlandaktivisten, bevor er im geographischen Raum wieder aktiviert werden konnte. Als zentralen Bestandteil seiner Geopolitik der Grenzen formulierte er daher eine politische Strategie für den Grenzlandkampf.119 Diese Strategie zielte zunächst auf die ‚Erziehung‘ der deutschen Bevölkerung zu einem spezifischen ‚Grenzgefühl‘,120 einen politischen Willensbildungsprozess also, dem Haushofer sich auch in der Deutschen Akademie widmete. Unabhängig von seinem realen Aufenthalt sollte jeder Deutsche eine Art grenzländische Identität ausbilden, und gerade in ihrer Prekarität und Ubiquität sollte die Grenze zum Symbolraum der Nation werden, in dem jeder Einzelne einen „Grenzinstinkt“ und ein „Grenzbewusstsein“ ausbilden könne.121 Indem die Deutschen überhaupt erst lernten, „die Grenzräume [zu] sehen“, würden sie, so hoffte Haushofer, jenes „fast telepathische Feingefühl 117 118 119
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Zit. n. Jacobsen, Haushofer, Bd. 1, S. 201. – Zu Haushofers Verhältnis zum Bund Oberland vgl. ebd., S. 201f. Haushofer, Das Dritte Reich, S. 8f. In Grundzügen hatte Haushofer sein unten umrissenes grenzlandpolitisches Programm bereits 1925 in Karl C. von Loeschs Sammelband Volk unter Völkern dargelegt, der auf der vorausgegangenen Bundestagung des Deutschen Schutzbundes basierte. Vgl. Haushofer, Karl: Die geopolitische Betrachtung grenzdeutscher Probleme, in: Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern, S. 188-192. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 106f. Ebd., S. 6.
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für Grenzferngefahren“ erlangen, über das der Forscher bereits verfüge und das ihn „zum praktischen Handeln, zum kämpfenden Einsatz“ befähige.122 Die Vorbilder hierfür erblickte Haushofer in Japan, dessen „nationale Erziehung“ er bereits vor dem Ersten Weltkrieg als vorbildlich beschrieben hatte.123 Die telepathische ‚Korrelation‘ von Bürger-, Volks- und Grenzkörper wähnte er dort in einem Maße ausgebildet, dass Entwicklungen an der Grenze im wahrsten Sinne des Wortes von jedem Einzelnen so gefühlt würden, als wären es Wahrnehmungen der eigenen Haut.124 Die ‚Erziehung zum Grenzgefühl‘ gehörte zu den Voraussetzungen einer zweiten Taktik, die Haushofer als Festigung oder Schutz der Grenze bezeichnete. Allerdings zielte diese nicht auf die Mobilisierung der Gesamtnation, sondern die Formierung der grenznah lebenden Deutschen zu militanten Kampfgemeinschaften. Vorbilder hierfür sah er in der habsburgischen Militärgrenze, vor allem aber in Ostasien. Am Beispiel des 1911 gegründeten chinesischen „Grenzverteidigungsamtes“ beschrieb er eine gleichermaßen militärische wie zivile, mit regionalen Sondervollmachten und bevölkerungspolitischen Kompetenzen ausgestattete Institution.125 Haushofer sah es als die Aufgabe der nationalistischen „Bünde und Vereinigungen“ an, in Ermangelung einer solchen Institution eine vergleichbare Formierung aller deutscher Grenzgebiete vorzubereiten.126 Dabei müsse es zunächst um eine sukzessive politische und kulturelle Durchdringung der „Marken“ gehen, um sie „durch sinnreiche Belebung und Gliederung der Grenzvolkstätigkeit zu festigen“ und schließlich „zum Vortragen der Grenze“, zur Expansion also, „zu befähigen“: „Abwehr von Grenzverlegungen muß, wenn sie erfolgreich sein soll, von juristischer Starrheit oder passiver Beharrung im wesentlichen absehen und moralische und physische Grenzorganisation einfach gleich dem deutschen Wort für ‚Organisation‘, der Belebung, der Durchgliederung, setzen. Und zwar darf eine solche Belebung, eine solche Durchgliederung völkischen Widerstandes oder besser Entgegenarbeitens kein Gebiet wirtschaftlicher, kultureller oder machtpolitischer Lebenserweckung übersehen, am wenigsten das überaus wichtige der Bodenverteilung in Grenzlanden, der Interessierung noch eben gerade wurzelfester oder schon wurzellos gewordener Volksschichten am Volksboden. Wo es nicht gelingt, Mehrheiten in ein positives Verhältnis zum Lebensraum zu bringen [...], da wird alle materielle und ideelle Grenzlandarbeit auf die Dauer verloren sein.“127
Haushofer plädierte also für eine Institutionalisierung der transformierten Grenze durch die Schaffung informeller, dezentraler und grenznah angesiedelter Organisationen und Netzwerke, die, dem ‚organischen‘ Charakter des ‚Grenzkörpers‘ angepasst, Formationen eines kurzfristigen ‚Schutzes‘ und langfristigen ‚Vortragens‘ der Grenze herstellen sollte. Diese Formationen waren nicht allein militärischer Natur, sondern umfassten eine Vielzahl kultur-, sozial-, infrastruktur- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen und 122 123 124 125 126 127
Ebd., S. 112, 116. (Herv. i. Orig.) Vgl. Hipler, Bruno: Hitlers Lehrmeister. Karl Haushofer als Vater der NSIdeologie, St. Ottilien 1996, S. 55f. Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 223f. Ebd., S. 38. Ebd., S. 222. Ebd., S. 210.
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Vorkehrungen, und nicht zuletzt sollten sie eine Mentalität des ‚völkischen Widerstandes‘ mobilisieren, die in einer geopolitisch ‚erzogenen‘ Gesamtgesellschaft ihren Rückhalt fände. 128 Haushofer konzipierte die Grenze damit zwar nach wie vor als Organismus, verschmolz diesen Terminus jedoch mit dem Begriff der Organisierung und konzipierte die Grenze damit in einer neuartigen Weise, die wir einleitend als Formierungsmodell der transformierten Grenze umrissen haben. Haushofer beschrieb auf dieser Grundlage auch bevölkerungspolitische Maßnahmen zur Privilegierung der ‚deutschen‘ Bewohner der Grenzgebiete und zur Ausstattung der unteren und mittleren Schichten mit Grundeigentum.129 Nichtdeutsche Bewohner hingegen betrachtete er als Elemente der ‚Zersetzung‘, die es nicht erst in einem künftigen Krieg, sondern bereits im gesellschaftlichen Alltag abzuwehren gelte. In den Mittelpunkt der ‚Grenzfestigung‘ rückte damit die repressive Kontrolle von Nichtdeutschen, deren Anwesenheit Haushofer in naturalistischer Symbolik als „Einsickerung fremder Stoffe“, als „unmerkliche Verfärbung und Vermischung“, als „Intrusion weit unter der Erdoberfläche“ oder „lautlose Unterwanderung von Insekten und Mäusescharen“ umschrieb.130 Die Politik der ‚Grenzfestigung‘ setzte, wie diese Metaphorik unterstreicht, auf eine paranoische Übersteigerung der Prekarität und gewann auf diese Weise die Legitimation für eine bevölkerungspolitischen Feindbestimmung im Inneren. Auch die akademische Grenzlandforschung stellte für Haushofer einen Baustein des ‚Grenzkörpers‘ dar. Die grenzlandpolitische Formierung ergänzend, sollte sie sich vor allem zwei Themen zuwenden: der „Forschung über die Grenzlebensräume und Lebensformen an sich“ und der „Aufrechterhaltung der Beziehung abgetrennter und gefährdeter Teile zu dem Gesamtgefüge der größeren Lebensform, bei dem wir sie erhalten wollen“.131 Die besondere Rolle der Geopolitik sah er darin, diese völkisch-nationalistisch motivierte Forschung auf die Ebene interessenfreien Forschens über geographische Grundgesetze internationaler Politik zu transferieren und als „Grenzenmachen“132 im Sinne von Holdichs boundary making darzustellen. Haushofer ordnete die Grenzlandpolitik dabei einem Prozess der „geopolitischen Flurbereinigung“ zu, der „mit dem Ende des Weltkrieges nicht abgebrochen [ist], sondern angehoben hat.“133 Die globale Ausdehnung der Menschheit über alle natürlichen Grenzen hinweg münde dabei nicht in der Anerkennung internationaler Regularien – in einem tatsächlichen boundary making also –, sondern eskaliere den Kampf der ‚Rassen‘ um das knappe Gut ‚Lebensraum‘. Deutschland war in dieser Welt in der Tat nur noch als Kampfgemeinschaft denkbar, deren normatives System auf die Parole zusammenschmolz: „Bereit sein ist alles!“134 Gerade diese Amalgamierung von Grenze, Grenzlandpolitik, grenzlandpolitischen Organisationen und Grenzlandforschung öffnete den Diskurs in sehr viele Richtungen und erweiterte das semantische Feld mit ihren politi128 129 130 131 132 133 134
Vgl. ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 210. Ebd., S. 204. Ebd., S. 262f. Ebd., S. 89. Haushofer, Geopolitische Betrachtung grenzdeutscher Probleme, S. 191f. Ebd., S. 192. – Vgl. auch ders., Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 267.
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schen, ideologischen, utopischen, internationalen und symbolischen Bezügen ein weiteres Mal. Wie aber war die Westgrenze selbst im geopolitischen Diskurs präsent, und wie transformierte die Geopolitik sie konkret in einen Teil des ‚Grenzkörpers‘?
D i e g e o p o l i ti sc h e K o n z e p t i o n d e r W e st g r e n z e Wie die Analyse des alldeutschen Diskurses gezeigt hat, hatte die Politische Geographie eine zentrale Rolle für die theoretische Fundierung der deutschen Kriegsziele im Westen gespielt. Dieses Fundament entfiel nun als unmittelbarer Anknüpfungspunkt. Biographisch nicht in den Kriegszieldiskurs der Alldeutschen verstrickt, eröffnete Haushofer jedoch einen Weg, das Konzept einer ‚Westmark‘ aus dem Erlebnis der ‚Westfront‘ als einem konstitutiven Element des jungkonservativen Bewusstseins abzuleiten und inmitten der politischen, ökonomischen und sozialen Dynamiken der Nachkriegszeit neu zu verorten. Die Vorstellung einer rassischen Determination ungleicher und unvereinbarer Grenzarten band diese Neu-Konstruktion der ‚Westmark‘ zudem an den Rassediskurs und schrieb das Motiv des Rassenkampfes fort, ohne an die bizarren alldeutschen Spekulationen eines Wolff oder Stauff erinnern zu müssen. Überhaupt lässt sich feststellen, dass wesentliche Elemente des alldeutschen Diskurses zumindest auf der terminologischen Ebene nun nicht mehr vorkamen. Neben den ‚neuen deutschen Militärgrenzen‘, der ‚Annexion frei von Menschen‘ und den in diesem Sinne definierten ‚Marken‘ war dies vor allem der Terminus ‚Westmark‘ selbst. Dies verwundert, wurde die im Medium des Krieges transformierte Westgrenze im geopolitischen Diskurs doch explizit als eine ‚Mark‘ aufgefasst. Offenbar aber war der Terminus ‚Westmark‘ zu sehr mit den alldeutschen Kriegszielen assoziiert, sodass Haushofer auf alternative Formulierungen wie ‚deutsch-romanische Mark‘ oder, wie noch zu zeigen sein wird, ‚Rheingebiet‘ auswich. Gustav Brauns Beschreibung der ‚westlichen Marken‘ des ‚mitteleuropäischen‘ Raumes und Karl Kiesels Umdeutung einer Annexion der oberlothringischen Gebiete von einem Kriegs- zu einem „Friedensziel“135 boten in diesem Sinne unverfängliche Anknüpfungspunkte, um die Westgrenze als ein harmonisches und homogenes Gefüge von Sperrlandschaften und Verkehrslücken vorzustellen, das sich in eine flämische, eine elsässische und lothringische sowie in eine schweizerische ‚Mark‘ gliedere und weder durch die Staats-, noch durch die Sprachgrenze definiert sei. Darüber hinaus lieferte Braun auch eine historische Herleitung des ‚Mark‘-Begriffs, die dieses Gebiet als eine Art Ur-‚Mark‘ erscheinen ließ. Ausgehend von Ratzels Gedanken eines historischen Verdichtungsprozesses der archaischen Grenzwildnisse zu modernen Grenzlinien erkannte Braun im römischen Limes einschließlich der in seinem Hinterland dislozierten Verkehrs- und Verteidigungsanlagen die früheste Form eines ‚Grenzsaumes‘ zwischen der germanischen und romanischen Welt.136 Diesen ‚Grenzsaum‘ hätten die fränkischen, alemannischen und burgundischen Stämme am Ende der Antike nicht nur überschritten, sondern mit entgegen-
135 136
Vgl. Kiesel, Petershüttly, Titel („Ein Friedensziel in den Vogesen“). Vgl. Braun, Mitteleuropa, S. 50.
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gesetzter Stoßrichtung erneuert und nach Westen vorgeschoben.137 Dieser neue, nun gegen Rom gewendete ‚Grenzsaum‘ stellte für Braun zunächst eine kulturelle und ‚rassische‘ Mischzone zwischen den homogenen Siedlungsgebieten der germanischen und romanischen Völker dar. In ihr habe nun eine Verdichtung des ‚Grenzsaums‘ zur Linie begonnen, diese sei jedoch unvollständig geblieben und habe sich auf die Herausbildung einer stabilen Sprachgrenze beschränkt.138 Die Genese der Westgrenze war für Braun also durch eine unabgeschlossene Linearisierung gekennzeichnet, die in einer Gleichzeitigkeit von linearer Sprachgrenze und landschaftlich-kulturellem ‚Grenzsaum‘ ihren Ausdruck fand. Aus dieser Sicht bedeutete die Schaffung des lotharingischen Zwischenreiches im Zuge der karolingischen Reichsteilung des 9. Jahrhunderts eine politische Nachbildung und staatliche Konstituierung dieser räumlichen Divergenz, und genau dies war, so glaubte er, der historische Augenblick, der das kulturelle „Zwischengebiet“ in einen Gürtel von „Grenzmarken“ transformiert habe: „Dieser tatsächlich grundlegenden Entwicklung der Siedlungsverhältnisse, die den westlichen Rand Mitteleuropas festlegen, folgt die politische Entwicklung etwa 300 Jahre nach. Im Vertrag von Verdun 843 wird ein breiter Grenzsaum auch politisch geschaffen, der Ost- und Westfranken scheidet und [von] Friesland rheinaufwärts über Luxemburg, Lothringen, Elsaß, Burgund das Rhonegebiet bis zum Meer umfaßte. Dieses Zwischengebiet von 250 000 qkm ist der Kern der früheren und heutigen Kleinstaaten zwischen Deutschland und Frankreich, die meist noch die gemischte Bevölkerung bewahrt haben: Niederlande, Belgien, Luxemburg, Lothringen, Schweiz, Savoyen, Burgund. Alle diese Lande wurden zu Grenzmarken; noch mehr erhielten sie diesen Charakter, als 870 im Vertrag von Meersen an die Stelle des Zwischenlandes zwischen Ost- und Westfranken eine Grenzlinie gezogen wurde, die nur z.T. der Sprachgrenze folgt.“139
Braun ging noch einen Schritt weiter und sah hierin die Geburt eines neuen Ordnungsprinzips, das Vorbild für die Schaffung eines „zweiten Grenzsaumes“ im Osten sowie aller späteren ‚Grenzmarken‘ des Reiches gewesen sei. Anders als am Ende der Antike waren diese neuen ‚Marken‘ jedoch nicht mehr das Ergebnis von Völkerwanderung und kultureller Mischung, sondern Ausdruck bewussten strategischen Handelns.140 Die Verallgemeinerung der ‚Westmarken‘ war für Braun die Geburtsstunde jener ‚mitteleuropäischen Grenzmarken‘, die in geopolitischer Lesart den idealen ‚Grenzkörper‘ eines ‚Dritten Reiches‘ darstellten. Wie bereits gezeigt, fasste Haushofer den Raum zwischen der aktuellen Reichsgrenze und dieser eigentlichen Peripherie als eine ‚wandelbare Grenze‘ auf, deren Regionen prinzipiell in der Lage seien, ihre Abtrennung vom Reich zu überdauern und sich in einer anderen historischen Situation wieder zu einem Gürtel von ‚Marken‘ zusammenzufügen. Wie Ratzel beschrieb er diesen Raum als eine von den ‚herabgefallenen Steinen‘ früherer Grenzfestungen übersäte Trümmerlandschaft, in der sich nun allerdings, forciert aus dem jungkonservativen Milieu, Kämpfe regten. Haushofer sah darin die Chance, 137 138 139 140
Ebd., S. 50f. Ebd., S. 51. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 51ff.
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die ‚Steine‘ wieder zu einem lebendigen und bewussten ‚Grenzkörper‘ zusammenzufügen. Mit Blick auf diese Möglichkeit benannte er die ‚herabgefallenen Steine‘ im Westen und Süden des Reiches: „Westlich der starken natürlichen Einheitslandschaft von Kärnten, an der die von Ratzel in der Idee geschaute uralte Grenzmauer des ersten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation noch an der ursprünglichen Stelle aufragt[, ...] folgen sich nun bis an die Wellen des Kanals und der Nordsee die ‚herabgefallenen Steine‘, in der verschiedensten Größe: das vergewaltigte Kernland der gefürsteten Grafschaft Tirol; das kleine, zur Schweiz abgedriftete Feudalrelikt Lichtenstein; die alten Kaiserpaßhüter: Graubünden, Worms, Veltlin, Claeven, die Urkantone, die Zähringerstädte Bern und Freiburg, und das so lange reichstreue Basel, heute alle Glieder der Eidgenossenschaft, oder auch ihr schon von der rückkehrenden romanischen Welle entrissen; Savoyen, gleichfalls ein Paßstaat; Mömpelgard, Wächterstaat der burgundischen Pforte; das Elsaß, ein entrissener Teil der natürlichen Einheit der Oberrheinebene; Lothringen; das eingeschrumpfte Luxemburg; die alten Reichsbistümer Metz, Toul und Verdun; Lüttich, der Maashüter; das so heiß umstrittene Flandern, die Niederlande.“141
Es fällt auf, dass Haushofer das Bild der ‚herabgefallenen Steine‘ nur auf den Westen und Süden anwandte, nicht aber auf den Osten übertrug. Diesen begriff er vielmehr als einen diffusen Übergangsraum, der, anders als die „deutsch-romanische Mark“,142 von einer kulturellen und rassischen Überlegenheit der Deutschen gegenüber den ‚Ostvölkern‘ geprägt sei. Der ‚Grenzkörper‘ differenzierte sich also – und hier liegt ein zentraler Punkt der geopolitischen Konzeption – auf der Mesoebene in einen ‚West-‘ und einen ‚Ostraum‘ mit je eigenen, die einzelnen Grenzabschnitte in unterschiedlicher Weise in den ‚Grenzkörper‘ integrierenden Geographien. Im geopolitischen Diskurs hatten Johannes Wütschke und Albrecht Penck diese Differenzierung frühzeitig vorgenommen und in Anlehnung an vormoderne Staatsgründungen und Herrschaftsgebiete zwischen einem Arelatisch-lotharingischen Grenzsaum im Westen (Abb. 8) und einem Warägischen Grenzsaum im Osten unterschieden.143 Hermann Lautensach fasste diese Differenzierung in prägnanter Weise zusammen: „Der westliche [… Grenzsaum] ist nach J. Wütschke in Anlehnung an die Namen der beiden ältesten Staaten, die in seinem Bereich entstanden, der Arelatischlotharingigsche genannt worden. Er wird von einer Folge von Gebirgen und Hochflächen gebildet, die von der Straße von Calais bis zur westlichen Riviera reichen. Vielfach ist diese Kette von Sperrlandschaften durch schmale Lücken, Pforten und Talengen unterbrochen, die den Verkehr in Krieg und Frieden in wenige, scharf vorgezeichnete Bahnen lenken. Dem Erhebungszug des Arelatisch-lotharingischen Grenzsaumes im Westen entspricht die Niederungsflucht des östlichen Grenzsaumes, den Penck nach den Warägern benannt hat, da seiner Tiefenfurche die Schiffszüge dieses skandinavischen Wikingervolkes von der Ostsee zum Schwarzen 141 142 143
Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, S. 252. Ebd., S. XIf. Vgl. Wütschke, Johannes: Ein geopolitisches Grundgesetz in der Entwicklung der französischen Politik, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1924), S. 271-276 (im Folgenden zitiert als: Wütschke, Geopolitisches Grundgesetz).
KONZEPT DER GEOPOLITIK | 211 Meer folgten. Der Warägische Grenzsaum zieht von der Senke des Onega- und Ladogasees zur Niederung des Pripus- und Ilmensees, führt an dem Wald- und Sumpfgebiet des Pripet vorbei zur Niederung des Donez zum Schwarzen Meer.“144
Mit dieser Weiterentwicklung des Ratzel’schen ‚Zwischenlandes‘ zum Konstrukt des ‚Arelatisch-lotharingischen Grenzsaums‘ als Gegenstück eines andersartigen und dennoch komplementären Raumes im Osten leistete die Geopolitik einen wesentlichen Beitrag zur Aktualisierung des ‚Westmark‘Konzepts. Doch es war nicht Haushofer selbst, der dieses Konstrukt entwarf. Es entstand vielmehr im Kontext der Zeitschrift für Geopolitik, deren Autoren sich wiederholt mit der Westgrenze und ihrer Veränderung durch den Versailler Frieden beschäftigten.145
Abb. 8: Geopolitische Skizze des „Arelatisch-Lotharingischen Grenzsaums“ nach Johannes Wütschke, 1924 (Zeitschrift für Geopolitik 1 [1924], S. 471) Bereits im Gründungsjahr der Zeitschrift 1924 veröffentlichte Johannes Wütschke einen grundlegenden Aufsatz, in dem er Ein geopolitisches Grundgesetz in der Entwicklung der französischen Politik nachzuweisen versuchte, das in der Struktur des ‚Arleatisch-Lotharingischen Grenzsaums‘ begründet und der deutsch-französischen Grenze damit wesenhaft eingeschrie144
145
Lautensach, Hermann: Geopolitik und staatsbürgerliche Bildung, in: Haushofer, Karl/Obst, Erich/Lautensach, Hermann/Maull, Otto (Hrsg.): Bausteine zur Geopolitik, Berlin 1928 (im Folgenden zitiert als: Haushofer u.a. [Hrsg.], Bausteine zur Geopolitik), S. 286-306, hier: 92ff (zuerst in: Zeitschrift für Geopolitik 1 [1924], S. 467-476, hier: 470f). (Herv. i. Orig.) Vgl. exemplarisch Thiessen, Friedensvertrag von Versailles.
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ben sei. Wütschke deutete diese Grenze als einen „strategische[n] Sperrraum[.]“, der sich durch Verkehrsarmut auszeichne und aus „waldreichen gebirgigen Sperrlandschaften“ zusammensetze (Abb. 8). Das Gebiet der Königreiche Arelat und Lotharingien umfassend, reiche er „vom Alpen- und Vogesenwall über die lothringische (Saar-Mosel-) Hochfläche, über das Pfälzer Bergland, Hundsrück [sic], Eifel und Ardennen bis zum Anschluss der Schwelle von Artois an das Meer“. Allerdings weise diese Sperre mit der „burgundischen Pforte“, dem „Zaberner Steig“, der „Nahelinie“, der „Luxemburger Lücke“ und der „Schwelle von Artois“ fünf wichtige Lücken auf, die das „Hinüberschreiten französischen Volkstums“ begünstigten und einen französischen Vorstoß nach Osten ermöglichten.146 Wütschke rekapitulierte damit die bekannte Gliederung der Grenze in regulierende verkehrshemmende und -fördernde Zonen, zog jedoch eine weit reichende Konsequenz: Nicht der Besitz der Sperrlandschaften selbst sei von entscheidender strategischer Bedeutung, sondern die Kontrolle über die an ihren „Außengrenzen“ gelegenen „Sammelräume eines durch die Lücken des Sperraumes geführten Stoßes“, konkret also über die „Flusstäler des Mittelrheins auf der einen Seite“ und „der oberen Mosel (bis Toul), der Maas (bis zu den Ardennen), der oberen Oise und der Somme auf der anderen Seite“.147 Die Kampf um die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich vollzog sich nach Wütschke daher nicht innerhalb des Grenzraumes, sondern an seinen Rändern: „Beide Gegner haben [...] erkannt, daß der Besitz der Sperrlandschaften den besten strategischen Schutz der Grenzmarken verbürgt“, denn man verteidige „eine Grenzmauer ähnlich wie einen Flussübergang nicht, indem man sich mitten darauf stellt, sondern indem man sich davor setzt und die gefährdete Stelle deckend im Rücken behält.“ Der ‚Arelatischlotharingische Grenzsaum‘ stellte sich damit als Überschneidung zweier einander ausschließender Grenzräume dar – einer möglichen deutschen Grenze westlich und einer andererseits möglichen französischen östlich des ‚Sperrraumes‘ –, doch handelte es sich nicht, wie bei Haushofer, um unterschiedliche Arten von Grenzen, sondern um die Realisierung des gleichen Prinzips unter umgekehrten Vorzeichen, womit Wütschke der von Riehl entwickelten Vorstellung des ‚Kriegslandes‘ recht nahe kam. Es waren die Morphologie und Geometrie des Raumes selbst, die ihn „zu einem ewigen Kampfgebiet“ machten, solange „ein Wille zum Staat und seiner Macht im deutschen und im französischen Volkstum besteht“. Dieses ‚geopolitische Grundgesetz‘ bestimme gerade in der Moderne das Verhältnis zwischen den beiden Staaten und erkläre sowohl den Frontverlauf des Weltkrieges, als auch die Strategie der Rheinlandbesetzung und des Versailler Vertrags: „Der Vorstoß der deutschen Heere 1914 über diesen Grenzsaum hinaus bis in das Somme-Marne-Maas-Gebiet entsprang den gleichen strategischen Erwägungen, wie augenblicklich Frankreichs Festsetzung an der ganzen Rheinlinie von Basel bis Wesel mit der Front gegen Osten und den vorgeschobenen rechtsrheinischen Brückenköpfen. Diese heutige französische Frontlinie und die der deutschen Truppen von 1914-1918 in Frankreich nach Erstarrung der Kampflinie von den Vogesen bis nach Flandern sind Parallelerscheinungen ein und desselben geopolitischen Grundge146 147
Wütschke, Geopolitisches Grundgesetz, S. 272; siehe dort auch die Kartenskizze Wütschkes (S. 273). Ebd., S. 272f.
KONZEPT DER GEOPOLITIK | 213 setzes, den breiten Saum der Sperrlandschaften als strategischen Verteidigungsraum 148 der Grenzmarken in festem Besitz zu halten.“
Mit anderen Worten war der Krieg im ‚Arelatisch-lotharingischen Grenzsaum‘ nicht zu Ende gegangen, sondern stellte sich nur in spiegelbildlicher Konstellation dar; die Westfront bestand, wenn man so will, im besetzten Rheinland und den Brückenköpfen fort. Eine Aussicht auf Frieden auf Basis der bestehenden Staatsgrenzen gab es in diesem Szenario ebenso wenig, wie eine Grenzziehung entlang der Gebirgskämme und Wasserscheiden oder eine Angleichung der Staats- an die Sprachgrenze sinnvoll erschienen. Das einzige dem ‚geopolitischen Grundgesetz‘ entsprechende Ziel einer deutschen Grenzlandpolitik konnte die Aneignung des gesamten ‚Grenzsaumes‘ einschließlich seines Vorfeldes sein. Doch war dies nicht das einzige Konstrukt einer transformierten Westgrenze, das sich in den frühen Jahrgängen der Zeitschrift für Geopolitik findet. In einer komparativen Studie über Rhein und Donau nahm Walter Vogel in Anlehnung an Sieger eine abweichende Herleitung vor, die auf dem Begriffspaar Stromsystem und Stromgebiet basierte. Stand der Begriff Stromsystem für „den Hauptstrom und seine Nebenflüsse als schiffbare Träger und Vermittler des Verkehrs“, so bezeichnete Stromgebiet die „Zone von Tälern und Landschaften zwischen den Tälern, die durch das Stromsystem verkehrsgeographisch zu einer Einheit zusammengeschlossen sind.“ Wie Vogel betonte, falle das Stromgebiet „im großen und ganzen mit dem Einzugsgebiet des Stromsystems zusammen“, könne „an den Rändern“ jedoch erhebliche Abweichungen aufweisen. Die Grenzen zwischen den Stromgebieten waren damit nicht die Wasserscheiden oder Gebirgskämme; an ihre Stelle trat vielmehr ein ganzes Bündel kultureller, ökonomischer und verkehrstechnischer Abgrenzungen. Vogel spitzte diesen Gedanken in der Forderung zu, in den Stromgebieten nicht mehr in erster Linie „natürliche[.] Landschaften“ zu sehen, sondern „kommerzielle Zwecklandschaften“. Auf den Rhein übertragen, wurden damit drei homogene und in ihrem Kern deckungsgleiche Raumebenen vorstellbar: (a) das eigentliche Stromsystem des Rheins mit Maas, Mosel und Schelde als dessen Nebenflüssen, (b) das mit ihm zusammenhängende Verkehrsgebiet und (c) der dadurch erschlossene Wirtschaftsraum, dessen Grenzen letztlich funktional bestimmt und von der ökonomischen wie technologischen Dynamik beeinflusst waren.149 Für Vogel erschloss der Rhein auf diese Weise das gesamte lothringische Stufenland, dessen „verkehrsgeographische Zugehörigkeit [...] zum Rheingebiet“ keinem Zweifel unterliege, sowie Vôge und Côtes Lorraines als „Grenzgebirge“, wobei er anmerkte, dass „ihre Abgrenzung nach Außen nicht gerade scharf zu nennen [ist], weil die Grenzgebirge [...] nach vielen Seiten ziemlich bequeme Übergänge bieten“. Nördlich der Mittelgebirge schließlich zog Vogel die Grenze des „Rheingebietes“ von den westlichen „Ausläufern der Ardennen“ hin zu den „Hügeln von Artois“.150 Als Stromgebiet und Verkehrsraum war der Rhein für Vogel zugleich auch eine potenzielle staatliche Einheit, und tatsächlich, so argumentierte er, sei „das alte Deutsche Reich“ in seinem
148 149 150
Ebd., S. 275. Vogel, Rhein und Donau, S. 63f. Ebd., S. 66.
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„großen Hauptkern“ ein „Rheinstaat“ gewesen.151 Allerdings habe sich im Verlauf der Geschichte erwiesen, dass die „Kraft“ des Rheines „als Verkehrsträger“ nicht ausreichend sei, um eine „staatliche[.] Einheit seiner Ufer und seines Stromgebietes“ außerhalb des deutschen oder französischen Einflussbereichs zu garantieren.152 Die Konzepte des ‚Arelatisch-lotharingischen Grenzsaums‘ und des ‚Stromgebiets‘ zielten im Wesentlichen auf den gleichen Raum, argumentierten jedoch auf den ersten Blick gegensätzlich: Waren es für Wütschke vor allem die verkehrshemmenden Gebirge, die Anökumene also, die diesen Raum konstituierten, so war es für Vogel das verkehrs- und wirtschaftsfördernde Stromsystem, d.h. die Ökumene. In seinem Aufsatz Frankreich und Deutschland (1925) versuchte Hermann Lautensach daher eine Synthese der beiden Ansätze.153 Er interpretierte den „Kampf um den Rhein“ als einen Kampf um das gesamte Stromgebiet der drei Flüsse, wies den einzelnen Regionen jedoch unterschiedliche Anteile an diesem Kampf zu, da die Sperrlandschaften und Verkehrslücken das Stromgebiet in einer bestimmten Weise strategisch vorstrukturierten. Der Raum erhielt damit eine wohl bekannte Binnenhierarchie, die dem Südwesten und Nordwesten eine strategische, den übrigen Regionen jedoch nur eine taktische Bedeutung zuschrieb: „[Den Kampf um den Rhein] führte Frankreich aus seiner Seinefestung heraus mit zwei Stoßrichtungen: einmal durch das aufgelöste Ende des Lotharingischen Grenzsaumes, die Hennegaulücke, hindurch auf das flandrische Glacis hin mit dem Ziel, die Rheinmündungen zu erreichen und gleichzeitig Großbritannien zu flankieren, das andere Mal in der Richtung des geringsten Abstandes seines Eigenraumes von dem Strom: durch Lothringen und die Zaberner Lücke zum Elsaß, während das schwer gangbare Mittelstück, das Rheinische Schiefergebirge mit seinen gewundenen Talschluchten, dann der beiderseitigen Umfassung erliegen musste.“154
Mit dem Versailler Vertrag hatte Frankreich für Lautensach das Ziel seiner „ehrgeizigen Expansionspolitik“ erreicht und mit der Hegemonie über das Stromgebiet auch die Macht über „das ganze Reich“ erlangt. Dadurch werde der „Kampf um den Rhein“ zur Sache aller Deutschen unabhängig davon, ob sie von den Grenzveränderungen oder der Besatzung betroffen seien oder nicht.155 Wir erkennen im geopolitischen Diskurs damit ein Raumkonzept, das die ‚westlichen Grenzmarken‘ Brauns auf unterschiedlicher methodischer und theoretischer Grundlage zu einem Gesamtraum zusammenfügte, der nur in Gänze deutsch oder französisch sein könne. Dieser Raum entsprach geographisch sehr genau der ‚Westmark‘ des alldeutschen Diskurses, war jedoch nicht mit diesem Terminus benannt. Die deutsch-französischen Auseinandersetzungen, insbesondere aber die Westfront, die Rheinlandbesetzung und der Versailler Frieden, wurden als Aneignungsversuche dieses Gesamtraumes gedeutet, bei denen Frankreich die Oberhand gewonnen habe. Der noch nicht so genannte ‚Westraum‘ war damit in hohem Maße militärisch gedacht, und 151 152 153 154 155
Ebd., S. 68. Ebd., S. 72. Lautensach, Herrmann: Deutschland und Frankreich, in: Zeitschrift für Geopolitik 2 (1925), S. 153-160. Ebd., S. 158. (Herv. i. Orig.) Ebd., S. 159, vgl. auch S. 160.
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militärische Gesichtspunkte waren es auch, die eine strategische Dreiteilung begründeten und seinen nordwestlichen und südwestlichen Abschnitten eine Schlüsselrolle zuwiesen: Flandern und Elsass-Lothringen zu besitzen, bedeute die Hegemonie über das Ganze zu erlangen. Betrachten wir nun noch einmal Haushofers eigene Schriften, so zeigt sich, dass die Westgrenze und das Rheingebiet zentrale Bezugspunkte seiner Grenztheorie waren. Denn zeitgleich zu seinem wichtigsten grenztheoretischen Werk156 legte er den ersten Teilband eines mehrbändigen multidisziplinären Sammelwerks vor, das sich unter dem Gesamttitel Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal157 ausschließlich diesem Thema widmete und damit eine geopolitische Linie der Westforschung begründete. Seine Geopolitik der Grenze lässt sich also als das theoretische Fundament eines weitaus ehrgeizigeren Publikationsprojekts, nämlich einer enzyklopädischen Gesamtdarstellung des Stromgebiets, lesen. Das Projekt gliederte sich in die übergeordneten Bände Erdraum und Erdkräfte, den Haushofer selbst herausgab, sowie Landschaft und Menschheit und Der Mensch und sein Geist, als deren Herausgeber der Leipziger Wirtschaftswissenschaftler Kurt Wiedenfeld und der Düsseldorfer Archivdirektor und Initiator der rheinischen Jahrtausendfeiern des Jahres 1925, Paul Wentzcke, vorgesehen waren.158 Haushofer wollte ein politisch nutzbares Standardwerk vorlegen, das „von der politischen Geographie“ ausgehend den Weg zu einem „kulturpolitisch richtigen Handeln[.] am Rhein“ wies.159 Großen Wert legte er auf eine breite empirische Fundierung des Werks, da es nur so den „Baugrund“ für weitere „Gegenwerke“ zum „Riesenapparat unserer Gegner“ bereiten könne.160 Ausgehend „von der tiefsten bekannten Unterlage“ des Rheingebietes, nämlich der Geologie und den Bodenschätzen, sollte zunächst ein Panorama der „Bodendecke“ und des Klimas entfaltet werden, „das diese Decke umgestaltet und ihr Pflanzenkleid erneut“ und „die Wasserführung und Wasserwirtschaft“ bestimme. Auf dieser Grundlage sollten die „fein und feiner werdenden Verästelungen des von diesen naturgegebenen Grundlagen bestimmten natürlichen Eigenlebens“ behandelt und ein 156 157
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Haushofer, Grenzen in ihrer politischen und geographischen Bedeutung. Bis 1931 erschienen die ersten drei der geplanten vier Bücher des ersten Bandes; die geplanten Bände 2 und 3 kamen nicht zustande. Haushofer, Karl (Hrsg.): Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal (im Folgenden zitiert als: Haushofer [Hrsg.], Rhein). Bd. 1: Erdraum und Erdkräfte. Der natürliche Lebensraum, 1. Buch: Die Physik des Erdraumes, 1. Teil, Berlin 1928; desgl., 1. Buch: Die Physik des Erdraumes 2. Teil u. 2. Buch: Bodenwerte und Wegsamkeit, 1. Teil, Berlin 1930; desgl.: 2. Buch: Bodenwerte und Wegsamkeit, 2. Teil u. 3. Buch: Leben und Raum, Berlin 1931. Wentzcke veröffentlichte parallel zu den Jahrtausendfeiern eine geopolitisch akzentuierte Historiographie des ‚Rheinkampfes’, in der er die Ruhrbesetzung als den Höhe- und Wendepunkt französischer Expansionsbestrebungen ausführlich dokumentierte. Vgl. Wentzcke, Rheinkampf. Zwei Jahre später folgte eine eigene Geopolitik des Rheins: ders.: Rhein und Ruhr. Geopolitische Betrachtung der deutschen Schicksalsgemeinschaft, Berlin 1927. Beide Publikationen erschienen, wie auch die Zeitschrift für Geopolitik, das RheinSammelwerk und Haushofers Monographie über die Grenzen im Verlag Kurt Vowinckel. Haushofer, Karl: Rheinische Geopolitik (Vorwort zum Gesamtwerk), in: ders. (Hrsg.): Rhein, Bd. 1, Buch 1/I, S. 1-18, hier: 1. Ebd., S. 7.
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Verständnis des „vom Menschenwillen darüber gespannten künstlichen Überbaus von Siedlung, Kultur, staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung“ entwickelt werden.161 Allerdings wurde bis 1931 nur ein Bruchteil der geplanten Teilbände des Werkes publiziert und die Herausgabe noch vor dem vollständigen Abschluss des ersten Bandes eingestellt.162 Die realisierten Teilbände stellten mit ihren Beiträgen zur Geomorphologie des Stromgebiets,163 zu Klima und Niederschlägen,164 zu den „Randlandschaften“ des Rheins in den Alpen und im Jura,165 gegenüber der Donau,166 in Norddeutschland,167 an Schelde und Maas168 und an der flämisch-niederländischen Küste,169 zu seinen Bodenschätzen,170 Boden- und Verkehrsverhältnissen,171 seiner Botanik und Zoologie172 und seinem Siedlungsbild173 also lediglich den naturwissenschaftlichen und geographischen Unterbau eines Raumbildes dar, dessen historische, ökonomische, gesellschaftliche, politische und kulturelle Dimensionen fehlten. Allerdings können wie aus Haushofers einleitendem Essay Rheinische Geopolitik die Grundzüge seines ‚Rheinland‘-Konzepts rekonstruieren. Haushofer löste den Begriff ‚Rheinland‘ aus einem traditionellen Kontext und erweiterte ihn zum Begriff eines „Rheinraum[es]“, der „Schelde, Maas und Ems“ als „Tributäre“ des Rheins definierte und „das Gebiet der Küsten-
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Ebd., S. 1f. Zu beachten ist, dass sich die drei Bände in ein verschachteltes System von Büchern und Teilen gliederten. Der Umfang der realisierten Teilbände des ersten Bandes war mit 18 Aufsätzen, 833 Seiten und 85 Karten bzw. Diagrammen durchaus beträchtlich. Vgl. Wilckens, Otto: Das oberrheinische System, in: Haushofer (Hrsg.): Rhein, Bd. 1, Buch 1/I, S. 21-42; Fliegel, Gotthard: Rheinisches Schiefergebirge und niederrheinisches Tiefland, in: ebd., S. 43-72; Maull, Otto: Geomorphologie und geomorphologische Wirkungen des rheinischen Lebensraums, in: ebd., S. 73-148; Kupferschmid, Karl: Das Stromsystem und seine Kräfte, in: ebd., Bd. 1, Buch 1/II, S. 1-53. Vgl. Polis, Peter: Klima- und Niederschlagsverhältnisse im Rheingebiet, in: ebd., Bd. 1, Buch 1/I, S. 149-244. Vgl. Machatschek, Fritz: Die Rheinwasserscheide in den Alpen und im Jura, in: ebd., Bd. 1, Buch 1/II, S. 54-69. Vgl. Löffler, Karl: Die Wasserscheide zwischen Rhein und Donau, in: ebd., S. 70-90. Vgl. Panzer, Wolfgang: Die Wasserscheide des Rheingebietes gegen die norddeutschen Tieflandströme, in: ebd., S. 91-107. Vgl. Leyden, Friedrich: Die Maas-Schelde-Landschaft, in: ebd., S. 107-126. Vgl. Jessen, Otto: Die flämisch-niederländische Küste, in: ebd., S. 127-159. Vgl. Tilmann, Norbert: Die Bodenschätze, in: ebd., Bd. 1, Buch 2/I, S. 163238. Vgl. Schmidt, Karl G.: Die Böden des Rheingebiets, in: ebd., Bd. 1, Buch 2/II, S. 1-57; Maull, Otto: Verkehrsgeographie des Rheingebiets, in: ebd., S. 58113. Vgl. Troll, Karl: Pflanzenwelt und Vorbedingungen der Pflanzenwirtschaft, in: ebd., Bd. 1, Buch 3, S. 117-220; Zschokke, Friedrich: Die Tierwelt, in: ebd., S. 221-354. Vgl. Krebs, Norbert: Die Wohnbarkeit der Rheinlandschaft, in: ebd., S. 255287; Schmitthenner, Heinrich: Die kulturveränderte Landschaft und das Siedlungsbild der Gegenwart, in: ebd., S. 288-352.
KONZEPT DER GEOPOLITIK | 217 174
flüsse, Dünen und Flachmeere“ einbezog. Sein ‚Rheinraum‘ rekapitulierte die Transformation der Grenzlinie damit als eine Transformation des Rheins zum Raum. Ganz im Sinne seiner Grenzkonzeption begriff er den transformierten Rhein als einen Raum des „Aufeinanderprallens grundverschiedener Grenzauffassungen“175 und verwies auf Arndts Schlagwort von Teutschlands Strom als der „kürzeste[n] Formel“ der „germanische[n] Strom- und Grenzauffassung“.176 Die rheinische Geschichte stellte sich für ihn als ein Prozess von „gewaltigen Schwankungen“ dar, die dem „Schicksalsstrom“ der Deutschen eine ähnliche Dynamik und Dramatik verliehen hätten, wie sie sonst nur dem Indus und dem Hwangho innewohne.177 Insofern konzentriere sich im Rhein die deutsche und zugleich die europäische Geschichte. Haushofer brachte vor diesem Hintergrund eine neue, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wirkungsmächtige Geometrie des Raumes in den Diskurs ein. Sie beruhte auf einem Verständnis der „Rheinlandschaft“ als der einzigen „zusammenhängenden Großform des südlichen und nördlichen Mitteleuropa“.178 Der Rhein verbinde „als einziger Strom Europas das alpinnordische Gebiet der großen Fels- und Eis-Scheidemauer des Erdteils“, nämlich die Alpen, „mit dem nordischen Meer und seiner Uferlandschaft“. Er vereine also „die beiden Eiszeitschöpfungen“ und die ihnen eigentümlichen „Daseinsbedingungen nordischer Lebensformen“. Haushofers Rhein repräsentierte damit eine Synthese Mitteleuropas mit dem ‚Nordischen‘, doch war dies nicht alles: Denn zugleich stelle er auch „eine Zone südlicher Daseinsbedingungen“ dar, die über die „Verästelung der Rhonefurche bis an die Nordsee“ eine Reihe von „Naturwege[n]“ besäßen, auf denen „Mittelmeerformen bis ins Herz nordischer und alpiner Reservate durchdringen können.“ Der Rhein war, mit Riehl gesprochen, also ein ‚Straßenland‘; und entsprechend stellte Haushofer nicht die Sperrlandschaften der Gebirge, sondern die „Pfortenlandschaften“ in den Mittelpunkt seines Konzepts. Ganz im Sinne Riehls fasste er den Rhein als „ein ausgesprochenes Übergangs- und Kampfgebiet“ auf, in dem sich die innernordische und die nord-südliche Achse mit einer dritten, in Ost-West-Richtung verlaufenden Linie kreuzten – einer Linie, über die „atlantische Einwanderer bis weithin ins kontinentale Herz Mitteleuropas“ und „an die Grenzen ihrer ozeanischen Lebensfähigkeit“ vorstießen.179 Der ‚Rheinraum‘ stellte damit eine Verbindung dreier Europa verklammernder Linien dar, und dies wiederum implizierte dreierlei: eine Auffassung der Rhône als eine Art südliche Verlängerung des Rheins zum Mittelmeer hin, eine Deutung der Verkehrswege und Pforten als die eigentlichen Konstituenten des Raumes und schließlich eine eigenartige Ambivalenz von Verbindendem, Vereinigendem und Verklammerndem einerseits und Antagonistischem, Schwankendem und Konfligierendem andererseits. Haushofer löste diese Ambivalenz in der These auf, dass der Rhein seine „einigende Aufgabe“ nur zum Preis „unendliche[r] Reibungen“ wahrnehmen könne, die sich aus dem Aufeinandertreffen der Klimazonen, Kulturräume, Wirtschaftsräume und Staaten innerhalb seines Raumes ergäben. Seine Ge174 175 176 177 178 179
Haushofer, Karl: Rheinische Geopolitik (Vorwort zum Gesamtwerk), in: ders. (Hrsg.): Rhein, Bd. 1, Buch 1/I, S. 1-18, hier: 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 1ff. Ebd., S. 6. Ebd., S. 3.
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schichte stelle sich daher als eine „zweitausendjährige Leidensgeschichte“ dar, in der „Perioden des Schwankens zwischen nordischen und mittelmeerischen Formen“ einander ablösten. In dieser Dynamik aber glaubte Haushofer ein bestimmtes geopolitisches Gesetz zu erkennen: „Aber immer überwog doch der nordisch-mitteleuropäische Grundcharakter der Landschaft, so sehr mittelmeerische Formen bestandverändernd in ihr hinspielten, namentlich auf dem Moseltalweg und durch die burgundische Pforte, aber auch längs des Alpenrandes. Und immer überwog das Gefühl – und es wurde von zunehmender geopolitischer Einsicht bestätigt – daß dieser einzige Strom irgendwie zur Einigung des durch Waldgebirge getrennten südlichen und nordischen mitteleuropäischen Gebietes dienen müsse, dessen Stammes- und Völkerscheiden er sprengte und austiefte; daß – wenn irgendwo – in seiner natürlichen Landschaft das den Großraum Trennende überwunden werden müsse, wenn Mitteleuropa gedeihen solle; dass der Erdteil an Kultur und Persönlichkeit zurücksänke, wenn er das nicht vermöchte.“180
Eine Aussicht auf Frieden bestand aus dieser Perspektive zwar nicht – „hier will die Natur keinen Pazifismus“181 – sehr wohl aber gab es Hoffnung auf eine sich immer wieder von neuem einstellende Hegemonie des NordischGermanischen über das Mediterran-Romanische. Die „durch den Rhein verbundenen Herz- und Kernlandschaften“ aus diesem „großen Weltbild heraus“ neu zu „durchdenken“ und die nötigen politischen Konsequenzen zu ziehen, war für Haushofer die eigentliche Herausforderung des geopolitischen Projekts.182
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Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 8f.
DAS
J U N G K O N S ER V A T I V E
„W E S T L A N D “
D i e n e g a t i v e T r a n sf o r m a t i o n d e r W e s tg r e n z e Mit der Kriegsniederlage war an der Westgrenze eine grundlegend neue Situation entstanden, die es, wollen wir das jungkonservative ‚Grenz-‘ und ‚Westland‘-Konzept verstehen, zunächst kurz zu umreißen gilt. Nach den Bestimmungen des Waffenstillstands von Compiègne vom 11. November 1918 hatten sich die deutschen Truppen binnen 15 Tagen aus den besetzten französischen, belgischen und luxemburgischen Gebieten sowie aus ElsassLothringen zurückzuziehen. Um dem Deutschen Reich die Möglichkeit einer Wiederaufnahme der Kämpfe zu nehmen, sollten innerhalb von 31 Tagen alle linksrheinischen Gebiete sowie die Rheinübergänge von Mainz, Koblenz und Köln an alliierte Besatzungstruppen übergeben und die örtlichen Behörden einer alliierten Aufsicht unterstellt werden. Zum Schutz der Rheinübergänge wurden zudem so genannte Brückenköpfe von 30 Kilometern Durchmesser eingerichtet und einzelne strategische Punkte besetzt. Auf dem rechten Rheinufer entstand eine entmilitarisierte Zone, die in einer Breite von 10 km parallel zum Fluss und den Brückenköpfen verlief.1 Auf dieser Grundlage besetzten französische Truppen unter dem Oberbefehl von Marschall Foch rasch das Rheinland, und bereits am 22. November nahm die in Fochs Hauptquartier in Luxemburg angesiedelte Contrôle générale de l’administration des territoires rhénans occupés unter Leitung von Paul Tirard ihre Arbeit als Kontrollorgan der regionalen Verwaltungen auf.2 Der am 28. Juni 1919 unterzeichnete und am 10. Januar 1920 in Kraft getretene Friedensvertrag von Versailles bestätigte diese Regelung, weitete die entmilitarisierte Zone jedoch auf 50 km aus. Der Vertrag erzwang die Abtretung Elsass-Lothringens an Frankreich, die Abtretung der preußischen Kreise Eupen und Malmedy sowie der Vennbahntrasse an Belgien sowie die Auflösung und Eingliederung Neutral-Moresnets in den belgischen Staat. Obschon im Vertrag zunächst nicht vorgesehen, führte die belgische Regierung in Eupen und Malmedy eine nachträgliche Befragung durch, die die Annexion zwar bestätigte, tatsächlich aber mit erheblichem behördlichem Druck vonstatten gegangen war und daher nicht die tatäschliche Haltung der
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Vgl. Vogels, Werner (Bearb.): Die Verträge über die Besetzung und Räumung des Rheinlandes und die Ordonnanzen der Interalliierten Rheinlandkommission in Coblenz. Textausgabe der Verträge und Ordonnanzen 1 bis 302 und der Anweisungen 1 bis 26 in Französisch und Deutsch nebst einer Karte des besetzten Gebiets, Berlin 1925. Bariéty, Jacques: Les Relations franco-allemandes après la Première Guerre Mondiale. 10 novembre 1918 – 10 janvier 1925. De l’exécution à la négociation, Paris 1977, S. 35.
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Einwohner wiedergab.3 Das Saargebiet wurde für eine Dauer von 15 Jahren, nach der über den endgültigen Status abgestimmt werden sollte, dem Völkerbund unterstellt und in wirtschaftlicher Hinsicht an Frankreich angegliedert. Außerdem wurde die Zollunion, die das Großherzogtum Luxemburg ökonomisch an das Deutsche Reich gebunden hatte, aufgelöst. Von erheblicher politischer Sprengkraft war zudem der Artikel 231, der die alleinige Kriegsschuld des Deutschen Reiches und seiner Verbündeten feststellte und damit die Legitimation für umfassende Reparationsleistungen schuf.4 Das Rheinlandabkommen, das am 28. Juni 1919 als Nebenabkommen des Friedensvertrags unterzeichnet worden war,5 regelte den Übergang der Verwaltungsaufsicht auf den Interalliierten Hohen Ausschuss für die Rheinlande mit Sitz in Koblenz. Die kurz Rheinlandkommission genannte Behörde nahm am 10. Januar 1920 unter Leitung von Tirard ihre Arbeit auf. Nach dem Vorbild des französischen Regierungskommissars, der Elsass-Lothringen 1871 gegenüber der deutschen Besatzungsmacht vertreten hatte, richtete die deutsche Regierung ein Reichskommissariat für die besetzten rheinischen Gebiete ein, das, obschon in den Verträgen nicht vorgesehen, von der Rheinlandkommission anerkannt war.6 1923 zentralisierte Reichskanzler Stresemann die deutsche Rheinlandpolitik in einem neu geschaffenen Ministerium für die besetzten Rheinischen Gebiete unter der Leitung des von den Franzosen aus dem besetzten Gebiet ausgewiesenen rheinischen Oberpräsidenten Johannes Fuchs.7 Die neue territoriale Ordnung stellte sich als eine mehrfach abgestufte Zonierung des Raumes dar, die parallel zur Grenze einen (unvollständigen) Streifen abgetretener und internationalisierter, einen zweiten Streifen besetzter Gebiete und einen dritten entmilitarisierter Gebiete schuf. Sie transformierte die verschobene Grenzlinie also unter entgegengesetzten Vorzeichen in einen Raum, der nicht durch die bestehenden Grenzen der Länder, Provinzen, Bezirke oder Kreise, sondern zum einen durch den Rhein als Grenze zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiete und zum anderen durch abstrakte geometrische Linien – den 30-km-Radius der Brückenköpfe, die 50-km-Linie des entmilitarisierten Gebietes – strukturiert war. Diese neue Raum-Ordnung überlagerte die auf der Grundlage des Wiener Kongresses entstandene Aufteilung des Rheinlandes in die preußische Rheinprovinz, die bayerische Pfalz und die oberrheinischen Länder, sie schuf erstmals eine 3 4
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Vgl. hierzu Pabst, Eupen-Malmedy, S. 283-288. Vgl. Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten nebst dem Schlußprotokoll und der Vereinbarung betr. die militärische Besetzung der Rheinlande. Amtlicher Text der Entente und amtliche deutsche Übertragung, Volksausgabe in drei Sprachen, hrsg. i.A. des Auswärtigen Amtes (Materialien betreffend die Friedensverhandlungen, Bd. 7), Berlin 1919. Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika, Belgien, dem Britischen Reiche und Frankreich einerseits und Deutschland andererseits betreffend die militärische Besetzung der Rheinlande, in: ebd., Anhang, S. 1-7. Vgl. Gembries, Helmut: Rheinlandkommission, in: Historisches Lexikon Bayerns, im Internet: . Vgl. Raithel, Thomas: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 62), München 2005, S. 239.
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übergreifende Verwaltungsaufsicht und erzwang von der deutschen Regierung ein entsprechend koordiniertes Handeln, das im Rheinlandkommissariat und im Rheinlandministerium institutionalisiert wurde. Der Versailler Vertrag stellte insofern auch eine Homogenisierung der transformierten Westgrenze her. Diese oktroyierte Vereinigung der politisch, sozial, mental und ökonomisch unterschiedlichen Gebiete bestätigte damit ex negationem das deutsche Konstrukt einer ‚Westmark‘, und zugleich strukturierten die neuen Zonen, Grenzen, Regimes und Restriktionen das grenzlandpolitische Handlungsfeld der Zwischenkriegszeit in einer spezifischen und neuartigen Weise vor. Insofern können wir von einer negativen Transformation der Westgrenze als Verwerfung der untersuchten Raumkonstrukte und zugleich als Voraussetzung ihrer Neujustierung sprechen. Innerhalb dieses neu strukturierten Raumes kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die konstitutiv für die jungkonservative Grenzlandpolitik im Westen waren. Dies war zum einen die ab Januar 1923 in mehreren Phasen zu einem Kleinkrieg eskalierende Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen.8 Wie Gerd Krüger herausstellt, beruhte der passive Widerstand der deutschen Bevölkerung „in erheblichem Maße auf der Androhung und der Anwendung physischer und psychischer Gewalt“,9 während der gerade in der Anfangszeit der Krise eskalierende „aktive Widerstand“, wie der nationalistische Rechtsanwalt Friedrich Grimm 1930 resümierte, „in erster Linie die Tötungen von Menschen, […], sodann die Sabotageakte gegen Eisenbahnen und Kanäle und endlich den blutigen Kampf gegen Verräter und Separatisten“ bezweckte.10 Nach dem Aufbau erster Sabotageorganisationen durch Reichsbahn, Industrie und staatliche Stellen, für die ehemalige Freikorpsführer angeworben wurden, entglitt die Gewalt der staatlichen Kontrolle. Die semistaatliche Befehlsstelle des ‚aktiven Widerstandes‘, die Zentrale Nord im unbesetzten Münster, forcierte gezielte Attentate auf Angehörige der Besatzungstruppen und eine Eskalation des Widerstandes zu einem offenen Krieg, doch scheiterte ihr Versuch, mit der so genannten Operation Wesel, dem spektakulären Durchbruch eines mit Industriegütern im Wert mehrerer Millionen Goldmark beladenen Zuges ins unbesetzte Gebiet, einen Kriegausbruch zu provozieren.11 Die Zentrale Nord spezialisierte sich in der Folge auf eine Politik der Nadelstiche sowie auf die Entführung oder Ermordung tatsächlicher oder angeblicher Verräter. Diese extralegale Gewalt wiederum vollzog sich im Kontext einer massenhaft praktizierten Alltagsgewalt, die sich u.a. gegen Frauen entlud, denen sexuelle Kontakte zu Besatzungssoldaten angelastet wurden.12 Im Kontext der Ruhrkrise ereigneten sich zudem Aufstände rheinischer und pfälzischer Separatisten. Die rheinischen Separatisten um Hans Adam Dorten hatten bereits am 1. Juni 1919 in Wiesbaden die Rheinische Republik 8 Vgl. Schwabe, Ruhrkrise. 9 Krüger, „Wir wachen und strafen!“, S. 234. 10 Zit. ebd., S. 235. – Der Hitler-Verteidiger Grimm legte seine Erfahrungen als Rechtsanwalt während der Ruhrkrise in Buchform dar (Grimm, Friedrich: Vom Ruhrkrieg zur Rheinlandräumung. Erinnerungen eines deutschen Verteidigers vor französischen und belgischen Gerichten, Hamburg u.a. 1930) und publizierte bis zum Zweiten Weltkrieg eine Reihe antifranzösischer Schriften (vgl. exemplarisch ders.: Das Testament Richelieus, Berlin 1941). 11 Vgl. Krüger, „Wir wachen und strafen!“, S. 238f. 12 Vgl. ebd., S. 247-250.
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ausgerufen, allerdings waren damalige Aufstandsversuche schon in den Anfängen gescheitert. Das gleiche galt für die zeitgleich von Eberhard Haaß in Speyer proklamierte Pfälzische Republik. Nach einer Phase der Reorganisation besetzten Separatisten im Oktober 1923 die Rathäuser und Regierungsgebäude mehrerer rheinischer Städte und erreichten damit, dass sie von der Rheinlandkommission kurzzeitig als faktischer Inhaber der Macht anerkannt wurden. Parallel zu den rheinischen hatten die pfälzischen Separatisten im Oktober die Kontrolle über mehrere Städte erlangt und am 23. November in Speyer die Autonome Pfalz ausgerufen. Gleichwohl blieb die Regierungsmacht der Separatisten lokal begrenzt, brach im rheinischen Aufstandsgebiet noch vor Jahresende und in der Pfalz bis Februar 1924 zusammen. Den separatistischen Politikern wurden eine despotische Herrschaft, gewalttätige Übergriffe auf Zivilisten und politische Morde zur Last gelegt, doch waren sie zugleich Opfer solcher Gewalt. So fiel der Präsident der Autonomen Pfalz, Franz Josef Heinz, am 9. Januar 1924 einem Attentat zum Opfer, und am 12. Februar wurde der wichtigste Stützpunkt der dortigen Separatisten, das Bezirksamt in Pirmasens, gestürmt und die 14 dort anwesenden Separatisten getötet.13 Die komplexen und vielschichtigen Ereignisse des Aufstandes und seiner ‚Abwehr‘ waren nicht nur als Projektionsfläche einer im ‚Grenzland‘ perpetuierten Gewalt und suspendierten Normalität von enormer Bedeutung. Vielmehr stellten sie, wie der Widerstand an der Ruhr, unmittelbare und konkrete Aktionsräume dar, in denen ein militanter Grenzlandaktivismus als semistaatlicher Akteur fungieren und extralegale Gewalt ausüben konnte. Für die radikalen Akteure an der Westgrenze entstand damit eine Situation, die von ihnen retrospektiv als Wendepunkt der Nachkriegskrisen und Fanal einer nationalen Wiedergeburt begriffen wurde, zugleich aber politische Netzwerke und operationelle Praxen hervorbrachte, die Kristallisationskerne der entstehenden Grenzlandbewegung werden sollten. In den Aufstandsgebieten der Separatisten schien sich zu bestätigen, dass die Westfront sich mit der Kriegsniederlage nicht aufgelöst hatte, sondern in der neuen Raumordnung als untergründige feindliche Subversion verborgen lag und jederzeit wieder aufbrechen könnte. Das Zusammentreffen von Gebietsabtretungen, Rheinlandbesetzung, Ruhrkampf und Separatistenaufstand erschien als französischer Griff nach dem Rhein, den es mit allen Mitteln abzuwehren gelte. Diese Situation wiederum erschien im Kontext der Konflikte und Kämpfe in anderen deutschen und österreichischen Grenzgebieten als Abschnitt eines 13 Vgl. allgemein Bischof, Erwin: Rheinischer Separatismus 1918-1924. Hans Adam Dortens Rheinstaatbestrebungen, Bern 1969; Reimer, Klaus: Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918-33), 2. Aufl., Bad Kreuznach 1981; Schlemmer, Martin: „Los von Berlin“. Die Rheinstaatbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg, Köln u.a. 2007; Gembries, Helmut: Verwaltung und Politik in der besetzten Pfalz zur Zeit der Weimarer Republik, Kaiserslautern 1992; Gräber, Gerhard/Spindler, Matthias: Rheinlandbesetzung, rheinischer Separatismus und Nationalsozialismus. Ein folgenreiches Szenario – skizziert am Beispiel der Pfalz, in: Meyer, Hans-Georg/Berkessel, Hans (Hrsg.): Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Bd. 1, Mainz 2000, S. 57-68 (im Folgenden zitiert als: Gräber u.a., Rheinlandbesetzung); dies.: Pfalzbefreier. – Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen im Siebengebirge vgl. ferner Scheuren, Elmar/ Trapp, Christoph: Separatisten im Siebengebirge. Die „Rheinische Republik“ des Jahres 1923 und die „Schlacht“ bei Aegidienberg, Königswinter 1993.
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epochalen Kampfes um den Fortbestand einer von allen Seiten umringten und angegriffenen Nation. In der Terminologie Haushofers gesprochen, waren die betroffenen Gebiete zu ‚Zersetzungsgrenzen‘ gewordene ‚Grenzmarken‘, die es durch einen semistaatlichen und extralegalen ‚Grenzschutz‘ zu ‚stützen‘ galt, um sie eines Tages wieder in ‚Schutzgrenzen‘, wenn nicht gar in ‚Wachstumsspitzen‘ eines künftigen Reiches zu verwandeln. In der ‚Separatistenabwehr‘ zeigt sich somit ein idealtypisches Zusammenwirken semistaatlicher und nationalistischer Akteure auf der Grundlage einer neuen, durch die negative Transformation der Westgrenze hervorgebrachten Ordnung und eines gemeinsamen Verständnisses der Situation als suspendierte Normalität. Hierbei fungierte das unbesetzte rechtsrheinische Gebiet als logistische Basis, von der aus extralegale Aktivitäten in den besetzten Gebieten geplant, koordiniert und legitimiert wurden. Mit der Abwehrstelle Heidelberg unter Leitung von August Ritter von Eberlein verfügte der Freistaat Bayern seit 1919 über eine verdeckt agierende rechtsrheinische Stelle ähnlich der Zentrale Nord, die, offiziell für die Unterstützung von Flüchtlingen und Ausgewiesen zuständig, das informelle Zusammenwirken von Regierungsbehörden, Polizei, Reichswehr und paramilitärischen Gruppen koordinierte, Lage- und Stimmungsberichte zusammentrug, finanzielle und logistische Unterstützungen vermittelte und propagandistisch tätig war. Enge Beziehungen bestanden zwischen der Abwehrstelle und dem Pfälzischen Kampfbund, einer Anfang 1923 von Edgar Julius Jung gegründeten Organisation mit dem Ziel, aus dem unbesetzten Gebiet heraus gegen die französischen Besatzer zu operieren. Der jungkonservative Aktivist und Ideologe14 war es auch, der in Abstimmung mit der Abwehrstelle das Attentat auf Heinz und seine Gefolgsleute vorbereitete und durchführte,15 nachdem er – vergeblich – Hitler für die Separatistenabwehr zu mobilisieren versucht hatte.16 Auch die Blutnacht von Pirmasens geschah vor dem Hintergrund umfassender Planungen der Abwehrstelle Heidelberg für koordinierte Operationen gegen die verbliebenen Stützpunkte der Separatisten.17 Mit Pirmasens begegnet uns zugleich eine enthemmte Form politischer Gewalt und ihrer Rezeption. Die Separatisten starben nicht in einem Gefecht mit ihren Gegnern, sondern wurden von diesen faktisch hingerichtet, während andere, die sich ergeben hatten, verletzt waren oder flohen, von einer Volksmenge auf brutale Weise gelyncht wurden. Die Apologie dieser „Tat vom 12. Februar“18 drückte sich in öffentlichen Ehrungen der Täter, literarischen Überhöhungen und symbolischen Gedenkritualen aus.19 So erklärte Karl Christian von Loesch im Namen des Deutschen Schutzbundes, die Rheinlande hätten „in 14 Zu Jung vgl. Jahnke, Helmut: Edgar Julius Jung. Ein konservativer Revolutionär zwischen Tradition und Moderne, Pfaffenweiler 1998. – Bedeutend als Grundschrift der Jungkonservativen war v.a. Jung, Edgar Julius: Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, 2. Aufl., Berlin 1930. 15 Vgl. Gräber u.a., Pfalzbefreier, S. 42-58. Zum Hintergrund der Abwehrstelle vgl. auch ders. u.a., Rheinlandbesatzung. 16 Vgl. Petzold, Wegbereiter, S. 218. 17 Vgl. Gräber u.a., Pfalzbefreier, S. 130. 18 So Titel einer 1934 publizierten Erzählung des aus Pirmasens stammenden Schriftstellers Bert Roth. Vgl. ebd., S. 122. Dort auch zahlreiche weitere Hinweise auf eine entsprechende Huldigungsliteratur. 19 Zit. ebd., S. 122, vgl. auch S. 118.
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der Separatistenabwehr ihr grenzdeutsches Erlebnis“ gehabt, das sie mit „allen deutschen Stämmen“ im „Osten, Norden und Süden“ zur ‚Volksgemeinschaft‘ zusammenschweiße.20 Die annähernd zeitgleichen Ereignisse ‚Ruhrkrieg‘ und ‚Separatistenabwehr‘ (sowie, in späterer nationalsozialistischer Lesart, als drittes Ereignis der Hitler-Putsch) verschmolzen im jungkonservativen Diskurs zum Narrativ einer nationalen Wiedergeburt (und einer Geburt des Nationalsozialismus) am Rhein. Eine kaum übersehbare Flut völkischer Publikationen – eine einschlägige Biographie aus dem Jahr 1929 führt mehr als 2.500 eigenständige Veröffentlichungen auf21 – ordnete sie in das Szenario eines tausendjährigen „Kampfes um den Rhein“22 ein. Ihren wohl wirkungsmächtigsten Ausdruck fand diese Rezeption in den Jahrtausendfeiern der Rheinlande im Jahre 1925, einer mit enormem organisatorischem und medialem Aufwand inszenierten Reihe von Ausstellungen, Veranstaltungen und politischen Kundgebungen in der Rheinprovinz.23 Im Mittelpunkt der von Paul Wentzcke initiierten Feiern stand die Vereinigung des aus der karolingischen Reichsteilung hervorgegangenen lotharingischen Zwischenreiches mit dem Ostreich Heinrichs I. im Jahre 925, die als Geburt des Deutschen Reiches und Beweis einer unauflöslichen Zugehörigkeit des Rheins zum Reich interpretiert wurde.24 Dies implizierte den Rekurs auf eine historische Grenze, die mit Ausnahme Flanderns ausschließlich durch frankophones Gebiet verlief.25 Eine von Wentzcke verwendete Karte (Abb. 9) des Bonner Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande zeigte eine Grenzlinie, die von der Scheldemündung stromaufwärts verlief und das westlich gelegene Cambrai (kartiert als „Kambrich“) einschloss, sodann südlich der Sambre zur Maas und westlich von Sedan nach Süden verlief, sodass beide Ufer des Stromes einschließlich Verdun, Metz und Toul dem Ostreich zugehörten, bevor sie schließlich südlich der Quellgebiete von Maas und Mosel an das Königreich Burgund stieß und bei Basel den Rhein erreichte. Zielten die Jahrtausendfeiern zunächst also auf eine nationale Selbstvergewisserung der Rheinprovinz im Gefolge des Krisenjahres 1923, so aktualisierte der Rekurs auf die mittelalterlichen Grenzen auch die Vorstellung einer ‚Westmark‘. Auf der Folie des Jahres 925 zeigte sich je nach Lesart eben auch ein Raum, in 20 Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 27f. 21 Reismüller, Georg/Hoffmann, Josef: Beschreibendes Verzeichnis des Schrifttums über die Westfragen mit Einschluß des Saargebietes und EupenMalmedys, Breslau 1929. 22 So der Titel eines der verbreiteten Monographie von Hermann Stegemann: Der Kampf um den Rhein. Das Stromgebiet des Rheins im Rahmen der großen Politik und im Wandel der Kriegsgeschichte, Berlin u.a. 1924. 23 Vgl. Wein, Deutschlands Strom, S. 123-134. 24 Wentzcke hatte diese Motivation erstmals auf der Hauptversammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Aachen im September 1922 dargelegt. Vgl. Wentzcke, Paul: Die tausendjährige Jubelfeier des Deutschen Reiches. Erweiterte Niederschrift eines am 12. September 1922 vor der Hauptversammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in der alten Königsstadt Aachen gehaltenen Vortrags, in: Preußische Jahrbücher 191 (1923), S. 69-87. Zur Genese von Wentzckes Vorschlag vgl. Haude, „Kaiseridee“, S. 116ff. 25 Wentzcke, Paul: Rheinisches Schicksal, in: Rheinland. Geschichte und Landschaft, Kultur und Wirtschaft der Rheinprovinz, bearb. u. hrsg. v. Paul Wentzcke u. Hans Arthur Lux, Düsseldorf 1925, S. 1-76.
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dem der Krieg zwar verloren, die letzte Schlacht um den Rhein jedoch noch nicht entschieden war und in dem das ‚Fanal‘ von 1923 die Hoffnung weckte, das Blatt eines Tages wenden zu können.
Abb. 9: Historische Karte „Die Rheinlande im Jahre 925“ nach IGL Bonn, 1925 (Wentzcke, Paul [Hrsg.]: Rheinland. Geschichte und Landschaft, Kultur und Wirtschaft der Rheinprovinz, Düsseldorf 1925, S. 17)
Zwischen der Kriegsniederlage und den Jahrtausendfeiern entwickelte sich nicht zuletzt ein breites Spektrum von Organisationen, die im weitesten Sinne als grenzlandpolitisch, wenn auch nicht notwendigerweise als jungkonservativ, anzusehen sind. Zum einen wandten sich die zuständigen Ministerien, Reichskommissariate, Ober- und Regierungspräsidien, Provinzialverbände, Kreise und Kommunen, eine Vielzahl kultureller, wissenschaftlicher, konfessioneller und wirtschaftlicher Organisationen, politische Parteien, private Unternehmen und Publizisten der ‚Grenzlandarbeit‘ zu. Eine der ersten koor-
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dinierenden Organisationen war die 1920 aus einer im Vorjahr innerhalb der Reichszentrale für Heimatdienst eingerichteten Stelle hervorgegangene Rheinische Volkshilfe. Die dem Reichsinnenministerium bzw. dem Rheinlandministerium unterstehende Organisation mit Stützpunkten in Düsseldorf, Köln, Frankfurt, Mannheim und Heidelberg verfolgte das Ziel, der von Tirard entwickelten und mit historischen Argumenten unterfütterten Politik der pénétration pacifique – eine Politik der „diskrete[n] Beeinflussung der rheinischen Bevölkerung im profranzösischen Sinne“26 – eine deutsche Kulturund Geschichtspropaganda entgegenzusetzen.27 Ausgehend vom Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn und dem Wissenschaftlichen Institut der Elsaß-Lothringer an der Universität Frankfurt, beide gegründet 1920, entstand eine politisch motivierte Grenzlandforschung, die über das Frankfurter Institut an die Reichslandforschung der früheren Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg28 anschloss und eine grenzlandpolitisch motivierte Kulturraumforschung anwandte.29 Neben dem VDA bildeten sich landsmannschaftliche Vereinigungen und Interessenvertretungen wie der Hilfsbund der Elsaß-Lothringer im Reich, der Saarverein, die Vereinigten rheinischen Landsmannschaften, die Vereinigten Landsmannschaften EupenMalmedy und der Bund Deutscher Westen. Sie kooperierten zumeist eng mit ‚volksdeutschen‘ und ‚heimattreuen‘ Organisationen in den abgetretenen und internationalisierten Gebieten oder verfügten nicht selten auch über eigene Tarnorganisationen und Verbindungsleute. Trotz drakonischer Strafen gegen frühere Kollaborateure reorganisierte und radikalisierte sich die Flämische Bewegung, die nun jedoch über Exilorganisationen in Deutschland verfügte und eine große Anziehungskraft auf den jungkonservativen Grenzlandaktivismus ausübte. Nicht zuletzt entstand im verzweigten Gefüge der Freikorps, der studentischen Korporationen und jungkonservativen Bünde eine Vielzahl von ‚Grenzland-‘ oder ‚Westämtern‘, und auch die Mitte der 1920er Jahre gegründeten westdeutschen ‚Gaue‘ der NSDAP verstanden sich als ‚Grenzgaue‘. Wir werden uns den neuen Konzepten eines ‚Westlandes‘ nun annähern, indem wir zunächst das allgemeine ‚Grenzland‘-Konzept der jungkonservativen Vordenker in seiner Vielschichtigkeit umreißen und sodann konkrete Diskursgemeinschaften in den Blick nehmen, die eine Re-Transformation der in das Innere des Reiches gekehrten Westgrenze in einen ‚Lebensraum im Westen‘ vornahmen.
26 Wein, Deutschlands Strom, S. 164. 27 Vgl. ebd., S. 97ff. 28 Vgl. allgemein Roscher, Stephan: Die Kaiser-Wilhems-Universität Straßburg 1872-1902, Frankfurt/M. 2006. 29 Vgl. Müller/Freund, Westdeutsche Forschungsgemeinschaft; Freund, Wolfgang: Das Wissenschaftliche Institut der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt a.M., in: Pfeil, Ulrich (Hrsg.): Deutsch-französische Kulturund Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007, S. 47-71.
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„Grenzland“ als Grundbegriff j u n g k o n s e r v a ti v e r I d e o l o g i e Die Herausbildung eines jungkonservativen Grenzlandaktivismus, der sich nicht auf die Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen beschränkte, sondern über die Sprachgrenze hinaus ein ‚Westland‘ beanspruchte, lässt sich weder als bloße Aktualisierung der alldeutschen Kriegsziele unter den Bedingungen der Kriegsniederlage, noch als Abwehrhandlung gegen den Versailler Vertrag, den ‚Ruhrkrieg‘ oder die ‚Separatistengefahr’ erklären. Eine solche Reduktion würde eine vielschichtige semantische, symbolische und strategische Aufladung der transformierten Grenze unsichtbar machen, die der Begriff ‚Grenzland‘ im jungkonservativen Diskurs evozierte.30 Doch genau diese Projektion der jungkonservativen Ideologien in den konkreten geographischen Raum und in seine geopolitische Abstraktion hinein war, so scheint mir, das Spezifische des ‚Grenzland‘-Konzepts jener ‚jungen Generation‘, aus der sich die Funktionseliten der späteren nationalsozialistischen Raumordnungs- und Bevölkerungspolitik rekrutieren sollten.31 Das Gewalterlebnis des Krieges, die krisenhafte Dynamik der Niederlage und der Revolution, der Legitimationsverlust der alten, aristokratisch orientierten Eliten und das Scheitern der alldeutschen Kriegszielbewegung hatten eine Abkehr der jüngeren, durch die Kriegserlebnisse ungemein radikalisierten Generation der Rechten und ihrer intellektuellen Vordenker vom Konservativismus alter Prägung bewirkt, die sich in einem ausgesprochenen Generationsbewusstsein, einem neuartigen Politikstil, einer Organisierung außerhalb des alldeutschen Verbandswesens, eine Ideologie der ‚Tat‘ und einer teilweisen Hinwendung zum italienischen Faschismus32 ausdrückte.33 Das Konzept des Jungen war dabei durchaus ambivalent. Paradigmatisch sprach Max Hildebert Boehm, einer der Vordenker des jungkonservativen Juniclubs, nicht allein von ‚Jugend‘ im Sinne einer ‚jungen Generation‘, sondern bezog die „innerlich Jungen“ jeden Alters ein, sofern „die Kraft unseres Volkstums in ihnen Fleisch und Blut und lebendiger Wille“ sei und in ihren Handlungen zum Ausdruck komme, „daß unser Volk selbst noch innerlich 30 Vgl. hierzu die Klassifizierung grenzlandpolitischer Diskursstränge der Zwischenkriegszeit durch Conze, Grenzen der Niederlage, S. 168-178. 31 Vgl. Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten? 32 Vgl. Hoepke, Klaus-Peter: Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus. Ein Beitrag zum Selbstverständnis und zur Politik von Gruppen und Verbänden der deutschen Rechten, hrsg. v. d. Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1968, S. 25-64. 33 Zur Geschichte und Ideologie der Jungkonservativen vgl. Stern, Fritz: Kulturpessimismus als Gefahr, München 1986; Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1982; Dupeux, Louis: „Nationalbolschewismus“ in Deutschland 1919-1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985; Stambolis, Barbara: Mythos Jugend – Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach/Ts. 2003; Petzold, Wegbereiter; Mosse, Die völkische Revolution, S. 251-326; Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 1995; ders.: Grundpositionen der deutschen Rechten 1871-1945, Tübingen 1999.
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jung“ sei und „als Ganzes nicht nur Leistung hinter sich, sondern Sendung vor sich“ habe.34 Nicht der durch den Versailler Frieden verkleinerte Staat, sondern eine imaginierte Schicksalsgemeinschaft von ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘, Deutsch-Österreichern, Flamen und Balten erschien als Träger dieser ‚Sendung‘.35 Ratzels Motiv der alten und jungen Nationen aktualisierend, begegnet uns hier nicht nur eine Ideologisierung, sondern auch eine Verräumlichung des Jugendbegriffs: als politische Bewegung ‚innerlich Junger‘ nahmen die Jungkonservativen für sich in Anspruch, ein Volk zu repräsentieren, das – im Gegensatz zu Frankreich, dessen Untergang Moeller van den Bruck 1916 prophezeit hatte36 – seinerseits ‚jung‘ sei und seine Kraft insbesondere in der prekarisierten Peripherie offenbare. Vor Kriegsende hatte Moeller van den Bruck diesen Gedanken im Auftrag der Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung als Legitimation für deutschen Landgewinn ausgearbeitet. Bedingt durch die Niederlage, konnte er seine Thesen jedoch erst im November 1918 – nun mit Blick auf die erwartete Friedenskonferenz – veröffentlichen. Unter dem Titel Das Recht der jungen Völker37 wurden sie zu einem Grundlagentext des Jungkonservativismus.38 Diese drei Dimensionen des Jugendbegriffs (junge Generation, junges Denken und junges Volk an der Peripherie) ermöglichten es, das ‚Grenzland‘ gleichsam korporativ in den Kampf um ein ‚Drittes Reich‘ zu integrieren. „Die Formel vom ‚Grenz- und Auslanddeutschtum‘“, stellt Berthold Petzinna treffend fest, „nahm in publizistischer Propaganda und Theoriebildung“ der Jungkonservativen eine „zentrale Stellung“ ein.39 Der ‚Grenz- und Auslandsdeutsche‘ ersetzte dabei die Figur des elitären Außenseiters und nonkonformen Kulturaristokraten, mit der sich ihre Vordenker vor 1914 identifiziert und von der alldeutschen Massenpropaganda abgegrenzt hatten.40 Die in der Erinnerung „scheinbar kollektiv vollzogene Konfrontation mit dem Fremden im August 1914“ hatte den Außenseiter in einen Kontext enthemmter Gewalt gestellt und ihn mit den Figuren des Frontsoldaten und des Grenzdeutschen zu einer neuen nationalen Avantgarde verschmelzen lassen.41 Die zentrale Bedeutung des ‚Grenzlandes‘ im jungkonservativen Denken und Handeln war damit bereits in der Entstehungsgeschichte dieser Bewegung angelegt; sie war elementarer Bestandteil ihres Selbstbildes und ihrer Symbolsprache und prägte ihre Raumvorstellungen ebenso wie ihr Nationskonzept, ihre politischen Ziele und ihr Verhältnis zur Gewalt. Die identitätsstiftende Funktion des Leitbildes ‚Außenseiter-Frontkämpfer-Grenzdeutscher‘ war vor allem durch jene beiden Ereigniskomplexe legitimiert, welche als Initiationsorte der ‚jungen Generation‘ codiert waren, nämlich das Fronterlebnis des Ersten Weltkrieges und die als Fortsetzung des Krieges wahrgenommenen Gewaltakte im Baltikum, im Sudentenland, in Kärnten, Posen, Oberschlesien, im besetzten Ruhrgebiet und in den Zentren der rheinischen Separatistenbewegung. Front und Grenze, Westfront und 34 Boehm, Max Hildebert: Was wir wollen!, in: Das Gewissen 1 (1919), Nr. 36, S. 1f, hier: 1. 35 Vgl. Petzold, Wegbereiter, S. 100f. 36 Vgl. ebd., S. 118ff. 37 Moeller van den Bruck, Recht der jungen Völker. 38 Vgl. Petzold, Wegbereiter, S. 101, 104-106. 39 Petzinna, Erziehung, S. 108. 40 Ders, Wurzeln des „Ring“-Kreises, S. 141. 41 Petzinna, Erziehung, S. 108.
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Westgrenze waren auf diese Weise unmittelbar in eins gesetzt. Doch war die Westfront noch auf eine zweite Weise präsent: als ein breiter, entvölkerter und entwaldeter Raum war sie im Landschaftsbild nach wie vor existent. Der Krieg hatte eine Art Grenzwüstung hinterlassen, deren Präsenz das Ratzel’sche Konzept der ‚Grenzmark‘ mit grauenhaften Bildern versah. In der geopolitischen Theorie erschienen die aufgelassenen und durch Erinnerungsstätten re-inszenierten Schlachtfelder als Manifestation des blutdurchflossenen ‚Grenzkörpers‘ und Prototyp der modernen Staatsgrenze, während Ernst Jünger das erlebte Kriegsgrauen in eine neue und heroische Form der Moderne umdeutete. Für ihn hatte der Krieg die Landschaft vollständig aufgelöst und als eine nach taktischen und technischen Gesichtspunkten strukturierte Zone neu entstehen lassen, in welcher sich nicht nur, wie für Haushofer und Schumacher, ein neuer Typus von Grenze andeutete, sondern in der eine neue Weltsicht zum Durchbruch kam: Die Front war der Raum, in dem Kampf zum Daseinszweck, Vernichtung zur Kunst, Grauen zum Rausch wurde, in dem sich eine funktionale Neuordnung der Welt vollzog und sich eine künftige Führungselite konstituierte – eine Elite indes, die nach der Kriegsniederlage nicht zum Zuge kam und die sich nun an die Spitze des Kampfes gegen ‚Weimar‘ und ‚Versailles‘ stellte.42 Ganz in diesem Sinne stellte der „Führer“ des Jungdeutschen Bundes, Frank Glatzel, auf der Flensburger Bundestagung des Deutschen Schutzbundes im Jahre 1923 eine Analogie zwischen den heimkehrenden Frontsoldaten und dem „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ her. Diese bestehe „[a]m klarsten wohl in dem Bekenntnis zur Einheit des gesamten Deutschtums über jede Trennung durch die verschiedenen geistigen und territorialen Vaterländer hinweg. Wenn der Auslandsdeutsche von ferne das deutsche Reich sucht, dann stellt er sich dieses Reich als seine geistige Heimat, zugleich aber auch als eine geistige Einheit vor. Und kommt er dieser Heimat näher, dann erkennt er mit Schrecken und mit Erschütterung, daß die gesuchte Heimat kein Ganzes, sondern völlig aufgelöst in viele Einzelwillen ist. Genauso ist es uns Menschen der Jugendbewegung gegangen, als wir aus den Schützengräben zurückkehrend nach der Heimat, allmählich aufwachend zum politischen Bewußtsein, fühlten, daß das Deutschland, für das wir glaubten gekämpft zu haben, nirgends war. Und da hat uns genau wie vielen von Ihnen ein Gefühl nicht nur der Ernüchterung, sondern zunächst ein Gefühl der Trauer und Erschütterung ergriffen. Und viele von uns haben sich aus dem Getriebe des Kampfes enttäuscht zurückziehen wollen, und es ist für uns ein besonders starkes Erlebnis gewesen, gerade im Grenzlanddeutschtum das gleiche Suchen nach dem gemeinsamen Deutschland, nach der Verkörperung des Deutschtums schlechthin über die einzelnen geistigen und territorialen Vaterländer hinweg, zu finden.“43
42 Vgl. Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch, Sonderausgabe, Hamburg o.J., S. 209ff, 258ff, 267, 312; ders.: Der Kampf als inneres Erlebnis, in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. 2: Essays, Bd. 7, Stuttgart 1980, S. 9-103, Ders.: Das große Bild des Krieges, in: ders. (Hrsg.): Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten, Berlin 1930, S. 238-251. 43 So Frank Glazel in seinem Eröffnungsvortrag der 2. Vollsitzung. Zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Die 4. Bundestagung des Deutschen Schutzbundes, Sylt – Flensburg – Hamburg, Juni 1923, Berlin 1923, S. 23 (im Folgenden zitiert als: Deutscher Schutzbund [Hrsg.], 4. Bundestagung).
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Jünger erblickte die zentrale Aufgabe dieser Frontgeneration in einer „totalen Mobilmachung“ der Gesellschaft für einen künftigen, eben „totalen Krieg“, und diese militärische Durchrationalisierung des Zivilen hatte für ihn zuallererst eine „Mobilmachung des Deutschen“ zu sein.44 Jungkonservative Grenzlandpolitik war vor diesem Hintergrund also eine aus der Fronterfahrung abgeleitete ‚Mobilmachung‘ zum Kampf an den Grenz-Fronten, zugleich jedoch besaß sie eine innenpolitische Dimension, richtete sich der Kampf doch auf jenes künftige Reich, das Arthur Moeller van den Bruck in seinem gleichnamigen Buch von 1923 das Dritte Reich nannte.45 Das Selbstbild, Kämpfer an einer Neuen Front46 zu sein, verband sich dabei mit einem Selbstbild als Revolutionäre: Man betrachtete sich als Vorkämpfer einer nationalen Revolution, die die Novemberrevolution des Jahres 1918 vollende, indem sie ihre sozialistischen Impulse ins Nationalistische wende. „Die Revolution von 1918 ist keine Revolution“, schrieb 1928 Reinhard Höhn. „Sie war nur ein Anstoß und ist weitergegangen in den 10 Jahren seit ihrem Ausbruch. Heute steht das deutsche Volk vor seiner zweiten Revolution, der Revolution der Frontsoldaten.“47 Doch teilten nicht alle Akteure der jungkonservativen Bewegung das Fronterlebnis. Günther Gründel unterschied in einer zeitgenössischen soziologichen Untersuchung zwischen der Frontgeneration (vor 1900 Geborene) und der nachfolgenden Kriegsjugendgeneration, welcher das unmittelbare Erlebnis der entfesselten Gewalt fehle und die es allenfalls mittelbar, etwa im Medium von Bildern und Fahrten, nacherleben könne. Entscheidend aber sei, dass die nach 1900 geborenen Aktivisten im Gegensatz zu den Älteren nicht „aus dem Gleis“ geworfen seien und das „Größte und Tiefste“ der Kriegserfahrung daher „in ihnen am stärksten fruchtbar werden“ könne.48 Innerhalb dieser Generation nun definierte Gründel eine prädestinierte Gruppe, nämlich die durch erlebte Gewalt geprägte „Grenzlandjugend“: „Gerade hier aber gibt es Bevorzugte unter uns, das ist z.B. die westliche Grenzlandjugend und vor allem die Ostpreußenjugend. Denn Ostpreußen war die einzige Provinz des Reiches, die die Schrecken des Krieges am eigenen Leibe erleben musste. Was sonst nur die belgische und nordfranzösische Jugend durchgemacht hat, das erlebte in Deutschland – von kleinen Teilen des Elsaß abgesehen – ein großer Teil der Ostpreußenjugend als einzige, wenigstens in den ersten Monaten des Krieges: die unmittelbare Bedrohung und Verwüstung der Heimat durch den Feind.“49
Auch die Konflikte in den Grenzregionen der Nachkriegszeit stellten aus dieser Perspektive Fronterlebnisse dar, und als solche ermöglichten sie es der 44 Jünger, Ernst: Die totale Mobilmachung, in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. 2: Essays, Bd. 7, Stuttgart 1980, S. 119-142; ders: Die Mobilmachung des Deutschen, in: Widerstand 5 (1930), S. 109-112. 45 Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich. 46 So der programmatische Titel des jungkonservativen Grundlagenwerks: Moeller van den Bruck, Arthur/Gleichen, Heinrich von/Boehm, Max Hildebert (Hrsg.): Die Neue Front, Berlin 1922 (im Folgenden zitiert als: Moeller van den Bruck u.a. [Hrsg.], Neue Front). 47 Höhn, Reinhard: Der bürgerliche Rechtsstaat und die Neue Front. Die geistesgeschichtliche Lage einer Volksbewegung, Berlin 1929, S. 134. 48 Gründel, Sendung der jungen Generation, S. 31. 49 Ebd., S. 34f.
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‚Grenzlandjugend’, einen ähnlichen Führungsanspruch innerhalb ihrer Generation zu reklamieren wie die heroisierten Frontkämpfer im Kampf um ein ‚Drittes Reich‘. Max Hildebert Boehm wertete es retrospektiv als entscheidend, dass vor allem die Auseinandersetzungen im Osten nach Kriegsende „aufs neue die Form des Kampfes mit der Waffe“ angenommen und „von einem kriegsmüden Volk“ noch einmal die Bereitschaft zum „letzten Einsatz“ erfordert hätten. 50 Er verklärte den „bewaffneten Volkstumskampf“ der Jahre 1918 bis 1923 zum „,Heldenzeitalter‘ des später mehr politischen und sozialen Volkstumskampfes“ und betonte, dass er im Gegensatz zum Weltkrieg „nicht ohne eindeutige Erfolge“ geblieben sei. Insbesondere habe er bewirkt, dass der „Gedanke der Selbsthilfe“ die überkommene Volkstumspolitik im Sinne des VDA abgelöst habe.51 Früher als im Staatsinneren, habe sich im Grenzland außerdem der Durchbruch einer jüngeren und radikaleren „Führungsschicht“ vollzogen, die sich rascher und konsequenter als alle anderen Akteure der neuen Situation habe anpassen können.52 Boehms zweifelsohne apologetische Darstellung ist insofern aufschlussreich, als dass sie die Bedeutung eines situativen und militanten Handelns für die Entstehung und Herauslösung des jungkonservativen Grenzlandaktivismus aus dem normativen und institutionellen Gefüge des Kaiserreichs und der neuen Republik unterstreicht: In dem Maße, wie der Nationalismus der Vorkriegszeit an der neuen Situation scheiterte, hätten die Kämpfer entlang der Grenzen die Nation verteidigt und einen neuen Nationalismus begründet. Im ‚Grenzland‘ offenbare sich, so Moeller van den Bruck, daher das eigentliche ‚Deutschtum‘, wohingegen es im Inneren des Staates erlahmt und degeneriert sei: „Überall an den Grenzen empfinden sich die Landschaften mit einem Male als Marken, und von den Grenzen her dringt in das Innere allmählich das Bewusstsein, daß Deutschland selbst heute eine einzige Mark ist, gegen die eine geborene Feindschaft von Völkern anbrandet, die in einer Fortsetzung des Unfriedens von Versailles unser deutsches Dasein dauernd zu verkümmern suchen. Eben dies macht uns als ein Volk zur Nation.“53
Moeller van den Bruck vollzog damit eine Umkehr der – mit Ratzel gesprochen – ‚politischen Räume‘ des ‚Zentrums‘ und der ‚Peripherie‘. Nicht mehr im Zentrum war die Nation in ihrer vollen Intensität repräsentiert, sondern im ‚Grenzland‘; nicht mehr vom Zentrum gingen die Impulse für die Schaffung eines ‚Dritten Reiches‘ aus, sondern von den ‚Marken‘. Das ‚Grenzland‘ war also in dreifacher Hinsicht ein symbolischer Raum: als Symbolraum erfahrener und ausgeübter Gewalt, als Symbolraum des Zerfalls und der Erneuerung der Nation und als Symbolraum des jungkonservativen Gegenentwurfs gegen die europäische Nachkriegsordnung und die demokratische Republik. Diese Neubewertung von Zentrum und Peripherie entsprach der Aufwertung der ‚Grenzdeutschen‘ gegenüber den ‚Binnendeutschen‘. In einem Beitrag für Die Neue Front, einer 1922 herausgegebenen Sammlung jungkonser50 Boehm, Max Hildebert: Die Reorganisation der Deutschtumsarbeit nach dem ersten Weltkrieg, in: Ostdeutsche Wissenschaft, Bd. V (1958), S. 9-34, hier: 12f. 51 Ebd., S. 13. 52 Ebd., S. 12. 53 Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, S. 237.
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vativer Grundlagentexte, gliederte Karl C. von Loesch die deutsche Nation in einen äußeren Gürtel von „Auslanddeutschen“, die verstreut innerhalb anderer Völker lebten und in den aktuellen Kämpfen keine Rolle spielten, in das geschlossene Siedlungsgebiet der „Grenzdeutschen“, in dem sich die maßgeblichen Auseinandersetzungen abspielten, und einen inneren Kern, der die „große[.] Masse der Binnendeutschen“ vereine. Während diese lediglich an „Parteipolitik“, „Geldverdienen“ und „Genießen“ dächten, sei unter den „Grenzdeutschen“ ein neuer „Geist“ entstanden, der die einzelnen Grenzregionen zu einem „geistigen Panzer“ der Nation zusammenschweiße: „Dieser Geist der Grenze steht dem des binnendeutschen Volkes heute vielleicht in einem weitaus stärkeren Gegensatze gegenüber, als es die Allgemeinheit glaubt. Es geht ein klaffender Riß durch unser Volk, ein Riß, der aber Gott sei Dank nicht Zersplitterung bedeutet; denn der gesinnungsmäßig wehrhafte Geist der Grenzdeutschen läßt diese Grenzstämme in Ost und West, in Nord und Süd sich trotz aller äußeren Ohnmacht wehren. Die Grenzstämme schließen sich zusammen zu einer Art von geistigem Panzer, sie bilden eine Mauer von Zyklopenblöcken und schützen den 54 gesinnungsmäßig weichen Kern des Binnenvolkes.“
Moeller van den Brucks ‚Marken‘, Haushofers ‚Grenzkörper‘ und Loeschs ‚geistiger Panzer‘ führten also einen doppelten Kampf: gegen den äußeren Gegner, zugleich aber gegen den ‚weichen Kern‘. Die „Gesundung“ der Nation könne daher, so glaubte Loesch, nicht ohne weiteres „von außen nach innen“ fortschreiten, sondern werde erst dann greifen, „wenn dem Binnendeutschen die grenzdeutschen Auffassungen dadurch näher gebracht werden, daß er den Druck einer fremdvölkischen Besatzung im eigenen Lande zu spüren bekommt.“55 Bereits 1920 hatte Moeller van den Bruck darüber spekuliert, ob „wir“ nicht „erst einmal alle zu geistigen Auslandsdeutschen werden“ müssten, um das „nach[zu]holen, was wir vor dem Kriege versäumten“, nämlich eine „Erziehung zu politischem Denken in weiten Räumen und fernen Zeiten“.56 Diese im jungkonservativen Diskurs omnipräsente Vorstellung der Grenzen als Kampfräume verweist auf Carl Schmitts viel zitierte Definition der Souveränität als das Handlungspotenzial dessen, der „über den Ausnahmezustand entscheidet.“57 Für Schmitt fiel die Entscheidung über den Ausnahmezustand stets in einem Grenzraum, wenn auch einem rechtlich-politischen und nicht notwendigerweise auch geographischen. Dennoch war Schmitts Verständnis des „Grenzfalls“58, wie er die Definitionsmacht über Normalität und Ausnahmezustand nannte, leicht auf das konkrete ‚Grenzland‘ übertragbar. Geschah diese Übertragung, entband sie den in das ‚Grenzland‘ Eintretenden von den rechtlichen, moralischen und politischen Normen, die dem im Binnenland Bleibenden auferlegt waren; der „Grenzfall“ entgrenzte das 54 Loesch, Karl C.: Die Grenzfrage, in: Moeller van den Bruck u.a. (Hrsg.): Neue Front, S. 261-265, hier: 261. 55 Ebd., S. 261f. 56 Moeller van den Bruck, Arthur: Der politische Mensch, hrsg. v. Hans Schwarz, 2. Aufl., Breslau 1933, S. 64 (zuerst unter dem Titel: Der Auslandsdeutsche, in: Grenzboten, 28. April 1920). 57 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Aufl., Berlin 1934 (zuerst 1922), S. 11. 58 Ebd.
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souveräne Handeln und legitimierte den Zugriff auf die Gesamtheit der verfügbaren Gewaltmittel: „Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt. [...] So wie im Normalfall das selbständige Moment der Entscheidung auf ein Minimum zurückgedrängt werden kann, wird im Ausnahmefall die Norm vernichtet.“59
Zwischen den Staaten taten sich gleichsam Räume außerhalb der bürgerlichen Normen auf, in denen im Namen des Volkes außerhalb des rechtlichen und moralischen Gefüges des Staates agiert werden durfte. Auch und gerade deshalb wurde das ‚Grenzland‘ der Jungkonservativen zu einem Raum des Politischen schlechthin. Leicht ließ sich dieser Raum mit rassistischen und sozialdarwinistischen Ideologemen, mit Blut- und Bodenmystik und nicht zuletzt einer Apotheose des Unbedingten aufladen. Exemplarisch liest sich vor diesem Hintergrund das Geleitwort zum Holzschnitt-Zyklus Grenzland des Grafikers A. Paul Weber,60 in dem die jungkonservative bereits durch eine nationalrevolutionäre Sichtweise abgelöst ist: „[Die Holzschnitte sind] der Versuch einer Sinndeutung des Geschehens, das wir als Deutsche seit 1918 in besonderer Unmittelbarkeit und in seiner ganzen vernichtenden Härte immer wieder erlebt haben, des Grenzkampfes. Der Grenzkampf geht vom Bauern aus und er endet beim Bauern: Grenzkampf ist Wille zur Freiheit und Herrschaft; es geht ihm um die Unversehrtheit des geistig-seelischen Heimatbereichs, des Arterbes aus Urvätertagen und um die Freiheit und Weite der bluterfüllten, erdhaften Heimat. Grenzkampf ist der Kampf der ganzen Nation um ihren Schicksalsraum; wenn irgendwo, so gilt in ihm zwangsläufig das Gesetz der Schicksalsgemeinschaft, unter dem alle Angehörigen einer Nation stehen. Grenzkampf als Urgeschehen im Völkerleben kennt keine verbindlichen Rechtssetzungen und Schiedsrichter, denen sich die Nationen in ihrem Drang zu fügen hätten; allein durch das Gewicht an Lebenskraft wird er entschieden. Im Grenzkampf treten dem Volk nur die Gesetze in besonders klarer Ausprägung entgegen, unter denen es in seiner Gesamtheit zu leben hat, will es Dasein und Freiheit nicht verlieren.“61
59 Ebd., S. 19. 60 Weber, A. Paul: Grenzland. 9 Holzschnitte, hrsg. v. Deutschen Grenzkampfbund, Berlin 1932 (im Folgenden zitiert als: Weber, Grenzland). – Die Mappe erschien in Ernst Niekischs Widerstand-Verlag. Zwei der Holzschnitte erschienen zudem separat als Illustrationen der Zeitschrift, nämlich die Blätter „Die Grenze“ (unter dem Titel „Blutende Grenze“ in: Widerstand 7 [1932], S. 19) und „Das Ende“ (ebd. 8 [1933], S. 69). Unabhängig vom Zyklus Grenzland publizierte Weber noch eine weitere Grafik mit grenzlandpolitischem Bezug, nämlich „Grauen vor dem Osten“ (ebd. 7 [1932], S. 370). Die Grafik stellt die französische Öffentlichkeit in Form eines Esels mit Jakobinermütze dar, der von französischen Bajonetten nach Osten getrieben wird und von einem niedergerissenen deutschen Grenzpfahl aus ängstlich in ein leeres und wehrloses Deutschland blickt. – Zur Bewertung der Weber’schen Grafiken innerhalb des Widerstand-Kreises vgl. Fischer, Rudolf: Der Zeichner A. Paul Weber, in: Widerstand 4 (1929), S. 377-380. 61 Bäthge, Heinz: Geleitwort, in: Weber, Grenzland, o.S. (Herv. i. Orig.)
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Wenn also die mehrfache Symbolisierung des ‚Grenzlandes‘ als Spiegelbild der eigenen Biographie und des eigenen Ideals, als Raum enthemmter Gewalt und unbedingten Kampfes, als Schicksalsraum der Nation und als Durchbruchslinie eines ‚Dritten Reiches‘ den jungkonservativen (und nationalrevolutionären) Diskurs durchzog, so musste das zu Grunde liegende Raumkonzept vor allem flexibel sein. Boehm betonte diese Flexibilität, indem er sich – wie Haushofer – jeder traditionellen staatsrechtlichen, geographischen, historischen und sprachwissenschaftlichen Definition des Begriffs ‚Grenzland‘ verweigerte. Ebenso lehnte er es ab, es mit den abgetretenen, besetzten oder „neutralisierten“ Gebieten allein zu identifizieren. „Grenzland“ sei, so definierte er, vielmehr „überall da, wo deutsche Menschen Grenzschicksal leibhaft erfahren, wo sie um den Zusammenhang mit der nationalen Gemeinschaft ringen oder die Nation um ihre Einbeziehung und Festhaltung sinnvollerweise kämpft, kämpfen darf und kämpfen muß.“62 Diese Flexibilisierung des Begriffs über die unmittelbar betroffenen Grenzgebiete hinaus ermöglichte es, aktuelle Situationen in wechselnden Regionen zu fokussieren, auf lange Sicht aber wesentlich weiter gefasste Ziele in den Blick zu nehmen. Die konkrete Grenze erschien dann als so etwas wie eine Achse, an der sich eine nach innen und eine nach außen gerichtete Dynamik der nationalen ‚Wiedergeburt‘ trafen, an der sie einander spiegelten und sich gegenseitig konstituierten. Eine hohe Attraktivität entfaltete vor diesem Hintergrund die Volks- und Kulturbodenforschung, deren Etablierung jungkonservative Einrichtungen wie der Juniclub, das Politische Kolleg, der Deutsche Schutzbund und vor allem die Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung vorantrieben. Sie beruhte auf einer Erweiterung der traditionellen Unterscheidung zwischen dem deutschen ‚Staats-‘ und ‚Volksboden‘ um den Begriff des ‚Kulturbodens‘. Lediglich der ‚Volksboden‘ sei, so der Geograph Albrecht Penck, mit dem Verbreitungsgebiet der deutschen Sprache identisch, der ‚Kulturboden‘ aber gehe weit über die Sprachgrenze hinaus. Entscheidend war, dass Penck die „Kulturlandschaft“ nicht als etwas Gegebenes ansah, sondern ihre Produzierbarkeit betonte. Ein so verstandenes Deutschland war nicht innerhalb von Staats- und Sprachgrenzen fixiert, sondern konnte als „das Werk bestimmt veranlagter Menschen, die die Natur nach ihrem Willen verändern“,63 prinzipiell überall neu geschaffen und erweitert werden. „Wo immer auch Deutsche gesellig wohnen und die Erdoberfläche nutzen, tritt [… der deutsche Kulturboden] in Erscheinung, ob es daneben zur Entwicklung eines Volksbodens kommt oder nicht.“64 Das „Grenzland“ reichte damit „über den deutschen Volksboden hinaus“ und umfasste in seiner äußeren Dimension „den Gürtel eines Landes, in dem die deutsche Bevölkerung gegenüber der anderssprachigen zurücktritt, wo sie aber dem Lande den Kulturcharakter aufdrückt oder aufgedrückt hat.“65 Grenzlandpolitisches Agieren war auf dieser Grundlage nicht mehr zwingend an das Vorhandensein einer deutschsprachigen Bevölkerungsmehrheit oder auch nur einer wahrnehmbaren Minderheit gebunden, sondern konnte ebenso als Herstellung eines 62 Boehm, Die deutschen Grenzlande, S. 15. 63 Penck, Albrecht: Deutscher Volks- und Kulturboden, in: Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern, S. 62-73, hier: 70 (im Folgenden zitiert als: Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden). 64 Ebd., S. 69. 65 Ebd., S. 68.
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deutschen ‚Kulturbodens‘ begriffen werden. Jede grenzlandpolitische Arbeit nahm den Boden aus dieser Perspektive ein Stück mehr in Besitz: „Eine kleine Zahl von Deutschen kann genügen, um ein großes Land in deutschen Kulturboden zu verwandeln.“66 Das jungkonservative ‚Grenzland‘ ist damit zumindest soweit skizziert, dass wir uns jenen Diskursgemeinschaften im engeren Sinne zuwenden können, die es unter den umrissenen Bedingungen operationalisierten und zu einem Konzept des ‚Westlandes‘ konkretisierten. Beginnen wir mit einer Organisation, die 1919 mit den Anspruch antrat, die Kämpfe an den einzelnen Abschnitten der Grenze zusammenzufassen und in eine Erneuerung der Nation zu überführen: dem Deutschen Schutzbund.
D i e D i sk u r s g e m e i n sc h af t ,,D e u t s c h e r S c h u t z b u n d “ Die Institutionalisierung des „Grenzlandes“ Mit dem Deutschen Schutzbund (DSB) begegnet uns der Prototyp einer neuartigen völkischen Organisation, die auf die veränderten Bedingungen der Kriegsniederlage zugeschnitten war und der es gelang, in dieser neuen Situation sehr rasch und sehr erfolgreich zu agieren. Die Gründung des Schutzbundes war dabei Teil jenes Übergangs- und Modernisierungsprozesses der radikalen Rechten, der zwischen 1918 und 1920 maßgeblich von den im Berliner Juniclub zusammengeschlossenen Ideologen und Intellektuellen um Moeller van den Bruck, Eduard Stadtler, Heinrich von Gleichen und die Brüder Paetel vorangetrieben wurde. Wichtige Akteure des Schutzbundes wie Loesch, Boehm, Hermann Ullmann, Major von Willisen, Martin Spahn, Friedrich Lange und Friedrich König gehörten dem Juniclub an oder standen ihm politisch nahe, und ab 1920 waren beide Organisationen im gleichen Gebäude, dem Schutzbundhaus in der Berliner Motzstraße, angesiedelt.67 Seit April 1919 hatte Loesch mit Vertretern ostdeutscher, baltischer, elsässischer und österreichischer Organisationen über die Gründung eines gemeinsamen Verbandes verhandelt und den Vorsitzenden des VDA, Franz von Reichenau, veranlasst, einen entsprechenden Gründungsaufruf zu unterzeichnen. Nach dem Bekanntwerden der in Versailles verhandelten Friedensbedingungen am 7. Mai forcierte der Juniclub diese Bestrebungen, und bereits am 26. Mai 1919 erfolgte die Gründung des Deutschen Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutschtum unter dem Vorsitz Reichenaus.68 Loesch bekleidete als Leiter der Hauptgeschäftsstelle eine Schlüsselfunktion und übernahm 1924 gemeinsam mit dem Leiter der Abteilung Elsass-Lothringen des Reichsministeriums des Inneren, Adolf Goetz, den Vorsitz des Schutzbundes.69 Zeit seines Bestehens entstammte der innere Führungskreis des 66 Ebd., S. 69f. 67 Vgl. Petzold, Wegbereiter, S. 109-111. 68 Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 9. – Loesch verwies in diesem Zusammenhang auf organisatorische Überlegungen aus dem Ersten Weltkrieg: Schmied-Kowarzik, Walther: Ein Weltbund des Deutschtums. Die Gegenwartsaufgabe einer Weltpolitik deutscher Kultur, Leipzig 1917. 69 Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 33.
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Schutzbundes dem Juniclub, dem es über die Altherrenschaft der VDSt frühzeitig gelang, seinen Einfluss auch in der Studentenschaft geltend zu machen.70 Es wäre jedoch verkürzt, den Schutzbund auf eine Gründung des Juniclubs zu reduzieren. Wir können ihn vielmehr als eine komplexe und vielschichtige Aktions- und Diskursgemeinschaft verstehen, die Akteure, Ideologien und Konzepte der wilhelminischen Zeit und des Ersten Weltkrieges mit den grenzlandpolitischen Ansätzen und Situationen der Krisenjahre verband. Seiner Satzung nach ein „Zusammenschluss aller im weitesten Sinne für das Deutschtum in den Grenzländern und im Auslande tätigen Körperschaften“ mit dem Ziel, deren „Wirkung durch planmäßige Zusammenarbeit [zu] vervielfachen“,71 kennzeichneten seine Akteure ihn in aufschlussreichen Formulierungen als „Kartell sämtlicher grenz- und auslanddeutscher Verbände“,72 als ein „Auswärtiges Amt des Volkes“,73 als „Gedankenschmiede“ einer Neubegründung völkischer Politik,74 als „Verkörperung“ und „Symbol der [...] Volksgemeinschaft“75 und nicht zuletzt als einen nachrichtendienstlichen „Meldeapparat“, in dem „Nachrichten aus allen deutschen Grenz- und Auslandsgebieten gesammelt und ausgewertet“ würden.76 Der Schutzbund baute binnen kurzer Zeit eine strategisch agierende Leitungsstruktur auf, übernahm auf dem sensiblen Feld der grenzübergreifenden ‚Deutschtumsarbeit‘ eine Reihe semistaatlicher Aufgaben, eignete sich durch seine Nachrichtenabteilung und sein Archiv ein taktisch einsetzbares Wissen an, nahm über Pressegründungen und Informationsbulletins Einfluss auf die in- und ausländische Berichterstattung und entwickelte neue massenmediale Methoden; er verknüpfte die grenzlandpolitischen Konzepte um eine bevölkerungspolitische, minderheitenrechtliche und mitteleuropäische Stoßrichtung und richtete Kooperationsplattformen für die Grenzlandpolitik der radikalen 70 Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 178. 71 Satzung des Deutschen Schutzbundes v. 11. Juli 1919, abgeändert am 24. Mai 1920, in: Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Führer durch den Deutschen Schutzbund (mit Anhängen: Die Erste Bundestagung, und: Die Arbeit für die Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen), Berlin 1920 (im Folgenden zitiert als: Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Führer durch den Deutschen Schutzbund), S. 35, hier: 3. 72 Vgl. Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 10. 73 So A. Gilg, Geschäftsführer des Hilfsbundes für die Elsaß-Lothringer im Reich und Vorstandsmitglied des DSB, auf der 1. Bundestagung des Schutzbundes. Zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Die Erste Bundestagung, in: Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Führer durch den Deutschen Schutzbund, Anhang, S. 4463, hier: 50 (im Folgenden zitiert als: Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Erste Bundestagung). 74 So der Vorsitzende des Ausschusses der deutschen Volksgruppen in Europa. Brandsch, Rudolf: Schutzbund und Volksgruppen, in: Zehn Jahre Deutscher Schutzbund 1919-1929, hrsg. v. Deutschen Schutzbund, Berlin o.J. [1929], S. 7f, hier: 7. 75 So Albert Wacker, Vorstandsmitglied und Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses des Schutzbundes, in seinem Vortrag Das Deutschtum als Einheit auf der 3. Bundestagung. Vgl. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Die dritte Bundestagung des Deutschen Schutzbundes zu Allenstein, 1.-4. Juni 1922, Berlin 1922, S. 43 (im Folgenden zitiert als: Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Dritte Bundestagung). 76 Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 22.
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Jugend- und Studentenbünde, für die Etablierung einer akademischen Grenzlandforschung und für eine eigenständige Organisierung von Frauen und Frauenverbänden ein. Dabei spielte sich ein Großteil seiner Aktivitäten „hinter den Kulissen“ ab, insbesondere, wo es um das Agieren auf nichtdeutschem Terrain, die verdeckte Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen oder auch die politische Koordination publizistischen oder wissenschaftlichen Handelns ging.77 Die Politik des Schutzbundes kann nicht losgelöst von der Volkstumspolitik des VDA betrachtet werden. Unter dem Vorsitz Reichenaus hatte dieser sich nach Kriegsbeginn dem Alldeutschen Verband angenähert und sich durch eine gemeinsame Kriegszieldenkschrift, die so genannte Intellektuelleneingabe vom 8. Juli 1915, und die Gründung einer Dachorganisation nationalistischer Verbände, der Hauptvermittlungsstelle vaterländischer Verbände und Vereine, an dessen Seite positioniert. Seine völkischen und expansiven Ziele in eine kulturalistische Mitteleuropa-Rhetorik hüllend, hatte der VDA sich jedoch nicht in gleichem Maße wie die Alldeutschen ins Abseits manövriert.78 Jüngere VDA-Funktionäre wie der Schriftleiter der Deutschen Arbeit, Hermann Ullmann, hatten sich vielmehr frühzeitig jungkonservativen Positionen angenähert und im Führungskreis des Juniclubs etabliert.79 Die Wahl Reichenaus zum Gründungsvorsitzenden des Schutzbundes symbolisierte damit also eine kulturalistische Alternative zur Kriegszielbewegung auf der Basis jahrzehntelanger praktischer Erfahrung in der Grenzlandarbeit. In dieser neuen Konstellation griffen VDA und Schutzbund das Minderheiten-Konzept Richard Boeckhs auf und entwickelten es zu einem völkischen Minderheitenrecht weiter. Die Kategorie der völkischen Minderheit verschmolz dabei mit dem Begriff des Grenzlandes: Wie die transformierte Grenze überlagerte die ‚Minderheit‘ sowohl die staatlichen, als auch die natürlich-geographischen Grenzen; anders als das ‚Grenzland‘ wurde sie jedoch als ein Rechtssubjekt begriffen, das durch die Versailler Friedensordnung in seiner Existenz gefährdet sei.80 „Wir fordern daher das Selbstbestimmungsrecht für alle unterdrückten Völker“, proklamierte Loesch auf der dritten Bundestagung des Schutzbundes 1922: „Wir stellen damit eine Menschheitsforderung auf, ebenbürtig den Menschenrechten, die die französische Revolution proklamierte.“81 Das reale Problem des Minderheitenschutzes war damit in einen konservativen Gegenentwurf zu den Ideen von 1789 eingebettet. Walter Szagunn, einer der frühen Ideologen eines völki77 Vgl. hierzu die Andeutungen in: Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Tätigkeitsbericht des Deutschen Schutzbundes über das Geschäftsjahr 1925/26, Berlin 1926, S. 2f (im Folgenden zitiert als: Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Tätigkeitsbericht 1925/26). 78 Vgl. Wiedenfeller, VDA, S. 256f, 370; Goldendach, Walter von [Pseud.]/ Minow, Hans-Rüdiger: „Deutschtum erwache!“. Aus dem Innenleben des staatlichen Pangermanismus, Berlin 1994, S. 89. 79 Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 108-112. Vgl. auch Schmied-Egger, Hans: Hermann Ullmann. Publizist der Zeitenwende, München 1965; Fielitz, Wilhelm: Deutsche Arbeit, in: Haar u.a. (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 104ff. 80 Vgl. grundlegend Salzborn, Samuel: Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa, Frankfurt/M. u.a. 2005. 81 Loesch in seinem Eröffnungsvortrag Entdeutschung und Abwehr, zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Dritte Bundestagung, S. 13.
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schen Minderheitenrechts, legitimierte in dieser Logik eine „Selbsthilfe“ der deutschen Minderheiten nach dem Vorbild der nordirischen Sinn Fein.82 Der Schutzbund besetzte mit der Minderheitenpolitik nicht zuletzt ein Politikfeld, das auch aus Sicht der Reichsregierung von höchster Bedeutung war, da es außenpolitische Handlungsspielräume jenseits der Restriktionen des Versailler Vertrags schuf. Auf dieser Grundlage kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen Schutzbund und Auswärtigem Amt, die sich nach dem Amtsantritt Gustav Stresemanns noch intensivierte.83 Neben dem VDA umfasste der Schutzbund eine Reihe weiterer Verbände der Vorkriegs- und Kriegszeit, darunter den österreichischen Deutschen Schulverein (gegr. 1881), den Ostmarkenverein (1894), den Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband (1895), den Deutschnationalen Kolonialverein (1904), die Deutschnordische Gesellschaft (1905), den Bund für Deutsche Schrift (1911), die Gesellschaft zur Förderung der Inneren Kolonisation (1912) und Heinrich von Gleichens Bund Deutscher Gelehrter und Künstler (1914).84 Nicht zu den Mitgliedern des Schutzbundes gehörte der Alldeutsche Verband. Durch ein Arbeitsabkommen war der Schutzbund jedoch mit der 1916 unter alldeutscher Mitwirkung gegründeten Vereinigung für Deutsche Siedlung und Wanderung verbunden,85 deren Vorsitzender, der frühere Gouverneur von Deutsch-Ostafrika und Kolonialstaatssekretär Friedrich von Lindequist, von 1921 bis 1924 den Vorsitz des Schutzbundes innehatte.86 Der Schutzbund setzte damit eine Politik der Vernetzung und Arbeitsteilung zwischen den nationalistischen Verbänden fort. Worum es ihm jedoch vor allem ging, war die organisatorische Zusammenfassung, politische Kontrolle und ideologische Durchdringung der zahlreichen grenzlandpolitischen Neugründungen der Jahre 1918 bis 1920. Wie Loesch auf der ersten Bundestagung im Berliner Reichstagsgebäude erklärte, habe der „Zusammenbruch unserer staatlichen Macht manche deutsche Arbeit“ gehemmt, gleichzeitig aber den „Wille[n]“ der „heimgesuchten Auslandsdeutschen“ nach einer „innigeren Anlehnung an die deutsche Volksgemeinschaft“ gestärkt. Allerdings sei es zu einer „Vielgründerei“ völkischer Organisationen gekommen, sodass eine „Zersplitterung der Kräfte“ drohe.87 Überdies seien die neuen Verbände „so gut wie ohne Fühlung miteinander gewesen“ und hätten lediglich „für 82 Walter Szagunn auf der Fachsitzung über internationales Minderheitenrecht und nationalen Minderheitenschutz, zit. n. ebd., S. 15. 83 Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 198. 84 Ferner Bund Südmark (1889), Bund der Deutschen in Böhmen (1894), Bund der Deutschen in Österreich (1903), Großdeutsche Vereinigung (1915) u.a. – Vgl. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Führer durch den Deutschen Schutzbund, S. 11-40. 85 Das Abkommen regelte, dass die Vereinigung „für den Schutzbund alle Arbeiten betr. Siedlung und Wanderung und die Auskunfterteilung auf diesen Gebieten übernimmt, soweit nicht die Auskunftsstelle für Aussiedlungswesen beim Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege dadurch berührt wird.“ Der Vereinigung für Deutsche Siedlung und Wanderung gehörten 17 Organisationen, darunter VDA, Alldeutscher Verband, Gesellschaft für Innere Kolonisation, Ostmarkenverein, Deutsche Kolonialgesellschaft sowie verschiedene Wohlfahrtsverbände an. Darüber hinaus fungierte sie als geschäftsführender Vorortverein der Arbeitsgemeinschaft für Deutsches Wandererwesen mit 71 Mitgliedsverbänden. 86 Vgl. Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 26. 87 Zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Die Erste Bundestagung, S. 44f.
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ihre engere Heimat gearbeitet“. Dieser Aspekt seiner Gründungsgeschichte spielte im Selbstbild des Schutzbundes eine zentrale Rolle, ließ er ihn doch als eine originäre, authentische und defensive Reaktion auf die Umbruchsituation erscheinen. Unter diesen Vorzeichen wuchs die Zahl der Mitgliedsverbände rasch von 11 auf 62 im Jahre 1920, 96 in 1921 und 103 in 1922, und bis 1923 gehörten nahezu alle relevanten Organisationen der völkischen Rechten dem Schutzbund an oder standen ihm nahe.89 Anfängliche Versuche, gewerkschaftliche Funktionäre einzubeziehen und zu einer nationalen Mobilisierung der Arbeiterschaft zu bewegen, scheiterten im gleichen Zeitraum,90 während die Einbindung kirchlicher Organisationen beider Konfessionen, universitärer Wissenschaftler und radikaler Jugend- und Studentenbünde gelang. In gewisser Weise glich der Schutzbund einem organisatorischen Nachbau des jungkonservativen Konzepts des ‚Grenzlandes‘ als Regenerationsort der Nation. Gleichzeitig nahm er für sich in Anspruch, als eine den Staat erweiternde, jedoch nicht an seine territorialen Grenzen und rechtlichen Restriktionen gebundene, nicht den Versailler Vertrag erfüllende Körperschaft der Nation die Interessen des ‚Grenzlandes‘ zu vertreten. Die jährlichen Bundestagungen, die durch die Wahl des Ortes91 und durch Grußadressen der Reichsregierung, der regionalen Eliten und des Klerus eine enorme öffentliche Anerkennung erfuhren,92 bildeten hierbei Plattformen für die Hegemonialisierung eines panoptischen Grenzlandkonzepts und – dies ist entscheidend – dessen Ausformulierung auf der Mesoebene einer ‚West-‘, ‚Ost-‘, ‚Nord-‘ und ‚Süd(ost)mark‘. Damit einher ging eine Modernisierung des grenzlandpolitischen Diskursstils, deren Laboratorium die im Versailler Vertrag festgelegten Volksabstimmungen waren. War die Mobilisierung zur Abstimmung in Schleswig-Holstein im Februar und März 1920 noch von den dortigen Verbänden organisiert worden, so fungierte der Schutzbund im Vorfeld der Abstimmungen in Ost- und Westpreußen am 11. Juli 1920 und Oberschlesien am 20. März 1921 als eine semistaatliche „Zentralstelle“93 für die Erfassung, Mobilisierung und den Transport von rund 450.000 abstimmungs88 Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 9. 89 Ebd., S. 24, 31; Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Bericht über die zweite Bundestagung des Deutschen Schutzbundes zu Klagenfurt, 12. bis 19. Mai 1921, Berlin 1921, S. 60 (im Folgenden zitiert als: Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Zweite Bundestagung); ders. (Hrsg.), Die dritte Bundestagung, S. 36. 90 Vgl. exemplarisch die Diskussion zwischen Martin Spahn und dem Berliner Gewerkschaftsfunktionär A. Knoll auf der zweiten Bundestagung des Schutzbundes 1921 (Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Zweite Bundestagung, S. 9f) sowie das Schlusswort Knolls auf der gleichen Tagung (ebd., S. 59f). 91 Während die erste Bundestagung Pfingsten 1920 im Berliner Reichstag stattfand, hielt der Schutzbund seine folgenden ‚Pfingsttagungen‘ an Orten ab, die entweder Symbolorte des ‚Grenzkampfes‘ waren oder zu einem entsprechenden Abschnitt der Grenze in Beziehung gesetzt werden konnten. Dies waren: 1921 Klagenfurt, 1922 Allenstein (Ostpreußen), 1923 Flensburg/Hamburg/Sylt, 1924 Graz, 1925 Münster, 1926 Glatz (Oberschlesien), 1927 Regensburg, 1928 Essen. 92 So sandte Reichskanzler Cuno eine Grußadresse an die Flensburger Bundestagung 1923; im Rahmen eines anschließenden „Deutschen Tages“ in Hamburg erklärten die Kirchen das Kreuz zum Symbol des Schutzbundgedankens. Vgl. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), 4. Bundestagung, S. 31f. 93 Ebd., S. 14.
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berechtigten Deutschen in die Abstimmungsgebiete.94 Loesch beschrieb diese von hohem Zeit- und Erfolgsdruck geprägte Phase in kriegerischer Semantik als die Mobilmachung eines „neue[n] Heer[es]“ von „Heimatkämpfern, die bereit waren, der Abstimmungsfront zur Hilfe zu eilen“:95 „Eine völlig neue Organisation größten Umfanges war aufzubauen, die, wie ein engmaschiges Netz über das ganze Reich gezogen, die mühselige Ermittlungs- und Werbearbeit nach den Weisungen der Leitung leisten mußte. Der Deutsche Schutzbund errichtete dementsprechend Zweigstellen in den Ländern und Provinzen; er gründete im Verein mit Heimatorganisationen Vereinszweigstellen und Arbeitsgemeinschaften [...]. Ein Heer von Vertrauensleuten kam zusammen, um Stadt und Land bis auf das letzte Dorf zu erfassen.“96
Die Dynamik dieser Entwicklung bedingte eine plakative Inszenierung des Topos ‚Grenzland‘ auf der Grundlage neuer visueller Medien wie Karten, Fotografien und Filmen. Die Konzeptualisierung des Raumes und seiner Grenzen vollzog sich also nicht mehr allein argumentativ-textlich, sondern zugleich suggestiv-bildlich. Diese neue Medialität, auf die wir weiter unten noch eingehen werden, erleichterte es, einzelne Orte und Regionen zueinander in Beziehung zu setzen und zu Raumkonstrukten der Mesoebene, zu ‚Ost-‘ und ‚Westräumen‘, zu verschmelzen. Damit entfalteten Raumbilder auf der visuellen Ebene eine Wirkung, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch nicht durch eine wissenschaftliche Grenzlandforschung legitimiert waren – und es, um ihre unmittelbare politische Wirkung zu entfalten, auch nicht sein mussten.97 Gleichwohl forcierte der Schutzbund von Anfang an die Etablierung universitärer und außeruniversitärer Forschungsstellen für das ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘. Er war aufs engste mit dem im November 1920 gegründeten Politischen Kolleg unter der Leitung Spahns verflochten. In dieser jungkonservativen Denkfabrik, die in Konkurrenz zu Ernst Jäckhs Deutscher Hochschule für Politik auf die Schulung einer neuen politischen Elite zielte,98 unterhielt Boehm eine Arbeitsstelle für Nationalitätenpolitik, die zur Keimzelle seines 1926 gegründeten Instituts für Grenz- und Auslandsstudien wurde.99 Parallel dazu betrieb Loesch gemeinsam mit Albrecht Penck und Wilhelm Volz die Schaffung einer organisatorischen Plattform für politisch motivierte Grenzlandforschung, die 1923 in der Gründung der Mittelstelle für zwischeneuropäische Fragen mündete, bevor Volz drei Jahre später die Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung, den Nukleus der späteren Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, etablierte.100 Der 94
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In seinem Rechenschaftsbericht vor der 2. Bundestagung 1921 erklärte Loesch, es habe sich um den Transport solcher „Massen“ gehandelt, „wie sie in ähnlichem Umfange zu friedlichen Zwecken noch nie befördert wurden“. Vgl. Zweite Bundestagung, S. 60. – Vgl. auch Petzinna, Erziehung, S. 174. Loesch, Zehn Jahre, S. 14. Ebd., S. 15. Vgl. Guntram, Under the Map, S. 88ff. Vgl. hierzu Petzinna, Erziehung, S. 143-147. Ebd., S. 148, 205-215. Vgl. ausführlich Fahlbusch, Michael: Wo der deutsche ... ist, ist Deutschland!“. Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920-1933, Bochum 1994, hier: 63-71.
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Schutzbund trug damit maßgeblich zur Etablierung dieses Forschungsparadigmas in der grenzlandpolitischen Diskursgemeinschaft bei. Mit seinen ständigen Ausschüssen für Minderheitenrecht und Bevölkerungspolitik (einschließlich Siedlungspolitik) sowie durch unregelmäßige Fachtagungen schuf er weitere theoriebildende Plattformen für die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, politischen Akteuren und administrativen Experten. Mit den beiden Bänden Volk unter Völkern (1925) und Staat und Volkstum (1926) schließlich legte er zwei Sammlungen von Grundsatztexten vor,101 zu denen u.a. Pencks programmatischer Aufriss der Volks- und Kulturbodentheorie102 und eine erste Skizze von Haushofers Geopolitik der Grenzen103 zählten.
Der panoptische Raum und die „deutschen Westlande“ Die Westgrenze war nicht das erste und nie das einzige Thema des Schutzbundes. Allerdings leistete er eine Reihe wesentlicher Zwischenschritte von der ‚Westmark‘ der Vorkriegs- und Kriegszeit hin zu einem veränderten Raumkonzept. Grundlegend für dieses Konzept scheint zu sein, dass der Schutzbund die Westgrenze von Anfang an als Teil eines panoptischen Raumes vorstellte, der die Staats- und Sprachgrenze gleichermaßen überschritt und damit die von Boeckh gesetzte Begrenzung des territorialen Anspruchs a priori unterminierte. So sehr der Schutzbund auch die Bindung der ‚bedrohten‘ Grenzgebiete an das ‚Binnendeutschtum‘ in den Vordergrund stellte, öffnete er die Kategorien des ‚Grenz-‘ und ‚Auslandsdeutschtums‘ doch in radikaler Weise: „Grenzdeutsche“ seien, so Loesch auf der Klagenfurter Bundestagung 1921, nicht allein diejenigen, „welche an den Grenzen des Reiches“ oder „des zusammenhängenden deutschen Sprachgebietes wohnen“.104 Vielmehr gerieten Bevölkerungen in den Blick, die im Sinne der Boeckh’schen Nationalitätenstatistik definitiv nicht deutsch waren. Denn entscheidender als „die Umgangssprache“ sei, so Loesch, „das Wollen und das Gefühl, deutsch zu sein, auch wenn man zu Hause ein anderes Idiom spricht.“ Das ‚Grenzland‘ erschien also als ein letztlich voluntaristisch konstruierbarer Raum, dessen Substanz das zu mobilisierende „Bewusstsein“ seiner Bewohner unabhängig von ihrem Sprachgebrauch war, und entsprechend sah Loesch es als „Aufgabe des Grenz- und Auslanddeutschtums“ an, dieses Bewusstsein zu wecken.105 Wir werden sehen, dass der nationalsozialistische ‚Westraum‘-Diskurs des Zweiten Weltkrieges genau in diesem Sinne von den frankophonen Bevölkerungen der ‚Reichsromania‘ spechen
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Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern; ders. (Hrsg.), Staat und Volkstum. Penck, Deutscher Volks- und Kulturboden. Haushofer, Die geopolitische Betrachtung grenzdeutscher Probleme. – Die Bedeutung der Geopolitik in der Verwissenschaftlichung der Grenzlandideologie zeigte sich nicht zuletzt darin, dass der Schutzbund eine enge Arbeitsbeziehung zu Haushofers Praktischer Abteilung in der Deutschen Akademie unterhielt. Vgl. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Tätigkeitsbericht 1925/26, S. 4. So Loesch auf der 2. Bundestagung 1921; zit. n. ders. (Hrsg.), Zweite Bundestagung, S. 63. So Loesch auf der 4. Bundestagung 1923; zit. n. ders. (Hrsg.), 4. Bundestagung, S. 18.
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sollte. Dabei betrachtete der Schutzbund die „grenzdeutschen Stämme“106 nie isoliert, sondern setzte sie in einer panoptischen, nach Himmelsrichtungen strukturierten Ordnung zueinander in Beziehung. Dies evozierte die Vorstellung einer Korrelation, die die Westgrenze nicht nur, wie bei Ratzel, mit dem Zentrum des Organismus verband, sondern sie im Sinne Haushofers mit jedem anderen Ort und Konflikt des ‚Grenzkörpers‘ in Beziehung setzte, und zwar in eine Beziehung, die umso intensiver ausfiel, je zugespitzter und gewalttätiger sich die Situationen entwickelten: der Eskalation an Rhein und Ruhr entsprachen in dieser Logik nicht nur die Situationen in ElsassLothringen oder Eupen-Malmedy, sondern mehr noch die bewaffneten Kämpfe in Kärnten oder Oberschlesien.107 Eine solche panoptische Raumvorstellung war für sich genommen nicht neu – man denke etwa an Menzel, Boeckh, Ratzel, Braun und die alldeutschen Neuordnungskonzepte –, neu hingegen war, dass das Panoptikum mit dem Schutzbund ein politisches, organisatorisches und symbolisches Zentrum besaß. In gewissem Sinne hatte sich zwar auch der Alldeutsche Verband als ein überstaatliches Zentrum der Nation verstanden, doch wirkte er nicht über Netzwerke eigener und kollaborierender Organisationen systematisch und kontinuierlich in die Grenzgebiete hinein; statt diese durch lokal ansetzende Strategien und mithilfe lokaler Akteure gleichsam von unten auf zu durchdringen und zu organisieren, hatte er in der Hauptsache auf ihre Annexion ‚frei von Menschen’ gesetzt. Der panoptische Raum des Schutzbundes hingegen stellte sich als ein differenziertes institutionelles Gefüge dar, das die Grenzen in ihrer Gesamtheit integrierte und inszenierte. Der Schutzbund konzipierte das ‚Grenzland‘ (und sich selbst als ‚Grenzland‘) also nicht allein auf der Basis einer Divergenz der Territorien, einer Diffusion der Nation, einer Repräsentation des Raumes in der Linie oder einer organischen Gliederung und Belebtheit der Grenze, sondern zusätzlich nach dem Formierungsmodell, sprich als eine Struktur räumlich dislozierter und strategisch vernetzter Einrichtungen. Eine Konzeptualisierung des ‚Grenzlandes‘ auf dieser Grundlage setzte das eigene politische Denken und Handeln mit der Grenze in eins, indem sie es – wir kennen diesen Gedanken von Haushofer – als Revitalisierung und Wiederaneignung der ‚eigentlichen‘ und ‚wandelbaren‘ Grenze begriff.
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Zit. n. ders (Hrsg.), Zweite Bundestagung, S. 56. So war von der Westgrenze auf den ersten beiden Bundestagungen des Schutzbundes vor allem in Form von Lageberichten und Stimmungsbildern aus Elsass-Lothringen, dem Saarland, Eupen-Malmedy und dem besetzten Rheinland die Rede, die jedoch nie isoliert, sondern stets mit Blick auf die Situation aller deutschen Grenzgebiete erörtert wurden. In dieser Form berichtete Friedrich König auf der 1. Bundestagung 1920 über die Situation in Elsass-Lothringen und stellte die These auf, dass „jetzt das eigentliche Erwachen der Elsässer und Lothringer einzusetzen beginne und sie ihres gemeinsamen Schicksals und Berufs inne werden“ (zit. n. Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Die Erste Bundestagung, S. 53f). Ein Vertreter des Saargebietes plädierte für ein Unterlaufen der Eingliederung in das französische Zollsystem (ebd., S. 53). Auf der minderheitenpolitischen Ausschusssitzung behauptete der Westreferent Diffort des DSB, Frankreich und Belgien führten „in erster Linie“ einen Kampf gegen das deutsche Geistesleben, gegen den sich ein „heilige[r] Freiheitskampf“ der „betroffene[n] Bevölkerung“ richten müsse (zit. ebd., S. 60).
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In der Diskursgemeinschaft des Schutzbundes begegnet uns diese Vorstellung zunächst in Form eines Bedrohungsszenarios. Der Schutzbund unterstellte den früheren Kriegsgegnern, insbesondere Frankreich, im Westen und Osten Deutschlands eine neue Front zu formieren und Deutschland einzukreisen. Diese Einkreisung werde insbesondere von einer Institution forciert, und zwar der bereits vom VDA sowohl als Vorbild, als auch als Feind wahrgenommenen Alliance Française. Wir haben es also mit einer Projektion zu tun, die einerseits Frankreich als den eigentlichen Gegner im ‚Grenzkampf‘ auswies, wo auch immer dieser stattfand, und mit der Alliance Française andererseits eine Gegeninstitution des Schutzbundes identifizierte. Auf der ersten Bundestagung 1920 schlug Freiherr von Ritter daher vor, den Schutzbund „nach dem Muster der ‚Alliance Française‘ in Frankreich“ aufzubauen, da „die Franzosen“ sich auf diese Weise „überall nichtamtliche Vertretungen ihrer Interessen“ geschaffen hätten.108 Auf der Klagenfurter Bundestagung 1921 unterstellten Vertreter westpolitischer Verbände den Franzosen die Absicht, „das deutsche Volkstum“ der „Westmark“ durch eine kulturpolitische Durchdringung „ausrotten“ zu wollen.109 Das Bild der Westgrenze als neuer Front und der Alliance Française als feindlichem Vorbild wurde im weiteren Diskursverlauf zum Szenario eines Vernichtungsplans zugespitzt – zeitweise rassistisch übersteigert durch eine hysterische Berichterstattung über die vermeintliche Bestialität der im Rheinland eingesetzten französischen Kolonialtruppen.110 Nach dem Ende der Abstimmungskampagnen gab Loesch die Parole aus, dass der „eigentliche, systematische Vernichtungskrieg gegen ein geschlossen siedelndes Deutschtum“ jetzt erst beginne. Diese Vernichtungsobsession war ein gezielt eingesetztes Propagandamotiv zur grenzlandpolitischen Mobilisierung der Mehrheitsgesellschaft und zur Legitimation der im ‚Grenzlandkampf‘ eingesetzten Gewalt. Im Eröffnungsvortrag Entdeutschung und Abwehr der Allensteiner Bundestagung 1922 identifizierte Loesch zunächst Frankreich und Belgien sowie Polen und die Tschechei als die vier „Todfeinde“, die „das deutsche Volk planmäßig zu verkleinern, zu entdeutschen trachten.“ Loesch unterstellte dabei eine Verschwörung der „4 Feinde“.111 Denn wer die politische Entwicklung „von zentraler Stelle aus“, aus der Mitte des panoptischen Raumes gewissermaßen, beobachte, erkenne klar, „daß unsere Gegner ihren Entdeutschungskampf im Westen, im Osten, im Norden und Süden nach gemeinsamem Plane führen“ und die gleichen „Entdeutschungsmethoden“ anwendeten. Diese bestünden in einer Fortschreibung der „Kriegsschuld- und Greuelpropaganda“, in der Schaffung von Vorwänden für weitere Gebietsabtretungen unter der Last der Reparationen, der Bereitstellung wissenschaftlicher Legitimationen für die Assimilation von Deutschen, der Umdeutung konfessioneller in nationale Unterschiede, der Ausnutzung ökonomischer Überlegenheit sowie presse-, kultur- und schulpolitischen 108 109
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Zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Die Erste Bundestagung, S. 47. So der Geschäftsführer des Hilfsbundes der Elsass-Lothringer Gilg und ein anonymer Vertreter Eupen-Malmedys und des Rheinlandes, zit. n. ders. (Hrsg.), Zweite Bundestagung, S. 56f. Vgl. exemplarisch die Berichterstattung im Organ des Juni-Clubs: Anonymus: Weiße und farbige Franzosen am Rhein, in: Das Gewissen 2 (1920), Nr. 18, S. 4. Einen zeitgenössischen Überblick über die tatsächliche Lage bietet Allen, Die Besetzung des Rheinlandes, S. 248-253. Zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Dritte Bundestagung, S. 8.
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Maßnahmen. 112 Allerdings glaubte Loesch einen spezifisch westlichen bzw. östlichen Typus der ‚Entdeutschung‘ zu erkennen: „Der westliche ist der Typus der kinderarmen, aber kulturell hochstehenden Völker, der Franzosen und Belgier. Im Osten bedrohen uns die kinderreichen aber kulturarmen Slaven“.113 Explizit griff er auf das bevölkerungspolitische Argument der Vorkriegs- und Kriegszeit zurück: „Das europäische Frankreich mit seiner ständig absinkenden Geburtenzahl zählt etwa noch 26 Millionen eigentlicher Franzosen, während die Deutschen – ohne die deutschen Schweizer – immerhin noch einen geschlossenen Block von 75 Millionen Menschen in Mitteleuropa darstellen. Dies zahlenmäßige Mißverhältnis lastet auf den Franzosen wie ein Alpdruck. Da ihre Lenden keine Kinder hervorbringen, wollen sie das kinderreiche Volk unserer Westgebiete umgarnen. Durch Ueberredung, List, kulturelle und wirtschaftliche Verlockung, sowie durch Kauf von feilen Verrätern suchen sie mit dem deutschen Menschen auch den deutschen Boden, zunächst das ganze linke Rheinufer, welsch zu machen. Und die Belgier, als Nachäffer der Franzosen, unternehmen in Eupen-Malmedy, ja sogar in Aachen und am Niederrhein das Gleiche. Ihre Mittel sind: Unterdrückung wahrer Nachrichten, Zwang zur Veröffentlichung falscher Meldungen, Kunstausstellungen, unentgeltliche Sprachkurse, Banken, Handelskammern und vor allem Legendenbildungen, so z.B., daß der Preuße den Rheinländer knechte […]“114
Die kinderreichen Slawen hingegen setzten, so Loesch, auf „resolutere Methoden“ wie Wahlmanipulationen und „nackte Vertreibung der Deutschen von Haus und Hof. Es ist der Kampf um den landwirtschaftlichen Boden, an dem es mangelt.“115 Ullmann verdichtete das Phantasma der ‚Entdeutschung‘ zu einem Raumbild, das die Vorstellung eines dreifach gestaffelten Raumes von ‚Binnen-‘, ‚Grenz-‘ und ‚Auslandsdeutschtum‘ um einen vierten Kreis erweiterte: „Von Frankreich planmäßig gestützt, hat sich dort von den Ostseeländern bis nach Rumänien und Südslavien ein nur von Ungarn durchbrochener, sonst geschlossener Ring von Völkern gebildet, denen zweierlei gemeinsam ist: daß sie erst durch die deutsche Kultur mit Europa verbunden wurden, und daß sie ihren gemeinsamen Schulmeister in gleicher Weise hassen.“116
Diese um Deutschland gelagerte Formation gelte es umzukehren: „Erst aber, wenn wir die[.] wirkliche ‚Volksgemeinschaft‘ haben, wird sich in den deutschfeindlichen Ring um uns ein deutscher Außenring legen, der planmäßig in das feindliche Gebiet hineingebaut ist und genau das Gegenteil von dem bewirken wird, was der Versailler Vertrag bewirken wollte: Keine Verdorrung des Auslandsdeutschtums, sondern, von ihm ausgehend, Umstellung und Neubelebung des Binnendeutschtums.“117 112 113 114 115 116 117
Ebd., S. 10f. (Herv. i. Orig.) Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Hermann Ullmann bezeichnete diese Strategie als „Randstaaten-Methode“. Vgl. ebd., S. 22. Ebd. (Herv. i. Orig.)
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Damit war ein Deutungsrahmen gegeben, der sich ein Jahr später auf die eskalierende Situation an der Ruhr anwenden ließ. Folgerichtig schrieb Loesch die Feindbestimmung auf der Flensburger Bundestagung 1923 fort und zeichnete das Bild eines heroischen Abwehrkampfes der Deutschen an „Ruhr, Saar und Rhein“ gegen „Franzosen und Belgier“. Allerdings seien die Methoden des passiven Widerstandes nicht ausreichend, um „die deutsche Frage“ zu lösen. Erforderlich sei vielmehr ein gemeinsamer Kampf aller Deutschen außerhalb der ihnen „von irgendwelchen Staaten eingeräumten Formen“.118 Auf der Grundlage seiner „Abstimmungserfahrungen“ beteiligte der Schutzbund sich „an der staatlichen Werbearbeit für Rhein, Ruhr und Saar“ sowie an der ‚Separatistenabwehr‘.119 Er hoffte, die Auseinandersetzungen in eine ideologische Mobilisierung der Arbeiter im Sinne des ‚Geistes von 1914‘ überführen zu können, doch zerschlug sich diese Hoffnung mit der Auflösung der Bündnisse zwischen Kommunisten und Nationalisten nach dem Ende der Ruhrkrise rasch.120 Während der Auseinandersetzungen produzierte die Hauptgeschäftsstelle des Schutzbundes eine Vielzahl von Propagandabroschüren, Flugblättern und Postkarten,121 darunter erstmals auch eine in Massenauflage verbreitete Serie von Suggestivkarten.122 Nachdem auf der Grazer Bundestagung 1924 die „Zusammenhänge zwischen Kultur- und Schutzarbeit und der Abwehrkampf an der Westgrenze“ im Vordergrund gestanden hatten, bildeten die rheinischen Jahrtausendfeiern den Anlass, die Bundestagung 1925 an der „Grenze des besetzten Gebietes“, nämlich in Münster, durchzuführen123 und an der Vorbereitung der Jahrtausendfeiern mitzuwirken.124 In diesem Rahmen forcierte der Schutzbund ein kulturwissenschaftlich fundiertes Bild der ‚deutschen Westlande‘ und kombinierte es mit den bekannten demographischen Spekulationen. Bereits 1921 hatte der frühere Straßburger Historiker und Leiter des Politischen Kollegs, Martin Spahn, eine kulturwissenschaftliche Annäherung an die Westgrenze vorgetragen, indem er sie als einen Kernraum der deutschen Nation interpretierte und die Wechselbeziehung zwischen Westen und Osten betonte. Die deutsche Geschichte, so argumentierte er, unterscheide sich von der aller übrigen europäischen Völker dadurch, dass die Deutschen ihr Reich nicht „von einem geographischen Mittelpunkte aus“, sondern „von der Westgrenze“ ihrer „völkische[n] Ausdehnung“ her hätten aufbauen müssen. „Das Romanentum aber drängte allmählich über den Rhein nach, wir schienen uns dagegen nur schützen zu können, indem wir uns immer mehr germanische Elemente nord- und ostwärts angliederten.“ Sei es im Mittelalter noch gelungen, dem romanischen Druck das „gewaltige Werk der ostelbischen Kolonisation“ entgegenzustellen, stelle sich die neuzeitliche Geschichte als ein
118 119 120 121
122 123 124
Zit. n. ders. (Hrsg.), 4. Bundestagung, S. 17. Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 27. Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 187. Allein die Broschüre Französische Mordbrenner am Rhein (hrsg. v. Deutschen Schutzbund, Berlin 1923) erreichte eine Auflage von 215.000 Exemplaren. Vgl. ebd. Vgl. Vogel, Walter: Frankreichs Länderraub seit 1000 Jahren, in 10 Karten dargestellt, hrsg. v. Deutschen Schutzbund, Berlin 1923. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Tätigkeitsbericht 1925/26, S. 6. Vgl. Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 33.
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„Rückschlag“ dar, durch den „wir unschätzbar wertvolle Außenposten“, nämlich „die Rheinmündung“ und „die deutsche Schweiz“, verloren hätten. Die „Kernfrage“ laute daher, „ob uns der Wieder-Zusammenschluß mit diesen Volksgenossen zu einem großen Ganzen versagt bleiben wird.“125 Bereits in dieser Rohfassung eines kulturwissenschaftlichen Raumkonzepts ging es Spahn also nicht um die Revision des Versailler Vertrages, sondern die Revision der gesamten neuzeitlichen Grenzziehung. Der Gießener Oberlehrer Friedrich König, ein Weggefährte Loeschs aus der Gründungsphase des Schutzbundes,126 entwickelte dieses Raumbild auf der Flensburger Bundestagung 1923 zum Konzept eines „deutschen Westens“ weiter, der sich nicht innerhalb des bestehenden Reiches, sondern zwischen seiner mittelalterlichen und seiner modernen Westgrenze erstrecke. Innerhalb dieses Zwischenraumes stünden Flandern, Luxemburg, Lothringen, Elsaß, die deutschsprachige Schweiz und Holland in einer je spezifischen Beziehung zum Reich, die entweder ihren Anschluss oder ihre Eigenstaatlichkeit legitimiere.127 Im Kontext der Jahrtausendfeiern gestaltete König dieses Raumbild zum Konzept der „Westlande“ aus.128 Dabei adressierte er nicht allein die Diskursgemeinschaft des Schutzbundes, sondern wandte sich ebenso an die historiographische und geographische Fachwelt, die neu eingerichtete Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit und den antisemitischen Kyffhäuser-Verband der VDSt. König definierte den gesamten Raum zwischen der mittelalterlichen und aktuellen Reichsgrenze nun als deutschen Volksund Kulturboden.129 Dies bedeutete eine richtungsweisende Korrektur der viel zitierten Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens,130 die Penck 1925 für Loeschs Volk unter Völkern entworfen hatte. Denn in dieser ursprünglichen Fassung suggerierte sie eine (im Gegensatz zum Osten) glatte Westgrenze des ‚deutschen Volksbodens‘, der mit Ausnahme der bereits von Nabert kartierten lothringischen Mischgebiete keinerlei ‚Kulturboden‘ vorgelagert war. Für König hingegen bestand ein solcher, weit nach Westen 125 126
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129 130
So Martin Spahn im Eröffnungsvortrag Die weltpolitische Lage Deutschlands, zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Zweite Bundestagung, S. 6f. König gehörte dem Gründungskreis des Schutzbundes an (vgl. Loesch u.a., Zehn Jahre, S. 12); er war außerdem stellvertretender Vorsitzender des von Loesch geleiteten kurzlebigen Nationalbundes (gegr. 21. Dezember 1918), vgl. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Führer durch den Deutschen Schutzbund, S. 36. So Friedrich König im Vortrag Wert und Gefahren des Heimatgedankens; zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), 4. Bundestagung, S. 26f. Hierzu gehören: König, Friedrich: Vom alten deutschen Reichs- und Volksland im Westen, in: Volz (Hrsg.), Der westdeutsche Volksboden, S. 62-105 (im Folgenden zitiert als: König, Reichs- und Volksland im Westen); ders.: Reich und Volk im Westen, in: Berensmann u.a. (Hrsg.), Deutsche Politik, 4. Teil, S. 3-13 (im Folgenden zitiert als: König, Reich und Volk im Westen); ders.: Die deutschen Westlande (Taschenbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, Heft 3), in Verbindung mit A. Hillen Ziegfeld und Heinz Hendriock hrsg. v. K. C. von Loesch, Berlin o.J. [1925] (im Folgenden zitiert als: König, Die deutschen Westlande). Vgl. hierzu Volz, Wilhelm: Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Der westdeutsche Volksboden, S. 5. Penck, Albrecht/Ziegfeld, Arnold Hillen: Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens, in: Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern, S. 72 (im Folgenden zitiert als: Penck/Ziegfeld, Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens).
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ausgreifender ‚Kulturboden‘, den er in wechselnden Formulierungen als „westliche[n] Reichsboden“,131 „deutsche[s] Reichs- und Volksland im Westen“,132 „westliche deutsche Volkheit“,133 „germanische Westlande“134 oder schlicht „Westgermanien“135 bezeichnete. Diese Begriffswelt ermöglichte es, von den Niederlanden, Luxemburg und der Schweiz als „Staatswesen deutscher Volkstumsgrundlage“ zu sprechen, die dem Deutschen Reich als „Vorlande“ vorgelagert seien136 und seine „Westmark“137 bildeten. Auch hier war der Begriff ‚Westmark‘ vom Konzept der ‚Militärgrenzen‘ entkoppelt und fungierte als Synonym für die ‚Westlande‘. In Königs Raumbild hatte sich eine ursprünglich stabile Ordnung der ‚Westlande‘, die durch die Zugehörigkeit eines geschlossenen reichsromanischen Gürtels von der Nordsee bis zu den Alpen gekennzeichnet gewesen sei, sukzessive in einen entgegengesetzten Zustand der Unordnung verkehrt, in dem ein geschlossener deutscher Gebietsstreifen unter französischen Einfluss geraten sei: „Frankreich hat sich [...] mit der Eroberung Romaniens nicht begnügt. Es hat nicht halt gemacht an der natürlichen Grenze, die die Völker scheidet, an der Sprachgrenze; es hat vielmehr, von dem Verlangen nach der Rheingrenze als der ‚natürlichen Grenze‘ Frankreichs besessen, seine Herrschaft auf germanischen Volksboden ausgedehnt. Es hat so einen Gürtel germanischen Volksbodens gewonnen, der vom Meere bis zum Jura reicht.“138
Die Konflikte der Nachkriegsjahre waren für König also Stationen eines epochenübergreifenden Transformationsprozesses, der die ‚deutschen Westlande‘ gleichsam in ‚französische Ostlande‘ verwandelte. König rekurrierte damit auf Riehls Konzept der ‚Frontumkehr‘, und ähnlich wie dieser, setzte er die Umkehr der räumlichen Geometrie mit einer Umwandlung der deutschen „Volkheit“ in eine „civilisation française“ in eins. Hinter der Vielzahl der französischen An- und Übergriffe auf die deutschen ‚Westlande‘ und ihre ‚Volkheit‘ verbarg sich für König eine im Hochmittelalter entwickelte und seitdem ständig verfeinerte Strategie. Diesem ‚Entdeutschungsplan‘, um mit Loesch zu sprechen, stellte er jedoch drei historische Situationen gegenüber: zum einen den Versuch Heinrichs I., die „Westlande“ mit straffer Hand zu 131 132 133
134 135 136 137
138
König, Reichs- und Volksland im Westen, S. 72. Ebd., S. 62. Ders.: Die Bedeutung des Westens für die deutsche Volkspolitik. Vortrag auf der Schutzbundtagung in Essen 1928, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 569584, hier: 571 (im Folgenden zitiert als: König, Bedeutung des Westens). Ders., Reichs- und Volksland im Westen, S. 92. Ebd. König, Bedeutung des Westens, S. 547ff. König selbst verwendete den Begriff ‚Westmark‘ nicht, allerdings wurde sein Beitrag im völkischen Schulungshandbuch Deutsche Politik des KyffhäuserVerbandes (König, Volk und Reich im Westen) von den Herausgebern mit der Kopfzeile „Westmark“ versehen. Weitere Beiträge waren Schleswig als der „Nordmark“ (Schmidt-Wodder, Johannes: Die deutsche Nordmark, in: Deutsche Politik, 4. Teil, S. 14-19), dem Baltikum und Polen als der „Ostmark“ (Anonymus: Die preußisch-deutsche Ostmark, in: ebd., S. 20-30), und dem Donauraum als der „Südostmark“ (Hübler, Rudolf: Die deutsche Südostmark, in: ebd., S. 31-37) gewidmet. König, Reichs- und Volksland im Westen, S. 104. (Herv. i. Orig.)
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einem „schützenden Wall um die offene Flanke des Reiches“139 zu formieren; zweitens die in bestimmten historischen Situationen aufscheinende Möglichkeit einer militärischen Rückeroberung der ‚Westlande‘ und schließlich die Herausbildung des völkischen Nationskonzepts in der deutschen Romantik. Die Möglichkeit einer militärischen Rückeroberung sah König zum ersten Mal 1356 gegeben, als Frankreich, geschwächt durch den Hundertjährigen Krieg, „hinter Schelde, Maas, Saône und Rhône zurückgesunken“ war. Allerdings sei „die günstige Gelegenheit ungenutzt“ verstrichen, weil „Kaiser und Reich“ nicht die Kraft zum „machtvollen politischen Gegenschlag“ aufgebracht hätten.140 Eine zweite Gelegenheit habe sich ebenfalls durch äußere Umstände ergeben: Durch die Siege Marlboroughs und des Prinzen Eugen über die Truppen Ludwigs XIV. im Jahr 1709 „schien [...] der Augenblick gekommen, die alte Reichsgrenze im Westen wieder aufzurichten; aus dem Elsaß, der Freigrafschaft, den drei Bistümern [Verdun, Toul und Bar], aus Luxemburg und Lothringen sollte, so hoffte man, die mächtige Barriere werden, die Frankreich den Eintritt ins Reich künftighin verwehre“, doch mündete dieses „meteorische[.] Aufleuchten“ bereits ein Jahr später in neuerlichen Verlusten deutschen „Reichsbodens“. Eine dritte Gelegenheit erwartete König nun für die Zukunft. Der unter französischen Einfluss geratene „Grenzstreifen germanischen Landes“ verhieß für ihn allein „kraft des Blutes und der Sprache seiner Menschen“ eine „germanische Zukunft“, die zu realisieren die „Aufgabe“ aller Deutschen sei.141 Den Ausgangspunkt dieser Expansion sah König im Widerstand gegen den Versailler Frieden und die Besetzung des Rheinlandes: „Die Seelen der Deutschen, sie stehen heute am Rhein und hüten den deutschen Volksboden, auf dass er die Zeit der Qualen überstehe, und Volk-Deutschland einst erstehe im dritten Reich.“142 Die auf die nationale Selbstvergewisserung der Rheinprovinz bezogene und damit in gewissem Sinne introvertierte Geschichtsdeutung der Jahrtausendfeiern war damit ins Expansive gewendet, wenngleich König relativierend anmerkte, dass „der Hinweis auf unser historisches Recht auf die alte Reichsgrenze“ für „uns Deutsche“ zwar „bedeutsam“ sei, es politisch jedoch um die Herstellung einer Grenze gehen müsse, „die den deutschen vom romanischen Volksboden scheidet“.143 Neben dieser geographischen verfügte Königs Raumkonzept über eine zweite, politisch-soziologische Ebene. Frankreich war auf dieser Ebene nicht nur deshalb der Feind, weil es eine Expansion vollzogen habe und weiterhin expandiere, sondern ebenso sehr, weil es „heute weniger denn je zu einem Kompromisse mit dem Volkstumsgedanken Mittel- und Osteuropas bereit“ sei.144 König folgerte hieraus eine Frontstellung gegen die „civilisation française“, deren vermeintlich aggressives Vordringen er auf die „Blutleere“ der französischen Gesellschaft infolge des Geburtenrückganges zurückführte. Er denunzierte die „civilisation française“ als ein Lockmittel, mit dem Frankreich die Oberschichten der ‚Westlande‘ „von ihrem Volkstum“ ablöse und „ins französische Zivilisationsreich“ hinüberziehe. Der Kampf um die ‚Westlande‘ war aus dieser Sicht also nicht mit der Herstellung einer neuen germa139 140 141 142 143 144
Ebd., S. 74. Ders., Volk und Reich im Westen, S. 6. Ders., Reichs- und Volksland im Westen, S. 104f. Ders., Volk und Reich im Westen, S. 9. Ders., Reichs- und Volksland im Westen, S. 91. Ders., Bedeutung des Westens, S. 571.
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nisch-romanischen Grenze beendet, sondern hatte sich zusätzlich gegen die Überlagerung einer „deutschen“ Bevölkerungsmehrheit durch eine französische „Oberschichtzivilisation“ zu richten,145 die „mit ungeheurer Wucht“ auf „den Landen vom Jura bis nach Dünkirchen“ laste.146 Der deutsch-französische Kampf war damit in eine Konfrontation sozialer Schichten übersetzt, in der bodenständig-bäuerliche und ständisch-städtische Schichten einer feindlich gewordenen urbanen Bourgeoisie gegenüber standen. Ungeachtet ihrer sprachlichen Zugehörigkeit war „die Bourgeoisie der westgermanischen Länder“ für König „in den Gesellschaftskörper Frankreichs eingegliedert“ und zu einem „Medium“ umgeformt worden, „durch das hindurch Frankreich seine Departements im Osten beherrscht“. Je nach sozialer Schicht – ob bäuerlich, ob bourgeois – stellte sich damit auch der Verlauf der Volksgrenze anders dar. König brachte dies in der Vorstellung eines über die Staats- und Sprachgrenzen hinausgreifenden „Kranzes“ französischer Städte zum Ausdruck, wobei er das Verdikt gegen den bourgeois auf die cité übertrug: „Die Stadt ist der Sitz der neuen [bourgeoisen] Gesellschaft. Nicht nur die wallonischen Städte Lüttich und Namur, auch die flämischen Antwerpen, Brügge, Gent, Brüssel, sie werden von dem neuen Geist ergriffen und ordnen sich willig Paris unter, gleich Lille, Roubaix, Valenciennes jenseits der Grenze. Und ebenso ist es in den Städten hochdeutschen Bereichs. Nicht nur Metz, Nancy, St. Dié, Epinal, auch Luxemburg, Diedenhofen und die kleinen lothringischen Städtchen, auch Straßburg, Colmar und Mülhausen und die vielen kleinen elsässischen Gemeinwesen, sie werden Sitze der neuen Bourgeoisie und fügen ihr Land seelisch in die ‚nation une et indivisible‘ ein. Es legt sich so diesseits der Sprachgrenze ein Kranz von bourgeoisem Geiste erfüllter städtischer Gemeinwesen germanischer Wurzel wie zum Schutze um die romanische Welt und sichert ihr die politische Herrschaft auch außerhalb ihres eigentlichen Bereichs.“147
Die ‚Westlande‘ stellten sich damit auch als ein ideologischer Divergenzraum dar, dessen Grenze durch die Reichweite der entgegengesetzten Nationsentwürfe in den Raum der jeweils anderen Nation definiert war. Entgegen ihrer ursprünglichen Homogenität waren die ‚Westlande‘ der Gegenwart also in höchstem Maße gespalten: ihre staatliche Zugehörigkeit spiegelte nicht ihre kulturelle Zugehörigkeit wieder, die ihrerseits in unterschiedliche soziale und politische Identitäten zerfiel; es wurden Regionen und Städte denkbar, die in staatlicher, sprachlicher, sozialer und politischer Hinsicht unterschiedlichen Nationen angehörten – eine in ihr Gegenteil verkehrte Ordnung also auch in soziokulturellem Sinne. Als positives Gegenbild dieses entgliederten Raumes beschrieb König, und hier schloss er von neuem an die Jahrtausendfeiern an, „die deutschen Rheinlande“. Nur in ihnen habe nicht die „civilisation française“, sondern die Politische Romantik die Oberhand gewonnen, und nur sie seien daher wieder das geworden, „was sie einst im Mittelalter gewesen sind: das Herzland deutschen Lebens.“148 Das von König eher beiläufig aufgegriffene Argument des demographischen Niedergangs der Franzosen erfuhr durch den Schutzbund eine rich145 146 147 148
Ebd. Ders., Die deutschen Westlande, S. 13. Ebd., S. 19. (Herv. i. Orig.) Ebd.
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tungsweisende Aktualisierung. In Volk unter Völkern analysierte der spätere Leiter des Bevölkerungspolitischen Ausschusses des Schutzbundes, der Mediziner und Eugeniker Hans Harmsen, die französische Bevölkerungsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert.149 Im Vorgriff auf seine 1926 von der Universität Marburg angenommene Dissertation legte er dar, dass die französische Geburtenziffer seit den 1890er Jahren „dicht unterhalb der für die Bestandserhaltung des Volkstums notwendigen Höhe“ liege. Die für Europa typische Binnenmigration vom Land zur Stadt werde für Frankreich „zu einer äußerst bedrohlichen Erscheinung, weil die Geburtenzahl der ländlichen Bevölkerung nicht mehr ausreicht, um die städtische Anziehungskraft zu befriedigen und gleichzeitig zahlenmäßig die Landbevölkerung zu erhalten“. So sei eine Entwicklung eingetreten, „die wir am besten mit dem Begriff der Untervölkerung, des Bevölkerungsschwundes und der Landverödung zusammenfassen.“ Gravierend seien die Folgen vor allem für die Landwirtschaft, die durch einen „Rückgang der landwirtschaftlich genutzten Bodenfläche“ und eine „geradezu unerhörte[.] Bodenentwertung“ gekennzeichnet sei. Auf Veranlassung der Industrie habe der französische Staat zwar eine Reihe sozialpolitischer Maßnahmen ergriffen, doch seien die „durch Binnenwanderung entstandenen Hohlräume“ seit den 1860er Jahren vor allem durch fremde Arbeitskräfte aufgefüllt worden. Harmsen wertete das „Anwachsen der Fremdenziffer“ als „Umvolkung“ und „Zurückdrängung des eigentlichen Franzosentums“. Allerdings verwies er auf die außerordentliche „Assimilationsfähigkeit“ des „französischen Romanentums“ und erklärte es für „völlig irrig, aus dem Zusammenbruch des französischen Volkstums auf einen baldigen Zerfall des Staates, des ‚imperium gallicum‘ schließen zu wollen.“150 Aber: „Europa steht an der Schwelle einer neuen Völkerwanderung. Fremde Völker rücken in das verödete Südfrankreich, das älteste europäische Kulturgebiet, ein. Der Wall, den Karl Martell gegen das vordringende Afrika schuf, stürzt. Die nächste Wirkung wird zunächst in einer weiteren Verschlechterung der französischen Rasse und einer damit verbundenen Veränderung und Verschiebung seiner volklichen Struktur liegen, die weitere Rückwirkungen auf das heutige Europa ausstrahlen wird. Dieser Zusammenbruch des französischen Volkstums, der oben zu schildern versucht wurde, bedeutet natürlich nicht gleichzeitig den Zusammenbruch des französischen Staates.“151
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Harmsen, Hans: Bevölkerungsprobleme Frankreichs, in: Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern, S. 339-349 (im Folgenden zitiert als: Harmsen, Bevölkerungsprobleme Frankreichs). Harmsen, Hans: Bevölkerungsprobleme Frankreichs unter besonderer Berücksichtigung des Geburtenrückganges, Berlin 1927 (Diss. Marburg 1926), S. 196-199. Vgl. auch ders.: Die französische Sozialgesetzgebung im Dienste der Bekämpfung des Geburtenrückganges, Berlin 1925; ders./Loesch, Karl C. (Hrsg.): Die deutsche Bevölkerungsfrage im europäischen Raum (Beihefte der Zeitschrift für Geopolitik), Berlin 1929. – Nicht aufgegriffen ist das Frankreich-Thema in dem von Harmsen mitherausgebenenen internationalen Tagungsband: Bevölkerungsfragen. Bericht des Internationalen Kongresses für Bevölkerungswissenschaft, Berlin, 26. August - 1. September 1935, hrsg. i.A. des Präsidenten u. des Arbeitsausschusses v. Hans Harmsen u. Franz Lohe, München 1936. Harmsen, Bevölkerungsprobleme Frankreichs, S. 349.
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Auf der Glatzer Bundestagung des Schutzbundes 1926 zeichnete Harmsens akademischer Lehrer, der Sozialhygieniker und Verfechter radikaler eugenischer Positionen Alfred Grotjahn,152 das Bild eines Frankreich, dessen „Siegerstellung“ nicht von langer Dauer sein könne, da „seine imperialistische und militaristische Politik sich auf einer sehr schwachen bevölkerungspolitischen Grundlage aufbaut.“ Allerdings gab der frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete zu bedenken, dass der französische Geburtenrückgang ein Phänomen aller westlichen Industriestaaten wiederspiegle und Frankreich „den Kampf gegen den Geburtenrückgang ernstlich aufgenommen“ habe.153 Frankreich erschien also als ein Koloss auf tönernen Füßen, der nach seinen schweren Kriegsverlusten nun an einem Scheideweg stünde: entweder er werde seine demographischen Probleme durch bevölkerungspolitische Maßnahmen in den Griff bekommen, oder er werde sie mit einem umso aggressiveren ‚Imperialismus‘ solange überspielen, bis das „Imperium Gallicum“154 wie das Imperium Romanum kollabiere. Im Kontext des Schutzbundes begegnet uns 1927 zum ersten Mal auch der Neologismus „Westraum“. Hans Eibl definierte ihn auf der Regensburger Bundestagung als einen von „drei Schicksalsräume[n]“, in denen sich jeweils „eine besondere Idee von der Sendung des ganzen Volkes“ abbilde. Der panoptische Raum zerfiel also in drei Richtungsräume der Mesoebene, die je auf ihre Weise die Nation repräsentierten. Während der „Nordostraum“ für die „Ausstrahlung christlich-germanischen Geistes“ in die „slawische Welt“ und den „skandinavischen Norden“ und der „Südostraum“ für den „Schutz des Abendlandes gegen die Stämme aus dem Osten“ stehe, sei der „Westraum“ durch die „Übernahme der spätrömischen Kultur und die Ausgleichung zwischen ihr und dem germanischen Westen“ gekennzeichnet.155 In dieser frühen Lesart findet sich Riehls Motiv des ‚Zwischenlandes‘ wieder, doch ist es vom Elsaß auf den gesamten Raum übertragen. Und mehr noch: Germanisches und Romanisches sind nicht antagonistisch gegeneinander gestellt, sondern amalgamierend zueinander in Beziehung gesetzt, und der so konstituierte Westen erscheint als kulturelle Basis und historischer Kern der beiden anderen, nach Nordosten und Südosten weisenden Sektoren des nationalen Raumes. Doch blieb diese Imagination eines germanisch-romanischen Kernraumes im Westen der deutschen Nation zunächst minoritär. Die transformierte Westgrenze stellte sich der Diskursgemeinschaft des Schutzbundes, wie wir gesehen haben, vor allem als westlicher Abschnitt eines panoptischen Raumes dar, in dem sich die Formationen eines feindlichen ‚Entdeut152
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Grotjahn plädierte in einer im gleichen Jahr erschienenen Monographie für eine eugenische Bevölkerungspolitik, die auf Zwangssterilisationen, Zwangsasylierungen und ähnliche Gewaltmaßnahmen gegen Behinderte beruhte: Grotjahn, Alfred: Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik, Berlin u.a. 1926. Grotjahn auf der Sitzung des Bevölkerungspolitischen Ausschusses während der Schutzbundtagung in Glatz; zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Die siebente Bundestagung des Deutschen Schutzbundes, Glatz 1926, Berlin 1926. Harmsen, Bevölkerungsprobleme Frankreichs, S. 349. So Hans Eibl in seinem Vortrag Sinn des deutschen Schicksals, in: Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Die achte Bundestagung des Deutschen Schutzbundes, Regensburg 1927, Berlin 1937, S. 8.f (im Folgenden zitiert als: Deutscher Schutzbund [Hrsg.], Achte Bundestagung)
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schungsplanes‘ und einer eigenen Grenzlandpolitik überlagerten und in dem sie aufeinander einwirkten. Hatte zunächst das Bild eines fortdauernden Krieges zwischen dem Schutzbund als Repräsentant der deutschen Nation und der Alliance Française als Inbegriff des französischen Feindes dominiert, so war es mehr und mehr das Bild einer sich aus dem ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ heraus konstituierenden ‚Volksgemeinschaft‘ auf mitteleuropäischem ‚Kulturboden‘ und mit minderheitenrechtlicher Mission, das den konkreten europapolitischen Ordnungs- und Einigungskonzepten Frankreichs gegenübergestellt wurde, die mit der Erosion der französischen Siegerstellung infolge der demographischen Entwicklung ebenfalls erodieren müssten. Die ‚Westlande‘ bildeten in dieser Lesart den Austragungsraum eines Kampfes um die Hegemonie der Europakonzeptionen, doch spielte sich der Kampf nicht allein im geographischen Raum ab, sondern stellte sich auf territorialer, sozialer, politischer und ideologischer Ebene unterschiedlich dar: Räumliche Grenzen entsprachen nicht den mentalen Orientierungen, die imaginierte Geographie der Landbevölkerung nicht derjenigen der städtischen Oberschicht, und Flächen nationaler Zugehörigkeit waren von Netzen anders gearteter Orientierungen überzogen. Wir haben es also mit einem mehrschichtigen Raumbild zu tun, in dem zahlreiche Elemente der bislang umrissenen Konzeptionen miteinander kombiniert waren: Riehls Vorstellung einer Umkehr der politischen Geometrie des Grenzlandes findet sich ebenso wie Ratzels Betonung der Dynamik und Treitschkes Interesse an der Entwicklung der Geburtenzahlen, und Menzels Anspruch auf den romanischen Grenzstreifen des mittelalterlichen Reiches ebenso wie der klassische Rekurs auf die Sprachgrenze oder Haushofers Gleichsetzung des Kampfes um die Grenzen mit dem Kampf für das ‚Dritte Reich‘. In Verbindung mit der semantischen Aufladung des ‚Grenzland‘-Begriffs durch die jungkonservative Bewegung ergab sich ein breites diskursives Feld, das eine sehr viel größere Zahl regionaler Konkretisierungen, symbolischer Inszenierungen, ideologischer Anschlüsse und politischer Praxen zuließ als die eindimensionalen Raumkonzepte der Kriegszielbewegung. Wir werden nun untersuchen, in welcher Weise die Generation des Unbedingten im Gefüge des Schutzbundes diese Diskurse zum Konzept des ‚Westlandes‘ (im Singular) und des ‚Westraumes‘ verdichtete.
D i e D i sk u r s g e m e i n sc h af t „ J u g e n d g r e n z la n d a r b e i t“ Die Zeitschrift „Volk und Reich“ als Kristallisationspunkt des radikalen Grenzlandaktivismus Es war vor allem die Generation jüngerer und radikalerer Grenzlandaktivisten, die das ‚Westland‘-Konzept maßgeblich prägte. Die Zeitschrift Volk und Reich156 spiegelt diesen Konzeptualisierungsprozess wieder und erlaubt es aufgrund ihres kontinuierlichen Erscheinens von 1925 bis 1944 zugleich, die Raumkonzepte auf den beiden Zeitebenen der ‚Jugendgrenzlandarbeit‘ 156
Vgl. Müller, Thomas: Volk und Reich, in: Haar u.a. (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 700-704.
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der späten 1920er Jahre und der ‚Neuordnungs‘-Pläne der frühen 1940er Jahre zu analysieren. Dies wird dadurch erleichtert, dass die Zeitschrift von Anfang an als grenzlandpolitisches Schulungsmedium der radikalen Jugendund Studentenbünde fungierte und damit als repräsentativ für die ‚Jugendgrenzlandarbeit‘ angesehen werden darf. Es bestand eine kontinuierliche redaktionelle und verlegerische Leitung durch Friedrich Heiß, einen biographisch zwischen Front- und Nachkriegsjugend stehenden Funktionär an der Schnittstelle von Schutzbund und Studentenbünden; hinzu kam ein stabiler Autorenstamm, dem unter anderem Loesch, Boehm, Spahn, Lange, König und Karl Haushofer angehörten. In der Selbstinszenierung ihres Gründers Heiß157 begann die Vorgeschichte von Volk und Reich mit einem Aufruf an die deutsche Jugend, den er unter dem Eindruck der Versailler Verhandlungen am 17. Mai 1919 im Deutschen Mittelschüler veröffentlicht hatte. Ausgehend von einer pathetisch vorgetragenen Kritik an der sich abzeichnenden Nachkriegsordnung hatte er das Bild einer systematischen Vernichtung alles Deutschen gezeichnet, dem er durch eine antisemitische Konnotierung Nachdruck zu verleihen suchte. Gegen die „Herren in Versailles“ und ihren Willen, „das deutsche Vaterland zur Schacherware internationaler Geldmenschen“ zu machen, setzte er den „völkischen Glauben“ der jungen Generation.158 Wenngleich es keine Belege für eine breitere Rezeption des Aufrufs gibt, wertete Heiß ihn rückblickend als Beginn eines Sammlungsprozesses der „jungen Kräfte des Widerstandes“ in Bünden wie dem Wandervogel, dem Jungdeutschen Bund, der Südmärkischen Jugendgemeinschaft und der österreichischen Gruppe des Bundes Oberland, der er selbst angehörte.159 Die Aktivitäten konzentrierten sich, so Heiß, zunächst auf den Aufbau
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Friedrich Heiß besuchte von 1915 bis 1918 die Prager Kadettenschule und schloss sich nach krankheitsbedingter Entlassung während der Revolution dem Linzer Schutzbataillon an. Nachdem er einen Monat später die Matura an der Kadettenschule Wien abgelegt und damit den Rang eines Fähnrichs erworben hatte, wurde er in verschiedenen Bünden der studentischen, völkischen und paramilitärischen Rechten aktiv, in denen er sich zunächst aus einer österreichisch-deutschnationalen Perspektive der Grenzlandpolitik zuwandte. Vgl. hierzu: Hugin [Pseud.]: Friedrich Heiß (Kämpfer für deutsches Volkstum im Grenz- und Ausland, Teil 23), in: Vossische Zeitung v. 1. Juni 1933 (im Folgenden zitiert als: Hugin, Heiß), Zeitungsausschnitt, PAAA R 60347, n.p.; Vermerk betr. Biographische Angaben von Friedrich Heiß, erhalten am 5. November 1966, AdJB, UG5 Heiß Friedrich, n.p.; Heiß an Reichsjugendführung, Obergebietsführer Nabersberg, 26. Oktober 1934, in: Denkschrift [ohne Herausgeber und Titel, betr. Spruch des Bundesehrenrats der Deutschen Gildenschaft v. 26. April 1934 gegen Heiß u.a., Mai 1934], S. 17, PAAA, R 60347, n.p. Zit. n. Heiß, Friedrich: Zehn Jahre „Volk und Reich“, in: Um Volk und Reich. Zehn Jahre Arbeit des Volk und Reich Verlages, Berlin 1935, S. 11-34, hier: 13f (im Folgenden zitiert als: Heiß, Zehn Jahre). Seit 1912/13 gehörte Heiß dem Wandervogel an. Während seines Studiums an der Universität Wien (1919-23) war er außerdem Mitglied der Hilfsstelle für Südböhmen, des Deutschen Mittelschülerbundes und des Deutschen Schulvereins, der seinerseits eng mit dem deutschen VDA verbunden war. Vgl. Thums, Karl: Friedrich Heiß – 70 Jahre, in: Blätter der Deutschen Gildenschaft 10 (1967), S. 36ff, hier: 37 (im Folgenden zitiert als: Thums, Heiß); Hugin, Heiß.
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einer „Kampffront“, die 1920 unter der Hakenkreuzfahne „gegen die Überfremdung der Wiener Hochschule“ und „der Stadt“ agitiert habe.160 Wie Heiß die grenzlandpolitische Mobilisierung in Österreich auf eine initiale ‚Tat‘ – den Aufruf an die deutsche Jugend – zurückführte, so setzte er auch ihre Verbindung mit dem deutschen Grenzlandaktivismus mit einem biographischen Erlebnis in eins. Dieses Erlebnis war eine Feuerrede, die er im August 1919 als Vertreter Österreichs auf der Gründungstagung des Jungdeutschen Bundes auf Burg Lauenstein bei Ludwigsstadt hielt und an die sich eine nächtliche Grenzwanderung anschloss.161 Der Bund verstand sich als Sammlungsbewegung des völkischen Flügels der Jugendbewegung; die „Grenzkämpfe“ spielten in seiner Ideologie eine wichtige Rolle. „Wie wir die Grenzen unseres Körpers durch den Anprall eines fremden empfinden,“ heißt es in der von Frank Glatzel verfassten Gründungserklärung des Bundes, „so wird ein Volk sich seiner Sonderart bewusst, wo es mit fremder Art zusammenstößt“, und entwickle sein „völkische[s] Bewußtsein“ zuallererst „in den Grenzkämpfen.“162 Heiß spitzte dieses Motiv zum Szenario eines „heute“ beginnenden Krieges zu: „In dieser Nacht sprach ich von der Not der Grenze, sprach, des Freiheitskampfes Kärntens, der südböhmischen Toten von Kaplitz, der Gefallenen in den deutschen Städten der Sudentenlande gedenkend, von dem unerbittlichen Ringen, das nun anhebe, von dem ‚Krieg‘, den wir zu führen haben würden und der heute beginnt! In jener Nacht verstanden mich nur wenige. Sie ahnten, was wir, die von ‚da draußen‘ kamen, wussten.“163
Die Rede markiert den symbolischen Beginn eines kollektiven Erfahrungsprozesses, der die bündische Jugend repolitisierte und ihre zugleich netzwerkartige und hierarchische Struktur164 für ein dezentrales und verdecktes Operieren gegen die Grenzen qualifizierte. Diese Politisierung vollzog sich für Heiß aus der im „Blut“ der „grenzdeutschen“ Jugend repräsentierten 160 161
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Heiß, Zehn Jahre, S. 14. Die Verknüpfung von Biographischem und Kollektivem findet sich noch in einer 1968 publizierten Laudatio anlässlich von Heiß’ siebzigstem Geburtstag, in der Karl Thums behauptet, Heiß habe mit den „Funken“ des Lauensteiner Feuers „in Österreich die Jungdeutsche Bewegung entzündet[.]“ (Thums, Heiß, S. 37). Glatzel, Frank: Der Jungdeutsche Bund, in: Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, hrsg. i. Auftr. des Gemeinschaftswerkes Dokumentation der Jugendbewegung v. Werner Kindt. Mit einer Einführung v. Theodor Wilhelm, Düsseldorf u.a. 1963, S. 220-229, hier: 223 (im Folgenden zitiert als: Glatzel, Jungdeutscher Bund). Heiß, Friedrich: Um Volk und Reich. Worte zum Anfang, in: Volk und Reich 1 (1925), S. 48f (im Folgenden zitiert als: Heiß, Um Volk und Reich). Zur Datierung der Rede Heiß’ vor dem Jungdeutschen Bund vgl. ders.: Zehn Jahre, S. 14. Im Aufruf zur Gründungstagung des Jungdeutschen Bundes wird die Netzwerkstruktur besonders deutlich: „In Hunderten von Gemeinden und Gilden gegliedert wollen wir ein Orden der Jugend sein im Dienste des Deutschtums, zugleich ein Netz von Pflanzstätten schaffen für das neue Volksbewußtsein.“ (zit. n. Glatzel, Jungdeutscher Bund, S. 220). Die Netzwerkstruktur ermöglichte es einem relativ kleinen Kreis von „Führern“, flexibel und effizient zu agieren (vgl. ebd., S. 225ff).
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Grenze heraus, übertrug sich sukzessive auf die Gesamtheit der Jugend und führte sie im „Willen“ zur kollektiven „Grenzüberschreitung“ zusammen,165 die sich an das Fronterlebnis und die bewaffneten Kämpfe in den Grenzgebieten anschloss und diese in Form von Kundgebungen, Fahrten und Schulungen zugleich reproduzierte, inszenierte und ideologisierte. Insbesondere die teils individuell oder im Freundeskreis unternommenen, teils von den Bünden organisierten Fahrten waren ein nicht zu unterschätzendes Medium der Grenzlandaktivisten dieser Phase. Neben dem konkreten Erlebnis von prekarisierten Regionen und der in ihnen virulenten Konflikte stellten die Grenzlandfahrten informelle Netzwerke zwischen dezentral agierenden Personen und Organisationen beiderseits der Grenzen her, die sich hinsichtlich ihrer generationellen Identität und ideologischen Orientierung deutlich von den überkommenen Auslandsorganisationen des VDA unterschieden. Auf diese grenzübergreifende Mikrostruktur gestützt, stabilisierten überregionale Tagungen die zunächst fragilen Netzwerke und konstituierten eine neue Struktur politischer Organisationen.166 Neben den Bundestagungen des Schutzbundes waren dies eigene Treffen der ‚jungen Generation‘ wie das Wartburg-Treffen deutscher Jugendbünde im Jahre 1922, wo „im Gedenken an das großdeutsche Bekenntnis der Urburschenschaft“ die Bedeutung der „Fahrten in die grenz- und auslandsdeutschen Gebiete“ hervorgehoben167 und das Balkenkreuz des Deutschen Ordens als Symbol der grenzlandpolitisch aktiven Bünde auserkoren wurde,168 sowie das darauf folgende Grenzlandlager der Jugendbünde im Fichtelgebirge und die Tagung jungdeutscher Kreise in Nürnberg 1924, auf denen die Planungen für die organisatorische Zusammenfassung und die Gründung der Zeitschrift vorangetrieben wurden.169 Sechs Jahre nach der Feuerrede von Burg Lauenstein konnte Heiß auf komplexe grenzlandpolitische Strukturen jungkonservativer Couleur verweisen. Die in das „Blut“ der ‚Grenzlandjugend‘ eingeschriebene Grenze hatte sich gleichsam in einer „Grenzland-Bewegung“ materialisiert: „Es kann hier wohl mit Bestimmtheit gesagt werden, dass hauptsächlich die grenzdeutsche Jugend es war, die, den Jahrhunderte alten Kampf der Grenzen im Blute, die ungeheure Entscheidung ihres Schicksals ahnend, wesentlich dazu beitrug, die politischen Kräfte in der gesamtdeutschen Jugend zu wecken und sie in eine ganz bestimmte Richtung entwickeln zu helfen. Vom Jahre 1919 können wir ein Wandern aus den Grenzlanden ins Reich beobachten, hören wie an allen Bundesfeuern, auf allen Festen und Kommersen aller Lager und Parteien Reden und Ansprachen Grenzdeutscher gehalten werden, die Verstehen und Liebe, Hilfe und Bereitschaft fordern – und letztlich politisches Besinnen wecken. [...] Das politische Besinnen ist das Entscheidende, das die Berührung mit den Grenzlandschaften brachte. Das Besinnen wurde zur politischen Bewegung. Zaghaft, wie erstmals im Jungdeutschen Bunde, wächst sie jäh empor und gibt vielen Organisationen – z.B. der Großdeutschen Gildenschaft, den Vereinen Deutscher Studenten, der Deutschen Jungenschaft, dem Jungnationalen Bunde, dem Großdeutschen Jugendbunde, dem Deutschen Hochschulring – eigenes Gepräge. Die Bewegung war anfangs formlos. Bis aus
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Heiß, Um Volk und Reich, S. 49. Vgl. Heiß, Zehn Jahre, S. 16. Ebd., S. 16. Vgl. Thums, Heiß, S. 36. Heiß, Zehn Jahre, S. 16.
256 | IMAGINIERTER WESTEN allen Bünden, Lagern und Landschaften ein großdeutscher Kreis sich abzuheben beginnt, alle engen Bindungen zu überwinden trachtet, nur den Willen hat zu einer Geschlossenheit, geistig engster Verwandtschaft zu gelangen, gemeinsam zu reisen, 170 um einstmals zu seiner Zeit politisch handeln zu können.“
Der Schutzbund hatte frühzeitig seine Bereitschaft signalisiert, mit diesen radikalen Aktivisten zusammenzuarbeiten. Im Rahmen seiner Klagenfurter Bundestagung 1921 fand eine eigenständige Jugendtagung statt, deren Vertreter den Ausbau des Jugendreferats des Schutzbundes „zur Mittelstelle der in der Grenzlandarbeit stehenden Jugendgruppen“ anregten.171 Auf Veranlassung des Referatsleiters Hans Wolf wechselte Heiß, der bis dahin an der Universität Wien Germanistik, Geschichte, Geographie und Kunstgeschichte studiert hatte, 1923 zu Boehm nach Berlin,172 wo er ein Jahr später mit den Vorbereitungen für Volk und Reich begann.173 Der Integrationsprozess der ‚jungen Generation‘ in den Schutzbund mündete am 18. Januar 1925 in der Einrichtung der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit (ab 1930 Mittelstelle deutscher Jugend in Europa), die bis zu ihrer Überführung in das Grenz- und Auslandsamt der Reichsjugendführung 1933 von Heiß gemeinsam mit Ernst Bargel als Geschäftsführer geleitet wurde.174 Die erste Zusammenkunft der angeschlossenen Bünde fand im Rahmen der Münsteraner Schutzbundtagung 1925 statt, umgekehrt waren Vertreter des Schutzbundes auf der ersten eigenständigen Tagung der Mittelstelle im Oktober 1925 auf Burg Lobeda bei Jena präsent.175 Die Funktion der Mittelstelle bestand darin, die Arbeit der bündischen Grenzlandämter in ihren „verschiedensten Richtungen und Auswirkungsmöglichkeiten zu fördern“ und an der „Gesamtdeutschtumsarbeit“ des Schutzbundes auszurichten.176 Ganz im Sinne der jungkonservativen Grenzland170 171
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Ebd., S. 52f. (Herv. i. Orig.) Zit. n. Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Zweite Bundestagung, S. 18. Auf der Jugendtagung waren vertreten: Hochschulring Deutscher Art, Freideutsche Jugend, Deutschnationaler Jugendbund, Neue Pfadfinder, Deutscher Schulverein und Hauptstelle für Jugendpflege (Wien), schlesische Wandervogelbewegung, Arbeitsamt der Deutschen Jugendgemeinschaft sowie norddeutsche und österreichische Verbände. Die „studentischen Kreise der Deutschen Jugendgemeinschaft“ wurden von Friedrich Lange vertreten. Vgl. ebd., S. 1518. Heiß war als Stipendiat Boehms u.a. mit der Erstellung einer umfassenden Grenzland-Bibliographie betraut. Vgl. Wolf an Heiß, 9. November 1966; handschriftliche Notiz Wolfs zu Thums, Heiß (Presseausschnitt), o.D., AdJB, UG 5 Heiß, Friedrich, n.p. – Vgl. Heiß, Zehn Jahre, S. 16; Hugin, Heiß. Heiß, Um Volk und Reich, S. 54. Heiß selbst gehörte 1933 dem Grenz- und Auslandsamt der Reichsjugendführung an. Vgl. Lebenslauf Friedrich Heiß, gez. K. Thums, o.D., AdJB UG 5 Heiß, Friedrich, n.p. Vgl. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Tätigkeitsbericht 1925/26, S. 9, sowie ders. (Hrsg.): Jahresbericht des Deutschen Schutzbundes über Berichtszeit vom 1. Mai 1926 bis 1. Mai 1927, im Rahmen des Vorstandes anläßlich der Jahresversammlung in Regensburg am 4. Juni 1927 erstattet von Wilhelm Freiherr von Wrangel, Berlin 1927, S. 7f. Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, Gesamtbericht zur zweiten Jahrestagung in Lobeda b/Jena (26.-28. Nov. 1926), gez. Heiß, 23. November 1926, S. 5, PAAA R 60310, n.p.
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ideologie begriff Heiß die neue Einrichtung als eine „Front“ entschlossener Kämpfer, die ihren „Dienst an den Grenzen“177 versähen, um damit am „Bau des Dritten Reiches im mitteleuropäischen Raume“178 mitzuwirken. Heiß zielte auf die Vorbereitung einer politischen Eruption, die die Grenzen des ‚verstümmelten‘ Deutschlands niederwerfen und eine neue nationale Elite an die Macht bringen würde. Daher setzte er weniger auf die Mobilisierung einer grenzlandpolitischen Massenorganisation, sondern auf den „stillen Kampf“179 eines radikalen Kaders innerhalb des weit verzweigten Netzwerks der Bünde und ihrer Verbindungsleute jenseits der Grenzen.180 Als ein solcher „politischer Stoßtrupp“ der Mittelstelle bestand seit Mai 1925 ein Arbeitsausschuss, in dem „bewährte[.] Persönlichkeiten“ der angeschlossenen Bünde zusammenwirkten.181 Unter den 40 Personen, die ihm Ende 1926 angehörten,182 finden sich mit Erich Maschke, Theodor Oberländer, Kleo Pleyer, Wolfgang Ispert und Hans Otto Wagner mehrere Schlüsselfiguren der Grenzlandforschung und Volkstumspolitik nach 1933. Die Mittelstelle setzte sich zunächst aus ausgesprochen nationalistischen Organisationen wie dem Jungdeutschen Bund, dem Deutschen Hochschulring und der Grenzlandstiftung der VDSt zusammen; hinzu kam das Grenzlandamt der Jugendbünde, ein Zusammenschluss der Deutschakademischen Gildenschaft, des Jungnationalen Bundes, des Jungdeutschen Bundes, des Großdeutschen Jugendbundes und der Fahrenden Gesellen; frühzeitig trat zudem das Jungdeutsche Grenzlandamt Wien mit seinen Mitgliedsbünden der Mittelstelle bei.183 Bis zu ihrer zweiten Jahrestagung im November 1926 erweiterte sich der Kreis um die Deutsche Burschenschaft, den Jungnationalen
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Heiß, Friedrich: Zum Jahresschluß, in: Volk und Reich 1 (1925), S. 268-275, hier: 273 (im Folgenden zitiert als: Heiß, Jahresschluß). Ders.: Das 3. Jahr, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 51. Ders.: Großdeutsche Tagung in Wien, in: Volk und Reich 2 (1926), S. 39-42, hier: 39. Vgl. Heiß, Jahresschluß, S. 273f. Satzung der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, o.D., übersandt von Friedrich Heiß an Auswärtiges Amt, Abt. VUI A, Hofrat Poppow, 23. Dezember 1926, PAAA R 60310, n.p. Nach seiner Konstituierung im Rahmen der Münsteraner Schutzbund-Tagung im Mai 1925 gehörten dem Arbeitsausschuss an: Alo Alzheimer, Willi Bukow, Hermann Ehlers, Norbert Gürke, Kurt Hausmann, Friedrich Heiss, Heinz Hendriock, Walther Kolbe, Erich Maschke, Werner Mohnhaupt, Günther Pacyna, Exz. v. Trotha, Friedrich Weber, Rudolf Zesch, Wilhelm Zietz sowie fünf namentlich nicht genannte sudetendeutsche Mitglieder. Bis auf Alzheimer, Gürke, Heiß, Hendirock, Kolbe, Maschke, Pacyna, Weber, Zesch und Zietz schieden die Mitglieder bis Ende 1926 aus. Neu hinzu gewählt wurden: Graf Bodirsky, Helmut Carstanjen, Paul Claus, Hans Dehmel, Wilhelm Fabricius, Robert Fritz, Frank Glatzel, Fritz Glombowski, Fritz Gretzmacher, Helmuth Haubold, Wolfgang Ispert, Otto Kayser, Walter Kersten, Hermann Kügeler, Ernst Leibl, Theodor Oberländer, Eberhard Plewe, Kleo Pleyer, Karl Rode, Karl Schindl, Edgar Stelzner, Karl Tröger, Karl Ursin, Hans Otto Wagner und Arnold Hillen-Ziegfeld. – Vgl. Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, Gesamtbericht zur zweiten Jahrestagung in Lobeda b/Jena (26.-28. Nov. 1926), gez. Heiß, 23. November 1926, S. 12, PAAA R 60310, n.p. Die Mitgliedsbünde waren: Österreichischer Wandervogel, Sturmvolk, Adler und Falken, Jungdeutscher Hochschulring sowie sämtliche Pfadfinderbünde in Österreich.
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Bund sowie Pfadfinder, Wandervögel, Turnerschaften und Jungenschaften,184 während der Bund Oberland „als Brücke hinüber in das Lager“ der früheren Freikorps fungierte.185 Heiß selbst vertrat in der Gründungsphase das Grenzlandamt des Jungdeutschen Bundes, gehörte als Mitglied der Gilden Bergfried und Werwolf186 zugleich der Deutschakademischen Gildenschaft an und leitete kurzzeitig das Grenzlandamt des Deutschen Hochschulrings.187 Seit Beginn der 1930er Jahre kooperierte er informell mit der NSDAP, unterließ es aus Rücksicht auf seine Position jedoch, der Partei beizutreten, und vereinbarte eine Aufnahme „unter Berücksichtigung seiner Zusammenarbeit mit der Bewegung“ zu einem späteren Zeitpunkt.188 Allerdings gehörte mit dem Grafiker und Kartographen Arnold Hillen Ziegfeld von Anfang an ein Nationalsozialist zum inneren Kreis der Mittelstelle und der Zeitschrift Volk und Reich.189 Innerhalb von sechs Jahren erhöhte sich die Zahl der in der Mittelstelle organisierten Bünde auf 170, darunter 119 Gruppen und Verbände der bündischen Jugend, 26 Studentenverbände einschließlich der Deutschen Studentenschaft (DSt) als Dachverband der studentischen Selbstverwaltung, 10 Jugendberufsverbände und 15 konfessionelle Verbände.190 Hinzu kamen feste Arbeitsbeziehungen zu rund 70 weiteren Institutionen und Verbänden, darunter dem Reichsministerium des Inneren, dem Auswärtigen Amt, dem Preußischen Wohlfahrtsministerium, einigen Oberpräsidien, Bezirksregierungen und Landeshaupmännern der preußischen Ostprovinzen, dem Rheinlandministerium, dem VDA, dem DAI in Stuttgart, dem Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände und einer Reihe pädagogischer, kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen.191 Von Anfang an konnte die Mittelstelle auf finanzielle Zuschüsse des Reichsministeriums des Inneren und der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, später dann vor allem der westdeutschen Industrie, zurückgreifen. In ihren ersten, für die Konzeptualisierung des ‚Westlandes‘ entscheidenden Jahren konzentrierte sich die Mittelstelle auf zwei Arbeitsfelder: die Koordination der Grenzland- und Auslandsfahrten sowie die politische Schulung der Bünde. Die jährlich bis zu 300 Fahrten192 zu koordinieren, war von hohem strategischem Wert, gab sie der Mittelstelle doch einen Einblick in die grenzübergreifenden Kontakte und Netzwerke der Mitgliedsbünde. Zu Gute kam ihr hierbei ein Abkommen mit dem Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände, dem Auswärtigen Amt und dem Reichsministerium des 184
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Vgl. Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, Gesamtbericht zur zweiten Jahrestagung in Lobeda b/Jena (26.-28. Nov. 1926), gez. Heiß, 23. November 1926, S. 8f, PAAA R 60310, n.p. Glatzel, Frank: Zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung. „Jungdeutsch“, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 451-455, hier: 454. Vgl. Heiß an Auswärtiges Amt, Roediger, 12. April 1934, PAAA 60347; Thums, Heiß, S. 38. Vgl. Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, Gesamtbericht zur zweiten Jahrestagung in Lobeda b/Jena (26.-28. Nov. 1926), gez. Heiß, 23. November 1926, S. 8f, PAAA R 60310, n.p. Chef des Hauptamtes I der HJ, John, an Schatzmeister der NSDAP, Schwarz, 18. August 1941, BArch (ehem. BDC), PK Heiss, Friedrich 17-10-97. Vgl. Herb, Under the Map, S. 82. Mittelstelle deutscher Jugend in Europa, Arbeitsbericht über das Jahr 1930/31 (vertraulich), gez. Ernst Bargel, 30. Oktober 1931, PAAA R 60347, n.p. Ebd. Ebd.
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Inneren, das ihr die Kontrolle aller Grenz- und Auslandsfahrten der Jugendverbände übertrug und eine Förderung von Fahrten aus öffentlichen Mitteln von einem positiven Votum der Mittelstelle abhängig machte.193 Wie Heiß auf der zweiten Jahrestagung der Mittelstelle 1926 erklärte, dienten die Fahrten auch dazu, vertrauliche Informationen über die Nachbarstaaten zu sammeln, also Spionage zu betreiben: „Jede Fahrt, ganz gleich, in welches Gebiet sie gemacht wird, hat die Aufgabe, möglichst viele führende Persönlichkeiten zu besuchen und über diese, soweit sie bisher noch nicht allgemein bekannt sind, vertraulich Personalia aufzunehmen. Gruppen, die in bisher wenig besuchte und wenig bekannte Gebiete wandern, haben ferner Aufzeichnungen über die in diesem Gebiet bestehenden Vereine, Institute, Zeitungen usw. zu machen (Name, Anschrift, Einstellung, Bedeutung, Stellung zueinander und zu den Verbänden im Reich und ihre Verbindung mit anderen Grenzgebie194 ten).“
Darüber hinaus waren die Fahrtgruppen gehalten, das in Deutschland vorhandene Kartenmaterial zu überprüfen und zu ergänzen, örtlich verfügbare Karten zu beschaffen, statistische Angaben zu verifizieren, Lichtbilder aufzunehmen und „genaue Aufzeichnungen“ über politische Strömungen innerhalb der deutschsprachigen Gruppen und über die von ihnen wahrgenommenen Mängel im grenz- und auslandsdeutschen Vereinswesen anzufertigen; hinzu kamen Sonderaufträge für besonders vertrauenswürdige Gruppen.195 Die Fahrten stellten der Mittelstelle damit ein hoch brisantes, operatives Wissen über innere Angelegenheiten der Nachbarstaaten zur Verfügung. Diese letzten Endes auch militärisch verwertbaren Informationen kamen nicht allein der weiteren Netzwerkbildung und politischen Schulungsarbeit zu Gute, und sie stellten nicht nur einen Fundus propagandistisch verwertbaren Materials bereit, aus dem in erster Linie die Zeitschrift Volk und Reich schöpfte. Die Mittelstelle nutzte sie vielmehr auch, um innerhalb der ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘ eine radikalisierte und verjüngte Führungsschicht zu etablieren: „Wir glauben, dass nur durch die Schaffung einer politischen Schicht im gesamten deutschen Siedlungsgebiet, deren politische Kenntnis und deren politisches Wollen so groß ist, dass sie tragend für großdeutsch-mitteleuropäisches Handeln in der Zukunft sein wird, unsere Notlage überwunden werden kann. Diese politische Schicht mitschaffen zu helfen und ihr vor allem die Kräfte der jungen Generation zuzuführen, wurde Hauptaufgabe der Zeitschrift ‚Volk und Reich‘.“196
Die Zeitschrift Volk und Reich, deren Name auf eine Anregung des Juniclubs zurückgeht197 und deren Redaktion im Berliner Schutzbundhaus untergebracht war, diente, auf diesen Wissensvorrat gestützt, der politischen Schu193 194 195 196 197
Vgl. Aufgaben der Mittelstelle deutscher Jugend in Europa, Sonderdruck aus: Das Junge Deutschland, Berlin o.J., o.S., PAAA R 60347, n.p. Ebd. Ebd. Volk und Reich, Denkschrift, o.D. [ca. 1928], S. 2, PAAA R 60310, n.p. Das Blatt sollte zunächst den Titel Außenpolitische Rundbriefe, später dann Politische Monatshefte, tragen, auf Anregung des Juniclub fiel die Wahl jedoch auf Volk und Reich. Vgl. Heiß, Jahresschluß, S. 268.
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lung der Bünde; sie deckte also das zweite Arbeitsgebiet der Mittelstelle ab. Heiß reagierte damit auf eine strukturelle Schwäche der Bünde, die sich in der Regel auf einzelne Grenzregionen spezialisiert und diese relativ isoliert behandelt hatten.198 Die Konstrukte eines ‚Ostlandes‘ oder eines ‚Westlandes‘ stellten in dieser Situation diskursive Klammern dar, die den regionalen Aktionskreis der Bünde respektierten, ihn auf der Mesoebene aber in den panoptischen Raum des grenzlandpolitischen Kampfes einordneten. So spielten regionale Schwerpunkthefte in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift eine tragende Rolle. Doch waren die Regionen von vorn herein auf der Mesoebene gruppiert und zu einem Gesamtbild arrangiert, das die deutschen Grenzen im Inneren des Reiches beginnen und erst am Ärmelkanal, am Schwarzen Meer und an der Adria enden ließ. Dieses nach innerdeutschen „Grenzgebieten“, „abgetrennten Gebieten“ (einschließlich Österreich) und „Randstaaten“ konzentrisch gegliederte Raumkonstrukt war aufs engste mit der ‚Entdeutschungs‘-Obsession verwoben. Die Verheißung eines ‚mitteleuropäischen‘ Reiches und das Schreckbild eines ‚Vernichtungskrieges‘ fielen räumlich-symbolisch in eins. So schrieb Heiß im ersten Heft: „Von diesem Hefte aus, das uns in die große deutsche Aufgabe einführt, uns Mitteleuropa zeigt, ausgehend, werden von den Randstaaten aus der Osten, der Südosten, der Westen und Norden, die abgetrennten und Grenzgebiete in der Gesamtheit ihrer Fragen durchgearbeitet werden. Wenn so ein klares Bild der einzelnen Landschaften – ‚Fronten‘ – geschaffen wurde, wenn durch dieses systematische Erarbeiten der deutsche Raum als Einheit, als politisches Ganze [sic] gesehen wird, wenn wir wissen, was Straßburg bedeutet und Metz und Verdun (einst hieß es Virten) und Rhein und Maas und Mosel und Ruhr; wenn uns bewusst wird, warum die Feinde Eger zum Kampfplatz ausbauen, am Brenner die fremde Fahne weht, das Puster-Tal, der Predil-Paß, Tarvis in fremder Hand sind; Cilli und Marburg, Bozen und Salurn uns entrissen wurden; wenn wir verstehen, warum Pressburg von den Tschechen zum großen Donauhafen und Stapelplatz ausgebaut wird, in Passau Grenzpfähle stehen, deutscher Grund und Boden in der Tschechoslowakei beschlagnahmt und unter tschechische Legionäre verteilt wird; warum Graudenz und Thorn, Memel und Posen, Dirschau und Danzig, Tondern und Hoyerschleuse jenseits unserer Grenze liegen, – wenn wir aus all dem die Einzelheiten eines großartigen Vernichtungsplanes erkennen, der uns im negativen Sinn mit ganzer Klarheit unsere Aufgabe darstellt – dann werden wir, wenn wir noch Deutsche sind, handeln. Dann werden wir die deutsche europäische Aufgabe erfüllen: die Gestaltung des von Großdeutschland 199 bestimmten mitteleuropäischen Raumes.“
Wenngleich Heiß sein Raumkonzept von Anfang an darlegte, benötigte die Redaktion mehrere Jahrgänge, um es auf der regionalen Ebene auszuarbeiten. Hierbei stand das ‚Westland‘ zunächst nicht im Mittelpunkt des Interesses. Beiträge mit westdeutschem bzw. westeuropäischem Schwerpunkt erschienen zunächst nur sporadisch, und auch die rheinischen Jahrtausenfeiern fan-
198 199
Vgl. Volk und Reich, Denkschrift, o.D. [ca. 1928], S. 3, PAAA R 60310, n.p. Heiß, Um Volk und Reich, S. 51f. (Herv. i. Orig.) – Das hier formulierte Raumkonzept wurde von der Redaktion noch in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges als richtungsweisend für die gesamte Tätigkeit der Zeitschrift bewertet und aktualisiert. Vgl. Anonymus: Um Volk und Reich, in: Volk und Reich 20 (1944), S. 273-278, hier: 274f.
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den kaum Widerhall. Vielmehr überwog der Blick auf Polen, Danzig, das Baltikum, Österreich, die Nachfolgestaaten des habsburgischen Reiches und das Sudentenland. Diese Fokussierung resultierte aus den frühen Arbeitsschwerpunkten der Mittelstelle, die sich nach ihrer Gründung zunächst auf eine (aufgrund interner Konflikte nicht realisierte) „Grenzlandfahrt Ost“ im Sommer 1925201 und eine „Großdeutsche Tagung“ an der Universität Wien mit rund 1600 Teilnehmern im März 1926202 konzentriert hatte. Erst im Anschluss daran griff sie das ‚Westlande‘-Konzept Königs auf203 und richtete im Frühjahr 1926 eine Arbeitsgemeinschaft zur Vorbereitung der Westtagungen ein, die sich unter der Leitung Loeschs mit der Koordination der westlichen Grenzlandfahrten und der Vorbereitung der Münsteraner Schutzbundtagung befasste.204 Unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des „zweitausendjährige[n] Kampfes um den Rhein“ und der „Bedeutung des Rheins für Deutschland und Mitteleuropa“ formulierte die Arbeitsgemeinschaft im Kontext der Münsteraner Tagung sieben Leitthemen: „1.) Der historisch-politische Kampf um den Rhein in den verschiedenen Phasen. (Frankreichs Länderraub; Friedrich König: ‚Welsch oder deutsch‘). 2.) Raum- und machtpolitische Bedeutung des Stromlaufs für Deutschland im heutigen Europa. 3.) Schweiz und Holland als Aussenwerke der deutschen Rheinstellung. 4.) Verlorener Boden am Westufer des Rheins (Vierten usw.). 5.) Wirtschaftliche Bedeutung des Stromgebietes. (Wasserstrassenfragen, Einheit des Wirtschaftsgebietes von Mosel, Rhein, Ruhr, Minette). 6.) Kulturelle Bedeutung der Stromlandschaft (z.B. als ein Ausgangspunkt der deutschen Gotik). 200
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Eine gewisse Ausnahme war die demonstrative Weihe des Kölner Domplatzes durch den damaligen Oberbürgermeister Konrad Adenauer nach dem Abzug der Besatzungstruppen aus der Stadt. Vgl. den knappen Beitrag: Anonymus: Köln frei!, in: Volk und Reich 2 (1926), S. 106-109. Die Idee der Grenzlandfahrt ging von der Deutschakademischen Gildenschaft aus. Die Planungen der Mittelstelle zielten darauf ab, dass „die einzelnen Gruppen der Bünde [...] auf genau vorher bestimmtem und festgelegtem Wege die sudetendeutschen Gebiete in der Richtung Böhmerwald – Passau [durchwandern]“, wo sich eine „allgemeine Jugendtagung“ anschließen sollte. Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, Gesamtbericht zur zweiten Jahrestagung in Lobeda b/Jena (26.-28. Nov. 1926), gez. Heiß, S. 5f, PAAA R 60310, n.p. Die Tagung fand vom 10. bis 14. März 1926 an der Universität Wien statt und wurde von der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit und dem Grenzlandamt des Deutschen Hochschulrings veranstaltet, die in Personalunion von Friedrich Heiß geleitet wurden. Die mit emphatischen Bekenntnissen zum „Dritten Reich“ durchzogene Tagung umfasste Fachausschüsse für „Staatspolitik“, „Wirtschaftspolitik“, „Kulturpolitik“, „Unterricht“ und „Recht“; zu den Ehrengästen gehörten u.a. der österreichische Vizekanzler und die Rektoren zahlreicher österreichischer Universitäten. Vgl. Heiß, Friedrich: Ein Rückblick auf die Großdeutsche Tagung, in: Volk und Reich 2 (1926), S. 476-501, dort auch Zusammenfassungen der Vorträge. Siehe auch Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, Gesamtbericht zur zweiten Jahrestagung in Lobeda b/Jena (26.-28. Nov. 1926), gez. Heiß, 23. November 1926, S. 2, PAAA R 60310, n.p Ebd., S. 1f. Ebd.
262 | IMAGINIERTER WESTEN 7.) Politische Strömungen im Rheingebiet. (Separatismus, Edelseparatismus, Föde205 ralismus, französische Pläne usw.).“
Die Arbeitsgemeinschaft schrieb damit die Vorstellung des Rheines als dreigeteilte Festung fort und fügte den Verweis auf wirtschaftliche Bedeutung des Stromgebiets hinzu. Unterschwellig klang zudem eine Neucodierung der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges an: Der einzige konkret genannte Ort ist das zu „Vierten“ germanisierte Verdun, und als handle es sich um eine rheinische Stadt, steht „Vierten“ für den „verlorene[n] Boden am Westufer des Rheins“. Die Vorbereitungen mündeten in einer „Westtagung“ der Mittelstelle, die aus organisatorischen Gründen mit ihrer zweiten Jahrestagung auf Burg Lobeda vom 26. bis 28. November 1926 zusammengelegt wurde.206 Im Mittepunkt stand ein Vortrag Friedrich Königs über „Volkstum und Geschichte in den deutschen Westlanden“.207 Wie Heiß berichtet, deutete König den „Kampf“ um die „Westlande“ als Kampf der Nation gegen die westlichdemokratische Grundlegung von Staat und Gesellschaft. „[E]s handle sich [...] nicht nur um ein Grenzlandproblem, sondern um ein Problem der Gesamtvolkheit“, die einen „seelischen Umwandlungsprozess“ durchlaufe. „Betreffs der aktuellen Probleme im Westen“ habe König geraten, „nicht pessimistisch“ zu sein, sondern auf die flämische Bewegung zu setzen, mit der eine „niederdeutsche[.] Volkheit“ gegen eine „französisch-wallonische[.] Oberschicht“ antrete.208 Schwieriger hingegen gestalte sich der „Befreiungsprozess“ in Elsass-Lothringen. Da sich dort neben der „volksfremden Bourgeoisie“ eine assimilierte Oberschicht gebildet habe, müsse es darum gehen, „von unten her eine neue Oberschicht“ zu bilden, „die mit der alten um die politische Führung ringt.“ Diese radikalen Akteure sollten ihren Führungsanspruch „mit der Forderung nach Kulturautonomie“ verbinden und „die bisherige bourgeoise Führung“ stürzen.209 Die Tagung bildete den Auftakt für mehrere weitere „Westtagungen“ der Mittelstelle, deren Realisierung sich allerdings nur fragmentarisch rekonstruieren lässt. So erhielt die Mittelstelle von der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes einen Zuschuss210 für eine „geschlossene interne Arbeitstagung“ des „Arbeitskreises West“ der Mittelstelle, die Ende April 1929 in Düsseldorf stattfinden sollte. Sie richtete sich vor allem an die Mitglieder regionaler Arbeitskreise, „die sich im Westen gebildet haben“ und sich mit 205 206
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Ebd. Der westpolitische Schwerpunkt war dabei mit den Berichten der Ausschüsse der Mittelstelle für „Nord-Ost“ (mit dem Aktionsradius Schleswig, Litauen, Lettland, Wolhynien, Galizien und Österreichisch-Schlesien), „Süd-Südost“ (mit Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien) und „Sudetenland“ verknüpft. Als Referenten und Diskussionsteilnehmer der westpolitischen Sektion sind überliefert: Dr. Friedrich König, Gießen; Prof. Martin Spahn, Köln; Eberhard Plewe, Charlottenburg (Deutscher Pfadfinderbund); Dr. Hans Steinacher, Frankfurt. Den Abschluss der Tagung bildete ein Vortrag Loeschs über Die Lage des Deutschtums in Europa (vgl. ebd.). Vgl. ebd. – Der Vortrag selbst ist nicht überliefert. Zit. n. ebd., S. 2f. Zit. n. ebd., S. 3. Die Höhe des Zuschusses betrug RM 700. Auswärtiges Amt an Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, 30. März 1929, PAAA R 60310, n.p.
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„Holland, Flandern, Eupen-Malmedy, Luxemburg, Saar und Pfalz“ beschäftigten.211 Eine weitere „Westtagung“ scheiterte im folgenden Jahr an den finanziellen Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Ersatzweise führte die Mittelstelle vom 28. Februar bis 3. März 1931 jedoch im österreichischen Schrunz eine „Vorlandetagung“ durch, die „gemeinsame politische Probleme der germanischen Völker des Westens“ behandelte und deren Teilnehmer, wie Bargel vermerkt, zu einem Drittel „aus westgermanischen Volksgruppen“ stammten.212 Im Zuge dieser westpolitischen Orientierung wurde der Historiker und Volkswirt Robert Holthöfer zu einem einflussreichen Unterstützer der Zeitschrift Volk und Reich. Dieser war eine Schlüsselfigur verdeckter Grenzlandpolitik im Westen. Während der Ruhrkrise hatte er über die im unbesetzten Bielefeld ansässige Pressestelle Rhein-Ruhr Kampagnen koordiniert und im Anschluss daran die Leitung der Pressestelle des Vereins für die bergbaulichen Interessen übernommen.213 Holthöfer vermittelte Industriegelder an die Zeitschrift und betrieb die Gründung der Stiftung Volk und Reich, deren Vorsitzender er 1929 wurde.214 Im siebenköpfigen Vorstand der Stiftung waren neben Holthöfer und Heiß vor allem Repräsentanten der Ruhrindustrie, des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages und der rheinisch-westfälischen Industrie- und Handelskammern vertreten;215 dem Kuratorium gehörten u.a. Vertreter des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, des Deutschen Schutzbundes (Loesch), des VDA und der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft an.216 Gleichzeitig wurde Holthöfer Teilhaber
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215
216
Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, gez. Heiß, an Auswärtiges Amt, Abt. VI, 28. Februar 1929, PAAA R 60310, n.p. Mittelstelle deutscher Jugend in Europa: Arbeitsbericht über das Jahr 1930/1931, gez. Bargel, S. 6, PAAA R 60347, n.p. Vgl. Lebenslauf Holthöfer, 4.6.1938, BArch (ehem. BDC), RKK Holthöfer, Robert 4-2-94. Ebd. – Satzungsgemäßes Ziel der Stiftung war die finanzielle Sicherung der „volksdeutschen Arbeiten der Zeitschrift ‚Volk und Reich‘“ (Stiftungsurkunde [Abschrift], o.D., PAAA R 60347, n.p.) Mitglieder des Vorstands waren: Dr. Martin Blank, Dr. Karl Burhenne, Dr. Max Hahn, August Heinrichsbauer, Friedrich Heiß, Dr. Robert Holthöfer, Dr. Martin Sogemeier. Vgl. Petzinna, Erziehung, S. 201f. Vgl. auch Liste der Vorstands- und Kuratoriumsmitglieder der „Stiftung Volk und Reich“, o.D., PAAA R 60347, n.p. Mitglieder des Kuratoriums waren: Graf v. Baudissin (Direktor der Preußischen Hauptlandwirtschaftskammer, Berlin), Oberbürgermeister Bracht (Essen), Bürgermeister Doetsch (Präsident des Preußischen Landgemeindentages/West, Münster-Maifeld), Dr. Dr. Syndikus H. Emmendörfer (Essen), Walter Funk (Berlin), Staatsrat Wilhelm v. Gayl (Königsberg/Pr.), Dr. Jakob Herle (Geschäftsführer des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Berlin), Dir. Dr. Ludwig Holle (Essen), Dr. Karl C. v. Loesch (Berlin), Oberreg.Rat a.D. Adolf Morsbach (Direktor der Kaiser Wilhelm Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft, Berlin), Gen.Dir.Kammerrat Ernst Prinzhorn (Wien), Wirkl.Leg.Rat b.d. Bayerischen Gesandtschaft Dr. Hermann Quarck (Berlin), Rüdiger Schmidt (Stellv. Mitglied des Vorstandes der Harpener Bargbau-AG, Dortmund), Dr. Max Schlenker (Stahlhof, Düsseldorf), Dr. Hans Steinacher (Berlin), Dr. August Winnig (Potsdam), Landrat a.D. Tilo Frhr. v. Wilmowsky (Marienthal bei Eckartsberga), Dr. W.-D. v. Witzleben (Siemenswerke, Berlin), Geh.Reg.Rat a.D. Berengar v. Zastrow (Berlin) und Friedrich Karl v.
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der Volk und Reich GmbH, dem neu gegründeten und hauptsächlich aus Stiftungsmitteln finanzierten Verlag.217 Aus Sicht Holthöfers fungierten Stiftung, Verlag und Zeitschrift nun nicht mehr allein als Medium der Jugendgrenzlandarbeit, sondern vor allem als wirtschaftsnahe „Arbeitsstelle“, die sich „in systematischer Arbeit der volkspolitischen Fragen annimmt“, ohne von staatlicher Förderung abhängig zu sein – und nicht zuletzt sollte die Verlagstätigkeit der „Tarnung“ völkischer Infiltration „im In- und Ausland dienen“.218 Während die Mittelstelle nach 1933 in die Reichsjugendführung aufging, wurde der Verlag zu einem expandierenden Unternehmen, das mit seinen länderkundlichen, volkstumspolitischen, wirtschaftsgeographischen und verkehrstechnischen Programmschwerpunkten eine Vielzahl besatzungspolitisch relevanter Grundlagenwerke verlegen sollte. Doch untersuchen wir zunächst die Entwicklung des ‚Westlandes‘ zu einem hegemonialen Konzept der ‚Jugendgrenzlandarbeit‘.
Das „Westland“ als Grenzraum Mitteleuropas Martin Spahn gab in der ersten Ausgabe von Volk und Reich den Rahmen vor, in dem sich der Diskurs über die Westgrenze zunächst bewegen sollte. Allerdings richtete er in seinem Beitrag Mitteleuropa,219 der auf einem Vortrag vor der Mittelstelle beruhte,220 den Blick nicht allein nach Westen, sondern entwarf einen überzeitlichen Geschichtsraum der Deutschen, der weit über den ‚Volksboden‘ hinausgriff und den er in Anlehnung an Friedrich Naumann221 und Hermann Oncken222 als „Mitteleuropa“ bezeichnete. Hatten Naumann in Mitteleuropa eine ökonomische Interessengemeinschaft und Oncken ein deutsch-österreichisches Bündnis gesehen,223 definierte Spahn es – ähnlich wie Braun und Haushofer – als eine zwar durch deutsche Kolonisation konstituierte, jedoch nie vollständig realisierte Einheit von „Volk“ und „Raum“. Dieser ideale Raum war für ihn das eigentliche, aber unausgesprochen gebliebene Kriegsziel des Ersten Weltkrieges gewesen, ja mehr noch: ein Kriegsziel, dessen öffentliche Propagierung den Kriegsverlauf entscheidend hätte beeinflussen können. Spahn, der während des Krieges historiographische Legitimationen für die „Wiedereinverleibung der Eisenerzbecken von Briey und Longwy“ erstellt hatte224, sprach der Obersten Heeres-
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Zitzewitz (Gutsbesitzer, Kottow). Vgl. Liste der Vorstands- und Kuratoriumsmitglieder der „Stiftung Volk und Reich“, o.D., PAAA R 60347, n.p. Vgl. Arnold Hillen Ziegfeld an Auswärtiges Amt, Kultur-Abteilung, o.D., eingegangen 12. Dezember 1933, PAAA R 60347, n.p. Holthöfer an Paul Reusch, zit. n. Petzinna, Erziehung, S. 201. Spahn, Martin: Mitteleuropa, in: Volk und Reich 1 (1925), S. 2-38 (im Folgenden zitiert als: Spahn, Mitteleuropa). Vgl. Spahn, Martin: Für den Reichsgedanken. Historisch-politische Aufsätze 1915-1935, Berlin u.a. 1936, S. VII. Naumann, Mitteleuropa. Oncken, Hermann: Das alte und das neue Mitteleuropa, Gotha 1917. Vgl. Spahn, Mitteleuropa, S. 36. Spahn, Martin: Die Wiedereinverleibung der Eisenerzbecken von Briey und Longwy in das deutsche Reichsgebiet. Ein geschichtliches Gutachten, bearb. i. Auftr. d. Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, als Handschrift gedruckt, Düsseldorf 1918. Vgl. hierzu die ergänzenden Hinweise auf das
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leitung und Teilen der Industrie das Verdienst zu, im Gegensatz zu Bethmann Hollweg zumindest den Versuch einer solchen Propaganda unternommen zu haben: „Unsere Oberste Heeresleitung überlegte wohl, ob wir vielleicht aus strategischen Gründen dieses oder jenes Gebiet besetzen sollten. In der letzten Zeit des Krieges wurden Plakate an die Mauern der Städte und Dörfer geklebt, die uns zeigten, dass, wenn unsere Feinde in Lüttich blieben, der ganze Rhein und das Ruhrgebiet im Bereich ihrer Flugzeuge liegen werde. Man wollte uns beweisen, dass bei der Entwicklung der Flugzeugtechnik unter keinen Umständen Lüttich, das hieß, Belgien, wieder dem Belieben unserer Feinde überlassen werden könnte. Die Führer unserer Wirtschaft prüften, ob bestimmte Notwendigkeiten gegeben seien, aus denen wir danach streben müssten, uns fremdes Land anzueignen, etwa den Kohlenbezirk an der oberen Oder in seiner Gänze oder den Erzbezirk von Longwy und Briey.“
Was jedoch gefehlt habe, sei eine eingängige Losung etwa im Sinne einer „deutschen Sendung“ zur Herrschaft über jenes „Mitteleuropa“ gewesen, welches die Soldaten mit „ihre[n] Schützengräben“ bereits „umzäunten“, ohne sich dessen bewusst zu sein.225 Diesen Raum gelte es nun in einem nachholenden Kampf zu gewinnen, der seine Kraft aus der volksgemeinschaftlichen Identifikation der „Binnendeutschen“ mit den „Grenz- und Auslandsdeutschen“ bezöge und der sich sowohl gegen das „System“ der Weimarer Republik, als auch gegen die europäische Nachkriegsordnung richte: „Gestalten wir [...] Mitteleuropa, so werden wir dadurch aufs neue zum Führervolke Europas“.226 Spahns „Mitteleuropa“ war nicht durch „natürliche Grenzen“ festgelegt, sondern durch die Dynamik von Bevölkerungswachstum und Machtwillen konstituiert. „Es ist ein weiter Raum, außerordentlich ausgedehnt nach europäischen Begriffen im Vergleich zum französischen, angemessen der vitalen Lebenskraft, der Zeugungskraft, der Vermehrungsfähigkeit unseres Volkes, angepasst auch der organischen und kulturellen, schöpferischen Leistungskraft unseres Volkes.“ Statt „Sperrlandschaften“, deren begrenzende Wirkung Spahn kurzerhand zu einem französischen Konzept erklärte, seien die Grenzen dieses Raumes Stromgebiete: „Immer deutlicher wurde über die Ausbreitung unseres Volkstums die Einheit des Raumes sichtbar, in dem sie sich vollzog. Nicht daß natürliche Grenzen sie gegen die übrigen Teile Europas absperrten. Aber der Raum wird an drei Seiten umrandet und zugleich zusammengehalten von einem Geflecht großer und schiffbarer Ströme, im Westen vom Rhein mit seinen bedeutenden Zuflüssen von links her, der Mosel, Maas und Schelde, und von der Rhone mit der Saone, im Süden von Po und von der Donau, im Osten von den Flußpaaren des Pruth mit dem Sereth und der Weichsel mit dem Bug, des Dnjepr und des Memelflusses, des Djnestr und der Düna, von denen sich je der eine Fluß in das Schwarze Meer ergießt, der andere zur Ostsee 227 abfließt.“
225 226 227
besondere Interesse des Industriellen Alfred Vögler an diesem Gutachten bei Petzold, Wegbereiter, S. 127, 413. Spahn, Mitteleuropa, S. 2. Ebd., S. 38. Ebd., S. 10.
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Der Rekurs auf die Ströme wies dem westlichen ‚Grenzraum‘ Mitteleuropas sowohl eine dynamische (das Pulsieren des Verkehrs im Stromgebiet), als auch statische Qualität (der fixe Verlauf des Rheins und seiner ‚Nebenströme‘) zu; er evozierte von neuem das Bild einer organischen Räumlichkeit. Dabei aber verband Spahn die Rhein-Symbolik der Romantik mit den Symbolwelten der industriellen Moderne. Der Grenzorganismus erschien als Verkehrsinfrastruktur und Träger industrieller Wachstumsdynamik. An die Stelle der Wehrbauern der ‚Militärgrenzen‘ traten als Kolonisten der Moderne der „deutsche Facharbeiter“ und der „deutsche Ingenieur“.228 Die Anschlussmöglichkeiten für Haushofers Differenzierung spezifischer, durch die Qualität und Intensität des Verkehrs gekennzeichneter Grenzraumtypen (Schutz-, Lauer- und Angriffsgrenze) sowie für sein Konzept des ‚Rheinraumes‘229 waren hier ebenso gegeben wie der Bezug auf Siegers ‚verkehrsvermittelnde Grenze‘.230 Im Panoptikum der mitteleuropäischen ‚Grenzorganismen‘ war das Strom- und Verkehrsgebiet des Rheins keineswegs ein Grenzabschnitt neben anderen. Vielmehr erblickte Spahn in ihm den Urraum des Reiches schlechthin: „Unsere Geschichte beginnt zwischen dem Rhein und der Seine als fränkische Geschichte“, und im Stromgebiet des Rheins „vollzieht sich die innere Umwandlung von der Zeit des Germanentums zur Zeit des Deutschtums“.231 Spahns Rhein besaß somit einen Doppelcharakter, der ihn von allen anderen ‚Grenzräumen‘ unterschied: Er war Grenze und zugleich Zentrum des Reiches, Mitteleuropas und der Nation, doch noch in seiner Bedeutung als Grenzraum war er nur als eine Einheit unter deutscher Herrschaft vorstellbar. Spahns Mitteleuropa-Aufsatz bildete den Auftakt einer Reihe raumkonzeptioneller Beiträge aus dem Kreis des Juniclubs und des Schutzbundes. Friedrich Lange griff Spahns Verknüpfung von Stromgebieten und Verkehrsnetzen auf, wandte sie jedoch auf den gesamten mitteleuropäischen Raum an.232 Ströme und Kanäle, mehr aber noch der moderne Straßen-, Schienenund Luftverkehr, stellten für ihn die Grundlage einer künftigen mitteleuropäischen Expansion Deutschlands dar, da die ihnen innewohnende Energie von den Bestimmungen der Friedensverträge nicht dauerhaft eingedämmt werden könne, sondern die Grenzen des Nachkriegsstaates eines Tages sprengen werde. Die „verkehrsgeographische Einheit“ Mitteleuropas verhieß daher eine deutsche Hegemonie über den Raum zwischen Schelde und Dnjestr und legitimierte die Forderung nach einem „unbeschränkte[n] Selbstbestimmungsrecht“ für alle „geschlossen siedelnden“ Deutschen.233
228 229 230 231 232 233
Ebd., S. 9. Siehe Kapitel Die fünf Grenztypen und das Prinzip der Prekarität und Das geopolitische Konzept der Westgrenze. Siehe Kapitel Karl Haushofer und die Neuformulierung der Politischen Geographie. Spahn, Mitteleuropa, S. 7. Vgl. Lange, Friedrich: Mitteleuropa als Verkehrseinheit, in: Volk und Reich 1 (1925), S. 181-185. Ebd., S. 184.
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Loesch unternahm es im Januar 1926, die aktuellen Europaentwürfe vom Standpunkt des „kommenden großdeutschen Staates“ aus zu bewerten.234 Neben dem Paneuropa-Konzept Richard Graf von Coudenhove-Kalergis, das er als „großnapoleonisches Reich mit moderner Weitenerstreckung“ denunzierte,235 lehnte er insbesondere Aristide Briands nach Abschluss des Vertrags von Locarno formulierte Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ ab, sprach sich aber nicht grundsätzlich gegen einen europäischen Staatenbund aus. Eine europäische Vereinigung müsse jedoch zwingend auf eine Überwindung statt auf die Anerkennung der bestehenden Grenzen hinauslaufen und sollte daher am zweckmäßigsten auf dem Umweg über eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft und eine Verflechtung der europäischen Schlüsselindustrien erfolgen. Analog und flankierend zur grenzübergreifenden „Verfilzung der kontinentalen Wirtschaft“ gelte es, „die Völkermischung“ und die „Verzahnung der Grenzen“ als Antrieb „zu einer ‚überstaatlichen‘ Verbindung“ zur Geltung zu bringen.236 Das staatsrechtliche Instrumentarium hierfür sah Loesch im „westlerischen“ Staatsmodell nicht gegeben, wohingegen das mittelalterliche Reich aktualisierbare Konzepte für eine „europäische Föderation“ besessen habe. Die Aufnahme grenzlandpolitischer und minderheitenrechtlicher Elemente in einen europäischen Einigungsprozess sollte letztlich entscheidend für eine Mitwirkung oder Verweigerung Deutschlands sein: „Eine europäische Föderation hat für uns Deutsche nur Sinn, wenn gleichzeitig die Grenzlandminderheiten [...] verschwinden“.237 Der Gedanke, dass die transformierten Grenzen nicht nur die deutsche Nation symbolisierten und auf ein größeres Reich verwiesen, sondern dass sie zugleich einen möglichen europäischen Einigungsprozess konstituierten, bestimmte das Europabild von Volk und Reich während der Beschäftigung mit dem ‚Westland‘ in zunehmendem Maße. Die nach gängigem Muster als nationale Kampfräume aufgefassten Grenzen erhielten hierdurch eine doppelte Bedeutung: sie konnten, wie Boehm schrieb, je nach politischer Opportunität „Fronten“ oder „Brücken“ Europas sein.238 Diese Dualität der Grenzlandpolitik erlaubte es, die Grenzen in einem Wechselspiel eskalierender und vermittelnder Operationen als ‚Schicksalsräume‘ zu inszenieren, in denen sich die Zukunft des Kontinents einschließlich der Frage von Krieg und Frieden entscheiden werde. In diesem Sinne waren die transformierten Grenzen Projektionsflächen einer künftigen europäischen Einheit und eines künftigen europäischen Krieges. Loesch schlug daher vor, die Grenzräume als „Kristallisationskerne“ eines europäischen „Staatenbundes“ zu begreifen, der zunächst den mitteleuropäischen „Kern“ vereinigen sollte und an den sich zu einem späteren Zeitpunkt weitere Staaten „anlagern“ könnten.239 Überlegungen wie diese standen im Kontext eines europapolitischen Strategie234
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Loesch, Karl C. von: Der großdeutsche Gedanke und die „Vereinigten Staaten“ von Europa, in: Volk und Reich 2 (1926), S. 9-26, hier: 9 (im Folgenden zitiert als: Loesch, Der großdeutsche Gedanke). Ebd., S. 17. Loesch: Der großdeutsche Gedanke, S. 25. Ebd., S. 33. Boehm, Nationalitätenproblem, S. 367. Loesch, Karl C. von: Paneuropa – Völker und Staaten. Eine Untersuchung der geopolitischen Grundlagen (Auszug), in: Volk und Reich 2 (1926), S. 378382, hier: 378ff (unter identischem Titel zuerst in: ders. [Hrsg.], Staat und Volkstum, S. 7-50).
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bildungsprozesses, der mit der Veröffentlichung einer Europäischen Zielsetzung des Schutzbundes im März 1928 seinen Abschluss fand.240 Setzte diese Zielsetzung auf die Option der ‚Brücke‘, so legitimierte Karl Haushofer die Option der ‚Front‘. In seinem Beitrag Rheinische Geopolitik, der weitgehend der Einleitung seines Sammelwerks Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal entspricht,241 führte er seine These vom „Aufeinanderprallen grundverschiedener Grenzauffassungen“ an Rhein, Maas und Schelde aus. Als erster Autor der Zeitschrift brachte er den Kampf um die Westgrenze mit rassischen Dispositionen von Deutschen und Franzosen in Verbindung, aus denen die antagonistischen Konzepte der Linie und des Raumes resultierten.242 Das Ziel grenzlandpolitischen Handelns könne folglich nur die Durchsetzung des „germanischen“ Grenzkonzepts, also die Inbesitznahme des Rhein-Maas-Schelde-Raumes, sein. Für diesen Kampf jedoch bedürfe es einer wissenschaftlich fundierten und zugleich populären Legitimation, die Haushofer im westpolitischen Diskurs seiner Zeit offenbar noch vermisste. Mit Nachdruck mahnte er daher die Veröffentlichung eines „Stromportraits“ an, das den fortwährenden Kampf um das Stromgebiet in anschaulicher Form darstelle und durch empirische Daten und thematische Karten objektiviere.243 Haushofers Mitwirkung an der Zeitschrift war nach einem letzten, weiter unten behandelten Beitrag über die Geopolitik der Pfalz allerdings rasch beendet. Der Grund war ein Zerwürfnis mit Heiß, das Haushofer zu einem vollständigen Abbruch der Beziehungen veranlassen und ihn noch 1933 dazu bewegen sollte, die Aufnahme Heiß’ in den Volksdeutschen Rat und damit in den inneren Kreis der nationalsozialistischen Grenzlandpolitik zu verhindern.244
Das „Westland“ als kartographische Suggestion Die Hegemonialisierung des ‚Westland‘-Konzepts vollzog sich nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie in argumentativer Form, sondern zugleich im Medium jener suggestiv-visuellen Darstellungen, die der Schutzbund unter dem Druck der Abstimmungskampagnen und der Ruhrkrise mit großem Erfolg eingesetzt hatte.245 Diese neuartige Form der Visualisierung 240
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245
Die Europäische Zielsetzung und die eng mit ihr korrespondierende, aber vertraulich behandelte Deutsche Zielsetzung finden sich in: Opitz, Europastrategien, S. 544-554. Siehe hierzu auch Kapitel Das geopolitische Konzept der Westgrenze. Haushofer, Karl: Rheinische Geopolitik, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 447492, hier: 484f. Ebd., S. 487f. Haushofer erklärte 1934 in einem Gespräch mit Waldemar Wucher, „eine schlechte Erfahrung bei der früheren Mitarbeit an ‚Volk und Reich‘“ habe zu einem „Abbruch der Beziehungen“ sowie zu einer „persönlichen Abneigung“ gegen Heiß geführt. Wucher an Heiß, 30. Oktober 1933, in: Denkschrift [ohne Herausgeber und Titel, betr. Spruch des Bundesehrenrats der Deutschen Gildenschaft v. 26. April 1934 gegen Heiß u.a., Mai 1934], S. 21, PAAA, R 60347, n.p. Vgl. Lange, Friedrich: Die volkspolitische Kartenskizze, in: Boehm, Max Hildebert/Loesch, Karl C. von (Hrsg.): Deutsches Grenzland. Jahrbuch des Instituts für Grenz- und Auslandsstudien 1935, Berlin 1935, S. 48-56.
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war vor allem das Werk des Kartographen Arnold Hillen Ziegfeld, der als Mitarbeiter des Schutzbundes eine Vielzahl so genannter Suggestivkarten produzierte. Hierzu gehörten neben Pencks Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens die Kartenserien für Loeschs Volk unter Völkern, Haushofers Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, Wentzckes Rheinkrieg, Harmsens Dissertation Bevölkerungsprobleme Frankreichs und die vom Schutzbund herausgegebenen Taschenbücher des Grenz- und Auslanddeutschtums, darunter Königs Broschüre Die westlichen Grenzlande.246 Ziegfeld, der seit Mai 1921 der NSDAP angehörte, trug mit seinen Karten erheblich zur Attraktivität von Volk und Reich unter den jüngeren Grenzlandaktivisten bei und gehörte bis zu seinem Zerwürfnis mit Heiß im Jahre 1933 zum inneren Kreis der Redaktion und der Mittelstelle. Ziegfeld visualisierte das jungkonservative Raumkonzept einer von Kampfzonen umgebenen und bedrohten Mitte Europas wie kein anderer Graphiker seiner Zeit.247 In seinen Karten, deren Zielsetzung und Wirkungsweise er auch theoretisch begründete,248 überwog eine plakative Schwarz-WeißÄsthetik, mit deren Hilfe er die Dynamik und Divergenz moderner Grenzen betonte und sie mit Frontverläufen, militärischen Formationen, geometrischen Mustern und abstrahierten kulturellen Phänomenen analogisierte. Die Kombination aus Vereinfachung und Ästhetisierung zielte weniger auf die Wissenschaftlichkeit und Objektivität der Darstellung, sondern auf die Manipulation des Betrachters. Konsequenterweise schrieb Ziegfeld der suggestiven oder psychologischen Karte, wie er den neuen „Kartentypus“ in Anlehnung an Haushofer nannte,249 eine immanente Militanz zu: „[D]ie neue Karte [ist] gewalttätig, sie will den Leser fesseln, ihn zur Beschäftigung mit einem Problem zwingen, – sie ist durchaus aktivistisch.“250 In gewissem Sinne war sie also die kartographische Entsprechung der nationalistischen Apotheose der ‚Tat‘. Diese Art der politischen Kartographie stand in der Tradition der volkspolitischen Kartenskizzen, wie sie seit dem Ersten Weltkrieg in völkischen Kreisen gebräuchlich waren. Am Ende des Krieges hatten sie durch die
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Darüber hinaus zeichnete er die bekannte Schulkarte Deutschlands Verstümmelung. Guntram Henrik Herb spricht von ihm als „the most active in propagating suggestive cartography“ und bescheinigt ihm, die erste wirklich systematische Entwicklung der Suggestivkarte vorangetrieben zu haben. Herb, Under the Map, S. 82f. Vgl. Ziegfeld, Arnold Hillen: Kartographik, Wesen und Aufgabe, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 257-260 (im Folgenden zitiert als: Ziegfeld, Kartographik); ders.: Karte und Schule, in: Loesch (Hrsg.), Staat und Volkstum, S. 705-792, hier insbes.: 791f sowie Ziegelds Vortrag Bedeutung von Karte und Plakat im Deutschtumskampf, zit. in: Deutscher Schutzbund (Hrsg.), Achte Bundestagung, S. 66ff. Zur Entwicklung und zum Einsatz suggestiver Karten in Volk und Reich vgl. auch Wucher, Waldemar: Mittel der Darstellung, in: Um Volk und Reich, S. 69-103 (im Folgenden zitiert als: Wucher, Mittel der Darstellung). Darin finden sich weitere Beispiele für die Verwendung suggestiver Karten durch Friedrich Lange, Karl Haushofer und Walter Vogel in den Jahren 1922/23 (insbes. S. 71f). Vgl. Haushofer, Karl: Die suggestive Karte, in: ders. u.a. (Hrsg.), Bausteine zur Geopolitik, S. 343-348. Ziegfeld, Kartographik, S. 258.
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Abb. 10: Suggestivkarte „Der Kampfplatz – das Stromgebiet des Rheins“ von Karl Linnebach, 1926 (Linnebach, Karl: Die gerechte Grenze im deutschen Westen – ein 1000jähriger Kampf, Berlin 1926, o.S., Karte 1)
Adaption graphischer Verfahren aus der alliierten Kriegspropaganda eine technische und gestalterische Weiterentwicklung erfahren.251 In Walter Vogels Kartenserie Frankreichs Länderraub seit 1000 Jahren aus der Zeit der Ruhrkrise finden sich bereits Grundmuster der späteren Westraum-Karten Ziegfelds: Ausgehend von der territorialen Ordnung des Jahres 925 bildete Vogel die Osterweiterung Frankreichs einschließlich der 251
Zur Entwicklung der Suggestivkarten vgl. Herb, Under the Map, S. 76-81.
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napoleonischen Eroberungen und des Rheinbundes ab und strukturierte diesen Raum zusätzlich durch stark schematisierte Linien, die eine Art überhistorischen „Vormarsch“ französischer Truppen in das Innere Deutschlands hinein darstellten.252Mit gleicher Stoßrichtung legte Karl Linnebach 1926 eine Serie von 42 Karten über die „gerechte Grenze im deutschen Westen“ vor, die eine geologische, historische und kulturelle Homogenität des Stromgebietes von Rhein, Maas und Schelde suggerierten.253 Bemerkenswert ist vor allem die Karte Der Kampfplatz – das Stromgebiet des Rheins (Abb. 10), die geradezu idealtypisch einen durch die Adern des Stromgebietes verbundenen und durch die drei Linien der Sprachgrenze, der maximalen Westausdehnung des Reiches und der maximalen Ostausdehnung Frankreichs strukturierten Raum zeigt, in dem die geltenden Staatsgrenzen nicht mehr existieren. Diese Darstellung evozierte die Vorstellung einer oszillierenden Dynamik der Grenzen, die nahezu das gesamte Rheingebiet, aber auch die Gebiete an Saône, Doubs und Rhône, als einen einzigen Kampfraum auswies, in dessen Mitte die Sprachgrenze wie eine Achse verlief. Ziegfeld nutzte dieses neue visuelle Medium, um die regionalen Beiträge der Volk und Reich-Hefte zu homogenen Raumbildern zu verbinden. Die vielfach wiederholte und variierte Formsprache der Karten und ihre Zusammenführung zu Kartenserien und -sammlungen kann als ein Metanarrativ gedeutet werden, das die Vorstellung eines ‚Westlandes‘ kompakter und wirkungsvoller vermittelte als die Textbeiträge selbst.254 Ziegfeld rückte die deutsche Westgrenze in die Mitte eines Ausschnitts, der das Gebiet von der Kanalküste im Norden bis zur Schweiz oder zur französischen Mittelmeerküste im Süden abbildete. Die älteste, ursprünglich für König angefertigte und in Volk und Reich mehrfach nachgedruckte Karte setzte das Stromgebiet des Rheins mit den Grenzverläufen von 925, der aktuellen Reichsgrenze, der Grenze der Rheinprovinz und der Sprachgrenze in Beziehung.255 Im Januar 1927 veröffentlichte Ziegfeld eine erste Serie westpolitischer Karten, die einen Aufsatz Spahns über die preußische Rheinpolitik256 illustrierten. Ihre Grundlage war eine 1924 von Vogel entwickelte Darstellung des Rheins als Achse symmetrisch angeordneter Mittelgebirgslandschaften, die auf eine Wahrnehmung des Raumes als organische Einheit abzielte.257 In diesen gleichsam geometrisierten Raum hinein zeichnete er von neuem die Grenzen von 925, von 1925 und die Sprachgrenze,258 bevor er die territorialen Verän-
252 253 254 255 256 257
258
Abgedruckt in: Wucher, Mittel der Darstellung, S. 71f, 81. Linnebach, Gerechte Grenze. Vgl. Wucher, Mittel der Darstellung, S. 82. Ziegfeld, A. Hillen: Karte des Stromgebietes des Rheins und der deutschen Westlande, in: König, Die deutschen Westlande, S. 2. Spahn, Martin: Der Rhein, das Reich und Preußen, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 1-22. Ziegfeld, Arnold Hillen: Die natürlichen Landschaften des Rheintales, in: ebd., S. 3 sowie als Vorlage die Kartenskizze (ohne Titel) in: Vogel, Rhein und Donau, S. 65. Ziegfeld, Arnold Hillen: Das Stromgebiet des Rheins und die deutschen Westlande, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 9.
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derungen im 9. und 10. Jahrhundert darstellte259 und das „Westdeutschland“ des Jahres 925 mit demjenigen des Jahres 1925 kontrastierte.260
Abb. 11: Suggestivkarten Arnold Hillen Ziegfelds in Volk und Reich, 1927 (Volk und Reich 3 [1927], S. 397, 399, 409, 413)
259 260
Ders.: Rhein und Reich (7 Karten), in: ebd., S. 23-29. Ders.: Westdeutschland im Deutschen Reich von 925, in: ebd., S. 28; ders.: Volkspolitische Karte von 1925, in: ebd., S. 29.
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Weitere Kartenserien stellten das frühneuzeitliche ‚Abbröckeln‘ der westlichen Territorien des Reiches heraus und ordneten die in den Textbeiträgen behandelten Regionen in das Raumbild ein.261 So zeigte etwa eine Serie zur Geschichte der Schweiz weniger die Entwicklung des Landes selbst, sondern vielmehr dessen Lage innerhalb des ‚Westlandes‘ mit seinen beiden südwestlichen und nordwestlichen ‚Eckpfeilern‘ (Abb. 11). Herrschte zunächst eine Strukturierung der abgebildeten Flächen durch Flussläufe, Grenzlinien, Gebirge und Ortsnamen vor, nutzte Ziegfeld zunehmend auch die Darstellung von Verkehrsnetzen, Industrieansiedlungen, Lagerstätten und Warenströmen, um die Homogenität des ‚Westlandes‘ zu visualisieren.262 Auf einer gleichzeitig veröffentlichten Neufassung der Penck’schen Volks- und Kulturbodenkarte ergänzte er außerdem den bis dahin fehlenden ‚Kulturboden‘ im Westen.263 Diese Kartenfolgen waren die eigentliche Substanz des Heftes Der Kampf ums Westland, das die „Westarbeit“ von Volk und Reich im November 1929 zusammenfasste und weitgehend abschloss.264 Das Heft erschien als Reaktion auf den Young-Plan und im Vorfeld des gescheiterten nationalistischen Volksentscheids zur Durchsetzung des so genannten Freiheitsgesetzes am 22. Dezember 1929, das den Versailler Vertrag revidieren und seine deutschen Unterzeichner wegen Landesverrats mit Zuchthausstrafen belegen sollte.265 Das Heft war als eine Art geopolitischer Taschenatlas gestaltet und umfasste 75 fortlaufend kommentierte Karten, von denen 17 Mitteleuropa, 25 den ‚Westraum‘ und 33 seine Teilregionen abbildeten. Ziegfelds Begleit261
262
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Vgl. exemplarisch Ziegfelds Kartenfolgen zur Schweiz (insbes. ders.: Politischer Hohlraum in Habsburgs Westpolitik, in: Volk und Reich 3 [1927], S. 397; ders.: Die Auflösung der deutschen Westgrenze, in: ebd., S. 399; ders.: Raumpolitische Isolierung der Schweiz 1850-1870, in: ebd., S. 409; ders.: Die Gefahrlage der Schweiz unter der Versailler Ordnung, in: ebd., S. 413), zu Elsass-Lothringen (ders.: Elsaß-Lothringen, in: ebd., S. 285), zum Nordwesten (ders.: Nordwesteuropa. Lage und Hinterland, in: ebd., S. 531) und zur Pfalz (ders.: Die Pfalz im deutschen Westraum, in: Volk und Reich 4 [1928], S. 267). Vgl. exemplarisch ders.: Die Verkehrslage der Schweiz im Mittelalter, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 391; ders.: Nordwesteuropa als Sammelbecken, in: ebd., S. 531; ders.: Nordwesteuropas natürliche Einheit, in: ebd., S. 543. Ders.: Der deutsche Volksboden in Vergangenheit und Gegenwart, in: ebd., S. 30. Die Karte erschien in den folgenden Jahrgängen mehrfach. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 776ff. Dieser Kontext wurde in separaten Textbeiträgen Karl Linnebachs und Karl Mehrmanns hergestellt. Darin äußerte Linnebach die Befürchtung, dass die Vereinbarungen im Nachgang des Locarno-Abkommens (1925) eine Revision des Versailler Vertrags weiter erschweren könnten (vgl. Linnebach, Karl: Die Behandlung von Streitfragen über die Entmilitarisierung in dem Vertrag von Locarno, in: Volk und Reich 5 [1929], S. 738-747). Mehrmann argumentierte in eine ähnliche Richtung (vgl. Mehrmann, Karl: Der Rhein im mitteleuropäischen Raum und in der europäischen Staatengesellschaft, in: ebd., S. 603607; ferner ders.: Ein Brief an den Herausgeber, in: ebd., S. 748-751, insbes. S. 751), doch beruhte sein Text auf einer bereits im Ersten Weltkrieg im alldeutschen Kontext entstandenen Vorlage (ders: Das Neue Gleichgewicht). – Zum Young-Plan vgl. allgemein Heyde, Philipp: Das Ende der Reparationen. Deutschland, Frankreich und der Young-Plan 1929-1932, Paderborn 1998; Kent, Bruce: The Spoils of War. The Politics, Economics, and Diplomacy of Reparations 1919-1932, Oxford 1989.
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text266 setzte sich im Wesentlichen aus Fragmenten der seit 1927 erschienenen Textbeiträge zusammen, deren Autoren freilich ungenannt blieben. Seine Bedeutung lag sicher nicht in seiner wissenschaftlichen Qualität oder inhaltlichen Originalität, sondern in der Vehemenz, mit der Ziegfeld die Texte der kartographischen Suggestion unterordnete. Sämtliche Regionen und Orte des ‚Westlandes‘ waren nun ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des kontinuierlichen Kampfes zueinander in Beziehung gesetzt: die Westgrenze mutierte zur „Westfront“ und die Regionen zu Etappen, Abschnitten oder Vorfeldern derselben. Das ‚Westland‘ erhielt dadurch eine funktionale Binnenstruktur und Hierarchie, die sich nicht aus den territorialen Folgen des Versailler Vertrags ableitete. Die Metapher des Festungswerks modernisierend, war die Westgrenze in einen nordwestlichen, einen mittleren und einen südwestlichen Abschnitt gegliedert. Die südwestlichen und nordwestlichen „Frontabschnitte“ stellten die „Außenstellungen“ und „Eckpfeiler“ der Festung dar,267 während der mittlere Sektor die weiche Westflanke des Reiches bildete. Die Schweiz und Flandern waren aus dieser Perspektive primäre Objekte der Grenzlandpolitik, während ElsassLothringen, der Pfalz, dem Saargebiet, dem Aachener Gebiet sowie Eifel und Hunsrück lediglich eine untergeordnete Bedeutung als „westdeutsche Landschaftsprobleme“268 zufiel. Das textliche Fundament dieses Raumbildes, d.h. die westpolitischen Volk und Reich-Beiträge der Jahre 1926-1929, hatten indessen weniger die Vordenker des Schutzbundes und der Mittelstelle, sondern vielmehr regionale Autoren geschaffen. Sie entstammten in der Regel örtlichen Heimat- und Volkstumsorganisationen sowie wirtschafts- und kulturpolitischen Institutionen, im Falle Flanderns dominierten Kollaborateure aus dem Ersten Weltkrieg und nachrückende Vertreter der Flämischen Bewegung. Die Texte lassen daher eine Variationsbreite regionaler Raumbilder erkennen, die es im Spiegel ihrer visuellen Homogenisierung zu analysieren gilt.
Die „Bastionen“ des „Westlandes“: Schweiz und Flandern Das Bild des südöstlichen „Eckpfeilers“, also der Schweiz, beruhte im Wesentlichen auf einem 1927 erschienen Aufsatz Hans Oehlers, einem am deutschen Jungkonservativismus orientierten Züricher Funktionär des Deutsch266
267 268
Der Text erschien ohne Verfasserangabe. Allerdings heißt es einleitend: „Es scheint der Schriftleitung von ‚Volk und Reich‘ ein Zeitpunkt gekommen, an dem trotz der nicht vollständigen Bearbeitung der Westfragen ein Querschnitt durch die Probleme des Westens gezogen werden sollte. Mit Hilfe der bisher veröffentlichten Karten und neuer kartographischer Darstellungen wurde die Behandlung der wichtigsten Fragen des Westens [...] versucht. Herr Arnold Hillen Ziegfeld führte innerhalb der Schriftleitung diese Arbeit durch und fand hierbei die bereitwillige Beratung der in Frage kommenden Sachverständigen aus dem Mitarbeiterkreis der Zeitschrift [...].“ Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 608. Die Autorschaft Ziegfelds ergibt sich auch aus: Anonymus. Zu diesem und zu anderen Heften, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 775 (im Folgenden zitiert als: Anonymus, Zu diesem und zu anderen Heften). Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 648, 653. Ebd., S. 691.
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schweizerischen Sprachvereins und Redakteur der mit deutscher Beteiligung gegründeten Schweizer Monatshefte für Politik und Kultur.269 Seine geopolitische Deutung der schweizerischen Geschichte wandte sich explizit an die „heranwachsende[.] Generation“, um ihr den Anschluss an die deutsche „politische Geographie“ und ihre grenzlandpolitische Applikation zu ermöglichen. Die Funktion der Schweiz als Eckbastion der ‚Westfront‘ resultierte für ihn unmittelbar aus ihrer Lage innerhalb der ‚Mitteleuropa‘ begrenzenden Stromgebiete des Rheins, der Rhône, der Donau und des Po, die „wie die Zeiger einer Windrose nach allen vier Himmelsrichtungen“ von der Schweiz „ausstrahlen“.270 Ihr Charakter als „Vierströmeland“ mache sie deshalb zu einer „Drehscheibe“ Europas, die, ganz im Sinne von Riehls Motiv des gleichzeitigen Straßen-, Kriegs- und Grenzlandes und Boehms janusköpfigem Bild der Fronten und Brücken, sehr unterschiedliche Formen annehmen könne: „So trennt und verbindet der schweizerische Raum zugleich vier verschiedene Stromgebiete. Entsprechend spielt er im europäischen Raum bald die Rolle einer verbindenden Klammer, bald eines Paßlandes, in dem sich der Übergang von einem Stromgebiet zum anderen vollzieht, bald des deckenden Vorlandes oder der Aus271 fallspforte aus einem Stromgebiet in andere Stromgebiete.“
Dieses Bild einer vierfachen Polarität und Funktionalität der Schweiz bildete die Grundlage einer in der römischen Antike einsetzenden Narration, in deren Zentrum die Herausbildung der Eckpfeiler-Position im Zuge der Angliederung des zweiten burgundischen Königreiches an das Heilige Römische Reich und ihr Zerfall im Gefolge der Kämpfe zwischen der Eidgenossenschaft und dem dritten burgundischen Reich Karls des Kühnen standen. In dieser Epoche zwischen dem 11. und 16. Jahrhundert erblickten Oehler und mit ihm Ziegfeld das Ideal einer mitteleuropäischen Raum-Ordnung: „Fast ein halbes Jahrtausend lang bildete der schweizerische Raum nun den südwestlichen Eckpfeiler des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Durch ihn werden Rhein-, Rhône-, Po- und Donau-Stromgebiet fest miteinander verbunden. Er selbst ist Binnenraum geworden. Die Westgrenze des Reiches verläuft weit im Westen, von der Nordsee längs des Scheldelaufs zum Oberlauf der Maas und von dort entlang der Saône und Rhône zum Mittelmeer. Dem deutschen Kultur- und Sprachgebiet ist nach Westen ein breiter Gürtel von Reichs-Romanentum vorge272 lagert.“ 269
270
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Oehler war außerdem Mitglied der von Rudolf Pechel gegründeten Arbeitsgemeinschaft deutscher Zeitschriften für die Interessen des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 312f, 686. Darüber hinaus ist eine Orientierung an Karl Haushofer erkennbar. Vgl. exemplarisch Oehler, Hans: Die Schweiz, in: Haushofer, Karl (Hrsg.): Jenseits der Großmächte, Leipzig u.a. 1932, S. 150-169. Ders.: Abriß einer Geopolitik der Schweiz, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 382-412, hier: 382 (im Folgenden zitiert als: Oehler, Geopolitik der Schweiz); wörtlich identisch in Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 648. Oehler, Geopolitik der Schweiz, S. 384; wörtlich identisch in Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 648. Oehler, Geopolitik der Schweiz, S. 388 (Herv. i. Orig.); weitgehend identisch in Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 649.
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Oehler erblickte hierin das aktualisierbare Modell einer europäischen Ordnung. „Vielleicht“, so spekulierte er, „ist der Raum zwischen Alpen und Jura nicht ungeeignet, Kern und Ausgangspunkt einer europäischen Raumgestaltung zu sein, die im deutschen Wesen verankert, das mittelalterliche Reichsromanentum des westlichsten Rheinstromgebietes und des Rhône- und PoStromgebietes einzubeziehen vermöchte.“273 Die Voraussetzungen hierfür seien jedoch seit der Entstehung der Eidgenossenschaft 1499 und vor allem durch diplomatische Vorstöße Frankreichs allmählich erodiert. Als „neutrales Zwischenland“ wirke die Schweiz seit dem 16. Jahrhundert „wie ein Hohlraum“, und „die Vorwerke des mitteleuropäischen Raumes an Oberrhein, Rhone und Po hingen von nun an in der Luft, weil der südwestliche Eckpfeiler [...] herausgebrochen war.“274 Die jüngere schweizerische Geschichte erschien aus dieser Sicht als fortschreitender Zerfall: das 17. und 18. Jahrhundert als ein Dasein „im französischen Zangengriff“275 und das 19. Jahrhundert als Abstieg zu einem „mitteleuropäische[n] Randstaat“,276 der mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 jedoch etwas von seiner „mitteleuropäische[n] Ruhelage“277 wiedergewonnen habe. Während des Ersten Weltkrieges habe die Schweiz durch ihre Neutralität schließlich wieder ihre ursprüngliche strategische Bedeutung als „Flankenstellung des allseits eingeschlossenen deutschen Mittraumes [sic]“278 erlangt. Die Pointe von Oehlers Narration lag also darin, dass die Schweiz nicht durch forcierte Volkstumskämpfe, sondern gerade durch ihre Neutralität im entscheidenden Moment wieder als ‚Eckpfeiler‘ fungiert habe und es folglich nur darum gehen müsse, die französischen Einflüsse so weit wie möglich zu minimieren. Ziegfeld Bild des südlichen ‚Westlandes‘ setzte sich fast ausschließlich aus dieser geopolitischen Vorlage zusammen. Sprachliche, kulturelle, ökonomische und technologische Komponenten spielten demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle, und nur beiläufig knüpfte er an einen Beitrag Eduard Blochers, des Präsidenten des Deutschschweizerischen Sprachvereins,279 über
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Oehler, Geopolitik der Schweiz, S. 394 (Herv. i. Orig.); wörtlich identisch in Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 652. Ebd., S. 653; weitgehend identisch mit Oehler, Geopolitik der Schweiz, S. 400. Vgl. in Abb. 11 auch Ziegfelds Karten: Politischer Hohlraum in Habsburgs Westpolitik, in: ebd., S. 397 (unter dem Titel: Habsburgs Abwehrpolitik im 15. und 16. Jahrhundert, erneut in ders., Kampf ums Westland, S. 631); ders.: Die Auflösung der deutschen Westgrenze, in: ebd., S. 399 (unter dem Titel: Die Auflösung der deutschen Westgrenze im 17. und 18. Jahrhundert, erneut in: ders., Kampf ums Westland, S. 633). Ders.: Die Schweiz im französischen Zangengriff, in: ebd., S. 401 (erneut in: ders., Kampf ums Westland, S. 653). Ders.: Die Schweiz als mitteleuropäischer Randstaat, in: ebd., S. 407 (erneut in: ders., Kampf ums Westland, S. 567). Ders.: Mitteleuropäische Ruhelage, in: ebd., S. 411 (erneut in: ders., Kampf ums Westland, S. 569). Ders., Kampf ums Westland, Ebd., S. 664. Blocher verfolgte ein an Ratzel orientiertes Konzept des germanischen Ursprungs der schweizerischen Bevölkerung und er verneinte die Existenz einer eigenständigen schweizerischen Kultur. Hierbei wurde er durch den VDA finanziell unterstützt. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 326f.
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die Sprach- und Nationalitätenverhältnisse der Schweiz an.280 Die in Volk und Reich veröffentlichten Beiträge Theodor Klenerts über die schweizerische Wirtschaft,281 Gustav Dänikers über das Militärsystem,282 Wilhelm von Neuffers über die Beziehung zum Rhein283 und F. K. Hennersdorfs über die strategisch bedeutsame Stilserjochbahn284 flossen in Ziegfelds Raumarrangement nicht ein. Fungierte die Schweiz als südwestliche Bastion des ‚Westlandes‘, bildete das Mündungsdelta von Rhein, Maas und Schelde ihr nordwestliches Gegenstück. Anders als die Schweiz wurde der Nordwestraum jedoch nicht entlang der bestehenden Staatsgrenzen definiert, sondern aus den Niederlanden, Flandern und Nordostfrankreich zusammengefasst. Ökonomie und Verkehr, aber auch tagespolitische Ereignisse und politische Bewegungen, traten als Konstituenten dieses Raumes in den Vordergrund, wobei der ‚Nordwesten‘ zusätzlich als landwirtschaftlicher und infrastruktureller Ergänzungsraum des rheinisch-westfälischen Industriegebietes erschien. Der entscheidende Unterschied zur Schweiz lag jedoch darin, dass nicht seine politische Neutralität, staatliche Integrität und soziale Stabilität, sondern die Desintegration des belgischen Staates den Fixpunkt der grenzlandpolitischen Strategie bildete. Sein Bild des Nordwestens übernahm Ziegfeld in der Hauptsache – jedoch mit einer entscheidenden Korrektur – von Robert Paul Oszwald, der zwischen 1927 und 1929 drei grundlegende Aufsätze in Volk und Reich veröffentlichte. Der 1883 geborene Historiker war über drei Jahrzehnte hinweg eine Schlüsselfigur der deutsch-flämischen Beziehungen. In beiden Weltkriegen bekleidete er höhere Funktionen in der deutschen Besatzungsverwaltung und unterhielt enge Kontakte zur Flämischen Bewegung. Unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte er in den Preußischen Jahrbüchern Partei für den flämischen Nationalismus ergriffen und den belgischen Staat brutaler Unterdrückungsmethoden bezichtigt.285 Seit Juni 1915 gehörte er der Politischen Abteilung der deutschen Zivilverwaltung im besetzten Belgien an und war in ihrer Flamenpolitischen Sektion tätig;286 sein Aufgabengebiet umfasste im letzten Kriegsjahr unter anderem die Kooperation mit dem Raad van Vlaanderen. Die bei Kriegsende nach Deutschland geflohenen Mitglieder des Rates bildeten neben emigrierten Studenten der unter deutschem Kuratel flamisierten Universität Gent eine überaus aktive Exilgruppe, die weiterhin enge Kontakte zu ihrem früheren Mentor unterhielt. Dieser selbst war nach Kriegsende in den Dienst des Berliner Reichs280 281 282 283 284 285 286
Blocher, Eduard: Das Volk der Schweiz, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 420429; vgl. auch Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 662ff. Klenert, Theodor: Die Wirtschaft der Schweiz, in: Volk und Reich 3 (1927), S.429-435. Däniker, Gustav: Das Wehrsystem der Schweiz, in: ebd., S. 435-439. Neuffer, Wilhelm von: Die Schweiz und der Rhein, in: ebd., S. 439-443. Hennersdorf, F. K.: Die Stilserjochbahn, in: ebd., S. 443-451. Vgl. Oszwald, Robert Paul: Der Nationalitätenkampf der Flamen und Wallonen, in: Preußische Jahrbücher 156, Nr. 2 (1914), S. 214-245. Vgl. Laux, Flandern im Spiegel, S. 252ff. Vgl. auch Dolderer, Winfried: Der flämische Nationalismus und Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Dietz u.a. (Hrsg.), Griff nach dem Westen, S. 109-136 (im Folgenden zitiert als: Dolderer, Der flämische Nationalismus); ders.: Robert P. Oszwald, in: Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging, Tielt 1998 (im Folgenden zitiert als: NEVB), S. 2364.
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archivs eingetreten und befasste sich mit der Widerlegung des alliierten Kriegsschuldvorwurfs sowie der Auswertung der Akten der deutschen Besatzungsverwaltung und des Raad van Vlaanderen.287 Es darf also nicht verwundern, dass dessen Protagonisten und ihre Nachfolger, namentlich die am katholischen Integralismus, am deutschen Jungkonservativismus oder am aufstrebenden Faschismus orientierten Kreise um die Zeitschriften Vlaanderen und Jong Dietschland, das Flandernbild von Volk und Reich entscheidend prägten. Das erste Flandern-Heft eröffnete den Diskurs im Dezember 1927 mit einem Gedicht René de Clercqs,288 der Symbolfigur des flämischen Nationalismus. Die Darstellung der Geschichte und Gegenwart der Flämischen Bewegung stammte aus der Feder Josué de Deckers, eines ehemaligen Mitglieds des Raad van Vlaanderen, der die Zeitschrift Vlaanderen redigierte und mit völkisch-jungkonservativen Organisationen wie dem Politischen Kolleg, dem Schutzbund und dem Jungdeutschen Orden zusammenarbeitete.289 Der Chefredakteur von Jong Dietschland und nachmalige Präsident des Europäischen Parlaments, Viktor Leemans, referierte vor dem Hintergrund der eigenen Orientierung an Carl Schmitt und Romano Guardini die „Gedankenwelt der flämischen Jüngeren“,290 während Robert van Genechten von niederländischer Seite her für eine grootnederlandse Vereinigung Flanderns mit den Niederlanden warb.291 Der hohe Stellenwert, den die Redaktion der Flämischen Bewegung einräumte, zeigt sich nicht zuletzt im vollständigen Abdruck eines Trauerspiels des Dramatikers Raf Verhulst292 – ein in der zwanzigjährigen Geschichte des Blattes einmaliger Vorgang.293 Oszwald bediente sich zunächst des Raumkonstrukts Nordwesteuropa, um die Zusammengehörigkeit der niederländischen, flämischen und deutschen Bevölkerung im Mündungsdelta der drei Ströme zu unterstreichen. Dieses Konstrukt beruhte auf dem grotesken Gedanken, dass sich der Nordwesten „sowohl physikalisch wie geologisch von den übrigen Teilen Westund Mitteleuropas“ unterscheide und einer „Nordwestecke von Europa“ 287 288 289
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Vgl. Laux, Flandern im Spiegel, S. 253-260. Clercq, René de: An Flandern, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 529. Decker, J. de: Die flämische Bewegung im allgemeinen. Geschichte, Kritik und Aussicht, in: ebd., S. 568-580. Vgl. auch Dolderer, Der flämische Nationalismus, S. 113, 120; Vandeweyer: Decker, Josué de, in: NEVB, S. 878ff. Leemans, Viktor: Aus der Gedankenwelt der flämischen Jüngeren, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 598-601. Vgl. auch Dolderer, Der flämische Nationalismus, S. 120; Luyten, D.: Victor Leemans, in: NEVB, S. 1812f. Genechten, Robert van: Flanderns wirtschaftliche Entwicklung nach dem Kriege, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 586-590. – Zu Genechten vgl. Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie: Robert van Genechten: Zijn berechting en veroordeling, Amsterdam 1947. Verhulst, Raf: Der Nazarener, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 662-636 u. 4 (1928), S. 508-532. Erst im acht Monate später folgenden zweiten Flandern-Heft kamen neben Oszwald auch deutsche Fürsprecher des flämischen Nationalismus zu Wort, so Franz Fromme mit einem Beitrag zur niederdeutsch-niederländischflämischen Sprachidentität (Flamen und Plattdeutsche, in: Volk und Reich 4 [1928], S. 485-489; vgl. auch Dolderer, Der flämische Nationalismus, S. 117118, 129f) und Walther Reusch mit einer Apologie des studentischen Rechtsextremismus in Flandern (Flämische Studenten und Frontsoldaten, in: Volk und Reich 4 [1928], S. 524-530).
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angehöre, die allerdings „vom Meer bedeckt ist“ und sich lediglich im Mündungsgebiet der drei Ströme über den Meeresspiegel erhebe.294 Dieses selbst innerhalb des ‚Westland‘-Diskurses sonderbar anmutende Gebilde hatte nach Oszwald die Form eines rechtwinkligen Dreiecks, „das ungefähr durch die Punkte Boulogne – Köln – Emden bestimmt“ sei: „Im Süden wird die Grenze von den Höhenzügen der Kreidehügel von Artois gebildet, die sich aus dem Gebiet zwischen Calais und Boulogne nach Südosten bis in die Nähe von Cambrai hinziehen. Von hier aus setzen sich die Erhebungen in nordöstlicher Richtung fort über die [...] Hochebene von Hesbaye hinweg und durch das holländische Südlimburg hindurch bis zur Kreideplatte des Aachener Waldes, von wo das Gebirge schnell in die Kölner Bucht abfällt. [...] Von Köln, dem Scheitelpunkt des nordwesteuropäischen Dreiecks kann man die Ostgrenze in einer leicht geschwungenen Linie von Süden nach Norden an der Westseite des ostrheinischen Schiefergebirges und den Münsterschen Kreidebergen vorüber bis zum Dollart ziehen; auf der nördlichen Hälfte dieser Linie, wo sie mitten durch Flachland verläuft, liegt das Bourtanger Moor, zu beiden Seiten der deutschniederländischen Grenze. Die Hypothenuse des rechtwinkligen Dreiecks bildet die vom Cap Gris Nez in nordöstlicher und nördlicher Richtung schwingende Küste der belebtesten Durchgangsstraße der Weltmeere, der Verbindung zwischen der Nordsee und dem Atlantischen 295 Ozean, auf dessen anderer Seite die britannische Inselwelt in dichter Nähe lagert.“
Indem Oszwald diese geometrische Grenzziehung mit dem Verlauf der Römerstraßen zwischen Köln und Boulogne analogisierte und diesen einen bis in die Gegenwart nachwirkenden Einfluss auf die spätantike Siedlungsgeschichte zuschrieb, wertete er den Grenzabschnitt von Boulogne bis Maastricht zusätzlich als „Grenze zwischen Germanen und Romanen seit dem 5. Jahrhundert“, die dann „in ihrer westlichen Hälfte“, also in der Wallonie, Artois und Cambrai, „zu ungunsten der germanischen Sprache weit nach Norden zurückgedrängt“ worden sei.296 Oszwalds Nordwesteuropa bildete einen in seinem Ursprung also nicht nur geographisch, sondern auch völkisch homogenen Raum. Zwar griff er die traditionelle Differenzierung der Bewohner in Niedersachsen, Friesen und Franken auf, doch deutete er die drei Stämme als harmonische Einheit, die durch regionale Gemeinsamkeiten von Mundart, Volkskultur und Konfession fest mit den deutschen Nachbarregionen verbunden sei.297 Die politische Folgerung hieraus war ein Plädoyer für die Teilung Belgiens und die Schaffung eines flämisch-holländischen Groot Nederland, wie es den flämischen und niederländischen Autoren von Volk und Reich vorschwebte. Oszwald ging jedoch noch einen Schritt weiter, indem er seinen ‚Nordwesten‘ aus dem mitteleuropäischen Raumkonzept herauslöste. Er brachte damit eine Variante ins Spiel, die das Einzugsgebiet von Rhein, Maas und Schelde nicht als die westliche Grenze ‚Mitteleuropas‘ betrachtete, sondern
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Oszwald, Robert Paul: Nordwesteuropa, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 530562 (im Folgenden zitiert als: Oszwald, Nordwesteuropa). Ebd., S. 531ff. Ebd., S. 532. Ebd., S. 542-558.
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als das „Hinterland“298 einer an sich nicht mitteleuropäischen Region, nämlich des in die Nordsee abtauchenden ‚Nordwesteuropa‘. Ziegfeld visualisierte dieses Raumkonzept zunächst mit einer Suggestivkarte, die den geradlinigen Umriss des Oszwald’schen Dreiecks in das flächenhaft dargestellte Stromgebiet legte (Abb. 12). In Kampf ums Westland griff er diese Darstellung auf, deutete sie jedoch um, indem er Oszwalds Begriff ‚Nordwesteuropa‘ durch ‚Nordwesten Mitteleuropas‘ austauschte.299
Abb. 12: Suggestivkarte „Nordwesteuropa“ von Arnold Hillen Ziegfeld, 1927 (Volk und Reich [1927], S. 531)
Sieht man von dieser Diskrepanz der Raumbilder ab, so floss Oszwalds Narration eins zu eins in Ziegfelds Kompilation ein. Sie beruhte auf der Behauptung einer gemeinsamen germanischen Rassezugehörigkeit, die in der flämisch-niederländischen Handelsmacht ihre Überlegenheit bewiesen habe, aufgrund eines Konstruktionsfehlers der Grenze von 925 jedoch nie zu einer politischen Einheit im deutschen Reichsverband habe werden können. Denn anders als in ihren mittleren und südlichen Abschnitten, wo die mittelalter298 299
Ziegfeld, A. Hillen: Nordwesteuropa. Lage und Hinterland, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 531. Ders.: Der Nordwesten Mitteleuropas. Lage und Hinterland, in: Kampf ums Westland, S. 667.
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liche Grenze durch romanisches Sprachgebiet verlief, habe sie die Sprachgrenze im Nordwesten durchkreuzt und den Westen Flanderns der Romanisierung preisgegeben. Flandern sei daher der „klassische Boden eines Jahrhunderte währenden Selbstbehauptungskampfes der bodenständigen Rasse gegen das Einvölkerungsbestreben eines fremdrassigen Herrschaftsstaates“,300 und als solcher repräsentiere es den ‚Kampf ums Westland‘ wie keine andere Region. Dieser Kampf spielte sich für Oszwald nicht nur auf politischem und sprachlich-kulturellem, sondern vor allem auf ökonomischem und technischem Gebiet, nämlich im Medium der Montanindustrie und Verkehrsinfrastruktur, ab. Damit rückten zwei spezifisch moderne Raumkonstituenten in den Vordergrund, die das im historischen Rekurs entwickelte Spannungsverhältnis von rassisch-räumlicher Einheit und kulturell-staatlicher Spaltung aktualisierten. Entlang der Südflanke des nordwesteuropäischen Dreiecks, so Oszwald, hätten neue Technologien die Erschließung jenes zusammenhängenden Steinkohlebeckens ermöglicht, das sich vom Ruhrgebiet und dem Aachener und angrenzenden Limburgischen Revier über das belgische Kemperland bis Nordostfrankreich erstreckte.301 Damit rückte das im Kriegszieldiskurs beanspruchte Steinkohlebecken von neuem ins Zentrum des Interesses. Die geologische Zusammengehörigkeit der Lagerstätten diente als Beweis für die wirtschaftsgeographische Einheit der belgischen, niederländischen und deutschen Reviere; sie verhieß ein Goldenes Zeitalter industrieller Prosperität, das nur durch die Restriktionen der Mehrstaatlichkeit und des Versailler Vertrages gehemmt werde.302 Vor diesem Hintergrund maß Oszwald der Verkehrstechnik, insbesondere dem Bau von Wasserstraßen für Schiffe von über 2000 t, eine zentrale Bedeutung zu. Der projektierte Rhein-Maas-Schelde-Kanal, der die aufstrebende belgische Montanindustrie mit den Häfen Antwerpen und Duisburg verbinden sollte und dessen Bau auf deutschem Gebiet im Versailler Vertrag eigens garantiert worden war,303 erschien als der möglicherweise alles entscheidende Schachzug, mit dem Frankreich den „Niederrhein und das gesamte Rheinmündungsgebiet in französisch-belgische Abhängigkeit“ bringen wolle.304 Nach dem gleichen Muster deutete Oszwald, wie übrigens auch Oehler, französische Überlegungen zu einem kontinentalen Schifffahrtsweg von Antwerpen über den Rhein-Schelde-Kanal, den Rhein, den Rhein-Rhône-Kanal und den geplanten Rhône-Kanal nach Marseilles als strategischen Griff nach beiden Außenstellungen des Westlandes.305 Ziegfeld fasste zusammen: 300 301 302 303
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Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 668. Vgl. Oszwald, Nordwesteuropa, S. 538-542. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 680-684. In Art. 361 des Vertrags war festgelegt, dass Deutschland unter bestimmten Bedingungen eine Wasserstraße für tiefgehende Schiffe in der Höhe von Ruhrort bauen müsse. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 688; vgl. ausführlich Oszwald, Robert Paul: Die Schelde als neue Rheinmündung und die Aufhebung der belgischen Neutralität, in Volk und Reich 4 (1928), S. 397-459, hier: 408-416; 432-443 (im Folgenden zitiert als: Oszwald, Schelde). Ders.: Marseille – Straßburg – Antwerpen, ein französischer Schiffahrtsweg vom Mittelmeer zur Nordsee, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 311-322; Oehler, Hans: Die Handels- und Verkehrsbeziehungen der Schweiz mit Frank-
282 | IMAGINIERTER WESTEN „Dies entspricht den Gedanken eines großes Planes, der in der Akademie der Wissenschaften in Frankreich erörtert worden ist, nämlich die große Querfurche des Rheins und der Rhone zur französischen Wirtschaftsbasis zu machen, deren Endpunkte Marseilles und Antwerpen sein würden und mit Hilfe dieser großartigen Wirtschaftsbasis durch die afrikanischen Produkte Belgiens und Frankreichs die über Antwerpen eindringenden amerikanischen Erzeugnisse zu schlagen. Gegen diese Gefahr, die die Schweiz und die Niederlande in französische Abhängigkeit bringen, die Flamen in Belgien der völligen Französierung preisgeben und Deutschland der Ausnutzung seines Hauptstromes berauben würde, werden die wirtschaftlichen und kulturellen Lebensbedürfnisse der germanischen Völker Mitteleuropas eine geschlossene Abwehrfront aufrichten müssen, wenn sie vermeiden wollen, daß die 306 Zeiten Napoleons in anderer Form wiederkehren.“
Auf der Projektionsfläche der Infrastruktur taucht das paranoische Grundmotiv des Schutzbundes, der ‚systematische Entdeutschungsplan‘, hier wieder auf. Die Totalität dieses Phantasmas ließ es geboten erscheinen, so unterschiedliche Erscheinungen wie den flämischen Nationalismus, die Konkurrenzfähigkeit des Ruhrbergbaus, die Beendigung der Rheinlandbesatzung und die Regelung der europäischen Binnenschifffahrt zu einer Strategie der ‚Abwehr‘ zu verbinden. Oszwald formulierte seine politische Strategie im zweiten Flandern-Heft von Volk und Reich genauer aus. „Denkt man sich das einheitliche Wirtschaftssystem im Nordwesten als ein einheitliches Staatsgebiet“, schrieb er in Anlehnung an die grootnederlandsche Strömung, „so lösen sich die Kanalfragen von selbst.“307 Die effektive Lösung der Wirtschafts- und Verkehrsfragen stellte für ihn also sowohl die Legitimation, als auch einen pragmatischen Ansatzpunkt für die Neuordnung des Nordwestens, ja des gesamten ‚Westraumes‘, dar. Oszwald verband das zweckrationale Plädoyer für eine auf dem Prinzip des gegenseitigen Nutzens beruhende Verkehrsplanung mit der Taktik des Schutzbundes, durch die Lösung grenzbedingter Wirtschafts-, Verkehrs- und ‚Volkstums‘-Probleme Kristallisationskerne einer europäischen Gemeinschaft jenseits der Versailler Ordnung zu entwickeln. Wirtschaft und Verkehr wurden damit zu Schrittmachern einer auch völkisch homogenen „großniederländischen“ Einheit, einer Desintegration des belgischen Staates mit Anschluss der Wallonie an Frankreich und, so eine erhoffte Folgewirkung, einer Herauslösung Elsass-Lothringens aus dem französischen Staatsverband.308 Dem ehemaligen Besatzungsfunktionär war sehr wohl bewusst, „dass ein solcher Idealzustand eines neutralen, nach allen Seiten offenen großniederländischen Staates bei der noch [sic] beherrschenden Auffassung vom Wesen des Staates nur nach einer neuen gewaltsamen internationalen Erschütterung möglich sein kann.“ Da ein solcher neuer Weltkrieg jedoch „nicht gewünscht werden“ könne, müsse ein „Bewußtsein“ dafür geschaffen werden, „dass die zwischen Holland und Belgien aufgetauchten Fragen nur vom wirtschaft-
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reich, in: ebd., S. 323-336. Vgl. auch Anonymus („ein elsässischer Wirtschaftspolitiker“): Elsaß-Lothringen, Frankreichs Wirtschaftskolonie in Europa, in: ebd., S. 337-345; Mehrmann, Karl: Die rheinische Interessensphäre des französischen Imperialismus, in: ebd., S. 306-311. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 688. Oszwald, Schelde, S. 455. Ebd., S. 456.
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lichen Gesichtspunkt aus zu lösen versucht werden dürften, [...] indem man das gesamte Gebiet als eine große Wirtschaftseinheit fasst“. Die Akteure einer solchen Einigung waren für Oszwald nicht staatliche Institutionen, sondern die interessierten Montanindustriellen: „Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sich die Kohlenindustrien Deutschlands, Hollands und Belgiens leichter über die notwendigen Kanalpläne einigen werden als die Regierungen.“ Die anzustrebende Gesamtlösung sollte sich dementsprechend nicht an den bestehenden Staatsgrenzen, sondern an gemeinsamen Interessen der „aufkommende[n] Industrie in Holländisch Limburg“ und „im flämischen Kemperland“, der „deutsche[n] Ruhrindustrie“, des „Aachener Bezirks“ der „Nordseehäfen“ orientieren: „Infolgedessen ergeht die Forderung, daß das gesamte Wirtschaftsgebiet von Antwerpen und Rotterdam bis nach Lüttich und bis zur Ruhr ein Gebiet darstellt, in welchem die Schiffahrt frei ist. Der Rhein ist internationalisiert, ebenso wie die Elbe und die Donau. Es steht nichts dagegen, dass diese Internationalisierung auch die Schelde und die Maas treffen [sic], nicht aber nur auf holländischem Gebiet, sondern auch auf belgischem und französischem. [...] Dieses ganze Gebiet muss entmilitarisiert werden, wie es das Rheingebiet auf deutschem Boden ist, wie es das Ruhr309 gebiet ist.“
Die Pointe dieser Folgerung bestand darin, dass Oszwald die negative Transformation der Westgrenze durch den Versailler Vertrag auf die nordwestlichen Nachbarstaaten übertrug: Auch Maas und Schelde sollten internationalisiert und der gesamte ‚Nordwesten‘ entmilitarisiert werden. Die RaumOrdnung des im Krieg unterlegenen Deutschlands wurde zum Modell einer vordergründig wirtschaftlichen, tatsächlich aber politischen Durchdringung und Neuordnung der Niederlande, Belgiens und Nordostfrankreichs. Obschon ihm die Unannehmbarkeit solcher Forderungen durch die Nachbarstaaten bewusst war, hoffte Oszwald durch die Betonung der Neutralität und die Verheißung eines friedlichen Europas auch außerhalb des flämischen Nationalismus Fürsprecher zu finden. Insofern handelte er nur folgerichtig, wenn er die anvisierte großniederländische Lösung mit dem Neutralität suggerierenden Konstrukt einer weder west- noch mitteleuropäischen Zugehörigkeit des Nordwestens unterlegte. Diese Strategie, auf Basis einer gemeinsamen industriellen Infrastruktur eine Anbindung des ‚Nordwestens‘ an das Reich – wenn auch auf dem Umweg eines neutralen Groot Nederland – herbeizuführen, griff jenen von Reismann-Grone vertretenen Nebenstrang des alldeutschen Diskurses wieder auf, der dem ‚Nordwesten‘ eine Sonderrolle innerhalb der ‚Westmark‘ zugewiesen und sowohl auf die Flämische Bewegung, als auch auf die Interessenkonvergenz der Niederlande und des Reiches gesetzt hatte.
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Das Energiezentrum des „Westlandes“: die Ruhr Mit ihrer Akzentuierung der montanindustriellen Ressourcen, Potenzialen und Infrastrukturen des Nordwestens setzten Oszwald und Ziegfeld das ‚Westland‘ in direkte Beziehung zum rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Zum Auftakt des im Mai 1928, also zeitgleich zur Essener Bundestagung des Schutzbundes,310 veröffentlichten Ruhr-Hefts plädierte Loesch für eine Verschmelzung von Volkstums-, Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik unter dem Gesichtspunkt des Wachstums. Dies erlaubte es ihm, die grenzland- und minderheitenpolitische Strategie des Schutzbundes ins Außenwirtschaftliche zu übersetzen: Die „grenz- und auslandsdeutschen Gruppen“ wurden zu „Träger[n]“ einer deutschen „Volkswirtschaft, die keineswegs auf die reichsdeutsche Volkswirtschaft“ beschränkt sei: Neben der „reichsdeutschen Volkswirtschaft“ gebe es vielmehr „eine gesamtdeutsche als Ausfluss seelischer und materieller Eigenschaften der Deutschen, die sich auf wirtschaftlichem Gebiet auswirken.“311 Loesch maß dieser zweiten Volkswirtschaft ein enormes Potenzial zu, in das zu investieren lohnend sei. Hierbei setzte er auf eine zweigleisige Strategie, in der privatwirtschaftliche Initiativen wie die Gründung von „Arbeitsgemeinschaften [...], Interessenverbänden und Kartellen gleich gelagerter Firmen diesseits und jenseits der verschiedenen Grenzen“ und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Schaffung handels-, zoll- und tarifrechtlicher Vorformen einer „europäischen Zollunion“ einander ergänzten und „eine politische Annäherung Mitteleuropas“ vorbereiteten. „So kann die reichsdeutsche Wirtschaft, gestützt auf die Wünsche der volkspolitisch interessierten Kreise[,] eine wirtschaftliche und damit rechtliche und schließlich auch staatspolitische Neuordnung des europäischen Raumes vorbereiten.“ Aus dieser Sicht stellte Oszwalds privatwirtschaftliche Vorwegnahme des großniederländischen Staates nichts anderes als die Integration des nordwesteuropäischen Steinkohlebeckens in eine deutsche Volkswirtschaft dar, der es ohnehin schon angehöre. Diese Vorstellung eines wirtschaftlichen Divergenzraumes im Nordwesten wurde nun aus der Perspektive des Ruhrgebietes ausformuliert. Ziegfeld präsentierte das Ruhrgebiet auf dieser Grundlage als „industrielle Herzkammer“ der deutschen Wirtschaft und „Kernwerk“ des deutschen ‚Westlandes‘.312 In dieser Region bündelten sich nicht nur ökonomische Potenziale wie an keinem anderen Ort Deutschlands, hier glaubte er auch die Schöpfung eines neuen deutschen ‚Volkstums‘ zu erkennen: „Wie eine Riesenzentrifuge“ habe die Ruhrindustrie „von allen Seiten Menschenmaterial in sich hinein gesogen“ und es „zu einer organischen Einheit“ gemischt: dem „Industrievolk“.313 Dieser mit wirtschaftlicher und biologischer Energie geladene Kern jedoch sei „aus seiner wohlgesicherten Lage im deutschen Hinterland plötzlich in ein neutralisiertes Vorfeld feindlicher Wehr- und
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Vgl. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Die neunte Bundestagung des Deutschen Schutzbundes Essen 1928, Neuburg a.d. Donau 1928. Loesch, Karl C. von: Volkspolitik und Wirtschaft, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 153-159, hier: 156. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 691. Ebd., S. 695.
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Angriffsstellungen gerückt“, kurz: in ein „Grenzland“ verwandelt worden.314 Ziegfeld übernahm dieses Bild von Paul Wentzcke, dem zufolge bereits zwischen 1920 und 1922 „das ganze französische Volk“ an die Ruhr gedrängt habe, um dann „am 11. Januar 1923 [...] das ganze Kernwerk“ zu überrennen.315 Die Ruhrbesetzung des Jahres 1923 und der deutsche Widerstand standen denn auch im Zentrum des Diskurses. Pathetisch verklärten Wentzcke und Ziegfeld sie zum Wendepunkt, an dem „das besiegte Volk nach vier langen Jahren zum ersten Mal wieder die Achtung vor sich selbst zurückgewann“ und einen militanten Aktivismus hervorbrachte: „Aus dem passiven Widerstand ward der politische Wille, die nationale Tat.“316 Doch sei die Gefahr des feindlichen Einbruchs mit dem Ende der Ruhrkrise und der Räumung der nördlichen Zone des Rheinlandes keineswegs gebannt. Vielmehr – hier schloss Ziegfeld an Oszwalds Spekulationen über die französischbelgischen Kanalpläne an – seien lediglich die Methoden des Angriffs andere geworden: „Der aufmerksame Beobachter [...] weiß, daß ein neuer Angriff schon wieder angesetzt hat. Er verbirgt sich aber hinter einer fast unterirdischen wirtschaftlichen Expansion Frankreichs über Belgien, Holland. Er tritt zutage in den belgischen Kanalprojekten, den Auseinandersetzungen mit Holland über die Rheinmündung und endlich in dem Riesenprojekt des Binnenwasserweges: Antwerpen, Rhein, Rhone, Marseille.“317
Der Kampf, den es an der Ruhr zu führen gelte, richte sich daher in erster Linie gegen die „wirtschaftliche Durchdringung und Eroberung“ sowie die „Vormacht“ Frankreichs „in den von ihm geplanten Vereinigten Staaten von Europa“.318 Martin Spahn fügte dieser Rauminszenierung einen weiteren Akzent hinzu, nämlich die aggressive Verknüpfung von Expansivem und Modernem. Er wählte hierfür das Bild einer Verwandlung des Rheinlandes und seines industriellen Zentrums in einen „Vulkan“, dessen Ausbrüche gewaltige nationale Energien freisetzten. Eine solche Eruption schien für ihn unmittelbar bevorzustehen, und ihre Energie gedachte er für die Vereinigung des ‚Westlandes‘ unter deutscher Hoheit nutzbar zu machen: Die eruptive Kraft „sollte stets unsere natürliche Verbündete sein und müsste uns helfen, das Ganze zusammenzubringen, ineinander zu verschweißen, die Werte herauszuholen. So günstig wie dieses mal – ein Blick auf die Lage des Ruhrgebietes als deutschen Stützpunkt, aber auch unsere besondere Eignung für die Wirtschaft beweist es uns –
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Ebd. Wentzcke, Paul: Kernwerk und Brückenkopf, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 159-167 (im Folgenden zitiert als: Wentzcke, Kernwerk), hier: 166; wörtlich identisch in: Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 696. Wentzcke, Kernwerk, S. 166f; wörtlich identisch in: Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 696f. Ebd., S. 697. Vgl. ähnlich Spahn, Martin: Die Ruhr- und Rheinwirtschaft im rheinischen Raum, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 167-172, S. 171 (im Folgenden zitiert als: Spahn, Ruhr- und Rheinwirtschaft). Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 697.
286 | IMAGINIERTER WESTEN waren die Voraussetzungen weder im 10. Jahrhundert noch an der Schwelle der Neuzeit.“319
In einem solchen, durch die Gewalt moderner Wirtschaft und Technologie „gestalteten“ Raumorganismus an Rhein, Maas und Schelde würden, so schloss er, auch „die Luxemburger und Lothringer, die Schweizer und Belgier“ gerne „zu Hause“ sein.320 Mit dieser Inszenierung des ‚Westlandes‘ als Strahlungsfeld einer vulkanisch-industriellen Energiequelle, von deren Stabilität und Wachstum alles andere abhinge, schlug Spahn die Brücke zu jenen Autoren des Ruhr-Heftes, die der ökonomischen oder administrativen Elite des Ruhrgebiets angehörten. Ihr Bild wich erheblich von Ziegfelds Bedrohungsszenario ab. Aus ihrer Sicht hatte die rheinisch-westfälische Industrie ihre Stellung innerhalb der deutschen Volkswirtschaft und auf dem Weltmarkt durchaus behaupten, wenn nicht gar verbessern können. Nach dem Ende des Ruhrkampfes, der hier eher als vorübergehende Abweichung innerhalb einer im Wesentlichen kontinuierlich aufsteigenden Wachstumskurve erschien, gehe das Ruhrgebiet einer neuen Prosperität entgegen, die es allerdings politisch zu flankieren gelte. Hierzu gehörte, wie Max Hahn, der spätere Geschäftsführer des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages, betonte, ausdrücklich die Mobilisierung der Grenz- und Auslandsdeutschen. Unterstützt durch eine „intensive Kulturpropaganda“, sollten sie die „industriellen Spitzenleistungen“ des Ruhrgebiets in die Nachbarländer einführen und so den mitteleuropäischen Markt erschließen. Grenzlandpolitisches Engagement sei somit ein „Wirtschaftsfaktor“, der die Folgen der Versailler Grenzziehung, des Ruhrkampfes und der entstehenden belgischen Konkurrenz abmildern, allerdings nicht beseitigen könne.321 Hierzu bedürfe es, wie Robert Holthöfer in seinem einzigen Beitrag für Volk und Reich schrieb, vielmehr einer konsequenten Rationalisierung: Dem Abbau der Grubenbelegschaften von 560.000 Beschäftigten (1923) auf 396.000 (1928) müssten Senkungen der Lohnkosten und eine Revision der staatlichen Sozialpolitik folgen.322 Der nationalistische Blick über die Grenzen und die Durchrationalisierung der Arbeitswelt wurden mithin als komplementäre Wege einer regionalen Wachstumsstrategie im ‚Westraum‘ begriffen. Die Vermutung liegt nicht fern, dass der nationale Kampf gegen die Grenzen und für das jenseitige ‚Deutschtum‘ damit auch ein Substitut für die sozialen Verwerfungen im Gefolge der tayloristischen Modernisierung war. 319 320 321 322
Spahn: Ruhr- und Rheinwirtschaft, S. 171f. Ebd., S. 172. Hahn, Max: Ruhrwirtschaft und Weltwirtschaft, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 181-186, hier: 182. Vgl. Holthöfer, Robert: Die wirtschaftliche Bedeutung des Ruhrbergbaues, in: ebd., S. 191-195, insbes. S. 194f. – M. Schlenker, ein weiterer Autor des Ruhr-Heftes, plädierte in diesem Zusammenhang für die Einführung der vom Deutschen Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA) entwickelten, für die spätere nationalsozialistische Wirtschafts- und Sozialpolitik bedeutsamen Modelle betrieblicher „Arbeitsgemeinschaften“ von Unternehmern und Beschäftigten (Schlenker, M.: Die deutsche Aufgabe von Ruhr und Rhein, in: ebd., S. 173-180, insbes. S. 179). – Das DINTA war 1924 aus Kreisen der Montanindustrie gegründet worden; nach frühzeitigen Kontakten mit der NSDAP wurde es 1935 in die Deutsche Arbeitsfront überführt.
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Die Inszenierung des Ruhrgebiets fügte ein neues Zentrum und ein neues verbindendes Element in das tradierte Bild der Festung ein: die mittelalterlichen Eckpfeiler im Südwesten und Nordwesten lagen nun im Energiefeld der Ruhr, das auf längere Sicht eine Wiederaneignung des ‚Westlandes‘ verhieß. Innerhalb dieses im historischen Prozess entgliederten und abgebrökkelten, durch ökonomische Macht und grenzübergreifende Verflechtung nun jedoch restrukturierten Raumes standen die Rationalisierung der rheinischwestfälischen Industrie, der Zugriff auf die Ressourcen der niederländischbelgischen Nachbarreviere und der Kampf der flämischen Nationalisten in einer besonders engen Beziehung. Wie nun waren die übrigen Industriereviere und wie die nichtindustriellen Regionen der ‚weichen Flanke‘ in diesem komplexen Regionskonstrukt präsent?
Die Regionen der Flanke Zwischen den beiden Eckbastionen, doch im Energiefeld der Ruhr, lag die Mitte des ‚Westlandes‘ wie eine offene Flanke. Ihre Stabilität erschien nur so lange gewährleistet, wie die Schweiz sie durch ihre Neutralität und Flandern sie durch seinen Kampf deckten; versagten die Kräfte des Süd- und Nordwestens jedoch, so gerieten die Territorien der Mitte in Fluss, sofern nicht die Ruhr ihnen neue Kraft zuführte. In dieses Bild ordnete Volk und Reich nun alle übrigen Regionen des ‚Westlandes‘ ein. Am stärksten mit der Nordwestbastion und dem Ruhrvulkan verbunden war aus dieser Sicht die Aachener Grenzregion. Zu ihr zählte neben dem Aachener Steinkohlenrevier die 1919 abgetretenen Kreise Eupen und Malmedy, die angrenzenden deutschsprachigen Dörfer Belgiens um Montzen und Arel und die niederländische Provinz Limburg, die ab 1839 dem Deutschen Bund angehört hatte und auf der Frankfurter Nationalversammlung 1848 mit zwei Abgeordneten vertreten gewesen war.323 Für die Autoren des AachenHeftes repräsentierte die Stadt das im Ruhr-Heft vorgestellte Bild des zur Grenze gewordenen Kerns in besonderem Maße: „War die Stadt Aachen früher als zentrale Großstadt unter Hinzurechnung der verlorengegangenen Gebiete anzusprechen, so ist sie jetzt ausgesprochene Grenzstadt mit allen Nachteilen einer solchen“, schrieb der Aachener Oberregierungsrat Peters,324 während Stadtarchivar Albert Huyskens325 an die mittelalterliche Bedeutung der Stadt als Krönungsort der deutschen Könige erinnerte und für einen verstärkten Kulturaustausch mit dem „Maasland“ plädierte, um Aachens „alte
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Vgl. Pabst, Problem der deutsch-belgischen Grenzen, S. 183-210; Müller, Thomas: Die westpolitische Mobilmachung des „Aachener Grenzraumes“, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 109 (2007), S. 151-214, hier: 154. Peters: Wirtschaftliche Lage und nationale Belange im Aachener Grenzbezirk, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 224-231, hier: 226 (im Folgenden zitiert als: Peters, Wirtschaftliche Lage). Zu Huyskens vgl. Tschacher, Werner/Krebs, Stefan: „Im Sinne der rassischen Erneuerung unseres Volkes“. Albert Huyskens, die Westdeutsche Gesellschaft für Familienkunde und das Aachener Stadtarchiv im Nationalsozialismus, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 109 (2007), S. 215-238.
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Stellung als Vorwerk deutscher Kultur und deutschen Wesens getreu ihrer uralten Überlieferung“ zu „erhalten“.326 Für die Autoren, die ausschließlich der wirtschaftlichen, kulturellen und administrativen Elite der Region entstammten327 und denen sich Ziegfeld weitgehend anschloss, war das Aachener Gebiet eine der am stärksten bedrohten Regionen an der Westgrenze: sie war „doppeltes Grenzland“ gegenüber einem feindlichen Belgien und einem zunehmend fremd werdenden „Holland“ und noch dazu „Viervölkerecke“ von Deutschen, Niederländern, Wallonen und Flamen.328 Wie in einem Brennglas bündelten sich hier die politischen und kulturellen Spannungen des ‚Westlandes‘, und verschärfend wirkten sich die Folgen der Gebietsabtretungen und Wirtschaftsbeschränkungen sowie die Entwicklung der niederländisch-belgischen Montanreviere auf die regionale Wirtschaft aus.329 An der Aachener Grenze schlummere mithin eines der größten Gefahrenpotenziale des ‚Westlandes‘,330 und entsprechend forderte Oszwald eine Solidarisierung der Gesamtnation mit der Aachener Montanindustrie331 und warb für den einseitigen Anschluss des Aachener Reviers an das westdeutsche Wasserstraßennetz332 durch den Bau eines rein deutschen Aachen-Rhein-Kanals. „Die Wirtschaft“, resümierte Peters, „ist unser Grenzwall“.333 Neben dem Ruhrgebiet und Aachen widmete Volk und Reich naturgemäß dem Saargebiet besondere Aufmerksamkeit. Für Ziegfeld bildete es den „südwestlichen Eckpfeiler der deutschen Volkswirtschaft“,334 nahm also auf ökonomischem Gebiet eine ähnliche Lage ein wie die Schweiz auf geopolitischem. Mit Blick auf die für 1935 vorgesehene Volksabstimmung veröffentlichte die Zeitschrift neben ihrem Saar-Heft eine Vielzahl von Beiträgen und Sonderpublikationen, in denen die juristischen, ökonomischen und administrativen Modi des Saarstatuts und der Saarabstimmung detailliert erläutert und bewertet wurden. Konstitutiv für das Saarbild waren die Deutung des 326
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Huyskens, Albert: Die politische und völkische Bedeutung Aachens und des Aachener Gebiets in der deutschen Geschichte, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 214-223, hier: 223. Zwei Autoren (Karl Schmidt und Peters) gehörten dem Regierungspräsidium und einer der Bergverwaltung (H. E. Böker) an, zwei waren Syndici der Industrie- und Handelskammer zu Aachen (Clemens Bruckner, Wilhelm Goerres), einer war Direktor des Stadtarchivs (Albert Huyskens). – Vgl. auch die Darstellung des Aachener Grenzlandes auf der Regensburger Bundestagung des Deutschen Schutzbundes 1927 durch einen anonymen „Wissenschaftler aus dem Westen“, in: Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Achte Bundestagung, S. 52f. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 699f. Vgl. Böker, H. E.: Der Aachener Steinkohlenbergbau der Nachkriegszeit im Vergleich mit dem Hollands und Belgiens, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 254-265. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 699f. Vgl. Oszwald, Robert Paul: Geleitwort zum Aachenheft, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 210-214; ähnlich auch die redaktionelle Vorbemerkung: Aachen, in: ebd., S. 209. Das Kanalprojekt entsprach dem innerdeutschen Abschnitt des Rhein-MaasSchelde-Kanals. Vgl. Bruckner, Clemens: Verkehrsprobleme des Aachener Grenzgebietes, in: ebd., S. 266-276. Peters, Wirtschaftliche Lage, S. 231. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 708.
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Saarstatuts als unvollendet gebliebene französische Annexion, die Frankreich jedoch die Kontrolle über die strategisch wichtigen Eisenbahnlinien zum Rhein in die Hand gegeben habe,335 sowie die Vorstellung einer ausgesprochen engen Verbindung von „Arbeitertum“ und „Volkstum“.336 Für den Unternehmer Hermann Röchling, der dieses Bild maßgeblich prägte, zeichnete sich nicht nur die Land-, sondern auch die Industriebevölkerung des Saargebiets durch eine „feste Verwurzelung mit der Erde“ aus, erschien also als das genaue Gegenteil der ‚Riesenzentrifuge‘ an der Ruhr. In dieser Heimatverbundenheit sah Röchling ein „bewusstes Deutschtum“, aus dem „unsere Kraft des Widerstandes gegen den französischen Imperialismus“ entspringe. Er wählte hierfür das Symbol eines „Schiff[es] auf hoher See“, das nur dann wieder den rettenden „Hafen“ erreiche, wenn Führung, Mannschaft und Passagiere fest zusammenhielten.337 Doch stellte Röchling, um bei diesem Bild zu bleiben, nicht allein den Burgfrieden an Bord, sondern den Modellcharakter des Kurses in den Vordergrund: Unter den einzigartigen territorialen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen an der Saar entfaltete sich für ihn eine spezifische Grenzlandökonomie. Insbesondere das deutschfranzösische Handelsabkommen, das den zollfreien Import deutscher Produkte ins Saargebiet erlaubte und, wie er am Beispiel des Automobilmarktes ausführte, binnen kürzester Zeit einen florierenden Absatzmarkt eröffnet habe, eignete sich aus seiner Sicht als Modell für Österreich, die Tschechoslowakei, Polen und die baltischen Staaten.338 Ein ganz anderes Raumbild zeichnete Ziegfeld von der Pfalz. Es fußte nicht, wie das der Ruhr, Aachens und der Saar, auf dem Spannungsfeld von ökonomischem Potenzial und territorialer Begrenztheit, sondern auf der militärgeographischen Bedeutung der Region. Erschienen die Schweiz und Flandern als Eckbastionen des ‚Westlandes‘, so war die Pfalz der strategische Dreh- und Angelpunkt in seiner Mitte: ein Ort realer und potenzieller Entscheidungsschlachten im ‚Kampf ums Westland‘. Die Spekulation, dass die Entscheidungsschacht eines künftigen deutsch-französischen Krieges in der Pfalz stattfinden werde und die militärische wie zivile Infrastruktur daher entsprechend eingerichtet sein müsse, war bereits im Kontext der Rheinkrise von 1840 präsent.339 Ende 1928 stellte Karl Haushofer sie ins Zentrum des Pfalz-Heftes von Volk und Reich. Unter Verweis auf die militärgeographischen Arbeiten Ratzels, Moltkes und Fochs340 charakterisierte er die Pfalz als „Tummelplatz des Waffenteufels“. In ihr lägen nicht nur „einige der wichtigsten Entscheidungs-Stätten der Wirklichkeit, [...] sondern noch viel größere Schlachtfelder strategischer Gedanken“, so etwa „die große Abwehr335 336 337
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Vgl. Metz, Friedrich: Die geopolitische Lage des Saargebietes, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 652ff. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 706f. Röchling, Hermann: Die Stellung der Wirtschaft in der Volkspolitik (Vortrag auf der neunten Bundestagung des Deutschen Schutzbundes in Essen 1928), in: Volk und Reich 4 (1928), S. 584-590, hier: 585. Ebd., S. 585-589. Vgl. Anonymus, Ueber den strategischen Werth, S. 338; Anonymus, Centralpunkt Deutschlands, S. 314. Haushofer bezog sich insbesondere aus zwei Schriften Ferdinand Fochs: Des principes de la guerre. Conferenze tenute nel 1900 alla Scuola Superiore della Guerra, Paris 1922 u. ders.: De la conduite de la guerre. La manoeuvre pour la bataille, Nancy 1909.
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schlacht-Idee Moltkes bei Marnheim und die Auffang-Gedanken Fochs und seiner Schule“.341 Dabei sei die heutige Pfalz lediglich die „Restbildung“ einer ursprünglich „viel größeren, stärkeren geopolitischen Zweckform“, nämlich der früheren Kurpfalz. Als „wichtigste weltliche Herrschaftsbildung des heiligen römischen Reiches deutscher Nation im Westen“ habe sie dem Reich „an seiner gefährlichsten Zerreißungslinie“, dem so genannten Weißenburger Keil,342 Stabilität verliehen und die „geopolitische Idee der beiderseitigen Rheinlande“ verkörpert, „nachdem schon die Einheitslandschaft des Oberrheins verloren war.“343 Die militärische Bedeutung gründete sich für Haushofer und mit ihm für Ziegfeld darauf, dass die Pfalz auf Grund der „ostwestlichen Schichtung“ ihrer Teillandschaften über das „strategische Drehmoment über Mittel- und Niederrhein hinweg“ verfüge, „das schon so oft [...] eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat und in seiner Wirksamkeit völlig abhängig war von dem geopolitischen Einfluß und Halt im Drehpunkt“.344 Gerade aufgrund ihrer landschaftlichen Heterogenität stelle die Pfalz daher eine militärgeographische Einheit dar, und als solche sei sie der „wichtigste, noch aufrechte Stützpunkt des deutschen Volksbodens auf dem linken Rheinufer“, ja mehr noch: ein „Mikrokosmus [sic]“ des gesamten „Ringen[s] germanischer und romanischer Kultur, Macht und Wirtschaft“.345 Haushofer bezeichnete die Pfalz daher in Anlehnung an die militärische Terminologie des 19. Jahrhunderts als „Pivot-Körper“346 einer epochenübergreifenden Schlacht. Diese im PivotMotiv implizierte Verschränkung von Stabilität und Risiko machte Haushofers Pfalz zu einer Art Seismographen, der jede Veränderung des geopolitischen Kräfteverhältnisses „schneller und feinfühliger“ anzeige als jede andere Region des ‚Westlandes‘.347 Um jedoch als Sensor und möglicherweise einmal als Pivot fungieren zu können, fehle der Pfalz als bayerischer Exklave jedoch die Kraft. Der Geopolitiker plädierte daher für eine aktive „Bindung und Stützung“ durch ein starkes und geschlossenes rechtsrheinisches Hinterland. Andernfalls, so prognostizierte er in Anlehnung an Ratzel, werde sie in einem künftigen Krieg „als ‚herabgefallener Stein‘ vor der abermals weiter zurückgefallenen Mauer“ liegen bleiben „wie einst Metz, Toul und Verdun, Luxemburg, Lüttich und Flandern, Freigrafschaft Burgund, Elsaß und Sundgau“.348 Die Inszenierung der Pfalz stand in enger Beziehung zur Inszenierung Elsass-Lothringens, in deren Zentrum Straßburg als ‚herabgefallener Stein‘ am Oberrhein stand. Keineswegs originell beschrieb Ziegfeld den Kampf um 341
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343 344 345 346 347 348
Haushofer, Karl: Zur Geopolitik der Pfalz, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 270-277, hier: 270 (im Folgenden zitiert als: Haushofer, Geopolitik der Pfalz); vgl. ähnlich Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 714. Gemeint ist die lothringische Region um Weißenburg, die aus geopolitischer Sicht gemeinsam mit der tschechoslowakischen Region Eder eine Einkeilung Deutschlands in Ost-West-Richtung darstellte. Haushofer, Geopolitik der Pfalz, S. 271; nahezu identisch in Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 714f. Ebd., S. 271. Haushofer, Geopolitik der Pfalz, S. 273. Der Begriff Pivot bezeichnet im militärstrategischen Denken den Drehpunkt einer Schlacht. Haushofer, Geopolitik der Pfalz, S. 275. Ebd., S. 272.
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Straßburg pars pro toto für das „Streben“ Frankreichs „nach der Rheingrenze“.349 Doch lag der Fokus weniger auf der in unzähligen zeitgenössischen Publikationen erzählten Geschichte dieses Kampfes, sondern auf dem möglichen Modellcharakter Elsass-Lothringens für die Mitteleuropapolitik des Schutzbundes und der Mittelstelle. Die wechselnde Zugehörigkeit zu Deutschland und Frankreich und die Herausbildung einer zunächst gegen die reichsdeutsche Suprematie, dann gegen den französischen Zentralismus gerichteten Autonomiebewegung konstituierten für Ziegfeld eine Mittlerrolle zwischen den beiden Nationen, die es erlaube, die Region mittelfristig aus dem französischen Staatsverband herauszulösen. Loyalitätsbekundungen der elsässischen und lothringischen Bevölkerung mit der République Française hingegen verdränge er in den Bereich des Verräterischen und Wahnsinnigen.350 Die Brisanz des Mittler-Motivs zeigt sich bereits im Elsass-LothringenHeft, das im Juli 1927 den Auftakt der westpolitischen Reihe bildete. Im Geleitwort proklamierte Robert Ernst, dass es nicht um die Wiederherstellung des status quo ante gehen dürfe, sondern um die Realisierung einer „weit [...] über die Grenzen des bismarckischen Reiches“ hinausreichenden ‚Volksgemeinschaft‘. Der Weg dorthin führe über eine „Zusammenfassung der europäischen Völker“, wofür eine „wahre“, d.h. an völkischen Prinzipien orientierte „Lösung der elsass-lothringischen Frage“ der Katalysator sei.351 Adolf Krencker legte dem „elsaß-lothringische[n] Volk“ im gleichen Heft nahe, sich im Sinne der „Ideologie selbstbewusster nationaler Minderheiten“ als Vorkämpfer einer Erneuerung des „Abendland[es]“ zu begreifen: „Dringt unter Mithilfe Elsaß-Lothringens der neue Geist durch“, so habe er „die entscheidende Schlacht auch im übrigen Abendland gewonnen“. In diesem Sinne bedeute der „Mittlergedanken“ also nicht nur ein „Maklertum“ gegenüber Frankreich, sondern auch die Vermittlung völkischen Ideenguts auf europäischer Bühne.352 Was aber, wenn dieser Anspruch auf Widerstand stieß? Fritz Bronner gab die Antwort, indem er die Assimilation der Elässer und Lothringer durch Frankreich als „Vernichtung“ wertete und, ähnlich wie Boeckh im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges, einen casus belli postulierte: „Deutschland [...] hat in Locarno auf eine gewaltsame Änderung der Grenze im Westen verzichtet. [...] Frankreich geht heute auf der ganzen Front zum Angriff gegen das Volkstum der Elsaß-Lothringer vor; innere Verpflichtungen aus dem Vertrag von Locarno scheint es für sich nicht zu kennen. Wenn es sich zeigen sollte, daß Frankreich seinem Vertragspartner Deutschland wirklich die Schande zufügen will, ein Stück seines Volkskörpers zu vernichten, dann wäre – so meine ich – eine neue 353 Lage gegeben.“
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Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 718ff, vgl. auch Anonymus: Vom elsaßlothringischen Wirtschaftsleben, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 334-340. Ziegfeld, Kampf ums Westland, S. 718. Ernst, Robert: Elsaß-Lothringen, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 286f. Krencker, Adolf: Die Sendung Elsaß-Lothringens, in: ebd., S. 306-311, hier: 310f. Bronner, Fritz: Die Geschichte Elsaß-Lothringens, in: ebd., S. 288-305, hier: 304.
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In der zweideutigen Inszenierung Elsass-Lothringens als „Mittler“ lag also auch die Möglichkeit einer neuerlichen Transformation der vermittelnden Brücke in eine Front. Als Abschluss der westpolitischen Reihe widmete sich Volk und Reich im Juni 1930, also bereits nach dem Erscheinen von Kampf ums Westland, der Eifel und dem Hunsrück. Dieses Heft war auch das erste, das nach der emphatisch gefeierten Räumung der nördlichen Zone des Rheinlandes erschien.354 Mit dem Wegfall der alliierten Kontrollmacht war es wesentlich leichter geworden, im linksrheinischen Gebiet, insbesondere an der Grenze selbst und über sie hinweg, grenzlandpolitische Strukturen zu etablieren. Georg Krautwig ging in seinem einleitenden Beitrag Eifel und Hundsrück [sic] als Grenzhinterland denn auch der bisher nur verhalten erörterten Frage nach, „ob und welche besonderen Aufgaben diese Landschaft im Rahmen der westlichen Grenzlandschaften für das deutsche Volkstum leisten könnte sowie welche Mittel notwendig sind, um sie zur Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben instand zu setzen.“355 Seiner Antwort stellte er einen emotionalisierenden Rekurs vorweg, in dem er die Armut, Abgeschiedenheit und Rückständigkeit der Region als „Grenzlandschicksal“ deutete. Er zeichnete das Bild einer zu Unrecht der Sympathie mit dem Westen bezichtigten Landbevölkerung, die im Ersten Weltkrieg und, mehr noch, unter dem „moralische[n] Trommelfeuer“ der Besatzer ihre nationale Gesinnung bewiesen habe. Als zentrales Ereignis hob er die Rolle der Bauern bei der Niederschlagung der rheinischen Separatisten im Herbst 1923 hervor, die er in drastischer Weise als eine Menschenjagd „mit Mistgabeln und Fäusten“ beschrieb.356 Krautwig entwickelte ein Raumbild, das ganz auf die wiedergewonnene Operationsfähigkeit an der Grenze eingestellt war. Eifel und Hunsrück bildeten dabei das Hinterland dreier grenzübergreifender Räume. Der erste dieser Räume verband das abgetretene Gebiet von Eupen und Malmedy mit der Eifel, der zweite das Trierer Land mit dem Großherzogtum Luxemburg und der dritte den Hunsrück mit dem Saargebiet und „Deutsch-Lothringen“. Am Beispiel Triers, das er sowohl als Zentrum des luxemburgischen, als auch des saarländisch-lothringischen Grenzraumes präsentierte, führte Krautwig exemplarisch vor, welche Elemente der regionalen Geschichte, Wirtschaft und Sozialstruktur es in einer solchen, regional ansetzenden Grenzlandpolitik hervorzuheben gelte: „Ist [...] auch im letzten Jahrhundert ständig die politische Beziehung zwischen Luxemburg und dem Reiche kleiner geworden, so bleibt dieses Land doch ein volksdeutsches Gebiet mit durchaus gesundem Kern in seinen Bauern- und Arbeiterschichten. Seine Menschen sind keine anderen wie die der angrenzenden Mosel- und Eifelgegend. Ist auch die wirtschaftliche Lage jenseits wesentlich besser, so sind doch die geographischen Verhältnisse, die soziale Struktur der Bevölkerung und die kulturellen Auffassungen recht ähnlich. Zahlreiche Fäden gehen hinüber und her357 Verwandtschafen hüben und drüben, Ackerbesitz über: Die Luxemburggänger, 354 355 356 357
Anonymus: Dem freien Rheinland, in: Volk und Reich 6 (1930), S. 363. Krautwig, Georg: Eifel und Hundsrück [sic] als Grenzhinterland, in: ebd., S. 364-376 (im Folgenden zitiert als: Krautwig, Eifel und Hundsrück). Ebd., S. 372. Gemeint sind deutsche Arbeiter, die als Grenzgänger in Luxemburg beschäftigt waren.
DAS JUNGKONSERVATIVE „WESTLAND“ | 293 der Bauern diesseits und jenseits der Grenze, Vereinsfreundschaften, kulturelle und sportliche Veranstaltungen im Austausch von Ort zu Ort, kirchliche Feste, z.B. die Echternacher Prozession, die von allen Teilen der Eifel besucht wird, eine starke Parallelität des Vereins- und Organisationswesens mit wechselseitigen Beziehungen 358 auf verschiedenen Fachgebieten.“
Es ging mithin also um die exemplarische Inszenierung eines Gefüges grenzübergreifender deutscher Regionen, die die Westgrenze letztlich in ihrem gesamten Verlauf überlagerten und in eine Reihe von Grenzräumen aufgehen ließen. Aus dem Fundus lokalgeschichtlicher Ereignisse hob Krautwig dabei selektiv das hervor, was – in diesem Fall – Trier als „kulturelle[n] Ausgangspunkt für weitere Gebiete nach Osten und Westen“ erscheinen ließ.359 Ziel dieser Inszenierung lokaler Geschichte sollte es sein, das „Eifel-, Mosel- und Hunsrückland“ zu befähigen, „kraft seiner Lage [...] die deutsche Kultur im Vorland und Grenzland zu fördern und zu stützen“. Im Mittelpunkt sollte das „Bauerntum“ stehen, in dem Krautwig die „beste Grenzsicherung“ und „sicherste Landbrücke zu den vorgelagerten Gebieten“ zu erkennen glaubte. Die Voraussetzungen sah er angesichts der unterentwickelten Wirtschaft und Infrastruktur, der sozialen Not und der geringen Bildung jedoch als unzureichend an. Mit Blick auf die Umwandlung der 1926 zur Überwindung der grenzbedingten Strukturschwächen geschaffenen staatlichen Westhilfe zu einem Instrument aktiver Arbeitsbeschaffung durch das Kabinett Brüning360 plädierte er daher für ein umfassendes Entwicklungsprogramm: „Zielbewußte Förderung der Bildungsmöglichkeiten, der sozialen Einrichtungen, Bodenregulierung, Wirtschaftsschulung, Umstellung auf moderne Betriebszweige und -mittel, Verkehrsverbesserung, Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie schließlich Absatzsicherung sind die Mittel, diesem Gebiete zu helfen. Reich und Staat müssen ihre besondere geldliche Hilfe, ihre ‚Grenzlandfürsorge‘ diesem Ge361 biet angedeihen lassen – auf Jahre hinaus, nach einem festen Programm.“ 358 359 360
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Krautwig, Eifel und Hundsrück, S. 372ff. Ebd., S. 374. Vgl. Blaich, Fritz: Grenzlandpolitik im Westen 1926-1936. Die „Westhilfe“ zwischen Reichspolitik und Länderinteressen, Stuttgart 1978, S. 91ff. – Zum ostpolitischen Gegenstück der Westhilfe vgl. ferner Bucha, Bruno: Der Charakter und die Bedeutung der Osthilfe in den letzten Jahren der Weimarer Republik, Ms., Berlin 1958; Schulz, Gerhard: Staatliche Stützungsmaßnahmen in den deutschen Ostgebieten. Zur Vorgeschichte der „Osthilfe“ der Regierung Brüning, in: Hermens, Ferdinand A./Schieder, Theodor (Hrsg.): Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967, S. 141-204; Roidl, Angelika: Die „Osthilfe“ unter der Regierung der Reichskanzler Müller und Brüning, Weiden u.a. 1994. Krautwig, Eifel und Hundsrück, S. 376. – Wie Krautwig formulierten die meisten Autoren des Eifel-Hunsrück-Heftes grenzlandpolitische Forderungen, die um die Vermittlung einer gesamtrheinischen Identität in den wenig entwickelten Regionen, die Behebung des landwirtschaftlichen Notstandes und die völkische Mobilmachung des Bauerntums kreisten. Vgl. Nießen, Josef: Die geschichtliche Stellung der Eifel- und Hunsrücklandschaften, in: Volk und Reich 6 (1930), S. 385-394, hier: 394; Ham, Hermann van: Kriegs- und Friedensschäden im Hunsrück- und Eifelgrenzgebiet, in: ebd., S. 449-456, hier: 456; Wrede, Adam: Eifeler und Hunsrücker Volk und Volkstum, in: ebd., S. 395-406, hier: 406.
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Wie der frühere alldeutsche Publizist Karl Mehrmann ergänzte, sollten die geforderten Maßnahmen so etwas wie einen zivilen Ersatz für die noch nicht mögliche militärische Durchdringung des entmilitarisierten Grenzlandes bilden. Vor diesem Hintergrund diskutierte er die militärische Bedeutung von Eifel und Hunsrück, die er zu einer militärgeographischen Einheit, dem „Eifel-Hunsrück-Block“, zusammenfasste. Anders als der Pfalz, maß er ihm jedoch keine strategische, sondern eine bloß taktische Rolle als „Zitadelle“, „Flankenstellung“, „Verteidigungsmassiv“ und „Bastei“ zu.362 Eine zuweilen skurril wirkende Kombination geographischer und zoologischer Motive erlaubte es ihm, das auf der militärstrategischen Argumentationsebene gezeichnete Bild einer Sperrlandschaft auf der symbolischen Ebene ins Offensive umzukehren. Anhand der von Vogel und Ziegfeld veröffentlichten Suggestivkarten, die eine Dreistufigkeit und Symmetrie der Landschaften beiderseits des Rheins darstellten, verglich Mehrmann die Topographie der rechtsrheinischen Mittelgebirge mit der Anatomie eines Hunde- und die der linksrheinischen mit der eines Vogelkopfes. Dieser Vogelkopf füllte einen Großteil des ‚Westlandes‘ aus: Bildeten Hardt und Vogesen die „Wirbelsäule“, Lothringen die „Kehle“ und die Saar-Senke die „Halsfalte“, so erschienen Eifel und Hunsrück als „Hinterkopf“ mit Trier als Nervenzentrum, von dem aus der „Ardennen-Schnabel [...] gegen den schmalsten Engpaß des französischen Tieflandes“ hacke und „herrschend gegen die Kanalschleuse von Calais-Dover“ vorstoße.363 Die zugleich geo- und biopolitische Energie des in Vogelfedern gekleideten ‚Grenzkörpers‘ war also auf die Expansion nach Westen, die territoriale Trennung Frankreich vom ‚Nordwestraum‘ und die Inbesitznahme der Kanalküste gerichtet. Die Funktion der Eifel und des Hunsrück, wie auch der anderen Körperteile des Vogels, bestand in der Mobilisierung der in ihnen schlummernden Kräfte für diese scheinbar durch die Natur vorherbestimmte Bewegung.364 Nach dem Eifel-Hunsrück-Heft spielte das ‚Westland‘ in Volk und Reich zunächst keine besondere Rolle mehr. Die 1929 von der Redaktion angekündigten Hefte über Eupen-Malmedy, Luxemburg, den Niederrhein, den Mittelrhein, die „allemannische Frage“, die „Wirtschaft des Rheingrabens“ und die „Wasserstraßenfragen Rhein-Main-Donau“ sowie „zwei Hollandhefte“365 wurden zugunsten der ‚Ostarbeit‘ nicht mehr verwirklicht, und auch Burgund wurde nicht explizit thematisiert. Von den insgesamt 22 Einzelaufsätzen mit westpolitischem Bezug, die zwischen dem demonstrativen Schulterschluss des Verlages366 mit der NSDAP 1933 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges erschienen, waren elf dem Saargebiet und der Saarabstimmung gewidmet.367 Zehn Beiträge behandelten Belgien, wobei neben Flandern auch 362 363 364 365 366
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Mehrmann, Karl: Der Hunsrück-Eifel-Block, in: ebd., S. 377-384. Ebd. Vgl. ebd., S. 384. Anonymus: Zu diesem und zu anderen Heften, S. 775. – Vgl. auch Krautwig, Eifel und Hundsrück, S. 374 (Fußnote). Vgl. Heiß, Friedrich: Deutsche Revolution. Die Wende eines Volkes. Fünf Jahrzehnte deutschen Volkskampfes, Berlin 1933; ders.: Deutschland zwischen Nacht und Tag, Berlin 1934. Walz, Gustav Adolf: Die Volksabstimmung im Saargebiet, in: Volk und Reich 9 (1933), S. 921-929; Hillekamps, C. H.: Genfer Ratstagung um die Saar, in: Volk und Reich 10 (1934), S. 151ff; ders.: Der Saarausschuß tagte in Genf, in: ebd., S. 233ff; ders.: Die Saarjuristen in Genf, in: ebd., S. 293ff; ders.: Genf,
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Eupen-Malmedy in den Blick rückte.368 Ein weiterer Aufsatz betraf eine Region, die im bisherigen Diskurs keine Rolle gespielt hatte, nämlich die Bretragne und die bretonische Autonomiebewegung.369 Die Schweiz, das Ruhrgebiet, die Niederlande, Elsass-Lothringen und Burgund hingegen blieben unberücksichtigt, und eine Anordnung der Regionen zu einem Raumkonzept der Mesoebene erfolgte in keinem Fall. Allerdings führte Ziegfeld den ‚Westland‘-Diskurs nach seinem Ausscheiden aus dem Volk und ReichVerlag fort. Seine 1933 gegründete Reihe Grenzkampf-Schriften knüpfte an das publizistische Konzept populärer, mit Suggestivkarten illustrierter Regionalportraits an, denen Vorworte staatlicher und nationalsozialistischer Amtsträger370 einen offiziellen Anschein gaben. Anders als der Volk und ReichKreis, der den Begriff Westland favorisierte, ordnete Ziegfeld die Regionen wieder zu einer Westmark an. In der Tradition des Kaiserreichs bezog er diesen Terminus zunächst auf Elsass-Lothringen, doch machte der Leiter des Bundes Deutscher Westen und spätere Bürgermeister des okkupierten Straßburg, Robert Ernst, deutlich, dass die Grenzmark-Mission des früheren Reichslandes auf die Bevölkerung der Rheinpfalz und der preußischen Rheinprovinz „übergegangen“ sei.371 In gewissem Sinne war die negativ transformierte Westgrenze zu einem Reichsland im Großformat geworden.
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Marseille und die Saar, in: ebd., S. 940ff; Mehrmann, Karl: Saarbericht, in: ebd., S. 544-558; Raschhofer, Hermann: Die Saardenkschrift der Akademie für deutsches Recht, in: ebd., S. 888-893; Anrainer, Walter: Die Saar zwischen Deutschland und Frankreich, in: Volk und Reich 11 (1935), S. 58-61; ders.: Tage an der Saar, in: ebd., S. 85-90; Anonymus: Der deutsche Sieg an der Saar, in: Volk und Reich 11 (1935), S. 82ff; Anonymus: Die Heimkehr des Saarlandes, in: ebd., S. 161-194. Zum belgischen Nationalitätenkonflikt erschienen: Hermans, Ward: Die Militär- und Außenpolitik Belgiens, in: Volk und Reich 11 (1935), S. 111-125; Oszwald, Robert Paul: Volkstum und Staat in Belgien, in: ebd., S. 801-815; Forster, Friedrich: Belgien nach den Wahlen, in: Volk und Reich 12 (1936), S. 551-559. – Allein auf Flandern bezogen waren drei Beiträge: Breyne, Marc. R.: Cyriel Verschaeve (Nach einem Vortrag auf der VerschaeveGedenkfeier in Berlin am 30. April 1934), in: Volk und Reich 10 (1934), S. 616-629; Dietwede, Georg: Der Kampf der vlämischen Bewegung. Querschnitt durch die letzten Jahre, in: ebd., S. 935-938; Zeck, Hans F.: Die Volkskraft der Flamen als Stütze Belgiens, in: Volk und Reich 13 (1937), S. 289. – Zu Eupen-Malmedy erschienen: Venn, Hans: Sondergesetzgebung für Eupen-Malmedy?, in: Volk und Reich 10 (1934), S. 383f; ders.: EupenMalmedy vor den Wahlen, in: Volk und Reich 12 (1936), S. 414ff; Anonymus: Brief aus Eupen-Malmedy, in: Volk und Reich 10 (1934), S. 632ff; Hasselblatt, Werner: Belgien gegen Eupen-Malmedy, in: Volk und Reich 11 (1935), S. 862-867. Tevenar, Gerhard von: Die bretonische Volkstumsbewegung, in: Volk und Reich 12 (1936), S. 478-483. Die Vorworte stammten vom badischen Kultusminister Otto Becker, dem Gauleiter Hessen-Nassau der NSDAP und Reichsstatthalter in Hessen Jakob Sprenger und von Reichsinnenminister Wilhelm Frick. Vgl. Metz, Friedrich: Baden als Oberrheinland (Grenzkampf-Schriften, Heft 6), Berlin 1935; Mehrmann, Rheinland, S. 5f; Thumann, Pfalz, S. 3-7. Ernst, Robert: Zum Geleit!, in: Mehrmann, Rheinland, S. 3f, hier: 3.
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Dieses Land bezeichnete Ziegfeld nun durchgängig mit dem Begriff „deutscher Westraum“.372
Der operationalisierte „Westraum“ Der Ispert-Kreis als exemplarischer Akteur zwischen „Jugendgrenzlandarbeit“ und Nationalsozialismus Die neu justierten ‚Westmark‘-Konzepte der völkischen und jungkonservativen Bewegung zielten, wie wir gesehen haben, nicht allein auf eine Delegitimierung der geltenden Grenzen, sondern implizierten stets auch eine Praxis der organisatorischen, politischen und ideologischen Formierung der ‚grenzund auslandsdeutschen‘ Gebiete. Wir haben es also mit einer Übersetzung der abstrakten Raumkonzepte in eine konkrete politische Praxis zu tun, die auf eine Mobilmachung der Minderheiten, eine Infiltration des Auslandes, eine Überlagerung der geltenden Grenze durch grenzübergreifende Regionskonstrukte und schließlich auf eine tatsächliche Aneignung und ‚Neuordnung‘ zielte. Ich möchte diese Operationalisierung der Raumkonzepte nun am Beispiel eines nationalsozialistischen Akteurs aus dem Führungskreis der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit exemplarisch untersuchen. Seine Analyse gewährt uns einen Einblick in die Operationalisierung des ‚Westland‘Konzepts in wechselnden organisatorischen Zusammenhängen wie dem Bund Oberland, der Deutschen Burschenschaft, der Reichsinspektion und den westdeutschen Gauen der NSDAP, der rheinischen Provinzialverwaltung und schließlich dem Sicherheitsdienst (SD) Himmlers. Kennzeichnend war, dass dieser Akteur niemals öffentlich in Erscheinung trat und auch gegenüber deutschen Behörden häufig verdeckt agierte, gerade dadurch aber zu einem hoch effektiven Handeln in der Lage war. Die Rede ist von einem grenzlandpolitischen Kreis, der Mitte der 1920er Jahre um Wolfgang Ispert entstanden war. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht die Anwendung des – etwa von Haushofer immer auch anwendungsorientiert gedachten – Grenzraumkonzepts in der grenzlandpolitischen Praxis. Der 1898 in Wuppertal-Elberfeld geborene Wolfgang Ispert verstand sich als Angehöriger der Frontgeneration.373 Nach Kriegsende hatte er in Münster, Freiburg und Erlangen ein medizinisches Studium absolviert und 1931 in
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Ziegfeld, Arnold Hillen: Der deutsche Westraum. Gestaltungen und Wandlungen der Geschichte (Lichtbildreihe 48), Berlin (Ms) o.J. [1935]. – Es handelt sich um ein Materialheft für einen Lichtbildervortrag; die nicht überlieferten Bilder zeigten Suggestivkarten des ‚Westraumes‘. 1937 fasste Ziegfeld ferner zwei zunächst separat publizierte Bände seiner Reihe Grenzkampf – Volkskampf unter dem ‚Westraum‘-Begriff zusammen: ders. (Hrsg.): Der deutsche Westraum, Berlin 1937. In einer Kriegserzählung zeichnet Ispert das Bild eines Frontsoldaten, der sich in aussichtsloser Situation verteidigt und, nachdem „die letzte Patrone verschossen“ ist, mit einer Handgranate „selbst in die Luft [sprengt]“. Ispert, Wolfgang: Der Kampf. Eine Geschichte aus dem Weltkrieg, in: Das Dritte Reich 6 (1929), S. 247-249, hier: 249.
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seinem Geburtsort eine allgemeinmedizinische Praxis eröffnet.374 Während seiner Studienzeit nahm er als Angehöriger des Studentenbataillons Erlangen am Kapp-Putsch teil und trat ein Jahr später dem Freikorps Adler und Falken, dann dem Freikorps Oberland bei.375 Nach dem vorübergehenden Verbot des Freikorps und der Inhaftierung des Bundesführers Friedrich Weber nach dem fehlgeschlagenen Hitler-Putsch376 fungierte er von 1924 bis 1928 als Landesleiter Rheinland des als Ersatzorganisation gegründeten Deutschen Schützenund Wanderbundes.377 Hier baute er 1924 einen „Arbeitskreis für Grenzlandarbeit“ auf, den Nukleus seiner grenzübergreifenden Netzwerke. Im Jahr 1926 trat er der NSDAP bei und wurde in den Arbeitsausschuss der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit berufen.378 In den Raumvorstellungen des Bundes Oberland spielte das Begriffspaar Drittes Reich und Landnahme eine Schlüsselrolle. Programmatisch erklärte der antisemitische Publizist Wilhelm Stapel es 1924 zur wichtigsten Aufgabe des Staates, „dem natürlichen Wachstum“ des Volkes „Raum zu schaffen. Wo der Staat durch seine Grenzen das Wachstum hemmt, wird er zum Hindernis, und niemand darf sich wundern, wenn er eines Tages vom wachsenden Leben gesprengt wird.“ Getragen von der Idee einer bäuerlich-germanischen „Volkheit“, in der „Landhunger und Freiheitsdurst“ in eins fielen,379 rief er die ‚junge Generation‘ auf: „Macht euch frei von der Grenzdemut!“, und propagierte: „Landnahme ist unsere einzige Rettung.“ Was ihm vorschwebte, war im Grunde eine neue germanische Völkerwanderung, in deren Verlauf die Deutschen „nicht die mindeste Scheu vor den Grenzen“ empfinden dürften und „Weib und Kind, Acker und Pflug“ ihnen „wichtiger“ sein müssten „als ‚Menschheitsidee‘ und ‚Menschheitsfortschritt‘“. Stapel erkannte zwar, das die Aussicht auf eine neue Völkerwanderung realitätsfern war, hoffte aber auf eine aus der „Not“ geborene Selbsthilfe, die auch vor gewaltsamen Vertreibungen nicht zurückschrecken dürfe: „Die Polen und die angrenzenden Völkerstämme haben es uns vorgemacht, wie man Land nimmt. Die Franzosen haben uns tausendfach vorgemacht, wie man mitten im Frieden die Menschen von Haus und Hof vertreibt. Warum sollen immer nur die 374 375
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Vgl. Entnazifizierungs-Fragebogen Wu/42021/34/626 v. 20.4.1948, HStAD NW 1022-I-42021, n.p. Vgl. Lebenslauf Ispert, o.D. (1933), ALVR VDA 4690. – Zum Freikorps und Bund Oberland vgl. Kuron, Hans Jürgen: Freikorps und Bund Oberland, Erlangen 1960 (dort auch Hinweise auf die Rolle des Freikorps Oberland im ‚aktiven Widerstand‘ an der Ruhr 1923, S. 157-160; im Folgenden zitiert als: Kuron, Oberland); Fenske, Hans: Konservativismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1928, Bad Homburg 1969; Hübner, Christoph: Bund Oberland 1921-1923/1925-1930, in: Historisches Lexikon Bayerns, im Internet unter www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44349 (17.1.2008); Zum Entstehungskontext des Freikorps Oberland vgl. Tapken, Kai Uwe: Die Reichswehr in Bayern von 1919-1924, Hamburg 2002, S. 113-133. Vgl. Kuron, Oberland, S. 183. Vgl. Entnazifizierungs-Fragebogen Wu/42021/34/626 v. 20.4.1948, HStAD NW 1022-I-42021, n.p. Vgl. ebd.; Lebenslauf Ispert, o.D. (1933), ALVR VDA 4690. – Zur Mitgliedschaft im Arbeitsausschuss der Mittelstelle siehe Kapitel Die Zeitschrift „Volk und Reich“ als Kristallisationspunkt des radikalen Grenzlandaktivismus. Stapel, Wilhelm: Landnahme, in: Schützen und Wanderbriefe, Nr. 3-4/1924, S. 3-9, hier: 7.
298 | IMAGINIERTER WESTEN Deutschen die Vertriebenen sein? Wird das deutsche Volk nicht endlich aus Not heraus dasselbe tun, was die anderen aus Willkür tun? Not zwingt ein Volk zur Volkswanderung. Not bricht Grenzen.“380
Von großer Bedeutung für die Grenzlandpolitik des Bundes war Karl Haushofer, der für die Bundeszeitschrift Das Dritte Reich die Rubrik Weltpolitische Rundschau bearbeitete381 und auf Bundestagen und Schulungskursen als charismatischer Redner präsent war.382 Nach einem Vortrag Haushofers auf der Bundestagung in Seefeld (Tirol) im Dezember 1925 erklärte der Bund die „aktivste Betätigung in Fragen des Grenzdeutschtums“ zu einem seiner Hauptziele.383 In den Richtlinien des Bundes für das Jahr 1926 rief Ispert die Mitglieder zu verstärktem grenzlandpolitischen Engagement auf, das es durch „gemeinsame Wanderungen, Gepäckmärsche, Preisschießen und Führerbesprechungen“ zu festigen gelte.384 Isperts grenzlandpolitischer Ansatz bestand in einer unmittelbaren Übertragung von Kriegserfahrungen auf die Grenzlandpolitik. Es müsse darum gehen, „nach außen in weitblickender, zäher Arbeit eine gemeinsame Front mit den Grenz- und Auslanddeutschen, mit stammverwandten, uns nahestehenden Ländern und mit allen unterdrückten Völkern überhaupt“ zu schaffen, um den Versailler Vertrag und das Dawes-Abkommen zu sprengen und auf diese Weise die Voraussetzung für eine Befriedung der innerdeutschen Klassengegensätze zu schaffen.385 Die Separatistenabwehr und der Ruhrkampf erschienen aus dieser Sicht zwar als heroische, jedoch gescheiterte Episode „im tausendjährigen Kampf um den Rhein“, da „nicht der Kampfeswille eines ganzen Volkes an ihm entbrannte“ und „vom Leiden und Dulden zum Angriff überging“.386 In den Nationalsozialistischen Briefen, dem von Georg Strasser herausgegebenen und von Joseph Goebbels redigierten Schulungsorgan der nord-
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Ebd., S. 8. – Gleichzeitig adaptierte der Bund Oberland die Vorstellung eines zwar geschwächten, aber nichtsdestoweniger vitalen und dynamischen Deutschlands das Gegenstück zu Frankreich, das einer „fortschreitenden Selbstentvölkerung seines Landes“ anheim gefallen sei. Anonymus: Grenzund ausländische Rundschau, in: ebd., S. 9ff, hier: 10. Vgl. exemplarisch Haushofer, Karl: Weltpolitische Rundschau, in: Das Dritte Reich 3 (1926), S. 90; ders.: Der Dauerwert der Kameraden- und Wehrverbände als politische Kampfform, in: Das Dritte Reich 4 (1927), S. 129f. Vgl. Wugg: Vom national-politischen Schulungskurs, Salzburg, 3.-6. Juni, in: Das Dritte Reich 3 (1926), S. 141f. Weiterhin gehörten hierzu die „Wehrertüchtigung und Erziehung im Geiste deutschen Frontkämpfertums“, „Erziehung und Weiterbildung einer Führerschicht“ und „rege Mitarbeit an der Klärung völkischer Dogmatik durch Aufstellung besonderer Arbeitskreise“. Anonymus [W.]: Bundestagung in Seefeld in Tirol, in: Das Dritte Reich 3 (1926), S. 23f. Bund Oberland: Richtlinien für unsere Arbeit im Jahre 1926, zusammengestellt von W.I. [Wolfgang Ispert], in: ebd., S. 24f. Ispert, Wolfgang [W.I.]: Wirtschaft und Gesellschaft. Der Versuch eines Ausblicks, in: ebd., S. 121ff, hier: 123; zu Isperts wirtschaftspolitischen Vorstellungen vgl. ders.: Vom Geist der Wirtschaft, in: Der Führer. Zeitschrift des Oberlandkreises, Heft 3/4, Juli 1927, S. 6-9; ders.: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, in: ebd., S. 16-19. Anonymus: Die treue Westmark, in: Das Dritte Reich 3 (1926), S. 162f, hier: 162.
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westdeutschen Gaue der NSDAP, legte Ispert 1927 seine Vorstellungen einer nationalsozialistischen Grenzlandpolitik und ihrer spezifischen Strategien nach Westen und Osten dar. Sie gründeten auf dem Motiv eines permanenten Krieges „gegen die Slawen im Osten“ und „die Welschen im Westen“, der „bis auf den heutigen Tag so geblieben“ sei wie in frühester germanischer Urzeit.388 Ispert begrüßte diesen Kriegszustand und transzendierte die „Schlachtfelder Flanderns und Elsaß-Lothringens, im Baltikum und auf dem Balkan, in den Steppen der Krim und im Kaukasus“ zu Orten einer nationalen Selbsterkenntnis der Frontkämpfergeneration.389 Demgegenüber seien, so klagte er, die heroischen Kämpfe der Nachkriegsjahre einem allgemeinen „Lähmungszustand“ gewichen, der in eine „Totenstarre“ überzugehen drohe. Gleichwohl hebe ein „Entscheidungskampf“ auf „Leben und Tod“ an, über dessen Frontverläufe ein Blick in die Geschichte Auskunft gebe. Isperts Geschichtsbild bestand aus der simplen Vorstellung zweier auseinander driftender „Linien“, nämlich einer „abendländischen“ und einer „völkischen“ Richtung des deutschen Denkens. Während erstere, „befangen in dem Gedanken eines Weltreiches,“ den Blick nach Westen und Süden richte, verweise letztere auf die Schaffung „eines Reiches deutscher Art“ und sehe „ihr höchstes Ziel in der Freiheit und Unabhängigkeit des Volkes, dem Raum zu gewinnen sie einen steten erbitterten Grenzkampf führte.“ Diese „Linie“ zielte folglich nach Osten.390 Der „tiefe Gegensatz“ beider Linien und der ungleichen Räume, auf die sie sich richteten, durchzog für Ispert die gesamte deutsche Geschichte. „Schon Karl der Große sah in einem Weltreich römischen Vorbilds sein Lebensziel und trieb Weltpolitik dort, wo er deutsche Politik hätte treiben sollen“; und „mehr noch als er“ seien „die Staufer drüben im Welschland verankert“ gewesen und hätten den „Grenzkampf“ vergessen, welchen die Sachsenkaiser „mit Pflug und Schwert, mit Städtebau und Siedlung“ ausgefochten hätten. „Nichts weiter als eine Notwehr, eine Selbsthilfe, bedeutete demgegenüber die Ostenbewegung“ des deutschen Ritterordens und ihre Eroberung der „Mark Preußen“. Ispert schrieb dieses Schema in die Moderne fort, indem er das 19. Jahrhundert als einen Sieg einer völkischen Linie Preußens gegen eine abendländische Linie Habsburgs und Bismarcks Reich als „Etappe“ auf dem Weg „zum Dritten Reich der Zukunft“ deutete. Gegenwärtig jedoch glaubte er eine bedrohliche Renaissance der habsburgischen „Linie“ in Gestalt der Abendland- und Paneuropa-
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Die Nationalsozialistischen Briefe waren das Organ der in WuppertalElberfeld ansässigen Arbeitsgemeinschaft der Nord- und Westdeutschen Gaue der NSDAP, der die Gaue Rheinland-Nord und Süd, Hannover, Westfalen, Hessen-Nassau, Lüneburg-Stadt, Schleswig-Holstein, Groß-Hamburg, GroßBerlin und Pommern angehörten. Vgl. Anonymus: Bericht über die Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Nord- und Westdeutschen Gauleiter in Hannover am 22.11.1925, in: Nationalsozialistische Briefe 1 (1925), Nr. 5, S. 1. – 1927 waren Graf von Reventlow, Dr. Frick, Dr. Erich Rosikat, Dr. Ispert und Dietrich Klagges als ständige Mitarbeiter der Nationalsozialistischen Briefe angegeben (Kopftitel). Ispert, Wolfgang [W.I.]: Deutscher Grenzkampf, in: Nationalsozialistische Briefe 3 (1927), Nr. 2, S. 29-32, hier: 29. Ebd. Ebd., S. 30.
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bewegungen zu erkennen.391 Die Nationalsozialisten müssten sich daher „als Träger jener preußischen Sendung des Grenzkampfes“ begreifen und dürften weder eine „Grenze“ anerkennen, „die deutschen Boden preisgibt“, noch einen „Anspruch“ aufgeben, „den wir auf Vereinigung mit deutschen Brüdern außerhalb des Reiches haben“. Dies bedeute „Einsatz und Opfer“, denn „nicht das laute Wort, sondern die mutige Tat und das opferfreudige Handeln machen den Grenzkämpfer!“392 Für Ispert konstituierten sich ‚West-‘‚ und ‚Ostraum‘ also weniger in Geographie, Kultur oder Sprache, sondern in der Vormacht einer ‚östlich‘-völkischen Grenzkampfideologie gegenüber einem ‚westlich‘-abendländischen Universalismus. An der „Westfront des Grenzkampfes“ sah Ispert das „Romanentum“ auf einem jahrhundertelangen „Vormarsch […] gegen den Rhein“, in dessen Verlauf es „eine ganze Reihe von fremden Volkstümern in sich“ aufgenommen habe, so „die Flamen in Nordfrankreich, die Bretonen im Nordwesten, Basken und Katalanen im Südwesten und Italiener im Süden“. Durch den Versailler Vertrag sei Frankreich auf den „Gipfelpunkt seiner Macht“ gelangt, doch habe sich „inzwischen das Blatt gewendet“: „[D]as Kartenhaus französischer Rheinpolitik ist zusammengebrochen, nicht allein infolge des heldenmutigen Widerstandes der deutschen Bevölkerung, sondern auch aus einem anderen Grunde, nämlich infolge des Erwachens jener Volkstümer, die Frankreich längst gestorben wähnte. Zwar leise noch, aber schon recht deutlich, geht eine starke Minderheitenbewegung durch das Land und preßt es ein in einen Gürtel unzufriedener und unbefriedeter Volkstümer; Bretonen, Flamen, Elsaß-Lothringer, Italiener, Basken und Katalanen, sie alle zusammen mit ihren mehreren Millionen Menschen bilden eine für Frankreich ständig wachsende Gefahr, und wenn auch bei vielen dieser Minderheiten das Streben nach Selbständigkeit nur erst im Keime vorhanden ist, so kracht das Gebälk des Staates im Osten, in den uns entrissenen Reichslanden, und im Süden bei den italienischen Siedlern doch schon recht bedenklich, wie es denn auch allmählich zwischen einzelnen Minderheiten, z.B. Elsässern und Flamen, zu einer gewissen Zusammenarbeit zu kommen scheint.“393
Ispert setzte also wie Treitschke auf eine völkische Segregation Frankreichs, und wie Harmsen erkannte er außerdem eine entgegengesetzte demographische Entwicklung in den französischen Kerngebieten und den Gebieten der Minderheiten. Wie dieser nannte er die Franzosen „ein sterbendes Volk“, das durch die Einwanderung von „Farbigen“ zudem rassisch degeneriere. Hieraus ergab sich eine doppelte Strategie. „Obwohl wir Deutsche kein Interesse daran haben können, diese Abwärtsentwicklung aufzuhalten“,394 müsse es aber doch darum gehen, „das Land selbst der weißen Rasse zu erhalten“. Da „die Franzosen selbst“ hierfür „nicht mehr lebenskräftig genug“ seien, könne „eine solche Verteidigung nur geschehen durch die lebensfrischen Minderheiten an den Rändern des Landes, insbesondere durch die italienische im Süden, die deutsche im Osten und die flämische im Norden.“ Die Unterstützung der deutschen und flämischen Gruppen sei aber nicht nur „ein 391 392 393
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Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ispert, Wolfgang: Westfront im Grenzkampf, in: Nationalsozialistische Briefe 3 (1927), Nr. 5, S. 75-78, hier: 75 (im Folgenden zitiert als: Ispert, Westfront im Grenzkampf). Ebd., S. 76.
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Vorbeugungsmittel gegen die Vernegerung“, sondern zugleich ein probates Mittel, um „unsere politische Flankenstellung nach Frankreich hinüber zu befestigen und den Spieß endlich einmal umzudrehen.“ Denn: „Mit den Flamen, Elsaß-Lothringern und Italienern in den Flanken sitzt Frankreich in einer außerordentlich gefährlichen Zange, die seine Bewegungsfreiheit ganz erheblich schwächen muß.“ Im Mittelpunkt einer deutschen Grenzlandpolitik im Westen habe also „die Aktivierung der Minderheiten in Frankreich selbst“ zu stehen: „[D]ie Rückgewinnung unserer niederländisch-flämischen Stammesbrüder in Belgien und Holland, unserer oberdeutschen in der Schweiz und die Schaffung einer gemeinsamen, wenn auch zunächst lediglich kulturellen, Angriffsfront all dieser Stämme und Völker [wird] für uns eine größere Stoßkraft gewinnen, als es ein großes Heer und viele Bajonette vermöchten.“395
Isperts ‚Westfront‘ stellte, wie das ‚Westland‘ der Jungkonservativen und der Geopolitiker, also einen Kampfraum gegen ein niedergehendes Frankreich dar, in dem Flamen und Elsässer um die entscheidenden strategischen Positionen kämpften. Dabei erlaubte der Frontbegriff ein eindimensionales Raumbild, in dem „das französisch-belgische Romanentum“ der deutschen Grenzlandpolitik eine einheitliche „Angriffsrichtung“ vorgab, die „auf die Zentrale Paris“ ziele und dadurch erleichtert werde, dass „die Grenze der Volkstümer vom Meer zu den Alpen“ „scharf und ohne große Zacken“ verlaufe.396 Allerdings, und hier liegt das Neuartige, war die ‚Westfront‘ zugleich eine Front der ‚weißen Rasse‘ gegen die ‚Vernegerung‘ und eine ideologische Front des völkischen gegen den ‚abendländischen‘ Gedanken.397 Demgegenüber blieb Isperts ostpolitisches Konzept diffus und ging kaum über den Gedanken hinaus, „alle für uns irgendwie brauchbaren Kräfte“ zu stützen, dagegen aber jede „feindlich eingestellte Machtgruppe rücksichtslos zu bekämpfen.“398 Freilich verfolgte Ispert seine Strategie zunächst weniger innerhalb der NSDAP. Vielmehr baute er seinen Arbeitskreis zu einem überbündischen „Westamt“ aus, gründete den in hektographischer Form vertriebenen Informationsdienst Westbriefe399 und übernahm die Leitung des Westamtes für burschenschaftliche Grenzlandarbeit innerhalb der Deutschen Burschenschaft. Am Beispiel der burschenschaftlichen Westpolitik lässt sich die Operationalierung des Raumkonzepts genauer untersuchen. Otto Koffka, der Vorsitzende des Vaterländischen Ausschusses und der Grenzlandstiftung der Deutschen Burschenschaft, definierte auf der Grundla395 396
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Ebd., S. 77. Ispert, Wolfgang: Linien der Ostpolitik, in: Nationalsozialistische Briefe 3 (1927), Heft 11, S. 171f (im Folgenden zitiert als: Ispert, Linien der Ostpolitik). Zur Untermauerung fügte Ispert seinem Artikel Westfront im Grenzkampf drei Auszüge aus französischen Zeitschriften bei: den Gründungsaufruf des elsässisch-lothringischen Heimatbundes aus der Zeitschrift Zukunft, Auszüge aus einem Brief des bretonischen Politikers Morvan Marchal aus der bretonischen Breiz Atao an die Zukunft und einen antibelgischen Kampfaufruf aus Vlaanderen. Ispert, Westfront des Grenzkampfes, S. 77ff. Ispert, Linien der Ostpolitik, S. 172. Lebenslauf Ispert, o.D. (1933), ALVR VDA 4690.
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ge einer Denkschrift Isperts die „Schaffung des kommenden Reiches“ als Ziel burschenschaftlicher Grenzlandarbeit. Die Bindung des „deutschen Volkstums“ an „Rumpf-Deutschland“ sei daher kein Selbstzweck, sondern müsse in eine umfassende Strategie eingebunden werden. Innerhalb dieser Strategie fungierten die ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘ als Träger politischer, wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Einstellungen, die „den Staat, in dem sie leben, in Annäherung an Deutschland“ bringen müssten. Diese Aufgabe sei „in mancher Hinsicht der irredentistischen Kampfweise entgegengesetzt“ und erfordere geschulte Kader, „die mit einem gesamtpolitischen Wissen ausgerüstet und von einem Bild der zukünftigen Gestaltung Europas beseelt sind“.400 So verstanden, sei Grenzlandpolitik in erster Linie „Arbeit für Machtsammlung und Machtaufbau.“ Neben ihrem kultur- und staatspolitischem umfasse sie auch ein „wehrwissenschaftliche[s]“ Aufgabengebiet, das sich an den taktischen Grundsätzen der „Landesverteidigung“ orientiere. „Grenzlandwanderungen“ böten hierbei die ideale Gelegenheit, „das Grenzgebiet in seiner geographischen, verkehrstechnischen und wirtschaftlichen Gestaltung kennen zu lernen“ und die „wichtigsten Kenntnisse für die Landesverteidigung“ vor Ort zu erlernen.401 Die „wissenschaftliche Schulung“ der Aktivisten müsse alle diese Elemente zu einem verbindlichen Curriculum verbinden: „Neben einem Überblick über die geographischen Verhältnisse und die geschichtliche Entwicklung des betreffenden Grenzlandes oder Fremdstaates ist in erster Linie Wert auf die Erfassung der politischen Zusammenhänge zu legen. Nur wenn man die politischen Lageverhältnisse, Aufgaben und Möglichkeiten der einzelnen Länder überblickt, wird man die besonderen Aufgaben und Möglichkeiten des deutschen Volksteils in ihnen erkennen und wirksam machen können. Es ist ferner erforderlich, die wirtschaftliche Lage des Landes und die wirtschaftliche Lage des deutschen Volksteils in ihm kennen zu lernen sowie sich mit der völkischen Zusammensetzung auch über den deutschen Volksteil hinaus zu beschäftigen. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt die politische Stellung des Staates und die Kenntnis der Frage, in welchem Ausmaß der deutsche Volksteil an der Schaffung und Erhaltung seiner militärischen Macht beteiligt ist. In das Gebiet der wissenschaftlichen Schulung fällt weiterhin auch die Beschäftigung mit den völkerrechtlichen Grundlagen der Minderheitenfrage, eine Untersuchung der Bedeutung der ‚Kulturautonomie‘ und der praktischen Möglichkeiten, eine theoretisch anerkannte Kulturautonomie in eine auch tatsächlich kulturelle Tätigkeit umzusetzen; ferner Fragen wie Bevölkerungsverschiebung, Bodenreform, Siedlung und Auswanderung. Auch mit der Rolle, welche Kartographie, Statistik und Presse im Volkstumskampf spielen, müssen die jungen Burschenschafter vertraut gemacht werden.“402
Die Deutsche Burschenschaft plante und koordinierte ihre grenzlandpolitischen Aktivitäten durch einen nicht an die Satzungen des Verbandes gebundenen Kader, der lediglich dem von Walter Zintarra geleiteten Ausschuss für vaterländische Arbeit rechenschaftspflichtig war. Diesem Ausschuss waren 400
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Koffka, Otto: Burschenschaftliche Grenz- und Auslandsarbeit, in: SchulzeWesten, Karl (Hrsg.): Burschenschaftliches Grenzlandbuch. Kampf-, Fahrten-, Tagungsberichte und Aufsätze, Berlin 1932, S. 434-477, hier: 435. Ebd., S. 434f. Ebd., S. 436.
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ein Westamt unter der Leitung Isperts und ein Ostamt unter Walter Raschert zugeordnet; auf die Einrichtung eines Nord- und Südamtes wurde verzichtet, „da die politischen Kraftlinien durch Deutschland heute zweifellos am stärksten von Ost nach West und von West nach Ost“ verliefen.403 Innerhalb der beiden Ämter waren den grenznahen Burschenschaften sowie ihren Hochschulen besondere „Abschnitte“ zugewiesen. Für jeden Abschnitt war ein vom Amtsleiter ernannter „Abschnittsleiter“ – nach Möglichkeit ein Alter Herr – verantwortlich, der aufs engste mit den „Grenzlandwarten“ der örtlichen Burschenschaften als den eigentlichen Akteuren vor Ort zusammenarbeitete. So bearbeitete innerhalb des Westamtes Hamburg den „Nordseeraum mit Skandinavien, England [und] Nordschleswig“, Münster „Holland und Niederrhein“, Köln, Bonn und Aachen das „Gebiet von der Rheinmündung bis zum Moselunterlauf“, Frankfurt, Heidelberg und Darmstadt das Gebiet „vom Moselunterlauf bis etwa zur Lauter“, Freiburg und Karlsruhe „Elsaß und Schweiz“ und Marburg und Gießen das Saargebiet.404 Eine Sonderrolle innerhalb des Westamtes spielte Zürich, wo die Burschenschaft Teutonia als außerdeutscher „Stützpunkt“ fungierte.405 Innerhalb des Westund Ostamtes bestand darüber hinaus ein „Kreis von besonderen Sachbearbeitern“, der neben den eigentlichen Grenzgebieten auch das „Ausland“ bearbeitete. Auf der Basis seiner bündischen Netzwerke gelang es Ispert besser als Raschert, einen solchen Arbeitskreis aufzubauen. So verfügte das Westamt 1932 über Sachbearbeiter für das Saargebiet, Elsass-Lothringen, Flandern, Holland, Belgien und Frankreich sowie für Schweden, England, Spanien und Nordschleswig.406 Wie die Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, so zielten die beiden Ämter nicht allein auf die verbandsinterne Schulung zum grenzlandpolitischen Einsatz, sondern auf die organisatorische und konzeptionelle Zusammenführung „aller gleichgerichteten Kräfte“ in ihrem „Abschnitt“ und an ihren jeweiligen Hochschulen. Konkret arbeitete Isperts Westamt 1932 mit der Deutschakademischen Gildenschaft und dem grenzlandpolitisch besonders aktiven Jugendbund Adler und Falken zusammen.407 An den Hochschulen selbst bestanden Arbeitsgemeinschaften zur Koordination von Schulungskursen und Grenzwanderungen, unter Umständen aber auch des „unmittelbaren Grenzkampfes“, die ihrerseits zur Kooperation mit „interkorporativen Zusammenschlüssen“ wie dem Hochschulring, der DSt und den VDA-Hochschulgruppen sowie mit Forschungsinstituten wie Boehms Institut für Grenz- und Auslandstudien, den Ostinstituten in Breslau und Berlin, dem DAI in Stuttgart und der Marburger Burse angehalten waren. Ältere Bur403 404
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Ebd., S. 437, vgl. auch S. 489. Ebd., S. 438. – In gleicher Weise gliederte sich das Ostamt wie folgt: Kiel und Rostock: Skandinavien, Ostsee, Nordschleswig; Königsberg: Ostpreußen, Baltikum, Polen, Ostsee; Danzig: Danzig, Korridor, Grenzmark, Polen, Ostsee; Breslau: Oberschlesien, Polen mit der Ukraine, Tschechoslowakei; Berlin: „gesamte Ostfront“; Greifswald: Ostpommern, Grenzmark, Westpreußen und Danzig; Dresden, Leipzig, Halle und Jena: Gebiet zwischen Schlesien und Bayerischem Wald; Erlangen: Gebiet zwischen Eger und Donau; München: Rhein-Donau-Linie, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Italien (ebd.). Ebd., S. 446. Ebd., S. 439. Ebd..
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schenschafter sollten die Abstimmung mit dem VDA, dem Schutzbund und regionalen Heimat- und Volkstumsverbänden gewährleisten.408 Besonderen Wert legten die Grenzlandämter auf den Aufbau und die Pflege persönlicher Kontakte in die ‚grenz- und auslandsdeutschen‘ Gebiete, die Vermittlung von Besuchen und Stipendien an deutschen Hochschulen und die Weiterentwicklung der Grenzlandfahrten zu „Grenzlagern“ und „Grenzwehrwanderungen“.409 Koffka und Ispert beschrieben damit eine über die Deutsche Burschenschaft hinaus wirkende Organisation akademisch geschulter Grenzlandaktivisten, die sich auf der Basis des jungkonservativen Raumkonzepts zunächst auf der Mesoebene des ‚West-‘ und ‚Ostraumes‘ differenzierte. Entscheidend ist nun, dass Ispert diese organisatorische Struktur 1932 de facto in die NSDAP überführte. Der Einbau des Ispert-Kreises in die NSDAP geschah auf der Grundlage einer Denkschrift Isperts an den Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser, die Robert Ley in seiner Funktion als Reichsinspekteur der NSDAP befürwortend an den Landes- und späteren Reichsinspekteur Heinrich Haake weiterleitete.410 Ispert beschrieb darin eine mögliche nationalsozialistische Grenzlandorganisation und erreichte, dass sein Arbeitskreis im Herbst 1932 als „Abteilung Grenzland“ oder kurz „Abteilung G“ in die Reichsinspektion der NSDAP integriert wurde.411 Dabei handelte es sich offenbar jedoch um einen Alleingang Haakes, sodass der neuen Abteilung eine Autorisierung durch die Parteiführung fehlte.412
Formierungsstrategien des „Westraumes“ Ispert unterbreitete zwischen 1933 und 1940 eine Reihe von Organisationsvorschlägen, die seiner Westraumpolitik zwar einen unterschiedlichen institutionellen Rahmen gaben, einander jedoch darin entsprachen, dass sie die geopolitische Vorstellung des ‚Grenzkörpers‘ als zellulär und zonal gegliederten Kampfraum – als ‚Westfront‘, wie Ispert sagte – in ein organisatorisches Konzept überführte und mit Programmen für eine nationalsozialistische Durchorganisierung des Raumes verknüpfte.
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Ebd., S. 440f. Ebd., S. 442-445. Zum Folgenden vgl. ausführlich Müller, Formierung. – Sowohl Haake, als auch Ley hatten als Gauleiter des 1924 gegründeten und 1931 geteilten Gaues Rheinland fungiert, dessen Entstehung und Selbstbild aufs engste mit dem Ereigniskomplex des Jahres 1923, insbesondere der politischen Gewalt im Kontext von ‚Ruhrkrieg‘ und ‚Separatistenabwehr‘ verwoben war. Vgl. Romeyk, Horst: Heinrich Haake (1892-1945), in: Rheinische Lebensbilder 17 (1997), S. 187-222 (im Folgenden zitiert als: Romeyk, Haake) sowie als Selbstdarstellung des NS-Gaues Köln-Aachen: Schmidt, Peter (Hrsg.): Zwanzig Jahre Soldat Adolf Hitlers. Zehn Jahre Gauleiter. Ein Buch von Kampf und Treue, Köln 1941, S. 26-31, 53 (im Folgenden zitiert als: Schmidt [Hrsg.], Zwanzig Jahre). Vgl. Ispert an Haake 20.7.1933; Ispert, Bericht über die Abt. Grenzland, Anlage zu: Ispert an Haake 27.4.1934, ALVR VDA 4690. Vgl. Ispert an Haake, 17.5.1933, ALVR VDA 4690.
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Im Laufe des Jahres 1933 bemühte sich Ispert in Berlin um die Anerkennung seiner Abteilung als die „allein für Grenzlandarbeit im Westen in Frage kommende Stelle“ der NSDAP. Nachdem er im Frühjahr zunächst eine Eingliederung der Abteilung G in das Außenpolitische Amt Alfred Rosenbergs angestrebt hatte,413 unterbreitete er Rudolf Heß im Oktober eine Denkschrift über die Zusammenfassung der amtlichen Grenzlandpolitik. Neben der Zentralisierung der Grenzlandpolitik im Osten und Westen zielte sie auf die „Umstellung der Grenzlandarbeit auf Grenzlandpolitik“, worunter er die „Einfügung des grenzdeutschen Faktors in die Gesamtpolitik des Reiches“ und die „Umstellung des Grenzdeutschtums von der Verteidigung zum Angriff“ verstand. Er schlug vor, den Landesregierungen ihre bisherigen grenzlandpolitischen Kompetenzen zu entziehen und diese einem neu einzurichtenden „Reichsgrenzlandkommissariat“ zuzuweisen, das entweder dem Reichsinnenminister oder Hitler selbst unterstellt sein müsse. Die neue Zentralbehörde solle alle Anweisungen der Staats- und Parteiführung über den „Einsatz des Grenzdeutschtums“ umsetzen und die Vergabe aller amtlichen und nichtamtlichen Geldmittel zum „Schutze des Deutschtums im Grenzland“ kontrollieren. Der Organisationsvorschlag implizierte also die Verfügungsgewalt über die Mittelvergabe im Rahmen der Westhilfe sowie des VDA. Der Aufbau der Organisation folgte der Vorstellung eines konzentrisch um das Reich gelagerten ‚Grenzlandes‘, das sich auf der Mesoebene in einen Ost-, West-, Nord- und Südraum differenzierte. Der organisatorische Nachbau dieses Raumes versprach für Ispert die „größtmögliche Beweglichkeit“ einer nationalsozialistischen Grenzlandpolitik. Explizit betonte er, ein künftiger Reichsgrenzlandkommissar müsse „möglichst dezentralisiert“ agieren können. An „jedem Frontabschnitt“ seien „Unterkommissariate einzurichten, die nicht zu weit von der Grenze entfernt liegen, also z.B. ein Grenzkommissariat Ost, West, Süd und Nord“, welche die taktische „Leitung des Grenzkampfes im Frontabschnitt“ übernähmen.414 Eine Mitte Juni 1933 offenbar an Rosenberg adressierte Denkschrift entwarf das Amt eines „Reichsgrenzführers“ unter dem Dach des Außenpolitischen Amtes. Ein ihm zugeordneter „Führerstab“ sollte die „Grenzführer der Frontabschnitte“ Ost, Südost, West (mit dem Arbeitsgebiet „Schweiz bis Holland“), Süd und Nord umfassen und über eine „wirtschaftliche“, „wissenschaftlich-statistische“ sowie eine „organisatorische Abteilung“ verfügen. Diese Abteilung wiederum müsse alle relevanten Organisationen wie den früheren Schutzbund und den VDA, die Grenzlandämter der DSt, der studentischen Korporationen und Wehrverbände und nicht zuletzt die Mittelstelle deutscher Jugend in Europa, also die frühere Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit, kontrollieren. Um eine maximale „Mobilisierung der grenzdeutschen Kräfte“ zu erreichen, sollten die „Grenzführer“ und „Grenzämter“ in den einzelnen „Frontabschnitte[n]“ zunächst die „innerdeutsche Bevölkerung“ mobilisieren, einen Rückhalt der Bevölkerung für „die Stammesbrüder jenseits der Grenzen“ erzeugen und dafür sorgen, dass „die gegenseitige Verbundenheit von Mensch zu Mensch bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck 413 414
Vgl. Ispert an Haake, 20.7.1933; Ispert an Haake, 10.18.1933, ALVR VDA 4690. Denkschrift über die Zusammenfassung der amtlichen Grenzlandarbeit, o.D., Anlage zu: Ispert an Heß 17.10.1933, ALVR VDA 4690. Die Denkschrift war Heß bereits im Frühjahr 1933 vorgelegt worden.
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kommt.“ Dahinter stand die Vorstellung einer sukzessive von innen nach außen fortschreitenden Expansionsbewegung aus dem Binnenland an die Grenze und über sie hinweg. Ispert schrieb sich in diesem Zusammenhang das Verdienst zu, „im Westen“ bereits „die regionalen Einheiten“ der Heimat- und Volkstumsverbände zu einem „Grenzamt der Heimat- und Grenzlandverbände Westdeutschlands“ zusammengeführt und „Abstimmungsvorarbeiten für die Saar“ geleistet zu haben. Ein künftiger „Grenzführer“ würde nach gleichem Muster „die Leitung der drei Westverbände der Saarländer, der Elsaß-Lothringer und der Eupen-Malmedyer“ im Sinne einer „völligen Gleichschaltung“ übernehmen. Am Beispiel Eupen-Malmedys erläuterte Ispert die konkrete Arbeitsweise: „E.-M. kann nur dann richtig bearbeitet werden, wenn der Grenzführer West nicht nur die politische, kulturelle und wirtschaftliche Lage des dortigen Deutschtums kennt, sondern auch die Geschichte und Lage Belgiens und seiner übrigen Volksteile beherrscht; zudem muß er die Führer der Deutschen in E.-M. genau kennen und mit ihnen zusammenarbeiten. Die Arbeit in E.-M. und den benachbarten Teilen des Reiches muß Hand in Hand gehen in dem Sinne, daß man sich z.B. in der Presse die Bälle gegenseitig zuwirft. Die Behörden der Rheinprovinz müssen gerade für ihr vorliegendes Grenzgebiet besonders interessiert werden, man muß den Fremdenverkehr dorthin lenken, die wirtschaftlichen Hilfsmöglichkeiten studieren usw. 415 usw.“
Gleichwohl erreichte Ispert sein hochgestecktes Ziel nicht. Heß, dem Hitler in der Konsolidierungsphase der NS-Herrschaft die Leitung der Volkstumspolik übertragen hatte, rief vielmehr den Volksdeutschen Rat unter dem Vorsitz Karl Haushofers ins Leben, um die heterogenen und teilweise zerstrittenen Akteure der staatlichen und nichtstaatlichen Grenzlandpolitik zu bündeln. Otto von Kursell, der diese Rolle nach dem Scheitern des Volksdeutschen Rates bis zur Gründung der Volksdeutschen Mittelstelle der SS wahrnahm,416 setzte Ispert als seinen Westreferenten ein, vermittelte ihm jedoch offenbar den Eindruck, dass die Partei an einer westlichen Grenzlandpolitik kaum interessiert sei und er im Westen freie Hand habe. Ispert konzentrierte sich nun vollends auf die Westpolitik und den Ausbau seines Arbeitskreises zu einer nationalsozialistischen „Organisation für den Westen von der Schweiz bis Holland“.417 Bei dieser grenzlandpolitischen Formierung des ‚Westraumes‘ kam ihm zugute, dass der für eine Berliner Parteikarriere ungeeignete Haake im April 1933 zum Landeshauptmann der Rheinprovinz ernannt worden war.418 Ispert war dem früheren Gauleiter nun in doppelter Weise unterstellt, sodass sein Mitarbeiterkreis sowohl als eine Art inoffizielles Westamt der westdeutschen NS-Organisationen (mit dem ‚Westraum‘ als Aktionsradius), als auch als dezidiert nationalsozialistischer Kader innerhalb der provinzialen Selbstverwaltung (mit der Rheinprovinz und den angrenzenden südniederländischen, belgischen und luxemburgischen 415 416
417 418
Denkschrift über die n.s. Grenzorganisation, gez. Ispert, Mitte Juni 1933, ALVR VDA 4690, n.p. Vgl. ausführlich Luther, Tammo: Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938. Die Auslanddeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Nationalsozialisten, Stuttgart 2004. Ispert an Haake, 19.4.1934, ALVR VDA 4690. Vgl. Romeyk, Haake.
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Regionen als Operationsraum) agieren konnte. Seine gescheiterten Berliner Vorschläge nutzend, setzte Ispert in dieser Phase besonders auf die westdeutschen NS-Gaue, die er zu einem zellulär und zonal gegliederten Grenzorganismus im Sinne Haushofers und Schumachers auszubauen gedachte. Auf der Mesoebene zwischen Gau und Reich sollte die Abteilung G in diesem geopolitischen Projekt eine Schlüsselrolle spielen, indem sie die „Probleme der westlichen Grenzlande“ in ihrer Gesamtheit aufrolle und „Vorschläge für die Lösung aller dabei auftauchenden Fragen“ mache, sofern sie für die NSDAP von Belang seien.419 Ispert legte die raumkonzeptuelle Prämisse zu Grunde, „daß der Westen sowohl seiner Breite wie seiner Tiefe nach eine unteilbare Einheit bildet, also in seiner Gesamtheit erfaßt werden muß.“ Hierbei zeige die „übertragbare Kriegserfahrung“, dass „die taktische Leitung unmittelbar an der Front liegen muß, während die strategische Führung der Zentrale obliegt (also Berlin).“420 Als einen solchen taktischen Leiter sah Ispert sich selbst; er erhob damit einen politischen Führungsanspruch im Sinne eines – in der Terminologie seiner Berliner Vorschläge gesprochen – ‚Grenzkommissars‘ oder ‚Grenzführers‘ der NSDAP im ‚Frontabschnitt West‘. Die reale Machtbasis, auf die sich ein solcher Anspruch gründen ließ, bestand in einem Erfahrungs- und Wissensvorsprung, der aus der frühzeitigen Spezialisierung auf den ‚Westraum‘, dem koordinierenden Agieren in paramilitärischen, bündischen und studentischen Organisationen, dem Aufbau grenznaher und grenzüberschreitender Netzwerke und nicht zuletzt auf einem Kreis geographisch und thematisch spezialisierter Mitarbeiter resultierte. Vermutlich weitgehend identisch mit dem Westamt der Deutschen Burschenschaft, verfügte die Abteilung G 1933 über Fachleute für die Niederlande, Belgien, Flandern, Eupen-Malmedy, Luxemburg, das Saargebiet, die Pfalz, Frankreich und Elsass-Lothringen, ferner für England-Irland, Nordschleswig und Schweden sowie die Themenbereiche „Minderheitenrecht“, „Völkerrecht“, „Nachrichtendienst“ und „Propaganda“, hinzu kamen in den Folgejahren „Holländisch-Limburg“, „Deutsch-Altbelgien“, die Schweiz, Spanien und Portugal, „französische Minderheiten“, „Sprachkampf im Westen“, „französische Propaganda“ und „belgische und englische Arbeit im Nordwesten“.421 Das verfügbare Netzwerk von Verbindungsleuten und Arbeitsbeziehungen war zunächst durch die ‚Jugendgrenzlandarbeit‘ bestimmt. Es umfasste 1933 die Westämter der Deutschen Burschenschaft, der DSt, der Deutschakademischen Gildenschaft und der Adler und Falken, die Landesjugendführung des VDA in Düsseldorf, den Jugendherbergsverband Westdeutschland, einige Verbände der Hitler-Jugend und des Bundes Deutscher Mädel sowie die frühere Abwehrstelle Heidelberg.422 Bis 1934 kamen die westdeutschen Gauleitungen, der SD, der Volksdeutsche Rat, das Außenpolitische Amt, die Oberste SA-Führung, das Propagandaministerium, der VDA und die Saarbevollmächtigten des Deutschen Reiches, des preußischen Innenministeriums und der Rheinprovinz hinzu.423 Entscheidend für die Handlungsfähigkeit Isperts war, dass es ihm gelang, gleichsam aus dem poly419 420 421 422 423
Haake an Ispert, 18.10.39, ALVR VDA 4691. Bericht Ispert betr. Abt. G., August 1938, ALVR VDA 4691. (Herv. i. Orig.) Ebd. Vgl. Skizze über die Abteilung G, o.D. (1933), ALVR VDA 4690. Bericht Ispert über Abteilung Grenzland, o.D., Anlage zu: Ispert an Haake, 27.4.1934; Bericht Isperts betr. Abt. G, o.D., Anlage zu: Ispert an PetersKnothe, 10.10.1934, ALVR VDA 4690.
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kratischen System der NS-Herrschaft heraus eine große Anzahl von „Querverbindungen zu Ausländern und Auslandsorganisationen“ aufzubauen und „den größten Teil der Fäden nach drüben in der Hand“ zu halten. Das Netz dieser ‚Fäden‘ werde, so Ispert, von Vertrauensleuten geknüpft und genutzt, die „ausschließlich unter privater Flagge“ segelten, sodass sie „jederzeit vom Reich und von der Partei abgeschüttelt werden können, wenn es das Interesse der amtlichen Außenpolitik erfordert.“ Ispert selbst blieb hierbei „konsequent im Hintergrund“.424 Ein wichtiges Instrument wurde in diesem Zusammenhang der Ausbau der Westbriefe zu einem internen und „vom amtlichen Nachrichtenapparat möglichst unabhängigen“ Informationsdienst. Gestützt auf ihre grenznahen und grenzübergreifenden Kontakte, wertete die Abteilung G rund fünfzig Zeitungen aus den westlichen Nachbarstaaten aus, fertigte Übersetzungen und Lageberichte an und vermittelte ihr Wissen an die ihr nahe stehenden grenzlandpolitischen Akteure.425 Das Raumverständnis der Abteilung G entsprach in erster Linie dem Formierungsmodell: Der ‚Westraum‘ erschien als räumlich gestaffelte, von eigenen und gegnerischen Stützpunkten und Stellungen strukturierte „Westfront“.426 Der über den Friedensschluss von 1919 hinaus verlängerte Krieg war an dieser imaginierten Front jedoch nicht mehr in Schützengräben festgefahren, sondern wieder in Bewegung geraten, und genau diese Bewegung und die aus ihr resultierenden Erfordernisse konstituierten den ‚Westraum‘ Isperts stärker als die Reichweite aller sprachlichen, kulturellen, historischen oder wirtschaftlichen ‚Kräfte‘ des ‚Deutschtums‘. Ausschlaggebend waren für ihn allein die Ausstrahlung des Nationalsozialismus nach Westen und seine Fähigkeit, völkische, regionalistische und faschistische Bewegungen jenseits der Westgrenze an sich zu binden. In diesem Sinne war der ‚Westraum‘ weniger ein geographisch definiertes Gebiet, sondern ein Kampfraum um ideologische und kulturelle Hegemonie, dessen Fronten sich über die traditionell der ‚Westmark‘ zugeordneten Gebiete hinweg und hinaus bewegen konnten. Diese Raumauffassung zeigt sich in zwei Denkschriften Isperts zur Deutschen Westpropaganda (9. August 1933) und zur Westdeutschen Aufgabe (undatiert). Beide beruhen auf einem naiven, gleichwohl aber aufschlussreichen Konzept: Ispert umriss zunächst die strategische Bedeutung der West- und Ostgrenze für das ‚Dritte Reich‘. Zwar liege „Deutschlands Zukunft“ im Osten, doch sei eine „erfolgreiche Ostpolitik“ solange unmöglich, wie „die Vormachtstellung Frankreichs auf dem Kontinent besteht“ und eine „französische Klammer um Westdeutschland gelegt“ sei. „Ziel deutscher Westpropaganda“ sei folglich die „Brechung der französischen Vorherrschaft“, deren geopolitische Basis die „lange elsaß-lothringische Reichsgrenze“, die „Abhängigkeit Belgiens von Paris“, die „Zollunion BelgienLuxemburgs“, das „Völkerbunsregime [sic] an der Saar“ und der „kulturelle[.] Einfluß Frankreichs in Holland und in der Schweiz“ sei. Gesichert werde die französische „Klammer“ überdies durch die „Herrschaft der Demokratie“ in den westeuropäischen Ländern, die „fast hundertprozentige 424 425
426
Bericht Isperts betr. Grenz- und Außenarbeit der Abt. G., 28.6.36, ALVR VDA 4651. Bericht Ispert über Abteilung Grenzland, o.D., Anlage zu: Ispert an Haake, 27.4.1934; Bericht Isperts betr. Abt. G, o.D., Anlage zu: Ispert an PetersKnothe, 10.10.1934, ALVR VDA 4690. Ispert betr. Erläuterungen zu den Karten A. und B., 19.12.1936, HSTAD RW 33-4.
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Autarkie des französischen Wirtschaftsraums“ und die „riesige Militärmacht Frankreichs“. Die Westgrenze stellte sich hier also als ein Gefüge französischer Machtpositionen im ‚Westraum‘ dar, hinter dem sich als ein zweiter Raum ein demokratisches Westeuropa auftat. Demgegenüber entwickelte Ispert sein Szenario nationalsozialistischer Westraumpolitik: Der „Aufbruch der deutschen Nation“ werde, so prognostizierte er, als „völkischgermanischer Aufbruch“ auch „die Grenzdeutschen in französischem und belgischem Staatsgebiet“ sowie „die deutsch-sprachigen Weststaaten Schweiz und Luxemburg sowie die Holländer und Vlamen“ mitreißen und sich auf „die nichtgermanischen Minderheiten in Frankreich, die Bretonen, Italiener, Korsen, Basken und Katalanen“, übertragen, deren Autonomiebewegungen sich sodann in „deutschfreundlicher und franzosenfeindlicher Richtung“ entwickeln würden. Die deutsche Westpropaganda müsse den Nationalsozialismus daher als „weltrevolutionäre Bewegung“ darstellen, die den europäischen Völkern ihr „Eigenleben“ garantieren und einen „dauerhaften Frieden schaffen“ werde. In „unaufdringlicher Form“ sei insbesondere herauszustellen, dass der „nationale Aufbruch“ zwangsläufig „Grenzdeutsche, Schweizer, Luxemburger und Niederländer […] ergreifen“ werde, „weil sie als wesensverwandte Volksgruppen sich der Schwungkraft der Bewegung noch weniger entziehen können als fremdstämmige Völker.“427 Diese Infiltration schaffe einen „der deutschen Westgrenze vorgelagerte[n] nationalsozialistische[n] Wall“, der wiederum die „Voraussetzung“ für die „Ostraumpolitik“ böte.428 Dieses Raumbild kam nicht zuletzt in den Westbriefen zum Ausdruck. Neben detaillierten Lageberichten über die Gebiete des ‚Westraumes‘ veröffentlichte Ispert eine Vielzahl ins Deutsche übertragener Reden, Dokumente und Interviews, die einen internen Einblick in die Entwicklung völkischer, regionalistischer, faschistischer und antisemitischer Organisationen in Frankreich, Flandern, der Wallonie und den Niederlanden gewährten.429 Hinzu kamen Berichte über die europäischen Faschistenkongresse und Prognosen zu den Entwicklungstendenzen und Gegnern faschistischer Bewegungen in Westeuropa. 427 428
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Reichskommissar Haake/Abteilung G: Deutsche Westpropaganda, gez. Wolfgang Ispert, 9.8.1933, ALVR VDA 4693, n.p. Denkschrift der Abt. Grenzland des Reichskommissars Haake: Die westdeutsche Aufgabe, gez. Wolfgang Ispert, o.D., ALVR VDA 4693. – Einen Einblick in die konkrete Grenzlandarbeit der Abteilung G vermittelt ein komprimierter Arbeitsbericht Isperts von 1934. Neben dem weiter unten behandelten Grenzstützplan wies Ispert auf die Ausweitung der Zusammenarbeit mit dem Volksdeutschen Rat Haushofers, dem Propagandaministerium und dem Büro v. Ribbentrop hin. In Bezug auf „Holland und Vlandern“, Elsaß-Lothringen und die Schweiz sei eine „Einigung fast aller in Frage kommenden Stellen auf eine einheitliche Linie“ erreicht worden; der Aufbau einer „Deutschniederländischen Werkgemeinschaft“ als regionale grenzübergreifende Organisation habe begonnen und sei durch die Vermittlung von Reisen und Stipendien „für Holländer und Vlamen in Deutschland“ flankiert worden. In Bezug auf das Saargebiet wies Ispert auf die „Zus.arbeit mit der Stapo“ und die „Vermittlung von Geldern größeren Umfangs“, die Platzierung von Aufsätzen und Zeitungsartikeln und die „Führung von Ausländern an der Saar“ hin. Vgl. Kurzer Arbeitsbericht für 1934, gez. Wolfgang Ispert, o.D., ALVR VDA 4693. Vgl. exemplarisch Ispert, Wolfgang: Das Land Frankreich und seine Politik, in: Westbrief, Januar 1934, S. 1-6.
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In einem Vortrag vor den rheinischen Gauleitern erläuterte Ispert 1934 seine Vorstellung, wie aus den westdeutschen „Grenzgauen“ ein geopolitisch durchorganisierter „Grenzgürtel“ geschaffen werden könne. Bei jeder Gauleitung, so forderte er, müsse „ein für diese Aufgaben vorgebildeter Pg [Parteigenosse] als Beauftragter des Gauleiters und zugleich des Reichsinspekteurs eingesetzt“ werden, „der für den Gaubereich die Grenzgürtelbildung nach den politischen Generalrichtlinien der Abt. G. bewirkt.“ Der Dreigliederung des ‚Westraums‘ ensprechend, sollten die Gaue Essen, Düsseldorf, Köln-Aachen und Koblenz zu einem „Abschnitt Nordwest“, die Gaue Pfalz und Saar zu einem „Abschnitt Mitte“ und die Gaue Baden und Württemberg zu einem „Abschnitt Südwest“ zusammengefasst werden. „Die Abschnittsleitungen, die mit langjährigen Mitarbeitern der Abt. G besetzt werden“, hätten „die Aufgabe eines Generalstabes“, der unabhängig von den Gauleitungen agieren könne und die „Richtlinien“ für den „Einsatz“ der „Verbindungsmänner“ bei den Gauleitungen vorgebe. Dieser Einsatz bestand für Ispert in der Koordination aller grenzlandpolitisch relevanten „Verbände und Organisationen“ im Gebiet des Gaues, insbesondere der Hitler-Jugend, der Studenten- und Dozentenschaften, der Deutschen Arbeitsfront sowie sozialer, sportlicher, kultureller und touristischer Verbände mit dem Ziel, die größeren Grenzstädte in „Stützpunkte“ nationalsozialistischer Grenzlandpolitik und „Strahlungszentren“ in die westlichen Nachbarländer hinein zu verwandeln. Die konkrete Taktik sei in einem „Generalplan[.]“ festzulegen, „der von der Abt. G. gemeinsam mit den Verbindungsmännern bei den Gauen aufgestellt werden“ solle.430 Tatsächlich konnte Ispert einen Teil dieses Konzepts realisieren. So sind Verbindungsmänner der Abteilung G zumindest für einzelne Gaue, darunter den Gau Köln-Aachen, nachweisbar.431 Entlang der Grenze entstanden außerdem die Abschnittsleitungen „Südwest“ unter der Leitung eines Dr. Peters für den alemannischen Raum und „Nordwest“ unter der Leitung des späteren Aachener SD-Führers Georg Scherdin für die Niederlande und Belgien. Der für den moselfränkischen und luxemburgischen Raum zuständige Abschnitt „Mitte“ verfügte über keinen eigenen Leiter, sondern wurde von Ispert betreut.432 Die organisatorische Struktur der Abteilung G war mit ihren grenznahen Abschnittsleitungen und ihrer Differenzierung der Grenzlandarbeit in einen „innerdeutschen Grenzgürtel“, eine Zone der „volksdeutschen“ Minderheiten sowie das fremdsprachige Ausland ganz auf die Erzeugung einer Expansionsbewegung vom Hinterland der Grenze in den ‚Westraum‘ hinein ausgerichtet. Ispert beschrieb die Operationalisierung 1936 mit den Worten Jüngers als eine „Totalmobilmachung“ der ‚Grenzdeutschen‘, die sich in einem zielgerichteten „Einsatz der volksdeutschen Kräfte jenseits der Grenzen“ fortsetzen und „in der Einbeziehung des benachbarten Auslandes in das Kraftfeld unserer Idee“ münden werde. Jede Abschnittsleitung der Abteilung G hatte hierbei die Aufgaben der „Grenzstützung“ im „innerdeutschen Grenzgürtel“, der traditionell vom VDA betriebenen „volksdeutschen Arbeit“ zwischen Reichs- und Sprachgrenze und der „Auslandsarbeit“ jenseits der Sprachgrenze zu erfüllen. Isperts ‚Westraum‘ wies also eine matrixartige 430 431 432
Vortragsentwurf Ispert, o.D., Anlage zu: Ispert an Hilgers 29.7.1934, ALVR VDA 4690. Vgl. Müller, Gau Köln-Aachen, S. 331. Vgl. Bericht Ispert betr. Abt. G., August 1938, ALVR VDA 4691.
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Geometrie auf, die ihn vertikal zur Grenze in einen nördlichen, mittleren und südlichen, zugleich aber parallel zur Grenze in eine innere, mittlere und äußere Zone gliederte. In der Operationalisierung dieser Geometrie erblickte Ispert die Besonderheit und die Stärke seiner Organisation.433 Sie war auch die raumkonzeptuelle Basis seines zentralen grenzlandpolitischen Programms: des Grenzstützplans. In Zusammenarbeit mit den Westämtern der Hitler-Jugend sowie mit Studenten- und Dozentenschaften hatte Ispert 1934 eine von Haushofers Geopolitik beeinflusste Strategie der ‚Grenzgürtelbildung‘ oder auch ‚Grenzstützung‘ für die Westgrenze entwickelt.434 Ispert formulierte sie zunächst mit Blick auf die westdeutschen Gauleitungen. Ziel sei die „Schaffung eines ‚Grenzgürtels‘, bei dem die wichtigsten und geopolitisch am besten gelegenen Grenzstädte“ zu „Hauptstützpunkten“ der Grenzlandpolitik werden sollten. Auf diese Weise hoffte er eine „geistige Aktivierung der deutschen Grenze“ zu bewirken, die „ein Überstrahlen unserer Ideen in die benachbarten Länder“ ermögliche. Konkret definierte er „Emmerich oder Cleve, Aachen, Trier, Saarbrücken, Pirmasens oder Zweibrücken sowie Freiburg“ als künftiges „Netz“ von „Stützpunkten“, das durch „eine ganze Reihe weniger grosser Städte“ wie etwa „Monschau für den Gau Köln-Aachen“ zu ergänzen sei. Jedem „Stützpunkt“ wies er ein konkretes Arbeitsgebiet zu: „Emmerich bezw. Cleve wirkt nach dem protestantischen Teil Hollands; Aachen nach Südholland und Belgien, Trier nach Luxemburg, Saarbrücken durch die Lothringer Pforte in Richtung Mittelfrankreich, Pirmasens oder Zweibrücken durch die Pfalz ebenfalls nach Mittelfrankreich, Freiburg in den alemannischen Raum des Elsaß und der Schweiz.“435
Der Ausbau der Städte zu „Stützpunkten“ umfasste, wie Ispert am Beispiel Aachens erläuterte, ein ganzes Bündel konkreter Maßnahmen. So müsse die Stadt „wirtschaftlich, verkehrspolitisch und geistig in die Lage versetzt werden, Besucher aus dem Nachbarland im n.s. Sinne nachhaltig zu beeinflussen“. Neben einer „Erleichterung des Grenzverkehrs durch Verhandlungen mit der Reichsbahn“ gehörten hierzu etwa „die Ausgestaltung des Theaters, die planmässige Anlage von Thingplätzen, der Ausbau der Aachener n.s. Zeitungen, die Verlegung von Verbandstagungen nach Aachen“ und die Intensivierung der grenzübergreifenden Kontakte der Studenten- und Dozentenschaft der Technischen Hochschule „nach Belgien und Holland“.436 1937 legte Ispert eine wesentlich erweiterte „Generalplanung“ zur „Mobilisierung des Volkstums im rheinischen Grenzraum“ vor. Die Planung zielte weiterhin auf die Konzentration nationalsozialistischer Einrichtungen an der Westgrenze, war jedoch weniger auf die Gauleitungen, sondern auf den Provinzialverband Haakes, der den Vorsitz des rheinischen Landesverbandes des VDA übernahm und ein nun auch provinziales Grenzlandamt
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Bericht Ispert betr. Grenz- und Außenarbeit der Abt. G., 28.6.1936, ALVR VDA 4651. Vgl. Vortragsentwurf Ispert, o.D., Anlage zu: Ispert an Hilgers, 29.7.1934, ALVR VDA 4690. Ebd. Ebd.
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einrichtete, zugeschnitten.437 Ihr Kernstück, der erweiterte und konkretisierte Grenzstützplan, übertrug das ‚Grenzgürtel‘-Konzept in ein regional umsetzbares Maßnahmenpaket zur „Ausgestaltung des Grenzgürtels zu einem Bollwerk des Nationalsozialismus“ durch „kulturelle Aktivierung unter Sicherung u. Verbesserung der Lebensbedingungen“.438 Priorität besaß die „Aktivierung der beiden Hauptstützpunkte Aachen und Trier, die dank ihrer Lage und Größe für den Grenzgürtel beherrschende Bedeutung haben“. Die kleineren Grenzorte Perl, Bitburg, Monschau, Geilenkirchen und Kleve waren als „Zwischenstützpunkte“ einbezogen und jeweils einem der Hauptstützpunkte zugeordnet. Insgesamt umfasste der Plan eine Vielzahl von Maßnahmen in den Bereichen „Schule“, „Kunst u. Wissenschaft“, „Wirtschaft“, „Landwirtschaft“, „Siedlung auf dem Land“, „Städtebau“ und „Verkehr“. Auf schulischem Gebiet sollte „[j]eder Grenzort des Grenzgürtels […] eine erstklassige Schule mit n.s. Lehrkräften“ besitzen; die Lehrerausbildung in Aachen und Trier sollte „energisch“ ausgebaut und „[l]ändliche Berufsschulen, Bauernschulen usw.“ sollten in das Gebiet verlegt werden. Im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich sollten der „Ausbau der Theater in Aachen und Trier als Grenzlandtheater“, die Ausrichtung der dortigen Museen „in Richtung der Grenzstützung“, die „Gründung von Heimatmuseen unter dem Blickpunkt ‚Volk und Landschaft‘“, die Förderung „grosser Volksbüchereien“, die „Ausrichtung der Tagespresse […] unter Gründung von Grenzlandbeilagen“ sowie der „Einsatz des Films“ und „des Puppentheaters“ die Grenzlandpolitik flankieren. Hohe Priorität besaß die „Gründung bezw. Ausgestaltung heimatkundlicher Zeitschriften im Grenzgürtel, am besten je einer für das Trierer Land und für Aachen-Niederrhein“, die eine „Loslösung vom rein örtlich bedingten Heimatgedanken“ bewirken und die „Verbundenheit mit dem germanischen Volkstum jenseits der Grenze“ herausstellen sollten. Wirtschaftlich sollte der „Grenzgürtel“ durch die Schaffung „geschlossene[r] Wirtschaftsgebiete“ soweit wie möglich „aus sich selbst leben können“. In die gleiche Richtung zielte die Förderung der Landwirtschaft durch Melioration, Flurbereinigung, Landgewinnung, Mustergüter, Bauernschulen und eine Förderung des Obstbaus. Siedlungspolitisch sah Ispert aufgrund der „Armut des Landes“ zwar von der Schaffung neuer Siedlerstellen zwischen Aachen und Trier ab. Geplant waren jedoch eine „Auflockerung der Städte Aachen und Trier nach modernen städtebaulichen Gesichtspunkten“, eine „Fortführung der Bergarbeitersiedlungen im Wurmrevier“, ein „Ausbau der Zwischenstützpunkte zu Musterorten (moderne Siedlung, Strassenbau, guter Anstrich, gute Gasthäuser usw., Einheit der Landschaft, Verbot schlechter Werbung)“, eine „[d]urchgehende Versorgung der Grenzgürtelortschaften mit Wasserleitungen, elektr. Licht“ sowie die Gründung von Strandbädern, Sportplätzen, Jugendherbergen und HJ-Heimen. Eine Reihe verkehrspolitischer Maßnahmen schloss das Paket für die un437
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Organisationsplan Ispert betr. Gesamtmobilmachung des Volkstums im rheinischen Grenzraum, o.D., Anlage zu: Ispert an Haake, 17.1.1937, ALVR VDA 4691. Ispert übersandte den Entwurf des Grenzstützplans im Januar 1937 mit Bitte um Stellungnahme und Ergänzung an den stellvertretenden Landeshauptmann, Landesrat Hilgers, der zwei Monate später mitteilte, dass der Plan „zu einem vorläufigen Abschluß gelangt“ sei, vgl. hierzu Hilgers an Köhler, 8.3.1937, ALVR VDA 4691. Entwurf zum Grenzstützplan (Abschrift), o.V. [Ispert], o.D. [verm. Jan. 1937], ALVR VDA 4651.
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mittelbare Grenzzone ab. Hierzu zählten der „[m]ustergültige Ausbau aller vom Ausland nach innen führenden Autostraßen bis zum Rhein“, die Schaffung „einer grossen und mustergültigen Nordsüdverbindungsstrasse“ von Saarburg über Trier, Mönchengladbach und Krefeld nach Emmerich, die „Durchorganisierung eines Omnibusliniennetzes“ zwischen den Stützpunkten und von diesen zur Grenze und zum Rhein sowie eine Förderung des Tourismus „durch eine planmässige Auslandswerbung“ und „regelmässige Omnibusausflugsfahrten im Grenzraum“.439 Eine ergänzende, von Isperts ‚Abschnittsleiter Nordwest‘ Scherdin verfasste Maßnahmenliste stellte die Etablierung der Grenzlandforschung an der Technischen Hochschule Aachen in den Mittelpunkt der Vorhaben im „Hauptstützpunkt Aachen“.440 Hinter diesem unmittelbaren Grenzgürtel441 definierte Ispert eine „2. und 3. Zone“, die faktisch die gesamte Rheinprovinz umfassten und nach erfolgter Formierung des Grenzgürtels „analog“ auszubauen seien. Das Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande und die übrigen westpolitisch relevanten Forschungseinrichtungen in Köln, Bonn und Düsseldorf, die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft, der Verband der rheinischen Geschichtsvereine, die Landsmannschaft Eupen-Malmedy, die Gaupropagandaleitung und andere grenzübergreifend aktive Institutionen waren diesem Teil des Grenzstützplans zugeordnet. Mit ihrer Hilfe sollte der Bevölkerung im Landesinneren eingeimpft werden, „dass auch sie eine Grenzbevölkerung ist, die bestimmte Grenzlandaufgaben erfüllen muss.“ In Isperts Begriffswelt des permanenten Krieges ging es um die Schaffung einer „Hauptwiderstandslinie“ entlang des Rheins mit expansiver Stoßkraft „nach vorn“.442 Hier sollte auch eine neue Einrichtung an der Schnittstelle von Westforschung und Grenzlandpolitik geschaffen werden, um Jugendliche zu „sachkundigen Kämpfern nationalsozialistischer Haltung“ auszubilden, aus deren Kreis „der Nachwuchs“ für alle staatlichen und nationalsozialistischen Stellen hervorgehen würde, „die mit westl. Grenz- und Volkstumsarbeit zu tun haben.“ Neben eigenen Lehrkräften sollten Dozenten des Bonner Instituts in dieser „Rheinischen Landesschule“ eingesetzt sein.443 Ispert entwarf diese Konzepte teils in Kooperation, teils aber auch in Konkurrenz oder gar Konfrontation zu anderen grenzlandpolitischen Akteuren und Akteursnetzen, die sich auf der Basis der ‚Jugendgrenzlandarbeit‘ und der staatlichen Grenzlandpolitik der 1920er Jahre hatten etablieren können. Hierzu gehörten in erster Linie die beiden (ebenfalls verdeckt operierenden) Netzwerke Robert Holthöfers und Franz Thediecks. Beide unterschieden sich sowohl voneinander, als auch vom Ispert-Kreis erheblich: Während der aus Tarnungsgründen der Bezirksregierung Köln zugeordnete ehemalige Zentrumspolitiker Thedieck als Beauftragter des Preußischen 439 440 441
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Ebd. Bemerkungen und Vorschläge für den Hauptstützpunkt Aachen, Anlage zu ebd. Er umfasste die 15 Grenzkreise der Rheinprovinz (Rees, Kleve, Geldern, Kampen-Krefeld, Erkelenz, Geilenkirchen-Heinsberg, Aachen-Stadt, AachenLand, Monschau, Schleiden, Prüm, Bitburg, Trier-Stadt, Trier-Land, Saarburg). Vgl. Entwurf zum Grenzstützplan (Abschrift), o.V. [Ispert], o.D. [verm. Jan. 1937], ALVR VDA 4651. Ebd. (Herv. i. Orig.) Denkschrift Ispert betr. Rheinische Landesschule, Anlage zu: Ispert an Hilgers 17.1.1937, ALVR VDA 4651.
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Innenministeriums, später dann des Reichsinnenministeriums, für EupenMalmedy sowie des VDA für Belgien, Luxemburg und die Niederlande agierte, oblag dem Gründer der Volk und Reich-Stiftung die Vermittlung der inoffiziellen Fördergelder des Propagandaministeriums für die deutsche Auslandspropaganda im Westen, darunter Mittel für den Vlaamsch Nationaal Verbond (VNV), die Deutsch-Niederländische Gesellschaft, die Gesellschaft der Freunde Luxemburgs und einer Vielzahl kulturpolitischer Initiativen der Abschnittsleitung Nordwest der Abteilung G im Städtedreieck AachenMaastricht-Lüttich. Sowohl Ispert, als auch Thedieck und Holthöfer verfügten hierbei über eigene Informationsdienste: sie beauftragten, sammelten und bewerteten Berichte aus den westlichen Nachbarstaaten, erstellten vertrauliche Lageberichte und stellten ihr Wissen unterschiedlichen Staats- und NSInstitutionen zur Verfügung. Ispert partizipierte am internen Wissen sowohl Thediecks, als auch Holthöfers, doch blieb diese Kooperation spannungsgeladen: Er intervenierte in vertraulichen Berichten für den Düsseldorfer SD-Oberabschnitt West gegen beide Konkurrenten und legte dem SD nahe, ihre Arbeit stärker zu überwachen und die Abteilung G als informelle Kontrollinstanz für die westliche Grenzlandpolitik einzusetzen.444 Nach den westdeutschen Gauen und dem Provinzialverband war dies der dritte institutionelle Rahmen der Abteilung G in den 1930er Jahren. Ispert ging davon aus, auf diese Weise eine Hegemonie der SS über die grenzübergreifenden Netzwerke im Westen herstellen und so die mit der Auflösung des Büros von Kursell zugunsten der Volksdeutschen Mittelstelle noch fragiler gewordene Autorisierung seiner Grenzlandpolitik durch die NSDAP kompensieren zu können. Im Dezember 1936 legte er der Abteilung III/1 („Fremdländische Lebensgebiete“) des SD-Oberabschnitts West zwei Karten samt Erläuterungen vor, die den luxemburgischen, belgischen und niederländischen Abschnitt der Westgrenze als eine „Front“ abbildeten, die nicht von einer einheitlichen Stabsstelle aus befehligt, sondern von einer Vielzahl nebeneinander und mitunter gegeneinander wirkender Akteure und Akteursnetze bearbeitet werde und die daher dringend einer Reorganisation bedürfe. Sowohl die (nicht überlieferten) Karten, als auch Isperts Vorschläge für eine solche Reorganisation wurden zur Grundlage einer ausführlichen, an das RSHA gerichteten Denkschrift der Abteilung III/1 über die Außenarbeit im Westen.445 Der SD begründete darin eine über die „nachrichtendienstliche Bearbeitung“ hinausgehende Westraumpolitik, die, gestützt auf Isperts Kenntnis der „grenzpolitischen, volkskundlichen und aussenpolitischen Zusammenhänge im westlichen Grenzraum“, auf direkte Interventionen zielte. Die Denkschrift bewertete zunächst das tatsächliche oder vermutete grenzübergreifende Handeln von rund 40 staatlichen, nationalsozialistischen und privaten Akteuren im Gebiet des Oberabschnitts, stellte politische, organisatorische und persönliche Schwächen Thediecks und Holthöfers fest und forderte eine Neuausrichtung der „gesamte[n] Auslandsarbeit“ im Sinne einer 444
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Vgl. hierzu Müller, Thomas: „Außenarbeit im Westen“. Eine Denkschrift des „Sicherheitsdienstes“ der SS über die deutsche Infiltrationspolitik in den „Benelux“-Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte im Westen 18 (2003), S. 82-105 (im Folgenden zitiert als: Müller, „Außenarbeit im Westen“). Die Denkschrift stammt vermutlich von Rolf Dupin, einem Mitarbeiter der Abteilung III/1 des SD-OA West. Vgl. hierzu Müller, „Außenarbeit im Westen“, S. 82.
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nach militärischen Vorbildern strukturierten „Front gegen den Westen“. Gerade weil diese Front „in verschiedene Abschnitte“ zerfalle, sei eine einheitliche „Befehlsstelle erforderlich, die die gesamte Kampfstellung übersehen“ und „die erforderlichen Befehle erteilen“ könne. Die an der „Front“ eingesetzten „Truppen“ – also die einzelnen grenzlandpolitischen Akteure – seien als „Spezialtruppen für besondere Aufgaben und für besondere Kampfmethoden“ aufzufassen, „die von der Befehlsstelle an der richtigen Stelle eingesetzt werden müssen“.446 Die Denkschrift leitete diese Struktur unmittelbar aus dem geopolitischen Konzept der Grenze „als ein Raum“ ab, in dem „die sich entgegenstehenden Weltanschauungen“ eine „Kampflinie“ bildeten, „die teils diesseits, teils jenseits des Grenzstrichs verläuft.“ Die „bisher übliche Einteilung“ der Grenzlandarbeit nach selbständigen Arbeitsgebieten wie „Grenzgürtel-“ und „Volkstumsarbeit“ werde der Dynamik dieser „Kampflinie“ nicht gerecht und müsse „unter eine strategische Leitung gebracht werden“.447 Die Vollmacht einer solchen „Zentralstelle“ gründete sich aus Sicht des SD auf das Wissen über die im Raum verborgenen Kampfstellungen des Feindes. Allerdings hatte sich das Phantasma einer feindlichen Front gegenüber dem jungkonservativen Bild einer von der Alliance Française organisierten Umzingelung des Reiches deutlich verschoben: „Dass der Vatikan einen politischen Gürtel um Deutschland gelegt hat, weiss jedermann. Es weiss auch jeder, dass dieser Gürtel, vergleichbar einer geistigen Maginotlinie, eben vom Vatikan aus zentral geleitet wird. Ein Blick in die katholische Auslandspresse beweist dies. Ein Blick in die Auslandspresse beweist aber auch, dass die Truppen des Vatikans Fühlung halten mit anderen zentral geleiteten Organisationsgruppen, mit den von Prag und Paris aus zentral geleiteten Emigranten der SPD und KPD, mit den von Genf aus geleiteten jüdischen Kampforganisationen, mit den von Rom aus geleiteten Ideen, die heute in den kleinsten Dörfern jenseits der Grenze ihre festen Stellungen ausgebaut haben, ganz gleich ob in Luxemburg, Holland oder Belgien und dem nicht an das Berichts[gebiet] angrenzenden Elsass-Lothringen.“448
Eine wirksame Grenzlandpolitik im Westen musste, wollte sie die ‚geistige Maginotlinie‘ durchbrechen, auf eine ‚Säuberung‘ der Nachbarländer von katholischen, jüdischen und antifaschistischen Kräften hinauslaufen, und sie tat es, indem sie innerhalb der deutschsprachigen Minderheiten und der Flämischen Bewegung eine radikale völkisch-rassistische, antikatholische und antisemitische Strömung forcierte. So wandte sich der SD deshalb gegen Thedieck, weil dieser die von Ispert und Scherdin aufgebaute Tarnorganisation der SS in Eupen-Malmedy nicht in seine Volkstumspolitik einbezog, und das Verdikt gegen Holthöfer gründete in ganz ähnlicher Weise auf dem Vorwurf, er habe den flämischen Antisemiten Ward Hermans nicht angemessen unterstützt und dadurch eine nationalsozialistische Radikalisierung des VNV gehemmt. Über die konkrete Tätigkeit Isperts für den SD ist wenig bekannt, doch gibt es Hinweise darauf, dass er im Vorfeld des Überfalls gemeinsam mit dem Aachener SD-Chef und späteren Kriegsverbrecher Friedrich Knolle, einem Deutsch-Niederländer, maßgeblichen Anteil am Aufbau der SS in den 446 447 448
Ebd., S. 97. Ebd., S. 103. Ebd., S. 97f.
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Niederlanden hatte.449 Das RSHA beauftragte Ispert und Knolle vor dem Überfall zudem mit Nachforschungen über deutsche Emigranten in den Niederlanden und Belgien sowie deren Beziehungen ins westliche Ausland.450 Ispert intensivierte außerdem die ‚Bearbeitung‘ der skandinavischen Länder451 und stellte dem RSHA seine dortigen Kontakte zur Verfügung.452 Ispert entwickelte in dieser Phase auch wissenschaftspolitische Initiativen. Neben der anwendungsorientierten Grenzlandforschung der TH Aachen mit ihrem zentralen Projekt, dem Westraum-Atlas453 – wir werden hierauf zurückkommen –, gehörte hierzu die Zusammenarbeit mit dem Leiter der Arbeitsstelle für Auslandsdeutsche Volksforschung am DAI in Stuttgart. Die 1936 von Hans Joachim Beyer in Zusammenarbeit mit der Münchener Deutschen Akademie eingerichtete und geleitete Arbeitsstelle454 konzentrierte sich auf die Erfassung aller laufenden Forschungsarbeiten und die Anregung von Dissertationen und Arbeiten im Rahmen des Reichsleistungkampfs der Studentenschaften. Bis 1938 behandelte sie in eigenen Arbeiten vor allem ostpolitische Themen sowie die „bevölkerungspolitischen, volksbiologischen und sozialhygienischen Verhältnisse des Auslanddeutschtums“ und der „Umvolkung“, wobei Beyer eine systematische Einbeziehung von Medizinern, Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und Pädagogen anstrebte, „die bislang nur selten an der Erforschung des Auslanddeutschtums beteiligt waren.“ Besondere Aufmerksamkeit widmete er außerdem der „Beobachtung der vom politischen Katholizismus her bestimmten einschlägigen Arbeiten“. In Abgrenzung zu den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften zielte er auf eine „gesamtdeutsche Volkswissenschaft“, deren Ergebnisse „nach Möglichkeit den Gliederungen der Partei nutzbar gemacht“ werden müssten.455 Eine gleichnamige Arbeitsgemeinschaft bestand zudem in Köln. Sie stand in Kontakt zu Beyer und umfasste neben dem Rektor Hans von Haberer unter anderem den Wirtschaftswissenschaftler Bruno Kuske und Martin Spahn, der das Kölner Institut für Raumpolitik leitete.456 Beyer traf am 8. April 1938 im Düsseldorfer Landeshaus mit Ispert, dem stellvertretenden Landeshauptmann Hilgers, seinem Verbindungsmann bei der Reichsstudentenführung Wilkening, dem Leiter des Außenamtes der Außenstelle West der Reichsstudentenführung Barres und dem Leiter der provinzialen Auswanderer-Forschungsstelle Rheinländer in aller Welt Zilliken zu einer Besprechung über „die zukünftige wissenschaftliche Arbeit im 449 450 451 452 453 454
455
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Vgl. In ‘t Veld, SS en Nederland, Bd. 1, S. 221 sowie Müller, Formierung, S. 784. Vgl. Vermerk „Holland – Belgien“, BArch ZWM 41, p. 4119f. Vgl. Bericht Ispert betr. Abt. G, Aug. 1938, ALVR VDA 4691. Rechenschaftsbericht über nachrichtendienstliche Arbeit des Referats VI G 3 für das Jahr 1940, BArch ZR 920 A 63. Siehe Kapitel Der „Westraum“ im Spiegel der „Volk und Reich“-Publizistik. Zur Arbeitsstelle (zunächst: Mittelstelle) für Auslandsdeutsche Volksforschung vgl. Ritter, Ernst: Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917-1945, Wiesbaden 1976, S. 85-90. – Leider wenig Aufschlüsse bietet die neuere Studie von Gesche, Katja: Kultur als Instrument der Außenpolitik totalitärer Staaten. Das Deutsche Ausland-Institut 1933-1945, Köln u.a. 2006. Vorlage Arbeitsstelle für Auslanddeutsche Volksforschung, Stuttgart, o.D., ALVR VDA 4585. Einer namentlich nicht gezeichneten Vorlage mit dem Titel Westraum zufolge wurde die WFG zwar als „unentbehrlich“ betrachtet, ihrer Leitung jedoch politische Unzuverlässigkeit vorgeworfen (ebd.). Vorlage Westraum, ebd.
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Westraum“ zusammen. Die Runde wertete es als „Mangel“ der bisherigen Westforschung, „daß auf diesem Gebiet im allgemeinen die einheitliche Linie – die Gesamtplanung – fehlte. Die Arbeit ging immer von Einzelinteressen (Professoren oder wissenschaftlichen Kreisen) aus“, ohne dass die „politische Bedeutung“ der einzelnen Forschungsthemen „eine ausschlaggebende Rolle spielte.“ Ein von Beyer vorgelegter Plan über die wissenschaftliche Arbeit im Westraum sollte demgegenüber die „Grundlage“ einer wesentlich anwendungsorientierteren Westforschung bilden.457 Der Plan basierte einmal mehr auf einem Raumbild, das ganz von der Vorstellung einer feindlichen Formierung französischer Kultur- und Wissenschaftsorganisationen durchdrungen war. Unterstellt wurde ein abgestimmtes strategisches Agieren von insgesamt 14 französischen Institutionen, darunter neben Menschenrechtsorganisationen, jüdischen und katholischen Einrichtungen auch das Office Française de Renseignement aux Etats-Unis des Marschal Pétain. Das „Geheimnis“ dieser Organisationen liege in „ihrer Vielfältigkeit, die nicht zersplittert, sondern durch ein System zusammengehalten“ werde. Die einzelnen Organisationen arbeiteten daher „nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu behindern“, sie konzentrierten sich ganz auf ihren jeweiligen „Einsatzabschnitt“ und seien sich „ihrer großen Verantwortung vor der gemeinsamen Aufgabe“ bewußt. Hinter den Kulissen habe sich außerdem ein „Orden der führenden Männer“ gebildet, „der die Einheit und Stetigkeit der französischen Kulturarbeit ins Ausland garantiert.“ Gemeinsam bildeten sie den feindlichen „Generalstab“, dessen Mitglieder es im Einzelnen allerdings noch „festzustellen“ gelte.458 Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich hier um eine Projektion eigener grenzlandpolitischer Organisationskonzepte. Demgegenüber erschienen die WFG und die Westforschungsinstitute in Bonn, Köln, Münster, Frankfurt, Aachen und Kaiserslautern zwar als unentbehrliche Einrichtungen.459 Alles in allem aber gehe die „wissenschaftliche Arbeit“ zum „Westraum“ „nicht von einer Gesamtplanung aus, sondern von den Einzelinteressen der Professoren“. Hinzu komme ein „liberaler Verwaltungsbegriff“, der lediglich die sachgemäße Verausgabung der Fördermittel, nicht aber ihren politischen Nutzen überprüfe. „Im Nationalsozialistischen Reiche“ aber müsse „[a]n die Stelle des Systems der Bezuschussung […] das System der Auftragserteilung treten.“ Um eine solche Umstellung vorzubereiten, sei es zunächst erforderlich zu erfassen, welche Themen bereits „aufgearbeitet“ oder in Bearbeitung seien und welche Themen noch bearbeitet werden müssten. Diese Feststellung sei „abhängig von politischen Plänen“ und könne „ausschließlich durch politische Stellen oder durch Männer mit politischer Verantwortung getroffen werden“: „Konkret! Die Bestimmung der Themen, die aufgearbeitet werden müssen, kann nur erfolgen durch diejenigen Stellen, die für die Westarbeit volkspolitisch verantwort-
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Niederschrift über die Besprechung am 8. April 1938 im Landeshaus Düsseldorf, ALVR VDA 4585. Zu Wilkenings Rolle vgl. auch Vermerk Arbeitsstelle für Auslandsdeutsche Volksforschung, ebd. Vorlage Der Generalstab der wichtigsten französischen Kulturorganisationen, ALVR VDA 4585. Vorlage Westraum, ebd.
318 | IMAGINIERTER WESTEN lich sind. Die in dem Arbeitsgebiet vorhandenen Sachkenner sind als Referenten, die Vorschläge machen, heranzuziehen.“460
Damit zielte die Düsseldorfer Besprechung auf die Etablierung einer von der WFG unabhängigen Struktur zur Erteilung politisch und planerisch relevanter Forschungsaufträge. Diese sollten „in der Form von Dissertationsschriften, zum Teil aber auch im Rahmen des Reichsleistungskampfes der Deutschen Studenten erfolgen“, wofür Wilkening bereits ein Mandat der Reichsstudentenführung besaß.461 Auf dieser Grundlage nun sammelte und verteilte die Düsseldorfer Runde die Bearbeitung von 117 Themen für Auftragsforschungen, darunter ein 9 Themen umfassendes Programm zum „Forschungsgebiet Eupen-Malmedy“, das den Forschungszweck bemerkenswert offen benannte: „Für den Fall einer Rückgliederung“ gelte es „die notwendigen Unterlagen“ sofort bereitzustellen; sie sollten „der Regierung übergeben und von Zeit zu Zeit auf den neuesten Stand gebracht“ werden. Neben vorbereitenden Studien über den „Anschluß an die deutsche Wirtschaft“, die „Anlage neuer Strassenund Eisenbahnen“, die „Herstellung der Währungseinheit und Verhinderung einer Kapitalflucht“, die „Einführung des deutschen Unterrichtswesens“ und die „Angliederung der kirchlichen Behörden“ gehörte hierzu auch die „Aufstellung aller im Gebiet lebenden Juden und ihrer Tätigkeit.“462 Die „Arbeitsvorschläge Elsass-Lothringen“ umfassten 16 zumeist bevölkerungswissenschaftliche, soziologische, geopolitische und zeitungswissenschaftliche Themen.463 Ebenfalls 16 „Arbeitsvorschläge“ galten der Schweiz. Sie betrafen die Bevölkerungsgruppen des Landes, ihre mentalen Orientierungen und die ökonomischen Verflechtungen am Oberrhein.464 Für „Holland“ (Niederlande) waren 42 Themen und 3 Übersichtsdarstellungen vorgesehen, darunter Untersuchungen über ökonomische Besitz- und Rechtsverhältnisse, die Haltung des katholischen Südens zum Nationalsozialismus, die volkstumspolitische Stellung Frieslands, den niederländischen Anteil an der mittelalterlichen Ostkolonation und das niederländisch-englische Verhältnis – 460 461 462 463
464
Vorlage Themen, die im Westraum bearbeitet werden müssten, 28.3.1938, ebd. Ebd. Vorlage Forschungsbereich Eupen-Malmedy, ebd. Vorlage Arbeitsvorschläge Elsass-Lothringen, ebd. – Die Vorschläge thematisierten die „höhere Durchschnittsleistung der Elsass-Lothringer auf den verschiedenen Lebensgebieten“, den „Anteil der Elsass-Lothringer“ am „Wirtschaftsleben Frankreichs“ und am „Aufbau des französischen Heeres“, die „fremdvölkische[n] Arbeiter in der Wirtschaft und Industrie Lothringens“, die wirtschaftliche und parteipolitische Entwicklung seit 1918, die „strategische Bedeutung von Elsass-Lothringen für Frankreich“, die „Unstimmigkeiten zwischen Elsässern und Lothringern“ und die Wechselwirkungen zwischen der elsässisch-lothringischen und schweizerischen Presse. Vorlage Arbeitsvorschläge Schweiz, ebd. – Themen waren: Die Stellung und Sprache der Rätoromanen, die „Beteiligung der verschiedenen Sprachgemeinschaften an öffentlichen Einrichtungen“, die kulturellen und familiären Verbindungen von Deutschen und Schweizern, die „italienische Ansiedlung und ihre Auswirkungen“, der „Anteil deutschen Blutes in Graubünden“, die „[b]evölkerungsmässige Lage im Schweizer Jura“, die wirtschaftliche Lage und „[g]esinnungsmäßige Einstellung der Tessiner zu Italien“, die „deutschschweizerische Wirtschaftsverflechtung“, die Schiffbarmachung des Oberrheins und die Häfen von Basel und Straßburg.
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Fragestellungen also, die von hohem Wert für eine Infiltrations- und auch Besatzungspolitik waren.465 Das mit 31 Themen umfangreichste Paket betraf die Rheinprovinz und ihre Verhältnis zu den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Neben der Auswandererforschung gehörten hierzu Untersuchungen über die „Einflusssphäre der grossen rheinischen Zeitungen jenseits der westlichen Reichsgrenze“, die Presse in Eupen-Malmedy, Arel und Aubel sowie im niederländischen Südlimburg, die rechtliche Stellung der deutschen Sprache in Belgien, den „Anteil der Deutschen“ an der „Hafenwirtschaft und Industrie von Antwerpen“ sowie der „Lütticher Waffen- und Metall-Industrie“, die „wirtschaftliche Entwicklung des Kemperlandes und ihre Bedeutung für die rheinisch-westfälische Industrie“, die Mentalität der „reichsdeutschen Kolonien in den großen Städten“, die „belgischen Forderungen auf NiederländischLimburg und andere Gebiete Hollands“, die „politische und völkische Entwicklung“ der im Kulturkampf in die Niederlande emigrierten deutschen Katholiken, die Auswirkungen der Revolution von 1848 in Limburg, die wirtschaftliche Verflechtung „des Limburger Landes und der Aachener Industrie“, die „Beziehung zwischen der Luxemburger und der Aachener Industrie“, die „Formen der Zweisprachigkeit in Luxemburg“ und die „Entwicklung eines Luxemburger nationalen Sonderbewusstseins“, die „[m]ilitärische[n] Gründe für die Grenzziehung zwischen den Gebieten Trier-Roermond“, die Behandlung „Eupen-Malmedy[s] in der internationalen politischen Literatur“ und den Vergleich deutscher und wallonischer Bauern in Belgien. Hinzu kommen sollten „Dorf-Monographien über die deutschen 465
Vorlage Arbeitsvorschläge Holland, ebd. – Die Vorschläge behandelten auf wirtschaftlichem Gebiet die ökonomischen und „bevölkerungspol. Wechselbeziehungen zwischen Holland und Deutschland“, spezielle Fragen zum „Rhein als Schifffahrtsweg“ (darunter die Rechts- und Besitzverhältnisse der Rheinschifffahrt), die „Kanalpolitik Hollands in Bezug auf Deutschland und Belgien (Rechtsverhältnisse auf d. Maas)“, den „Aktionsradius d. limburg. Bergindustrie“ gegenüber dem Ruhrgebiet, dem Kemperland und dem wallonischen Revier, die Entwicklung von Rotterdam und Antwerpen sowie den „Fremdenverkehr“ in den Grenzkreisen; eine Übersicht sollte die „[i]nnere Wirtschaftsstruktur Hollands“ verdeutlichen. Auf kulturellem Gebiet ging es um einen Überblick über die „[h]istorische[n] Beziehungen zwischen Holland und der Rheinprovinz“ und um die wechselseitige Beeinflussung deutscher und niederländischer Kunst, auf religiösem Gebiet um das katholische „Südholland als Basis gegen den N.S.“ Die Untersuchungen zum „Volkstum“ sollten die „Entwicklung des selbst.niederländischen [sic] Volkstums“, den „Rückgang des deutschen Volkstums an der holl. Ostgrenze“, die „Sonderstellung Frieslands“ und die „Beziehungen Holl.-Frieslands zu Ostfriesland“, „[n]eue friesische Selbständigkeitsbestrebungen“, die „Beziehungen zwischen Vlamen und Holländern“, den „[h]oll. Anteil an der deutschen Ostkolonisation vom Ritterorden bis Friedr.d.Grossen“, die „Bedeutung eingewanderter deutscher Familien“ sowie „Familienbeziehungen zwischen deutschen [sic] und holländischem Adel“ behandeln, und auf politischem Gebiet schließlich ging es um die Gründe für den Verlust der niederländischen Großmachtstellung und die „zunehmende[.] Abhängigkeit von England“, den „[g]eistige[n] Einfluß der französischen Revolution bis zur Gegenwart“, die niederländischen „Kräfte im Rahmen der Gross-Burgundischen Politik der Neuzeit“, die Lage der niederländischen Kolonien, das Parteiensystem, die „[p]olitische Bedeutung des Grosskapitals (Unilever, Royal Dutch)“ und die „Bedeutung der Landwirtschaft und ihre Beherrschung durch die Trusts“.
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Gemeinden in Limburg“ (Heerlen, „Kirchrath“, Vaals), Forschungen über die Mundart im deutschen Sprachgebiet von Arel und eine Geschichte der in der „Drei-Völker-Ecke“ von Deutschen, Wallonen und Niederländern gelegenen belgischen Stadt Aubel unter „modernen volkswissenschaftlichen Gesichtspunkten“. Ebenfalls in diesen Rahmen gehörten „rassenhygienische und gesundheitswissenschaftliche, auch bevölkerungsstatistische Untersuchungen“ über acht nahe der Sprachgrenze gelegene belgische Ortschaften.466 Diese „wissenschaftlichen Themen“ waren die ersten, die im Sinne der Düsseldorfer Besprechung „planmässig“ verteilt wurden.467 Vier der Themen sollten von der DSt, jeweils zwei vom Deutschen Institut der TH Aachen468 und von den Zeitungswissenschaftlichen Instituten in Köln bzw. Münster und je eines vom DAI, von der Landesbauernschaft und der Regierung Aachen bearbeitet werden; als weitere Bearbeiter waren u.a. Scherdin und die Westforscher Martin Spahn und Franz Steinbach vorgesehen.469 Wenn auch die im Plan für die wissenschaftliche Arbeit im Westraum vorgesehenen Studien nur zum Teil vergeben und begonnen wurden, so liegt seine Bedeutung darin, dass er das Projekt einer Formierung des ‚Westraumes‘ durch gezielte Forschungen flankierte. So wie die Organisation der Abteilung G mit ihren grenznahen Abschnittsleitungen und die im Grenzstützplan niedergelegte Gliederung des Grenzgebietes in Stützpunkte und Zonen, so fungierten die anvisierten Studien als weitere Kampfmittel an der imaginierten Westfront. Die grenznah dislozierten Akteure, die zueinander in Beziehung gesetzten Städte, die in ihnen geförderten Einrichtungen, die sie verbindenden Infrastrukturen und die von ihnen ausgehenden Wirkungen über die Grenze, die getarnten Beziehungen zu künftigen Kollaborateuren und nicht zuletzt eben auch die wissenschaftliche Expertise zu 117 sehr konkreten Themen – all dies lässt sich als die Herstellung eines nach dem Formierungsmodell gedachten ‚Grenzkörpers‘ interpretieren. Als solcher war der ‚Westraum‘ eine handlungsleitende und wirkungsmächtige Konstruktion, bevor die Wehrmacht ihn im Mai 1940 mit Gewalt verfügbar machte. Am Vorabend des ‚Westfeldzugs‘ konzentrierte sich Ispert schließlich auf die Schaffung einer zunächst in Wuppertal-Elberfeld, dann in Düsseldorf ansässigen Propagandastelle für den ‚Westraum‘. Unmittelbar nach Kriegsausbruch hatte er das RSHA darüber informiert, dass eine Auslandspropaganda in der bisherigen Form nicht mehr praktikabel sei. Eine „wirklich wirksame Propagandamethode“ hingegen sei die „Flüsterpropaganda“.470 Am Beispiel entsprechender „Zweckgerüchte“, denen zufolge eine „Landung englischer Truppen in Holland scheinbar beabsichtigt“ sei und England den 466
467 468 469
470
Vgl. die Liste der Titelvorschläge mit kurzen inhaltlichen Erläuterungen als Anlage zu: ebd. – Die acht belgischen Ortschaften, die für rassenhygienische u.a. Untersuchungen vorgesehen waren, sind: Montzen, Kelmis (ehem. Neutral-Moresnet), Bocholtz, Membach, Gemmenich, Welkenraedt, Heinsch und Raeren. Niederschrift über Besprechung am 8.4.1938, ALVR VDA 4585. Zusammen mit zwei Themen des Eupen-Malmedy-Programms. Notiz zu den vorgeschlagenen Themen, ebd. – Weitere Bearbeiter waren Landesrat Blech, Prof. Kuhn (Köln), Dr. Jacobs (Münster), Dr. Schliebe (Koblenz), Dr. Pfingsten. Vorschlag Isperts betr. Ausgestaltung unserer Propaganda im Kriegsfall, 2.9.1939, übersandt vom Chef des Amtes III des RSHA an Auswärtiges Amt, Informationsstelle, Gesandter Altenburg, 12.9.1939, PAAA R 66807.
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Franzosen „die belgische Wallonie als Preis der Waffenhilfe in Aussicht gestellt“ hätte,471 erläuterte er eine Politik der Destabilisierung, die gleichsam den Übergang von der Grenzlandpolitik zum Einmarsch markierte. „[F]ür den Westraum“ sollte, so schlug er vor, „eine Zentrale für Flüsterpropaganda“ entstehen, die „unmittelbar alle neutralen Westländer bearbeiten“ und „mittelbar auch das feindliche Ausland“ erreichen müsse. Ispert wies darauf hin, dass die „zur Durchführung dieser Aufgabe notwendigen Aussenstellungen im gesamten Westraum [...] bereits vorhanden“ seien und er auf eine „Unterstützung“ durch den SD zähle.472 Die Einrichtung der Propagandastelle erfolgte am 15. September 1939 unter der Ägide der Deutschen Informationsstelle (DIST) des Auswärtigen Amtes,473 nachdem das RSHA am 12. September eine unterstützende Anweisung „an die infrage kommenden SD-Dienststellen“ in Aussicht gestellt hatte.474 Im November 1939 unterhielt Ispert bereits mehr als 50 „Grenzaußenstellen“ im Westen,475 und im Februar 1940 teilte er der DIST mit, dass „die gesamte Westgrenze“ propagandistisch bearbeitet werde. Für die Verbreitung der Falschmeldungen und Gerüchte würden vor allem die „Beamten an der Grenze (SD, Stapo, Zoll)“, grenznah lebende Vertrauensleute sowie „Geschäftsreisende und Wirtschaftler“ eingesetzt. Darüber hinaus stünden „von der Schweiz bis Holland“ etwa 90 bis 100 „ständige Kurierlinien“ und etwa 150 temporäre „Verbindungen“ zur Verfügung, über die auch gedrucktes Material über die Grenze geschmuggelt werde. Neben dieser „Westorganisation“ unterhalte die Propagandastelle außerdem „eine große Anzahl weiterer Linien nach anderen neutralen Ländern, die wir in den Rahmen der Arbeit eingespannt haben.“ Ispert betonte, dass der Erfolg dieser Arbeit „in hohem Maße“ der „Zusammenarbeit mit den Inspektionen der Sicherheitspolizei und des SD in Düsseldorf, Wiesbaden und Stuttgart“ zu verdanken sei, die ihm ihre „zuverlässigen Grenzgänger“ zur Verfügung gestellt hätten.476 Zu den zahlreichen Initiativen, die Ispert in diesem Kontext ergriff, gehörten etwa Broschüren, in denen eine fiktive niederländische Historikervereinigung unter Verweis auf das Werk Hugo Grotius’ den „Glauben an England“ unterminierte oder in der vermeintliche Pazifisten ihre Enttäuschung über den Kriegseintritt Englands zum Ausdruck brachten und die „Bekämpfung Englands als kriegstreiberischer Macht“ propagierten.477 Auf der gleichen Linie lagen fingierte Meldungen, die auf eine Destabilisierung der Börsen zielten und die Astrologie als Medium der Verunsicherung nutzten.478 Am 11. Mai 1940, einen Tag nach dem Überfall, berichtete Ispert, dass die „Arbeit“ auf die „Propaganda in dem neubesetzten Gebiet umgestellt“ sei,479 doch war das Intermezzo nun weitgehend beendet. 471 472 473 474 475 476 477 478 479
Anlage zu ebd. Vorschlag Isperts betr. Propagandastelle West, 9.9.1939, PAAA R 66807. Vgl. Bescheinigung für SS-Sturmbannführer Ispert, 22.4.1942; Ispert an DIST, 1.4.1942, PAAA R 66807. Chef des Amtes III des RSHA an Auswärtiges Amt, Informationsstelle, Gesandter Altenburg, 12.9.1939, PAAA R 66807. Vermerk Ispert betr. Ausbau unserer Arbeit, 22.11.1939, PAAA R 66807. Ispert an Gesandten Altenburg, 10.2.1940, PAAA R 66807. Vorschlag Ispert betr. Herausgabe von Broschüren in holl. Sprache, PAAA R 66807. Vgl. Meldung Ispert an DIST, 1. März 1940, PAAA R 66807. Vgl. Ispert an Generalkonsul [ohne Namensnennung], 11. Mai 1940, PAAA R 66807.
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Am 29. Juni 1940 dem SD überstellt, wechselte SS-Sturmbannführer Ispert am gleichen Tag zum Stab des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in den Niederlanden. Die westpolitischen Netzwerke der Vorkriegszeit bildeten nun einen personellen Grundstock, um Schlüsselpositionen in den Besatzungsverwaltungen zu besetzen.480 Abschließend werde ich nun jenen ‚Westraum’ skizzieren, der von einer grenzlandpolitischen Imagination zu einem Kriegsziel des Zweiten Weltkrieges geronnen war und dessen besatzungspolitische Vorform nun eine veränderte symbolische Inszenierung erfuhr.
480
Vgl. Müller, „Ausgangsstellung“, S. 832, ders., Formierung, S. 773f.
DIE
NEUE
SEMANTIK
DES
„W E ST R A U M E S “
D i e tr an s f o r m i e r te W e s tg r e n z e Das Jahr 1940 stand im nationalsozialistischen Diskurs in einer reziproken Beziehung zum Jahr 1923. Der Ereigniskomplex Ruhrkampf/Separatistenabwehr verschmolz mit der Mystifizierung des gescheiterten Hitler-Putschs zu einem historischen Wendepunkt hin zum ‚Dritten Reich‘. In der Retrospektive des Kölner Gauleiters Josef Grohé hatte die „rheinische Bevölkerung“ zu einer Zeit „gegen das Frankreich Clemenceaus und Poincarés eine Schlacht gewonnen“, als Deutschland einen Tiefpunkt seiner Geschichte erlebte.1 Das Symboljahr 1923 stand damit für einen grenzlandpolitischen und schließlich militärischen ‚Wieder‘-Aneignungsprozesses eines verlorenen Westens, dessen weitere Etappen die Räumung des besetzten Rheinlands 1930, der Anschluss des Saargebietes 1935, der Einmarsch in die entmilitarisierte Zone 1936 und schließlich der Überfall am 10. Mai 1940 waren.2 Das taktisch motivierte Festhalten Hitlers an den Vereinbarungen des Locarno-Vertrags bedingte eine vordergründig defensive, tatsächlich aber doppelbödige Westpolitik, die im Bau des Westwalls ihren symbolischen und architektonischen Ausdruck fand. Architektonisch entstand eine zweite, die Landschaft künstlich, funktional und linear durchschneidende Westgrenze, die sich zugleich als ein System räumlich dislozierter Bunker und Logistiken, als ein Modell repressiver ‚Arbeitseinsätze‘ und nicht zuletzt als eine mediale Großinszenierung darstellte. Symbolisch schloss der Westwall den ‚Kampf um den Rhein‘ ab, indem er die Westgrenze im wahrsten Sinne des Wortes zementierte und als eine uneinnehmbare ‚Abwehrgrenze‘ auswies. Insofern suggerierte der Westwall eine linear abschließende Grenze statt eines grenzübergreifend offenen Raumes. Paradoxerweise konstituierte er jedoch eben diese, über die Staats- und Sprachgrenze hinausreichende Räumlichkeit: einen Grenz-Raum nämlich, der im Osten durch den Westwall und im Westen durch die Maginotlinie – beide mit ihren rückwärtigen Infrastrukturen – definiert war. Der Westwall verwies also von neuem auf die Vorstellung eines Zwischenraumes zwischen Deutschen und Franzosen, wie Ratzel ihn als erster beschrieben hatte. Diesen Raum bezeichnete eine 1939 publizierte militärgeographische Karte der gegeneinander gerichteten Stellungslinien mit dem Terminus „Westraum“.3 Und in der Tat: Sie zeigte annähernd die glei1 2
3
Grohé, Josef: Der politische Kampf der Rheinlande nach dem Weltkriege, in: Schmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre, S. 15-34, hier: 21. Zur Wiederbesetzung des Rheinlandes vgl. Braubach, Max: Der Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone am Rhein im März 1936. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges, Köln u.a. 1956. Anonymus: Der Westraum mit Westwall und Maginot-Linie. Das Neue Europa (mit Nebenkarten: Der vorderasiatische Raum als wirtschaftliches Kampfgebiet), Maßstab 1:2.000.000, Leipzig 1939.
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chen Regionen, die wir als alldeutsche ‚Westmark‘ und jungkonservatives ‚Westland‘ kennen. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht begann eine Politik tiefgreifender territorialer Veränderungen. Auf dem amtlichen Kartenbild stellte sich diese Transformation allerdings kaum dar. Denn die am 18. Mai 1940 von Hitler verkündete Annexion Eupens und Malmedys sowie des früheren Neutral-Moresnet war die einzige offiziell vollzogene deutsche Annexion im Westen.4 Zwar annektierte Deutschland per Ministerialerlass vom 29. Mai 1940 noch elf weitere Gemeinden und einige Ortschaften im Osten Belgiens, doch blieb diese zweite Annexion geheim.5 De jure war die Westgrenze also lediglich in ihrem deutsch-belgischen Abschnitt in ihren früheren Zustand zurückversetzt worden, wohingegen Elsass-Lothringen weiterhin außerhalb des Staatsgebietes verblieb, da die okkupierten Nachbarstaaten als rechtliche Fiktion ihre Staatlichkeit und ihre Vorkriegsgrenzen wahrten.6 Freilich hatte die Westgrenze selbst eine Transformation erfahren, die sich als eine Zonierung der benachbarten Staaten beschreiben lässt. Neben die formal fortbestehende Grenzlinie traten neue Grenzen unterschiedlicher juristischer, administrativer und militärischer Geltung, die den okkupierten Raum in Territorien mit je spezifischen Machthabern und Herrschaftspraxen zerteilten und zugleich an das Reich banden. Die innerstaatliche Zivilverwaltung und die neue Territorialstruktur der Gaue schoben sich rasch auf ElsassLothringen und Luxemburg vor, um sie für die Dauer des Krieges als de facto-annektiert zu behandeln. Aus einer kurzzeitigen gemeinsamen Militärverwaltung für Belgien, die Niederlande und Nordfrankreich schälte sich nach der Einrichtung der zivilen Besatzungsverwaltung in den Niederlanden und der Abtrennung Nordfrankreichs ein Gebilde heraus, das ein im Osten beschnittenes Belgien nach Westen um die Departements Nord und Pas-deCalais mit ihrer den Flamen zugerechneten Landbevölkerung erweiterte. Das französische Territorium indes zerfiel in streng voneinander abgesonderte Zonen.7 Neben die Demarkationslinie, die seit dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 das besetzte vom ‚freien‘ Frankreich Marschall Pétains schied, trat die so genannte Nordost- oder auch Führer-Linie. Ihren Verlauf hatte die Abteilung I (Reichsverwaltung) des Reichsinnenministeriums unter der Leitung von Staatssekretär Wilhelm Stuckart im Mai und Juni 1940 nach Vorgaben Hitlers festgelegt.8 Von allen neuen Grenzen im Westen war sie diejenige, die als künftige Westgrenze konzipiert war; ihre zeitweilig voll4
5 6
7 8
Vgl. Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Wiedervereinigung der Gebiete von Eupen-Malmedy und Moresnet mit dem Deutschen Reich, 18. Mai 1940, in: Schärer, Martin R.: Deutsche Annexionspolitik im Westen. Die Wiedervereinigung Eupen-Malmedys im Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl., Bern u.a. 1978. Vgl. Erlaß des Reichsministers des Inneren über die neue Grenzziehung v. 29. Mai 1940, in: ebd., S. 283. Vgl. zusammenfassend Herdeg, Walter: Grundzüge der deutschen Besatzungsverwaltung in den west- und nordeuropäischen Ländern während des zweiten Weltkrieges (Studien des Instituts für Besatzungsfragen in Tübingen zu den deutschen Besetzungen im 2. Weltkrieg, Bd. 1), Tübingen 1953, insbes. S. 1821 (im Folgenden zitiert als: Herdeg, Grundzüge). Herdeg, Grundzüge, S. 18-21. Denkschrift: Die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, gez. W. Stuckart, 14. Juni 1940, editiert in: Schöttler, „Generalplan West“.
NEUE SEMANTIK DES „WESTRAUMES“ | 325
ständige Abriegelung, die Einrichtung von Sperrzonen und eine auf Germanisierung zielende Bevölkerungs- und Siedlungspolitik nach dem Vorbild der okkupierten polnischen Gebiete9 ließen die projektierte Nachkriegsordnung in Ansätzen Wirklichkeit werden.10 Diese Vorform einer neuen Reichsgrenze verlief von der Mündung der Somme entlang des Pariser Beckens in südwestliche Richtung zu den Argonnen, um von dort westlich der Franche Comté in südliche Richtung zur schweizerischen Grenze hin zu verlaufen, wo sie mit der Demarkationslinie zusammenfiel: „Die Grenze beginnt an der Kanalküste südwestlich Montreuil sur Mer, schliesst den Unterlauf der Canche und die Stadt St. Pol ein und läuft südlich des flandrischen Hügellandes und des Flussgebiets der Scarpe und südlich der Stadt Arras vorbei. Sie schliesst weiter den gesamten Straßenzug der route nationale Nr. 39 und die Städte Cambrai, Le Cateau und Hirson ein, wo sie alsdann in südöstlicher Richtung die Südhänge der Ardennen erreicht. Südöstlich Charleville biegt die Grenze nach Süden ab und läuft über die Westhänge des Argonnerwaldes, alsdann östlich Bar le Duc über die Wasserscheide zwischen Marne und Maas bis auf das Plateau von Langres. Nach Einbeziehung der Stadt Langres hält sich die Grenze im wesentlichen an die Grenze der Departements Haute Saône und Doubs, so dass das obere Saôneund Doubstal mit Besançon und der Eisenbahnübergang zur Schweiz nordwestlich Lausanne von Frankreich abgetrennt werden.“11
Diese Grenzziehung konstituierte eine Zone des Sonderrechts von etwa 59.000 m² und mit etwa 7,1 Millionen überwiegend frankophonen Einwohnern. Innerhalb dieser Zone lagen, so Stuckart, sämtliche deutschsprachigen und flämischen Minderheiten Frankreichs einschließlich der wichtigsten Niederlassungsgebiete deutscher und flämischer Arbeitsmigranten,12 außerdem die ostfranzösischen Mittelgebirge als militärgeographische „Sperrlandschaften gegenüber dem kernfranzösischen Gebiet“13, die mit ihren Steinkohlen-, Erz- und Kalivorkommen „wirtschaftlich wertvollsten Teile Frankreichs“14 sowie zusammenhängende Eisenbahn-, Straßen- und Wasserstraßennetze,15 und als „Rhein-Mosel-Maas-Scheldesystem“ stellte sie zugleich eine geographische Einheit dar.16 Die Legitimation dieser neuen Grenze bewegte sich vollständig im hegemonialen Grenzland-Diskurs. Der Verweis auf Ratzels Diktum der Räumlichkeit jeglicher Grenze und der Rekurs auf das Stromsystem findet sich ebenso wie der Gedanke der „natürlichen Grenze“ Mitteleuropas, das Bild eines landschaftlichen „Dreiklangs“ von Alpen, Mittelgebirgen und Flachland und der Verweis auf die demographische Entwicklung Frankreichs. Vor allem aber entsprach die neue Grenze selbst recht genau der tradierten Begrenzung von ‚Westmark‘, ‚Westland‘ und ‚West9
10 11 12 13 14 15 16
Vgl. Mièvre, Jacques: L’»Ostland« en France durant la seconde guerre mondiale. Une tentative de colonisation agraire allemande en zone interdite, Nancy 1973. Vgl. Schöttler, „Generalplan West“, S. 85ff. Ebd., S. 123f. Ebd., S. 118-121. Ebd., S. 123. Ebd., S. 129f. Ebd., S. 127f. Ebd., S. 123.
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raum‘, wie wir sie ab der spätwilhelminischen Ära verfolgen konnten. Die neue Grenze bildete also ein Konzentrat der geographischen, völkischen, wirtschaftlichen und militärischen Ansprüche an einen deutschen ‚Westraum‘.17 Das Konzept der ‚Militärgrenze‘ aktualisierend, entwickelte Stuckart genaue Vorschläge für eine Germanisierung der „abzutrennenden Gebiete“. Auf der demographischen Argumentationslinie behauptete er, rund 7 bis 8 Millionen Einwohner Frankreichs seien keine Franzosen im völkischen Sinne. Bei einer gleichzeitig rückläufigen Geburtenrate habe Frankreich damit die Fähigkeit verloren, seine Industrie, Ernährung und Verteidigung aus eigener Kraft aufrecht zu erhalten. Dadurch habe es das Recht auf sein Gesamtterritorium verwirkt und müsse sich in seinem eigenen Interesse auf ein Kerngebiet beschränken, das es tatsächlich besiedeln und bewirtschaften könne: „Die neue Grenzziehung muss hier endgültig Wandel schaffen, indem sie die Räume, die doch nicht vom französischen Volke bevölkert, bewirtschaftet und ausgenutzt werden können, dem deutschen Volkstum zur Besiedlung und Wiedergewinnung des deutschen Volksboden zur Verfügung stellt. Das heute in diesen Räumen siedelnde französische Volkstum wird zum großen Teil ausgesiedelt werden können und ausreichenden Siedlungsraum und ausreichende Ernährungsmöglichkeiten im entvölkerten18 Kernfrankreich finden.“19
Am 28. Juni 1940 wurde die ‚Führerlinie‘ hermetisch abgeriegelt, um eine Rückkehr der zum großen Teil ins Innere Frankreichs geflohenen Landbevölkerung zu verhindern. Die Verwaltung der Höfe übernahm die deutsche Treuhandgesellschaft Ostland (ab 1942 Reichsland), die bis dahin im besetzten Polen tätig gewesen war. Innerhalb der ‚abzutrennenden Gebiete‘ entstanden mit der zone interdite (südlich des abgetrennten Nordostens) und der zone réservée (westlich der de facto-annektierten luxemburgischen und lothringischen Gebiete) zudem zwei Sperrgebiete, in denen es zu Massenvertreibungen der verbliebenen Franzosen und zur Ansiedlung von ‚Volksdeutschen‘ kam. Bei Kriegsende bewirtschaftete die Treuhandgesellschaft nach eigenen Angaben rund 8.900 Höfe und Güter, auf denen u.a. Kriegsgefangene, zivile Zwangsarbeiter und jüdische Gefangene arbeiten mussten.20 Da jedoch nicht genügend Siedler für den vorgesehenen „Vormarsch deutschen Volkstums“21 in das ‚Westland‘ zur Verfügung standen und es einem Großteil der Bewohner gelang, die Grenzsperre zu unterlaufen, gab die Militärverwaltung die Abriegelung Ende 1941 auf.22 Daneben bestanden weitere Umsiedlungs- und Germanisierungsprogramme für Teilregionen des ‚Westraumes‘, so die Vertreibung von 100.000 Lothringern meist bäuerlicher Herkunft aus dem Departement Moselle durch den Leiter des Gaus Westmark 17 18 19 20
Ebd., S. 109. Hier im Sinne von: nicht mehr bewirtschaftet (infolge von Landflucht). Ebd., S. 122f. Vgl. ebd., S. 86f; ders.: Historische Westforschung, S. 216, 244f; Umbreit, Weg zur Kontinentalherrschaft, S. 130; Fossier, Jean-Marie: Zone interdite. Nord/Pas-de-Calais, mai 1940-mai 1945, Paris 1977. 21 Lagebericht des Chefs der Militärverwaltung in Frankreich/Verwaltungsstab für August 1940, zit. n. Umbreit, Weg zur Kontinentalherrschaft, S. 130. 22 Vgl. Umbreit, Weg zur Kontinentalherrschaft, 130f.
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und Chef der Zivilverwaltung im besetzten Lothringen Josef Bürckel, Planungen der SS zum Austausch weiterer 60 Prozent der lothringischen Bevölkerung durch Reichsdeutsche23 und Pläne Himmlers, die Einwohner Südtirols geschlossen nach Burgund auszusiedeln, die französischen durch südtiroler Ortsnamen zu ersetzen und die Region in eine Art Musterstaat der SS zu verwandeln.24 Im Zweiten Weltkrieg begegnet uns der ‚Westraum‘ also nicht mehr allein als imaginative Geographie, strategisches Raumbild oder verräumlichte Ideologie, sondern als ein temporär realisierter Raum. Er war das für eine neue geo- und biopolitische Ordnung verfügbar gewordene Gebiet zwischen einer noch bestehenden, auf das Gleichgewichtsdenken des Wiener Kongresses zurückgehenden, und einer neuen, im Zuge einer umfassenden ‚Neuordnung Europas‘ erst noch zu verrechtlichenden Westgrenze. Diese Vorstellung zweier konzeptionell verschiedener Westgrenzen findet sich explizit in einer Denkschrift der Reichsstelle für Raumordung über Raumplanerische Möglichkeiten einer Grenzziehung und Einteilung der Grenzräume im Westen vom 15. Juli 1940.25 Mit Blick auf die erwarteten Friedensverhandlungen unterschied der Leiter der Reichsstelle zwischen einer „inneren“ und einer „äußeren Grenze“. Unter der „inneren Grenze“ verstand er die „heutige[.] deutsche[.] Westgrenze“, die „mit gewissen Modifikationen als Gaugrenze in Betracht“ komme. Die „äußere Grenze“ hingegen stelle eine „großzügige geopolitische Grenzziehung“ dar, „welche die großen Wasserscheiden, Rasse- und Sprachgrenzen, Kulturlandschaften und Wirtschafts- und Verkehrsfragen“ berücksichtige und „als Reichsgrenze“ anzusehen sei.26 Sie sollte „im Nordwesten Frankreichs an der Kanalküste beginnend […] über die Höhen des Artois und der Argonnen zwischen Marne und Maas bis zum Plateau von Langres“ und von dort „auf den Höhen der Côte d’Or bis zu den Mts. de Lyonnais“ verlaufen, „um östlich zum Genfer See abzubiegen.“27 Sie entsprach also grob der ‚Führerlinie‘. Zwischen der „inneren“ und der „äußeren Grenze“ ermittelte die Reichsstelle ein Gebiet von 11.641 km² Fläche, das sich in die fünf bzw. sechs Teilgebiete „Niederlande“ (eventuell geteilt in „Holland“ und „Brabant“), „Flandern“ (einschließlich des nordostfranzösischen Industriegebiets und der niederländischen Provinz Zeeland), „Wallonie“, „Lothringen“ und „Burgund“ gliedere.28 An die Stelle der strategischen Dreiteilung gemäß der Festungsmetapher trat hier die Definition künftiger Binnenregionen von annähernd gleicher Größe und Bedeutung.
23 Vgl. Freund, Volk, Reich und Westgrenze, S. 295. 24 Vgl. Stuhlpfarrer, Karl: Umsiedlung Südtirol 1939-1940, Bd. 2, München 1985, S. 649-700, zur anvisierten Formierung Burgunds als Herrschaftsgebiet der SS vgl. insbes. S. 654f. Hinweise auf Ambitionen Görings für einen burgundischen Separatstaat finden sich bei Nestler, Ludwig (Hrsg.): Die faschistische Okkupationspolitik in Frankreich (1940-1944) (Europa unterm Hakenkreuz, Einzelband), Berlin 1990, S. 23 (im Folgenden zitiert als: Nestler, Faschistische Okkupationspolitik). 25 Denkschrift der Reichsstelle für Raumordnung: Raumplanerische Möglichkeiten einer Grenzziehung und Einteilung der Grenzräume im Westen, 15.7.1940, PAAA, R 105124. 26 Ebd., S. 1f. 27 Ebd., S. 6. 28 Vgl. ebd., S. 10-15.
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Neu waren weniger die territorialen Ansprüche und politisch-geographischen Argumentationsketten, die in solchen Denkschriften zum Tragen kamen, sondern die wissenschaftliche Expertise, die der Planung, Legitimation und Durchführung einer geo- und biopolitischen Neuordnung des ‚Westraumes‘ anders als im Ersten Weltkrieg zu Grunde lag. Sie war das vorläufige Ergebnis einer in erster Linie durch die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft – aber nicht ausschließlich durch sie – professionalisierten Westforschung, die sich frühzeitig am Paradigma des ‚Westraumes‘ orientiert hatte29 und mit Forschungsprojekten und Gastprofessuren, mit Instituts-, Bibliotheks- und Universitätsgründungen, mit der Übernahme besatzungspolitischer Ämter und Aufgaben, mit Karrieresprüngen für ihren akademischen Nachwuchs, mit dem Abschöpfen kollaborationsbereiter Kräfte und nicht zuletzt mit dem Raub kultureller und materieller Güter nun ihrerseits in den ‚Westraum‘ hinein expandierte.30 Der Wandel von der Grenzland- zur Besatzungspolitik begünstigte hierbei solche Disziplinen, die in der Westforschung zunächst kaum eine Rolle gespielt hatten, für eine Erschließung und Neuordnung des ‚Westraumes‘ jedoch höchste Bedeutung besaßen. Hierzu gehörten die Wirtschaftswissenschaften, die Wirtschaftsgeographie und die Ingenieurwissenschaften mit ihren jeweiligen raumplanerischen Anschlussmöglichkeiten. In diesem Kontext nun schien eine veränderte Semantik des ‚Westraumes‘ auf, die wir anhand der Publizistik des Volk und Reich-Verlages abschließend untersuchen werden.
D e r „W e st r a u m “ i m S p i e g e l der Volk und Reich-Publizistik Zwischen 1933 und 1939 baute der Volk und Reich-Verlag unter der Leitung von Friedrich Heiß sein publizistisches Programm systematisch aus. Neben Sonderheften über regionale grenz- und volkstumspolitische Themen erwies sich die Gründung der Schriftenreihen Die Straße (1933-43, 30 Bde.) und Forschungsarbeiten aus dem Straßenwesen (1936-42, 33 Bde.) als richtungsweisend. In Zusammenarbeit mit dem Reichsinspekteur für das deutsche Straßenwesen, Fritz Todt, erschloss der Verlag damit das von der völkischen und jungkonservativen Grenzlandbewegung wenig beachtete technologische Fachwissen, das für eine effiziente verkehrstechnische Erschließung der Grenzzonen und der künftigen besetzten Gebiete erforderlich war, zugleich aber die Vorstellung der Grenze als Verkehrseinheit, die bis dahin vor allem 29 Bereits bei ihrer Gründung verstand sich die spätere WFG als eine Arbeitsgemeinschaft „aller westdeutschen Grenzgebiete“ zur „Verteidigung des Westsaumes des deutschen Kulturgebietes“. Genannt wurden das Saargebiet, Luxemburg, Elsaß-Lothringen, Eupen-Malmedy, die „Niederlande und Flandern“ und die Schweiz sowie „Frankreich im allgemeinen“, die „französische[.] Kulturpropaganda“ und die „Bevölkerungsverschiebungen im deutsch-französischen Grenzgebiet“. Vgl. Protokoll der Tagung in Bingen am 27. und 28. Juni 1931, gez. H. Ammann, 12.6.1931, PAAA R 60270. 30 Vgl. zusammenfassend Müller/Freund, Westforschung, sowie zur Reichsuniversität Straßburg exemplarisch Wróblewska, Teresa: Die Reichsuniversitäten Posen, Prag und Straßburg als Modelle nationalsozialistischer Hochschulen in den von Deutschland besetzten Gebieten, Toruń 2000.
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anhand von Stromsystemen und Wasserstraßen entwickelt worden war, erweiterte. Neben den Grenzland- und Mitteleuropa-Diskurs trat so ein ausgesprochen praxisorientierter Fachdiskurs, der sich auch in der 1936 übernommenen Schriftenreihe Zur Wirtschaftsgeographie des deutschen Ostens (1930-44, 19 Bde) des Breslauer Geographen Walter Geislers und der nach dessen Wechsel an die TH Aachen gegründeten Reihe Zur Wirtschaftsgeographie des deutschen Westens (1937-43, 10 Bde.) wiederfindet.31 War der Volk und Reich-Verlag in den 1930er Jahren von wechselnden politischen und finanziellen Abhängigkeiten betroffen, die Heiß mitunter den Vorwurf des Opportunismus und der Korruption einbrachten,32 änderte sich dies mit seinem Eintritt in die SS und seiner Ernennung zum SS-Hauptsturmführer im Persönlichen Stab des Reichsführer-SS im Januar 1940.33 Seit Kriegsbeginn wurde Volk und Reich außerdem vom Auswärtigen Amt für die publizistische Propaganda im Ausland eingesetzt.34 Im Auftrag des SS-Gruppenführers und Reichsprotektors Karl Hermann Frank gründete Heiß im März des gleichen Jahres die Zeitschrift Böhmen und Mähren, die 1943 zum Vorbild für das Blatt Westland werden sollte.35 Gleichzeitig entwickelte der Verlag eine umfangreiche Buchpublizistik, die vor allem von den 1940 in Prag und Amsterdam gegründeten Niederlassungen betreut wurde. Während des Zweiten Weltkrieges entstanden rund 100 eigenständige Buchtitel und rund 15 Buchreihen, die jedoch häufig nach wenigen Bänden ihr Erscheinen einstellten. Der Ausbau der Verlagstätigkeit spiegelt sich nicht zuletzt in der Zeitschrift Volk und Reich wieder, deren Redaktion Heiß um Waldemar Wucher, einen politischen Weggefährten der ersten Stunde, und Rudolf Fischer verstärkte. Dem Verlauf des Zweiten Weltkriegs folgend, fokussierte Volk und Reich die besetzten Gebiete und die Kriegsgegner Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion und die USA. Ausgehend von einem 1938 publizierten Schwerpunktheft über das Judentum in Südost- und Mittelosteuropa thematisierte die Zeitschrift in ihren bevölkerungspolitischen Beiträgen immer stärker auch die ‚Judenfrage‘.36 Mit dem Themenheft Kriegsziele der Westmächte behandelte Volk und Reich im März 1940 erstmals seit zehn Jahren wieder die Westgrenze. Im Vorfeld des Überfalls griffen nachrückende Autoren wie Hermann Raschhofer, Rudolf Fischer, Max Clauss und Johannes Stoye die ‚Entdeutschungs‘31 Vgl. hierzu und zu den folgenden Abschnitten Müller, Thomas: Volk und Reich, in: Haar u.a. (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 701704, hier: 703f. – Zur Reihe Zur Wirtschaftsgeographie des deutschen Westens vgl. auch ders., Ausgangsstellung“, S. 834. 32 Vgl. die Auseinandersetzungen in PAAA, R 60347, darin exemplarisch die Verfügung zur Beilegung der Konflikte im Verordnungsblatt der Reichsjugendführung, 19.1.1935. 33 Vgl. Karteikarte Heiß, BArch, ehem. BDC, SSO Heiss, Friedrich 7-10-1897. 34 Bereits 1936 war Volk und Reich in der Propaganda gegen die Tschechoslowakei eingesetzt worden. Vor dem Überfall auf Polen war Heiß im Auftrag der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes zur Durchführung der „publizistischen Propaganda gegen Polen“ tätig; im September 1939 folgte ein „Großeinsatz der Zeitschrift ‚Volk und Reich‘ durch das Auswärtige Amt im gesamten Ausland“. Vgl. Lebenslauf Heiß, März 1941, BArch, ehem. BDC, RSK Heiss, Friedrich 7-10-1897. 35 Wucher an Curt Franke, 15.3.1944, NIOD, Sammlung 174b, n.p. 36 Vgl. Heft 3 von Volk und Reich 14 (1938), S 145-213; exemplarisch: Loesch, Karl C. von: Juden und bodenständige Völker, in: ebd., S. 145-155.
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Obsession der ersten Nachkriegszeit auf und spitzten sie zum Szenario einer von Frankreich und England betriebenen „Vernichtung des deutschen Volkes“ zu.37 „Sollten wir in diesem Kampfe unterliegen, dann will man durch ein ‚Über-Versailles‘ alles vernichten, was deutsch heißt. Man will den Wahnsinn von 1919 in n-ter Potenz wiederholen.“38 Die propagandistische Funktion der Texte ist offensichtlich: Die Halluzination eines drohenden „Vernichtungsfriedens“,39 der den „Diktatfrieden“ von Versailles überträfe, diente der Legitimation des bevorstehenden Angriffs als Präventivschlag. Bemerkenswert ist hierbei eine Veränderung der Feindbilder gegenüber dem früheren Diskurs: nicht mehr Frankreich, sondern England erscheint als Hauptgegner im Westen, und hinter dem perfiden Albion werden Juden und Freimaurer als die eigentlichen Feinde entlarvt. Die kleineren neutralen Staaten scheinen „dem Banne der britischen Überlegenheit, der großen und kleinen Logen, den großen und kleinen Banken in Paris und London“ anheim gefallen zu sein, und auch Frankreich selbst drohe, wie Rudolf Fischer orakelte, zu einer „Kolonie“ und einem „Glacis Englands“ herabzusinken.40 Hinter dem Begriff „Über-Versailles“ tat sich damit ein ganzer Kosmos antiwestlicher und antisemitischer Projektionen auf, die an die Wendung des alldeutschen Diskurses am Ende des Ersten Weltkriegs denken lassen. Verbunden war dies mit einem Rekurs auf Richelieu: Im Juni-Heft Gegen Richelieu, dem ersten nach dem Überfall, fungierte der Kardinal als Personifikation französischer Angriffslust, die aus dem Zeitalter des Absolutismus ungebrochen in die Gegenwart hineinzureichen schien und besiegt werden müsse. Denn Richelieu war, wie Fischer nun propagierte, nicht nur als „bleibender Bestandteil jedes politischen Gedankens“ in Frankreich allgegenwärtig, sondern lebe „im französischen Blute“ fort. Das französische Volk sei zu einem „immanenten Richelieu“ geworden, gegen den Deutschland nun den „Schiedsspruch“ fälle.41 Hierbei diente vor allem der französische Historiker Jacques Bainville, dessen 1915 erschienene Schrift Les conséquences politiques de la paix 1939 unter dem Titel Frankreichs Kriegsziel ins Deutsche übertragen und in Massenauflage verbreitet worden war,42 als Projektionsfläche. Bainville erschien als Stichwortgeber der Regierung Cle37 Mauerkircher, Friedrich: Das Manifest des Herzogs von Braunschweig, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 141-145, hier: 141. 38 Stoye, Johannes: Das „Über-Versailles“, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 195209, hier: 208. Vgl. im gleichen Heft auch: Fischer, Rudolf: Die Kriegsziele der Westmächte, in: ebd., S. 145-151 (im Folgenden zitiert als: Fischer, Kriegsziele); Clauss, Max: Unfähigkeit zum Frieden, in: ebd., S. 152-156 (im Folgenden zitiert als: Clauss, Unfähigkeit); Raschhofer, Hermann: Das Mitteleuropaprogramm der Demokratien. Ein Vergleich der gegnerischen Kriegsziele von 1914 – 1939, in: ebd., S. 165-177; Wucher, Waldemar: Gegen die deutsche Einheit. 8 Karten zu den Kriegszielen der Westmächte, in: ebd., S. 177-189. 39 Clauss, Unfähigkeit, S. 156. 40 Fischer, Kriegsziele, S. 148f. 41 Fischer, Rudolf: Kampf gegen Richelieu, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 373378, hier: 377f. – Vgl. zu diesem Propagandamotiv auch Grimm, Friedrich: Das Dogma der französischen Expansionspolitik, in: Heiß, Friedrich (Hrsg.): Deutschland und der Westraum, S. 103-109; ders.: Das Testament Richelieus, Berlin 1941 (Vorwort datiert v. 10. Mai 1940). 42 Bainville, Jacques: Frankreichs Kriegsziel. Mit einer Einleitung von Friedrich Grimm. Aus dem Französischen übertragen von Albrecht Erich Günther, Hamburg 1940.
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menceau, geistiger Urheber des Versailler Vertrags, Testamentsvollstrecker Richelieus und Sprachrohr des französischen Nationalismus in einer Person. Der Überfall selbst spiegelte sich im Abdruck aktueller Memoranden, Befehle und Berichte aus dem Zeitraum vom 10. Mai bis zum Fall Dünkirchens am 4. Juni 1940 wieder.43 Indem die Zeitschrift die Texte Hitlers und Keitels unter dem Titel Die Schlacht in Flandern dokumentierte, stellte sie den Überfall in den Kontext der Flandern-Inszenierung als Nordwestflügel eines tausendjährigen Kampfes, dessen Ausgang, wie Hitler verkündete, über „das Schicksal der deutschen Nation in den nächsten tausend Jahren“44 entscheide. Erst mit den Heften Gegen Richelieu (Juni 1940) und Nach Frankreichs Niederlage (Oktober 1940) begann die eigentliche Neuauflage des ‚Westland‘-Diskurses. Hatten die Autoren der 1920er Jahre diesen Raum in der Regel aus anderen Räumen – den abstrakten politisch-geographischen und geopolitischen Konstrukten, dem übergeordneten Mitteleuropa oder den konkreten Teilregionen entlang der Grenze – abgeleitet, so griffen sie nun auf eine weitgehend etablierte Topologie zurück, in der die Konstituenten Geographie, Geschichte, Rasse, Wirtschaft, Verkehr und Technik eng verflochten waren: „Der Westraum“, definierte exemplarisch Heinrich Emmendörfer, „ist ein einheitliches Ganzes, dem die tiefe Furche des Rheintales ihr Gepräge gibt. Immer ging das Leben und der Verkehr im Frieden und im Krieg stärker und dichter als irgendwo in der Welt auf dieser Völkerstraße [...]. Deshalb ist auch die Wirtschaft, vor allem die industrielle Wirtschaft, in diesem Westland enger in sich verflochten als irgendwo sonst in anderen Wirtschaftsräumen. Und wie vor hundert Jahren der Siegeszug der Technik mit der Ausbreitung der Eisenbahnen die binnenstaatlichen Grenzen niederriß im Deutschen Bund, so rufen seither auch die Lande dieses Westraums nach tieferer Einheit, nach wirtschaftsvernünftiger Zusammenarbeit.“45
Die Hefte Kriegsziele der Westmächte, Gegen Richelieu und Nach Frankreichs Niederlage bildeten den Grundstock des Sammelbandes Deutschland und der Westraum, den Heiß 1941 in Zusammenarbeit mit Günter Lohse und Waldemar Wucher herausgab.46 Er war die wichtigste Buchpublikation des Volk und Reich-Verlages über die Westgrenze und die besetzten Gebiete während des Krieges. Wie die Zeitschrift enthielt er ausführliche Bildteile,
43 Die Entscheidung im Westen, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 347-352 (enthält: Memorandum der Reichsregierung an die Königlich Belgische und Königlich Niederländische Regierung v. 9. Mai 1940, S. 347-350; Memorandum an die Luxemburgische Regierung v. 9. Mai 1940, in: S. 351; Der Führer an die Soldaten der Westfront, 10. Mai 1940, S. 351f); Die Schlacht in Flandern, in: ebd., S. 353-372 (enthält: Bericht des OKW v. 4. Juni 1940, S. 353-356; Aufruf des Führers an das deutsche Volk v. 5. Juni 1940, S. 356; Tagesbefehl an die Soldaten der Westfront v. 5. Juni 1940, S. 356-373). 44 Der Führer an die Soldaten der Westfront, 10. Mai 1940, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 351f, hier: 352. 45 Emmendörfer, Heinrich: Frankreich und die Wirtschaft im Westraum, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 431ff, hier: 433. 46 Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum. – Der in einer Erstauflage von 10.000 Exemplaren gedruckte Band war zunächst unter dem Titel „Deutschland und seine Westgrenze“ geplant worden. Vgl. Lebenslauf Heiß, März 1941, BArch (ehem. BDC), RSK Heiss, Friedrich 7-10-1897.
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die Landschaften, Städte, Bauten und Kunstwerke des ‚Westraumes‘ zeigten, sowie eine Reihe technisch weiterentwickelter Suggestivkarten aus der Kartographischen Abteilung des Verlages, darunter Nachdrucke aus Geislers programmatischer Studie Der Grenzraum zwischen West- und Mitteleuropa aus dem Jahr 1937, auf die noch einzugehen sein wird.47 In seiner Einführung erklärte Heiß den „deutsche[n] Sieg im Westen“ zum Beginn „einer neuen Ordnung, die sich auf den natürlichen und geschichtlichen Grundlagen des Raumes erhebt“, und forderte die Leser auf, den ‚Westraum‘ „leidenschaftslos“ in seiner „Funktion als Teil des künftigen geordneten Europa“ zu sehen. Der ‚Westraum‘-Diskurs war damit deutlich aus dem Rahmen der Grenzlandpolitik gelöst.48 Ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches veröffentlichte Volk und Reich ein letztes Themenheft über den Westen. Es behandelte die Niederlande und nahm die Gründung der Zeitschrift Westland vorweg. Wie diese, war dem Niederlande-Heft ein Geleitwort Arthur Seyß-Inquarts, des Reichsministers und Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete, vorangestellt, und in beiden Fällen finden sich unter den Autoren zahlreiche niederländische Kollaborateure. Mit Seyß-Inquart gesprochen, sollte das Heft „den niederländischen, sich seiner germanischen Art bewusst werdenden Menschen zum Sprechen bringen, damit er vor aller Welt“ seine Bereitschaft zum Aufbau einer „nationalsozialistischen[n] Gemeinschaft der germanischen Völker“ bekunde.49 Im Mittelpunkt standen daher weniger raumkonzeptionelle Beiträge, als vielmehr Propagandatexte und Selbstdarstellungen leitender niederländischer NS-Funktionäre wie Anton Adriaan Mussert von der Nationaal Socialistische Beweging (NSB),50 Johannes Hendrikus Feldmeijer von der Nederlandsche SS,51 Geerto Aeilko Sebo Snijder vom Nederlandsche Kultuurraad,52 Hendrik Alexander Seyffardt von der Freiwilligenlegion Nederland,53 Evert Jan Roskam von der Boerenfront der NSB54 und Hendrik Jan Woudenberg von der Nederlandsche Arbeidsfront.55 Ihre Beiträge vermittelten das Bild einer aufbrechenden niederländischen Elite und forderten eine rigorose Umerziehung der Mehrheitsgesellschaft unter dem Gesichtspunkt des Rassischen und Unbedingten.56 Die Rolle, welche die Niederländer 47 Siehe hierzu Kapitel Die Verkleinerung Frankreichs. 48 Heiß, Friedrich: Zur Einführung, in: ders (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 9. 49 Seyß-Inquart, Arthur: Zum Geleit, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 315f, hier: 316 (im Folgenden zitiert als: Seyß-Inquart, Geleit). 50 Mussert, Anton Adriaan: Die Niederlande im germanischen Raum. Aus einer Ansprache zur Vereidigung der Niederländischen SS auf den Führer, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 321ff. 51 Feldmeijer, Johannes Hendrikus.: Die niederländische SS, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 352f. 52 Snyder [i.e. Snijder], G. A. S.: Der richtige Weg, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 323-326. 53 Seyffardt, Hendrik Alexander: Niederländer im Kampf für Europa, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 351f. 54 Roskam, Evert Jan: Der Niederländische Landstand, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 359ff. 55 Woudenberg, Hendrik Jan: Auf dem Weg zur niederländischen Arbeitsfront, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 361-363. 56 Exemplarisch sei auf den Beitrag von Snijder verwiesen: „Der Einzelmensch muß sich wieder bewußt werden, dass er nur Sinn hat als Teil seines Volkes,
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in einem künftigen europäischen „Großraum“57 zu spielen hätten, sah SeyßInquart in der Wiederaufrichtung der deutschen Nordwestbastion: „Sobald in dieser Weise die Zukunft der Niederlande gesichert ist, kann der Deutsche sich darauf verlassen, daß in der Nordwestecke des germanischen Raumes wieder treue Wacht gehalten wird.“58 Die im „Mündungsgebiet von Rhein, Maas und Schelde“ siedelnden Germanen hätten, ergänzte S. van Steenoord, seit Urzeiten „die Aufgabe zu erfüllen gehabt, der nordwestliche Eckpfeiler des germanischen Gemeinschaftsbereiches zu sein.“ Die mittelalterlichen Grenzmarken seien außerdem die Basis des „gewaltigsten Beitrag[s] der Niederlande für die Gestaltung des germanischen Raumes in Europa“ gewesen, den es nun fortzusetzen gelte: die „Ostkolonisation“.59 Insofern entspräche es „ältesten schicksalsbedingten Traditionen“, wenn die Niederlande unter nationalsozialistischer Führung zum „gleichberechtigten Partner in der Gestaltung des neuen Raumes im Osten“ würden.60 Hiermit war der Weg zur Gründung der Zeitschrift Westland – Blätter für Landschaft, Geschichte und Kultur an Rhein, Mosel, Maas und Schelde gewiesen. Sie erschien seit 1943 in der Amsterdamer Niederlassung des Volk und Reich-Verlages, die seit 1940 von Wucher geleitet wurde. Repräsentativ an der Heerengracht residierend,61 finanzierte sich der Verlag u.a. aus dem Etat des Reichskommissars, der das Buchprogramm und die Herausgabe von Westland mit einem jährlichen Zuschuss in Höhe von fl. 250.000 unterstützte.62 Seyß-Inquart fungierte zugleich als Herausgeber des von Wucher und Heiß redigierten Blattes. Die Bedeutung und Funktion von Westland zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Bewertung als politische „Grundlagenarbeit“ durch Himmler,63 dem Holthöfer im August 1944 das neu geschaffene Präsidentenamt der Volk und Reich-Stiftung übertrug.64
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daß die Volksgemeinschaft seinen Anfang bedeutet und sein Ziel ist.“ Dazu müsse er „befreit werden von den fremden Einflüssen, die ihn in zunehmendem Maße geistig beherrscht haben. Was nicht zu seinem Volkstum gehört, muß zunächst ausgeschieden werden, und dazu gehören zweifellos die verweichlichenden, entnervenden Humanitätsideen.“ Kurzum gelte es, einen im Volkstum angeblich verborgenen „Rasseinstinkt“ an die Stelle der liberaldemokratischen Tradition der Niederlande zu setzen (Snijder, Der richtige Weg, S. 326). Scharp, Heinrich: Europa als Aufgabe, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 316321, hier: 320. Seyß-Inquart, Geleit, S. 315. Steenoord, S. van: Niederländische Entscheidung, in: Volk und Reich 18 (1942), S. 327f, hier: 327. Ebd., S. 328. Im Gebäude Heerengracht 410-412 nutzte der Verlag sechs Stockwerke. Vgl. Luftschutzanweisungen des Volk und Reich Verlages Amsterdam, NIOD, Sammlung 174b, U 25-b, n.p. Neben diesen Zuschüssen in Höhe von jährlich fl. 750.000 sagte Seyß-Inquart zusätzliche Mittel „zum Bau einer deutschen Musterbuchhandlung in Amsterdam“ zu. Heiß an Meidl, 15. September 1942, Anlage, NIOD Sammlung 174b, U 25-c, n.p. Heiß an den Leiter der Ordensburg Krössinsee, 9. November 1943, NIOD, Sammlung 174b, U 25-c, n.p. – Vgl. auch Engels, „Wirtschaftsgemeinschaft“, S. 266. Vgl. Holthöfer an Himmler, 30. August 1944, BArch (ehem. BDC), SSO Heiss, Friedrich 7-10-1897.
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Auch der Autorenstamm vergrößerte sich gegenüber den vorausgegangenen Publikationen erheblich. Neben etablierte Volk und Reich-Autoren wie Max Hildebert Boehm, Ernst Anrich, Hans Schrepfer, Paul Wentzcke und Adolf Helbok traten Vertreter der westdeutschen Grenzlandforschung, die bislang in anderen Kontexten publiziert hatten, darunter der Historiker Franz Petri, der Ökonom Bruno Kuske, der Raumplaner Hermann Roloff und der zum Prähistoriker avancierte Pharmazeut Walter von Stokar. Hinzu kamen niederländische und, wenn auch in geringerer Zahl, flämische, wallonische und schweizerische Kollaborateure, die, wie Sytse Jan van der Molen, Pieter Emil Keuchenius, Frans Vermeulen, Willem Frederik van HeemskerckDüker oder Guillaume Samsoen de Gérard, überwiegend SS-nahen Wissenschafts- und Kulturorganisationen angehörten. Im Januar 1944 lud SeyßInquart einige dieser Autoren zu einer internen Tagung über „Fragen des gesamten Westraumes“ nach Den Haag ein, an der auch der Obmann der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, Paul Ritterbusch,65 teilnahm.66 Um inhaltliche Überschneidungen mit Geislers Wirtschaftsgeographie des deutschen Westens zu vermeiden, erwog Wucher außerdem eine Übernahme dieser Reihe in den Amsterdamer Verlag,67 wozu es allerdings nicht kam. Westland war das am aufwändigsten gestaltete Medium popularisierter Westraumforschung und -politik während des Krieges. Die mit 45.000 Exemplaren im Jahrgang 1944 bemerkenswerte Auflage68 wurde nur zum Teil über den Zeitschriftenhandel vertrieben. Großen Wert legte der Verlag auf ihre Verbreitung in Behörden und NS-Einrichtungen in den besetzten Gebieten, im Deutschen Reich und in der Schweiz.69 Trotz des einsetzenden Papiermangels, dem auch niederländische SS-Zeitschriften wie Het Noorderland zum Opfer fielen,70 erschien sie auf hochwertigem Papier und verfügte über 65 Zu Ritterbusch vgl. allgemein Hausmann, Frank-Rudger: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940-1945), Dresden 1998. 66 Die Tagung der Westland-Mitarbeiter war zunächst für den 18.-20. Oktober 1943 in Den Haag geplant, wurde jedoch auf Mitte Januar 1944 verschoben. Nach Angabe Wuchers sollten „Fragen des gesamten Westraumes zur Debatte“ stehen. „Teilnehmer sind vorwiegend Professoren des Raumes, darunter Helbok-Innsbruck, Ritterbusch-Köln, Petri-Brüssel, Teske-Brüssel, WentzckeFrankfurt a.M. usw.“ Über Günter Lohse (Auswärtiges Amt) bemühte Wucher sich um die Teilnahme des Botschafters Abetz, damit die „Westraumproblematik“ auch aus der Sicht eines Frankreichkenners beleuchtet werden könne. Vgl. Wucher an Lohse, 1. u. 15. November 1943 u. Wucher an Jahrreiß, 1. Oktober 1943, NIOD, Sammlung 174b, U 25-c, n.p.; Wucher an Günter Franz, 16. Dezember 1943, NIOD, Sammlung 174b, U 25-b, n.p. – Eine zweite Tagung sollte im gleichen Jahr die Mitarbeiter aus dem Süden in Straßburg zusammenführen. 67 Wucher an Walter Geisler, 8. Juni 1943, NIOD, Sammlung 174b, U 25-b, n.p. 68 Vgl. Verlagenliste des Departements van Opvoeding, Wetenschap en Kultuurbescherming, Departement van Volksvoorlichting en Kunsten, Durchschrift, 22. April 1944, NIOD, Sammlung 174b, U 25-a, n.p. 69 Vgl. die ausführliche Korrespondenz zwischen dem Verlag und den Einrichtungen des Reichskommissariats, der NSDAP und nationalsozialistischen Organisationen im Ausland, NIOD, Sammlung 174b, U 25-b bis e, passim. 70 Vgl. Zondergeld, Gjalt: „Nach Westen wollen wir fahren!“ Die Zeitschrift ‚Westland‘ als Treffpunkt der ‚Westraumforscher‘, in: Dietz u.a. (Hrsg.): Griff nach dem Westen, S. 655-671, hier: 670.
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ein großzügiges Layout, in dem Suggestivkarten, großformatige Fotos und hochwertige Kunstdrucke das ‚Westland‘ visualisierten. Bereits auf dieser visuellen Ebene zeigt sich eine neuartige Semantik des Raumes. So zeigen die mehrfarbigen Titelseiten den ‚Westraum‘ als die durch Städtenamen strukturierte, jedoch ihrer Grenzen entkleidete Stromlandschaft von Rhein, Maas und Schelde, als eine aus den historischen Rathausfassaden seiner Städte zusammengesetzte imaginäre Häuserzeile – ein fiktiven Erinnerungsort ohne trennende Binnengrenzen –, oder als das Flaggschiff des Admirals Michiel de Ruyter, einer Symbolfigur der niederländischen Seemacht des Goldenen Zeitalters. Zu diesem Raum zählten einer redaktionellen Richtlinie zufolge die „gesamten Rheinlande von den Alpen bis zu den Niederlanden, ganz Belgien, Nord- und Ostfrankreich bis nach Burgund und ins Rhonetal, sowie ferner das an die Niederlande angrenzende westfälische und friesische Gebiet“.71 Das ‚Westland‘ sei, so Wucher, „bis zu einem gewissen Grade als Mischungsraum zwischen germanischem und romanischem Volkstum“ zu verstehen, dessen „Problematik“ nur verstehe, wer „den Grad der Mischung dieser Elemente“ und ihrer „gegenseitigen Beeinflussung“ kenne.72 In dieser veränderten, durch Reminiszenzen an Riehls Schriften über das Elsass und die Niederlande untermalten Inszenierung trat der Motivkomplex der Festung mit ihren beiden Bastionen, ihrer immerwährenden Frontstellung und ihrer stets bedrohten Mitte in den Hintergrund und wurde durch eine Semantik des Gemeinsamen und Europäischen ersetzt: Aus dem Grenz- und Kampfraum wurde der Binnen- und Modellraum einer germanisch-europäischen Kulturgemeinschaft unter Einschluss der ‚Reichsromania‘. Wie ein Rezensent in Volk und Reich anmerkte, sollte Westland „die gesamteuropäischen Wurzeln und Zusammenhänge“ in der „Eigenart“ dieses Raumes sichtbar machen.73 Betrachten wir Wuchers Verlagspolitik näher, so wird eine kulturalistische Fundierung des ‚Westraum‘-Konzepts deutlich, in der rassen- und bevölkerungspolitische Diskurse in einen übergeordneten Kulturbegriff eingebettet waren und gerade dadurch mit der Ostpolitik verschränkt werden konnten. Eine aufgrund der militärischen Situation nur fragmentarisch realisierte Serie über vordergründig politikferne Themen sollte dieses kulturalistische Konzept vermitteln. So bemühte sich Wucher um einen Autor, „der die historisch geographische Entwicklung des Waldes und der Waldwirtschaft zwischen Rhein, Rhone und Scheldte [sic]“ unter Berücksichtigung der „volkskundlichen Merkmale der Waldentwicklung“ in einer Weise darstellen könne, „dass die sozusagen politischen Schlussfolgerungen [...] nicht ausgesprochen“ werden, sondern „dem Leser als Eigenleistung überlassen bleiben.“74 Mit gleicher Stoßrichtung bereitete er Beiträge über völkische Moti71 Vgl. Wucher an Hermann Nottarp, 15. Mai 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25d, n.p. 72 Vgl. Wucher an Frl. Hechtle, 31. März 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25-b, n.p. – Wucher vermerkte hierzu: „Die Schriftenfolge ‚Westland‘ erscheint auf Grund einer sorgfältigen Planung des Inhalts, und zwar sowohl für das einzelne Heft als auch auf lange Sicht, da es darauf ankommt, ein wohl überlegtes Bild der hier in Frage kommenden Probleme zu geben.“ Wucher an Hans-Georg Fernis, 11. August 1943, NIOD, Sammlung 174b, U25-b, n.p. 73 Scharp, Heinrich: „Westland“, in: Volk und Reich 19 (1943), S. 368f, hier: 368. 74 Wucher an Curt Franke, 15. März 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25-b, n.p. – Der geplante Beitrag „Der Wald im Westraum“ kam nicht zustande.
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ve im modernen niederländisch-flämischen Roman,75 in der niederländischen Rechtsgeschichte,76 im mystischen Denken77 und im Bereich der Landschaftsgestaltung und des Naturschutzes78 vor. Ein geplanter Beitrag über Windmühlen sollte den niederländischen Anteil an der Ostkolonisation unterstreichen,79 und eine Artikelfolge „über die Weichsel als Strom des germanischen Ostens“, über „die Rheinschiffahrt und die Wirtschaft Nordwesteuropas“ und über „den niederländischen Wasserbau“ sollte dem Leser „die Aufgaben ins Bewusstsein […] rufen, die den germanischen Stämmen heute im Osten gestellt sind“.80 In die gleiche Richtung zielte ein (ebenfalls nicht mehr erschienener) Text über bevölkerungspolitische und raumplanerische Gesichtspunkte der Stadt-Land-Problematik in den Niederlanden.81 Der auf solche Weise kulturalistisch fundierte und mit der Ostexpansion verknüpfte ‚Westraum‘-Begriff bezeichnete ab 1940 auch eine Formation niederländischer und flämischer Freiwilliger der Waffen-SS. Die SS-Standarte Westland war im Juni 1940 nach dem Vorbild der dänisch-norwegischen Standarte Nordland gebildet worden.82 Himmler verfolgte damit das Ziel, die Freiwilligen aus den besetzten Ländern „zu bewußten Germanen und überzeugten Trägern der nationalsozialistischen Weltanschauung und der germanischen Reichsidee zu erziehen.“83 Die Standarte, der ab 1941 auch eine estnische Einheit angehörte, war im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eingesetzt, wo sie vom südlichen Frontabschnitt zunächst in den Kaukasus vorstieß, im Zuge der sowjetischen Erfolge bei Stalingrad jedoch zum Rückzug gezwungen werden konnte.84 Im ersten Heft der Zeitschrift nahmen Kampfschilderungen der Standarte breiten Raum ein.85 Das zum besetzten Gebiet gewordene Raumkonstrukt gewann damit eine weitere Dimension: es war nicht nur mit dem Medium, das es in Szene setzte, son75 Wucher an Frl. Hechtle, 31. März 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25-b, n.p. – Die Kölner Niederlandistin Martha Hechtle ließ die Anfrage trotz mehrfacher Nachfrage unbeantwortet. 76 Wucher an Ernst von Hippel, 15. Mai 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25-b, n.p. 77 Wucher an Hermann Nottarp, 15. Mai 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25-d, n.p. 78 Wucher an W. N. Lindeman, 3. August 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25-c, n.p. 79 Gaukonservator für Danzig-Westpreußen an Wucher, 17. April 1944, NIOD, Sammlung 174b, U 25-b, n.p. 80 Wucher an Generalarbeitsführer Kampmann, Berlin, 13. Oktober 1943, NIOD, Sammlung 174b, U25-c, n.p. 81 Wucher an Lohuis, Geographisches Institut der Universität Utrecht, 17. August 1943, NIOD, Sammlung 174b, U25-c. 82 Seit dem 1. Dezember 1940 bildete sie mit der Standarte Nordland, der überwiegend deutschen Standarte Germania und einigen kleineren Einheiten die SSDivision Germania, deren Name, um Verwechslungen mit der gleichnamigen Standarte zu vermeiden, kurz darauf in Wiking abgeändert wurde. Vgl. In’t Veld, SS en Nederland, S. 327. 83 Zit. n. ebd., S. 311. 84 Vgl. ebd., S. 330. 85 Heutsz, Johan Bastiaan van: Vom Osteinsatz der Germanischen SSNiederlande. Hölle und Heldentum in Linksdnjepropetrowsk, in: Westland 1 (1943), S. 50-53 (im Folgenden zitiert als: Heutsz, Osteinsatz der Germanischen SS Niederlande).
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dern zugleich mit der militärischen Formation, die sich aus ihm rekrutierte, zu einem semantisch-symbolischen Komplex verschmolzen; Raum, Medium und Freiwillige repräsentierten jeweils auf ihre Weise den ‚Westraum‘, verorteten ihn in der großgermanischen Europaideologie der SS und setzten ihn zu seinem östlichen Komplementärraum in Beziehung. Diese mehrfache Symbolisierung und Ideologisierung ist zentral, wollen wir die neue Semantik des Verbindenden in ihrer Funktion für die nationalsozialistische Raumund Bevölkerungspolitik verstehen. Neben der Zeitschrift Westland realisierte der Amsterdamer Verlag bis Kriegsende einen Teil seines geplanten Buchprogramms. Neben einer Sammlung der Reden Seyß-Inquarts86 plante Wucher 1944 eine Reihe kleinerer Monographien über die „Landschaften“ des ‚Westraumes‘. Nach dem Erfolg der beiden ersten, von den regionalen Volkstumsaktivisten Friedrich Spieser und Werner Wirths, dem früheren Pressereferenten des Schutzbundes, verfassten Bändchen über das Elsass87 und Luxemburg88 waren weitere „Landschaftsbilder“ über das „Maasland“ (Walter Tuckermann), Burgund (HansPeter Danielcik) und die Wallonie (Guilleaume Samsoen de Gérard) in Vorbereitung.89 Ebenfalls geplant, aber nicht mehr realisiert wurden zwei Bände über das Verhältnis der Niederlande zu England bzw. den Vereinigten Staaten90 und sechs weitere Niederlande-Bücher.91 Hinzu kam ein „WestlandLesebuch“,92 dessen Herausgeber August Friedrich Velmede nach Kriegs-
86 Seyß-Inquart, Arthur: Vier Jahre in den Niederlanden. Gesammelte Reden, Berlin/Amsterdam 1944. 87 Spieser, Friedrich: Das Elsass: schönes deutsches Land am Oberrhein. Mit einem Geleitwort von Robert Ernst hrsg. v. Deutschen Ausland-Institut Stuttgart, Amsterdam u.a. 1943. – Vgl. Verlagsvertrag zwischen Volk und Reich Amsterdam und Friedrich Spieser vom 6. Mai 1942, NIOD, Sammlung 174b, U 25-f, n.p. 88 Wirths, Werner: Luxemburg. Mit einem Geleitwort von Gustav Simon, Berlin 1941. – Vgl. Verlagsvertrag zwischen Volk und Reich Amsterdam und Werner Wirths v. 23.10.1940, NIOD, Sammlung 174b, U 25-f, n.p. 89 Vgl. die Verlagsverträge mit den Autoren v. 4. Juni 1944, 3. Juli 1944 u. 12. August 1944, NIOD, Sammlung 174b, U 25-f, n.p.; Verlagenlist (Durchschrift) v. 8. August 1944, NIOD, Sammlung 174b, U 25-a, n.p. 90 Geplant waren die Bände „England und die Niederlande“ von F. W. Schoberth und „Deutschland, England und Amerika“ von Rudolf Steinmetz. Vgl. Verlagsverträge v. 5. Februar 1943 u. 21. Juni 1943, NIOD, Sammlung 174b, U 25-f, n.p. 91 Geplant waren: „Mein Holland“ von Jac. van Essen, „Das niederländische Volksgesicht“ von P. E. Keuchenius, „Niederländisches Schiffbuch“ von Jac. Roelfs, „Hansische Gestaltungskräfte der niederen Lande“ von Hans Muchow, der Sammelband „Von Brügge nach Danzig. Erzählungen aus den niederen Landen“ von Georg Hüllen (Hrsg.) sowie ein von Friedrich Plutzar bearbeitetes „Niederländisches Jahrbuch“. Vgl. die Verlagsverträge v. 24. Oktober 1941, 11. August 1943, 16. August (?) 1943, 21. Dezember 1943 (?) u. 22. März 1944. Der Vertrag mit Hans Muchow ist undatiert. NIOD, Sammlung 174b, U 25-f, n.p. 92 Verlagsvertrag zwischen Volk und Reich Amsterdam und A. F. Velmede, 22. Januar 1944, NIOD, Sammlung 174b, U 25-f, n.p.
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ende das Thema der deutschen Wiedergeburt in einem „unvergänglichen Abendland“ entdecken sollte.93 Überblicken wir die westpolitische Publizistik des Volk und Reich-Verlages während der Kriegszeit, so lassen sich mehrere aufeinander aufbauende Diskursstränge identifizieren. Der erste ist traditionell: er legitimierte die territoriale Verkleinerung Frankreichs und verband sie mit dem Verweis auf die demographische Schwäche des unterlegenen Gegners. Auf dieser Grundlage wurden ein Neuarrangement der Regionen des Westraumes und eine antienglische Umcodierung des Raumkonstrukts möglich, die das Motiv der deutschen Festung gegen Frankreich ersetzten. In den Vordergrund trat schließlich eine Semantik angeblicher Entspannung, die den ‚Westraum‘ als Modell eines geo- und biopolitisch neu geordneten Europa jenseits des deutsch-französischen Antagonismus imaginierte und kulturelle Übergangsräume germanischer und romanischer Kultur in den Blick rückte, und die dennoch untrennbar mit dem Vernichtungskrieg verbunden war, weil sie die Bevölkerung des ‚Westraumes‘ als Siedler- und Freiwilligenreserve für den Osten begriff: die transformierte Westgrenze blieb damit ein Kampfraum, allerdings fand der Kampf nicht mehr in ihr und um sie statt, sondern im Osten.
D i e V e r k l e i n e r u n g F r a n k r e i c hs In seiner Studie Der Grenzraum zwischen West- und Mitteleuropa, dem ersten Heft der Reihe Zur Wirtschaftsgeographie des deutschen Westens und der einzigen ‚Westraum‘-Monographie des Volk und Reich-Verlages vor 1940, hatte Walter Geisler 1937 eine Grundlegung des ‚Westraum‘-Konzepts versucht. Die Untersuchung, der ein Teil des Kartenmaterials für den Sammelband Deutschland und der Westraum entstammt, war zugleich der erste überregional relevante Beitrag der TH Aachen zur Westforschung. Sie lag auf der politischen Linie des Ispert-Kreises, und Isperts Aachener ‚Abschnittsleiter’ Scherdin war als Assistent Geislers nicht nur an dessen Forschungen beteiligt, sondern vor allem für ihre grenzlandpolitische Anwendung und Popularisierung verantwortlich.94 Geisler stellte zunächst ein wissenschaftliches Verfahren vor, das eine Zuordnung aller Teilregionen des ‚Westraumes‘ zum germanischen Mitteloder zum romanischen Westeuropa erlaubte und das – hierauf kam es ihm vor allem an – eine Zone übrig ließ, in der diese Zuordnung nicht eindeutig erfolgen könne. Dieses Verfahren beruhte auf Johann Sölchs Begriff der Choren95 und der daraus abgeleiteten Kategorie der Strukturgrenzen, die Geisler in Kiesels Petershüttly bereits implizit angewandt sah. Das Hauptproblem stellte aus seiner Sicht die Gewichtung der einzelnen Choren oder Strukturelemente dar, da eine falsche Gewichtung zu folgeschweren „Fehlurteilen“ bei der Abgrenzung der Räume führen könne. Die Lösung erblickte 93 Velmede, August Friedrich (Hrsg.): Unvergängliches Abendland. Ein Hausbuch europäischer Dichtung, 2. Aufl., Gütersloh 1952. – Der Band enthält keine Bezüge auf den Westraum-Diskurs bzw. die einschlägigen Autoren. 94 Vgl. Müller, „Ausgangsstellung“, S. 832-839. 95 Vgl. Sölch, Johann: Die Auffassung der natürlichen Grenzen in der wissenschaftlichen Geographie, Innsbruck 1924.
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er darin, solche Strukturgrenzen am stärksten zu gewichten, die „sich decken und sich gegenseitig in ihrer Bedeutung steigern“. Dies gelte umso mehr, „wenn es sich um Choren verschiedener Art handelt.“ Ausschlaggebend für die Bestimmung des ‚Westraumes‘ sollte daher sein, dass „je eine physiogeographische, kulturmorphologische und anthropogeographische Grenze zusammentreffen, wenn also beispielsweise ein Hochgebirge dünn besiedelt ist und zwei Völker voneinander trennt.“96 Geisler konzentrierte sich vor allem auf die sechs Strukturgrenzen „Wasserscheide“, „Morphologie“, „Rasse“, „Sprache“, „Kulturlandschaft“ und „Landschaft“; hinzu kam, sozusagen als siebte Strukturgrenze, die Reichsgrenze des Jahres 925. Seine zentrale Frage lautete, welche dieser Strukturelemente die Kulturlandschaft jenseits der Sprachgrenze noch heute als mitteleuropäisch und damit deutsch auswiesen. Dabei unterstellte er, dass die Landschaft Ausdruck des „rassischen Wertes“97 der Bevölkerung sei. Unter Berufung auf den Rassenforscher Egon Freiherr von Eickstedt98 und einige französische Anthropologen des 19. Jahrhunderts99 postulierte er nun zunächst eine Verbreitung der „nordischen Rasse“ bis zur Seine und Loire und folgerte, dass neben den Niederlanden und Belgien auch „ganz Nordfrankreich rassisch mit dem Rheingebiet“ übereinstimme.100 Geisler konstruierte auf diese Weise einen „deutschen Charakter“ weiter Teile Westeuropas,101 der im Laufe der Geschichte teils verschwunden sei, sich teils jedoch noch in den kulturlandschaftlichen Strukturmerkmalen bewahrt habe. In diesen Deutungsrahmen ordnete er nun die Forschungen Franz Petris über das „germanische Volkserbe“ in der Wallonie und Nordfrankreich ein und kam zu dem Ergebnis, dass das gesamte Einzugsgebiet von Rhein und Maas unabhängig vom Verlauf der Sprachgrenze „kein Vorfeld [...], sondern ein wichtiges Kernstück der deutschen Kulturlandschaft“102 mit Aachen als historischem Zentrum103 sei. Als planungsinteressierter Wirtschaftsgeograph beließ er es jedoch nicht bei der Bewertung rassen- und volkskundlicher Befunde, sondern bezog die modernen Wirtschaftsräume, den industriellen Strukturwandel und die damit verbundene Neuzusammensetzung der Bevölkerung in die Untersuchung ein, wobei er auch die industrielle Kulturlandschaft als Indikator rassischer Wertigkeit und völkischer Zugehörigkeit verstand. Auch auf diesem Wege kam er zu dem Schluss, dass die westdeutschen, belgischen, niederländischen und nordostfranzösischen Industriegebiete eine homogene mitteleuropäisch-germanische Kulturlandschaft seien.104 Im Gegenzug unterstellte Geisler Frankreich, „erst durch seine Eroberungen Anteil an den 96 97 98 99
100 101 102 103 104
Geisler, Grenzraum, S. 13. Vgl. ebd., S. 59ff. Vgl. ebd., S. 48. Geisler bezieht sich insbesondere auf: Eickstedt, Egon Freiherr von: Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit, Stuttgart 1934. Geisler nennt insbesondere: Brocka, Paul: Sur l’ethnologie de la France, Paris 1860; ders.: Nouvelles recherches sur l’anthropologie de la France en général, et de la Basse Bretagne en particulier, Paris 1868, S. 147-209; Deniker, J.: Les races de l’Europe, 2 Bde., Paris 1898/99; Topinard, P.: Eléments d’Anthropologie générale, Paris 1885. Geisler, Grenzraum, S. 45. Ebd., S. 51. Ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 71f. Vgl. ebd., S. 83-88.
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Bodenschätzen des Rheingebietes“ erhalten, unabhängig davon jedoch keine gleichwertigen Wirtschaftsräume hervorgebracht zu haben. Die politischen Grenzen der Gegenwart seien daher insgesamt als „strukturwidrig“ zu betrachten.105 Die ‚tatsächliche‘ Westgrenze war also vollständig von den realen Grenzen entkoppelt. Sie stellte vielmehr ein Bündel mehr oder weniger konvergierender „Strukturgrenzen“ dar.106 Der von ihnen begrenzte und durchzogene Streifen war, so Geisler, nichts anderes als „west-mitteleuropäische Grenzraum“ oder kurz der ‚Westraum‘: Ein Streifen von etwa 50 bis 150 km Breite, der sich von der Kanalküste bis zur Schweiz über frankophones Gebiet erstreckte (Abb. 13).107 Die Westgrenze des ‚Westraumes‘ war damit nicht durch ein einzelnes Merkmal bestimmbar, sondern ergab sich abschnittsweise aus unterschiedlichen Strukturen. So verlief sie zunächst als „Kulturlandschaftsgrenze“ von der Kanalküste nordwestlich der Somme bis Sedan, wo sie mit den Strukturgrenzen „Morphologie“ und „Wasserscheide“ zusammentraf; im mittleren Abschnitt war der ‚Westraum‘ hingegen von der Wasserscheide begrenzt, und im Süden schließlich markierte die Morphologie dessen Westrand und bezog den Oberlauf von Rhône und Doubs ein. Geisler betrachtete den so begrenzten Raum nicht als stabil, sondern sprach von einer „Dissonanz“, die sich aus der fehlenden Konvergenz von „Physiochoren“ (Wasserscheide, Morphologie) und „Kulturchoren“ (Sprache, Kulturlandschaft) ergäbe und daher „nicht überbrückt“ werden könne.108 Die Divergenz der Strukturgrenzen erzeuge vielmehr „eine dauernde Bewegung“ und „Dynamik“, die erst beendet sein werde, wenn „ein Ausgleich zwischen allen Strukturelementen“109 eingetreten sei: „Geopolitisches Gleichgewicht ist dann erreicht, wenn der natürliche Raum, der einem Volke als Lebens- und Wirtschaftsraum gegeben ist, mit dem Kulturraum, der als Leistung dieses Volkes anzusehen ist, in seiner Ausdehnung übereinstimmt, und wenn dieses Gebiet von der politischen Grenze dieses zu einer Nation zusammengefassten Volkes umschlossen wird.“110
Geisler lieferte damit nicht nur eine Legitimation für eine neue deutsche Westgrenze, sondern legitimierte gleichsam im Nebensatz auch die Germanisierung der frankophonen Gebiete. Auf der Grundlage dieser Forschungen knüpfte Geisler an ein Projekt seines Aachener Vorgängers Hermann Overbeck an. Dieser hatte in Zusammenarbeit mit Scherdin mit Vorarbeiten für einen Atlas des Aachener Grenzraumes nach dem Vorbild des mit großem Erfolg publizierten Saar-Atlas111 begonnen.
105 106 107 108 109 110 111
Ebd., S. 58. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 59ff. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd. Overbeck, Hermann/Sante, Georg Wilhelm (Hrsg.): Saar-Atlas, Gotha 1934.
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Abb. 13: Der „west-mitteleuropäische Grenzsaum“ nach Walter Geisler, (Geisler, Walter: Der Grenzraum zwischen West- und Mitteleuropa, Berlin 1937, S. 102)
Allerdings weitete Geisler das Vorhaben bis 1940, wiederum in Abstimmung mit Scherdin, Ispert und Haake, zu einem Atlas des westlichen Grenzraumes oder kurz Westraum-Atlas aus.112 Die Karten waren, wie Geisler nach Kriegsbeginn anmerkte, „für den Dienstgebrauch von Behörden und Parteistellen“ vorgesehen, denen sie als Grundlage für alle grenzpolitischen Fra112
Vgl. Müller, „Ausgangsstellung“, S. 832-839.
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gen“ dienen sollten.113 Sie sollten aufzeigen, „wie weit die Strukturelemente der mitteleuropäischen Landschaft nach Westen reichen“, wo sie sich „mit westeuropäischen Strukturelementen mischen“ und wie aus der Gesamtschau der „Strukturelemente“ eine optimale „außen- und innenpolitische Grenzziehung“ abgeleitet werden könne.114 Über Geislers Vorhaben einer kartographischen Erfassung des ‚Westraums‘ gibt eine Liste von rund 220 „Strukturkarten über die westlichen Nachbarstaaten“ Auskunft, die er im zeitlichen Umfeld des Überfalls an die Außenstelle West des VDA sandte.115 Sie war nach den Themen „Lage und Geophysik“, „Morphologie“, „Klima“, „Pflanzen-“ und „Tiergeographie“, „Physische Anthropogeographie“, „Kulturgeographie“, „Politische Geographie“, „Siedlungsgeographie“, „Verkehrsgeographie“, „Wirtschaftsgeographie“ und „Geschichtlicher Werdegang“ gegliedert, wobei knapp die Hälfte der Karten auf die Wirtschafts- und Verkehrsgeographie entfiel. Das Spektrum dieser Karten reichte von der Verteilung, Produktivität und Mechanisierung der Landwirtschaft über die Verbreitung der einzelnen Industriezweige und die Nutzung der Verkehrsnetze bis hin zu außenwirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Daten. In den übrigen Themengruppen überwogen Karten mit bevölkerungs- oder kulturwissenschaftlichem Bezug, so etwa zu den Themen „Natürliche Tragfähigkeit und Überbesiedlung“, „Auslands-Volkstum“, „Völker und Stämme“, „Sprachen und Mundarten“, „Kulturformen (romanisch-germanisch)“, „Siedlungstypen“, „Volkscharakter“ und „Rassenverteilung (Karten über Schädelindex, Gesichtsindex, Körpergrösse, Komplexion, Haarform, Konstitution, Rassetypen)“. Als Abschluss des Gesamtwerks schlug Geisler vier „Synthetische Karten“ vor, in denen „heutige Kulturlandschaftsformen“, „Großräume und Untergliederungen“, „natürliche und künstliche Grenzen zwischen Mittelund Westeuropa“ sowie „geopolitische Entwicklungstendenzen“ dargestellt werden sollten.116 Geisler reduzierte den Umfang des Projekts im Verlauf des Krieges jedoch erheblich. Im Januar 1942 plante er offenbar nur noch 56 thematische Karten und eine „Übersichtskarte der natürlichen Einheiten des Raumes“, tatsächlich fertiggestellt aber waren zu diesem Zeitpunkt lediglich acht.117 Fast zwei Jahre nach dem Überfall war der Westraum-Atlas also kaum mehr als ein Torso, und er blieb es bis Kriegsende. In den Volk und Reich-Heften des Jahres 1940 und im Sammelband Deutschland und der Westraum lieferten die Westforscher Hans Schrepfer, Martin Spahn und Rudolf Craemer weitere Grundsatztexte zur Definition des
113 114 115
116 117
Antrag auf Bewilligung eines Zuschusses, gez. Walter Geisler, 29. Juni 1940 (Abschrift), HStAD, Reg. Aachen 16977, n.p. Ebd. Einem Aktenvermerk der Außenstelle West des VDA vom 30. Mai 1940 zufolge hatte Geisler die Kartenübersicht „vor einigen Wochen“, also im unmittelbaren Kontext des 10. Mai, eingereicht und zudem einen monatlichen Zuschuss für eine Zeichenkraft beantragt (Aktennotiz Zilliken, 30. Mai 1940, ALVR VDA 4585, n.p.). Strukturkarten über die westlichen Nachbarstaaten, gez. Geisler, o.D. [ca. Mai 1940], ALVR VDA 4585. Geisler an Regierungspräsident Aachen, betr. Zuschuss zu den Kosten für die Herausgabe des grenzpolitischen Atlaswerks über den Westraum, 7. Januar 1942, HStAD, Reg. Aachen, 16977, n.p.
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‚Westraumes“. Schrepfer, der in Würzburg Geographie lehrte,118 vertrat eine von Riehl und Ratzel inspirierte Länderkunde unter Einschluss der Rassenforschung. Seit Mitte der 1930er Jahre hatte er sich mit verschiedenen Regionen des ‚Westraumes‘ beschäftigt und zusammenfassende Veröffentlichungen über den „Nordwesten“ und „Südwesten“ vorgelegt.119 Bemerkenswert ist ein Aufsatz über das nordfranzösisch-belgische Grenzgebiet aus dem Jahre 1940, in dem er Flandern, Artois und Hennegau als Spiegelbild Europas vorstellte. „Das Land zwischen Nordsee und Ardennenrand“, so argumentierte er, sei „kein geographisches Individuum“, sondern ein „Korridor mit offenen unverschließbaren Türen“, der den Wünschen der Flämischen Bewegung zum Trotz keine Eigenstaatlichkeit beanspruchen könne. Das „derzeitige nordfranzösisch-belgische Grenzgebiet“ sei vielmehr „immer [...] ein Brennpunkt Europas“ und „Spiegelbild der abendländischen Geschichte“ gewesen, gleich ob man es – hier übertrug Schrepfer Riehls politische Geometrie des Elsass auf den „Nordwesten“ – „als Kriegsland, als politischen Raum, als Zwischenland der Völker und Kulturen oder als Verkehrsland“ betrachte.120 In Volk und Reich und Deutschland und der Westraum nun leitete er sowohl „Mitteleuropa“, als auch seine westlichen und östlichen „Grenzräume“ aus Stromgebieten ab. Setze sich das „Herzland Mitteleuropas“ aus den „Stromgebiete[n] von Rhein, Ems, Weser, Elbe und Oder“ zusammen, so bildeten „das Warthe- und Weichselland“ im Osten und „das Schelde- und Maasgebiet“ sowie „das Land an der oberen Saône“ im Westen seine Grenzen. „West-“ und „Ostraum“ waren hier unmittelbar aufeinander bezogen: einander entsprechend, „umgürten sie den Zentralraum des Kontinents und verbinden sich mit ihm zu einer geographischen und historischen Einheit höherer Ordnung.“121 Im Gegensatz zur geopolitischen und jungkonservativen Vorstellung einer Einheit von Rhein, Maas und Schelde unterschied Schrepfer also zwischen dem Rhein, den er dem Zentrum, und Maas und Schelde, die er der Grenze Mitteleuropas zuordnete und um die burgundische 118
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Hans Schrepfer, seit dem 1. April 1933 Mitglied der NSDAP, wurde im Herbst 1940 außerdem Kreisverbandsleiter des VDA in Würzburg. Vgl. VDA-Gauverband Mainfranken an Reichsorganisationsleitung Würzburg, 16.10. 1940; Gutachten d. NSDAP-Ortsgruppe Würzburg-Ost, 23.4.1940, BDC, ehem. BDC, PK Schrepfer, Hans 21-5-1897. Schrepfer, Hans: Der Nordwesten (Landeskunde von Deutschland, Bd. 1), Leipzig 1935; ders.: Der Südwesten, in: Handbuch der Geographischen Wissenschaft, Bd. 2: Das Deutsche Reich in Natur, Kultur und Wirtschaft, Potsdam 1941, S. 521-616. Nähere Angaben über Schrepfers akademischen Werdegang und seinen landeskundlichen Ansatz finden sich in: Otremba, Erich: Hans Schrepfer 1897-1935, in: Schrepfer, Hans: Allgemeine Geographie und Länderkunde. Ausgewählte Arbeiten zum Gedenken seines 70. Geburtstages am 21. Mai 1967, in Verbindung mit Erich Otremba hrsg. v. Hermann Overbeck, Wiesbaden 1967, S. XIII-XVIII; Overbeck, Hermann: Der Standort von Hans Schrepfer in der Wissenschaftsgeschichte der deutschen Geographie, in: ebd., S. XIX-XXXII. Schrepfer, Hans: Das nordfranzösisch-belgische Grenzgebiet – ein Schicksalsraum in dynamischer Betrachtung, in: Zeitschrift für Erdkunde 8 (1940), S. 537-561, hier: 560f. Ders.: Der deutsche Westraum und seine Landschaften, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 661-670, hier: 661 (im Folgenden zitiert als: Schrepfer, Westraum); nachgedruckt mit gleichem Titel in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 13-22.
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Saône erweiterte. Schrepfers ‚Westraum‘ hatte sich also nicht nur vollständig von der Westgrenze, sondern darüber hinaus auch vom Rhein gelöst und den mittelalterlichen Grenzen mit ihrer „Bergfeste“ im Südwesten und ihrer „Wasserburg“ im Nordwesten122 angenähert. Doch war dies nicht die einzige Herleitung des ‚Westraumes‘. Schrepfers geographisches Konzept bildete vielmehr die Grundlage zweier historiographischer Beiträge Martin Spahns und Rudolf Craemers, die einen doppelten Mythos konstruierten: den Mythos einer Ureinheit und Urordnung des ‚Westraumes‘, die es wiederherzustellen gelte, und den Mythos einer kontinuierlichen geistesgeschichtlichen Tradition der deutschen Bildungseliten, die auf genau diese Wiederherstellung ziele. Dieser geistesgeschichtliche Mythos war das Thema Craemers. Am Anfang der Traditionslinie stand für ihn Karl der Große, am Ende Adolf Hitler.123 Den Zeitraum zwischen diesen beiden Figuren beschrieb er als Übernahme der ursprünglich von den römisch-deutschen Kaisern wahrgenommenen „Grenzwacht“ im Westen durch die entstehende deutsche Bildungselite. Ausgehend von Jakob Wimpfelings Germania (1501)124 und Hermann Conrings De finibus Imperii Germanici (1654)125 habe sich ein Bewusstsein darüber entwickelt, dass die französischen Gebietserwerbungen im Westen unrechtmäßig seien und ein deutscher Anspruch auf die verlorenen Gebiete fortbestünde.126 In einer 1670 für den kurmainzischen Hof verfassten Denkschrift habe Leibniz die Frage der Westgrenze erstmals mit einem „reichspolitisch[en] Raumgedanken“ verknüpft und damit den Weg zu einem politischen statt rechtlichen Grenzbegriff gewiesen.127 Craemer zog damit eine Linie vom Humanismus über die Aufklärung hin zu Goethe, dessen Straßburger Begegnung mit Herder er zu einem geschichtlichen Ereignis ersten Ranges verklärte, nahm der Dichterfürst von diesem doch „das geistige Erlebnis des Volkstums an“ und erkor das Straßburger Münster zum „Wahrzeichen für das Volkstum im Grenzraum und für das Deutschtum in seiner Gesamtheit“.128 Neben Goethe stellte Craemer den Mainzer Jakobiner Georg Forster, dessen „Reisebeschreibung vom Niederrhein“ ebenso wie Goethes „Straßburger Bekenntnis“ zu einer „neue[n] volkhafte[n] Grenzbewegung“ übergeleitet habe.129 Diese völkische Sicht auf die Westgrenze erkannte Craemer – hier ging seine Darstellung in die Vorgeschichte des ‚Westraum‘Diskurses über – vor allem in den Schriften von Joseph Goerres, Ernst Moritz Arndt, Wolfgang Menzel, Friedrich List, Leopold von Ranke, Richard Boeckh und Heinrich von Treitschke. Hierbei verwies er erstmals auf die irrtümliche Zuschreibung von Menzels Essay Die westliche Grenzfrage an 122 123 124 125
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Ders., Westraum, S. 667. Vgl. Craemer, Westgrenze, S. 215, 254f. Wimpfeling, Jakob: Germania. Responsa et replicae ad Eneam Silviam. Hrsg. v. Adolf Schmidt, Köln 1962. Conring, Hermann: De finibus Imperii Germanici: libro duo quibus jura finium a primo imperii exordio ad haec nostra usque tempora propugnantur. Haec editio adornata est tractatus De Germanorum imperio Romano liber unus com duplici indice uno capitum altero rerum et verborum locupletissimo hactenus a plurimis desideratum. Lugduni 1654. Craemer, Westgrenze, S. 216-220. Ebd., S. 220f. Ebd., S. 224. Ebd., S. 225.
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Moltke. Auch die Kriegsziele der Alldeutschen waren Teil von Craemers Genealogie, doch markierten sie einen Irrweg, da sie „befangen in liberalen Vorstellungen vom Werte der öffentlichen Meinung“ einen „inneren Richtungsstreit um ungeklärte Ziele“ entfacht und „dem Feinde geistige Waffen in die Hand“ gespielt hätten. Das Ende des Ersten Weltkrieges stellte aus dieser Sicht zwar eine Katastrophe dar, doch interpretierte Craemer die ersten Nachkriegsjahre auch als Übergang zu einer ‚kämpfenden Wissenschaft‘. Die Erfahrung des Ruhrkampfes, Hermann Stegemanns Kampf um den Rhein, Martin Spahns Rekurs auf die Fronten und Moeller van den Brucks Deutung der Grenzkämpfe als Übergang in ein ‚Drittes Reich‘ kulminierten retrospektiv in genau jener Parole der „Vernichtung Frankreichs“, die Hitler in Mein Kampf propagierte.131 Spahn hingegen entwickelte sein jungkonservatives Mitteleuropakonzept nun zu einem politisch-geographischen Ursprungsmythos des ‚Westraumes‘ weiter. Im ‚Westraum‘ war für ihn das frühmittelalterliche Austrasien mit seiner Hauptstadt Metz und seiner Ausdehnung vom Mündungsgebiet des Rheins über Maas und Mosel bis zum Oberrhein repräsentiert. Austrasien bildete für ihn zugleich eine Ureinheit von Staat und Stromgebiet. Mit dem Reich Karls des Großen habe der ‚Westraum‘ daher europäische Hegemonie erlangen können, bevor er, vermittelt über das lotharingische Mittelreich, zum Kern des Reiches Heinrichs I. geworden sei.132 Als solcher habe er in ottonischer Zeit eine „Organisierung“ erfahren, die ihn zu einer Grenzmark gegen Frankreich habe werden lassen. Indem Spahn das geopolitische Konzept des zellulär gegliederten ‚Grenzkörpers‘ in das ausgehende 10. Jahrhundert projizierte, beschrieb er die territoriale Gliederung des Reiches durch Otto I. und den Kölner Erzbischof Bruno, seinem jüngeren Bruder, als Modell und Optimum ‚westräumlicher‘ Grenzpolitik schlechthin. Das „aus dem Gebiet um die Rheingabelung, den Niederrhein und die mittlere Maas“ gebildete Herzogtum Niederlothringen erschien in dieser Projektion sowohl als Kern des Reiches, als auch als Herz seines ‚Grenzkörpers‘, der, gedeckt durch die Herzogtümer Oberlothringen und Sachsen, seine stärkste Energie auf den westlichen Grenzfluss, die Schelde, gerichtet habe: „So warfen Otto und Brun [sic] denn einen Damm von Grenzmarken den Fluß entlang auf, in der Mitte die Mark Eenham, drüben im Scheldebogen die Mark Gent, südwärts noch die Mark Valenciennes. Zwischen Valenciennes und Eenham keilte sich der Hennegau ein. [...] Der Damm erhielt seine rückwärtige Sicherung an der Maas durch den Bischofssitz Lüttich. Vor der Mark Valenciennes lag noch das Bistum und die Grafschaft Kammerich. Kammerich wirkte sich daraufhin an der oberen Schelde als Vorwerk des Reiches gegen die Oise und Somme hin aus.“133
Spahns ‚Westraum‘ war in dreifacher Weise als Ureinheit, als Kern und als Grenze des Reiches konzipiert. Folglich war auch sein „Zerfall“ ein dreifacher: neben die territorialen Verluste an Frankreich traten der Verlust der 130 131 132
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Vgl. ebd., S. 225-242, zu Menzel vgl. S. 232. Ebd., S. 244f, 248f. – Vgl. die Referenzstelle in Hitler, Adolf: Mein Kampf, Bd. 2: Die nationalsozialistische Bewegung, 25. Aufl., München 1933, S. 766. Spahn, Martin: Das Reich, der Maas-Mosel-Raum und die Niederlande, in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 155-180, hier: 155 (im Folgenden zitiert als: Spahn, Das Reich, der Maas-Mosel-Raum). Ebd., S. 155f.
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Mittellage und die Auflösung der Grenzorganisation. „Das austrasischottonische Wurzelwerk des Reiches durfte damit“, schrieb Spahn mit Blick auf die Neuzeit, „als ganz und gar ausgerodet und dem deutschen Volke die Grundlage für jede ihm eigentümliche, seinem Volkstum gemäße Staatsbildung als ein für allemal entzogen gelten.“134 Craemer und Spahn entwarfen damit einen geistesgeschichtlichen und politisch-geographischen Rahmen, in den sich die übrigen Beiträge von Volk und Reich einfügten. Ihr gemeinsamer Nenner war die Legitimation einer Verkleinerung Frankreichs. Ausgehend von Schrepfers geographischer Definition, wandte sich Ernst Anrich zunächst der Grenze selbst zu. Im Sinne des Ratzel’schen Repräsentationsmodells begriff er die ursprüngliche westliche Peripherie als „Grenzsaum“ zwischen zwei noch nicht zu Staaten gewordenen Völkern. Dieser Zwischenraum zwischen Deutschen und Franzosen sei – auch hier folgte er Ratzel –, im Zuge einer ungleichzeitigen „Organismuswerdung“ zum Austragungsort von Grenzkämpfen geworden, hinter denen sich unvereinbare Grenzkonzepte verbargen. Einem maßvollen deutschen Bestreben nach „Abrundung“ seiner „völkischen Ordnung“ stellte er einen maßlosen französischen „Drang nach dem Osten“ gegenüber, dem ein ebenso maßloser „Drang nach Umsturz der gesamten politischen Ordnung“ in Europa entspräche.135 Die Unvereinbarkeit der Grenzen lag demnach in ihrer Referenz auf das Biologisch-Völkische einerseits und das Juridisch-Staatliche andererseits. Anrich zog hieraus den Schluss, dass nur Deutschland über die Fähigkeit verfüge, eine legitime Grenze zu bestimmen, Frankreich hingegen „kein Maßstabsystem echter Grenzvorstellung oder Grenznotwendigkeiten“ besitze,136 mithin also unfähig zum boundary making sei. Faktisch legitimierte der boundary maker damit eine Alleinzuständigkeit Deutschlands für die Neubestimmung seiner Grenzen im Westen. Anrich schrieb dies vor dem Hintergrund seiner Initiativen im April und Mai 1940 zur Schaffung eines „wissenschaftlichen Weststabs“ unter dem Dach der Volksdeutschen Mittelstelle, der Materialien für eine erwartete Friedenskonferenz zusammenstellen, anstehende Fragen zur territorialen und völkischen Neuordnung des ‚Westraumes‘ klären und Ad-hoc-Maßnahmen für die eroberten Gebiete vorschlagen sollte.137 Walter Geisler, der an Anrichs Vorhaben zumindest mittelbar beteiligt gewesen war,138 legitimierte die Verkleinerung Frankreichs in Volk und Reich und Deutschland und der Westraum aus wirtschaftsgeographischer Sicht. Im Mittelpunkt seiner Argumentation stand der behauptete Gegensatz zwi134 135
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Ebd., S. 175. Anrich, Ernst: Frankreichs Vormarsch nach Osten, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 379-397, hier: 379ff (im Folgenden zitiert als: Anrich, Frankreichs Vormarsch); nachgedruckt mit gleichem Titel in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 109-122. Ders., Frankreichs Vormarsch, S. 382. Vgl. Erster Entwurf für die Arbeitsrichtung des wissenschaftlichen Weststabs, aufgestellt durch Prof. Anrich, o.D., ALVR 4585, n.p. Ebd. – Im ersten Entwurf seines Arbeitsprogramms benannte Anrich u.a. Geislers Assistenten Scherdin als Mitarbeiter des Weststabs. Geisler und Scherdin wurden außerdem zur Sitzung eines „wissenschaftlichen Arbeitskreises“ in Düsseldorf am 7. Mai eingeladen, der offenbar Anrich zuarbeitete (vgl. Einladungsschreiben v. 3. Mai 1940 an Geisler u. Scherdin, ALVR 4585, n.p.).
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schen einem wirtschaftlich starken ‚Westraum‘ und einem schwachen Frankreich. Dieser Gegensatz war nur konstruierbar, indem Geisler die ostfranzösischen Industriegebiete an der Kanalküste und in Lothringen unter Verweis auf ihre Grenzlage aus der französischen Volkswirtschaft herauslöste und, wie bereits in seiner Studie zum ‚west-mitteleuropäischen Grenzraum‘ von 1937, zum mitteleuropäischen Wirtschaftsraum zählte. Diese Argumentation flankierte er mit einer völkisch-rassistischen Deutung ihrer Prosperität: „Aufschlussreich ist die Feststellung, dass die Hauptindustriegebiete Frankreichs im Norden und Osten liegen. Das sind gerade die Räume, die von dem Bewohner nordischer Rasse bewohnt sind, sei es, daß diese, wie in Elsaß-Lothringen, nach dem Weltkriege an Frankreich kamen und auch nach Sprache und Volkstum keine Franzosen sind, sei es, daß sie wie auch nur teilweise im Norden – nämlich zum mindesten mit Ausnahme der Flamen – schon seit dem Mittelalter der französischen Kultur eingegliedert worden sind.“139
In der Konzentration der Industrie entlang der Grenzen setzten sich aus dieser Sicht sowohl eine germanische Rasse-, als auch eine historische Reichszugehörigkeit wieder durch. Der unterstellte Gegensatz zwischen einem kraftlosen französischen und einem kraftvollen deutschen „Wirtschaftsgeist“ war hier in die Sprache der Rassenideologie übersetzt. Durch die „vorwärtstreibende Dynamik“ und die „Tatkraft der Bewohner“ verwiesen die prosperierenden Industriegebiete sozusagen aus sich selbst heraus auf ihre Zugehörigkeit zu Deutschland, und als Konglomerat solcher prosperierender Regionen wurde der ‚Westraum‘ zum Symbol des deutschen „Wirtschaftsgeistes“ schlechthin. Hierbei verwies Geisler vor allem auf zwei Regionen: den „Nordwesten Mitteleuropas“, wo sich ein auf verschiedene Staaten verteiltes „Gebiet hoher Bevölkerungsdichte [...] vom Ruhrgebiet über das Textilgebiet von Crefeld und München-Gladbach [sic] und das Aachener Revier hinein nach Holland und Belgien und von dort nach Nordfrankreich“ erstrecke, und das Wirtschaftsgebiet entlang des Mittelrheins von Basel bis Frankfurt.140 Auch der wirtschaftliche ‚Westraum‘ verfüge damit über einen „Eckpfeiler“141 im Südwesten und einen zweiten im Nordwesten, deren Potential aufgrund der Grenzziehung jedoch nicht ausgeschöpft werden könne. Die Franzosen hingegen besaßen für Geisler einen Überschuss an Industrie und Ressourcen, den sie mangels völkisch-rassischer Wirtschaftskraft nicht effizient auszubeuten verstünden. Diese Diskrepanz mache eine Neuaufteilung der Wirtschaftsräume erforderlich: Der französischen Wirtschaft solle nur das zustehen, das die Franzosen ohne die germanischen Minderheiten und ohne fremde Arbeitskräfte aus eigener Kraft bewirtschaften könnten. Geisler begründete hier mit ökonomischen Argumenten, was Treitschke, Harmsen und Stuckart auf bevölkerungspolitischer Basis gefolgert hatten. 139
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Geisler, Walter: Die Wirtschaftsräume des mitteleuropäischen Westens, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 709-715, hier: 710 (im Folgenden zitiert als: Geisler, Wirtschaftsräume); nachgedruckt mit gleichem Titel in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 328-336. Geisler erweiterte seine wirtschaftsgeographische hier um eine verkehrsgeographische Flankierung des Westraum-Konzepts; vgl. ders.: Verkehrsrichtungen und Verkehrsbeziehungen, in: ebd., S. 336-352. Ders., Wirtschaftsräume, S. 712. Ebd., S. 714.
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In seinem Beitrag Frankreichs volkliche Schwäche142 griff Loesch diese Linie explizit auf. Auf der Basis der Arbeiten Harmsens und eigener Folgestudien verglich er zunächst demographische Daten Frankreichs, Deutschlands und Italiens, wobei er die nationalsozialistischen Kriterien der Volkszugehörigkeit im Sinne der Nürnberger Rassengesetze auf die französische Gesellschaft übertrug. Auf dieser Basis stellte er fest, dass Frankreich mit „weit größeren völkischen Hypotheken belastet“ sei, als in der „amtlichen französischen Statistik“ erkennbar. Einer der Gründe hierfür sei, dass „in Frankreichs Einwohnerzahl weit mehr Ausländer nichtfranzösischer Volkszugehörigkeit enthalten sind als in den Nachbarstaaten“; Loesch schätzte ihren Anteil auf 3 bis 4 Millionen Ausländer und Staatenlose zuzüglich etwa 1,5 Millionen naturalisierter Ausländer bei einer Gesamteinwohnerzahl von 42 Millionen.143 Einen zweiten Grund für die „biologische Schwäche“ sah Loesch darin, dass auch unter den verbleibenden 90 bis 92 Prozent der Einwohner „mehr Angehörige anderen Volkstums enthalten sind als in den Nachbargroßstaaten“ und die „Einvölkischkeit“ demnach geringer sei als in Deutschland und Italien.144 Loesch ermittelte die Zahl von 3,24 bis 3,34 Millionen Angehörigen nichtfranzösischer „Volksgruppen“ (darunter 1,6 Millionen Deutsche), die nicht assimiliert seien und das Rückgrat einer entstehenden „Nationalitätenbewegung“ bildeten.145 Weiterhin bezifferte er die Zahl der „Rassejuden“, „Zigeuner“, „Asiaten“ und „Afrikaner“, die für ihn allesamt „durch ein europäisches Volk nicht zu assimilieren“ seien und daher keine Franzosen sein könnten: „Man wird“, fasste er zusammen, „daher mit einem weiteren Bestande mindestens 555-660.000 nicht assimilierter Staatsbürger rechnen müssen, so daß in der Gesamtzahl von 38 bis 39 Millionen Staatsbürgern also 3.800.000-4.000.000 Nichtfranzosen enthalten sein dürften.“146 Von den 42 Millionen Einwohnern Frankreichs blieben nach dieser Berechnung nur zwischen 34 und 35,2 Millionen „Volksfranzosen“, also 80,9 bis 83,8 Prozent der Bevölkerung, übrig. Dies entsprach ungefähr den Zahlen, mit denen Stuckart die „Aussiedlung“ von bis zu 7 Millionen Bewohnern der „abzutrennenden“ Gebiete untermauerte. Die Folgerung, dass das Territorium Frankreichs angesichts solcher Zahlen zu groß sei, zog auch Loesch, sprach er doch von einem „Landüberschuss“, der Frankreich belaste.147 Doch beließ Loesch es nicht bei einer solchen Diagnose. Er spitzte sie zu einem Untergangsszenario zu, indem er die „Überalterung“ und den „Totenüber-
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Loesch, Karl C. von: Frankreichs volkliche Schwäche, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 398-410, S. 398 (im Folgenden zitiert als: Loesch, Frankreichs volkliche Schwäche); nachgedruckt mit gleichem Titel in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 265-278. Mangels aktueller Statistiken bezog er sich auf statistische Erfassungen der Ausländer und Naturalisierten bis 1931 sowie auf Meldungen der Zeitschrift Volk und Rasse (Mai 1939) und des Jahrbuchs für Grenz- und Auslandsdeutschtum (1940). Vgl. S. 399ff, 406. Loesch, Frankreichs volkliche Schwäche, S. 389. Ebd., S. 402f. – Hier bezog er sich auf Kleo Pleyer (Die Landschaft im heutigen Frankreich. Stammes- und Volksgruppenbewegungen im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1935) sowie die bretonisch-regionalistische Zeitschrift Peuples et Frontières. Loesch, Frankreichs volkliche Schwäche, S. 405f. Ebd., S. 410.
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schuss“ der „Volksfranzosen“ in Rechnung stellte148 und prognostizierte, dass der begonnene Krieg bei einem zu erwartenden „Bevölkerungsverlust von 3 Millionen“ und einem daraus resultierenden „Geburtenausfall von weiteren 2 Millionen Köpfen“ dazu führen würde, dass die Bevölkerung Frankreichs „von knapp 42 Millionen auf 37 sinken [würde], von denen höchstens 33 Millionen noch Staatsbürger und etwa 29 Millionen dem Volkstum nach Franzosen wären“149 Die Folge wäre ein wirtschaftlicher und militärischer Kollaps, der in einem Verlust der Großmachtstellung münden müsse. Die Volk und Reich-Beiträge des Jahres 1940 lieferten demnach drei eng verknüpfte Legitimationsmodelle für die territoriale Verkleinerung Frankreichs: auf ökonomischem Gebiet legitimierten sie den Entzug seiner grenznah gelegenen Industriezentren, auf bevölkerungspolitischem Gebiet die Beseitigung des „Landüberschusses“ und auf grenzpolitischem die Eliminierung des französischen Grenzkonzepts. Die Vorstellung von Frankreichs gleichzeitiger Schwäche und Maßlosigkeit, die jedem dieser Legitimationsansätze zu Grunde lag, ließ sich, wie der Leipziger Wirtschaftshistoriker und Volkskundler Adolf Helbok vorführte, ohne weiteres zu einem Szenario der Vernichtung radikalisieren. Für ihn zeugte die deutsch-französische Geschichte vom Aufeinderprallen der durch Jugend, Dynamik und Leistung ausgezeichneten „Nordrasse“ auf eine „Zivilisation“, die wegen ihres fehlenden „Rassenbewusstseins“ in ihr „Endstadium“ eingetreten sei. In Frankreich habe sich eine „Entnordung“, ja ein „nordrassischer Vernichtungskrieg“, vollzogen, als deren Konsequenz das französische „Volkstum sterben muß, während das unsere zu neuen, die Welt aufbauenden Taten aufblüht.“150
D a s n e u e A r r an g e m e n t d e r R e g i o n e n und die Semantik des Verbindenden Neben der Verkleinerung Frankreichs war die Binnenstruktur des ‚Westraumes‘ ein zentrales Thema der Volk und Reich-Publizistik. Dabei veränderten sich Auswahl und Zuschnitt der Teilregionen erheblich. Innerdeutsche Regionen interessierten nun nur noch in ihrer Wechselwirkung mit den Regionen des ‚Westraumes‘. Diese Regionen waren – von Süd nach Nord – Burgund, die Schweiz, Elsass-Lothringen, Luxemburg und der Nordwesten. Gegenüber dem additiven, mitunter erst im Medium suggestiver Visualisierungen plausibilisierten Raumkonzept der Grenzlandaktivisten stellte sich der ‚Westraum‘ nun wesentlich homogener oder, wenn man so will, wesentlich ‚organischer‘ dar: Seine Regionen waren nicht mehr gemäß ihrer strategischen Bedeutung hierarchisiert, sondern sollten in einem gleichrangigen Verhältnis zueinander stehen und gemeinsam einen „westliche[n] deutsche[n] Kultur-
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Ebd., S. 407. Ebd., S. 409. Helbok, Adolf: Probleme der deutschen und der französischen Volksgeschichte, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 670-697, hier: 694; nachgedruckt mit gleichem Titel in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 22-32.
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raum“151 bilden. Mit der definitiven Hinzunahme Burgunds war dieser Raum außerdem von der Maas zur Rhône ausgeweitet worden. Auch die Inszenierung der Regionen selbst erfuhr neue Akzente. Jede von ihnen bildete nun die symbolische Mitte eines größeren Raumes, der entweder mit dem Reich identisch war oder in enger Beziehung zu ihm stand. So präsentierte Franz Pauser die Schweiz unter Verweis auf die Quellgebiete der großen europäischen Ströme als den „geographische[n] Mittelpunkt unseres Kontinents“.152 Robert Ernst stellte Elsass-Lothringen als „Herzkammer des deutschen Reiches“ und „urdeutsche[s] Kernland am Oberrhein“ dar,153 während Franz Steinbach und Martin Spahn sowohl von Luxemburg, als auch vom Nordwesten als „Kerngebiet[e]“ des Reiches bzw. Mitteleuropas sprachen.154 In einer anders gelagerten Bedeutung kennzeichnete Karl Mehrmann auch Burgund als „Herzkammer“, doch verortete er diese nicht innerhalb des Reiches, sondern anstelle seiner Grenze: Da in Burgund alle „Verkehrsadern“, historischen Geschehnisse und kulturellen Strömungen zwischen Rhein und Mittelmeer zusammenträfen, habe es dem Reich ebenso als „Vorwerk“ und „Front“ gegen das mittelalterliche Frankreich gedient, wie als „Mittler zwischen der Welt des Mittelmeeres und der Festlandsmitte“.155 Gerade seine Prekarität, die sich in der dreimaligen Eigenstaatlichkeit Burgunds, seiner wechselnden nationalen Zugehörigkeit und nicht zuletzt im Wechsel von Krieg und Frieden ausdrücke, mache es zu einem Kernraum und „Abbild“ der deutschen und zugleich europäischen Geschichte. Das Spiel mit der Begriffstrias Mitte – Kern – Herz musste also nicht unbedingt auf eine Umetikettierung von Grenz- und Binnenland hinauslaufen, um einen aus symbolischen Mitten zusammengesetzten Raumorganismus zu imaginieren. In der Inszenierung der fünf peripherischen Mitten kündigte sich eine veränderte Semantik des ‚Westraumes‘ an, die nicht mehr den Topoi des ‚tausendjährigen Kampfes‘, der ‚herabgefallenen Steine‘, der dreigliederigen Grenzfestung oder der in der Grenze fortlebenden ‚Westfront‘ folgte. Die Regionen wurden vielmehr im Lichte einer mit dem vorläufigen deutschen Sieg im Westen und der erwarteten Verkleinerung Frankreichs wiederkehrenden ‚Normalität‘ inszeniert, die es mit Blick auf das ‚Neue Europa‘ zu gestalten gelte. Dabei erwies sich auch das Arrangement der fünf Regionen nur als ein Zwischenschritt. Denn in der Zeitschrift Westland verschwammen die Grenzen zwischen den fünf Regionen zusehends. Größeres Gewicht hingegen erhielten Regionskonstrukte, die auf den Stammesbegriff rekurrierten: im Nordwesten ein niedersächsisch-friesisch-niederfränkischer, im Südwesten ein alemannisch151
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Gliederungsüberschrift in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 285. – Darunter zusammengefasst sind die Beiträge: Treue, Wolfgang: Deutscher und französischer Geist, in: ebd., S. 287-293; Lotz, Wilhelm: Germanische Baukunst im Westen, in: ebd., S. 293-299; Wühr, Hans: Die niederländische Malerei, in: ebd., S. 299-309; Nadler, Josef: Dichtung und Geistesleben in der Schweiz, in: ebd., S. 309-318. Pauser, Franz: Die Schweiz, in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 127-138, hier: 127. Ernst, Robert: Elsaß und Lothringen, in: ebd., S. 139-144, hier: 139. Steinbach, Franz: Luxemburg, in: ebd., S. 144-155, hier: 146; Spahn, Das Reich, der Maas-Mosel-Raum, S. 155. Mehrmann, Karl: Burgund, in: Heiß (Hrsg.): Deutschland und der Westraum, S. 123-127, hier: 124f.
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oberfränkischer Raum und, beiden vorgelagert, das Gebiet der „Reichsromanen“ – eine Dreigliederung also, die zwischen dem Nordwesten und dem Südwesten keine offene Flanke, sondern einen verbindenden, vorgelagerten und frankophonen Gebietsstreifen markierte. Städte und Städtenetze, deren Geschichte nun stellvertretend für den ‚Westraum‘ vorgestellt und mit spezifischen Rollenzuweisungen verbunden wurde, repräsentierten die veränderte Semantik in besonderem Maße. In der Zeitschrift Westland charakterisierte Boehm das ‚Westland‘ programmatisch als ein Netz von Städten, die in einer symbiotischen Beziehung zum „wurzelfesten Landvolk“ einerseits und zum „schollenfeste[n] Arbeitertum“ andererseits stünden.156 Die Städte seien durch „zwei historische Städtesysteme“ miteinander verbunden, die „in einem Punkt verkoppelt sind, den wir etwa in Köln suchen dürfen.“ Das ältere dieser beiden Städtesysteme erstrecke sich „in der Ebene des Ober- und Mittelrheins von Basel stromabwärts“; es zeichne sich durch einen römischen oder frühchristlichen Ursprung, ein alemannisch-oberfränkisches ‚Volkstum‘, eine frühe bürgerliche Kultur, eine reichhaltige romanisch-gotische Überlieferung und einen spät einsetzenden „westlichen Kultureinfluß“ aus, dessen Alterität Boehm durch den Hinweis relativierte, dass er „vielfach aus der Campagne, dem westlichen Randstreifen unseres Westraumes, herstammte“.157 Dem südwestlichen stellte er ein „niederdeutsches“ Städtesystem zur Seite, das von den „flämisch-niederfränkischen Städte[n] des Küstengebietes der Nordsee [...] bis Köln landeinwärts griff“ und sich durch Seeschifffahrt und Handel, Backsteingotik und Renaissancebauten, enge Beziehungen zu England und Skandinavien, wirtschaftlichen Erfolg und bürgerlichen Unabhängigkeitssinn auszeichne. Indem Boehm die Hanse als Motor für die Entfaltung dieses Systems ansah, weitete er das Städtenetz „von Gent und Brügge über Bremen, Hamburg, Lübeck, Rostock und Danzig tief in den Osten bis Riga, Reval und Narwa“ aus und inszenierte so eine Verklammerung von ‚West-‘ und ‚Ostraum‘. Auch hier relativierte er den Einfluss des Westens, indem er behauptete, das frühzeitige Streben der niederländischen Städte nach Demokratie sei nicht von außen „eingeführt“ worden, sondern habe sich „aus den eigenständigen Lebensbedingungen dieses westmitteleuropäischen Raumes autochthon entwickelt.“158 Boehm ersetzte damit die Festungsmetapher durch eine Symbolik des Vernetzten und Systemischen, in der nicht Krieg und Kampf, sondern Kultur, Prosperität und Verkehr eine nordwestliche bzw. südwestliche Raumeinheit konstituierten. Dieser Inszenierung der Städtesysteme entsprach eine Inszenierung der Verkehrsnetze, die an Riehls Konzept des ‚Straßenlandes‘ anschloss. Mehr noch als die Städte selbst, verleihe der Verkehr dem ‚Westraum‘ eine doppelte, nämlich „innerreichische und zugleich europäische“ Bedeutung. Er erschien, ähnlich wie in Haushofers Rhein-Werk, als ein „Bindeglied zwischen Nord und Süd“, ja mehr noch: als die wichtigste „Achse“ und „Hauptverkehrsader“ des „Abendlandes“ überhaupt. Der Austausch kultureller und materieller Werte wurde zum eigentlichen verbindenden Element 156
157 158
Boehm, Max Hildebert: Stadt und Land im Westraum, in: Westland 1 (1943/44), S. 10-14, hier: 12 (im Folgenden zitiert als: Boehm, Stadt und Land). Ebd. Ebd.
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der Regionen, Städte und Ströme des ‚Westraums‘. Dies, und nicht mehr der Kampf gegen Frankreich, bedinge seine Überlegenheit gegenüber Westeuropa und lasse ihn zum Modell eines ‚Neuen Europa‘ werden: „Basel, Straßburg und Köln, die wichtigsten Orte des zuerst erwähnten Städtesystems, lagen auf dem Weg von Venedig und Mailand nach Gent und Brügge. Durch das östliche Burgund und das Elsaß rheinabwärts, aber auch von Lyon durch Innerburgund und dann maas- und moselabwärts verliefen mehrere parallele und stellenweise (zum Beispiel im besonders verkehrswichtigen Metz) miteinander verknotete Stränge eines Nordsüdverkehrs, der die Grundbedingungen für die Entfaltung des Westraumes gerade als blühende Städtelandschaft, als wichtigstes Bindeglied zwischen Nord und Süd wurden. Denn die oberitalienischen, die südwestdeutschen und die nordwest- und niederdeutschen Städte hingen durch diesen westlichen Randkorridor Mitteleuropas miteinander zusammen. [...] Die größere Aufnahmebereitschaft des Bürgertums für die kulturellen und materiellen Werte, die auf dieser Völkerstraße befördert wurden, hat den Städten dieses Raumes dann in der Tat einen Entwicklungsvorsprung vor den weiter östlich, zum Teil aber auch weiter westlich gelegenen Städten gegeben.“159
Insgesamt neun Städte wurden in Westland innerhalb dieses Deutungsrahmens portraitiert. Der Geograph Walther Tuckermann stellte Köln, den Schnittpunkt der beiden Städtesysteme, als frühere Hauptstadt des Nordwestens vor und verglich ihre Stellung mit der Straßburgs am Oberrhein, bevor er auf die europäische Geltung der Rheinmetropole in der Moderne verwies.160 Boehm selbst beschwor den früheren Reichtum von Metz, verwies auf seine Rolle als „Vormauer und [...] Auslug des Reiches in den Westraum“ und rechtfertigte die „Bereinigung der Bevölkerungsverhältnisse“ durch die Besatzer.161 Robert Ernst, der inzwischen als Generalreferent beim Chef der Zivilverwaltung im Elsass eingesetzte frühere Leiter des Bundes Deutscher Westen, präsentierte Straßburg als Ausgangspunkt der „deutschen und französischen Volksgeschichte“ und Mittelpunkt einer Neugliederung der „Oberrheinlande“.162 Der Sonderrolle Burgunds gemäß, stellte Hans Peter Danielcik die Stadt Besançon, germanisiert zu „Brisanz“, als einen Ort der Erinnerung an das Reichsromanentum und zugleich der Synthese gallischer, römischer, burgundischer, fränkischer, deutscher, spanischer und französischer Kultur dar, deren harmonische Verbindung der Stadt einen „europäischen Geist“ verleihe.163 Die übrigen, teils von deutschen Westforschern, teils von intellektuellen Kollaborateuren verfassten Städteportraits hoben die Bedeutung von Rotterdam als Welthafen,164 Luxemburg als Symbol einer in
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Ebd. Vgl. Tuckermann, Walther: Köln am Rhein, in: Westland 1 (1943/44), S. 7882. Boehm, Max Hildebert: Metz – Randstadt des Reiches, in: Westland 1 (1943/44), S. 90-95, hier: 95. Ernst, Robert: Straßburgs neue Sendung, in: Westland 1 (1943/44), S. 118120. Danielcik, Hans Peter: Brisanz-Besançon, in: Westland 2 (1944/45), S. 22-25, hier: 22. Vgl. Müller, Ir. Frederik Ernst: Rotterdam – Schicksal und Aufgabe, in: Westland 1 (1943/44), S. 122-117.
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Provinzialität gemündeten Sonderentwicklung,165 Emden als Beispiel einer innerdeutschen Grenzstadt166 und Brüssel als Schauplatz einer subtilen rassischen und sprachlichen Degeneration, aber auch einer beginnenden germanischen Wiedergeburt, hervor.167 Die Semantik des Vernetzten und Systemischen, die in den Städteportraits exemplifiziert wurde, ließ sich leicht auf das Gebiet der Wirtschaft übertragen. Dem Städtesystem des Nordwestens entsprach dann, mit Bruno Kuske gesprochen, eine „nordwestkontinentale Wirtschaftsgemeinschaft“, die die Niederlande, Flandern, Nordostfrankreich und die Wallonie mit der Rheinprovinz und Westfalen verbinde und deren Hinterland die Saar, den Mittel- und Oberrhein, Luxemburg, Lothringen, das Elsass sowie das norddeutsch-niederländische Grenzgebiet umfasse.168 Kuske stellte die „Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes“ als ein Gefüge dreier Wirtschaftsräume vor, die auf der Grundlage ihrer „plastischen Naturgegebenheiten“, ihrer „gemeinsame[n] germanische[n] Arbeitsweise“ und ihrer Tradition von Landfriedensbünden, kommerziellen Einzelverträgen und gegenseitigen Privilegierungen169 zu einem organischen „Gesamtsystem“ verflochten seien. Diese drei Räume waren ein maritimer, durch den flämisch-holländischen Seehandel konstituierter Wirtschaftsraum, der sich auf die Häfen von Rotterdam und Antwerpen sowie die Wasserstraßen zwischen Schelde und IJssel stütze und von seinem deutschen Hinterland abhänge, ein zweiter, von der rheinischwestfälischen Industrie geprägter Raum, der seinerseits von den Seehäfen und der landwirtschaftlichen Erzeugung der Niederlande abhänge, sowie die wallonische Industrie als ein dritter, beide ergänzender „Körper“ der „westländischen“ Wirtschaft.170 In dieser Einbeziehung der Wallonie in die ‚Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes‘ spiegelte sich ein wachsendes Interesse an den ‚Reichsromanen‘. Im Gegensatz zu Stuckarts Plan einer germanischen Neubesiedlung propagierte Westland ihre selektive Integration in einen großgermanischen Reichsverband. Neben Lothringen und Burgund geriet daher die Wallonie als dritte frankophone Region mehr und mehr in den Blick. Den Stoff für diese Neuinszenierung lieferten der inzwischen zum Gastprofessor an die Universität Brüssel berufene Franz Petri und der wallonische Kollaborateur Guillaume Samsoen de Gérard. Petri stützte sich auf seine bekannte Habilitationsschrift Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordostfrankreich, in der er 1937 behauptet hatte, dass die frühere Auffassung vom Abbruch der germanischen Niederlassung an der Sprachgrenze verfehlt sei und die Sprachgrenze im Gegenteil, wie sein akademischer Lehrer Steinbach bereits 1925 dargelegt
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Vgl. Paquet, Alfons: Der Roman des Luxemburger Landes, in: Westland 1 (1943/44), S. 57f. Der Beitrag erschien posthum. Vgl. Hahn, Louis: Emden – Schicksal einer alten deutschen Grenzstadt, in: Westland 1 (1943/44), S. 183. Vgl. Muchow, Hans: Brüssel zwischen Flamen und Wallonen, in: Westland 2 (1944/45), S. 46-49 (im Folgenden zitiert als: Muchow, Brüssel). Vgl. Kuske, Bruno: Die Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes, in: Westland 1 (1943/44), S. 154-158, hier: 154f. Ebd., S. 154. Ebd., S. 158. – Zum Hintergrund vgl. ausführlich Engels, „Wirtschaftsgemeinschaft“, insbes. S. 267f.
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hatte,171 eine aus spätfränkischer Zeit stammende „Rückzugslinie des Germanischen“ darstelle. Diese These stützte Petri nun jedoch nicht mehr allein auf typonymische und archäologische Befunde, sondern sah sie von der „modernen Rassenforschung“ und insbesondere durch laufende „rassenbiologische Aufnahmen“ der SS in der Wallonie bestätigt. Die Wallonie war aus dieser Sicht „weniger eine romanische Grenzmark als vielmehr ein ausgesprochenes germanisch-romanisches Grenzland, dessen Bevölkerung neben ihren alten vorgeschichtlichen und kelto-romanischen Grundlagen [...] auch eine wichtige germanische Komponente aufweist.“172 Petri verallgemeinerte dies nun auf die gesamte „Reichsromania“ und konstatierte, „daß der Germania Romana jenseits der germanisch-romanischen Sprachgrenze eine mindestens gleichbedeutende Romania Germanica entsprochen“ habe, dass sie mit anderen Worten also lediglich der Überrest eines doppelt so großen Grenzraums sei, der ursprünglich den gesamten Norden Frankreichs „bis tief ins Pariser Becken“ umfasst und eine quer durch Frankreich verlaufende „Rassegrenze“ hervorgebracht habe.173 Aus dem „germanisch-romanischen Grenzland“ sah Petri nun „die Sehnsucht nach einer europäischen Ordnung“ hervorbrechen, „die das Beste des früheren Reichsgedankens in zeitgemäß erneuerter und ins Europäische geweiteter Form wiederaufnimmt.“174 Konkret dachte er hierbei an die Communauté Culturelle Wallonne,175 eine der SS nahe stehende Organisation wallonischer Kollaborateure unter der Leitung von Pierre Hubermont, deren Generalsekretär de Gérard Petris These weiterführte: Da die Wallonen „zu einem hohen Prozentsatz germanischer Abkunft“ seien, könne von einer rassischen Verschiedenartigkeit zu den Flamen nicht länger gesprochen werden. Vielmehr bilde das wallonische „Volk“ ebenso wie das flämische eine „lebendige Einheit“, deren „völkisches Selbstbewusstsein“ immer mehr wachse, „nachdem jahrhundertelang eine maßlose Zersplitterung das Erwachen eines wallonischen Gemeinschaftsgefühls“ blockiert habe.176 Flamen 171 172 173
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Vgl. Steinbach, Franz: Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, Jena 1926. Petri, Franz: Um die Herkunft der Wallonen, in: Westland 1 (1943/44), S. 61 (im Folgenden zit. als: Petri, Herkunft der Wallonen). Ders.: Die geschichtliche Stellung der germanisch-romanischen Grenzlande im Westen, in: Westland 1 (1943/44), S. 66-71, hier: 70 (im Folgenden zitiert als: Petri, Geschichtliche Stellung). Ebd., S. 71. Die Organisation war 1941 zunächst vom Chef der Militärverwaltung, dem früheren Aachener Regierungspräsidenten Eggert Reeder, als eine von mehreren Gruppierungen gefördert worden, um der „politisch-kulturellen Apathie“ der frankophonen Belgier entgegenzuwirken (zit. n. Conway, Collaboration in Belgium, S. 119). Trotz ihrer starken Selbstinszenierung war sie zunächst recht bedeutungslos, gewann im Zuge der von Léon Degrelle betriebenen Annäherung des Rexismus an einen germanophilen wallonischen Nationalismus jedoch an Bedeutung (vgl. ebd., S. 195). Petri bezog sich insbesondere auf die erste Tagung der Wallonischen Kulturgemeinschaft im Frühjahr 1942, auf der die „germanisch-nordischen Bindungen“ und die Zugehörigkeit „Walloniens“ zur „germanischen Mitte“ Europas hervorgekehrt worden waren. Vgl. hierzu Petri, Herkunft der Wallonen, S. 61. Gérard, Guillaume Samsoen de: Die Geschichte des wallonischen Raumes und die Entwicklung des wallonischen Volkscharakters, in: Westland 2 (1944/ 45), S. 39-42, hier: 39 (im Folgenden zitiert als: Gérard, Geschichte).
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und Wallonen erschienen aus dieser Sicht gleichermaßen unterdrückt durch den belgischen Staat, den de Gérard als Instrument einer „entnationalisierte[n] großbürgerliche[n] Gesellschaftsschicht der Brüsseler Hauptstadt“ denunzierte, welche „der Herkunft nach flämisch und der Erziehung nach teils kosmopolitisch und teils pariserisch“ sei und daher „ebenso wenig Verständnis für die kulturellen Belange der Flamen wie für diejenigen der Wallonen“ besäße.177 Dieses Verdikt entsprach der Imagination Brüssels als Ort rassischer Degeneration, wie Hans Muchow sie in seinem bereits erwähnten Stadtportrait evoziert hatte.178 Als positive Identifikationsfiguren präsentierte Westland demgegenüber eine Porträtgalerie wallonischer Offiziere und Feldherren im kaiserlichen Heer,179 als deren zeitgenössischen Repräsentanten sie den von Arbeitern umgebenen Rexisten-Führer Léon Degrelle abbildete.180 Dieses Werben um die frankophone Kollaboration kann als Konsequenz aus der Kriegswende von Stalingrad und als Reaktion auf den Mangel an deutschem ‚Siedlermaterial‘ für den ‚Ostraum’ verstanden werden. Dies spiegelte sich nicht nur in der Volk und Reich-Publizistik wieder, sondern beispielsweise auch in der 1942 gegründeten Zeitschrift Wallonie181 der CCW. Unmittelbar an die deutsche Westforschung anknüpfend, jedoch im Wesentlichen auf Beiträge wallonischer Kollaborateure gestützt,182 inszenierte sie die deutsche Besatzung als „la renaissance européenne“,183 die in „Charlemagne“ ihre historische Symbolfigur, in „Aix-la-Chapelle“ ihren Symbolort und in der karolingischen Synthese „des influences germaniques et gallo-romaines“ ihr Vorbild finde.184
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Ebd., S. 41. Vgl. Muchow, Brüssel. Vgl. Gérard, Geschichte, S. 40ff; Kövess, Géza Baron: Wallonen im kaiserlichen Heer, in: Westland 2 (1944/45), S. 43-45. Beide Artikel sind durch eine Bildfolge miteinander verbunden, die bedeutende Offiziere des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Karl Joseph Fürst de Ligne, Maximilian Graf Baillet de Latour, Theodor Graf Baillet de Latour und Josef Graf de l’Espine zeigen. Vgl. das Foto „Eichenlaubträger Léon Degrelle im Gespräch mit wallonischen Arbeitern“ in: Westland 2 (1944/45), S. 42. Das Bild schließt die Porträtfolge der o.g. wallonischen Offiziere ab. Wallonie. Cahiers mensuels de la Communauté Culturelle Wallonne, 3 Jge., Liége 1942-1944. Vgl. die Dokumentation von Tagungsbeiträgen im ersten Heft der Wallonie vom Mai/Juni 1942. Zur intensiven Rezeption der deutschen Westforschung und ihrer niederländischen Adepten vgl. insbesondere Louis, Paul: Les fondements populaires d’une Politique Culturelle Wallonne, in: Wallonie 1 (1942), Mai/Juni-Heft, S. 23-34. Vgl. auch den Beitrag Petris in der Eröffnungsnummer: Petri, Franz: La Wallonie et le monde allemand. Idées relatives à un tournant de l’histoire, in: Wallonie 1 (1942), Mai/Juni-Heft, S. 1422. Hubermont, Pierre: La Renaissance Wallonne, in: Wallonie 1 (1942), Mai/ Juni-Heft, S. 3-13, hier: 13. Ebd., S. 5. Zur ,wallonischen‘ Inszenierung Aachens vgl. auch Collard, Fern.M.: Aix-la-Chapelle. Imperiale et vivante, in: Wallonie 1 (1942), August-Heft, S. 4-7; Tonus, René: Aix-la-Chapelle et la Wallonie, in: ebd., S. 8-11.
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D i e an ti e n g l i sc h e U m c o d i e r u n g Parallel zum Verschwimmen der überkommenen Semantiken vollzog sich eine Verschiebung der Feindbestimmung vom besiegten Frankreich auf den englischen Kriegsgegner, später dann die USA und die Sowjetunion. Hieraus ergab sich eine Art ‚zweiter Westraum‘, der nun nicht mehr als Divergenz deutscher und französischer Territorien, sondern als Überlagerung deutscher und britischer Einflussgebiete konzeptionalisiert war. Seine räumliche Begrenzung, die Vorstellungen über seine innere Struktur und die Funktionalität seiner einzelnen Regionen und Städte entsprach dabei keineswegs dem ‚ersten Westraum‘. Vielmehr begegnet uns ein abweichendes Raumkonzept, das als Seitenstück für uns von Interesse ist. Es war erneut Spahn, der diese antienglische Umcodierung vornahm. Dabei knüpfte er an seine Vorstellung einer austrasischen Ur- und ottonischen Idealform des Raumes an Rhein, Maas und Schelde an. Hier, im Nordwesten, habe der englische Einfluss seinen Anfang genommen, nachdem die Auflösung der ottonischen ‚Grenzmarken‘ das Gebiet „aus der Dynamik der staatlichen Kräfte des deutschen Volkes ausgeschaltet“ habe.185 Die burgundische Reichsgründung Karls des Kühnen habe die Westgrenze dann „in ihrer ganzen Länge“ aufgesprengt,186 die „Staatswerdung Hollands“ begünstigt und den Weg für einen „Einbruch“ Englands frei gemacht. England habe die vormalige Nordwestbastion des Reiches nun rasch in seinen wichtigsten „Stützpfeiler“ auf dem Festland verwandelt187 und einen neuen, den Ärmelkanal überbrückenden Raum geschaffen, dessen Bewohner ihre mitteleuropäische Identität verloren hätten und im „Westeuropäertum“ aufgegangen seien. „Es war“, schrieb Spahn über die Blütezeit des Empire, „als ob [...] aus dem Holland des 17. Jahrhunderts das England des 18. Jahrhunderts geworden“ und die niederländische Elite „nach ihrer Erschöpfung während des Unabhängigkeitskampfes im Schoße [...] der englischen Nation wieder zu sich“ gekommen sei.188 Spahn interpretierte die niederländisch-englischen Beziehungen als eine englische „Raumbildung“ in den deutschen ‚Westraum‘ hinein. Gleichsam unsichtbar habe England diesen Raum im Zuge des Wiener Kongresses realisieren und die mittelalterliche Grenzwehr des Reiches unter umgekehrten Vorzeichen wieder aufrichten können. In dieser Sichtweise stellten die politischen Weichenstellungen der Jahre 1815 und 1839 eine Transformation des ‚Nordwestraumes‘ in ein „Vorgelände Englands“ dar, das im Windschatten der luxemburgischen Unabhängigkeit 1869 „über die Maas hinweg bis an die mittlere Mosel zwischen Trier und Metz“ habe „erweitert“ werden können.189 Für die preußische Rheinprovinz, die Niederlande und Belgien konstatierte Spahn zudem eine „Überschattung der französischen Ideenwelt von England her“, die sich in der Ausbreitung konstitutioneller und demokratischer Bewe-
185 186 187 188 189
Spahn, Das Reich, der Maas-Mosel-Rheinraum, S. 158. Ebd., S. 165. Ebd., S. 171. Ebd., S. 172. Ebd., S. 176.
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gungen um das Jahr 1848 und in der Gründung der großen liberalen und konfessionellen Parteien ausgedrückt habe.190
Abb. 14: Suggestivkarte „Englands Raumbildung an den Küsten der Nordsee“, 1941 (Heiß, Friedrich [Hrsg.]: Deutschland und der Westraum, Berlin 1941, S. 173)
Eine beigefügte Suggestivkarte (Abb. 14) macht die antienglische Variante des ‚Westraumes‘ besonders deutlich. Sie zeigt neben dem Einzugsgebiet von Rhein, Maas und Schelde als eine Art maritime Verlängerung des ‚Westraumes‘ die Nordsee zwischen Großbritannien am linken und Skandinavien am rechten Kartenrand; England erscheint als treibende Kraft einer „Raumbildung“, die sich von der Küste und der französischen Ostgrenze her südund ostwärts in das Deutsche Reich hinein ausdehnt. Durch die synchrone Abbildung ungleichzeitig bestehender territorialer Verhältnisse – die nieder190
Ebd., S. 176f.
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ländischen Generalstaaten grenzen ebenso an die hannoveranischen Territorien des 18. wie an die besetzten und entmilitarisierten rheinischen Gebiete des 20. Jahrhunderts – evoziert die Karte den Eindruck eines zusammenhängenden englischen Festlandterritoriums, das sich keilförmig vom Mündungsdelta der drei Ströme zur schweizerischen Grenze vorschiebt und die an Frankreich verlorenen ‚Westlande‘ vollständig vom Inneren des Deutschen Reiches trennt, das seinerseits von der Nordsee abgeschnitten erscheint. Anknüpfend an Spahn, liefert Kurt von Raumer ein Erklärungsmodell dieses merkwürdigen Gebildes.191 Die englische „Raumbildung“ mit ihrer „räumichen Mitte“ an den „großen Flussmündungen des Rheins, der Maas und der Schelde“ sei, so argumentierte er, allein dazu geschaffen worden, einen Aufstieg Deutschlands zu verhindern. England verfolge zu diesem Zweck eine dreifache Strategie. So ziele es zum einen auf eine „Eroberung und Festsetzung“ an der „Festlandküste“ des Kanals, so in Calais (13471558) und Boulogne (1544-1550), aber auch durch die Einnahme Dünkirchens durch Oliver Cromwell (1658) und den Einsatz englischer Truppen in den Weltkriegsschlachten bei Ypern, Winterschaete und am Kemmel.192 Ein „zweites Gebiet direkter Durchdringung“ stelle „Nordwestdeutschland“ dar. Hierzu zähle in erster Linie die zwischen 1715 und 1837 bestehende Personalunion Hannovers mit der britischen Krone,193 aber auch der englische Einfluss auf die Hansestädte und der bis 1890 dauernde Besitz der Insel Helgoland in der Deutschen Bucht. Auf diese Weise habe England nicht nur Nordwestdeutschland vom Reich entfremdet, sondern entlang von Ems und Weser „flankierende Ergänzungssysteme“ zu seinem „Glacis“ an Rhein und Maas geschaffen, die ihm „die Wege zum Ostraum und Ostmeer“ öffneten.194 Die dritte und wichtigste Linie der englischen Strategie bestand für Raumer jedoch in der „indirekten Herrschaft über Holland und Belgien“ und der Transformation der beiden Staaten in ein „Glacis auf dem Festlande“.195 Diese indirekte Regentschaft über das Mündungsdelta von Rhein, Maas und Schelde basiere auf einer „Geschäftsteilung“ zwischen dem Empire und dem als „antideutsch“ und „volksfern“ denunzierten holländischen Handelsbürgertum des 18. Jahrhunderts.196 Ähnlich der als Firnis vorgestellten französischen Zivilisation, bildete das englische Glacis für Raumer jedoch nicht mehr als eine dünne Oberfläche über einem in seinen bäuerlichen Schichten intakt gebliebenen Volkstum, die jederzeit wieder entfernt werden könne. Das antiengliche und das antifranzösische Feindbild amalgamierend, konstatierte er schließlich eine direkte Analogie englischer und französischer „Rheinpolitik“ und ein arbeitsteiliges Vorgehen gemäß der Formel: „Niederrhein englische, Ober- und Mittelrhein französische Interessenzone“.197 Die Geschichte des ‚Westraumes‘ ließ sich aus dieser Perspektive also als ein Wechselspiel von „(unmittelbarer) englischer Niederrhein- und (mittelbarer) englischer Oberrheinpolitik durch Ermutigung Frankreichs“198 interpretieren. 191 192 193 194 195 196 197 198
Raumer, Kurt von: Englands Rheinpolitik, in: Heiß (Hrsg.), Deutschland und der Westraum, S. 205-215. Ebd., vgl. auch S. 206f. Ebd., S. 206. Ebd., S. 210. Ebd., S. 206. Ebd., S. 209. Ebd., S. 208. Ebd., S. 210.
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Spahn übertrug diese Konstellation nun auf die Zeit der Industrialisierung, begriff diese jedoch als einen Wendepunkt. Denn im „Maas-Mosel-Rheinraum“ hätten sich, so behauptete er, mit der Industrialisierung die Gewichte zu Gunsten Deutschlands verschoben. Seit dem 19. Jahrhundert vollziehe sich daher nicht weniger als eine Wiedergeburt der austrasischen Urordnung des Raumes.199 Spahn spitzte dieses Raumbild zu der Frage zu, ob es dem deutschen Gravitationszentrum gelänge, auch die „vorne an der Küste“ gelegenen Hafenstädte Rotterdam und Antwerpen aus der „westeuropäischen Entwicklung“ herauszulösen, oder ob diese dauerhaft „in einem anderen Raume“ verblieben.200 Der Nordwesten erschien einmal mehr als ein gespaltener und umkämpfter, zugleich aber auch kampfentscheidender Raum: Stellten der Versailler Vertrag, die Besetzung des Rheinlandes und das LocarnoAbkommen englische (und nicht mehr vorrangig französische) Manöver dar, um „die englische Grenze von der Maas an den Rhein vorzuverlegen“,201 so habe das Erwachsen einer „volkhaften Bewegung“ an Rhein, Mosel und Maas, insbesondere die deutsche Separatistenabwehr, der flämische Nationalismus und die großniederländische Bewegung, eine entscheidende Wende gebracht, die den Weg für eine endgültige „Lösung“ durch Hitler weise.202 Die Zeitschrift Westland führte den antienglischen Diskurs bis 1944 fort. So griff der Niederländer Rudolf Steinmetz203 das Motiv der englischen Glacisbildung in den Niederlanden auf, ließ sein Land jedoch in einem milderen Licht erscheinen und billigte dem holländischen Bürgertum eine geschickte Ausnutzung der im Rahmen der britischen Gleichgewichtspolitik gegebenen Spielräume zu. Erst durch den Krieg seien die Niederlande dieser Spielräume beraubt und vor die Frage gestellt worden, welcher Macht – England oder Deutschland – sie am Ende zufallen würden. Unterliege Deutschland, seien die Folgen für die Niederlande katastrophal, da sie dann zu einem englischen Grenzwall gegen den „Bolschewismus“ würden.204 In ähnlicher Weise stellte auch ein anonymer „Deutschschweizer“ sein Land als Spielball englischer Politik dar. Das Selbstbild der Schweiz als Mittler zwischen den europäischen Mächten, Drehscheibe des internationalen Verkehrs, neutraler Boden, Austragungsort internationaler Wettkämpfe und Sitz internationaler Organisationen verhülle in Wahrheit nur eine „satanische“ Strategie Englands, die auf die territoriale Zerstückelung, politische Neutralisierung und Loslösung des ‚Westraumes‘ von der deutschen Mitte Europas ziele. Der Anonymus warf der schweizerischen Regierung vor, unter dem Einfluss Englands und seiner vermeintlichen Interessenwalter, der schweizerischen Banken, alle Vorteile der geographischen Lage verspielt und das Land völlig isoliert zu haben. Statt als „Mittler“ zu wirken, müsse die Eid-
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Spahn, Das Reich, der Maas-Mosel-Rheinraum, S. 178. Ebd. Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Steinmetz war auch als Autor des Buches „Deutschland, England und Amerika“ verpflichtet worden. Vgl. Verlagsvertrag v. 21. Juni 1943, NIOD, Sammlung 174b, U25-f, n.p. Steinmetz, Rudolf: England und die Niederlande, in: Westland 1 (1943/44), S. 150-153, hier: 153.
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genossenschaft zu einem „Glied der europäischen Mitte“ im „Neue[n] Europa“ werden.205 Bei Kriegsende schließlich erfuhr der antienglische Diskurs eine Wendung ins Antiamerikanische. Allerdings verzichtete Wucher darauf, das neue Feindbild auf die Ebene der Regionen und Symbolorte des ‚Westraumes‘ herunterzubrechen und etwa eine von der Normandie ausgehende ‚amerikanische Raumbildung‘ zu postulieren. Der Antiamerikanismus blieb vielmehr abstrakt kulturalistisch. So plante Wucher für das nicht mehr erschienene zweite Westland-Heft des Jahrgangs 1944/45 einen Aufsatz, „der dem deutschen und ausländischen Leser Vergleichsbilder amerikanischer und europäischer Lebensform vorstellen“ sollte. „Wir denken dabei an Gegenüberstellungen wie sie etwas überspitzt in den Formulierungen Hochhaus – Bürgerhaus, Farm – Bauernhaus ausgedrückt werden, aber bezogen auf die ganze Breite des täglichen Lebens, des kulturellen Schaffens und so weiter.“206 Der ‚Westraum‘ begegnet uns damit als Symbol und Mitte eines gegen den atlantischen Westen gerichteten Europas.
„ W e st r a u m “ , „O s tr au m “ u n d „ N e u e s E u r o p a“ Im Geleitwort zum ersten Westland-Heft hatte Seyß-Inquart den ‚Westraum‘ in das Zentrum eines epochalen, nur mit der „Völkerwanderung“ vergleichbaren „Ringens um Europas Bestand“ und um die „künftige Gestaltung der Weltordnung“ gestellt. In diesem Kampf stünde Europa nur noch zwei Feinden gegenüber: einem „Amerikanismus“, der sich von seiner „westeuropäischen Beeinflussung“ emanzipiere und „zur Führung“ vordringe, und einem „Bolschewismus“, der nichts mehr mit dem „uns geläufigen und von uns überwundenen Marxismus“ zu tun habe, sondern eine rassisch völlig andersartige „Lebensform der innerasiatischen Massen“ sei, die von ihrem „Steppengeist“ in „kaum faßbaren Energien“ gegen Europa getrieben würden.207 Seyß-Inquart leitete damit eine Reihe von Beiträgen ein, die den ‚Westraum‘ aufs engste mit dem ‚Ostraum‘ verknüpften und das niederländische „Germanenland“208 als Klammer der beiden Komplementärräume präsentierten. Die Beiträge schlugen die Brücke von der niederländischen
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Anonymus: Das Ende der schweizerischen „Mittler-Mission“. Von einem Deutschschweizer, in: Westland 1 (1943/44), S. 62ff, hier: 63f. Dem Text ist eine Folge von sechs Suggestivkarten beigefügt, die durch ihre extreme Schematisierung auffallen. Sie verzichten völlig auf die Abbildung der realen Topographie; an ihre Stelle treten streng quadratische und kreisförmige Muster, die die Schweiz als einen Kreis zwischen vier Raumsegmenten gleicher Größe erscheinen lassen. Die Trennung oder Verbindung dieser Raumsegmente sowie die Art der Linien suggeriert eine Mittellage oder Isolation der Schweiz in verschiedenen Phasen ihrer Geschichte. Wucher an Herbert Gross, Bilderdienst GmbH, 10. Mai 1944, NIOD, Sammlung 174b, U25-b, n.p. Seyß-Inquart, Geleit, S. 3. Stokar, Walter von: Die Wurzeln des niederländischen Volkstums, in: Westland 1 (1943/44), S. 18-20, hier: 20). Vgl. auch van der Molen, Sytse Jan: Die Bauernhausformen der Niederlande, in: ebd., S. 21-25. Die Vorstellung der Hausformen dient dem Nachweis der germanischen Herkunft.
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Landwirtschaft und Gärtnerei über die Geschichte des Deichbaus hin zur Trockenlegung der Zuiderzee, die Hermann Roloff, der oberste Raumplaner der deutschen Besatzungsbehörden in den Niederlanden,210 als Schnittpunkt zweier Traditionen präsentierte: der Landgewinnung entlang der holländischen und friesischen Küste und dem Rückgriff auf niederländische Fachleute und Siedler bei Landgewinnungsarbeiten an Elbe, Oder und Weichsel. Roloff betonte also den historischen Anteil der Niederlande an der deutschen Ostkolonisation und deutete ihn im bevölkerungspolitischen Sinne als Abgabe eines „Bevölkerungsüberschusses“ in einen vermeintlich leeren Raum.211 Das Zuiderzeeprojekt,212 das mit dem Beginn der Abdeichung des Südwestpolders 1941 in seine dritte Phase getreten war, erschien aus dieser Sicht als das größte und aufgrund objektiver technischer und geographischer Restriktionen auch letzte „Neuland“, mit dem die Niederlande ihren „Bevölkerungsüberschuß“ auf eigenem Territorium ernähren könnten: „Bei der starken biologischen Kraft der Niederländer, die mit ihrem Bevölkerungsüberschuß an der Spitze der germanischen Stämme stehen, finden [...] alle Landgewinnungs- und Bodenverbesserungsarbeiten im eigenen Lande räumlich und zeitlich eine naturgegebene Grenze. Daher dürfte mehr noch als dieses an sich so überragende Werk [Zuiderzeeprojekt] die demgegenüber unvergleichlich großzügigere und verheißungsvollere Ausweitung des europäischen Raumes im Osten mit den damit verknüpften Aufgaben der Gewinnung neuen Siedlungs- und Bauernlandes – 213 wie einst – von in die Zukunft weisender Bedeutung sein.“
Der Raumplaner, der u.a. die ersten Kriegsforschungsprogramme der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung ausgearbeitet hatte214 und im Dezember 1941 von Himmler mit der Vorbereitung der Umsiedlung von Niederländern in die besetzten Ostgebiete beauftragt worden war,215 gab damit eine zweckrationale, mit demographischen und technischen Daten untermauerte Legitimation für die Germanisierung des ‚Ostraumes‘. Die Doppelstrategie einer Maximierung der Neulandgewinnung in den Niederlanden und einer Umsiedlung der verbleibenden ‚Überbevölkerung‘ in den Osten war aufs engste mit dem Generalplan Ost und dem Generalsiedlungsplan verknüpft, die ab 1942 dahingehend umgearbeitet wurden, höhere Verluste an potenziellen deutschen Siedlern unter anderem durch den Rückgriff auf niederländische und frankophone Bevölkerungen, darunter auch die Wallonen,
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Vgl. Ruiter, Geert Jan: Der niederländische Bauer und Gärtner, in: ebd., S. 2631. Zu Roloff vgl. Müller, „Ausgangsstellung“, S. 839-845. Roloff, Hermann: Die Trockenlegung der Zuidersee, in: Westland 1 (1943/ 44), S. 32-37, hier: 32f. Eine beigefügte Suggestivkarte (S. 36) zeigt „Gebiete und Orte mit Kulturarbeiten der Niederländer“ zwischen Bremen und Tilsit. Zur Bedeutung des Zuiderzeeprojekts in der Westforschung vgl. Derks, Westforschung, S. 164ff. Ebd., S. 37. Vgl. Roloff, Hermann: Das kriegswichtige Forschungsprogramm der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Raumforschung und Raumordnung 3 (1939), S. 502; ders.: Die Mitarbeit der Wissenschaft bei der Ordnung und Gestaltung des deutschen Ostraums, in: ebd., S. 144f. Vgl. Madajczyk (Hrsg.), Generalplan Ost, S. VIII.
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zu kompensieren.216 Die Niederlande nahmen dabei eine Schlüsselrolle ein, denn zum einen erschienen sie als ein Bevölkerungsreservoir, aus dem bis zu einem Drittel der Einwohner für die Besiedlung des Ostens herangezogen werden könne.217 Zum anderen prädestinierte gerade dies sie in den Augen der SS als Partner im „Neuen Europa“. Mit Blick auf die ‚Ostsiedlung der Niederländer‘ wandte die Zeitschrift Westland sich auch der Ostforschung zu. Nachdem Himmler bereits Ende 1940 eine systematische Erforschung der historischen Auswanderung von Niederländern und Flamen in den Osten angeregt hatte,218 zeichnete der Ostforscher Erich Keyser 1943 das Bild geschichtsmächtiger „Westostwanderungen“, die einen ‚westländischen‘ Anspruch auf Teilhabe an der Ostexpansion begründeten. Zwar stünde die Forschung hierüber noch am Anfang, doch bestünde „kein Zweifel“, dass nicht nur Niederländer, sondern die Bevölkerung des ganzen „Westlandes“ über Jahrhunderte hinweg aus Frankreich, dem Elsass, der Pfalz, Lothringen und dem „Moselland“ an Oder und Weichsel, in Galizien, in den Karpaten, in den Donauländern und an der Schwarzmeerküste „eine neue Heimat gefunden“ und „europäischen Kulturboden“ geschaffen hätte. Im gegenwärtigen Krieg sei es daher „die Aufgabe des Westlandes“, sein „Erbe im Osten [...] verteidigen zu helfen.“219 Keyser war seit 1942 in Forschungen der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft zur Ostwanderung der Niederländer involviert, deren Ergebnisse er mehrfrach mit Vertretern der WFG und der Münsteraner Dozentenschaft abgestimmt. Im Rahmen einer solchen Besprechung in Leer im Dezember 1942 erklärte ein Vertreter des Reichskommissariats Ostland, Werner Essen, die niederländischen Siedler zum „Ersatz für das beseitigte Judentum“.220 Die Übergänge zu einer Sprache der Vernichtung waren auch in Westland fließend. Für Karl Richard Ganzer, der unmittelbar an die Beiträge Keysers und Roloffs anschloss, gehörte die Wanderung vom West- in den Ostraum zu einer „Geschichte gewaltiger Expansionen“, die für die „germanischen“ Völker charakteristisch sei. Aufgrund ihrer rassischen Überlegenheit hätten sie im Osten eine „Führungs- und Leistungstradition“ begründet, die sich „in ungebrochener Kontinuität“ bis ins zweite vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen lasse. Sie reiche von der Besiedlung der Ukraine durch die germanischen Stämme der Bastarnen und Skiren über das Gotenreich Ermanarichs und das Kiewer Reich der Wikinger bis zur „friesischen Gotlandfahrt“ und zur „Ostarbeit der deutschen Hanse“. Ganzer kennzeichnete diese Expansionen als Vorstöße in einen „Hohlraum“, einen Raum ohne Menschen also, und offerierte ein germanisches „Naturrecht auf Eroberung“ und „Landnahme“ ohne Rücksicht auf die ansässigen Menschen, die für ihn „animalische Volkstümer“ und Bestandteile „vegetativer Wildnis“ waren.221 Die ‚Ostsiedlung der Niederländer‘ war unter diesen Voraussetzungen nur als 216 217 218 219 220 221
Vgl. ebd., S. XIf. Vgl. Bosma, Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation, S. 203. Himmler an Hildebrandt, 7. Januar 1941, als Dok. 53 in: In’t Veld, SS en Nederland, S. 531f. Keyser, Erich: Westostwanderungen im deutschen Volksraum, in: Westland 1 (1943/44), S. 38ff, hier: 40. Vgl. auch Petri, Geschichtliche Stellung, S. 68. Vgl. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst, S. 586f. Zur Rolle Keysers in der Ostforschung vgl. auch ebd., S. 560, 581. Ganzer, Karl Richard: Der Osten als germanische Aufgabe, in: Westland 1 (1943/44), S. 41-45, hier: 43.
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eine rücksichtslose Herrschaftspraxis denkbar, die Ganzer in geopolitischer Terminologie als Herstellung der „wirklichen [...] Grenze“ in Form eines „vorwärtsdrängende[n] Saum[es]“ beschrieb.222 So warb Westland denn auch für den „wirtschaftlichen Osteinsatz“ unter Federführung der 1942 auf Initiative Seyß-Inquarts gegründeten Nederlandsche Oost Compagnie. Ihr Präsident, der radikale NSB-Politiker Meinoud Marinus Rost van Tonningen, schilderte die Compagnie als Motor einer „neuen Ostbewegung“.223 Er verwies auf die Aussiedlung einiger hundert niederländischer Bauern nach Weißruthenien – ein frühes und rasch gescheitertes Projekt im Rahmen der ‚Ostsiedlung‘224 – und entwarf ein Panorama laufender und geplanter Vorhaben. Es reichte von Betriebsübernahmen in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine über die Ansiedlung von Bauern, Gärtnern und Fischern am Peipussee und in der Ukraine, die Übernahme des Seeverkehrs durch die niederländische Ostreederei, den Einsatz der niederländisch-indischen Plantagengesellschaften in der Südukraine bzw. auf der Krim und den Transfer niederländischer Wasserbau- und Verkehrstechnologien bis hin zur Verlagerung industrieller Produktionsstätten niederländischer Unternehmen in den Osten – eine Vielzahl fragmentarisch realisierter Maßnahmen also, an denen, so die Botschaft, alle Schichten der niederländischen Gesellschaft Anteil haben sollten.225 Erschien der ‚Westraum‘ hier als Siedler- und Expertenreservoir für die Germanisierung des ‚Ostraumes‘, so fungierte er auch als Mobilisierungsbasis für die Waffen-SS. Der ostpolitische Schwerpunkt des ersten WestlandHeftes gipfelte daher in einem Kampfbericht der gleichnamigen SS-Standarte. Der niederländische Militärarzt Johan Bastiaan van Heutsz heroisierte darin die Anlage eines Brückenkopfes, die Vernichtung versprengter Truppenteile und die Tötung eines Arztes der Roten Armee im Gebiet von Dnjepropetrowsk. Dabei zeichnete er das Bild einer deutsch-niederländischen Partnerschaft und, der realen militärischen Lage zum Trotz, einer siegesgewissen Kampfsituation.226 Die Verortung des ‚Westraumes‘ inmitten eines von Osten und Westen bedrohten Europa war im Kontext der nationalsozialistischen Europaideologie227 keineswegs originell, doch bildete sie den Ausgangspunkt einer letzten Inszenierung, die die Diskursstränge vor Kriegsende noch einmal zusammenführte. Das ‚Westland‘ war Gegenstück und Siedlerquelle des ‚Ostlandes‘, zugleich aber – und untrennbar damit verbunden – ein Raum der 222 223
224 225 226 227
Ebd., S. 45. Rost van Tonningen, Meinoud Marinus: Der wirtschaftliche Einsatz der Niederländer im Ostraum, in: Westland 1 (1943/44), S. 103-107, hier: 103 (im Folgenden zitiert als: Rost van Tonningen, Der wirtschaftliche Einsatz). Ebd. – Vgl. hierzu ausführlich Bosma, Verbindungen zwischen Ost- und Westkolonisation. Rost van Tonningen, Der wirtschaftliche Einsatz, S. 103-106. Heutsz, Osteinsatz der Germanischen SS-Niederlande. Die Europaideologie nahm in den letzten Jahrgängen von Volk und Reich breiten Raum ein. Vgl. die programmatischen Beiträge: Kircher, Rudolf: Europäische Vorfragen, in: Volk und Reich 17 (1941), S. 789-793; Scharp, Heinrich: Europa als Aufgabe, in Volk und Reich 18 (1942), S. 316-321; Wucher, Waldemar: Der Krieg und die germanischen Völker, in: Volk und Reich 15 (1944), S. 7-14; Scharp, Hans: Dreißigjähriger Krieg, in: ebd., S. 201-208.
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imaginierten Entspannung und Verständigung der europäischen Völker. Es erschien als Modellraum europäischer Zukunft auf der Basis des Vernichtungskrieges gegen die „innerasiatischen Massen“.228 Aus der deutschen „Volks-“ wurde, so Seyß-Inquart, eine europäische „Völker“-Gemeinschaft, deren „Zusammengehörigkeit“ sich im Westland manifestiere: „Zwischen diesen Erscheinungen, dem Bolschewismus der osteuropäisch-innerasiatischen Massen und dem sich formenden Amerikanismus der westlichen Hemisphäre steht Europa. In dieser Absetzung erscheint uns vieles, was bisher, sei es auch durch Jahrhunderte, Ursache und Anlaß gegnerischer Auseinandersetzung war, als Variationsmöglichkeit desselben Wachstums und als europäische Eigenart gegenüber der gleichförmigen und gleichmachenden Gestaltung des innerasiatischen Ostens und des amerikanischen Westens. In Gegenüberstellung mit diesem Osten und diesem Westen lernen wir die Mannigfaltigkeit der Volkspersönlichkeiten des vielgegliederten europäischen Kontinents in seinen Fluß- und Tallandschaften, Halbinseln und Buchten als die besondere europäische Eigenart erkennen und empfinden[,] und [es] erwächst in uns das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, soweit wir Europäer sind, das heißt soweit unsere Vorfahren und wir als Angehörige der in Europa in völkischer Geschlossenheit wirksam und verwandt gewordenen Rassen 229 den Gang der europäischen Geschichte miterlebt und mitgeformt haben.“
Das Europa, das sich im ‚Westland‘ abzeichne, war also ein Europa verwandter „Rassen“, ein Europa der ‚Arier‘. Die Präsentationen der Städte und Symbolorte, die Darstellungen der Wirtschaftssysteme und die Arrangements historischer Figuren und Ereignisse sind immer auch als Positionierung innerhalb eines solchen Europaentwurfs zu verstehen, so diffus dessen Konturen im einzelnen auch blieben. Besonders deutlich wird dies in Boehms Vorstellung der Städte- und Verkehrsnetze: Er kennzeichnete den Westraum als einen „breiten Gürtel germanisch-romanischer Völkerbewegung“ und als „historische[s] Berührungs- und Überschneidungsgebiet deutscher und französischer Kulturausstrahlungen und Machtbegegnungen“. Als solches, so behauptete er, besitze er eine einzigartige Identität und sei fundamentaler Bestandteil einer „tausendjährigen abendländischen Entwicklung“, die im „neuen Europa der erwachenden Völker“ gipfle. Diese Identität aufzuspüren, gehöre „zu den wichtigsten Voraussetzungen germanisch-romanischer Verständigung“ und sei, so fügte er hinzu, das eigentliche Ziel der Zeitschrift Westland.230 In diesem Sinne verortete er die Städte- und Verkehrsnetze auf dem „Wurzelboden eines eigenwüchsigen Kulturwillens“, der kein „Ableger des Westens“, sondern das Ergebnis einer Aufnahme des Romanischen in das Reich sei.231 Auch für Petri war das ‚Westland‘ von einem ständigen „Hinüber und Herüber der geschichtlichkulturellen Wechselbeziehungen“ geprägt, das seinen Landschaften ein „vieldeutiges Gesicht“ verliehen habe.232 Die Einheit des ‚Westlandes‘ bestehe demnach in seiner Vielfalt, und entsprechend sprach Petri von einer 228 229 230
231 232
Seyß-Inquart, Geleit, S. 3. Ebd. Boehm, Stadt und Land, S. 10. – Vgl. ähnlich ders.: Die Legende vom Zwischenreich, in: Westland 1 (1943/44), S. 130-136, insbes. S. 130 (im Folgenden zitiert als: Boehm, Legende vom Zwischenreich). Ebd., S. 12, 14. Petri, Geschichtliche Stellung, S. 66.
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Pluralität der „germanisch-romanischen Grenzlande an Rhein und Maas, Mosel und Schelde“ innerhalb eines „einheitlichen Kulturraumes“ zwischen Alpen und Kanal.233 Die Metapher der Grenzfestung und ihrer beiden Bollwerke war hier vollends in eine Semantik des Gemeinsamen von Germanen und Romanen – nota bene: des Gemeinsamen der ‚Volkstümer‘ oder ‚Kulturen‘, nicht der Staaten – übergegangen. Damit verbunden war eine Neuinterpretation der ‚westländischen‘ Geschichte des 9. Jahrhunderts. Das durch den Vertrag von Verdun im Jahre 843 geschaffene lotharingische Mittelreich erschien nun nicht mehr, wie im Diskurs der Vorkriegszeit, als Fehlkonstruktion, die der Politik Karls des Kühnen und der Abspaltung der Schweiz und der Niederlande Vorschub geleistet habe. „Seine Aufgabe“, erklärte Boehm, habe keineswegs darin bestanden, „zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Franzosen‘ einen Puffer zu bilden, sondern ganz im Gegenteil die stärker germanischen und ausgesprochen romanischen Teile des fränkischen Großreiches durch eine verbindende Zone zu verklammern, deren Herrscher die Kaiserkrone tragen und dadurch Garanten der Reichseinheit sein sollten.“ In diesem Sinne sei die spätkarolingische Ordnung als eine „geopolitische Gestaltung“ des „germanisch-romanischen Mittelreiches mit Aachen und Rom als den politischen Mittelpunkten“ zu verstehen.234 Fungierte das karolingische Reich hier als Projektionsfläche des ‚Neuen Europa‘, so fungierte Lotharingien als Urform des ‚Westraumes‘, und gerade hierdurch veränderte sich dessen symbolischer Gehalt enorm: Er war nicht mehr der ‚westliche Grenzsaum’ des Ostreiches, sondern die Mitte des 843 bewahrten Reiches Karls des Großen und mithin das historische Zentrum Europas. Auch die spätere Geschichte erschien dadurch in einem anderen Licht: Das Burgunderreich Karls des Kühnen, bislang durchgängig negativ konnotiert, erschien als Wiedergeburt eines dem Reich zugehörigen Lotharingien, und die Einrichtung des Burgundischen Reichskreises durch die Habsburger beschleunigte nicht länger das Abdriften der Schweiz und der Niederlande, sondern war vorbildliche deutsche „Westpolitik“.235 Diese neue imaginative Geographie des ‚Westlandes‘ verdichtete sich schließlich in der Inszenierung Burgunds. 1943 veröffentlichte Boehm eine Monographie mit dem Titel Geheimnisvolles Burgund, die sich vornehmlich auf die in französischen Bibliotheken befindliche regionalgeschichtliche Literatur stützte und von „zahlreichen leitenden Persönlichkeiten“ im Stabe des Deutschen Militärbefehlshabers in Frankreich, namentlich von SS-Gruppenführer Werner Best, gefördert worden war.236 Boehm beschwor darin einen „burgundischen Mythus“,237 in dem sich die „Metapolitik“ der gesamten europäischen Geschichte offenbare. Burgund erschien als ein von den „Über-
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237
Ebd., S. 68, 71. Boehm, Legende vom Zwischenreich, S. 132. Just, Leo: Habsburgische Reichsaufgabe im Westen, in: Westland 2 (1944/ 45), S. 2-6, insbes. S. 4. Boehm, Geheimnisvolles Burgund. – Boehm erwähnt als weitere Förderer: „Generalleutnant Frh. v. Rotberg, Generalmajor Hederich, Oberstleutnant Streit, Arbeitsführer Walther Schulz sowie zahlreiche Herren der örtlichen Stäbe“ (ebd., S. VIII). Boehm beginnt die Monographie mit einem Kapitel „Burgundischer Mythus“, ebd., S. 1-13.
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lebenden des Nibelungenuntergangs“238 begründetes Staatswesen nordischen Ursprungs, „das seine natürliche Herrschaftsmitte nicht finden konnte und schon an diesem Grunderfordernis stetiger Staatsentwicklung scheitern musste“, das in der „politischen Tragik“ dieses Scheiterns jedoch enorme „Strahlungskräfte“239 freigesetzt habe und auf diese Weise mit der Geschichte der Deutschen, Franzosen, Italiener und Schweizer verschmolzen sei. Die burgundische Geschichte sei somit keineswegs abgeschlossen, sondern lebe als „metapolitische[s] Unterbewusstsein [...] dieses Raumes“ fort und verweise auf einen geschichtsmächtig gebliebenen „burgundischen Genius“ voller „unerfüllte[r] Möglichkeiten“.240 Der Topos des Geheimnisvollen ermöglichte es Boehm, das Burgundbild ambivalent zu halten: neben dem „erregenden Erbe des Landes mit seiner großen Geschichte“ gebe es auch „das unheimliche Burgund“241 der „rätselhaften, aufwühlenden und vielfach zerstörenden Kräfte, die aus dem burgundischen Raum weit in seine abendländische Umwelt ausstrahlten“ und – hier erfolgt der Angriff auf die französische Aufklärung – „noch im 18. und 19. Jhd. durch den Mund von Rousseau, Diderot, Fourier, Cabet und Proudhon ein gewichtiges Wort gesprochen“ hätten.242 Der burgundische Genius, so könnte man folgern, bedürfe also noch der ideologischen Überwachung. Diese Ambivalenz erlaubte es Boehm, den „burgundischen Mythus“ im Europadiskurs aufzulösen, ohne auf den Status der Region und ihrer Bewohner in einer deutsch diktierten Nachkriegsordnung eingehen zu müssen: „Wahrhaftig, Burgund ist mehr als ein Kreuzweg der Völkerstraßen, mehr als ein hin und her gezerrtes Grenzland zwischen den Reichen und Kulturräumen, mehr als die weihevolle Grabstätte einer großen, auf ewig versunkenen Vergangenheit, vor die die Menschen der Gegenwart gebeugten Hauptes zu treten haben wie die ‚Weinenden‘ an den Herzogsgräbern von Champmol. Aus Wogen des Werdens und Vergehens erhebt sich unsterblich das geheimnisvolle Burgund als ein europäisches Schicksalsland!“243
Diese Transformation Burgunds von einem illegitimen ‚Zwischenreich‘ hin zu einem Symbolraum Europas entsprach der zeitgleichen Transformation des ‚Westraumes‘ von einem Kampf- und Grenzraum hin zu einem Ort germanisch-romanischer Verständigung in einem Europa der verwandten Rassen. Diese Transformation rekapitulierte ein wesentliches Element des jungkonservativen Grenzlandkonzepts, nämlich die Janusköpfigkeit der Grenze als ‚Brücke‘ und ‚Front‘. Insbesondere Boehm hatte von den Grenzen nicht nur als ‚Fronten‘, sondern ebenso als ‚Brücken‘ und ‚Kristallisationskernen‘ einer europäischen Neuordnung gesprochen, die 1940 gewaltsame Wirklichkeit geworden war. Aus solcher Sicht bedeutete dies das erfolgreiche Ende der grenzlandpolitischen Mission im jungkonservativen Sinne. Die neue Semantik des ‚Westraumes‘ verwies auf genau diesen Punkt: Die Verwandlung des prekären Ortes der Ausnahme in den Modellraum eines ‚Neuen 238 239 240 241 242 243
Boehm, Geheimnisvolles Burgund, S. 13. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12. Ebd., S. 391. Ebd., S. 12. So die Schlusssätze ebd., S. 392. Umbruch und Zentrierung im Original.
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Europa‘ mit einem germanisch-romanischen Musterstaat der SS in seinem symbolischen Zentrum und einer Teilhabe am Vernichtungskrieg im Osten als seiner konstitutiven Tat. Eine der vielleicht wichtigsten Grundlagen des kontinentalen Herrschaftssystems, das sich hier abzeichnete, ist uns in unserer Konzeptgeschichte der Grenze schon früh begegnet. Es ist die Imagination eines Raumes suspendierter Normalität und perpetuierter Gewalt, der sich gewissermaßen aus den Bruchzonen der nationalstaatlichen Ordnung der bürgerlichen Welt öffne.
FAZIT
Blicken wir zurück auf das untersuchte Material, so erkennen wir die Umrisse eines Raumkonstrukts, das im halben Jahrhundert zwischen der Entstehung der völkischen Bewegung des Kaiserreichs und dem nationalsozialistischen Raumordnungskrieg als imaginative Geographie, strategisches Raumbild und Kriegsziel der völkischen Rechten Geltung beanspruchte. Dieses Raumkonstrukt vergrößerte Deutschland über seine westliche Staats- und zugleich seine westliche Sprachgrenze hinaus. Es markierte damit einen breiten, teils deutsch-, teils niederländisch- und teils französisch- (oder wallonisch-)sprachigen Steifen als deutsche ‚Westmark‘, deutsches ‚Westland‘ oder deutschen ‚Westraum‘, der von der französischen Kanalküste bis zur Schweiz, mitunter auch bis zur Rhône, zur Saône und zum Mittelmeer reichte. Damit unterschied es sich konzeptionell sowohl von einer an deutschsprachige Minderheiten geknüpften ‚Schutzarbeit‘ im Sinne etwa des VDA, als auch von einer auf die infolge des Versailler Friedens abgetretenen oder internationalisierten Gebiete konzentrierten Revisionspolitik. Wenngleich unterschiedliche und mitunter entgegengesetzte Argumente entwickelt wurden, warum der genannte Streifen in seiner Gesamtheit deutsch sei oder deutsch werden müsse, so kulminierten sie in seiner ungefähren westlichen Begrenzung in Form einer geschwungenen Linie, die von Calais, Boulogne oder der Somme in südöstliche Richtung über Artois, Hennegau und Ardennen zur französischen Maas und von dort entweder über die Vogesen bis zur deutschsprachigen Schweiz oder weiter westlich bis zur Rhône verlief. Diese Begrenzung des ‚Westraumes‘ inmitten frankophonen Gebiets überrascht ebenso wie die Kontinuität, mit der sie uns zwischen den 1890er und 1940er Jahren in den untersuchten Diskursgemeinschaften begegnet. Sie überrascht, da sie das im deutschen Nationalismus des 19. Jahrhunderts zunächst hegemoniale Konzept eines ethnisch homogenen Nationalstaats im Sinne von Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt aufhob, dessen Staatsgrenzen scheinbar nur die Sprachgrenzen sein konnten. Ausgehend von diesem Nationsentwurf der Politischen Romantik, in dem uns die beiden Schlüsselbegriffe ‚Grenzland‘ und ‚Mark‘ erstmals begegnen, hatte der preußische Statistiker Richard Boeckh zunächst ein wissenschaftliches Verfahren zur Definition, Erhebung und Bewertung sprachstatistischer Daten entwickelt, das zwingend auf eine lineare Abgrenzung der Nationen hinauslief und die trennscharf vorgestellten Sprachgrenzen zugleich exakt lokalisierte. Dahinter stand die Vision, mit Hilfe der Wissenschaften unzweideutige Nationalitätengrenzen bestimmen und die sprachlich-kulturelle Identität der beiderseitigen Minderheiten durch bürgerliche Freiheits- und nationale Minderheitenrechte vor Assimilation schützen zu können. Boeckh lokalisierte am Vorabend des deutsch-französischen Krieges 1869 auch die westliche Sprachgrenze, konnte sein Verfahren jedoch gerade hier nicht anwenden, da als Folge des französischen Nationskonzepts keine kompatiblen
FAZIT | 369
sprachstatistischen Daten existierten. Obwohl Boeckh also theoretisch in Anspruch nahm, eine trennscharfe Linie zwischen der deutschen (einschließlich der niederländischen und flämischen) und der französischen (mit der wallonischen) Nation zu ziehen, blieb seine Lokalisierung der westlichen Sprachgrenze pragmatisch und spekulativ. Im Kontext des Krieges von 1870/ 71 legitimierten seine Forschungen gleichwohl die Annexion ElsassLothringens und gingen als gesichertes wissenschaftliches Wissen in den völkischen Diskurs ein, während er selbst zum Vordenker des späteren VDA wurde. Boeckhs Westgrenze aber war eben kein ‚Westraum‘ im oben umrissenen Sinne, sondern ein an der Staatsgrenze beginnender Diffusionsraum, der in Form der Sprachgrenze eine exakte Linearisierung erfuhr und mit dieser Linearisierung in einen Divergenzraum von Staats- und Sprachgrenze transformiert war. Alle Gebiete jenseits der Sprachgrenze blieben außerhalb der Nation, und ein territorialer Anspruch auf sie war zumindest auf theoretischer Ebene nicht begründbar. In der Schlüsselsituation des Jahres 1870 stand Boeckhs zwingend linearisierendes dem ebenso zwingend entlinearisierenden Konzept Wilhelm Heinrich Riehls gegenüber, das die räumliche Diffusion sprachlich-kultureller Merkmale betonte und die Grenze der Nation nicht als eine errechenbare Linie, sondern als schattierte Fläche vorstellte. Riehl löste die westliche Sprachgrenze also bereits im Moment ihrer Linearisierung wieder in einer ‚Grenzlandschaft‘ auf, in der ‚Raum‘ und ‚Volkstum‘ eine Synthese eingingen und damit eine räumliche Einheit bildeten. Er entwickelte dieses Konzept vor allem am Beispiel der elsässischen Kulturgeschichte und ordnete diese in ein geometrisches Modell ein, das den Kulturraum als eine Kreuzung von Nord-Süd- und West-Ost-Verbindungen ansah, die im Laufe der Geschichte zwar mehrfach ihre Priorität und ihre strategische Funktion geändert, keineswegs jedoch ihre strukturierende Kraft verloren hätten. Die Veränderungen ihrer Priorität und Funktion drückten sich für Riehl in einer Metamorphose entlang der Begriffsreihe ‚Straßenland – Kriegsland – Grenzland – Zwischenland‘ aus, die es nun umzukehren gelte: vom ‚Zwischen-‘ und ‚Grenzland‘ sollte das Elsaß über das ‚Kriegsland‘ wieder zu einem ‚Straßenland‘ an der westlichen Flanke des Reiches werden. Auf den Rhein, auf Flandern, die Schweiz oder auf den gesamten ‚Westraum‘ übertragen, sollte sich dieses geometrische Raumbild als überaus wirkungsmächtig erweisen und insbesondere im Zweiten Weltkrieg eine starke Rezeption erfahren. In der konkreten Situation des deutsch-französischen Krieges jedoch war zunächst ein grenzpolitischer Pragmatismus ausschlaggebend, der sprachliche mit politischen und militärgeographischen Gesichtspunkten verband und die westliche Grenzfrage durch eine singuläre Annexion zu lösen versuchte. In dieser Situation sprach Heinrich von Treitschke vermutlich das erste Mal von einer deutschen ‚Westmark‘ – Arndt hatte lediglich von einer ‚Rheinischen Mark‘ im Sinne einer radikalen Militarisierung der preußischen Rheinprovinz gesprochen – und meinte damit das militärisch besetzte, einer temporären Diktatur zu unterwerfende und durch systematische kulturpolitische Maßnahmen nach dem Vorbild der Rheinprovinz allmählich in den Nationalstaat zu integrierende Elsass-Lothringen. Wenngleich Treitschke weitere Annexionen kategorisch ausschloss, so legte er doch wesentliche Grundlagen für den späteren ‚Westmark‘-Diskurs. So brachte er den Gedanken einer Verkleinerung Frankreichs durch ethnische Dekomposition ins
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Spiel. Er verwies auf den tendenziellen Geburtenrückgang in Frankreich und spitzte diese Feststellung zu einem demographischen Argument für die Verkleinerung Frankreichs auf ein Kerngebiet zu, das in beiden Weltkriegen eine Umsiedlung bzw. Deportation der frankophonen Bevölkerung der eroberten Gebiete begründen sollte. Der im Gefolge der Rheinkrise des Jahres 1840 von Wolfgang Menzel legitimierte Griff nach der mittelalterlichen Reichsgrenze und den von ihr umschlossenen ‚reichsromanischen‘ Gebieten hingegen floss weder in Boeckhs, noch in Riehls oder Treitschkes Argumentation ein, sondern wurde erst im jungkonservativen Diskurs wirksam, nachdem er durch die fälschliche Aufnahme in eine Werkausgabe Helmuth von Moltkes als das frühe und radikale Manifest des Feldherrn von 1870/71 eine nachträgliche symbolische Aufladung erfahren hatte. Weder Boeckh, noch Riehl oder Treitschke konzipierten damit einen ‚Westraum‘. Dieser Befund bestätigt unsere Ausgangshypothese, dass es neben dem Nationskonzept der Politischen Romantik, eben weil es auf eine Konvergenz von Staats- und Sprachgrenze hinauslief, des Impulses durch die Politische Geographie bedurfte, um Staats- und Sprachgrenze in einen ‚Westraum‘ zu transformieren. Das Neuartige dieser von Friedrich Ratzel forcierten Modernisierung des Raumdenkens war zunächst die Vehemenz der Entlinearisierung von Grenzen: Sämtliche Grenzlinien, ob in der belebten oder unbelebten Natur, in Kultur, Wirtschaft oder Staat, waren für ihn lediglich intellektuelle Konstruktionen, nämlich lineare Abstraktionen real immer vorhandener ‚Grenzsäume‘, mit anderen Worten also linearisierte Diffusionsräume analog zu Boeckhs linearisierter Sprachgrenze. Das im Zeitalter des Kolonialismus verfügbar gewordene Wissen über außereuropäische und vormoderne Gesellschaften bewies für Ratzel, dass insbesondere die modernen Staatsgrenzen in Wirklichkeit zu Linien zusammengezogene ‚Grenzwüstungen‘ oder ‚Grenzmarken‘ seien, mit denen alle Staaten sich in ihrem Ursprung voneinander abgesondert hätten. Die modernen Staatsgrenzen repräsentierten also stets auch einen solchen Raum, und es waren Situationen denkbar, in denen der Raum wieder aus ihnen hervorbrach, so etwa im Krieg oder in der ökonomischen Erschließung eines jenseits der Staatsgrenze verorteten ‚Lebensraumes‘. Mit der Räumlichkeit wohnte der Grenzlinie also immer auch eine expansive und tendenziell gewaltförmige Dynamik inne. Da Ratzel den Staat als einen biologischen Organismus höherer Ordnung auffasste, wurde der ‚Grenzsaum‘ zugleich biologisiert: Als ‚peripherisches Organ‘ wies er Lebenseigenschaften auf und vollzog mit ihnen die Expansion des Staates hin zur ‚organischen Grenze‘ seines ‚Lebensraumes‘. Wie in allen Organismen korrespondierte die Grenze hierbei mit allen anderen Teilen des Körpers, vor allem aber mit seinem ‚Zentralorgan‘. Die biologisierte Grenze wurde damit zu einer Art zweitem, nach außen gekehrtem Zentrum des Staates, in dem sich die Energien der Nation so sehr verdichteten wie sonst nur in seiner Hauptstadt. Daher definierte Ratzel das Zentrum, die Grenze sowie die verbindenden Verkehrsnetze und Märkte als ‚politische Räume‘. Der Raum der Grenze wurde damit als regulative Instanz einer durch menschliche Arbeit, kulturelle Evolution und politisch-ökonomische Wachstums- und Entfremdungsprozesse konstituierten Entwicklungsdynamik vorstellbar. Dieser Gedanke sollte von Geographen wie etwa Gustav Braun zum Konzept eines Gürtels ‚mitteleuropäischer Grenzmarken‘ (1917) weiterentwickelt werden, die den deutschen ‚Lebensraum‘ ringförmig umgaben und in denen sich verkehrshemmende Sperrlandschaften, verkehrsfördernde Pfortenlandschaften
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und industrielle Energiezentren zu organischen Raumkonstrukten der Mesoebene verbanden. In Ratzels komplexer Konzeptualisierung der Grenze war bereits ihre spätere symbolische Aufladung zu einem Bewahrungs- und Bewährungsraum der Nation und einem Raum des Politischen im Sinne Carl Schmitts angelegt, zunächst jedoch ist auf die enorme raumkonzeptuelle Erweiterung des Grenzbegriffs hinzuweisen: Hatten sich die Grenzkonzepte Boeckhs und Riehls auf der Grundlage recht simpler Divergenz- bzw. Diffusionsmodelle bewegt, so erweiterte Ratzel diese um die neuartigen Modelle des Repräsentations- und des Organismus-Grenzraumes. Er universalisierte, anthropologisierte, biologisierte und dynamisierte die entlinearisierende Grenzkonzeption und löste den Schlüsselbegriff ‚Grenzmark‘ aus der deutschen Nationalgeschichte heraus. Auf die Westgrenze angewandt, sprach Ratzel 1892 als vermutlich erster Autor von einem ‚Grenzsaum‘ im Sinne eines Raumes, der als solcher die Grenze zwischen den ‚Lebensräumen‘ Deutschlands und Frankreichs bilde, gleich wo die momentane Grenzlinie auch verliefe. Dieser Raum umfasste die historischen lotharingischen und burgundischen Territorien an Saône, Maas und Mosel, also überwiegend frankophone Gebiete westlich der Sprachgrenze. Ratzel beschrieb dieses ‚Zwischenland‘ als eine zur Trümmerfläche zerfallene Festung, in der die modernen Nationalstaaten Schweiz, Belgien, Luxemburg und Niederlande wie ‚herabgefallene Steine‘ lägen. Das Neuartige dieses Raumbildes war weniger die Festungsmetapher – diese ist im Kontext des Wiener Kongresses bereits nachweisbar –, sondern die Konzeptualisierung der historischen und modernen ‚Zwischenländer‘ als die Grenze selbst. Und indem diese entlinearisierte Grenze in ihrer linearen Abstraktion eine ‚Grenzmark‘ repräsentierte, war der Weg für einen von der historischen Territorialgeschichte völlig entkoppelten ‚Westmark‘-Begriff geebnet. Wenn also Treitschke das Wort ‚Westmark‘ erfand (und ElsassLothringen meinte), transformierte Ratzel die gesamte Westgrenze in eine ‚Westmark‘, wenngleich er es unterließ, diese auch explizit so zu benennen. Betrachten wir vor diesem Hintergrund die alldeutsche Diskursgemeinschaft, so erkennen wir zunächst einen vor allem in anonymen Schriften formulierten Wunsch, die französischen, polnischen und dänischen Minderheitengebiete an der West-, Ost- und Nordgrenze des Deutschen Reiches in ‚West-‘, ‚Ost-‘ bzw. ‚Nordmarken‘ zu verwandeln und diese siedlungspolitisch zu germanisieren. Der alldeutsche Verbandsvorsitzende Ernst Hasse führte hierfür 1894 den Begriff der ‚neuen deutschen Militärgrenzen‘ ein. Er rekurrierte damit auf die zeitgenössisch noch präsente Organisationsform der habsburgischen Südostgrenze in Form einer von Wehrbauern besiedelten reichsunmittelbaren Sonderzone, übertrug das habsburgische Vorbild jedoch nicht eins zu eins auf die Gegenwart. Vielmehr zielten seine ‚neuen deutschen Militärgrenzen‘ auf den Entzug der bürgerlichen Freiheitsrechte der fremdsprachigen Minderheiten, die Neubesiedlung ihrer Gebiete, die strategische Optimierung der Grenzen mit Blick auf einen künftigen Krieg und die Regulation sozialer Verwerfungen. In einem zweiten Schritt formulierte Hasse dieses Konzept 1905 weiter aus und entwickelte konkrete ordnungspolitische Vorschläge für die Transformation Elsass-Lothringens in eine ‚Westmark‘. Er legitimierte dies mithilfe der Politischen Geographie Ratzels und adaptierte dessen Begriff eines ‚Grenzsaumes‘ oder ‚Zwischenlandes‘ zwischen Deutschen und Franzosen. Neben Hasses verbandsoffiziellen Vorschlägen zirkulierte in der alldeutschen und völkischen Bewegung seit den
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späten 1890er Jahren außerdem eine Vielzahl sehr extremer Zukunftsvisionen, die eine radikale Neuordnung der europäischen Staaten und ihrer Bevölkerungen im Medium eines erwarteten europäischen Krieges durchspielten. Im Wechselspiel der offiziellen Verbandspolitik und ihrer radikalen Zuspitzung wurden die Begriffe ‚Landnahme‘, ‚Besiedlung des Volksbodens‘, ‚Annexion frei von Menschen‘ und ‚Bevölkerungsverschiebung‘ zu leichthin vorgeschlagenen Ordnungsinstrumenten. Dabei oszillierten die westpolitischen Forderungen zwischen der Minimalposition einer Expansion bis zur Sprachgrenze und der Maximalposition einer vollständigen Annexion und rassischen Hierarchisierung Frankreichs mit dem Ziel einer Versklavung und eugenischen Vernichtung der als nichtgermanisch eingestuften Bevölkerung. Allerdings setzte sich eine Position durch, die in Anlehnung an eine von Kurd von Strantz 1887 erstmals veröffentlichte Schrift einen zusammenhängenden Streifen ‚verwelschten Deutschtums‘ von der Kanalküste über die Wallonie, Lothringen und Burgund bis zur Schweiz beanspruchte. Die hieraus resultierende Grenzziehung westlich der Sprachgrenze entsprach grob Ratzels ‚Grenzsaum‘, wenngleich Strantz nicht politisch-geographisch argumentierte. Gleichwohl kann diese Schrift als die erste Darlegung des von uns untersuchten Raumkonzepts innerhalb der völkischen Bewegung gelten, und als solche nahm sie die Kriegszielpolitik des Verbandes unter seinem radikaleren Vorsitzenden Heinrich Claß während des Ersten Weltkrieges vorweg. Der Begriff ‚Westmark‘ bezeichnete während des Krieges eine durch deutsche Wehrbauern zu besiedelnde Militärgrenze in den besetzten und ‚frei von Menschen‘ zu annektierenden französischen Gebieten, während die künftige Westgrenze in ihrer Gesamtheit ein Gefüge mehrerer ‚Marken‘ (Claß) oder ‚Reichsländer‘ (Strantz) bilden sollte. Dabei spielte das demographische Argument einer Verkleinerung Frankreichs auf ein seiner Volkszahl angemessenes Kernland eine zentrale legitimationsstiftende Rolle. In den ersten Kriegsmonaten erkennen wir zudem eine Rassifizierung der Kämpfe an der Westfront, die in der Behauptung einer nordafrikanischen Rassezugehörigkeit, einer rassisch bedingten Kulturlosigkeit und einer Vernichtung des französischen Volkes am Ende des ‚Rassenkrieges‘ ihren Höhepunkt fand. Im Zuge der Annäherung der alldeutschen Kriegsziele an die industriellen und landwirtschaftlichen Interessenverbände vollzog sich jedoch eine pragmatische Wendung des Diskurses. Das Interesse konzentrierte sich nun zum einen auf Flandern und die Flämische Bewegung, die der Verband seit den 1890er Jahren kontinuierlich unterstützte und deren vom Deutschen Reich nicht anerkannte Unabhängigkeitserklärung im Dezember 1917 er begrüßte, und zum anderen auf die Anfänge einer Germanisierungs- und Siedlungspolitik im besetzten Lothringen durch die Landgemeinschaft Westmark. Mit der Etablierung der Deutschen Vaterlandspartei als nationalistischer Sammlungsbewegung setzte 1917 eine erneute Rassifizierung und zugleich eine antienglische, antiamerikanische und antisemitische Neucodierung des bis dahin antifranzösisch (und antibelgisch) konnotierten Raumkonzepts ein. Insbesondere die deutsche Verfügungsgewalt über die französische Kanalküste mit ihrem industriellen Hinterland in den ‚westflämischen‘ Departements Nord und Pas de Calais wurde vor dem Ende des Ersten Weltkrieges zur Gewähr eines deutschen Sieges in einem neuerlichen Krieg europäischen Ausmaßes. Auf die Niederlage schließlich reagierte der Verband, indem er Vorbereitungen für eine semistaatlich gesteuerte Umsiedlungspolitik im Falle des erwar-
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teten Sieges unter der Maßgabe des Schutzes der deutschen Minderheiten reformulierte. Gleichwohl spielte der Alldeutsche Verband in der entstehenden jungkonservativen Bewegung der 1920er Jahre faktisch keine Rolle mehr, da seine überzogenen Kriegsziele und ihre ungeschickte öffentliche Kommunikation ihn für das hoch sensible Feld einer Grenzlandpolitik unter den Bedingungen von Besatzungsstatuten, Gebietsabtretungen, bevorstehenden Abstimmungen und aufbrechenden gewaltsamen Konflikten nachhaltig diskreditierten. In der mit den Krisenjahren 1919 bis 1923 identischen Gründungsphase tragender grenzlandpolitischer Organisationen und Forschungseinrichtungen der Zwischenkriegszeit war also bereits ein theoretisch fundiertes, jedoch politisch diskreditiertes ‚Westmark‘-Konzept vorhanden; es musste nicht neu erfunden, sondern neu justiert, legitimiert, kommuniziert, objektiviert und den veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Versailler Friedensordnung begünstigte diese Modernisierung indirekt, indem sie eine völkische ‚Grenzlandpolitik‘ gegenüber den abgetretenen oder internationalisierten Gebieten provozierte, aber auch, indem sie mit der Besetzung und Entmilitarisierung Westdeutschlands eine Art negative Transformation der Westgrenze in einen prekarisierten Raum unabhängig von den bestehenden Ländern und Provinzen vornahm, der von der deutschen Rechten sofort als ein Raum des Kampfes wahrgenommen und operationalisiert werden konnte. Die Eskalationen im Zuge der Ruhrkrise und des Separatistenaufstandes und die in ihnen sowohl erfahrene, als auch ausgeübte Gewalt gewannen hierbei eine enorme Symbolkraft als Fanale einer nationalistischen Wiederaneignung der ‚Westlande‘. Gleichzeitig vollzog sich eine symbolische und ideologische Aufladung des Grenzbegriffs, die aufs engste mit dem Selbstbild der jungkonservativen Diskursgemeinschaft als einer im Gewalterlebnis des Krieges und der (als dessen Fortsetzung begriffenen) ‚Grenzkämpfe‘ konstituierten, jedoch um ihre Macht betrogenen Führungselite zusammenhing. Das Raumkonstrukt ‚Grenzland‘ und das äquivalente Bevölkerungskonstrukt ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ wurden zu Schlüsselbegriffen der jungkonservativen Bewegung und Projektionsflächen ihrer Ideologie der ‚Konservativen Revolution‘. Front und Grenze verschmolzen zu einem Raum suspendierter Normalität und perpetuierter Gewalt, während die entstehenden ‚grenz- und auslandsdeutschen‘ Organisationen sowie die grenzlandpolitisch aktiven Freikorps, Jugend- und Studentenbünde sich als die Bewahrer und Erneuerer der ‚eigentlichen‘ Grenze der Nation definierten: War das Deutsche Reich aus jungkonservativer Sicht zu einem Torso ohne schützende Haut degeneriert, so erschien das eigene Handeln im Sinne des Formierungsmodells als Ersatz der zerstörten und Schaffung der Grenzen eines ‚Neuen‘ oder ‚Dritten Reiches‘. Der Begriff ‚Grenzland‘ bezeichnete in diesem Sinne also auch ein organisatorisches Projekt, das das Raumkonzept unter den Bedingungen der Kriegsfolgen und mit Blick auf eine künftige territoriale Ordnung operationalisierte. Er gewann utopischen Charakter, wurde zu einem Symbolraum der Nation und ersetzte deren vermeintlich degenerierte Mitte. So wurde eine Nation vorstellbar, die sich in ihrer Peripherie manifestierte und in den ‚Grenzund Auslandsdeutschen‘ ihre Avantgarde besaß. Diese radikale Aufwertung der Grenzen zu Übergangsräumen von der abgelehnten Republik in ein ‚Drittes Reich‘ korrespondierte aufs engste mit der paranoischen Vorstellung einer von den früheren Kriegsgegnern, insbesondere jedoch von Frankreich, plan-
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mäßig betriebenen ‚Entdeutschungspolitik‘, die sich modernster Methoden bediene und daher nur durch ebenso neuartige Organisations-, Politik-, Kampf- und Mobilisierungsformen jenseits der völkischen und alldeutschen Praxen der Kaiserzeit abgewehrt werden könne. Durch ihre situative Erprobung und Optimierung gelang es jungkonservativen Akteuren frühzeitig und effektiv, sich auf die prekären und dynamischen Situationen in den Grenzgebieten einzustellen. Vor diesem Hintergrund wurde die Politische Geographie ein zweites Mal wirksam, allerdings in ihrer ‚geopolitischen‘ Aktualisierung und Deutung durch Karl Haushofer. Anders als Ratzel, der eine universale Theorie der Grenzen formuliert hatte, war Haushofers Geopolitik der Grenzen als theoretische Grundlegung und Handlungsanleitung jungkonservativer Grenzlandpolitik angelegt. Die alldeutsche Ratzel-Rezeption umgehend, verknüpfte er die deutschsprachige Politische Geographie des Ersten Weltkrieges, darunter Brauns Konzept der ‚mitteleuropäischen Grenzmarken‘, sowohl mit der völkischen Kulturbodenforschung, als auch mit angelsächsischen, französischen, japanischen und sowjetischen Fachdiskursen und verdichtete sie zu suggestiven Raumbildern, an denen er die Stärke einer ‚wandelbaren Grenzform‘ erläuterte. Dabei radikalisierte er Ratzels Biologisierung der Grenzen zum Konzept dreidimensionaler und subjekthafter ‚Grenzkörper‘. Als instinkt- und willengeleitete Kollektivsubjekte besaßen die Grenzen für ihn die Fähigkeit, auch außerhalb des staatlichen Territoriums ‚Grenzmarken‘ zu bleiben, sofern sie ihren ‚Grenzinstinkt‘ behielten und ihre Verbindung zum ‚Grenzwillen‘ des Volkes aufrecht erhielten. Grenzlandpolitische Organisierung und Mobilisierung erschienen also als eine unmittelbare Vitalisierung der ‚Grenzmarken‘, die ihrerseits revitalisierend auf die Gesamtnation wirkten. Haushofer erweiterte das politisch-geographische Raumkonzept damit um das im Selbstbild und in der politischen Praxis der Jungkonservativen bereits angelegte Formierungsmodell: Grenzland, Granzkampf, Grenzlandforschung und Grenzlandbewegung waren gleichsam nur unterschiedliche Seiten des gleichen ‚Grenzkörpers‘. Der ‚Grenzkörper‘ wurde damit von einem Raum zu einem Subjekt permanenter Kämpfe um das knappe Gut ‚Lebensraum‘ – Kämpfe, in denen nicht Armeen, sondern die in den unterschiedlichen Grenzformen zum Ausdruck kommenden rassischen Grundlagen der Völker aufeinanderprallten. Die transformierte Grenze war also ein Ort des ‚Rassenkampfes‘, und insofern entzog sich der Kampf einer verhandelbaren Lösung. Diese unlösbare Diskrepanz der ‚Grenzformen‘ leitete Haushofer unmittelbar aus der Westgrenze ab, wo in dieser Logik ein zwingend linearisierendes romanisches Konzept mit dem Rhein als Grenzlinie einem ebenso zwingend verräumlichenden germanischen mit dem Stromgebiet von Rhein, Maas und Schelde als unteilbarem Grenzraum gegenüberstand. Johannes Wütschke hatte in einem Beitrag für Haushofers Zeitschrift für Geopolitik zuvor bereits einen durch Sperr- und Pfortenlandschaften strukturierten ‚Arelatisch-Lotharingischen Grenzsaum‘ beschrieben, der von der Kanalküste bis zu den französischen Seealpen reiche und in dem ein ‚geopolitisches Gleichgewicht‘ nur dann eintreten könne, wenn er vollständig zu Deutschland (oder zu Frankreich) gehöre; eine innerhalb des ‚Grenzsaumes‘ verortete, etwa der Sprachgrenze oder der Wasserscheide folgende Staatsgrenze war damit kategorisch ausgeschlossen. Westgrenze, Westfront und Westmark verschmolzen in Haushofers Geopolitik also zu einem einzigen Raum des Kampfes und der außer Kraft gesetzten Normalität, in dem
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sich der Grundcharakter der modernen Grenze schlechthin offenbare. Haushofer widmete der Westgrenze daher sein größtes, zwischen 1928 und 1932 jedoch nur fragmentarisch realisiertes Sammelwerk Der Rhein – Sein Lebensraum, sein Schicksal, in dem er Riehls politische Geometrie des Elsass zu einer Geopolitik des ‚Rheinraumes‘ im Sinne eines Kreuzungs-, Konfliktund Verbindungsraumes der europäischen Nord-Süd- und Ost-West-Achsen weiterentwickelte. Am Beispiel der näher untersuchten jungkonservativen Diskursgemeinschaften Deutscher Schutzbund und Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit (bzw. Volk und Reich) konnte die Neujustierung des Raumkonzepts exemplarisch verfolgt werden. Dem Etablierungsprozess der Grenzland- bzw. Westforschung teils vorgelagert, teils mit ihm einhergehend, zeigte sich die Herausbildung eines Raumbildes, das die disparaten Regionen, Konflikte und Akteure panoptisch ordnete: Es zeigte einen ringförmig um Deutschland und Österreich gelagerten Gürtel kämpfender ‚Marken‘, um den herum sich ein von Frankreich dominierter feindlicher Gürtel gelegt habe. Verlagerte sich der Blick von den außerhalb der Grenzen verorteten ‚Lebensräumen‘ der Alldeutschen auf die ‚entrissenen‘ und ‚bedrohten‘ Regionen beiderseits der neuen Grenzen, so öffnete das panoptische Bild der beiden Ringe den Kampfraum zugleich wieder nach außen. Auf eine knappe Formel gebracht, begriff sich der Deutsche Schutzbund als Gegenpol der bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert vom VDA als feindliches Vorbild identifizierten Alliance Française, sodass die deutschen ‚Westlande‘ als ein Schlachtfeld imaginierbar wurden, in das hinein Berlin und Paris ihre Truppen entsandten. Teil dieses Kampfes war die Inszenierung der ‚deutschen Westlande‘ als Ursprungs- und Kernraum der deutschen Nation mit Rhein, Maas und Schelde als seiner natürlichen geographischen Grundlage, deren späterer territorialer Zergliederung eine soziale Aufspaltung in eine autochthon-deutsche und eine urban-französische Schicht entspräche. Neben den tatsächlichen Grenzgebieten markierte der zunächst im Plural, ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre dann durchweg im Singular verwendete Terminus ‚Westland(e)‘ in der Regel die seit dem Westfälischen Frieden ‚verlorenen‘ westlichen Territorien des Reiches einschließlich der nicht zum Reich zählenden Teile Flanderns als ‚westdeutsch‘. Die Geschichte des ‚Westlandes‘ war daher im Wesentlichen die Geschichte eines kontinuierlichen französischen Griffs nach dem Rhein und eines fortgesetzten Erodierens der deutschen Westgrenze. Wir können es als einen Raum begreifen, in dem sich zwei konträre Divergenzräume, nämlich ein ‚deutscher‘ Divergenzraum zwischen der aktuellen deutschen Westgrenze und der ursprünglichen Grenze der ‚Westlande‘ und ein ‚französischer‘ Divergenzraum zwischen der ursprünglichen französischen Ostgrenze und dem Rhein als angeblichem französischem Expansionsziel überlagerten und in dessen Mitte zwei weitere, wiederum eine Divergenzzone markierende Grenzen verliefen: die aktuelle Staatsgrenze als labile Momentaufnahme des ‚Kampfes um den Rhein‘ und die Sprachgrenze als stabile ‚Ausgleichslinie‘ der sprachlich-kulturellen Durchdringung von Germanischem und Romanischem; und als eine weitere und wiederum räumliche Grenze durchzog schließlich die im Landschaftsbild sichtbar gebliebene tabula rasa der aufgelassenen Westfront den imaginierten Westen. Dieses Raumbild aktualisierte Ratzels Bild einer zerfallenen, jedoch noch nicht aufgegebenen Festung, in der sich mit den ‚grenz- und auslandsdeutschen‘ Organisationen, vor allem aber mit der Flämischen Bewegung neue Kämpfe regten. Die jungkonser-
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vative Faszination für den militanten flämischen Nationalismus fand ihre Entsprechung in einem bereits im alldeutschen Diskurs präsenten SubKonstrukt des ‚Nordwestraumes‘, in dem die Niederlande als wirtschaftspragmatischer Partner, Flandern als kämpfende antifranzösische Avantgarde und das rheinisch-westfälische Industriegebiet als Motor ökonomischer Wachstumsdynamik auf der materiellen Basis grenzübergreifender Lagerstätten, Infrastrukturen und Märkte zusammenwirkten. Wiederaufgenommene und professionalisierte bevölkerungspolitische Forschungen griffen zugleich die demographische Argumentationslinie auf und spitzten sie zum Szenario eines Niedergangs Frankreichs zu, in dessen Verlauf Geburtenrückgang, Landflucht und rassische Degeneration es den ‚eigentlichen‘, d.h. nach völkischen Abstammungskriterien definierten Franzosen auf Dauer unmöglich machten, das gesamte französische Territorium zu bewirtschaften und die am Ende des Ersten Weltkriegs erreichte Machtstellung zu wahren. Die demographische Entwicklung ließ also eine naturnotwendige Umkehr der europäischen Machtverhältnisse erhoffen, auf die es sich vorzubereiten gelte. Am Beispiel der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit mit ihrer Zeitschrift Volk und Reich, dem Nukleus des gleichnamigen späteren Verlages, konnte gezeigt werden, dass Raumkonstrukte der Mesoebene wie ‚West-‘, ‚Ost-‘ oder ‚Südostraum‘ gerade auch der Vernetzung der heterogenen und lokal spezialisierten Akteure der Grenzlandbewegung und ihrer Integration in den Schutzbund dienten. In den zwischen 1927 und 1930 publizierten Themenheften über den ‚Kampf ums Westland‘ zeigt sich Adaption und Fortschreibung des Raumkonzepts durch die spätere Funktionsgeneration der nationalsotialistischen Besatzungs- und Bevölkerungspolitik. Das charakteristische Medium dieser Adaption waren so genannte Suggestivkarten, die eine Vielzahl heterogener regionaler Textbeiträge zu homogenen visuellen Raumbildern arrangierten und simplifizierten. So haben wir es mit einem Arrangement der unterschiedlichen Regionen zum Bild einer dreigeteilten Festung mit einer nordwestlichen Bastion im niederländisch-flämischen Mündungsdelta von Rhein, Maas und Schelde, einer südwestlichen Bastion im schweizerischen Quellgebiet des Rheins und einer dazwischen liegenden weichen Westflanke des Reiches zu tun, in deren Hinterland sich mit dem Ruhrgebiet jedoch eine neue Quelle wirtschaftlicher, technischer, sozialer und nationaler Energien gebildet habe. Die traditionelle Festungsmetapher ging damit in ein Raumbild über, in dem die Dynamik der Ruhrindustrie die zerfallene Festung – immer auch lesbar als die aufgelassene Westfront – aus dem Hinterland heraus revitalisierte, während die Flämische Bewegung an vorderster Front um die ‚Nordwestbastion‘ kämpfe. Jede Region der Festung erhielt damit eine spezifische strategische und symbolische Bedeutung, so etwa die Pfalz als ‚Pivot‘ des ‚Kampfes ums Westland‘, das Aachener Grenzgebiet als momentan gefährdetster Punkt oder der ‚Eifel-Hunsrück-Block‘ als dessen größte natürliche Sperre. Am Beispiel des Ispert-Kreises haben wir zudem gesehen, wie sich dieses Raumbild über das Jahr 1933 hinweg zur Vorstellung einer ‚Westfront‘ verdichten konnte, die nicht mehr geographisch, sprachlich oder kulturell definiert war, sondern – ebenfalls rekurrierend auf Haushofer – die Reichweite faschistischer und nationalsozialistischer Ideologien nach Westen anzeigte. Die transformierte Westgrenze erschien als ideologische ‚Kampflinie‘, an der es ‚Truppenkörper‘ in Stellung zu bringen und eine ‚totale Mobilmachung‘ der Bevölkerung in die Wege zu leiten gelte. Das ‚Westland‘-Konzept erwies sich also als übersetzbar in ein Organisations-
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modell, das Ispert zunächst im Kontext des Bundes Oberland, der Mittelstelle für Jugendgrenzlandarbeit und der Deutschen Burschenschaft, seit 1932 dann im Rahmen der NSDAP, des rheinischen Provinzialverbandes und schließlich der SS schrittweise realisierte. Eng an der geopolitischen Vorstellung eines zonal gegliederten Grenzraumes und an die jungkonservative Ineinssetzung von Grenzland und Grenzlandbewegung angelehnt, zielte Ispert auf eine nationalsozialistische Durchorganisierung des ‚Westraumes‘. Dieser war für ihn daher ein konkretes politisches Projekt, das er in einem ‚Generalplan‘ zur Formierung der westdeutschen Grenzstädte zu ‚Haupt-‘ und ‚Nebenstützpunkten‘ einer von innen nach außen fortschreitenden Durchdringung und Infiltration ausformulierte. In die gleiche Richtung zielten ein ‚WestraumForschungsprogramm‘, das politisch und planerisch relevantes Wissen ohne Konsultation der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft ermitteln sollte, und die Transformation der verfügbaren grenzlandpolitischen Kontaktnetze in eine Organisation zur propagandistischen Destabilisierung der westlichen Nachbarstaaten am Vorabend des Überfalls am 10. Mai 1940. Im Zweiten Weltkrieg nun erkennen wir zunächst eine grundlegend veränderte räumliche Konstellation. Als Raum zwischen der noch geltenden und einer bereits lokalisierten und zeitweise abgeriegelten, jedoch noch nicht formal konstituierten, Westgrenze war der ‚Westraum‘ in einer rohen Form Realität geworden. In ihm setzten gewaltsame Vertreibungs- und Germanisierungsmaßnahmen ein, allerdings ohne das in der Stuckart-Denkschrift dargelegte Ziel einer vollständigen Umsiedlung der französischen Bevölkerung zu realisieren. In der exemplarisch untersuchten Publizistik des Volk und Reich-Verlages begegnen uns daher zunächst Publikationen, die, gestützt auf die nunmehr etablierte Westforschung, eine Verkleinerung Frankreichs durch demographische, wirtschaftsgeographische und historiographische Argumente legitimierten. Mit der Kriegswende, dem offenkundig werdenden Ausbleiben deutscher Siedler für den ‚Ostraum‘ und der Einbeziehung frankophoner Freiwilliger und Kollaborateure in das Projekt einer ‚Neuordnung Europas‘ trat jedoch eine revidierte Raumkonzeption in den Vordergrund. Die Semantik des Grenzlandes wich einer Semantik der Mitte, die des Kampfes einer Semantik der Europäischen, die der Festung einer des Verbindenden und Vernetzten. Der niederländisch-flämische Nordwesten, die Wallonie, Luxemburg, Lothringen und Burgund erschienen als Kernräume deutscher oder europäischer Entwicklungen, die durch Städtenetze, Wirtschaftsverflechtungen und Verkehrswege aufs engste miteinander verbunden seien. Diese neue Inszenierung des Raumes verdichtete sich in der von Reichskommissar Seyß-Inquart herausgegebenen und von Himmler als ‚Grundlagenarbeit‘ der SS bezeichneten Zeitschrift Westland des Volk und ReichVerlages. Wie kein anderes Medium der letzten beiden Kriegsjahre stellte sie die tranformierte Westgrenze als germanisch-reichsromanischen Kulturraum und symbolische Mitte eines ‚Neuen Europa‘ vor, setzte ihn zur historischen Ostkolonisation in Beziehung und warb um Kollaboration bei der neuerlichen Besiedlung des ‚Ostlandes‘. Auf diese Weise in den Vernichtungskrieg und das Verbrechen der nationalsozialistischen Ostpolitik verstrickt, gewann die Rede über das ‚Westland‘ einen merkwürdig sanften Ton. Zwischen zynische Schilderungen des Ostens, zwischen Rekurse auf rassenkundliche Untersuchungen und emphatische Selbstbekenntnisse niederländischer und ‚reichsromanischer‘ Kollaborateure kamen kulturalistische und wirtschaftspragma-
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tische Raumbilder zum Vorschein, die leicht über das Kriegsende hinaus und in die europäische Integration der 1950er Jahre hinein fortschreibbar waren. Es wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung, die Verdichtung dieser neuen Semantik mit Blick auf die ‚Reichsromania‘, auf ‚Burgund‘ und auf die burgundischen Pläne der SS eingehender zu erforschen. Ebenso wäre nach den Übergängen zu fragen, die sich zwischen der nationalsozialistischen Inszenierung des ‚Westraumes‘ und der – ich möchte sagen – zweiten Transformation der Westgrenze vollzogen, jener Transformation nämlich, welche die Außengrenze der Bundesrepublik Deutschland zur Binnengrenze des integrierten Europa werden ließ und damit einen Bedarf an grenzübergreifender Identitätsstiftung entstehen ließ. Zu vermuten ist ein Hereinragen der ab der Kriegswende in den Vordergrund getretenen neuen Semantik des Verbindenden in den europäischen Integrationsprozess der Nachkriegsjahrzehnte, wenngleich dem Konzept eines ‚deutschen Westraumes‘ nun in vielerlei Hinsicht die Grundlage entzogen war. Denn weder spielte sich an der Westgrenze ein Kalter Krieg ab, der eine Aktualisierung völkischer Feindbilder und verdeckten Agierens begünstigte, noch blieben nach der Regelung der Saarfrage ungeklärte Grenzfragen zurück, und nicht zuletzt fehlte eine politische Reorganisation völkischer Grenzlandarbeit, wie die ostpolitischen Vertriebenenverbände sie darstellen. Insofern ging der ‚Westraum‘ mit dem Nationalsozialismus unter, auch wenn die Westforschung, die ihn objektiviert hatte, noch lange wirksam blieb. Jenseits dieser Fragen böte sich nicht zuletzt eine komparatistische Forschungsperspektive an, die sich nicht auf die Transformation der Westgrenze beschränkt, sondern die zu ‚Marken‘, ‚Ländern‘ und ‚Räumen‘ verwandelte Peripherie ‚des Deutschen‘ in ihrer Gesamtheit untersucht und sie mit den Begriffen vergleicht, die andere europäische Nationalismen von ihren Räumen und ihren Peripherien (sowie von den Räumen und Peripherien der Anderen) entwickelten. Am Horizont könnte sich dann so etwas wie eine Geschichte der imaginativen Geographien Europas abzeichnen, in denen sich die Realgeschichte sicher nicht eins zu eins spiegeln, vielleicht aber in neuen Brechungen darstellen wird.
ABKÜRZUNGEN Abteilung G; Abt. G Abt. III/1 AdJB ADV alldt. allg. ALVR AV BArch BDC CCW DAI DINTA DIST DSB DSt E.-M. fl. HJ HStAD KPD NEVB NIOD NS; n.s. NSB NSDAP OA PAAA Pg. RM RSHA SA SD SFB SPD SS Stapo TH VDA VDSt VFG VNV WFG
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Arlon Arlon Artois Belfort Ballon d’Alsace Besançon Boulogne Boulogne Besançon Calais Cambrai Cap Griz-Nez deutschsprachiges Gebiet um Montzen und Arel Thionville Dunkerque Dunkerque Flandern flämisches Sprachgebiet in Nordostfrankreich desgl. Franche Comté Givet Gravelines Hainaut (niederl. Henegouwen) Hesdin Hohes Venn Hussigny Cambrai Cambrai Cambrai Kemperland Kerkrade Knutagne Lunéville Lucelle Luxemburg Luxemburg Luxemburg Lunéville Maas Montbéliard Mulhouse Montbéliard Nijmegen Namur Nancy
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Plumbers Rappoldsweiler Rawon Reimersberg Ryssel St. Quentin Tull Vierten Virten Vla(a)men; vlämisch Vlamland Vlamländer Vogesus Wasgenwald Welsch-Flandern Westreich Wirten
Plombières Ribeauvillé Raon l’Etape Remirémont Lille Saint-Quentin Toul Verdun Verdun Flamen; flämisch Flandern Flamen Vogesen Vogesen flämisches Sprachgebiet in Nordostfrankreich Westrich Verdun
ARCHIVQUELLEN Bundesarchiv (BArch): R 55-217 R 60310 R 60347 R 8048-633 R 8048-634 R 8048-635 R 8048-636 Ehem. BDC, PK Heiss, Friedrich 17-10-97 Ehem. BDC, RKK Holthöfer, Robert 4-2-94 Ehem. BDC, PK Schrepfer, Hans 21-5-1897 Ehem. BDC, Z 0004 ZMW 41 ZR 920 A 63 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA): P 66807 R 105124 R 60270 Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD): NW 1022-I-42021 RW 33-4 Reg. Aachen 16977 Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR): VDA 4585 VDA 4651 VDA 4690 VDA 4691 VDA 4693 Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD): Sammlung 174b, U 25-b Sammlung 174b, U 25-c Sammlung 174b, U 25-d Sammlung 174b, U 25-e Sammlung 174b, U 25-f Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJB): UG5 Heiß Friedrich
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392 | IMAGINIERTER WESTEN
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ANHANG | 393
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394 | IMAGINIERTER WESTEN
— Linien der Ostpolitik, in: Nationalsozialistische Briefe 3 (1927), Heft 11, S. 171f. — Vom Geist der Wirtschaft, in: Der Führer. Zeitschrift des Oberlandkreises, Heft 3/4, Juli 1927, S. 6-9. — Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, in: Der Führer. Zeitschrift des Oberlandkreises, Heft 3/4, Juli 1927, S. 16-19. — Der Kampf. Eine Geschichte aus dem Weltkrieg, in: Das Dritte Reich 6 (1929), S. 247-249. — Das Land Frankreich und seine Politik, in: Westbrief, Januar 1934, S. 16. JAHN, Friedrich Ludwig: Deutsches Volkstum, Frankfurt a.M. o.J. (zuerst 1810). JESSEN, Otto: Die flämisch-niederländische Küste, in: Haushofer, Karl (Hrsg.): Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal, Bd. 1, Buch 1/II, Berlin 1930, S. 127-159. JÜNGER, Ernst: In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch, Sonderausgabe, Hamburg o.J. — Die totale Mobilmachung, in: ders (Hrsg.).: Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 10-30. — Die Mobilmachung des Deutschen, in: Widerstand 5 (1930), S. 109-112. — Das große Bild des Krieges, in: ders. (Hrsg.): Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten, Berlin 1930, S. 238-251. — Der Kampf als inneres Erlebnis, in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. 2: Essays, Bd. 7, Stuttgart 1980, S. 9-103. JUNG, Edgar Julius: Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, 2. Aufl., Berlin 1930. JUNG, Erich: Unser Recht auf Landnahme, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 226-229. JUNKER, Melchior: Die notwendige Erweiterung unserer Kriegsziele, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 519-517. JUST, Leo: Habsburgische Reichsaufgabe im Westen, in: Westland 2 (1944/ 45), S. 2-6. KERBER, Franz (Hrsg.): Burgund. Das Land zwischen Rhein und Rhone, Straßburg 1942. KEYSER, Erich: Westostwanderungen im deutschen Volksraum, in: Westland 1 (1943/44), S. 38ff. KIEPERT, Heinrich: Die Sprachgrenze in Elsass-Lothringen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 9 (1874), S. 307-316. KIESEL, Karl: Petershüttly. Ein Friedensziel in den Vogesen, Berlin 1918. KIRCHER, Rudolf: Europäische Vorfragen, in: Volk und Reich 17 (1941), S. 789-793. KJELLÈN, Rudolf: Staten som lifsform, Stockholm 1916. — Der Staat als Lebensform, Leipzig 1917. — Warum ich es mit Deutschland in diesem Weltkriege halte, Berlin o.J. [1918]. — Grundriß zu einem System der Politik, Leipzig 1920. KLENERT, Theodor: Die Wirtschaft der Schweiz, in: Volk und Reich 3 (1927), S.429-435. KÖNIG, Friedrich: Vom alten deutschen Reichs- und Volksland im Westen, in: Volz, Wilhelm (Hrsg.): Der westdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Westens, Breslau 1925, S. 62-105.
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396 | IMAGINIERTER WESTEN
LAPPENBUSCH, Johanna: Gudrun und wir. Ein Beitrag zur Rassenfrage, Leipzig 1936. LAUTENSACH, Herrmann: Deutschland und Frankreich, in: Zeitschrift für Geopolitik 2 (1925), S. 153-160. — Geopolitik und staatsbürgerliche Bildung, in: Haushofer, Karl/Obst, Erich/Lautensach, Hermann/Maull, Otto: Bausteine zur Geopolitik, Berlin 1928, S. 286-306. LEEMANS, Viktor: Aus der Gedankenwelt der flämischen Jüngeren, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 598-601. LEPAGE, Henri: Le Departement de la Meurthe. Statistique historique et administrative, Nancy 1843. — Les communes de la Meurthe. Journal historique des villes, bourgs, villages, hameaux et censes de ce departement, Nancy 1852-53. — Dictionnaire topographique du Département de la Meurthe comprenant les noms de lieu anciens et modernes, Paris 1862. LEYDEN, Friedrich: Die Maas-Schelde-Landschaft, in: Haushofer, Karl (Hrsg.): Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal, Bd. 1, Buch 1/II, Berlin 1930, S. 107-126. LIEBERT, von: Belgien, in Alldeutsche Blätter 27 (1917), S. 478f. LIEK, Walter: Der Anteil des Judentums an dem Zusammenbruch Deutschlands, in: Deutschlands Erneuerung 3 (1919), S. 29-43. LINNEBACH, Karl: Die gerechte Grenze im deutschen Westen – ein 1000jähriger Kampf. 42 Karten mit begleitendem Text unter Mitwirkung von Ernst Hengstenberg, Berlin 1926. — Die Behandlung von Streitfragen über die Entmilitarisierung in dem Vertrag von Locarno, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 738-747. LIST, Friedrich: Das nationale System der politischen Oekonomie, Stuttgart 1841. LÖFFLER, Karl: Die Wasserscheide zwischen Rhein und Donau, in: Haushofer, Karl (Hrsg.): Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal, Bd. 1, Buch 1/II, Berlin 1930, S. 70-90. LÖNING, Edgar: Die Verwaltung des General-Gouvernements im Elsaß. Ein Beitrag zur Geschichte des Völkerrechts, Straßburg 1874. LOESCH, Karl C. von: Die Grenzfrage, in: Moeller van den Bruck, Arthur/ Gleichen, Heinrich von/Boehm, Max Hildebert (Hrsg.): Die Neue Front, Berlin 1922, S. 261-265. — (Hrsg.): Volk unter Völkern (Bücher des Deutschtums, Bd. 1), für den Deutschen Schutzbund hrsg. in Zusammenarbeit mit A. Hillen Ziegfeld, Breslau 1925. — Eingedeutschte, Entdeutschte und Renegaten, in: Volk unter Völkern (Bücher des Deutschtums, Bd. 1), für den Deutschen Schutzbund hrsg. v. dems. in Zusammenarbeit mit A. Hillen Ziegfeld, Breslau 1925, S, 213241. — (Hrsg.): Staat und Volkstum, für den Deutschen Schutzbund hrsg. in Zusammenarbeit mit A. Hillen Ziegfeld (Bücher des Deutschtums, Bd. 2), Berlin 1926. — Der großdeutsche Gedanke und die „Vereinigten Staaten“ von Europa, in: Volk und Reich 2 (1926), S. 9-26. — Paneuropa – Völker und Staaten. Eine Untersuchung der geopolitischen Grundlagen (Auszug), in: Volk und Reich 2 (1926), S. 378-382. — Volkspolitik und Wirtschaft, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 153-159.
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398 | IMAGINIERTER WESTEN
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Karten und Kartenwerke ANONYMUS: Der Arelatisch-Lotharingische Grenzsaum (nach Wütschke), in: Lautensach, Hermann: Geopolitik und staatsbürgerliche Erziehung, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1924), S. 467-476, hier: 471. ANONYMUS: Der Westraum mit Westwall und Maginot-Linie. Das Neue Europa (mit Nebenkarten: Der vorderasiatische Raum als wirtschaftliches Kampfgebiet), Maßstab 1:2.000.000, Leipzig 1939. BOECKH, Richard: Sprachkarte vom Preußischen Staat nach den Zählungsaufnahmen im Jahre 1861, i. Auftrage des Kgl. Statistischen Bureaus bearbeitet, 2. Blätter, Berlin 1863. — /KIEPERT, Heinrich: Historische Karte von Elsass und Lothringen. Zur Übersicht der territorialen Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert nach Original-Quellen bearbeitet, Berlin 1870. BRAUN, Gustav: Skizze von Mitteleuropa und seinen Grenzmarken, in: ders.: Mitteleuropa und seine Grenzmarken. Ein Hilfsbuch für geographische Studien und Exkursionen, Leipzig 1917, Tafel II. INSTITUT FÜR GESCHICHTLICHE LANDESKUNDE DER RHEINLANDE: Die Rheinlande im Jahre 925, in: Wentzcke, Paul/Lux, Hans Arthur (Hrsg.): Rheinland. Geschichte und Landschaft, Kultur und Wirtschaft der Rheinprovinz, Düsseldorf 1925, S. 17. KIEPERT, Heinrich: Nationalitäts-Karte von Deutschland, Weimar 1848. — Völker- und Sprachen-Karte von Deutschland und den Nachbarländern im Jahre 1866, Berlin 1867. — Specialkarte der deutsch-französischen Grenzländer mit Angabe der Sprachgrenze, Berlin 1867. — Specialkarte des Deutschen Reichslandes Elsass-Lothringen. Im Auftr. d. Kaiserlichen Oberpräsidenten zu Straßburg nach amtlichen Quellen bearb., 2. Aufl., Berlin 1888. KUTSCHEID, Johann Val.: Karte der Deutsch-Französischen Gränzländer mit Angabe der seit dem 17. Jahrh. von Deutschland abgerissenen Landtheile und der Deutsch-Französischen Sprachgränze, Berlin 1859. LINNEBACH, Karl: Die gerechte Grenze im deutschen Westen – ein 1000jähriger Kampf. 42 Karten mit begleitendem Text (Rheinische Schicksalsfragen, Bd. 13/14), Berlin 1926. — Der Kampfplatz – das Stromgebiet des Rheins, in: ders.: Die gerechte Grenze im deutschen Westen – ein 1000jähriger Kampf. 42 Karten mit begleitendem Text (Rheinische Schicksalsfragen, Bd. 13/14), Berlin 1926, Karte 1. NABERT, Heinrich: Die Verbreitung der Deutschen in Europa 1844-1888. Zwei Karten im Maßstab 1:2,5 Mio, Nachdruck mit Begleittext von Wolfgang Hendlmeier (Schriftenreihe des Bundes für deutsche Sprache und Schrift, H. 12), Bayreuth o.D. [1994]. OVERBECK, Hermann/Sante, Georg Wilhelm (Hrsg.): Saar-Atlas, Gotha 1934. PENCK, Albrecht/ZIEGFELD, Arnold Hillen: Karte des deutschen Volksund Kulturbodens, in: Loesch, Karl C. von (Hrsg.): Volk unter Völkern (Bücher des Deutschtums, Bd. 1), für den Deutschen Schutzbund hrsg. in Zusammenarbeit mit A. Hillen Ziegfeld, Breslau 1925, S. 72. VOGEL, Walter: Frankreichs Länderraub seit 1000 Jahren, in 10 Karten dargestellt, hrsg. v. Deutschen Schutzbund, Berlin 1923.
ANHANG | 429
VOLK UND REICH: Der west-mitteleuropäische Grenzraum in seiner räumlichen Ausdehnung (entworfen von Walter Geisler), in: Geisler, Walter: Der Grenzraum zwischen West- und Mitteleuropa (Zur Wirtschaftsgeographie des deutschen Westens, Bd. 1), Berlin 1937, S. 102. — Englands Raumbildung an den Küsten der Nordsee, in: Heiß, Friedrich (Hrsg.): Deutschland und der Westraum, Berlin 1941, S. 173. WUCHER, Waldemar: Gegen die deutsche Einheit. 8 Karten zu den Kriegszielen der Westmächte, in: Volk und Reich 16 (1940), S. 177-189. ZIEGFELD, A. Hillen: Karte des Stromgebietes des Rheins und der deutschen Westlande, in: König, Friedrich: Die deutschen Westlande (Taschenbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums, Heft 3), in Verbindung mit A. Hillen Ziegfeld und Heinz Hendriock hrsg. v. K. C. von Loesch, Berlin o. J. [1925]. S. 2. — Die natürlichen Landschaften des Rheintales, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 3. — Das Stromgebiet des Rheins und die deutschen Westlande, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 9. — Rhein und Reich (7 Karten), in: Volk und Reich (1927), S. 23-29. — Der deutsche Volksboden in Vergangenheit und Gegenwart, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 30. — Die Verkehrslage der Schweiz im Mittelalter, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 391. — Politischer Hohlraum in Habsburgs Westpolitik, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 397. — Die Auflösung der deutschen Westgrenze, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 399. — Die Schweiz im französischen Zangengriff, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 401. — Die Schweiz als mitteleuropäischer Randstaat, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 407. — Raumpolitische Isolierung der Schweiz 1850-1870, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 409. — Die Gefahrlage der Schweiz unter der Versailler Ordnung, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 413. — Elsaß-Lothringen, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 285. — Nordwesteuropa. Lage und Hinterland, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 531. — Nordwesteuropa als Sammelbecken, Volk und Reich 3 (1927), S. 531. — Nordwesteuropas natürliche Einheit, in: Volk und Reich 3 (1927), S. 543. — Die Pfalz im deutschen Westraum, in: Volk und Reich 4 (1928), S. 267. — Der Kampf ums Westland. Eine Rückschau und Zusammenfassung aus drei Jahren Westarbeit von „Volk und Reich“, in: Volk und Reich 5 (1929), S. 608-776.
Graphische Werke WEBER, A. Paul: Grenzland. 9 Holzschnitte, hrsg. v. Deutschen Grenzkampfbund, Berlin 1932. — Blutende Grenze, in: Widerstand 7 (1932), S. 19. — Grauen vor dem Osten, in: Widerstand 7 (1932), S. 370. — Das Ende, in: Widerstand 8 (1933), S. 69.
DANK Nach dem Abschluss der Untersuchung bleibt die Frage, auf wessen Wissen, auf wessen Ermutigung und auf wessen Kritik sie aufbaut. Es wird nicht möglich sein, alle zu benennen, mit denen ich über den „Westraum“ sprach und deren Antworten auf die eine oder andere Weise Eingang in meine Arbeit fanden. Stellvertretend für viele seien meine Freunde Alfred Schobert und Dr. Hermann-Josef Diepers genannt, die im Abstand weniger Monate starben und denen ich die Untersuchung gewidmet habe. Mein Dank gilt in erster Linie meinen wissenschaftlichen Betreuern, Professor Armin Heinen und Professor Helmut König, die meine Untersuchung mit großem Vertrauen begleitet haben. Herrn Heinen danke ich besonders für seinen Rat, mich vor dem Hintergrund des spatial turn mit den beiden Ansätzen der Begriffsgeschichte und der history of political concepts zu beschäftigen. Für ihre Anregungen zur Geschichte der Grenzkonzepte danke ich Professorin Christine Roll, die auch meine Disputation geleitet hat. Die Dissertation resultierte aus einem Interesse an der Rechtsextremismusforschung, die für mich untrennbar mit Professor Kurt Lenk verbunden ist. Sie entstand zum größten Teil während meiner Tätigkeit für das Forum Technik und Gesellschaft der RWTH Aachen, von dessen interdisziplinärem Selbstverständnis ich sehr profitierte und dessen langjähriger Leiter, Professor Max Kerner, großen Anteil an meiner Untersuchung nahm. Darüber hinaus danke ich Professor Albrecht Betz für das Interesse, das er ihr auf der Basis unserer gemeinsamen Beschäftigung mit intellektueller Kollaboration entgegenbrachte. Außerhalb der Aachener Universität halfen mir Dr. Michael Fahlbusch, Dr. Ingo Haar, Prof. Dr. Peter Schöttler, Dr. Wolfgang Freund, Burkhard Dietz und Georg Mölich, meine Beobachtungen einzuordnen, sie kritisch zu reflektieren und in die Fachdebatte einzubringen. Herrn Fahlbusch danke ich ganz besonders dafür, dass er mir seinen umfangreichen Quellenbestand zur Verfügung stellte. Leider habe ich viel zu wenig davon tatsächlich aufnehmen können. Von meinen Freunden und Kollegen haben Richard Gebhardt, Gerd Krauß, Klaus Schymiczek, Vanessa Mai, Karl Kegler, Dr. Stefan Krebs, Dr.-Ing. Gunter Heim, Dr. Marc Engels und manche andere mir durch ihre Fragen, ihre Kritik und ihr Zuhören geholfen. Für die Betreuung des vorliegenden Buches seitens des Transcript-Verlages danke ich Alexander Masch, für das entscheidende Korrekturlesen vor Drucklegung Jannis Kompsopoulos. Mein besonderer Dank gilt nicht zuletzt dem Landschaftsverband Rheinland, der die Veröffentlichung mit einem Druckkostenzuschuss ermöglichte. Meinen Kindern Lea, Merle und Lasse, meiner Frau Marion Risters und meinen Eltern werde ich auf anderem Wege danken. Eine einfache Danksagung auf der letzten Seite meines Buches scheint mir zu wenig zu sein.
Histoire Thomas Etzemüller (Hg.) Die Ordnung der Moderne Social Engineering im 20. Jahrhundert Juni 2009, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1153-3
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (2. unveränderte Auflage 2009) 2007, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-773-8
Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz (Hg.) Väter, Soldaten, Liebhaber Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader 2007, 432 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-664-9
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Histoire Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus 2008, 352 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-955-8
Massimo Perinelli Fluchtlinien des Neorealismus Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943-1949 April 2009, 334 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1088-8
Achim Saupe Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman Juni 2009, ca. 574 Seiten, kart., ca. 44,80 €, ISBN 978-3-8376-1108-3
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Histoire Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst Nationale und internationale Perspektiven 2008, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-963-3
Rheinische Archivberatung – Fortbildungszentrum Brauweiler Landschaftsverband Rheinland (Hg.) Eine Gesellschaft von Migranten Kleinräumige Wanderung und Integration von Textilarbeitern im belgisch-niederländischdeutschen Grenzraum zu Beginn des 19. Jahrhunderts 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1059-8
Stefanie Michels Schwarze deutsche Kolonialsoldaten Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika April 2009, 264 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1054-3
Nina Möllers Kreolische Identität Eine amerikanische ›Rassengeschichte‹ zwischen Schwarz und Weiß. Die Free People of Color in New Orleans 2008, 378 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1036-9
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