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German Pages X, 333 [334] Year 2020
Walter Otto Ötsch Silja Graupe Hrsg.
Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft Zur Geschichte und Aktualität imaginativer Fähigkeiten in der Ökonomie
Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft
Walter Otto Ötsch · Silja Graupe (Hrsg.)
Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft Zur Geschichte und Aktualität imaginativer Fähigkeiten in der Ökonomie
Hrsg. Walter Otto Ötsch Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung Bernkastel-Kues, Deutschland
Silja Graupe Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung Bernkastel-Kues, Deutschland
ISBN 978-3-658-29410-6 ISBN 978-3-658-29411-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
In der ökonomischen Forschung findet in letzter Zeit in Teilbereichen ein Umdenken statt: Wirtschaftliche Entwicklung gilt nicht mehr als von quasi-mechanischen Gesetzmäßigkeiten oder blinden Sachzwängen getrieben, sondern von Imaginationen, Narrativen und Diskursen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch wie kommen die Bilder ins Leben, die wirtschaftliches Handeln anleiten, oder jene Bilder über die Wirtschaft, die politische Diskurse bestimmen? Wer produziert sie und auf welche Weise werden sie wirksam? Und wer trägt Verantwortung für allgemein geteilte Bilder über die Wirtschaft? Eine Ökonomie, die einen fundierten Beitrag zur Gesellschaftsgestaltung leisten möchte, muss diese Fragen ernst nehmen. Dafür hat sie die Erforschung der Bildlichkeit unserer heutigen Wirtschaft einerseits und die imaginativen Fähigkeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure andererseits in den Blick zu nehmen. Dabei geht es nicht nur um neue deskriptive Beschreibungen, sondern auch um die Frage, wie die Ökonomie zur (Wieder)Aneignung der Imagination als einer produktiven, aktiven und ethisch fundierten Tätigkeit des Menschen befähigen kann. Wie kann sie den Gemeinsinn sowohl im erkenntnistheoretischen als auch moralischen Sinne stärken? Der vorliegende Band stellt ein erstes Grundlagenwerk zur Imaginationsforschung in der Ökonomie dar. Dafür bringen seine Autorinnen und Autoren die Wirtschaftswissenschaften in Dialog mit der Kulturgeschichte, der Philosophie, den Sprachwissenschaften, mit Medientheorien sowie der Anthropologie. Sie zeigen auf, wie die schöpferische Imagination im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften (auch mit Bezug zu analogen Entwicklungen in der Philosophie) verlorenging und zugleich, wie sie wiederbelebt werden kann. Walter Otto Ötsch Silja Graupe
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Inhaltsverzeichnis
Imagination und Bildlichkeit in der Ökonomie – eine Einführung. . . . . . 1 Walter Otto Ötsch und Silja Graupe Zur Theorie und Philosophie des Bildes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Karl-Heinz Brodbeck Diltheys Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Ralf Lüfter Die Selbstwahrnehmung der Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Karl-Heinz Brodbeck „Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Silja Graupe Bilder in der Geschichte der Ökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Walter Otto Ötsch Auswege aus dem Labyrinth der phantasmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Hans Schelkshorn Erwarten, Vorstellen, Entscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Birger P. Priddat „The promised land“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Ivo De Gennaro Das massenmediale Bild als konstitutives Moment des Geldes . . . . . . . . . 297 Simon Küffer „Bildnerisches Denken“ als Wissensform der Ökonomie?. . . . . . . . . . . . . 317 Steffen W. Groß VII
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Prof. Dr. Walter Otto Ötsch Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Bernkastel-Kues, Deutschland Prof. Dr. Silja Graupe Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Bernkastel-Kues, Deutschland
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck ist Professor i.R. an der Hochschule für angewandte Wissenschaften, Würzburg-Schweinfurt, und an der Hochschule für Politik, München. Forschungsgebiete und Publikationsfelder: Ökonomische Theorie und Geschichte, Erkenntnistheorie, Geldphilosophie, Kreativitätsforschung, Buddhistische Philosophie, Ethik. Prof. Dr. Ivo De Gennaro ist Assoziierter Professor für Moralphilosophie an der Freien Universität Bozen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Hermeneutische Phänomenologie, Philosophie der Ökonomie, ethische Grundfragen der Wissenschaft und Kunst, Philosophie der Zeit. Prof. Dr. Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, sowie Mitbegründerin und Vizepräsidentin dieser Hochschule. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ökonomische Bildung, interdisziplinäre Lehrbuchforschung, der interdisziplinäre Bereich von IX
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Ökonomie und Philosophie (insb. mit Schwerpunkt auf erkenntnistheoretischen Fragen sowie auf der Begriffs- und Ideengeschichte der Ökonomie) sowie die Wirkungsforschung der Ökonomie. Prof. Dr. Stephen W. Groß ist außerplanmäßiger Professor im Fachgebiet Volkswirtschaftslehre-Mikroökonomik an der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie der Volkswirtschaftslehre, Wirkungszusammenhänge von wirtschaftswissenschaftlicher Theoriebildung und wirtschaftlicher Praxis (Theorie-Praxis-Nexus) und Ökonomik von Kulturgütern und des Kulturgüterschutzes. Simon Küffer ist Grafikdesigner, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Hochschule der Künste und der Universität Bern. Er beforscht Kommunikationsdesign und massenmediale Bilder als Visuelle Rhetorik, dies aktuell mit den Schwerpunkten: Geld, ästhetischer Kapitalismus, Zusammenhänge zwischen visueller Kultur und Ökonomie. Prof. Dr. Ralf Lüfter ist Assistenz-Professor für Philosophie an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Bozen, sowie Direktor der Ezra Pound Forschungsstelle an der Akademie Meran. Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in der Philosophie der Ökonomie, der Wirtschaftsethik und der Wissenschaftsphilosophie. Im Rahmen eines auf mehrere Jahre angelegten Forschungsprojektes bemühte er sich zuletzt um die Freilegung von Quellen ökonomischen Wissens in Dichtung und Philosophie, Kunst und Wissenschaft. Prof. Dr. Walter Otto Ötsch ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Seine Fachgebiete sind die Kultur- und Wirkungsgeschichte der Wirtschaftstheorie, Fragen der Wirtschaftsphilosophie, der politischen Kommunikation und der Wissensproduktion sowie institutionelle Aspekte des aktuellen Wirtschaftssystems. Prof. Dr. Birger P. Priddat ist Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie an der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftsphilosophie, Institutionenökonomie, Theoriegeschichte der Ökonomie, digitale Transformation. Prof. Dr. Hans Schelkshorn ist Professor für Christliche Philosophie an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: praktische Philosophie, Religionsphilosophie, Theorien der Moderne, interkulturelle Philosophie (Schwerpunkt: lateinamerikanische Philosophie)
Imagination und Bildlichkeit in der Ökonomie – eine Einführung Walter Otto Ötsch und Silja Graupe
Zusammenfassung
Die Einführung informiert über die Intention des Buches: einen Aspekt des wirtschaftenden Menschen in den Vordergrund zu stellen, der in der zeitgemäßen Ökonomik wenig untersucht wird – nämlich seine Fähigkeit Bilder wahrzunehmen, zu deuten, zu produzieren und zu teilen und darauf seine sozialen Wahrnehmungen und sein soziales Handeln zu begründen. Genau dieser Aspekt ist bei Adam Smith in der Theory of Moral Sentiments zu finden, wurde in der Geschichte der ökonomischen Theorie bald vergessen, in der Neoklassik geleugnet und bleibt im Wissenskonzept von Hayek nur einer selbst ernannten Elite von original thinkers vorbehalten. Schlüsselwörter
Bildertheorie · Adam Smith · Geschichte der Ökonomik · Imagination Unübersehbar ist die Fülle von Bildern geworden. Sie bilden die Wirtschaft nicht nur ab, sondern gestalten sie in hohem Maße. Die Charts abstürzender Börsenkurse z. B., die 2008 medial vermittelt wurden, haben sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben. Auf sie wurde in aller Welt mit panischen Verkäufen reagiert,
W. O. Ötsch (*) · S. Graupe Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Bernkastel-Kues, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Graupe E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_1
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neue Bilder wurden fast in Echtzeit rund um den Erdball verbreiten, auf die weitere Akteure reagierten, usw. Selbstverständlich sind die Kartons, die in großer Eile aus den Büros von Lehman Brothers in New York getragen werden, ebenso echt, wie ihre Eigentümer und ihr wirtschaftliches Schicksal. Und dennoch sind es die Bilder von diesem Ereignis, nicht die Erfahrung selbst, auf die die Öffentlichkeit und die Politik reagiert haben. Die Wirtschaft, so kann man sagen, speist sich heute in hohem Maße nicht mehr nur aus unmittelbaren physischen Bedingungen (etwa der Produktion) oder zwischenmenschlichen Beziehungen (beispielsweise im Tausch), sondern aus der Anschauung von Bildern. Dies gilt nicht nur für Ausnahmeereignisse wie die Finanzkrise 2008, sondern für eine Fülle alltäglicher Praktiken in der Wirtschaft, beispielsweise auf jene, die sich auf die Zukunft beziehen, die – so kann vermutet werden – mit Hilfe von imaginierten Zukunftsbildern zugänglich wird. Ebenso kann die Wirkung der allgegenwärtigen Werbung auf die B eeinflussung unbewusster Vorstellungen zurückgeführt werden. In diesen Prozessen ist es, worauf die Künstlerin Sandra del Pilar hinweist, nahezu unausweichlich, dass sich Bilder auf Bilder zu beziehen beginnen, ohne je noch eine irgendwie geartete reale Erfahrungswelt zu berühren. Es entsteht eine Art Netz visueller Eindrücke: del Pilar nennt es in Anlehnung an den Terminus „Hypertexualität“ des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette treffend „Hyperpikturalität“. Dieses Netz kann sich derart verdichten, „dass es zur Formierung einer eigenen Realität kommen kann, einer mentalen Wirklichkeit, obgleich man sie nicht am eigenen Leib erlebt hat, doch ebenso präsent und bestimmend für das physische Dasein sein kann.“ (Pilar 2009)
Bilder der Wirtschaft, Bilder über Zustände der Wirtschaft, Bilder von designte Produkten, Bilder über die Auswirkungen auf die Zukunft, … – all diese Bilder werden somit als Realität empfunden – und wirtschaftliche Handlungen stellen Reaktionen auf diese Art der Empfindung dar. Bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat Walter Lippmann auf die Dreiecksbeziehung zwischen dem Menschen, seiner Handlungswelt und dem Reich der Bilder verwiesen, das er als Pseudo-Umwelt bezeichnet hat (vgl. Ötsch und Graupe 2018). Je mehr der Unterschied zwischen der Pseudo-Umwelt und der real erfahrbaren Umwelt schwindet – unsere Studierenden etwa vermögen im Zeitalter der selbstverständlichen Nutzung digitaler Medien kaum noch systematische Differenzen auszumachen – so sehr wachsen sich die Bilder von der Wirtschaft und über ihre Aspekte zu einem eigenständigen Subjekt aus. Bildliche Vorstellungen von der Wirtschaft, die eigentlich stets der kritischen Reflexion ob ihrer Stellung zur Realität bedürften, wandeln sich in eine Bildlichkeit der Wirtschaft um, die
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Menschen mehr und mehr unkritisch als eigene Wesenheit zu behandeln auf diese bloß noch passiv zu reagieren drohen. Die Erforschung des bildlichen Charakters der Wirtschaft ist in den letzten Jahren auch zum Gegenstand interdisziplinärer ökonomischer Forschung geworden.1 Doch bleibt dabei bislang ein wesentlicher Aspekt eher unberücksichtigt. Es ist
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vielen Wissenschaften hat eine „ikonische Wende“ stattgefunden, auch als „iconic“, „pictorial“, „imagic“ oder „visualistic turn“ bezeichnet. Beispiele aus der Wirtschaftssoziologie bzw. den Wirtschaftswissenschaften sind: (1) die These von Andreas Langenohl (2010), dass die Finanzmärkte langfristig durch ein „Imaginäres“ erklärt werden müssen, Langenohl rekurriert dabei vor allem auf Cornelius Castoriadis (1990); (2) der Befund von Elena Esposito, durch die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung sei es ab der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer „Realitätsverdoppelung“ gekommen: sie meint die neue mit Wahrscheinlichkeitstheorien, d. h. fiktional berechnete Welt, die aber im Hinblick auf Zukunftsentscheidungen keine Sicherheit, aber dennoch Orientierung bieten kann: „Das Wahrscheinliche ist fiktional, aber nur deshalb funktioniert es, und nur deshalb bietet uns jene Orientierungsmöglichkeiten, die die ‚reale Realität‘ nicht bieten kann“ (Esposito 2014, S. 55). Aber diese basieren notwendig auf Szenarien: „Man entwickelt ein Szenario für die Zukunft und entscheidet sich dann in der Gegenwart, man definiert das Sichere über das Unsichere“ (ebenda. S. 83). (3) Ekaterina Svetlova entwickelt den Ansatz, man müsse ein kontrafaktuelles Denken als analytisches Werkzeug für Finanzentscheidungen verstehen: Investoren „sehen“ etwas, was andere nicht „sehen“ (vgl. Svetlova 2009): bzw. allgemeiner: „Equities are made valuable while they are constructed as „investment objects“ by means of models and stories; however, models’ results are frequently guided by the imagination and narratives of their users.“ (Svetlova 2018, S. 152); (4) die Analysen von Birger Priddat, z. B. in einer direkten Kritik der Standardökonomie: „Vieles, was in der Ökonomik bisher als Preis/Mengen/Qualitätsbewertung gerechnet wird, erweist sich als durch Kommunikations- und Narrationsprozesse moduliert. Erwartungen z. B. sind narrativ wie kommunikativ generierte kognitive Programme oder Skripten, die mit erzähltheoretischen Konzepten (Fiktion, Simulation, Imagination) konziser erschlossen werden können als mit den kognitivistischen Bestimmtheiten, die sich die Ökonomie selbst verleiht.“ (Priddat 2016, S. 83). Aber Narrationen könnte man auch direkt auf eine Basis von Bildlichkeit beziehen. (5) die Analysen von Jens Beckert, dass ökonomische Entscheidungen notwendig unter Bedingungen fundamentaler Ungewissheit stattfinden, sie müssen deshalb in Fiktionen verankert sein: „‚Fiktionalität‘ umfasst die Vorstellungen des zukünftigen Zustands der Welt und der kausalen Mechanismen, die zu diesem Zustand führen. Akteure werden durch diese Imaginationen der Zukunft motiviert und organisieren ihre Handlungen auf ihrer Grundlage. Da die Vorstellungen nicht an die empirische Realität gebunden sind, ist Fiktionalität auch eine Quelle der Kreativität“ (Beckert 2011, S. 1). Beckert weist in seinem neuen Buch Imaginative Zukunft „Bilder der Zukunft eine tragende Rolle“ für ein Verständnis des Kapitalismus zu (S. 13). Sein Ansatz basiert auf dem Konzept von „fiktionalen Erwartungen“. Sie werden definiert als „Bilder, die ein Akteur in seiner Vorstellung heraufbeschwört, wenn er über zukünftige Zustände der Welt nachdenkt […]“ (Beckert 2018, S. 23 f.), aber Beckert entwickelt seine Theorie in den Termini von Narrationen und spricht kaum explizit über Bilder.
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dies die Frage nach dem Ursprung der Bilder und – in der Folge – nach ihrer potentiellen Gestaltbarkeit. Warum und in welcher Weise besitzen Menschen imaginativ-produktive Kräfte? Woraus entspringen sie und in welcher Weise sind sie für wirtschaftliches Handeln relevant? Und: Wer schafft die heutigen Leitbilder der Wirtschaft und wer vermag sie verantwortlich zu gestalten? Im vorliegenden Sammelband gehen wir dieser Frage auf eine grundlegende Weise nach, indem wir die Imaginationsfähigkeit des Menschen im Allgemeinen und von ökonomischen Akteuren im Besonderen in den Mittelpunkt interdisziplinärer Forschung stellen. Eine lange philosophische und durchaus auch wirtschaftswissenschaftliche Tradition besagt, dass Bilder weder einfach „da“ sind, noch lediglich aus den Tiefen des Unbewussten irgendwie emporsteigen. Es liegt vielmehr in der schöpferischen Fähigkeit des Menschen, bildliche Vorstellungen individuell wie kollektiv zu schaffen (nach Adam Smith kommt das, wie wir gleich sehen werden, durch seine imagination zustande), auf denen seine moralischen Bewertungen ebenso wie seine Vernunft (ausgedrückt in Sprache und Symbolen) sowie seine sittlichen Handlungsprinzipien beruhen. Doch ist in der Ökonomie heute, wie wir in Teil 3 knapp umreißen, ist ein umfassendes Verständnis dieser Fähigkeit zur aktiven Imagination nicht mehr zu finden. Vorherrschend ist (wenn dies überhaupt thematisiert wird) eher die Vorstellung einer passiven und sich lediglich stillschweigend vollziehenden Einprägung von Bildern in das menschliche Unbewusste. Weder vermögen Ökonomen mehr zu sagen, welche Bilder ihren eigenen wissenschaftlichen Verstand prägen, noch wie handlungsleitenden Bilder und Leitbilder der Wirtschaft in der Imagination wirtschaftlicher Akteure entstehen. Kurz gesagt, unternimmt der vorliegende Band den Versuch, diese Forschungslücke zu schließen, indem er erstmalig grundlegende Beiträge zur Imaginationsforschung in der Ökonomie vereinigt. Wir versuchen einen Aspekt des wirtschaftenden Menschen zu thematisieren, der in der zeitgemäßen Ökonomik wenig untersucht wird: nämlich seine Fähigkeit Bilder wahrzunehmen, zu deuten, zu produzieren und zu teilen und darauf sowohl seine soziale Wahrnehmung als auch sein soziales Handeln zu begründen (vgl. bereits Van den Berg und Priddat 2009). Wir wollen damit einen Beitrag zu einer Grundlagendebatte in der Theoriebildung der Ökonomik liefern. Weil es um kategoriale Fragen geht, wurden zu diesem Versuch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Bereich der Ökonomik eingeladen, die an philosophischen Fragestellungen Interesse haben, sowie Philosophen und Philosophinnen und philosophisch orientierte Kultur wissenschaftlerInnen, die zu ökonomischen Themen arbeiten. Das Buch will einen inter- oder transdisziplinären Dialog der Felder Ökonomie und Philosophie dokumentieren, der vor
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einigen Jahren an der Cusanus Hochschule begonnen wurde (u. a. in einem Workshop im September 2016, einer Tagung im Mai 2017 – vgl. dazu Ötsch und Graupe 2018 – und einem Workshop im Dezember 2019) und in den nächsten Jahren fortgesetzt werden soll.2 Die Thematik von Bildlichkeit scheint uns (das können wir in diesem Band nur andeuten) Aspekte der aktuellen Gesellschaft verstehbar zu machen, die in hohen Maße auf der andauernden bewussten (auch manipulativen) Produktion von Bildern beruht, die aber gleichzeitig kaum einen Diskurs darüber zu führen vermag – auch weil der Aspekt der Bildlichkeit gleichsam in ein gesellschaftliches Unbewusstes verbannt worden ist.
1 Bildlichkeit in ausgewählten Philosophien Der altmodisch klingende Ausdruck Bildlichkeit weist auf Aspekte in der Produktion, der Verwendung und dem Verstehen von Bildern hin. So kann man von der Predigt im Mittelalter behaupten, sie würde eine mediale Sonderstellung zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit aufweisen (Wetzel und Flückiger 2010). Dabei sind sowohl äußere (sinnlich wahrnehmbare bzw. materiell existente) Bilder (pictures) als auch innere (imaginierte bzw. simulierte oder mental vorgestellte) Bilder (images) gemeint. Der Begriff Bild selbst ist wie jeder grundlegende Begriff nicht eindeutig definiert und wird zudem in einer großen Bedeutungsvielfalt verwendet (vgl. Mersch und Ruf 2014). William Mitchell spricht von einer „Familie von Bildern“: „Wir sprechen von Gemälden, Statuen, optischen Illusionen, Karten, Diagrammen, Träumen, Halluzinationen, Schauspielen, Gedichten, Mustern, Erinnerungen und sogar von Ideen als Bildern, und allein schon die Buntheit dieser Liste läßt jedes systematische, einheitliche Verständnis unmöglich erscheinen. Zweitens wird man sich darüber wundern, daß die Tatsache, daß alle diese Dinge den Namen Bild tragen, noch lange nicht heißt, daß ihnen allen etwas gemeinsam ist. […] Jeder Zweig dieses Stammbaums bezeichnet einen Typ von Bildlichkeit, der im Zentrum einer intellektuellen Disziplin steht: geistige Bildlichkeit gehört zum Psychologie und zur Erkenntnistheorie; optische zur Physik; graphische, plastische und architektonische Bildlichkeit zur Kunstgeschichte; sprachliche Bildlichkeit
2Vgl. dazu den Schwerpunkt „Bildlichkeit und Verlust von Bildlichkeit in Philosophie und Ökonomie“ in der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie Band 41(3) mit den Aufsätzen Graupe (2016a), Schneider (2016), Ötsch (2016b) und Zeyer (2016).
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W. O. Ötsch und S. Graupe zur Literaturwissenschaft, perzeptuelle Bilder gehören zu einem Grenzgebiet, auf dem Physiologen, Neurologen, Psychologen, Kunsthistoriker und solche, die sich mit der Optik befassen, mit Philosophen und Literaturwissenschaftlern gemeinsam arbeiten.“ (Mitchell 1990, S. 19, Hervorhebung im Original)
In vielen Bildtheorien (z. B. Boehm 1995) werden jeweils einzelne Aspekte, die einem Bild zukommen sollen, in den Vordergrund gestellt, eine allgemein akzeptierte Definition existiert nicht. Der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) führt acht konstitutive Merkmale an, die einem Bild zukommen (1995, S. 107 ff.).3 Ein Bild ist für Jonas (vgl. Schirra und Sachs-Homburg 2011, S. 152 f.) eine 1. absichtlich hergestellte 2. Ähnlichkeitsbeziehung, 3. die intentional sowohl dem Hersteller als auch dem Betrachter vermittelt wird, 4. die aber immer unvollständig sein muss, weil nur einige Merkmale herausgehoben wurden, die als „repräsentativer“ gesetzt werden. 5. Ein Bild verweist auf den Gegenstand und verfremdet ihn gleichzeitig, Jonas spricht von der „Unähnlichkeit der Ähnlichkeit“. 6. Ein Bild kommt im Prozess des Sehens zustande und wird in einer visuellen Form hergestellt. Unabhängig von Details bleibt im Bild zugleich eine Form identifizierbar erhalten. 7. Damit wird ein Gegenstand aus einer dynamischen Welt in „eine nichtdynamische Existenz [überführt], welche die Bildexistenz schlechthin ist – ein Existenzmodus, der weder mit dem des abbildenden Dings noch mit dem der abgebildeten Wirklichkeit zu verwechseln ist.“ (Jonas 1995, S. 113) 8. Ein Bild besitzt einen vom Bild unterscheidbaren Bildträger: Es kann kopiert und reproduziert werden. Bildlichkeit als Fähigkeit ein Bild wahrzunehmen, zu produzieren, zu interpretieren, etc. bezieht sich demgemäß immer zugleich auf materielle und äußere sowie mentale und innere Aspekte. Sie manifestiert sich sowohl im Wahrnehmen als auch in der Vorstellung als auch im Tun, wenn z. B. ein Bild hergestellt wird
3Vgl.
zu Folgendem Ötsch und Graupe (2018).
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oder sich spezifische soziale Praktiken daran knüpfen.4 Die vielen Aspekte in Zusammenhang mit einem Bild bedingen eine vielfältige Anwendung des Begriffs Bildlichkeit – man kann die Definition von Jonas zur Zuordnung von Bildtheorien heranziehen. In dieser Weise kann z. B. von der Bildlichkeit eines Objekts, der Bildlichkeit des Menschen, der Bildlichkeit der Wahrnehmung, der Bildlichkeit der Sprache oder der Bildlichkeit des Geistes gesprochen werden. Diese Vielfalt ist auch dadurch bedingt, weil die symbolschaffende Beziehung, die „etwas“ zu einem „Bild“ macht – wie die Begriffsbestimmung von Jonas impliziert –, nicht eindeutig festgelegt und auch nicht eindeutig festlegbar ist. Denn auch Objekte sind uns phänomenal nur über „Bilder“ zugänglich. Wir sehen Objekte über das Bild auf der Netzhaut des Auges und wir denken und reden über Objekte im Rückgriff auf symbolische Codes, die man wieder als „Bilder“ verstehen kann. Bilder verweisen immer wieder auf Bilder, in einem unendlichen Regress. Theorien des Bildes haben unmittelbar mit Grundfragen der Philosophie zu tun. In vielen Bildtheorien wird auch explizit die populäre Grenzziehung zwischen „Welt“ und „Geist“ problematisiert. Mitchell meint, dass sich „Bild“ auf beides bezieht: „Das Bild ist der in verschiedenen Ähnlichkeiten und Entsprechungen (convenentia, aemulatio, analogia, sympathica) verzweigte allgemeine Begriff, der die Welt mit „Figuren des Wissens“ zusammenhält.“ (Mitchell 1990, S. 21, Hervorhebung im Original, mit Verweis auf Foucault 1974, S. 46 ff.)
4„Ein Bild zu machen setzt die Fähigkeit voraus etwas als ein Bild wahrzunehmen, und etwas als ein Bild und nicht nur als ein Objekt wahrzunehmen bedeutet auch, imstande zu sein, eines zu machen.“ (Jonas 1995, S. 114). Dabei wird nach Jonas eine zweifache simultane Wahrnehmungsleistung aktiviert: des Gegenstandes als Gegenstand und des Bildes als Bild: „Ähnlichkeit muss […] als ‚bloße Ähnlichkeit‘ perzipiert werden und dies involviert mehr als bloße Perzeption. Bildlichkeit in der Tat ist nicht eine Funktion des sinnlichen Ähnlichkeitssatzes, sondern eine begriffliche Dimension für sich, innerhalb welcher alle Ähnlichkeitsgrade vorkommen können. Noch der größte läßt das Bild ein ‚bloßes Bild‘ bleiben, noch der kleinste kann es ein Bild des fraglichen Gegenstandes sein lassen, solange die beabsichtigte Beziehung erkennbar ist. In all diesen Graden ist das Bild, durch die Ähnlichkeitsbeziehung, das Bild von etwas, dem abgebildeten Gegenstand, mit dem selbst die beste Ähnlichkeit niemals verschmilzt. Also muss die Wahrnehmungsgleichung, die der Ähnlichkeitserfah-rung zugrunde liegt, durch eine Distinktion qualifiziert werden, die selber nicht wahrnehmungsfähig ist. Diese Distinktion […] ist zweifach: das Bild muss von seinem physischen Träger unterschieden werden, und der abgebildete Gegenstand von beiden. Mit dieser doppelten Distinktion kann Bildähnlichkeit als „bloße Ähnlichkeit“ wahrgenommen werden.“ (Ebenda, S. 115). Zu der Fülle der Aspekte allein um den Begriff mental imaginery vgl. die Aufsatzsammlung unter https://philpapers.org/browse/mental-imagery.
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In dieser Deutung sind „geistige Bilder“ nach Mitchell nicht mysteriöser als „reale Bilder“. Auf beide kann nicht direkt „gezeigt“ werden, um „jemanden, der nicht schon weiß, was ein Bild ist, zu erklären, was das ist.“ (Ebenda) Manche Bildtheorien versuchen ein Verständnis von Bildern durch den Verweis auf andere Grundbegriffe zu vermitteln. So werden Bilder als Zeichen gedeutet bzw. definiert (vgl. Nordsieck 2014), z. B. in der mittelalterlichen Scholastik, in der die Gottesebenbildlichkeit das Wesen des Menschen ausmacht: Der Mensch selbst in ein Bild, weil er ein natürliches Zeichen ist, das auf seinen göttlichen Ursprung hinweist und ihn damit verbindet. In der neuzeitlichen bzw. in der modernen Zeichentheorie hingegen wird meist (in einem vom Mittelalter unterschiedenen Verständnis von Zeichen) das Verweisungsverhältnis betont. Beispiele sind der Verweis auf reale Objekte (wie im pragmatischen Realismus bei Charles Peirce) oder auf mentale Aktivitäten (wie im analytischen Nominalismus bei Nelson Goodman). In der phänomenologischen Bildtheorie hingegen werden Bilder als sinnliche Erscheinungen aufgefasst, die auf nichts anderes verweisen bzw. auf nichts anderes reduzierbar sind (vgl. Morschek 2014). Konstitutiv für ein Bildbewusstsein sind nach Edmund Husserl drei Aspekte: „1) Das physische Bild, das Ding aus Leinwand, aus Marmor usw. 2) Das repräsentierende oder abbildende Objekt, und 3) das repräsentierte oder abgebildete Objekt.“5 „Das Bildobjekt besitzt kein Sein in Raum und Zeit und ist dennoch im Bild sichtbar.“ (Wiesing 2004, S. 91). Bei Jean-Paul Sartre ist das Bildbewusstsein vollends ein imaginatives Bewusstsein: nur der materielle Träger des Bildes werde visuell wahrgenommen, während das Bildobjekt imaginiert sei, es werde durch ein Subjekt geschaffen. Maurice Merleau-Ponty hingegen will jeden transzendentalphänomenologischen Bezug vermeiden und betont die Leiblichkeit des Wahrnehmens. Bilder sind bei ihm Wahrnehmungsreflexionen des Leibes: „Die äußere Wahrnehmung und die Wahrnehmung des eigenen Leibes variieren miteinander, weil sie nur zwei Seiten ein und desselben Aktes sind.“ (Merleau-Ponty 1965, S. 241). Ein Bild braucht nach ihm ebenso wenig wie ein Ding eigens definiert bzw. kann nicht eigens definiert werden. Denn: „Das Wahrgenommene ist nicht notwendig ein vor mir als Erkenntnisgegenstand gegenwärtiger Gegenstand“. In beiden manifestiert sich „das Wunder der realen Welt, dass in ihr der Sinn mit der Existenz gänzlich zusammenfällt und in ihr sich ein für alle Mal begründet.“ (Ebenda, S. 371 und 374).
5Husserl,
Edmund: Phantasie und Bildbewusstsein (1904/1905). In: Ders.: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigung. Den Haag/Boston/London (1980, S. 18 g), zitiert nach Morschek (2014, S. 48).
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Einen anderen Pol in der Phänomenologie nimmt Hans Jonas ein. Mit Rekurs auf Husserl versteht er die Fähigkeit des Menschen Bilder zu verstehen und Bilder zu erzeugen als das entscheidende Unterscheidungsmerkmal (differentia specifica) des Menschen zum Tier (Jonas 1961, 1995). Jonas wird so zum Begründer einer Bildanthropologie. Jonas spricht von dem „Bildvermögen“, das den Menschen als homo pictor auszeichnet – eine abstrakte und geistige Fähigkeit, die sich im Tun realisiert: „Der homo pictor erlangt erst durch die Anfertigung eines Bildes als Lebensäußerung Geltung.“ (Ulama 2011, S. 13). Nur der Mensch sei nach Jonas in der Lage, eine „unvollständige Ähnlichkeit“ zu erkennen, d. h. zu vervollständigen und dennoch die bildliche Wirklichkeit als bloß symbolische anzuerkennen (ebenda, S. 15). Mitchell spricht davon, „dass ein Bild ohne einen paradoxen Trick des Bewußtseins nicht als solches gesehen werden kann: es bedarf dazu der Fähigkeit, etwas zur gleichen Zeit als „da“ und als „nicht da“ zu sehen. Wenn eine Ente auf einen Lockvogel reagiert oder wenn Vögel nach den gemalten Tauben auf den legendären Bildern des Zeuxis picken, dann sehen sie keine Bilder: sie sehen andere Enten oder wirkliche Trauben – die Dinge selbst, nicht Bilder der Dinge“ (Mitchell 1990, S. 27, Hervorhebung im Original)
Eine andere Bildanthropologie hat Hans Belting entworfen (vgl. Halawa 2014, S. 72 ff.; Strehle 2011). Er verknüpft die Geschichte des Bildes eng mit der Kulturgeschichte des Menschen (Belting 1991, 2001, 2012). Belting deutet z. B. die archaischen Totenkulte bildtheoretisch. Mit Hilfe von Bildern konnten die Menschen die Abwesenheit der Verstorbenen rituell verarbeiten: „Der Widerspruch zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, den wir auch heute noch an den Bildern feststellen, besitzt seine Wurzeln in der Erfahrung des Todes“ (Belting 2001, S. 143).
2 Bildlichkeit bei Adam Smith Ein derart weiter Bezug zum Bildvermögen bzw. zur Bildlichkeit des Menschen führt zur Frage, ob und in welcher Weise Aspekte von Bildlichkeit im Gegenstandsbereich einzelner Human- oder Sozialwissenschaften zu finden sind. Im Feld der Ökonomie (die wir als Sozialwissenschaft verstehen) finden wir einen Tatbestand, der heute vor allem in der deutschsprachigen Ökonomik weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Adam Smith (1723–1790), der oft als Begründer einer genuin ökonomischen Theorie gilt, besitzt ein explizites bildanthropologisches Fundament (vgl. zum Folgenden Ötsch 2016b). In der Theory of Moral Sentiments
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(Smith 1976) beschreibt Smith den Menschen als bildschaffendes Wesen – und zwar in Bezug auf „innere“ Bilder. Smith stattet den Menschen mit der Fähigkeit zur Imagination aus, damit meint er ein „Sehen innerer Bilder“. Smith hat keine eigene Theorie der Imagination konzipiert, er stützt sich dabei in hohem Maße auf die Theorie der Imagination, die sein 12 Jahre älterer Freund David Hume entworfen hat. In der Philosophie von Hume spielt bekanntlich die Imagination eine große Rolle (vgl. Wilbanks 1968; Colliere 2010). So werden in seiner Theorie des Geistes „Ideen“ als „Bilder“ (images) konzipiert (Hume 1960). Sie beziehen sich auf „Impressionen“, das sind Sinneseindrücke (impressions of sensations) und „Empfindungen“ (impressions of reflections). Impressionen und Ideen unterscheiden sich nach Hume nicht hinsichtlich ihrer „Natur“, sondern nur hinsichtlich ihrer „graduellen Erlebnisintensität“ („only in their strength and vivacity“, ebenda, S. 19): Ein Objekt aktuell zu sehen und ein Objekt sich gedanklich (bildlich) vorzustellen macht nach Hume keinen qualitativen Unterschied aus. Imaginationen stellen für ihn die Basis des Menschen in seinem Zugang zur Welt dar. Bekannt ist Humes Konzept der Kausalität: „Ursache“ und „Wirkung“ sind für ihn keine intrinsischen Eigenschaften der Außenwelt bzw. der Objekte, sondern Zutaten, die der menschliche Geist (nicht rein logisch, sondern imaginativ) nach wiederholtem Auftreten von Ereignisketten vornimmt.6 Alle basalen kognitiven Einheitsoperationen werden von Hume imaginativ begründet, wie das Konzept einer Substanz in der Natur sowie einer personalen Identität im Menschen. 7 Eine analoge Vorgangsweise finden wir bei Smith: Ohne Imaginationen kann sich der Mensch weder in der physikalischen noch in der sozialen (und ökonomischen) Welt orientieren. Mit imagination spricht Smith bildhafte Vorgänge
6„Damit
erhalten innerhalb der intellektuellen Fähigkeiten die imaginativen gegenüber den kognitiven eine ganz außerordentliche Bedeutung. Denn nicht mit Hilfe des reinen Denkens, sondern mit Hilfe der Einbildungskraft ordnen wir die Welt der Impressionen nach kausalen Gesichtspunkten. Mittels imagination legt das betrachtende Subjekt gleichsam eine Ordnungsstruktur in die Welt der Sinnesinformationen, vorausgesetzt, dass wir über eine Kausalerfahrung, also über die Erfahrung einer bestimmten Abfolge von Ereignissen verfügen. Diese Eindrücke, diese ‚Bausteine‘ unserer Erfahrung, werden dann von der Einbildungskraft in bestimmter Weise zusammengefügt. Kausale Beziehungen sind […] durch konkrete Erfahrungen nahegelegte Zutaten des betrachtenden Subjekts, die – fälschlicherweise – in die Objektwelt projiziert und dann als Eigenschaften der Ereignisse angenommen werden.“ (Streminger 1994, S. 165. Hervorhebungen im Original). 7„The idea of a substance as well as that of a mode, is nothing but a collection of simple ideas, that are united by the imagination.“ „Identity […] is […] a quality, which we attribute to [different perceptions], because of the union of their ideas in the imagination, when we reflect upon them.“ (Hume 1960, S. 15 f. und 260).
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11
an, die er an mehreren Stellen auch in einer visuellen Sprache schildert, z. B. „to picture out in our imagination“ (Smith 1976, S. 18). Auch als Wissenschaftler, der die Welt erkennen will, reflektiert sich Smith als bildschaffendes Wesen. Denn die Aufgabe der Wissenschaften, der Smith in seinem ganzen Leben nachkommt, ist es Systeme für ihren Erkenntnisbereich zu errichten. Dies machen WissenschaftlerInnen mit ihrer Imagination, Systeme werden (mit Rekurs auf den Systembegriff von Newton) als „imaginäre Maschinen“ definiert.8 Insbesondere die soziale Welt ruht nach Smith auf imaginativen Vorgängen, die jede Person andauernd unternimmt.9 Menschen besitzen die Fähigkeit das emotionale und kognitive Erleben anderer zumindest partiell in ihrer eigenen Vorstellungswelt nachvollziehen zu können. Dabei werden die Innenwelten anderer imaginativ simuliert. Anders formuliert: Kraft ihrer Imagination können Menschen die Innenwelten anderer Personen betreten.10 In diesem Vorgang entsteht sympathy: Man kann z. B. nachvollziehen (unabhängig davon, ob man das auch billigt), aus welchen Motiven andere handeln. Smith spricht von den dabei beteiligten Gefühlen als „fellow-feelings“.11 Vorgänge dieser Art lassen nach Smith einen reichen (vor allem visuell beschriebenen) Innenraum entstehen. Dieser Raum bildet sich nach und nach in langen Lernprozessen und besitzt
8Seine
diesbezüglichen Vorstellungen hat Smith vor allem in der History of Astronomy formuliert, die posthum 1795 publiziert wurde: „A system is an imaginary machine invented to connect together in the fancy those different movements and effects which are already in reality performed.“ (Smith 1980, S. 66). Als Überblick über den Newtonianismus bei Smith vgl. Berry (2006). 9„The ‚world‘ (both natural and social) is, as a unified ‚system‘ constituted or given to us by our own imaginations. Thus all of the talk in The Theory of Moral Sentiments about nature as a whole is itself an ‚invention of the imagination‘. Or more bluntly put, both The Theory of Moral Sentiments and The Wealth of Nations are themselves, qua systems or unifying accounts, ‚inventions of the imagination‘.“ (Griswold 1999, S. 339). 10„As we have no immediate experience of what other men feel, we can form no idea of the manner in which they are affected, but by conceiving what we ourselves should feel in the like situation. […] By the imagination we place ourselves in his situation, we conceive ourselves enduring all the same torments, we enter as it were into his body, and become in some measure the same person with him, and thence form some idea of his sensations, and even feel something which, though weaker in degree, is not altogether unlike them.“ (Smith 1976, S. 9). 11„Sympathy, though its meaning was, perhaps, originally the same, may now, however, without much impropriety, be made use of to denote our fellow-feeling with any passion whatever.“ (Smith 1976, S. 10). Griswold (2006, S. 2) spricht von „sympathetischer Imagination“.
12
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im sozialisierten Individuum eine stabile und in sich strukturierte Existenz.12 Smith ortet in diesem Raum eine „Sehinstanz“ (spectator), die wie ein „innerlicher Richter“ funktioniert (z. B. Smith 1976, S. 14). Dieser Instanz kommt die Funktion zu, andere Personen andauernd moralisch zu bewerten – und daraus Schlüsse zu ziehen, die handlungsrelevant sind. Schlussendlich bezieht sich der spectator auch auf die eigene Person selbst, d. h. auf sich selbst in ihrer Eigenschaft als agent. So entsteht ein impartial spectator, durch den Menschen andauernd ihre eigenen Handlungen einem moralischen gesellschaftlich geformten Selbsturteil unterziehen.13 Diese komplexen imaginativen Operationen bilden nach Smith sowohl die Basis für ethisches Verhalten (wie jemand mit anderen umgeht) als auch für das eigene Selbstbild (wie jemand mit sich selbst umgeht) – und den Zusammenhalt der Gesellschaft selbst.14 Der Mensch besitzt nach Smith einen sozial gestalteten und strukturierten Innenraum, er ist mit Selbstbewusstsein, Gewissen und Moral ausgestattet. Auf dieser anthropologisch konzipierten Basis analysiert Smith auch wirtschaftliches Verhalten (vgl. zu dieser Deutung Ronge 2015). 12Zu
den vielfältigen Operationen, die dabei beteiligt sind, vgl. Ötsch (2016b). I endeavour to examine my own conduct, when I endeavour to pass sentence upon it, and either to approve or condemn it, it is evident that, in all such cases, I divide myself, as it were, into two persons; and that I, the examiner and judge, represent a different character from that other I, the person whose conduct is examined into and judged of. The first is the spectator, whose sentiments with regard to my own conduct I endeavour to enter into, by placing myself in his situation, and by considering how it would appear to me, when seen from that particular point of view. The second is the agent, the person whom I properly call myself, and of whose conduct, under the character of a spectator, I was endeavouring to form some opinion. The first is the judge; the second the person judged of. But that the judge should, in every respect, be the same with the person judged of, is as impossible, as that the cause should, in every respect, be the same with the effect.“ (Smith 1976, S. 101 ff.)“ „Smith proposes an impartial spectator, not an impartial actor, account of moral judgment. Sentiments are moral or virtuous when approved by the impartial spectator, and therefore the ‚theory of moral sentiments‘ is a theory of the spectator’s approval of the emotions.“ (Griswold 1999, S. 104). 14Das Selbstbild entsteht erst aus den imaginierten Bewertungen der anderen:„Were it possible that a human creature could grow up to manhood in some solitary place, without any communication with his own species, he could no more think of his own character, of the propriety or demerit of his own sentiments and conduct, of the beauty or deformity of his own mind, than of the beauty or deformity of his own face. All these are objects which he cannot easily see, which naturally he does not look at, ‘and with regard to which he is provided with no mirror which can present them to his view’. Bring him into society, and he is immediately provided with the mirror which he wanted before.“ (Smith 1976, S. 110, die Zitierung stammt von Treatise on Human Nature von David Hume II.ii.5). 13„When
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3 Der Verlust der Bildlichkeit in der ökonomischen Theorie nach Smith Adam Smith hat als Theoretiker der Bildlichkeit (im Sinn eines Bildvermögens von Menschen) in der Geschichte der ökonomischen Theorien wenige Spuren hinterlassen. Das Konzept eines Menschen, dessen ökonomisches Handeln auf seiner Fähigkeit zu imaginieren beruht, geriet bald in Vergessenheit und wurde im Hauptstrang der Theorie durch ein Menschen-Bild ersetzt, in dem die Imagination keine aktiv-gestaltende Rolle für Aspekte der Wirtschaft einnimmt. Bald nach Smiths Tod (17.07.1790) wird sowohl in England als auch in Frankreich, Deutschland und in den USA eine Smith-Rezeption entwickelt, die die The Theory of Moral Sentiments vom The Wealth of Nation trennt und erstere weitgehend ausblendet. Vor allem in Frankreich kam es im Gefolge der Französischen Revolution (1789–1799) durch Jean-Baptiste Say (1767–1832) zu einer Umdeutung von Smiths Theorien, die in Deutschland und vor allem in den USA weite Verbreitung fand.15 Bei Say erscheint die Wirtschaft als ein autonomes System, der Smithsche Konnex zur Gesellschaft (commercial society) als moralisches System wird aufgelöst, ebenso ihr historischer Bezug. Das System der Wirtschaft wird jetzt als statisches Modell in einer neuen Analogie zu Newton (und einer Revision der mechanistischen Metapher bei Smith) gedacht. Say sprach auch von Gesetzen von Märkten (bzw. „stilisierten Prinzipien“) in Analogie zum Gravitationsgesetz (wenngleich er diese Analogie nur verbal behandelt), die auf „generellen Fakten“ beruhen. Diese entspringen der „Natur der Dinge“ bzw. den „Gesetzen der materiellen Welt“: „We do not imagine them; they are results disclosed to us by judicious observation and analysis.“ (Say 1971, S. xxv). Ähnliche Debatten finden in England statt (vgl. Corsi 1987). Vor allem Robert Malthus (1766–1834) und David Ricardo (1772–1823) stehen in der ökonomischen Theorie für eine Entwicklung, die das Imaginative im Menschen abschwächt und schließlich leugnet. Gleichzeitig wird ein neuer Naturbegriff etabliert (vgl. Ötsch 2007), der wiederum direkt für die Gesellschaft relevant wird. Malthus polemisiert in seinem Bevölkerungsgesetz (als Essay on the Principles of Population 1798 anonym publiziert) gegen die „Utilitaristischen Anarchisten“ (wie Robert Wallace, William Ogilvie, William Godwin oder Thomas Spence, vgl. Ötsch 2016) und bezieht seine Argumente aus der Biologie
15Bis
in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts war in den USA Says Hauptwerk Traité d’économie politique (Say 1971, das erstmals 1803 erschienen und 1816/1817 erstmals ins Englische übersetzt worden ist), das populärste Lehrbuch.
14
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und der Pflanzenphysiologie. In diesem Diskurs wertet Malthus die menschliche Imagination deutlich ab: Sie sei nur für die Dichtkunst, aber nicht für die ökonomische Theorie angebracht (Malthus 1998, S. 113). Seinen Gegnern, die die „Armenfrage“ durch eine radikale Umverteilung der B esitzverhältnisse in der Landwirtschaft lösen wollen, wirft Malthus eine „beautiful fabric of the imagination“ vor (ebenda, S. 60): Sie würden einem „phantom of the imagination“ unterliegen und sollten „awaken to real life, and [to] contemplate the genuine situation of man on earth“ (ebenda, S. 55 f.). Das imaginative Potential des Menschen, das für Smith konstitutiv ist, wird von Malthus damit (auch aus gesellschaftspolitischen Gründen) aus dem Gegenstandsbereich der Ökonomie verbannt. Denn die Dynamik der Gesellschaft geht nach ihm nicht von menschlichen Kräften, sondern von Gesetzen der Natur aus. Menschliche Imaginationen (wie sie sich auch in der Politik manifestieren können) sind angesichts der Kräfte der Natur machtlos – der Verweis auf sie ist unangebracht und gefährlich.16 David Ricardo (1772–1823) verstärkt diese Sichtweise. Bei ihm wird die mechanistische Metapher noch enger gefasst und direkt auf die Methode bezogen. Die Ökonomie müsse nach ihm einem strikt deduktiven Ansatz folgen – dafür wird auch das Differentialkalkül in die ökonomische Theorie eingeführt, das Newton bekanntlich zeitgleich mit Leibniz erfunden hat und für seine Bewegungsgesetze benötigt. Das komplexe Netz ökonomischer Phänomene kann jetzt (in Teilbereichen) in ein einfaches System deterministischer Beziehungen verwandelt werden. John Stuart Mill hingegen (1806–1873, er war die führende Autorität auf dem Gebiet der Ricardo-Interpretation im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts) beschränkt Ricardos Ansatz (nicht prinzipiell, aber aus Gründen der verfügbaren Daten, vgl. Clark 1992, S. 101 ff.) auf den Bereich der Produktion: sie zeigen den Charakter „physikalischer Wahrheiten“. Der zweite Bereich, jener der Verteilung hingegen, ist von „rein menschlichen Einrichtungen“ beherrscht: die „Gesetze und Gewohnheiten der Gesellschaft“ (Mill 2009, S. 182). Mill ist aber auch von den Romantikern seiner Zeit (z. B. von William Wordsworth, 1170–1850) beeinflusst.17 Er versucht einen Brückenschlag von der Romantik zur Klassischen politischen Ökonomie (vgl. Bronk 2009, S. 40 ff. und 50 ff.). Dabei anerkennt er – den Romantikern folgend – die Rolle der Imagination für menschliches Verhalten. „Imaginative Emotionen“ gelten,
16Nach Tellmann (2007, S. 30) entsprach diese Ansicht einem Zeitgeist im gesellschaftlichen Denken. Vgl. auch Whale (2004) zum Abbau der Rolle der Imagination im politischen Denken in den Jahrzehnten nach Smiths Tod. 17Zum Einfluss von Wordsworth auf Marshall vgl. Bronk (2009, S. 15 ff.).
Imagination und Bildlichkeit in der Ökonomie – eine Einführung
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wie Mill in seiner Autobiographie schreibt, „nicht als „an illusion but a fact, as real as any of the other qualities of objects“.18 Aus dieser Position wirft Mill z. B. Jeremy Bentham eine „deficiancy of imagination“ vor, Bentham würde die stärksten Gefühle des Menschen übersehen, wie „the sense of honour“, „the love of beauty“, „the love of power“ und „the love of action“ (Mill 2003, S. 65 ff.; vgl. Bronk 2009, S. 33 ff.).19 Die Neoklassik, die bekanntlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entsteht, gilt als Richtung in der Ökonomie, bei der die Leistung der Einbildungskraft sowohl im Konzept des ökonomischen Akteurs als auch des Wissenschaftlers (in seiner Selbstreflexion) zur Gänze geleugnet wird. Auch diese Deutung ist das Ergebnis einer spezifischen Rezeptionsgeschichte. Zumindest Léon Walras (1834–1910), der die Grundlagen der heute dominanten allgemeinen Gleichgewichtstheorie entworfen hat, hat noch einen umfassenden Ansatz versucht, in welchem Menschen als vielschichtig und durchaus widersprüchlich beschrieben werden (vgl. den Beitrag von Graupe in diesem Sammelband). Der Mensch ist (mit Rekurs auf Kant) zum einen frei, er besitzt einen Willen und ist selbstbestimmt, er kann deshalb auch die Gesellschaftsordnung frei wählen (vgl. Kraft 2005, S. 44 ff.). Zum anderen aber ist der Mensch (nachdem er sich aus guten Gründen für das von Walras beschriebene Tauschsystem entschieden hat) vollständig determiniert, er kann diesbezüglich mit den Eigenschaften einer Maschine beschrieben werden (siehe unten). Bei Walras findet sich auch in seiner Erkenntnistheorie (die in seine Theorie der Gesellschaft enthalten ist) ein Konzept von Imaginationen. Diese bilden die Basis von Wahrnehmungen (Perzeptionen): die Aufgabe der Imagination (die Walras auch den Tieren zuschreibt) sei es, die einzelnen Informationen der Sinne zu einem Gesamtbild zu vereinen (Walras 2010, S. 74 ff.). Das Imaginative wird von Walras gleichsam in das „Tierische“ des Menschen verbannt (ebenda, S. 74, 89 und 125) und damit prinzipiell vom Bereich der Ökonomie ausgeschlossen.
18Mill, J.S.: Autobiography (ursprünglich publiziert 1873), Penguin (1989, S. 123), hier zitiert nach Bronks (2009, S. 38). 19Imagination „is the power by which one human being enters into the mind and circumstances of another. […] It is one of the constituents of the historian; […] Without it nobody knows even his own nature, further than circumstances have actually tried it and called it out; nor the nature of his fellow-creatures, beyond such generalisations as he may have been enabled to make from his observation of their outward conduct.“ (Mill 2003, S. 65 f.).
16
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In der heute dominanten Rezeption wird nur noch der Teilbereich der „reinen Ökonomie“ nach Walras als relevant für den Gegenstandsbereich der Ökonomie erachtet. Diese wird von Walras bekanntlich (analog zur „mathematischen Ökonomie“ bei William Stanley Jevons, 1835–1882, vgl. Schabas 1990) in strikter formaler Analogie zur Mechanik von Newton konzipiert (vgl. Mirowski 1990; Ötsch 1990 sowie die Beiträge von Graupe und Ötsch in diesem Sammelband). Jevons und Walras rekurrieren damit auch auf Laplace’ Vision einer durchgehend deterministischen Physik (zum Zusammenhang der Gleichungen von Laplace mit denen von Walras vgl. Wellhöner 2002, S. 80 ff.). Diese Betrachtung bedingt eine außerordentlich reduzierte Anthropologie, der die neoklassische Standardökonomie heute fast ohne Thematisierung folgt: Menschen werden in ihren Eigenschaften analog zu mechanischen Partikeln beschrieben. Denn die „Identität“ der Individuen wird bei Walras und Jevons durch eine Nutzenfunktion ausgedrückt (später als Präferenzordnung reformuliert) und wie ein Feld in der Thermodynamik modelliert (ausführlich bei Pikler 1955; Mirowski 1990; Ötsch 1990). Damit besitzt der Mensch im Kernbereich der neoklassischen („reinen“) Ökonomie kein einziges Merkmal, das ihn von physikalisch beschreibbaren Entitäten (im Verständnis der Physik um die Mitte des 19. Jahrhunderts) unterscheidbar macht.20 Das bedeutet auch, dass in dieser (so interpretierten) Neoklassik kein genuin „innerer“ Aspekt im Menschen existiert, der als Erklärung für ein Phänomen der Wirtschaft dienen kann: „innere Bilder“ im Sinn von images kommen in der Theorie nicht vor es. Alles genuin „Subjektive“ ist systematisch aus der Theorie ausgeblendet.21 Zugleich erscheint die „Außenwelt“ der Märkte (auf denen die Akteure agieren) als voraussetzungslos gegeben. Subjektive Deutungsprobleme von „Fakten“ der „Außen-Welt“ treten nicht auf: „Fakten“ sind den „Subjekten“ unmittelbar zugänglich (vgl. Ötsch 2019, S. 292 ff.). Philosophisch basiert die Neoklassik (in der z. B. in den Lehrbüchern der Mikroökonomie dominierenden Deutung) auf einer naiven Abbildtheorie des Geistes (die wiederum ein Rationalmodell und eine Situationslogik bedingt, vgl. Oesterdiekhoff 1993, S. 128 ff.). Alle „Entscheidungen”, die Akteure laut dem Modell treffen, werden kausal mit äußeren Informationen verknüpft. Verhaltensänderungen kommen immer von 20Jevons
spricht statt Personen auch von Trading Bodies. Diese werden in Analogie zu den Gravitating Bodies in der Newtonschen Mechanik konzipiert. 21Die „Innen-Welt“ der Akteure erscheint im Nutzen- bzw. Präferenzansatz als zur Gänze objektiviert. Ökonomisch handelnde Menschen sind hier „prinzipiell durch nichts außer ihrem Etikett qualitativ von Automaten oder Programmen unterscheidbar.“ (Blaseio 1986, S. 140). Vgl. auch Brodbeck (2009, S. 751).
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außen zustande, das „Innere“ ist eine starre „Box“, sie enthält die vorgegebenen Nutzen- bzw. Präferenzrelationen und einen vorgegeben Entscheidungsalgorithmus. Die Menschen werden durch „Anreize“ (z. B. durch Marktpreise) gesteuert. Die Analogie zum Behaviorismus liegt auf der Hand, eine Selbststeuerung ist nicht möglich. Der neoklassische Akteur besitzt folgerichtig kein genuines Selbst-Bild, keine Selbstbezüglichkeit, keine Selbstdeutung und keine Reflexivität (vgl. Taylor 1994 in seiner Kritik am modernen Utilitarismus).22 Er ist (durchaus im Gegensatz zu Walras’ vielschichtigem Ansatz) unfähig zu ästhetischen Unterscheidungen und kreativen Entwürfen, der neoklassische Standardansatz kennt auch kein Konzept des Neuen (Blaseio 1986, S. 63 f. und 136 ff.). Das bedeutet auch, dass die Entstehung neuer Güter im Modell keine Berücksichtigung finden kann.23 Damit können NeoklassikerInnen, die das Modell der allgemeinen Gleichgewichtstheorie als brauchbar erachten, innerhalb ihres Ansatzes auch ihre eigene kreativen Imaginationsleistungen (die die Weiterentwicklung der Theorie durch neue Modelle möglich macht) nicht erklären: Ihre Modelle hätten „in einer Welt, die dem von [ihnen] gezeichneten rationalen Weltbild entspricht, niemals […] entstehen können.“ (Blaseio 1986, S. 13). Allgemeiner gesagt: Ihre eigene Fähigkeit zur Bildlichkeit, die das Menschenbild des Homo
22In
dieser Deutung muss eine prinzipielle Trennung des Gegenstandsbereichs der Ökonomie von der Ethik unternommen werden. Dies hat insbesondere Lionell Robbins in seinem Essay on the Nature and Significance of Economic Science unternommen. Robbins definiert Ökonomie nicht mehr in Bezug auf einen Gegenstand bzw. auf einen Erkenntnisbereich, der unabhängig von der ökonomischen Theorie gegeben ist (das nennt Robbins „materialistische“ Definition der Ökonomie), sondern als eine spezifische „Wissenschaft, die das menschliche Verhalten als Beziehung zwischen Zwecken und knappen Mitteln mit alternativen Verwendungsweisen erforscht.“ (Robbins 1972, S. 16). Damit wird auch (im Gegensatz zu Walras) das Konzept der Gesellschaft aufgegeben. Zugleich können moralische Urteile (wie sie Smith denkt) nicht mehr erklärt werden. Denn in einem Nutzen- bzw. Präferenzansatz können – wie es einem Formalismus immer zukommen muss – qualitative Unterscheidungen nicht unternommen werden, Moral kann kategorial nicht von Geschmack unterschieden werden. Wenn aber der Mensch im Prinzip als moralisches Wesen (mit qualitativen Unterscheidungen) betrachtet wird, dann werden NeoklassikerInnen – so das Argument von Charles Taylor – durch ihren naturalistischen Ansatz daran gehindert, „ihre eigenen Moralquellen zu formulieren und anzuerkennen“, Taylor spricht kritisch von „parasitärer Moral“ (Taylor 1994, S. 593 ff.). Vgl. auch Brodbeck (2003), Brodbeck spricht von einer „impliziten Ethik“. 23Denn ein Marktmodell mit n Gütern ist in einem n–dimensionalen Mengenraum positioniert. Ein neues Gut würde eine zusätzliche Dimension benötigen, das sprengt das Modell, vgl. auch Brodbeck (2015).
18
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Oeconomicus überhaupt erst entstehen lässt, gerät zu einem blinden Fleck innerhalb des ökonomischen Denkens. Damit gerät auch in Vergessenheit, wie vielen praktischen, schöpferischen und moralischen Fähigkeiten der Welt- und Selbstwahrnehmung sich ÖkonomInnen entsagen müssen, um den Menschen als bloßen Nutzenmaximierer überhaupt vorstellbar zu machen (vgl. Graupe 2014). Ebenso geht die Fähigkeit verloren, als WissenschaftlerInnen bewusst andere Bilder vom Menschsein zu schaffen (vgl. Graupe 2016b). Einen Höhepunkt im Verlust der Bildlichkeit in der Geschichte der ökonomischen Theorie markiert auch der Ansatz von Friedrich August von Hayek. Wenngleich Hayek (trotz seines sogenannten Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 1974) meist als Außenseiter gilt, hat er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entwicklung der ökonomischen Theorie entscheidend beeinflusst (Ötsch 2016). Dies gilt insbesondere für sein Marktkonzept (z. B. Hayek 1969), das vor allem in die Effizienzmarkthypothese (einem Grundpfeiler der modernen Finanzmarkttheorien) eingeflossen ist. Dabei wird „der Markt“ als Entdeckungsverfahren gedeutet und mit der Metapher eines „Telekommunikationssystems“ beschrieben (Hayek 1958, S. 86 f.). Die Grundidee ist bekannt: „Der Markt“ gilt als Prozess, der das in den Individuen verstreut herumliegende heterogene Wissen „entdeckt“, gesellschaftlich „koordiniert“ und in Preise transformiert. Das Preissystem erscheint auf diese Weise als ein „Mechanismus zur Kommunikation von Information“ (Hayek 1969, S. 249 ff.).24 Preise „verkörpern“ – so wird gesagt – Wissen, Marktpreise werden als „Träger“ von Informationen gedeutet.25 Gleichzeitig wird das in „dem Markt“ bzw. in „der erweiterten Ordnung“ prozessierte Wissen von Hayek als ein Art „Überwissen“
24Mirowski
(2013, S. 266) bezeichnet das in dieser Prozesstheorie enthaltene Effizienzkonzept als „informationale Effizienz“ – im Unterschied zur „allokativen Effizienz“ der Neoklassik, sie basiert auf einem statischen Modell mit maximierenden Akteuren. Mirowski und Nik-Khah (2017) zeigen in einer umfangreichen Geschichte des Informationsbegriffs, wie in der Ökonomie seit den 1970er-Jahren das Konzept der informationalen Effizienz auf Kosten der allokativen gestiegen ist. Auch in Lehrbüchern ist heute das Konzept der informationalen Effizienz zu finden. Varian z. B. vermengt die beiden Effizienzbegriffe in der Diskussion des Ersten Wohlfahrtstheorems: „The fact that competitive markets economize on information in this way is a strong argument in favor of their use as a way to allocate resources.“ (Varian 2014, S. 622 f.). 25Wissen (das vom Menschen verstanden und interpretiert werden muss) wird hier kategorial mit Information (die quantitativ darstellbar und technisch reproduziert werden kann) vermischt – als ob in einer Sprache Syntax (die Struktur, die Grammatik) und Semantik (die Bedeutung von Zeichen) ident wären. Vgl. zu dieser Kritik Brodbeck (2014, 32 ff.) und Ötsch (2019, 80 ff.).
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verstanden, welches das Wissen des einzelnen (sein „Gehirn“) überragt und diesem gegenübergestellt wird.26 Ein springender Punkt in dieser Sichtweise ist die Abwertung der kognitiven Leistung des Menschen in seiner anthropologischen Dimension. Hayek argumentiert in klarem Gegensatz zum klassischen Liberalismus und zur Aufklärung: die Vernunft bzw. der Verstand spielt nach ihm für das gesellschaftlich (und ökonomisch) relevante Handeln keine konstitutive Rolle mehr. Denn das ökonomische Agieren würde auf einer unbewussten Grundlage stattfinden.27 Gesellschaftliche Ordnungen (wie jene der „erweiterten Ordnung des Marktes“) basieren nach Hayek auf „konstitutiven“ Ideen (z. B. Hayek 1952, S. 36 ff.). Diese haben sich in einer kulturellen Evolution „spontan“ und nicht geplant entwickelt und wirken, wenn sie als Regeln etabliert sind, auf unbewusste Art. Bewusst und reflektiert kann der Mensch nach Hayek „den Markt“ nicht durchblicken und nicht durchdenken.28 Die Menschen, die sich in der von Hayek behaupteten „Ordnung“ koordinieren (müssen), schwimmen diesbezüglich in einem „Meer von Nichtwissen“ (Hayek 1990, S. 88). Sie besitzen nicht die Fähigkeit, „die Ordnung“ insgesamt oder einzelne ihrer Ergebnisse aufgrund
26Eine
solche Ordnung „bezieht sich […] auf das, was weit über unser Verständnis, unsere Wünsche und Zielvorstellungen sowie unsere Sinneswahrnehmungen hinausgeht, und auf das, was Wissen enthält und schafft, das kein einzelnes Gehirn und keine einzelne Organisation besitzen und erfinden könnte.“ (Hayek 1996, S. 76). 27Hayek kennt (vereinfacht) drei Schichten von Regeln (Hayek 1998, Bd. 3, S. 159 f.; vgl. Slobodian 2018, S. 238 f.): Die erste (relativ konstante) Schicht ist völlig unbewusster Art, z. B. die Art, wie die Sinne funktionieren (Hayek 1952, 23 ff.). Die zweite Schicht ist für die Gesellschaft relevant. Sie enthält soziale Regeln, die z. B. aus Tradition beachtet werden, aber auch die vielen Regeln der „spontanen Ordnung“ nach Hayek. Hayek schreibt diesbezüglich von automatischen Reaktionen der Menschen in Analogie dazu, wie Eisenspäne auf einen Magneten reagieren (Hayek 1998, Bd. 1, S. 39 ff.). Als Drittes existiert nur noch eine „dünne“ Schicht von Regeln, die Menschen bewusst und mit voller Absicht für ihre Zwecke übernehmen oder verändern können. Allein für diese eingeschränkte Menge von Regeln ist nach Hayek die menschliche Vernunft zuständig. 28Die „erweiterte Ordnung“ ist „so ausgedehnt […], dass sie das Fassungsvermögen eines einzelnen […] durch dessen Verstand übersteigt“ (Hayek 1996, S. 77). It „is an indisputable intellectual fact which nobody can hope to alter […] This is the constitutional limitation of man’s knowledge and interests, the fact that he cannot know more than a tiny part of the whole of society and that therefore all that can enter into his motives are the immediate effects which his actions will have in the sphere he knows.“ (Hayek 1958, S. 14, Kursivsetzung im Original). Als Kritik vgl. Ötsch (2019, S. 434 ff.).
20
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selbstgewählter Ziele beurteilen zu können (Hayek 1996, S. 84; vgl. Arnsperger 2008, S. 90).29 Damit verlieren die Menschen nach Hayek auch die Fähigkeit sich Bilder über das wirtschaftliche (bzw. gesellschaftliche) Gesamtsystem machen zu können:30 eine diesbezügliche Bildlichkeit stellt kein Thema für die Wirtschaftstheorie dar. Aber im Werk von Hayek gibt es eine andere Seite, in der Bilder über das System eine wichtige Rolle spielen.31 Hayek verfolgt nämlich Zeit seines Lebens ein gesellschaftspolitisches Anliegen. Spätestens ab den 1920er-Jahren teilt er die Ansicht von Mises, die menschliche Zivilisation insgesamt sei durch den „Sozialismus“ bedroht (z. B. Mises 1932, S. 1 und 424). Um das zu ändern bedürfe es – weil die Gesellschaft langfristig durch Ideen gesteuert werde – der
29Für eine Darstellung, wie sich diese Auffassung bis hinein in die heutigen Standardlehrbücher zieht, siehe Graupe (2013, 2016c). 30In seinem wenig rezipierten Frühwerk The Sensory Order, das Hayek erst 1952 publiziert hat, spricht Hayek von mentalen Bilder als einer phänomenalen Tatsache, deren man sich auch bewusst sein kann (z. B. S. 2, 105 und 120). Das Bewusstsein wird hier auf „Klassifikationen“ sensorischer Impulse zurückgeführt, „which produces an order strictly analogous to the order of sensory qualities can be effected by a system of connexions through which the impulses can be transmitted from fibre to fibre; and that such a system of connexions which is structurally equivalent to the order of sensory qualities will be built up if, in the course of the development of the species or the individual, connexions are established between fibres in which impulses occur at the same time.“ (Hayek 1952, S. 119). In dieser Kette wird die Eigenständigkeit des Bewusstseins geschwächt bzw. verneint: In einem Interview meinte Hayek zu seinem psychologischen Ansatz: „The contention which I want to expound and defend here is that, on the contrary, all the conscious experience that we regard as relatively concrete and primary, in particular all sensations, perceptions and images, are the product of a superimposition of many ‘classifications’ of the events perceived according to their significance in many respects. These classifications are to us difficult or impossible to disentangle because they happen simultaneously, but are nevertheless the constituents of the richer experiences which are built up from these abstract elements.“ (Hayek 2014, S. 315). Als Kritik an der Sensory order in Verbindung zu seiner Evolutionstheorie vgl.: „Hayek bemerkt nicht, dass ein Typ von Situation bereits eine abstrakte Klassifikation voraussetzt. […] Ein Muster ist ebenso eine abstrakte Bedeutung wie ein Situations-Typ. Der Versuch, den Abstraktionsprozess als Selektion von (unbewussten) Regeln zu beschreiben, scheitert an dieser notwendigen Zirkularität der Bedeutung. Man kann eine Bedeutung immer nur durch eine andere Bedeutung, nicht aber durch einen außer-bedeutenden (‚unbedeutenden‘) Sachverhalt wie einen mechanischen Selektionsprozess erklären.“ (Brodbeck 2009, S. 184). 31Vgl. zum Folgenden Ötsch (2019, S. 21 ff.).
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Formulierung einer neuen liberalen Utopie (z. B. „eine umfassende Neudarstellung der Grundprinzipien einer Philosophie der Freiheit“, Hayek 1971, S. 4). Diese Aufgabe müsse sowohl theoretisch als auch praktisch-organisatorisch angegangen werden. Hayek gelingt es in der Zwischenkriegszeit ein Netzwerk von Personen in Europa und in den USA aufzubauen und dann u. a. im Walter Lippmann-Kolloquium (26.–30.08.1938 in Paris) und nach dem 2. Weltkrieg in der Mont Pèlerin Society (Gründungskonferenz vom 1.–10.04.1947 in der Nähe des Genfer Sees) zu institutionalisieren.32 Letztere wird von Hayek als Propaganda- bzw. Manipulationsprojekt beschrieben: Es gehe darum, ein neues Programm zu entwerfen, das die „Einbildungskraft“ jener Kreise, „gefangen nimmt“, „die auf längere Sicht die Entwicklung der öffentlichen Meinung bestimmen“ (Hayek 1992, S. 53). Der Entwurf eines solchen Programms wird dabei den „großen Denkern“ (zu denen Hayek sich selbst zählt) zugesprochen, Hayek nennt diese Personen original thinkers:33 „Von ihnen stammen die Grundbegriffe, die das Denken des einfachen Mannes als auch der politischen Führer bestimmen und ihr Handeln leiten.“ (Hayek 1971, S. 136 f.):
Die Transformation der Gesellschaft, die Hayek intendiert, stellt er sich „als ein langsames Durchsickern von der Spitze der Pyramide abwärts“ vor (Hayek 1971, S. 138): Den großen „politischen Theoretikern“ müsse es gelingen, die nächste Schicht unter ihnen zu erreichen, das ist nach Hayek die „Klasse“ der „Intellektuellen“.34 Diese Personen sind unfähig zur Produktion gesellschaftsprägender Bilder, Hayek bezeichnet sie abfällig als „professionelle intellektuelle Altwarenhändler“ (professional secondhand dealers in ideas, Hayek 1960,
32Diese Entwicklung wurde detaillierter beschrieben in Ötsch et. al. (2017, Kap. 4). und Ötsch (2019, Kap. 3). 33Dabei handelt es sich um eine kleine elitäre Gruppe von Wissenschaftlern: die „großen Meister“ bzw. „kreativsten Geister“. Die Mehrheit der Wissenschaftler hingegen sind nach Hayek nur „master of his subject“, d. h. Wissenschaftler des „memory type“. Sie haben lediglich ihr Kurzzeitgedächtnis trainiert, können aber keine komplexen Argumente führen. (Hayek 1990, S. 50 ff.). 34Diese „Klasse“ umfasst „Journalisten und Lehrern, Geistlichen und Volksbildnern, Schriftstellern und Radiosprechern, Künstlern und Schauspielern […], viele Wissenschaftler und Ärzte“ (Hayek 1992, S. 42 f.).
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S. 371).35 Gelingt es den „großen Denkern“ die „Intellektuellen“ zu beeinflussen, dann kann langfristig die „öffentliche Meinung“ insgesamt kippen – und die Politiker, denen Hayek ebenfalls die Kraft abspricht, grundlegende neue Ideen zu erzeugen, müssen wie von selbst folgen.36 Zwei Momente ragen in diesem Konzept heraus. Zum einen dient Wissenschaft nicht primär der Erkenntnis an sich, sondern wird in ihrer Wirkung auf die Gesellschaft betrachtet. Wissenschaft wird instrumentell: ein Werkzeug in der Hand einer selbsternannten intellektuellen Elite. „Wir müssen uns mit den Meinungen befassen, die sich verbreitern müssen, wenn eine freie Gesellschaft erhalten oder wiederhergestellt werden soll, nicht mit dem, was im Augenblick durchführbar erscheint. Aber wenn wir uns so von den Vorurteilen, in die der Politiker eingefangen ist, losmachen müssen, so müssen wir doch kühl überlegen, was mit Überredung und Belehrung erreicht werden kann.“ (Hayek 1976, S. 142 f.)
Zweitens wird die Kraft zur Produktion von Bildern über die Gesellschaft ausschließlich einer (selbsternannten) intellektuellen Elite zugesprochen. Nur sie besitzt die Fähigkeit ein neues (utopisches) „zusammenhängendes Bild“ der Gesellschaft (eine „Gesamtanschauung“) entwerfen zu können (Hayek 1971, S. 137 und 140).37 Denn „stückweise Änderungen“ in politischen Prozessen
35„Es
ist keine Übertreibung zu sagen, dass – wenn erst einmal der aktive Teil der Intellektuellen zu einem bestimmten Set an Glaubenssätzen bekehrt ist – der Prozess der allgemeinen Akzeptanz dieser Sätze nahezu automatisch und unwiderstehlich verläuft. Die Intellektuellen sind das Organ, das moderne Gesellschaften entwickelt haben, um Wissen und Ideen zu verbreiten, und ihre Überzeugungen und Meinungen wirken wie ein Sieb, durch das alle neuen Vorstellungen hindurchmüssen, bevor sie überhaupt die Massen erreichen können.“ (Hayek 1960, S. 374, eigene Übersetzung). 36„Für den mit praktischen Fragen beschäftigten Politiker sind diese Ansichten auch tatsächlich unabänderliche Gegebenheiten. Es ist fast notwendig, daß er unoriginell ist und daß er sein Programm nach den Anschauungen der großen Menge aufstellt. Der erfolgreiche Politiker verdankt seine Macht dem Umstand, daß er sich innerhalb der herrschenden Ideen bewegt und in konventioneller Weise denkt und spricht.“ (Hayek 1971, S. 136). 37„Utopia, like ideology, is a bad word today; and it is true that most utopias aim at radically redesigning society and suffer from internal contradictions that make their realization impossible. But an ideal picture of society which may not be wholly achievable or a guiding conception of the overall order to be aimed at, is nevertheless not only an indispensable precondition for any rational policy, but also the chief contribution that science can make to the solutions of problems of practical policy.“ (Hayek 1998, Bd. I, S. 65).
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„können nur dann befriedigende und brauchbare Ergebnisse bringen, wenn sie von einer allgemeinen Vorstellung einer erwünschten Gesellschaftsordnung geleitet sind, von einem Gesamtbild der Welt, in der die Menschen leben wollen. Ein solches Bild zu formen, ist keine einfache Aufgabe.“ (ebenda, S. 139) 38
Hayek spricht sich und seiner Elite jene Fähigkeit zu einer gesellschaftlichen Bildlichkeit zu, die er der „Masse“ der Bevölkerung (anthropologisch argumentiert) vorenthält.39 Nach Hayek besitzt diese Elite potentiell die Macht, das kollektive Unbewusste im „einfachen Mann“ zu beeinflussen. Der Weg dazu führt über den Entwurf, die Verbreitung und die Etablierung neuer „konstitutiver Ideen“, die unbewusst wirken.40 Bildlichkeit erscheint hier für die Elite als eine zumindest zum Teil bewusst gestaltbare Fähigkeit, über die sie aber anderen Teilen der Gesellschaft keine Rechenschaft abzulegen braucht, ja im Grunde auch gar nicht kann, weil „die Masse“ hierfür jeglicher Fähigkeit entbehrt. Mehr noch: Hayek plädiert dafür, dass „die Masse“ noch nicht einmal den fundamentalen Unterschied, wie Jonas ihn herausgearbeitet hat (siehe oben) zwischen (abstraktem) Bild und dem Gegenstand bzw. dem Phänomen, auf das es verweist, verstehen kann. In der Folge soll „die Masse“ auch der Fähigkeit entbehren, die Verfremdungen, die – wie Jonas ebenfalls betont – mit jeglichem Erschaffen eines Bildes einhergeht, also solche durchschauen zu können. Stattdessen soll sie instinkthaft auf die von „der Elite“ geprägten Bilder reagieren müssen – als wären sie schlicht Wirklichkeit. Auch in Hayeks Menschenbild lässt sich wie in der Neoklassik ein enormer Verlust an Bildlichkeit erkennen. Im Gegensatz zu den Neoklassikern erkennt er dabei allerdings, dass sein Selbstbild (und das „der Eliten“ insgesamt) ein anderes sein muss. Die Fähigkeit zur Bildlichkeit zwischen Beobachter und Beobachtetem fallen bei ihm systematisch auseinander, – er weiß nicht nur darum, sondern sucht den Unterschied für politische und ideologische Zwecke
38Mises
argumentiert ähnlich: „Die Lösung jeder einzelnen der vielen wirtschaftspolitischen Tagesfragen verlangt Denkoperationen, die nur der ausführen kann, der den Allzusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen begreift.“ (Mises 1932, S. XII). „Es bedarf einer besonderen Anspannung des Geistes, um das Denken auf die Fragen zu richten, die unserer Wissenschaft wichtig erscheinen.“ (Mises 1940, S. 222). 39Mirowski (2013, S. 78 ff.) spricht diesbezüglich vom „Prinzip einer doppelten Wahrheit“. 40„Die Macht abstrakter Gedanken beruht in hohem Maße auf eben der Tatsache, dass sie nicht bewusst als Theorien aufgefasst, sondern von den meisten Menschen als unmittelbar einleuchtende Wahrheiten angesehen werden, die als Voraussetzungen fungieren, die stillschweigend angenommen werden.“ (Hayek 1998, Bd. 1, S. 70, eigene Übersetzung).
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fruchtbar zu machen. Wie aber „die Eliten“ wirklich zu jenen Bildern kommen sollen, die anderen Menschen als „unmittelbar einleuchtende Wahrheiten“ erscheinen sollen, wird bei Hayek nicht erörtert. Vor allem mangelt es seinem Konzept an jeder Form der Ethik jenseits einer ethischen Einstellung zu „dem Markt“: Wie ließe sich in der Ökonomie tatsächlich verantworten, abstrakte Bilder zu schaffen, auf die andere Menschen nur noch quasi instinkthaft reagieren können? Unseres Wissens nach schweigt Hayek dazu. Im Gegensatz dazu betont etwa Walter Lippmann, der dem Walter Lippmann-Kolloquium den Namen gab, dass (wie schon erwähnt) nicht nur alle WissenschaftlerInnen, sondern auch alle PolitikerInnen dazu aufgerufen sind zu erkennen, dass der Mensch niemals direkt seiner Umwelt gegenüberstehe, sondern es sich vielmehr um eine Dreiecksbeziehung zwischen dem Menschen, dessen Bildern (die „Pseudoumwelt“) und seiner Umwelt (die „Handlungswelt“) handelt. Dies versteht Lippmann nicht nur als eine individuelle, sondern auch als eine soziale Aufgabe: zu begreifen, wie diese Bilder entstehen und wie sie in Mensch und Gesellschaft (auf der Ebene der „Handlungswelt“) Wirkung entfachen (vgl. Ötsch und Graupe 2018). Die Diskussion um eine explizite oder implizite Bildlichkeit in ökonomischen Theorien verweist auf ihren Stellenwert für aktuelle Fragestellungen. Angesichts zeitgemäßer Debatten, wie zu einer Krise der Politik (die sich im Aufsteigen des Rechtspopulismus manifestiert, vgl. Ötsch und Horaczek 2017) oder zu Krisen der Umwelt gekommen ist, wird der Politik der Vorwurf gemacht, sie würde die Krisen nicht pointiert ansprechen (z. B. wurde die Finanzkrise 2008 von der Politik nicht erklärt) und kaum zukunftsweisende Lösungen anbieten. Im Gegenteil: Es würde eine Politik betrieben, bei der es jahrelang hieß, es gäbe „keine Alternative“. In der Terminologie dieses Buches mangelt es der Politik an der Fähigkeit attraktive Zukunftsbilder zu entwerfen und ihr eigenes Tun diskursiv darauf zu beziehen.41 „How do we account for the paradox of a world full of images, but deprived of imagination? Have images themselves saturated our political imagination? What has politics become after such a revolution?“ (Bottici 2014, S. 3)
41Politik ist immer imaginärer Natur. Z. B. basiert jede Vorstellung über ein Kollektiv, für das es Politik zu machen gilt, auf einer bildlichen Vorstellung, dies trifft z:B. in besonderem Maße für die moderne Sichtweise eines staatlichen Souveräns als einer Person zu, vgl. Bottici (2014, S. 93). Zur Imagination kollektiver Zukünfte vgl. die Beiträge in De Saint-Laurent et al. (2018).
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Und: Gibt es einen systematischen Zusammenhang zwischen der Fülle an Bildern im Alltag und einer Krise der politischen Imagination?42 Sollte diese Vermutung zutreffen, dann würde es im ersten Schritt darum gehen, den Aspekt der Bildlichkeit im Menschen anzuerkennen und ihn als produktive und potentiell freiheitsfördernde Kraft zu verstehen. Wenn die Gesellschaft durch Bilder der Wirtschaft mitgeformt ist, dann müsste diese Prozess vor allem und insbesondere aus der Ökonomie kommen und von ihr aktiv betrieben werden. Das Ziel unseres Buches ist es dazu Impulse zu geben.
4 Die Beiträge in diesem Sammelband Viele Ansätze in der Ökonomik, die heute als „heterodox“ oder als fachfremd gelten (weil sie z. B. aus der Philosophie oder der Soziologie kommen) verwenden Aspekte von Imagination und Bildlichkeit und anerkennen ihre Bedeutung für die Erklärung ökonomischer Phänomene. Beispiele finden sich in der Romantischen Schule (z. B. bei Adam Müller), der Historischen Schule (z. B. bei Werner Sombart) oder in evolutorischen Ansätzen, wie bei Thorsten Veblen. Anklänge zu einem Verständnis über die Rolle von vorgestellten Bildern für das ökonomische Handeln unternimmt John M. Keynes (1973, erstmals 1936 publiziert) in seinem Erwartungskonzept, das als sozialpsychologische Theorie interpretiert werden kann (mit philosophischen Bezügen zur Spätphilosophie von Wittgenstein, vgl. Davis 1994 und 1995). George L.S. Shackle (1990) hat Keynes’ Erwartungskonzept subjektivistisch interpretiert und dazu einen expliziten Imaginationsansatz für die ökonomische Theorie entwickelt (z. B. Shackle 1979).43 In den letzten Jahren wurden, wie in Fußnote 1 angeführt, vor allem im Grenzbereich der Ökonomie zur Philosophie sowie im Bereich der Finanzsoziologie verschiedene Ansätze entwickelt, in denen die Bedeutung von imaginativen Zeitvorstellungen vor allem für Finanzinvestitionen analysiert worden ist (als Überblick vgl. auch Beckert 2018, S. 454, 457 ff., der Beitrag von
42In
Teilbereichen der Philosophie, vor allem in der Kunsttheorie, wurde in den letzten Jahrzehnten die Stellung der Bilder intensiv diskutiert, Bilder sind nach Bredekamp (2015, S. 25) von ihrem Status als Sekundärphänomene zu „Elemente[n] der Primärzone des gestalteten Lebens“ aufgerückt – das wurde aber im Bereich der Wirtschaft und der Wirtschaftstheorie kaum reflektiert, vgl. Fußnote 1. 43Vgl. dazu auch Shackles Analyse ökonomisch relevanter Zeitvorstellungen (Shackle 1967). Zum Zeitkonzept vgl. auch Brodbeck (1999).
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Birger Priddat in diesem Sammelband kann als Einführung in diesen Theoriestrang gelesen werden). Die Aufsätze in diesem Sammelband können vor diesem Hintergrund gesehen werden, einige von ihnen reflektieren und vertiefen Sichtweisen der in Fußnote 1 genannten Richtungen. Die ersten beiden Beiträge beschäftigen sich explizit mit Themen von Bildlichkeit in der Philosophie. Karl-Heinz Brodbeck unternimmt in seinem Aufsatz Zur Theorie und Philosophie des Bildes einen breiten Überblick über die Geschichte der Philosophie von Platons „Ideen“ als Urbilder bis zu Wittgensteins Konzeptes eines Gedankens als Bild. Brodbeck geht auch auf neurobiologische Befunde ein und spricht Grundthemen der Kulturwissenschaften an, wie die Geschichte der Metapher von der Camera Obscura oder den „Icon Turn“ – ein solcher hat ja in den Wirtschaftswissenschaften (noch?) nicht stattgefunden. Ralf Lüfter stellt in seinem Beitrag Diltheys Traum. Vom Haben einer Weltanschauung die spezifischen Charakteristiken in den Vordergrund, die eine Weltanschauung nach Dilthey aufweisen muss. Vor allem wird betont, dass darin immer auch historische Aspekte enthalten sein müssen, z. B. eine Vorstellung von ihrer Herkunft und ihrer zukünftigen Möglichkeit, dass es aber auch um unergründliche und unvorstellbare Momente in einer Weltanschauung geht. Karl-Heinz Brodbeck beschreibt in seinem zweiten Beitrag Die Selbstwahrnehmung der Wirtschaft. Zum Wandel herrschender Leitbilder den enormen Wandel, den die Ökonomik in ihre Selbstsichtweise vom 17. bis zum 20. Jahrhundert unternommen hat: von einer Staatslehre bzw. einer Staatswissenschaft zu einer abstrakten Ökonomik, eine zentrale Rolle hat dabei die Entwicklung der Statistik gespielt. In diesem Prozess wurde die Ökonomik quasi objektiviert und zugleich ihrer Moralität entkleidet, die in der Schottischen Politischen Ökonomie noch enthalten war. Silja Graupe unternimmt in ihrem Beitrag „Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen.“ Der motivationale Frame der Ökonomik eine Rekonstruktion der verborgenen Selbstbilder, die in Hauptwerken und Lehrbüchern der Ökonomik seit den 1870er-Jahren bis heute enthalten sind. Die Autorin analysiert die sprachlichen Selbstbeschreibungen ökonomischer Ansätze und fragt, in welchen semantischen Rahmen sie sich platzieren, indem sie sich bestimmte Ziele setzen, indem sie ihre Theorie für bestimmte Personen formulieren und indem sie in diesen Festlegungen nach bestimmten Kriterien vorgehen. Insbesondere wird deutlich, wie weit sich die Lehrbuchökonomie heute von dem ursprünglichen Anspruch der Politischen Ökonomie als einer praktischen und moralischen Wissenschaft (die wissenschaftlichen Standards genügt) entfernt hat, und wie das ideologisch ausgenutzt werden kann.
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Walter Otto Ötsch beschreibt in seinem Beitrag Bilder in der Geschichte der Ökonomie. Das Beispiel der Metapher von der Wirtschaft als Maschine die lange Geschichte der Metapher von der Maschine in der Philosophie (seit der Antike) und in der Ökonomik (seit dem 18. Jahrhundert). Letztere wird anhand von acht unterschiedlichen Metaphern von den Physiokraten zu Adam Smith, Robert Malthus, David Ricardo, John Stuart Mill, Stanley Jevons und Léon Walras und Gérald Debreu bis zu Hayeks Konzept einer erweiterten Ordnung erzählt – diese Geschichte impliziert eine sich immer mehr verengende Reduktion des Menschen auf maschinenhafte Aspekte. Es wird gezeigt, dass in der Neoklassik heute zwei sich widersprechenden Metaphern von der Maschine enthalten sind. Hans Schelkshorn entwirft in seinem Beitrag Auswege aus dem Labyrinth der phantasmata. Thomas Hobbes als Begründer des homo oeconomicus? einen Überblick über das Konzept der imaginatio von der Renaissance bis zur Neuzeit in ihrem Bezug zur politischen Ökonomie: ihre Aufwertung und Problematisierung im Denken der Renaissance und ihre Abwertung im neuzeitlichen Denken des 17. Jahrhunderts, verdeutlicht unter anderem bei Hobbes. Dessen Sichtweise des Menschen gilt oft als Vorläufer des homo oeconomicus. Aber Hobbes hat, das zeigt Schelkshorn, die imaginatio auch seinem Zeitgeist gegenüber vorsichtig aufgewertet und den Gedanken einer schöpferischen Freiheit des Menschen betont, was wiederum Strategien einer Visualisierung seines Denkens freisetzt: Hobbes Bilder von der Wolfsnatur des Menschen oder vom Krieg aller gegen alle haben sich tief in das kollektive Bewusstsein Europas eingeprägt. Birger Priddat positioniert seinen Beitrag Erwarten, Vorstellen, Entscheiden. Zeitbilder der futurischen Entscheidung in oben erwähnten neueren Tradition. Die Zukunft erscheint hier als (visuell) vorgestellter Erwartungsraum mit Erwartungspunkten, die für ökonomische Entscheidungen aktiviert werden: eine Landkarte von verwirklichbar vorgestellten Möglichkeiten, eingebettet in den weiteren Raum „des Möglichen, das wir uns als nicht verwirklichbar vorstellen.“ Priddat beschreibt Finanzobjekte als Projekte imaginativ-apperzeptiver Art und Finanzmärkte als „Bilder“ von Märkten, die sich unmittelbar wandeln können – eine Konstellation, die die ökonomische Standardtheorie aus epistemischen Gründen nicht erfassen kann. Ivo De Gennaro diskutiert in seinem Beitrag „The promised land“. Das Bild der Zukunft in Keynes’ „Economic Possibilities for our Grandchildren“ ein Zukunftsbild, das Keynes 1930 für die Situation nach 100 Jahren entworfen hat. Nach Keynes müsse in dieser Zeitspanne das ökonomische Problem der Knappheit gelöst sein. Der Autor zeigt auf, dass die Utopie von Keynes auf der Hypothese absoluter Bedürfnisse beruht, die nur operativ bzw. machbar befriedigt
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werden können. Dies impliziert einen in der ökonomischen Theorie verankerten Machtwillen bzw. einen „Willen zum Willen“ bzw. einen technischen Willen – eine spezifische Form der Einbildung (die als „Blindheit“ bezeichnet wird), die „das Ökonomische“ zur „universellen zieldefinierenden Wahrheit der Erde“ gemacht hat. Simon Küffer stellt in seinem Beitrag Das massenmediale Bild als konstitutives Moment des Geldes die These einer Entstofflichung des Geldes vor und argumentiert, dass damit keine Entsinnlichung verbunden sei, weil eine Akzeptanz von Geld immer auf visuellen Strategien beruht: Bilder sind konstitutive Bestandteile von Geld, das wird anhand von Bildern und den Strategien, auf denen sie beruhen, gezeigt. Damit realisiere sich auch Herrschaft – das sei mit ein Grund, warum Menschen „durch ihre Geldverwendung ein Geldsystem akzeptieren, welches ihnen vorwiegend schadet“. Steffen W. Groß spannt in seinem Beitrag ‚Bildnerisches Denken‘ als Wissensform der Ökonomie? Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst einen Bogen zur Stellung von Wissenschaft und Kunst seit der Antike, dabei geht es auch um den Zusammenhang von wissenschaftlichem Wissen und menschlicher Erfahrung. Groß beschreibt das Konzept der Ästhetik, das Alexander Baumgarten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Gegenposition zum neuzeitlichen Rationalismus (auf dem auch die neoklassische Mikroökonomie ruht) entworfen hat, und stellt dies in Bezug zum „Bildnerischen Denken“ bei Paul Klee. Dieser markiere auch einen gestalterischen Erkenntnisprozess, der auch in den Wissenschaften stattfindet, wenn sie Weltbilder entwerfen und handlungsorientierende Geschichten schreiben – nach Groß gibt es hier Bezüge zu den Theorien von Alfred Marshall.
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Imagination und Bildlichkeit in der Ökonomie – eine Einführung
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Zur Theorie und Philosophie des Bildes Karl-Heinz Brodbeck
Ein Denken ohne die Bilder der Vorstellung ist nicht möglich. Aristoteles (Aristoteles 1953, S. 63) Das Seelenleben reduziert sich so gänzlich auf diese beiden Elemente: die Empfindung und das Bild. Henri Bergson (Bergson 1908, S. 136) The Image is all the accumulated, organized knowledge that the organism has about itself and its world. George A. Miller, Eugene Galanter, Karl Pribram (Miller et al. 1960, S. 17)
Zusammenfassung
Im Aufsatz wird ein breiter Überblick unternommen, wie in der Geschichte der Philosophie über Bilder gedacht worden ist: von Platons „Ideen“ als Urbilder bis zu Wittgensteins Konzeptes eines Gedankens als Bild. Dabei wird auch auf neurologische Befunde eingegangen und auf Grundthemen der Kulturwissenschaften Bezug genommen, wie die Geschichte der Metapher von der Camera Obscura oder den Icon Turn – ein solcher hat ja in den Wirtschaftswissenschaften (noch?) nicht stattgefunden. Schlüsselwörter
Bildphilosophie · Neurologie der Wahrnehmung · Camera Obscura · Kreativität
K.-H. Brodbeck (*) Fakultät Betriebswirtschaft, Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_2
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K.-H. Brodbeck
1 Einleitung Über Bilder zu sprechen ist in mehrfacher Hinsicht paradox. Nietzsche (1969, Bd. 3, S. 314) nannte die Wahrheit ein „bewegliches Heer von Metaphern“. Unsere Sprache ist durchsetzt von Metaphern, d. h. von Sprach-Bildern, die einen Gegenstand aus einem Bereich durch ein Bild aus einem anderen Bereich „erklären“. Das Bild als das Bild zu verstehen, darüber zu sprechen, erscheint somit hoffnungslos zirkulär. Bilder sind das Gesehene und Vorgestellte, sie sind aber nicht Sprache, und doch sprechen wir unaufhörlich über Bilder. Bilder bleiben stets eingebettet in ein Denken und Handeln, in einen sozialen Prozess. Sie sind zudem untrennbar vom Sehen. Unser Wissen – schon als Wort – gründet in einem Sehen, lateinisch videre. Das Wissen von Bildern ist deshalb vielfältig wie unsere Wissensformen. Es gibt eine Bildwissenschaft – eine Wissenschaft, die ihrerseits viele Disziplinen kennt. Eine zeitgenössische Darstellung trägt den Titel: „Bild – Bildwahrnehmung – Bildverarbeitung“ (Sachs-Hombach et al. 2004). Besonders die dritte Kategorie verweist auf einen spezifisch modernen Zugang zum Bildbegriff: Bilder erscheinen hier als Teil eines technischen Prozesses der Informationsverarbeitung. Und zweifellos ist heute jeder mit PC und Smartphone in der Lage, Bilder in bunter Vielfalt zu erzeugen, zu bearbeiten, auch als Film dynamisch darzustellen. Die Bildwahrnehmung wiederum wird neurowissenschaftlich untersucht als verwickelter Prozess zwischen Gehirnarealen und dem Auge. Andererseits haben Bilder in der Werbung, in der Politik, nachgerade auch in der Forschung eine zentrale, wachsende Bedeutung. Es ist nicht mehr möglich, eine reine Philosophie der Bildlichkeit zu formulieren, ohne Rückgriff auf Ergebnisse aus den Spezialwissenschaften. Eine besondere Expertise für den Bildbegriff wird allerdings vielfach noch von der Ästhetik reklamiert in der sehr engen Bedeutung, die das „Bild“ in der Kunst, in der Malerei, Fotografie oder im Film besitzt. Der viel weitere Bildbegriff, wie er in der Antike, der mittelalterlichen Philosophie, vor allem aber in der Neuzeit auch in Verbindung mit technischen Fragen der Optik diskutiert wurde, bleibt bei einem bloß ästhetischen Zugang verborgen. Gadamer sagt: „Die Frage nach der Seinsart des Bildes (…) fragt nach etwas, was allen verschiedenen Erscheinungsweisen des Bildes gemeinsam ist.“ (Gadamer 1975, S. 129)
Die Begrenztheit von Gadamers Fragehorizont wird aber sofort deutlich, wenn er fortfährt, dass diese Abstraktion nicht willkürlich sei, sondern etwas ist, das sich bereits „vom ästhetischen Bewußtsein vollzogen findet, dem im Grunde alles zum Bilde wird, was sich der Bildtechnik der Gegenwart unterwerfen läßt.“ (ebenda).
Zur Theorie und Philosophie des Bildes
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Vom Bild spricht man aber auf weit vielfältigere Weise als nur in der Ästhetik oder einer „Bildtechnik“, auch wenn technische Phänomene – wie die Camera obscura, auf die noch ausführlich einzugehen ist – die Bildwahrnehmung und ihre Erklärung auf vielfältige Weise beeinflusst haben. Auch die Kunst ist davon abhängig. Leonardo da Vinci hat eine Camera obscura ebenso verwendet wie der berühmte holländische Maler Johannes Vermeer van Delft, aber auch Naturwissenschaftler wie Kepler oder Helmholtz. Dass man empirische Forschung über Bilder und Bildwahrnehmung und die Philosophie des Bildes nicht mehr trennen kann, ohne sich eine hoffnungslos antiquierte Blickweise vorwerfen lassen zu müssen, möchte ich einleitend an einer ursprünglich rein philosophischen Frage kurz skizzieren. Ich spreche vom sog. „Molyneux-Problem“.1 Am 7. Juli 1688 schrieb der irische Wissenschaftler und Politiker William Molyneux einen Brief an John Locke, in dem er folgende Fragestellung skizzierte:2 Man stelle sich einen blind geborenen Mann vor mit einem entwickelten Tastsinn und gebe ihm eine kleine Kugel und einen Würfel auf einem Tisch zum Tasten. Durch eine Operation werde der Mann sehend. Ohne beide Gegenstände erneut zu berühren, wird er gefragt, welcher Gegenstand denn nun die Kugel, welcher der Würfel sei. Die Frage lautet: Kann er vor dem Hintergrund seiner früheren Sprach- und Tasterfahrung beide Gegenstände sehend korrekt benennen? An diese Frage schloss sich in der Philosophie eine lange Diskussion an, zu der auch George Berkeley (1987, S. 76 f.) und Adam Smith (1982, S. 153 ff.) beitrugen. Bis in die jüngere Zeit wurde die Debatte fortgeführt.3 323 Jahre nach Molyneux’s Brief gelang es Pawan Sinha, einem indischen Augenarzt in der Stiftung Project Prakash, die für an Grauem Star erkrankte Kinder Operationen organisiert und finanziert wurde, Molyneux’s Frage zu beantworten:4 Der operierte Blinde würde die Figuren nicht erkennen. Anhand von Lego-Bausteinen wurden von Geburt an blinden, später operierten
1Einen
vergleichbaren Fall veröffentlichte 1728 der Engländer William Cheseldon (1688– 1752); vgl. Hoffman (2001, S. 35 ff.). 2Locke (1752, S. 31 ff.) Locke zitiert Molyneux in: Locke (1836, S. 83 f.). 3Vgl. Degenaar (1996); Park (1969); Campbell (1996); Levin (2008). Es ist bemerkenswert, dass für die „Bildwissenschaft“ diese Frage scheinbar keine Rolle zu spielen scheint; bei Sachs-Hombach und Rehkämper (2004) fehlt eine Diskussion dieser Frage ebenso wie in Sachs-Hombach (2005). 4Indische Augenärzte lösen Frage der Aufklärung, Ärzteblatt online vom 11. April 2011, www.aerzteblatt.de/blog/45426/Molyneux-Problem-Indische-Augenaerzte-loesen-Frageder-Aufklaerung (26.6.2019).
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Kindern die Frage gestellt, ob sie Objekte, die sie zuvor sehr gut ertastet hatten, durch reines Betrachten wiedererkennen. Die Antwort ist zu differenzieren: Zunächst nicht. Die Ergebnisse der ersten Befragung waren nicht von zufälligen Antworten zu unterscheiden. Mit der Zeit können die operierten Kinder aber durch die Verbindung von Tasten und Sehen auch langsam Formen rein visuell erkennen. Ich werde derartige Fragen nochmals aufgreifen. Es lässt sich aber bereits an dieser Stelle eine Antwort geben: Erstens sind philosophische Probleme der Erkenntnis wenigstens teilweise durchaus auch empirisch-wissenschaftliche Fragen. Es gibt hier keine überlegene, rein philosophische Perspektive. Zweitens erweisen sich Bilder in der Wahrnehmung nicht als unabhängige, selbständige Entitäten. Man kann sie nicht von anderen Sinnesbereichen, damit nicht von der gesamten Verkörperung des Menschen trennen.5 Und da – drittens – Menschen leben, d. h. in Situationen handeln, steht zu vermuten, dass Bilder nicht von ihrem sozialen Handlungsbezug getrennt werden können. Bildhafte Erinnerungen evozieren stets ganze Situationen und zugehörige Gefühle. Wir sehen die äußeren Dinge „nur unter dem Blickwinkel der menschlichen Tätigkeiten, die in, mit oder an ihnen vorgenommen werden können.“ (Merleau-Ponty 2000, S. 21). Eine Metaphysik „des“ Bildes erweist sich deshalb ebenso als Irrweg wie eine reine Theorie der Bildlichkeit, die die genannten Bezüge nicht herstellt.
2 Eidos – Idea – Bild Das deutsche Wort „Bild“ besitzt eine merkwürdige Herkunft. Es geht auf die indogermanische Wortwurzel bhei zurück, aus der auch das Wort „Beil“ gebildet wurde, und bedeutet „schlagen“. Es ist ein substantiviertes Verb (mittelhochdeutsch billen = „hauen“, „meißeln“) und bedeutet ursprünglich das Gestaltete, das Geschaffene überhaupt. Welcher lebensweltliche Bezug kann hier dechiffriert werden? Der Horizont dieses Begriffs ist offenbar das handwerkliche Arbeiten. Arbeiten heißt hier, etwas aus einer Vorstellung schaffen, „bilden“. Die Vorstellung dient als Ur-Bild des Geformten; das Geformte ahmt das Ur-Bild nach. Oder in anderer Bedeutung: Die äußere Form ist das entäußerte Innere, das als Vor-Bild zunächst eine rein geistige oder ideelle Natur besitzt.
5„Die
äußere Wahrnehmung und die Wahrnehmung des eigenen Leibes variieren miteinander, weil sie nur zwei Seiten ein und desselben Aktes sind.“ (Merleau-Ponty 1966, S. 241).
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Tatsächlich ist diese Denkfigur im Umkreis des Bildbegriffs sowohl in der Philosophie wie in der Religion beheimatet. Bei Platon findet sich bezüglich der Stellung des Bildes nicht nur die Lehre von den Ur-Bildern (idea; eidê). Sein Höhlengleichnis ist zugleich so etwas wie das Ur-Bild aller Ur-Bilder selbst. Platons Geschichte ist bekannt (Platon 1982, 514–517, S. 327 ff.): Menschen sitzen gefesselt in einer Höhle, mit dem Rücken zum hellen Höhleneingang. Draußen vor der Höhle werden Gegenstände vorbeigetragen. Diese werfen auf die Rückseite der Höhle Schattenbilder (eidola), auf die die Menschen in der Höhle blicken und an diese Schatten gewöhnt sind. Findet nun eine Umkehrung statt, wendet jemand seinen Blick direkt der Helle des Lichtes zu, so ist er geblendet und kann gar nichts erkennen. Die Dinge im Licht sind das Ur-Bild (idea), ihr Schatten ist nur ein Abbild (eikôn). Die Wahrheit der Abbilder, ihre Quelle ist das Urbild, das sich in der wahrgenommenen Welt ( = Schattenbilder an der Höhlenwand) nicht unmittelbar findet und darin nur unvollkommen widerscheint. Die Ideen sind von den äußeren Dingen getrennt. Die Art der Teilhabe der Abbilder am Urbild ist in vielen Varianten das Thema der europäischen Philosophie geblieben, die nach dem Wort Whiteheads nur aus Fußnoten zu Platon besteht.6 Unverkennbar ist hier das Denkmodell des Handwerkers (demiourgos). Es muss, so der Gedanke, für die sichtbaren Dinge einen Ursprung geben. Da alle Dinge geformt sind, Formen aber – wenn man sie vorstellend ins Bewusstsein holt und die Augen schließt – Bilder sind, muss es, so der Gedanke, für ihre Entstehung ein Subjekt geben, das sie aus seinem Geist geschaffen hat. Was in den theistischen Religionen weitgehend mythologisch ausgesprochen wird, hat Platon in eine reflektierte Form gebracht. Sein Denkmodell „Handwerker“ ist auch in seiner Ideenlehre unübersehbar. Allerdings ist der menschliche Handwerker, anders als der göttliche Demiurg, unvollkommen. Der Handwerker hat Macht über das Bilden, nicht aber über das Bild, über die Idee. „Der Handwerker schaut auf die Idee jedes dieser Geräte und erzeugt so hier die Tische, dort die Stühle, deren wir uns bedienen, und alles andere ebenso. Denn die Idee selbst verfertigt keiner der Handwerker“ (Platon 1982, 596b, 432).
Aristoteles modifiziert Platons Blickweise, verbleibt aber im Handwerkermodell. Er sagt:
6„The
safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.“ (Whitehead 1978, S. 39).
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K.-H. Brodbeck „Die Handwerker dagegen gleichen manchen unbelebten Dingen, die zwar etwas hervorbringen, aber nicht wissen, was sie hervorbringen“. (Aristoteles 1970, 981b, S. 19).
Das Denkmodell „Handwerker“ ist bei Aristoteles noch an anderer Stelle erkennbar. Er erklärt alle Dinge durch die Dualität von Form und Materie, deren Zustandekommen auf vier Ursachen (Zweck, Formursache, Wirkursache und Materie) zurückgeführt wird. Die Formursache (eidos) formt die Dinge. Dieser Gedanke lässt unschwer wiederum die Struktur menschlichen Arbeitens erkennen, das für einen bestimmten Zweck (telos) als Tätigkeit (energeia) ein Material (hyle) nach einer Idee formt. Die Form als Vor-Bild lenkt das Tun, wird aber nicht von Menschen hergestellt. Platons Antwort, dass die menschlichen Bilder an den Urbildern (paradeigma) Anteil hätten, verwirft Aristoteles: „Wenn man aber sagt, die Ideen seien Vorbilder (paradeigmata) und das Andere nehme an ihnen teil, so sind das leere Worte und poetische Metaphern. Denn was ist denn das werktätige Prinzip (to ergazomenon), welches im Hinblick auf die Ideen arbeitet?“7
Die Antwort auf die letzte Frage – es sind eben Arbeiter, Handwerker, die arbeiten – hat sich Aristoteles selbst verbaut, wenn er dem Handwerker das eigentliche Wissen um das, was er hervorbringt, abspricht. Bilder, die das handwerkliche Tun vorstellend lenken, sind nicht durch eine ontologische Differenz von nur postulierten Urbildern verschieden. Sie mögen anderen Dingen oder Gedanken ähnlich sein und sie so abbilden. Doch besteht hier keine hierarchische Differenz – ein Gedanke, der offenbar für Platon und Aristoteles durch ihre lebensweltliche Einbettung in eine Welt der sozialen Trennung von Herr und Sklave unerkannt wirksam geblieben ist. Wie Philosophen nicht arbeiten und so über dem handwerklichen Tun stehen, so soll die Erkenntnis der lenkenden Urbilder über den Bildern stehen, die tätig verwirklicht werden. Dass diese Herrschaft, die bei Platon „Teilhabe“ heißt, Aristoteles unverständlich bleibt und er solches nur „leeres Gerede“ nennt, ist also dialektisch gesprochen wahr und falsch.
7Aristoteles
(1994, S. 64). Franz F. Schwarz übersetzt: „Auch die Behauptung, es handle sich bei ihnen um Urbilder und die anderen Dinge hätten an ihnen Anteil, bedeutet nichts weiter als leeres Gerede und heißt nur dichterische Vergleiche vorbringen. Denn was ist das, das werkt und zu den Ideen blickt?“ (Aristoteles 1970, S. 45; vgl. S. 337).
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Das Wissen, das Haben von Ideen, ist im Weltbild der griechischen Antike begrifflich und sozial getrennt vom „bloß“ nachahmend tätigen Handwerker, zu schweigen von Sklaven. Das Bilden als das Herzstück des Arbeitens hat zwar kausale Macht über äußere Dinge, weil es in sie verflochten ist, damit mit ihnen auf einer Stufe steht. Doch die darin aufscheinende Form gründet in einem Inneren, einem Bild, über das nur ein übergeordnetes Wesen, ein Gott Macht hat. Gott ist allem anderen voran die Macht über die Bilder. Dies drückt sich in der Hebammenkunst (Maieutik) von Sokrates aus, der nur je schon vorgegebene Ideen denkend hervorholt, aber nicht selbst macht: „Ich gebäre nichts von Weisheit (…) Geburtshilfe leisten nötigt mich der Gott, erzeugen aber hat er mir verwehrt.“ (Platon 1958, Werke Bd. 4, Theaitetos, 150c, S. 115).
Nur der Gott kann, als Metabildner, die Bilder selbst bilden. Der Gott erschuf nach Platon die eine Idee aller Stühle, „jenen wesenhaften Stuhl.“8 Der Handwerker blickt auf das Abbild der Stuhlidee und formt Stühle in Holz, einem gleichfalls vorgegebenen Material (hyle). Das kreative Er-Schaffen von UrBildern und äußerem Material kommt aber nur einer Macht jenseits der Erfahrungswelt zu. Nur sie hebt die Dinge ins Sein. Das Seiende kann „nur durch das Wirken eines Gottes aus dem vorherigen Nichtsein in das nachfolgende Sein gelang(en)“ (Platon 1990, 265c, S. 183). Dieses kreativ-göttliche Wirken ist doppelt: Erschaffung der Urbilder und Erschaffung der Dinge nach ihrem Vorbild. Die Welt ist ursprünglich, so kann man aus diesem Denkhorizont sagen, aus Bildern hervorgegangen, sie ist selbst „ein bewegliches Bild der Ewigkeit“.9 Obgleich Aristoteles mit Platon im Urteil über die ontologische Stellung des Handwerks im Vergleich zum kreativen Gott übereinstimmt, bestimmt er den Begriff des Bildes selbst anders. Während Platon zur Idee durch eine Umkehr
8Platon (1982, 597c, S. 434). Gott ist „der Schöpfer des einen wahren Stuhles“, er „schuf ihn nur einmal in wesenhafter Form“ (ebenda, 597d, S. 434). Es gibt bei Platon drei Stuhlbilder: 1) den wesenhaften Stuhl (das Urbild, idea); 2) die Erscheinungsform durch die Herstellung des Handwerkers und 3) die Nachahmung des Stuhles durch einen Maler, der ein Abbild davon anfertigt. Die drei Bilder sind zugleich ontologisch gedeutet Grade des Seins und der Wahrheit. 9Platon, 1058, Bd. 5,Timaios 37d; S. 154). Ich gebe die gewöhnliche Übersetzung wieder; Schleiermacher verwendet statt „Ewigkeit“ „Unvergänglichkeit“.
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des Blickes nach Innen denkend gelangt, findet Aristoteles das Bild im nachahmenden Blick nach außen. Erkenntnis ist für ihn vor allem ein Ab-Bild der äußeren Formen der Dinge. „Denn Bild (eikon) ist etwas, dessen Entstehung auf Nachahmung (mimesis) beruht.“ (Aristoteles 1922, 140a, S. 126)
Man darf „Abbild“ bei Aristoteles allerdings nicht ganz wörtlich, d. h. nur visuell nehmen. Was in der Erkenntnis als Form der Dinge abstrahiert wird, ist das eidos. Eidos ist die „substanzielle Form“ der Dinge, die Form der Materie (hyle). Diese Form ist nicht mit deren sichtbarem Umriss identisch (sozusagen mit ihrem fotografischen Abbild), sondern meint vielmehr eine innere Struktur, die sich in Funktionen äußert; bei Lebewesen in Fähigkeiten, die sie besitzen. Das Bild ist eine bloße Nachahmung des Eidos; gelegentlich auch nur dessen metaphorische Umschreibung. Ist bei Platon das Bild als Idee das Maß aller Dinge, so stuft es Aristoteles herab, wenn er das Eidos im Plural, die platonischen Ur-Bilder, in seiner pointierten Formulierung als „leeres Wortgeklingel“ bezeichnet, auf die man verzichten kann bei Erklärungen, „da die Beweise es mit den sinnlich wahrnehmbaren Dingen zu tun haben, die uns umgeben.“ (Aristoteles 1975, 83a, S. 45). Aristoteles sucht also die Formen in den Dingen. Ideen oder Bilder dafür mag es nach seiner Auffassung unabhängig davon im Geist geben. Doch sie spielen für die (empirische) Erkenntnis keine primäre Rolle neben den abstrahierten Wesensformen. Deren Formcharakter selbst bleibt hier aber dunkel, was in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption dann zu umfangreichen Diskussionen führte. Vor allem ist für Aristoteles auch die Zahl nur ein Adjektiv, eine äußere Tätigkeit an den zählbaren Dingen, nicht ein Wesen der Dinge selbst, wie bei Platon, für den die Zahlen die höchsten Ideen sind. Bei Platon sind die Welt-Phänomene jeweils Abbilder (eikon eidolon) der ursprünglichen Ideen, zu denen auch und gerade die Zahlen gehören. Man kann hier erkennen, dass die beiden philosophischen Hauptströme in der Erkenntnistheorie, der Idealismus und der Realismus, sich um eine Auslegung des Bildbegriffs gruppieren. Zwar bestreitet niemand, dass Bilder im Inneren, im Geist, im Bewusstsein, im Denken als eine besondere Seinsweise vorkommen, auch nicht, dass sie ontologisch von äußeren Formen, von einem äußeren Ge-Bilde, verschieden sind. Uneinigkeit besteht allerdings bereits zwischen Platon und Aristoteles in der Frage, wie wir Menschen zu diesen Bildern kommen. Der philosophische Idealismus verortet die Bilder vorgängig im menschlichen Geist, als dessen Apriori. Der Materialismus sieht in den Bildern nur Ab-Bilder der äußeren Welt. Man ist sich zwar uneinig über den Weg, wie die
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äußeren Formen ins Bewusstsein gelangen – ja, überhaupt, was die ontologische Sonderstellung des Bewusstseins als Träger solcher Bilder ist. Gleichwohl wird im Materialismus behauptet, dass der ursprüngliche Ort aller Bilder ein äußerer, ein objektivierbarer Ort ist. Es verbleibt allerdings in der Philosophie bezüglich der Frage der Entstehung von Bildern ein dunkler Fleck. Die eigentliche Entstehung von Bildern kann nicht als Bilden gedacht werden. Denn alles Bilden, alles Herstellen, erkenntnistheoretisch sublimiert als abstraktes „Entstehen“ vorgestellt, wird ja gedacht als Nachahmung (Mimesis). Platon hat, wie gesagt, alle Bilder auf Urbilder zurückgeführt. Doch woher stammen die Urbilder? Er verortet sie in einem Gott. Dieser Gott hat aber durchaus menschliche Züge. Er ist tätig und hat einen Geist. Wissen und Erkennen eines Gottes sind Menschen nicht zugänglich. Weshalb? Menschen haben doch gleichfalls Geist? Sie könnten aber, sagen Platon und Aristoteles gemeinsam, keine Bilder, zu schweigen von Ur-Bildern produzieren. Die poiesis, das Machen oder Wirken ist ein allgemeines Hervorbringen als eine Kunst (techne), an deren Ende das Werk (ergon) steht. Das ursprüngliche Bild aber, das diese Kunst lenkt als causa formalis, bringt dagegen nur der Gott hervor. Doch was tut dieser Gott? Das kreative Tun des Gottes wird erst in der durch das Christentum vermittelten Theologie näher bestimmt. Hier tritt allerdings, herkommend aus der jüdischen Tradition und dem darin ausgesprochenen Bilderverbot, das Wort (der Logos) in den Vordergrund. Der Einleitungshymnus des Johannes-Evangeliums legt den Ursprung der Welt in das Wort, das als Gott ausgesprochen und vermenschlicht wurde. Jesus wurde als Christus mit diesem Logos gleichgesetzt. Zugleich aber legte ihn die scholastische Theologie auch als „Bild-Gott“ aus. Gott der Unsichtbare wurde im Bild Christus sichtbar. Und der Mensch ist diesem Bild ähnlich, denn nach Auskunft der biblischen Genesis wurde der Mensch „nach Gottes Bild“ erschaffen. Es wurde in der scholastischen Theologie in vielen Varianten hier ein Harmonisierungsversuch unternommen, der letztlich immer um das Problem des Verhältnisses von Sprache und Bild kreiste. Dies wurde als Fragestellung bis in die Gegenwart weitergereicht. Vollzog sich im Judentum gleichsam ein erster linguistic turn, so hob die Scholastik – im Hegelschen Sinn – diese Kehre in einem iconic turn auf: Gott als Christus wurde nun vielfältig auch bildlich dargestellt und in symbolischen Formen gedeutet. Doch all diese Kehren (turns) sind eigentlich nur andere Schwerpunktsetzungen innerhalb des Denkens im Horizont von Sprache und Bild. Es ist keine mit einer Abkehr verbundene Umkehr hin zu Sprache oder Bild. Zudem möchte ich betonen – wenn auch an dieser Stelle nicht der Ort ist, dies näher auszuführen –, dass in aller Regel, wenn wir von geformter Erfahrung, von E rkenntnis- und
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Denkformen sprechen, eine dritte Dimension vergessen wird. Dies ist das rechnende Denken, das aus dem Geldverkehr bzw. in prämonetären Formen aus ökonomischen Prozessen hervorgegangen ist. Man könnte durchaus in der Achsenzeit auch von einem pecuniary turn sprechen, der in der Neuzeit sich philosophisch und wissenschaftlich zu einem mathematical turn gemausert hat.10 Festzuhalten ist folgende Erkenntnis: Wenn in Philosophie und Religion das Verhältnis von Denken und Wirklichkeit, von inneren Bildern und äußeren Formen diskutiert wird, dann bleibt das Werden, die Entstehung von Bildern jeweils als Bild, nicht als Ab-Bild, nicht als bloße Nachahmung (mimesis) im Dunkeln. Dieses Dunkel der Entstehung hat im Begriff „Gott“ nur eine scheinbare Unterkunft gefunden. Denn das creare eines Gottes, das ja ein Schaffen von Bildern ohne Vorbilder ist, bleibt dunkel. Anders gesagt: Beim Blick auf das Bild als Bild, auf das „Wesen“ des Bildes zeigt sich als Ort der Betrachtung des Hervorbringens die Arbeit, die ihrerseits auf das Denken und Vorstellen bezogen sind. Doch dieses Hervorbringen als Nachahmen lässt das eigentlich kreative „Tun“ unerklärt: Die Entstehung der Bilder im Innern, der Formen im Äußeren. Nennen Platon, Aristoteles und die theistischen Systeme diese Quelle der Kreativität „Gott“, den sie über die Menschen und die Natur stellen, so übersetzt die Moderne dieses Nichtwissen um die Kreativität mit „Zufall“, gepaart mit mechanischen Variations- und Selektionsprozessen. Der theologische Gegenstand „Gott“ ist nur das unbestimmte Bild für die Kreativität überhaupt, „weil die Sache selbst Bild ist.“ (Feuerbach 1843, S. 111). „Zufall“ als Antwort auf die Frage nach dem Entstehen der Bilder, der Formen ist nichts weniger als eine Nichtantwort, ein teilweise nur mathematisch aufgeplustertes Nichtwissen. Wenn sich dagegen nun in jüngerer Zeit Anti-Darwinisten bemühen, die Wahrscheinlichkeit für die natürliche Bildung komplexer Moleküle, damit für eine natürliche Evolution zu berechnen und als extrem unwahrscheinlich dann ablehnen, so liegt auch hier der Denkfehler schon im Ansatz. Wer zu rechnen beginnt, hat das Denken schon aufgegeben, weil man Modelle immer so lange modifizieren kann, bis ein erwünschtes Ergebnis „passt“. Was nämlich weder Naturwissenschaft noch Evolutionsbiologie jemals qualitativ als Erklärung anbieten konnten, ist die Antwort auf die Frage: Wie lässt sich aus mechanischer Kausalität, welch komplexer Natur auch immer, jemals eine Form, ein Bild erklären? Bilder sind etwas völlig Anderes als physische Prozesse. Umgekehrt gilt vielmehr: Die Erklärung physischer Prozesse ist selbst durchsetzt von Bildern, die als diese
10Vgl.
zum Geld als Denkform neben dem Logos Brodbeck (2016).
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unerklärt bleiben müssen. Man kann wohl in Bildern etwas klären, daraus aber nicht das Bilden von Bildern ableiten. Die Ehrfurcht der Alten vor dem Bild, das sie in einem Gott verorten und die Christen ihren Gott selbst ein Bild nennen, ist also durchaus verständlich.
3 Bildphilosophie – eine kleine historische Skizze Es hat sich bei Platon und Aristoteles die Abhängigkeit der Ideen- und Bilderlehre vom Denkmodell des Handwerkers bekundet. Dies wird auch im Theismus formal reproduziert. Der kosmische Demiurg „Gott“ wird so gedacht wie ein Handwerker. Ich verdeutliche das nur durch ein Beispiel bei Thomas von Aquin. In seiner Summa Theologica spricht Thomas nach der Erörterung des göttlichen Wissens auch von den Ideen und sagt hier: „Es ist notwendig, im göttlichen Geiste Ideen anzunehmen.“ (Thomas von Aquin s.th. I.15.1 DTA Bd. 2, S. 66). Ideen – lateinisch: Formen – bestehen in sich selber als Urbilder, wie auch Platon sagt. Doch der Ort der Formen ist der göttliche Geist, in dem das Bild der ganzen Welt antizipiert ist – wie auch ein Handwerker erst eine Idee, eine bildliche Vorstellung dessen im Geist hat, was er herstellt. Hier spricht Thomas explizit die Herkunft des zentralen Denkmodells in seiner Theologie aus, jenes Denkmodell, das die Schöpfung erklären soll: „So besteht die Ähnlichkeit des Hauses im Geiste des Baumeisters voraus. Und diese kann die Idee des Hauses genannt werden, weil der Künstler das Streben hat, das Haus der Form anzugleichen, die er im Geiste empfangen hat. Weil nun die Welt nicht durch Zufall entstanden, sondern von Gott erschaffen wurde, der durch den Verstand tätig ist, muß notwendig im göttlichen Geiste die Form vorhanden sein, auf deren Ähnlichkeit hin die Welt erschaffen ist. Und darin besteht das Wesen der Idee.“ (ebenda, S. 67)
Weiterhin wird aber Gott allein, wie bei Aristoteles und Platon, die Fähigkeit zugeschrieben, auch Urbilder erschaffen, also wirklich kreativ sein zu können. Die dogmatische Fixierung auf die „offenbarte Wahrheit“ der Bibel führte zu einer doppelten Ontologisierung des Bildes als Bild: Einmal wird das Bild, durchaus anknüpfend an Platon, als ein Seiendes neben anderem Seienden betrachtet. Zwar ist auch bei Platon das „Bild nicht in sich selbst, sondern in etwas und von etwas anderem.“ (Ambuel 2010, S. 26). Gleichwohl wird es, verortet als Ur-Bild im Geist des Gottes, seiner Abhängigkeit und seines Prozesscharakters entkleidet. Dies zeigt sich bei Thomas zum anderen darin, dass der Gott nicht mehr nur – wie bei Platon und Aristoteles – der Demiurg der Bilder
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ist, sondern durch die Person Christus selbst als Subjekt „Bild“ genannt wird. Der Sohn als „Bild“ ist Hervorgang aus dem Vater. „Was im Göttlichen aber Hervorgang oder Ursprung besagt, sind personenhafte Gegebenheiten. Also ist der Name Bild ein personenhafter Name“.11 In dieser doppelten ontologischen Aufladung verliert das Bild schrittweise seinen relationalen Charakter, hört auf, „Bild“ im gewöhnlichen Sinn zu sein. Ein Neuanfang zeigt sich erst wieder in der empirischen Philosophie, bei John Locke, David Hume und der Psychologie des 17. und 18. Jahrhunderts. Unverkennbar kehren allerdings auch hier Motive wieder, die in der griechischen Antike vorgezeichnet sind. Man kann dies in einer einfachen Fragestellung ausdrücken: Wie gelangen Bilder in den menschlichen Geist? Zur Erinnerung: Thomas von Aquin hatte auf die Ebenbildlichkeit des Menschen zum göttlichen Geist verwiesen, die im Intellekt besteht. Bilder sind im menschlichen Geist immer nur Nachbildungen dessen, was Gott vorgedacht hat. Er ist der Creator aller Urbilder. Aufgrund der Ebenbildlichkeit des Menschen – die in seinem Intellekt besteht – kann der Mensch aber diese Bilder nach-bilden in seiner Vernunft. Nikolaus von Kues bekräftigt, trotz mancher Weiterführung scholastischen Denkens, noch denselben Horizont, wenn er sagt, dass in der „höchsten Weise der Schau“ der Mensch als „lebendiges Bild Gottes sich umwendet zu seinem Urbilde hin mit aller Bemühung, ihm ähnlich zu werden.“12 Doch diese Ebenbildlichkeit bewahrt in der scholastischen Weltsicht die alte, bereits in der Antike behauptete Grenze: Echte Kreativität, die Erschaffung neuer Urbilder, bleibe dem Menschen verwehrt. Nun ist ja auch die äußere Welt der geformten Materie ein großes Buch der Bilder. So ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder die Bilder sind – woher auch immer – je schon a priori im Intellekt und werden auf äußere Dinge als Formen projiziert (prosthesis). Oder sie werden von außen von den Dingen aufgenommen, abgezogen (abstractio). Der Ort aller Bilder als Bilder (allgemeiner: aller Begriffe und Anschauungsformen) aber ist der Geist. Bilder sind nach der ersten Anschauungsweise a priori in ihm. Bilder formen den Blick auf äußere Dinge, die durch diesen geformten Blick dann auch als geformte erscheinen. In Platons Höhlengleichnis gesagt: Das Licht, das die Schatten in der Höhle wirft, stammt vom menschlichen Intellekt.
11Thomas
von Aquin (s.th. I.15, 1 DTA Bd. 2, S. 67). Dass dieselbe Denkfigur sich noch bei Marx findet, ohne in ihrem Gehalt wirklich expliziert zu werden, habe ich an anderer Stelle gezeigt, vgl. Brodbeck (2018a). 12De mente zitiert nach von Bredow (1995, S. 89).
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Nun war es aber gerade Platon selbst, der durchaus im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Ideenlehre noch eine ganz andere Denkmöglichkeit eröffnete. Diese andere Antwort wurde im Zusammenhang mit der Frage nach dem Gedächtnis gegeben. Hier taucht als Denkmodell für den menschlichen Geist das Wachs auf, das auch als Schreibfläche diente. Ovid nimmt Platons Gedanken auf und spricht in seinen Metamorphosen den göttlichen Gehilfinnen die Aufgabe der Bewahrung zu. Sie sind es, denen „Vergangenes nicht entgeht“ (XV, 165 f.) „Wie das geschmeidige Wachs, zu neuer Gestalt sich bequemend. Weder verbleibt, wie es war, noch hält an den selbigen Formen, Aber dasselbe doch ist; so bleibt auch, lehr’ ich, die Seele Immer sich gleich und begibt sich nur in verschiedene Formen.“ (Ovid 1862, S. 138)
Das Wachs ist das Bild für die Seele als Substanz, die Bilder empfängt. Platon lässt Sokrates im Theaitetos sagen, es gleichen unsere „Seelen eine(m) wächsernen Guss, welche Abdrücke aufnehmen kann“ (Platon 1958, Bd. 4, Theaitetos 191c, S. 159). Platon verwendet im Timaeus, einen Spätdialog, ein analoges Bild, diesmal bezogen auf Gold. Er sagt hier: Wenn man aus Gold alle möglichen Gestaltungen bildet und dabei „nicht müde würde, jede zu allen anderen umzubilden“, so wäre die Antwort auf die Frage, was dies jeweils sei, „in Hinsicht auf die Wahrheit bei weitem das sicherste zu sagen: Gold“13. In beiden Metaphern – Wachs und Gold – wird die Seele als empfangende Substanz vorgestellt, die temporär Formen aufnehmen kann. Aristoteles übernimmt diesen Gedanken in seiner kleinen Schrift Über Gedächtnis und Erinnerung und bringt ihn in das bekannte Bild vom Siegelring: Eine „ablaufende Bewegung (lässt) gleichsam einen Eindruck des Wahrnehmungsbildes zurück, wie wenn man mit einem Ring gesiegelt hat.“ (Aristoteles 1953, 450a, S. 65.) Diese Vorstellung der Erkenntnis als Ab-Bild hat sich in vielen Varianten bis in die Gegenwart reproduziert. Sprach das Mittelalter noch von „Seele“, die durch äußere Bilder informiert wird (dass also die Formen, von außen kommend, ein Ab-Bild in die Seele einprägen), so wurde „Seele“ in der Neuzeit durch „Gehirn“ übersetzt. Das Gehirn verarbeitet nun visuelle Informationen (die visuelle Intelligenz nimmt fast die Hälfte der Großhirnrinde in Anspruch, vgl. Hoffmann
13Platon
(1958, Bd. 5, Timaios 50b, S. 172). Zur gewandelten Stellung des Ideenbegriffs in dieser Schrift vgl. Lee (1966).
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2001, S. 256), erzeugt so innere Bilder, die zwar modifiziert werden mögen, insgesamt aber ihren Ursprung im Sehen, im Bild auf der Netzhaut des Auges haben. Der aristotelischen Mimesis-Vorstellung folgt noch vielfach die Philosophie bis heute. Erkennen wurde unmittelbar oder in eher verklausulierter Form als Prozess der Bilder gedeutet. So sagt Otto Willmann (1959, S. 420): Erkennen „ist immer zugleich ein Abbilden, ein Informieren, ein Nachdenken des Vorgedachten.“ Bei Wittgenstein wird „Bild“ zum abbildenden Modell: „Wir machen uns Bilder der Tatsachen. (…) Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.“14 Auch der Marxismus bleibt hier aristotelisch: „Materialismus ist die Anerkennung der ‚Objekte an sich‘ oder außerhalb des Geistes; die Ideen und Empfindungen sind Kopien der Abbilder dieser Objekte“, sagt Lenin und betont: „dass das Weltbild ein Bild dessen ist, wie sich die Materie bewegt“ (Lenin 1971, S. 16 und 358). Inwiefern andere als der Gesichtssinn Bilder liefern, blieb aber ein Problem. Carl Braig sagt, dass alle Sinne „Spuren“ als Zeichen hinterlassen. Der „niedere sinnliche Eindruck“ affiziert die „Geistesenergie im Leiblichen“ und fungiert als „Gemeinsinn“. „Die Vorstellung, in der die ‚Spurzeichen‘ der Sondersinne verknüpft sind, ist das Gemeinsinn-Bild. Endergebnis der Sinnenbetätigung, ist das Gemeinsinnbild der ‚concrete‘, der ‚empirische Begriff‘.“ (Braig 1897, S. 163)
Platons „Wachsvorstellung“ wird hier abstrahiert zu einem eigenen Sinn, dem Gemeinsinn, der auch in der Scholastik, anknüpfend an Aristoteles, bereits eine zentrale Rolle gespielt hatte. Aristoteles stellte die Frage, wie die Dinge in verschiedenen Sinnen dennoch als eines aufgefasst werden können. Und er postuliert hier einen Gemeinsinn, denn für „die gemeinsamen Eigenschaften der Wahrnehmung haben wir schon einen gemeinsamen Sinn“ (Aristoteles 2011, 425a, S. 127). Er betonte vor allem, dass man Größe, Bewegung und Zeit nicht unmittelbar erfasst. „Das Vorstellungsbild ist ein Erzeugnis des Allgemeinsinns“ (Aristoteles 1953, 450a, S. 64). In der Sprache können wir Bilder einer getasteten Form, einem Geruch usw. zuordnen. Und dieses zuordnende Sprechen gründe – so sagt die aristotelische Tradition – in einem gemeinsamen Sinn, einem Inneren, das sie vereinigt. Otto Willmann nennt diesen inneren Zusammenhang der Sinne als Gemeinsinn „die Einheit der sinnlichen Erkenntniskraft“. Philosophisch kann man aber dieses Gemeinsame der Sinne nur wiederum metaphorisch ausdrücken,
14Wittgenstein
(1980, Tractatus 2.1 und 2.12, S. 14). Zu Wittgensteins Bild-Theorie vgl. Mersch (2018, S. 18 ff.).
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da Willmann zufolge die verzweigten Sinne in „verschiedenen Sprachen, welche die Sinne sprechen“ im Gemeinsinn auf eine „gemeinsame Ursprache zurück(gehen)“ (Willmann 1959, S. 187). Hier fällt auf, dass die Sprache als Metapher sich vor eine wirkliche Erklärung schiebt. Zwar sagt Aristoteles: „Für die Denkseele sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungsbilder.“ (Aristoteles 2011, 431a, S. 159). Sie hinterlassen, wie Thomas ergänzt, eine „Spur“. Doch eine Spur ist ein Zeichen und braucht dem Wahrgenommenen nicht ähnlich zu sein. Eine Spur auf einem Weg ist nicht demjenigen ähnlich, der hier gegangen ist, wie auch der Rauch nicht dem Feuer ähnelt. Dennoch gibt es auch Bilder, die dem Wahrgenommenen ähnlich sind. Es sind, sagt Thomas, „Vergegenwärtigungen im Bilde“ (Thomas von Aquin s.th. I.45.7 DTA Bd. 4, S. 44). Als Spurzeichen sind sie aber eher der Sprache verwandt. In dieser Dualität von Bild und Sprache verharrt das Bild unerklärt.
4 Die soziale Struktur des Bildes So bleibt die Frage: Was ist also nun ein Bild „wirklich“? Die Was-ist-Frage, die Frage nach einem Wesen, entstammt der abendländischen Metaphysik und zeichnet eine Antwort auf eine Weise vor, die für das Phänomen „Bild“ bereits mehrfach einschränkend wirkt. Wir konnten beim Bild in der Philosophiegeschichte eine Ontologisierung beobachten. Was heißt das? Es wird vorausgesetzt, dass Bilder jeweils ein Seiendes neben anderem Seienden sind mit einer spezifischen Wesensverfassung, mit einer dem Bild zukommenden Identität. Zwar wird im Bild immer auch ein relationaler Charakter betont. Doch erschöpft sich meist dieser Gedanke in einer „Ähnlichkeit“: „Zum Begriff des Bildes gehört die Ähnlichkeit im Ausdruck.“ (Thomas von Aquin s.th. I.35.2 DTA Bd. 3, S. 154) Ist das Bild also ein Zeichen? Ein Zeichen ist in der Semiotik kein Bild einer Sache. Die Farbe „Rot“ mag für „Liebe“ stehen, ist aber kein Bild der Liebe. Bilder sind keine Sprache, auch wenn frühe Schriftformen Bildersprachen waren: Bilder standen hier symbolisch für Begriffe. Der Blick auf die Mathematik als besondere Sprache hat schließlich gezeigt, dass es neben dem Logos des alltäglichen Sprechens und den Bildern noch ein Drittes gibt, das weder Sprachzeichen – wie „A“ für den stimmlichen Laut „A“ – noch ein Bild ist. Nun hatte Platon die Zahlen selbst als höchste Form der Ideen, betrachtet, ihnen damit implizit eine bildhafte (idea) Natur zugesprochen. Noch Kurt Gödel (wie andere Mathematiker) folgen Platon darin, dass sie sagen, man könne mathematische Entitäten nur als platonische Ideen anschauen. Wohl parallel zu den mathematischen Abstraktionen haben sich allerdings auch philosophische, später
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wissenschaftliche Abstraktionen gebildet, die man nicht als Bilder betrachten kann. Man kann nicht auf die „Gerechtigkeit“ wie auf ein Haus zeigen. Das Bild der Göttin Justitia, die mit verbundenen Augen eine Waage hält, verrät zwar viel über die Herkunft der Kategorie „Gerechtigkeit“ aus dem Tausch und dem Geldverkehr, bildet aber nicht eine vorhandene Gerechtigkeit ab. Schauen wir auf Bilder, so finden wir allerdings auch hier, dass viele Bilder keinerlei Ähnlichkeit mit realen Gegenständen haben. Ob also Bilder ein äußeres Etwas abbilden oder dieses Etwas – und sei es als Fiktion – überhaupt erst erschaffen, beide Momente gehören zum Bildbegriff. Nur den Abbildcharakter zu betonen, ist unhaltbar.15 Ein Gemälde erschafft eine völlig eigene Welt. Zwar kann man auch nicht sagen, dass z. B. ein SF-Film etwas „abbildet“, wohl aber sind zahlreiche reale Vorbilder für bestimmte Elemente erkennbar: Wenn ein Raumschiff im luftleeren Kosmos, sogar mit Überlichtgeschwindigkeit geräuschvoll fliegend gezeigt wird, so ist dies zwar ein absurdes Bild (weder ist diese Geschwindigkeit, noch das Geräusch physikalisch möglich). Dennoch erkennen wir darin immer auch etwas wieder: Etwa ein Flugzeug in unserer Welt. Auch fiktive Bilder enthalten zahlreiche Formen, die der realen Welt ähnlich sind. Es ist das gesamte Bild, seine Bewegung im Film, die als Ganzheit fiktiv bleibt.16 An der scholastischen Bestimmung, dass der Gottessohn selbst ein „Bild“ sei, ist immerhin der Gedanke wichtig, dass jedem Bild eine kreative Natur eignet. Auch erinnerte Bilder werden jeweils neu vergegenwärtigt und erschaffen. Selbst wenn nur etwas abgebildet wird, so liegt im darin notwendig abstrahierenden Akt – der Einseitigkeit eines Fotos, der Perspektive eines Gemäldes, die Wahl einer Metapher usw. – immer auch ein kreativer Akt. Eine Bleistiftskizze ist dem skizzierten Gegenstand vielleicht ähnlich, enthält aber durch die Natur des Striches nicht nur eine Einseitigkeit, sondern auch ein hervorhebendes, kreatives Moment. Eine Landkarte zeigt von einer Landstraße gerade durch Auslassungen den Weg. Wenn Thomas von Aquin deshalb die „Spur“ zu den Bildern zählt und sagt, dass (nach Augustinus) die Dreifaltigkeit in den Geschöpfen als Spur aufleuchtet (Thomas von Aquin DTA Bd. 4, 44), so besagt dieser Gedanke, der unmittelbar religiösen Form entkleidet: Ein Bild der Dinge zeigt immer auch eine Spur eines kreativen Aktes. Das bedeutet: Wenn jedem Bild als inneres Wesen ein kreatives Moment zukommt, dann kann man ein Bild auch nie – als vereinzelte
15„Bilder
sind ein besonderer Teilbereich des Sichtbaren, nämlich flächenhafte Artefakte, die zugleich Zeichen sind, indem sie etwas abbilden.“ (Posner und Schmauks 2004, S. 15). 16Das Phänomen Film bedarf als temporales Bild einer gesonderten Untersuchung, die meinen hier gesteckten Rahmen sprengen würde; vgl. Merleau-Ponty (2000, S. 65 ff.).
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Entität – definieren, d. h. eingrenzen oder als mit sich identische Entität erfassen. Das Bild kopiert nicht, es ist selbst ein Prozess: Ein Bild ist „immer Entwurf, nicht Kopie des Seins“ (Cassirer 1920, S. 247). Allein die einfache Beobachtung, dass Bilder immer auch der Auslegung, eines Kommentars bedürfen, um als Bedeutung erfasst zu werden, verweist auf die Untrennbarkeit von Bild und Kreativität. Insofern ist „unser Geist das vollkommene und lebendige Bild der unendlichen Kunst.“ (Cassirer 1927, S. 73) Ich möchte diesen Gedanken noch durch den Blick eines Künstlers ergänzen. Paul Cezanne sagt: „Man sieht ein Bild sofort, oder man sieht es nie. Die Erklärungen dienen zu nichts“ (Cezanne 1980, S. 23). Ein Künstler wie Cezanne will das im Bild Gezeigte gerade von jedem Bezug, der vom reinen Blicken ablenkt, trennen. Ein fertiges Werk sagt nur noch sich selbst aus, nichts Anderes. „Nun gibt es nur noch Farben und in ihnen Klarheit, das Wesen“ (ebenda, S. 17). Die auf das Bild noch projizierten Abstraktionen, d. h. das, was die Einbettung des Bildes in frühere Erfahrungen noch fesselt, eben dies will die große Kunst erkennbar machen. Deshalb sagt Cezanne über die im Bild noch erkennbaren Linien, die den rationalen, gleichsam geometrisch-mathematischen Blick des Bildes auf die Welt symbolisieren: „Eine Linie umschließt überall einen Ton und hält ihn gefangen. Ich will sie erlösen.“ (ebenda, S. 15) Cezannes Malerei – darin liegt ihre Größe – versucht als endlose Aufgabe die Bildlichkeit des Bildes als Bild zu zeigen und muss darin das abweisen, was Bilder mit dem In-der-Welt-sein der Menschen verbindet und sie so fesselt. Gewöhnlich – große Kunst ist immer außer-gewöhnlich – bleiben Bilder aber unauflöslich verstrickt in die körperliche und soziale Gesamtwirklichkeit der Menschen. Deshalb sind sie stets auch ebenso selbst „sprechend“ wie auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. Bilder haben eine doppelte „Wirklichkeit“. Sie haben einen Ort wie Papier, Gemälde, Gehirn und Kamera, d. h. sind selbst entweder physischer Natur – oder sie sind Vorstellungen. Ob eine Vorstellung selbst wiederum reduktionistisch eine physische Wirklichkeit ist oder sich nur an ihr zeigt, lasse ich hier offen.17 Es genügt daran zu erinnern, dass es sowohl bei der Sprache wie bei Bildern diese zwei Dimensionen zu unterscheiden gilt: Einmal ihre physische Form, ihren Ort gemäß der Physik (z. B. im Gehirn, im Auge), zum anderen aber ihre Bedeutung. Ein Bild ist nur ein Bild, wenn es eine Bedeutung hat. Eine reine Ontologie der Bilder würde deshalb behaupten müssen, dass die Bedeutung jeweils im oder am Bild zu finden ist, auf, neben
17Ich
habe diese Fragen an anderer Stelle ausführlich erörtert: Brodbeck (2018b).
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oder in seiner Erscheinungsform. Dass sich Bild und Bedeutung radikal unterscheiden, ist historisch wohl zuerst oder am deutlichsten an einer Münze in Erscheinung getreten. Das Bild eines Fürsten auf Metall ist zweifellos ein Bild, vielleicht sogar ein Abbild. Doch die Bedeutung, Geldwert zu sein, ist nicht mit diesem Bild verknüpft. Diese Bedeutung wird auch nicht durch eine Spiegelung im Gehirn eines Individuums erzeugt. Wenn nur für einen Menschen diese Münze „Wert“ hat, dann mag er ein Sammler sein, der ästhetische Kriterien anlegt. Es ist aber nicht der Geldwert. Die Bedeutung von Bildern, wiewohl immer auch in einem anderen Sinnesbereich wiederkehrend – es gibt z. B. in der Musik die Tonmalerei, paradigmatisch in La Mer von Claude Debussy –, ist nie ihre physische Form oder ihre technische Realisierung als „Information“. Wenn man Bilder im Gehirn durch Informationsprozesse, wie in den Kognitionswissenschaften, zu verstehen versucht, hat man das, was Bilder bedeuten, immer schon verfehlt. Ein Toningenieur kann wohl sämtliche Frequenzeigenschaften einer erklingenden Sinfonie messen, auch technisch modifizieren. Doch darin wird niemals die musikalische Bedeutung sichtbar. Analoges gilt für das Bild, wie Heidegger sagt: „Aber wo bleibt (…) bei den wissenschaftlich registrierbaren Gehirnströmen der blühende Baum? Wo bleibt die Wiese? Wo bleibt der Mensch? (…) Wo bleibt das Vorstellen, worin der Baum sich vorstellt und der Mensch sich ins Gegenüber zum Baum stellt?“ (Heidegger 1971, S. 17)
Kurz: Das, was ein Bild zu einem wahren Bild macht, ist gerade das, was sich in seinen Bezügen zum menschlichen Leben stets mitvollzieht, wenn wir es anblicken oder innerlich vorstellen. Ich will damit zusammenfassend folgende These formulieren: Die Bedeutung eines Bildes, wie immer sie auch individuell als Gefühl, durch Assoziationen und Erinnerungen aktualisiert sein mag, besitzt eine soziale Dimension. Es gibt kein getrenntes, mit sich identisches Bild-Sein. Ob etwas ein Bild ist und was es bedeutet, entscheidet sich in einem lebensweltlichen Kontext.
5 Neurologische Erklärungen des Bildes Dieser Kontext lässt sich auch an neurologischen Erkenntnissen zeigen. Aus philosophischer Perspektive sind sie wenigstens ein wichtiger Hinweis. Ich denke an folgenden Zusammenhang: Es zeigt sich, dass Bilder im Gehirn nie isoliert
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an einem bestimmten Ort aktualisiert werden. Stets sind weite Hirnareale mit einbezogen. Was in den vergangenen 300 Jahren immer wieder vermutet oder behauptet wurde – im noch genauer zu diskutierenden Denkmodell der Camera obscura –, lässt sich neurowissenschaftlich nicht bestätigen: Man kann „im“ Gehirn keine Bilder getrennt identifizieren.18 Genauer gesagt: Es lässt sich kein Ort oder keine Funktion isolieren, die so etwas wie ein Abbild sein könnte: „Evidence from functional brain imaging studies suggests that mental imagery processes, like other higher cognitive functions, simultaneously activate different neuronal networks involving multiple cortical areas.“ (Pegna et al. 1997, S. 410)
Das bedeutet keineswegs, dass nicht jeder den subjektiven Eindruck eines Bildes besitzen kann, sowohl bei einer Erinnerung wie beim aktiven Fantasieren.19 Es besagt nur, dass das, was wir als Bild deuten, stets eingebettet bleibt in zahlreiche andere körperliche Funktionen: Tastsinn, Gefühl, sogar Geruch.20 Nun hatte man nach der Untersuchung der ersten Split-Brain-Patienten, also Patienten, bei denen die Verbindung der linken und der rechten Gehirnhälfte, das Corpus callosum, operativ durchtrennt wurde, eine hohe Spezialisierung bemerkt. Bildhaftes Denken war überwiegend in der rechten, sprachlich-logische Fähigkeiten in der linken Gehirnhälfte beobachtet worden. War das nicht der Beleg dafür, dass sich in der rechten Gehirnhälfte doch so etwas wie reine Bilder manifestieren? Weitere Untersuchungen haben diese Vermutung aber nur partiell bestätigen können. Die rechte Gehirnhälfte bei Split-Brain-Patienten zeigte sich vor allem überlegen gegenüber der linken bei räumlich-visuellen Fähigkeiten. Während die linke Hand (verbunden mit der rechten Gehirnhälfte) sehr gut nach Vorlagen auch dreidimensional zeichnete, konnte die rechte Hand (linke Gehirnhälfte) zwar flüssig Briefe schreiben, nicht aber einmal einen einfachen Würfel skizzieren (Gazzaniga 2012, S. 70 f.). So kann man auch in der Kommunikation isoliert mit der linken Gehirnhälfte nicht lächeln. Auch bei Patienten mit intaktem
18„(R)results
of imagery experiments tell us nothing about the format of images.“ (Pylyshyn 2003, S. 117). 19Das Phänomen der Eidetik – die Fähigkeit, lange Zeit innere Bilder äußerer Wahrnehmungen getrennt festzuhalten – tritt fast nur bei Kindern auf. „Eidetic images are only available to a small percentage of children 6–12 years old, and are virtually nonexistent in adults“ (Haber 1979, S. 583). „Eidetik“ wird außerhalb der Hirnforschung eher intuitiv übersetzt, vgl. Rieger (2000). Zur „Eidetik“ in der Phänomenologie Husserls siehe Levin (1968). 20Vgl. zur Diskussion intermodaler Wahrnehmung: Sathian und Zangaladze (2001).
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Corpus callosum, so zeigte sich, reagiert die rechte Gehirnhälfte anders als die linke, weil sie vor einer Reaktion „eine Rückmeldung aus dem Körper auf subcordialem Weg abwarten muss.“ (ebenda, S. 72). Weder die Sprache (linke Gehirnhälfte), noch Bilder (rechte Gehirnhälfte) lassen sich funktional völlig separieren, nicht einmal bei Split-Brain-Patienten. Bei einem intakten Gehirn sind sie ohnehin beständig verbunden, auch mit der übrigen Körpermotorik. Es zeigt sich auch, dass bloße Bildvorstellungen immer zugleich auch das Sehzentrum aktivieren.21 Man kann also kein „abstraktes“, gleichsam unsichtbares Bild beim Sprechen und Denken vorstellen. Das Sehen und das Vorstellen, damit auch die Bilder als Elemente des Wahrnehmens und Denkens bewegen sich immer in einer andere Sinnesbereiche potenziell einbeziehenden Weise „involving multiple cortical areas.“ (Pegna et al. 1997, S. 419). Das ist allerdings noch zu differenzieren. Die Verbindung von Bildprozessen mit anderen körperlichen Funktionen ist keineswegs stets eine Aktivierung aller Erfahrungsbereiche. Vielfach lässt sich zeigen, dass Reaktionen auf äußere Bilder gelegentlich auch nur mit Emotionen verbunden sind. Es ist auch keineswegs erfordert, dass stets ein verbaler Prozess begleitend dazukommt. Man konnte zeigen, „that emotive effects exist for imagery as distinct from verbal representation.“ (Weiner und Weber 1973, S. 422). Wenn man in der cartesianischen Tradition abstrakt von Bewusstsein spricht, so wäre zu ergänzen, dass „Bewusstsein“ sich nicht als eine substanzielle Identität identifizieren lässt, als Seelensubstanz, wie dies Descartes dachte. Die Seele oder das Bewusstsein sollte es sein, die den körperlichen Bild-Prozessen erst die Bedeutung verleiht.22 Über das Bewusstsein herrscht aber in der Psychologie selbst ein hohes Maß an Verwirrung, eine Vielfalt an Definitionen neben der völligen Ablehnung, dass es sich hier überhaupt um ein reales Phänomen handelt. Sutherland sagt in seinem Dictionary of Psychology über das Bewusstsein: „Nothing worth reading has been written on it.“ (Sutherland 1989, S. 90). Ich lasse solche Arroganz auf sich beruhen und verwende den Begriff „Bewusstsein“ gleichwohl im alltäglichen Sinn,23 frage also: Ist die Bedeutung
21Es
gibt „evidence for primary visual cortex involvement in visual imagery.“ (Aleman et al. 1999, S. 25). 22„We know for certain that it is the soul which has sensory perceptions, and not the body.“ (Descartes 1985, S. 164). Vgl. auch die Diskussion in Brodbeck (2019). 23Eine ausführliche Diskussion nachgerade auch unter Einbeziehung der in der westlichen Psychologie fast gänzlich unbeachtet gebliebenen asiatischen Traditionen findet sich in Brodbeck (2018b, S. 108 ff.).
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von „Bild“ stets mit einem Bewusstsein verknüpft, auch wenn wir dabei nicht an einer cartesianischen Dualität festhalten? „Can One, for example, make intelligible the notion of an unconscious visual image?“ (Phylyshyn 1973, S. 2). Offenbar lässt sich diese Frage positiv beantworten mit Blick auf mehr oder weniger automatisierte Handlungen, beim tacit knowledge. Beim Autofahren folgt man z. B. ohne bewusste Aktualisierung von Bildern einer gewohnten Fahrtroute. Ferner ist es eine kaum je bestrittene Tatsache, dass im bewussten Erleben, z. B. bei Tagträumen, Erinnerungsbilder auftauchen, die wir jeweils vergessen hatten, die also nicht aktuell bewusst waren. Doch betrachten wir das hier aufscheinende Problem etwas genauer und stellen zwei Fragen: Müssen, erstens, Bilder immer bewusst sein, um „Bild“ zu sein? Gibt es, zweitens, doch so etwas wie angeborene platonische Ideen, Urbilder oder Archetypen, die immer wieder die Wahrnehmung, das Denken formen, ohne aktuell zu Bewusstsein zu kommen? Die erste Frage lässt sich nur beantworten, wenn wir den Begriff „Bewusstsein“, wider Sutherlands zitierte Invektive, doch ein wenig genauer erklären. Vor allem die Philosophie der Moderne hat Bewusstsein stets als Sprachbewusstsein, psychologisch als inneres Sprechen gedeutet. Gehen wir von dieser Definition aus, so gibt es offenbar viele auftauchende innere Bilder, die nicht oder nicht völlig bewusst sind, die sogar assoziativ mit anderen Bildern verknüpft werden. „Es ist richtig, ein Bild kann sein, ohne wahrgenommen zu werden; es kann gegenwärtig sein, ohne vorgestellt zu werden“ (Bergson 1908, S. 21). Nur ein Teil dieses Bild-Prozesses wird zudem diskret erkannt und ist sprachlich benennbar. Die Propagandatechniken und die Werbepsychologie arbeiten damit sehr erfolgreich. Hier gilt also schlicht Vicos Verum-Factum-Prinzip: Was man tun kann, ist erkenntnistheoretisch damit auch begründet. Man hat sogar inzwischen Maßstäbe dafür entwickelt, wie stark derartige Bilder untereinander und mit Gefühlen oder Sprache verknüpft sind (vgl. Babin und Burns 1998, S. 264). Weitaus komplizierter zu beantworten ist die zweite Frage, eine Antwort, die zudem nur wiederum – gemäß Whiteheads Diktum – nur eine weitere Fußnote zu Platon darstellt. Ich will das nur kurz umreißen. Wider den Empirismus und die Lehre von der Induktion, d. h. im wörtlichen Sinn die In-Formation der Wahrnehmung durch Bilder von außen, hat der Idealismus und der Rationalismus stets behauptet, dass bestimmte Formen der Wahrnehmung dem Bewusstsein je schon einwohnen; etwas, das Kant das Apriori nannte. Diese Formen sind gleichsam Rahmen der Bilder, die wir sinnlich erfassen oder vorstellend aufbauen. Meist werden hier Raum, Zeit, Kausalität und andere metaphysische Begriffe als Beispiele genannt. Noam Chomsky hat versucht, die menschliche Sprache als eine „cartesianische Grammatik“ zu erklären: Der Rahmen des Sprechens – nicht
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der konkrete, stets kreativ erzeugte Sprech-Inhalt – sei ein angeborenes Schema (Tiefengrammatik). C. G. Jung hat in seinen „Archetypen“ ein kollektives Bild-Unbewusstes postuliert, das große Apriori aller konkreten Bilder in der alltäglichen Wahrnehmung.24 Ebenso werden Skizzen, die in der Mathematik oder in der Physik als Leitbilder verwendet werden, immer wieder von Wissenschaftlern als quasi-platonische Ideen betrachtet. Deren Wahrheitsgehalt sei dann nur noch nach ästhetischen Kriterien, also letztlich nach der Schönheit einer Theorie, der mathematischen Form oder ihrer paradigmatischen Bilder zu beurteilen. Diese Entwicklungen in der Moderne zeigen, dass sich in der Frage nach dem Wesen der Bilder stets die alten Problemhorizonte neu öffnen. Auch die neuen Antworten leiden gleichwohl an einem zentralen Mangel, sofern sie jeweils eine Gruppe von Bildern abstrakt zu einem wissenschaftlichen Bewusstsein (wie immer gedeutet) in Beziehung setzen und somit dadurch jenes Kontexts entreißen, der sich z. B. in der Hirnforschung als untrennbar vom Bildbewusstsein erwiesen hat. Es hat sich, nicht zuletzt durch die Split-Brain-Forschung gezeigt, „dass die bildhafte Vorstellung keine einzelne, einheitliche Funktion ist“ (Springer und Deutsch 1987, S. 49). Was ergibt sich daraus? Bilder sind untrennbare Momente im Denk- und Handlungsprozess. Man kann das Auge nicht vom Gehirn, das Gehirn nicht vom Körper, den Körper nicht von seinen Handlungen und schließlich seiner Einbettung in die Vielfalt sozialer Prozesse trennen, um lokal eine Entität „Bild“ – sowohl als physische Realität wie als Bedeutung – ergreifen und so ontologisch verstehen zu wollen. Wenn Nicolai Hartmann, der eine Erkenntnisontologie entworfen hat, das Bild als wesentliches Element des Erkenntnisprozesses behauptet, so könnte man ihm vielleicht noch zustimmen. Tatsächlich treten Bilder im Prozess des Handelns und Denkens meist nicht als Bilder hervor. „Ein Bewußtsein dieses ‚Bildes‘ ist im schlichten, unreflektierten Erkenntnisakt freilich nicht gegeben — genauso wenig wie ein Bewußtsein des Erkenntnisaktes. (…) Da aber der Prozeß der Erfahrung, als einer fortschreitenden Erkenntnis, wesentlich in fortschreitender Berichtigung von Täuschungen und Irrtümern besteht, so ist mit ihr auch die Reflexion auf das Bild, also auch ein Bewußtsein des Bildes –, gegeben.“ (Hartmann 1949, S. 45 f.)
24„Diese
Bilder sind insofern ‚Urbilder‘, als sie der Gattung schlechthin eigentümlich sind, und, wenn sie überhaupt je ‚entstanden‘ sind, so fällt ihre Entstehung zum mindesten mit dem Beginn der Gattung zusammen.“ (Jung 1954, S. 94).
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Der Denkfehler aber beruht hier auf dem Festhalten des tradierten, des scholastischen Bildbegriffs, der von Thomas durch die Ähnlichkeit mit einem Objekt definiert wurde. Gewiss, wenn man im Handeln Versuche unternimmt, also Hypothesen über die Welt bildet und dann erfährt, dass sie sich nicht in funktionierende Handlungsprogramme umsetzen lassen, dann war das vermeintliche Bild der Realität offenbar falsch – eine Täuschung, die auch als bloßes Bild erkannt wird. Doch dieser abbildende Aspekt ist nur einer, keineswegs das allgemeine und notwendige Kennzeichen des Bildes. Weder ein Fantasiegemälde noch ein SF-Film kann je „berichtigt“ werden. Bilder erschaffen eine eigene Welt, die jeder Mensch in der Tagträumerei kennt. Erfahrungen werden zu Erinnerungen, Erinnerungen werden zu Bildern. Die Bildhaftigkeit ist – darin ist Hartmann zuzustimmen – aber nicht am Bild selbst unmittelbar erkennbar. Eben das ist das Geheimnisvolle der Bildlichkeit, dass sie etwas zeigt und wir nie sicher wissen, ob das Gezeigte ein Abbild oder eine originäre, kreativ erschaffene Welt darstellt. Das wird z. B. am Phänomen falscher oder suggerierter Erinnerungen deutlich.25 Werden innere Bilder vorgestellt und wird diese Vorstellung mehrfach wiederholt, so gewinnen die Bilder – ungeachtet jeden Bezugs auf autobiografische Erfahrungen, also auf die „Realität“ – eine eigene Macht. Die Differenz zwischen wirklicher und vorstellend erzeugter Erinnerung wird mit der Zahl der Wiederholungen bildlicher Präsentationen oder Vorstellungen geringer und kann schließlich völlig verschwinden – eine Einsicht, die PR und Werbung extensiv anwenden. Zugleich wird durch Wiederholung auch das aktuell Erlebte als Bild verändert. „Repetition increased the similarity between phenomenological ratings of imagery and autobiographical memory: After three repetitions, imagery ratings were equal to those for memories. However, repetition also increased recognition and source accuracy for both autobiographical memories and imagery, indicating that repetition may have contrasting effects when one is using heuristic versus systematic source monitoring processes.“ (Arbuthnott 2005, S. 843)
Hier zeigt sich, dass die autobiografisch erfahrene Welt und die durch Bildmittel erzeugte Welt fließend ineinander übergehen, sofern sie überhaupt je getrennt waren. Gerade weil Bilder stets in einem situativen Kontext gedacht oder memoriert werden, ist mit jedem Bild immer eine ganze Welt evoziert. Bilder
25Durch
suggerierte Kindheitserinnerungen ändert sich auch das Selbstbild; vgl. Hyman und Pentland (1996).
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erscheinen nie isoliert. Sie sind stets anknüpfende Bedeutungen mit vielfältigen situativen Bezügen. Bilder sind nicht so etwas wie eine Brücke, eine Vermittlung zwischen einer die Bilder in sich bergenden physischen Realität, die wir ihr durch die Sinnesorgane oder technische Geräte entreißen (abstrahieren). Zwar denkt niemand mehr wie Demokrit, dass die Dinge ihre Bilder (eidola) aussenden und wir sie mit dem Auge auffangen. Dennoch ist der Informationsbegriff das erkennbare Erbe dieses Gedankens: Die Wirklichkeit „informiert“ uns, und unser Gehirn verarbeitet dann diese über die Sinne oder technische Geräte vermittelten Bilder, die keine rein visuelle Qualität mehr besitzen und deshalb auch von Computern bearbeitet werden können. Doch wir Menschen sind kreativ handelnd in der Welt. Das Welt-Bild entsteht unaufhörlich neu in unserem Handeln, unserer Kommunikation, im berechnenden Umgang miteinander und mit der Natur. Man kann einige Aspekte dieser gegenseitigen Abhängigkeit zweifellos herausgreifen, verstärken und als gesonderte Entität behandeln. Eine Brille verstärkt kein „Bild“, wohl aber können wir durch sie hindurch besser sehen. Weder eine Brille, noch eine Kamera oder ein Computer liefern aber jemals die Bedeutung eines Bildes. Sie erwächst aus unserem, mit Heidegger gesagt, In-der-Welt-sein, das viel mehr ist als nur eine kausale Verknüpfung zwischen einem äußeren Ding und dem Gehirn-Ding. Bilder finden sich deshalb immer auch im Kollektiv, ohne dabei schon C. G. Jung zustimmen zu müssen, der meinte, dass es sich hier um angeborene Archetypen handelt. Es gibt so etwas wie soziale Gewohnheiten, ein soziales Gedächtnis in den Traditionen, den Bildungsinstitutionen, den Riten und Religionen.26 Durch diese Einbettung erlangen Bilder jeweils eine sich individuell anders aufgefasste und wandelnde Bedeutung. Sprache und Geld sind im ursprünglichen Sinn so etwas wie ein Gemeineigentum; so auch gemeinsam tradierte Bilder in der Kultur. Aber wie Sprache und Geld können auch verbindende soziale Bilder fremden Zwecken subsumiert werden. Regierungen missbrauchen das Vertrauen der Menschen in das Geld durch Geldentwertung, Unternehmen missbrauchen es durch Spekulation. Die Sprache wird missbraucht in der Propaganda und der Lüge – von Privaten nicht weniger als durch Staaten. Bilder, als die vereinigende Erinnerung der Vielen, sind hierzu noch leichter zu missbrauchen, eben weil sie nicht primär durch Ähnlichkeit definiert sind. Sie sind und bleiben Momente im Denken und Handeln und können deshalb auch unmittelbare Wirkungen ausüben. Wer die Welt in anderen Bildern sieht, erlebt sie auch anders.
26Vgl.
die Untersuchungen von Halbwachs (1985) und Assmann (1992).
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6 Die Camera obscura als Paradigma der Bildtheorien Ich möchte einige der bislang angerissenen Fragen der Theorie und Philosophie des Bildes nun noch im Horizont der spezifisch neuzeitlichen Philosophie vertiefen und betrachte dazu vor allem eine hier erkennbare, wenn auch vielfach vergessene Leit-Metapher. Ein Neuanfang in der Philosophie der Bildlichkeit vollzog sich im 17. Jahrhundert und ist untrennbar verbunden mit dem Namen von René Descartes. Es war aber eine technische Neuerung, die trotz ihrer sogar schon antiken Vorläufer erst im 17. Jahrhundert zu einem allgemeinen Modell sowohl des Sehens wie der Natur der Bilder in einer ganz anders gedeuteten abstrakten Trennung von der abgebildeten Realität wurde. Dies war die Camera obscura.27 Eine dunkle Kammer, vorgestellt z. B. auch als Innenraum des Schädels, wird zum Ort der Bilder; bei Descartes sogar zum Ort des Geistes. Für Aristoteles war die Seele das Leben des Körpers. „Sie ist zwar nicht Körper, aber doch Sache des Körpers, und darum ist sie auch im Körper gegenwärtig“ (Aristoteles 2011, 414a, S. 69). Er kritisiert sowohl die Vorstellung, dass Bilder eine unabhängige Existenz besitzen (wie Platons Urbilder), als auch den Gedanken einer rein körperlichen Existenzweise (etwa die Eidola von Demokrit). Descartes dagegen deutete alles Körperliche mechanisch. Auch das Sehen sollte ein rein mechanischer Vorgang sein. Die Zirbeldrüse war für ihn das Organ, an dem die rein geistige Substanz (res cogitans) mit der materiellen Welt (res extensa) verbunden sei. Zugleich sollte der mittels der Zirbeldrüse aktive Geist auch die verschiedenen Sinneskanäle zusammenführen, also als „Gemeinsinn“ funktionieren. Dieser Gedanke wird durchaus auch von Neurowissenschaftlern – wenn auch modifiziert – heute noch verteidigt (vgl. Lokhorst und Kaitaro 2001, S. 6 ff.). So sagt Benjamin Libet über die Zirbeldrüse: „(T)he conscious image is unified even though the messages from the eyes arrive at the brain via many individual nerve fibres in the optic nerves (…) I thought there must be a structure in the brain where the multitudes of brain messages could be brought to a single focus for interaction with the mind, and not in a doubled fashion. Because the pineal gland was the only structure in the brain that was not doubled, it was a good candidate for the single focal site of interaction.“ (Libet 2004, S. 180)
27Vgl.
Crary (1992, S. 25 ff.) sowie Lefèvre (2007). Es ist verwunderlich, dass in einer neuen, formalen Theorie der Beobachtung (vgl. Bennet und Hoffman 1989) die Camera obscura überhaupt nicht erwähnt wird. Wenn überhaupt, dann wäre sie aber das frühe technische Äquivalent einer formal-mathematischen Theorie für Bildprozesse.
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Es bleibt gleichwohl dunkel, wie der Geist als nichtmaterielle Entität dennoch in eine materielle Wechselwirkung treten sollte – eine Diskussion, die bis in die Gegenwart teils heftig geführt wird (vgl. die Beiträge in Libet et al. 2004). Das Bild, dem Wissen, dem Intellekt vermeintlich nahe durch seinen immateriellen Charakter, wurde zu einem wichtigen Kandidaten, diese ontologische Differenz zu überbrücken. Zwar ist das Bild noch ein Abbild der materiellen Formen. Dennoch ist es als Lichtgestalt scheinbar dem reinen Sehen, damit dem „Geist“ sehr nahe gerückt: „Augen sind Fenster der Seele“ (Hildegard von Bingen). Um das Abbilden der Formen in der Welt verständlich zu machen, waren die neuen Eigenschaften der Camera obscura ein wesentlicher Anhalt. Auch unabhängig von der ontologischen These bei Descartes diente dieses technische Bild noch bis in die jüngere Neuzeit als Metapher für das Verhältnis von Geist und äußerer Welt, als Antwort auf die Frage: Wie kommen die äußeren Formen ins Denken, die Dinge ins Innere? Die Camera obscura ist wie folgt aufgebaut: Sie besteht – sehr einfach gesagt – aus einem dunklen Kasten mit einem kleinen Loch. Das reflektierte Licht von äußeren Gegenständen erscheint durch das Loch auf der Rückwand des Kastens auf den Kopf gestellt. Dies ist das Bild der Dinge, die das menschliche Auge, das nach Descartes wie eine Camera obscura funktioniert, dem Inneren des Schädels – dem Gehirn – als „Information“ anbietet. In seiner „Optik“ zeichnet Descartes das zugehörige Bild des Auges, worin er Keplers Theorie des Netzhautbildes im Camera-obscura-Modell darstellt. Cottingham fasst Descartes‘ Theorie so zusammen: „(W)hen external objects act on my senses, they print on them an idea or rather a figure of themselves; and when the mind attends to the images imprinted on the gland in this way it is said to have sensory perception“ (Cottingham 1993, S. 83).
Louis Daguerre hat schließlich die Rückseite der Camera obscura, Modell der eingeprägten Bilder, durch eine jodierte Silberplatte ersetzt und so die moderne Fotografie begründet. Ohne die technische Evolution dieses Geräts hier näher verfolgen zu können,28 möchte ich den Blick vor allem auf die Camera obscura als Denkmodell lenken. Hier fällt auf, dass das Innere als dunkler Raum
28Vgl. die ausführlichen Beschreibungen in Lefèvre (2007a), vor allem die Aufsätze von Lefèvre und Wenczel.
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vorgestellt wird. Lee W. Baley spricht vom dunklen Raum des Schädels („skull’s darkroom“). Hier hat „the camera obscura (.) quietly but significantly functioned as a guiding root metaphor for our modern view of the soul.“ (Baley 1989, S. 64). Descartes bezeichnet das Innere der Augen als „a very dark place“. Bilder können hier nur auftreten durch eine Kraft „which sets the optic nervefibres in motion as a bright light would do“ (Descartes 1985, S. 168). Auch John Locke (1836, S. 51) beschreibt das Bewusstsein als einen „dark room“, der kleine Fenster besitzt, „by which light is let into this dark room“. Dieses Bild vom dunklen Ort der inneren Bilder und Gedanken wird auf merkwürdige Weise tradiert und nur mäßig umbenannt. Noch Hegel charakterisiert die „Intelligenz als diesen nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist, ohne daß sie im Bewußtsein wären“ (Hegel WW Bd. 10, S. 260). Das Dunkle des Geistes, der dunkle Raum, „skull’s darkroom“, wurde später von seiner metaphorischen Form teilweise gereinigt und erhielt zunehmend eine formale Struktur. Kant spricht von „dunklen Vorstellungen“: „Alle actus des Verstandes und Vernunft können in der Dunkelheit geschehen.“29 Es entstand die Frage, ob dieser dunkle Raum des Bewusstseins, noch ehe äußere Formen durch die Augen eintreten, bereits eine vorgeformte Struktur, eine Topologie des Sichtbaren, besitzt. Neurowissenschaften beantworten diese Frage heute durch komplexe Modelle des Gehirns. Allerdings können auch sie das Rätsel nicht aufklären, woher bei Erinnerungen, Träumen oder Visionen für innere Bilder eigentlich das Licht der Bildlichkeit stammt. In der Sprache Kants heißt die Dunkelheit des Innenraums „Vernunft“, deren „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt vor Augen legen werden.“30 Kant sagt, wir sehen die Dinge räumlich, weil wir die apriorische Raumvorstellung im Blick nach außen, auf die an sich unerkennbare Dinge projizieren und „nach dunkel vorgestellten Principien, urtheil(en)“ (Kant AA V, 238). Berkeley hat in seiner Theorie des Sehens ganz ähnlich alle Entfernungen als geistige Eigenschaften gedeutet, in einer von uns nur irrtümlich materiell aufgefassten Welt. Er hielt den Gedanken, dass die Bilder im Inneren Folge einer
29Kant
(AA XV, S. 65); Rechtschreibung angepasst. (AA III, S. 135). In Kants Nachlass steht: „wie der Korper in der Menschlichen Seele die ideen verursacht, ist gantz dunkel“; (AA XVI, S. 318).
30Kant
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„unbekannten äußeren Ursache“ sind, für undenkbar (Berkeley 1987, S. 115). Alles ist gleichsam „Bild“, die Welt der Formen ebenso wie die Vorstellungen. Dass Dinge nicht dreidimensional „draußen“ sind, sondern nur so erscheinen, das sah Berkeley erwiesen durch das aus dem der Camera obscura nachgebildeten Modell des Auges31, in dem es immer nur ein zweidimensionales Netzhautbild gibt. Die Dreidimensionalität ist also eine Konstruktion des Geistes, Resultat einer „bloßen Gewohnheit“ (Berkeley 1987, S. 115). Berkeleys Philosophie wurde oftmals heftig bekämpft. John St. Mill hatte ihn dagegen nachdrücklich verteidigt: „Berkeley’s argument proves conclusively that distance from the eye is not seen, but inferred.“ (Mill 1978, S. 254). Dieses Argument ist verständlich: Wir können eine Bewegung bzw. Entfernung, die auf das Auge direkt zuläuft, nicht abschätzen. Wir können z. B. die Bewegung ferner Sternsysteme von uns weg nur indirekt (etwa durch die Rotverschiebung) messen. Insofern wirkt das Modell der Camera obscura für alle bewegten Bilder immer noch nach. Dunkel bleibt nach wie vor das Dunkel der Kammer selbst, in das Bilder eintreten. Was bei Kant a priori heißt, d. h. der in der Vernunft je schon vorgegebene „Rahmen“ aller Denkbilder, das kehrt in der Neuzeit vielfältig wieder. Als verborgene Topologie der dunklen Kammer gilt heute neben der Struktur und Dynamik des Gehirns auch das biologische Erbe. Noam Chomsky (1973, S. 47) behauptet eine „angeborene Fähigkeit des Menschen, eine Sprache auszubilden (‚language-forming capacity‘)“. Was uns im Sprechen oder im Sehen (z. B. bei Entfernungen) bestimmt, bleiben ihrerseits dunkle Strukturen, denn sie sind nicht bewusst, gleichwohl formend – eine verborgene Topologie in skull’s darkroom. Eine andere Deutung der dunklen Kammer des Bewusstseins, herkommend – wenn auch weitgehend vergessen – aus einer Jahrhunderte währenden stillschweigenden Orientierung am Modell der Camera obscura heißt in der Psychologie „das Unbewusste“. Das Bewusstsein ist hell. Das „Licht des Bewusstseins“ ist eine Metapher, die vielfältig variiert, aber auch philosophisch gedacht wurde. Sandten in Platons Vorstellung die Augen Sehstrahlen aus, um die Dinge sichtbar zu machen, so sind Moderne und Postmoderne erfüllt von dem vielfältig variierten Gedanken einer „Projektion“ innerer Formen nach außen. Die bewussten oder unbewussten Rahmen für Bilder in der Dunkelkammer des Geistes werden auf eine ihrerseits dunkle Außenwelt projiziert, die nur durch
31Daran
hielt auch noch Helmholtz fest: „Das Auge verhält sich gegen das einfallende Licht im Wesentlichen wie eine Camera obscura.“ (Helmholtz 1867, S. 64).
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die inneren Bilder erhellt wird. Bei Kant erhielt diese dunkle Außenwelt, die Spiegelung der dunklen Kammer des Bewusstseins, den Namen „Ding an sich“, wobei wir nicht wissen, „wie unsre Sinne von diesem unbekannten Etwas afficirt werden“ (Kant AA IV, S. 315). Es ist bemerkenswert, dass auch noch in der Ideologietheorie des Marxismus die Camera obscura als lenkendes Denkmodell fungierte. Ihre zentrale Aussage leiht sich ihren Sinn von dieser Metapher. So heißt es in der „Deutschen Ideologie“, dass „in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen“ (Marx und Engels MEW 3, S. 26). Die Ideologie ist nur die Spiegelung der objektiven Realität, das „Urbild ihres ideellen Abbildes“ (ebenda, S. 268). Hegels Philosophie operierte in Marxscher Perspektive nur in der Dunkelkammer des Bewusstseins und hielt die Bilder auf der Rückseite der Camera obscura für die wahre Welt, nicht gewahrend, dass dort alles „verkehrt“ erscheine. Engels deutete den Materialismus deshalb als revolutionäre Umkehrung, worin die „Hegelsche Dialektik (…) vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt“32 wurde. Der frühe griechische Streit, ob die Dinge Bilder (eidola) aussenden, die in der Seele eingefangen werden oder ob umgekehrt eine (wie immer verborgene) Teilhabe an inneren Urbildern (idea) es uns erlaubt, in der Welt überhaupt Formen zu erkennen, kehrt im Modell der Camera obscura wieder. Was darin als Projektion erscheint, kann nun allerdings auch die Richtung umkehren. Das dunkle Innere der Kammer erhält im 19. Jahrhundert als „Subjektivität“ einen neuen Namen. Man stellt das Subjekt einem Objekt gegenüber, lässt aber die Relation im Dunkeln. Das Licht als das Verbindende zwischen dunkler Kammer und Außenwelt ist aus dem Blick geraten. An seine Stelle ist in der Gegenwart der alles subsumierende Begriff der „Information“ getreten. Der Bildbegriff verliert dadurch seine ursprüngliche Bedeutung. Gleichwohl sollen es gerade informationstheoretische Modelle sein, die Bildprozesse im Gehirn plausibel machen. So seien derartige Modelle fähig, auch die Erinnerung an Bilder zu erklären. Das Bild ist zur bloßen Metapher geworden für die „wahre Natur“ solcher Prozesse. Zugehörige Fragen haben aus dem ursprünglichen Modell der Camera obscura schließlich auch das Bild selbst noch entfernt.
32Engels
MEW 21, S. 293. Wenn Engels in einer späteren Note auf Hegels Philosophie der Geschichte verweist, worin dieser über die Französische Revolution schreibt, dass darin „der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt“, (Hegel WW Bd. 12, S. 529), so verdeckt dies nur die Herkunft dieser Vorstellung einer Umkehrung des ideologischen Spiegels im Denkmodell der Camera obscura – eine Herkunft, die Engels gemeinsam mit Marx im obigen Zitat unmittelbar hergestellt hatte.
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K.-H. Brodbeck „(T)hese questions could not be approached until the image metaphor is replaced by a fine detail information-processing model whose relation to the experience of imagery, by the way, is really quite a secondary matter.“ (Phylyshyn 1973, S. 22)
Die mechanische Vorstellungswelt des 17. Jahrhunderts, die immer weiter verfeinert wurde, wird nunmehr abgelöst durch eine neue Metapher: Die der Informationsverarbeitung. Information ist eine rein quantifizierende Kategorie, die in der Logik der berechnenden Ratio auch die Sprache erobert und die verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungen nivelliert. Sie macht die Sprache und das Bild ununterscheidbar und eskamotiert die semiotische Dimension. Die Camera obscura hat den Weg dadurch bereitet, dass sie das Bild erstmals als ein technisches Objekt behandelte und in dessen Horizont, in cartesianischer Tradition, auch den Körper als bloße Maschine betrachtet.
7 Iconic turn und simulierte Welt Im Nachdenken über das Verhältnis von äußeren Dingen und inneren Bildern drängten sich zwei konkurrierende Metaphern in den Vordergrund: Das Bild vom Siegelring, der dem Wachs eine Form einprägt, und die Vorstellung einer tabula rasa. Vor allem John Locke hat diese zweite Metapher populär gemacht.33 Die Camera obscura leitete eine mechanisch-technische Interpretation ein, die, wie sich zeigte, im Informationsbegriff gipfelt. Kategorial ist dieses Denkmodell aber nicht von der frühen Wachsvorstellung verschieden: Die durch den Siegelring eingeprägte Form ist der des Ringes ähnlich; ebenso bei der von Platon verwendeten Denkform des Goldes, das viele Formen tragen kann (z. B. auf einer Münze). Die Idee einer leeren Schreibtafel dagegen ist hiervon kategorial verschieden: Hier erfolgt die Prägung als Sprachform. Sprachliche Zeichen haben keine Ähnlichkeit mit dem, was sie bezeichnen; unmittelbar werden in westlichen Sprachen Zeichen für gesprochene Laute verwendet. Auch der Informationsbegriff hat in der Moderne die Bedeutung einer Sprache angenommen, worin diese Sprache schließlich eine mathematische Form besitzt. Sprachliche Zeichen reproduzieren ihre Bedeutung durch die intersubjektive Verwendung, worin Handlungen koordiniert, angeleitet oder kommentiert werden. Erst in der Schrift wird die Sprache zu einer gegenständlichen Form, die ontologisch einem äußeren Bild
33„Let
us then suppose the mind to be, as we say white paper, void of all characters“ (Locke 1836, S. 51).
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vergleichbar ist. Und die innerlich gesprochene Sprache steht in einem Wechselverhältnis zu inneren Bildern, ergänzt durch weitere körperliche Empfindungen wie Gefühle. Die Möglichkeit, im inneren Vollzug Bild und Sprache in einer Erzählung zu verknüpfen, kann als Urform aller Erklärungen, aller Wissenschaften gelten. Diese Form entfaltete sich zuerst in Mythen, die zur Schrift geworden, als Gesetzbücher Staaten fundierten, religiöse Herrschaft begründeten und schließlich in Griechenland und Indien zu diskursiven Formen sowohl der Vergesellschaftung wie des Denkens führten. Einen wesentlichen Schritt dahin bedeutete die Schrift. Am deutlichsten wird die soziale Einbettung der Schrift in ihren frühesten Formen in Mesopotamien, im Zwei-Strom-Land (vgl. Schmandt-Besserat 1982, 1996, 2002). Weit verbreitet ist dazu die piktographische Theorie vom Ursprung der Schrift.34 Und zweifellos stellt der Übergang von einer Bilder- zu einer Lautschrift einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Weltbeschreibung dar, wie er besonders im frühen Griechenland vollzogen wurde. Dennoch ergibt ein erst in jüngerer Zeit erkennbar gewordener Blick in die frühe mesopotamische Welt ein völlig neues Bild. Die Schrift erlaubt das, was sprachlich formuliert wird, was in der Kommunikation die Menschen zu einer Gesellschaft verbindet, unabhängig von den jeweiligen Sprechern zu fixieren. Die frühen Erklärungen der Schrift gingen davon aus, dass eine besondere soziale Schicht – die Priester – eine Bilderschrift entwickelten, die nur ihnen verständlich war und in Ägypten als das Geschenk des Gottes Thoth betrachtet wurde.35 Man ging vielfach davon aus, dass sich die Schrift ursprünglich aus narrativen Bilderfolgen entwickelte. Die Griechen, so wird gesagt, haben dann Elemente der Hieroglyphenschrift abstrahiert und in die heute gebräuchliche Buchstabenschrift verwandelt, während Rechnungssysteme erst später hinzugekommen seien. In dieser Chronologie klafft allerdings eine fundamentale Lücke. Tatsächlich sind, trotz einer erkennbaren auch zeitlichen Abfolge, die drei Formen Sprechen, Schrift und ökonomische Vergesellschaftung nie isoliert aufgetreten.36
34Vgl.
Assmann 2002 für die Hieroglyphen; für die chinesische Schrift vgl. Geldsetzer und Hong (2008, S. 172 ff.). 35Schmandt-Besserat (1982, S. 1); Jan Assmann erläutert dies sehr schön in seinem Vortrag, Assmann (2002). 36Ich habe stilisierend von drei Vergesellschaftungsformen gesprochen: Arche, Logos und Ratio (Brodbeck 2016, S. 27 ff.).
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Die Ausgrabungen von Uruk, eine mesopotamische Stadt im Zweistromland, ergaben auch bezüglich des Ursprungs der Schrift ein gänzlich neues Bild, das die tradierte lineare These – von den Hieroglyphen und der Keilschrift zur griechischen Buchstabenschrift – erschütterte. Damit wurde auch eine andere „Verortung“ von Bildern in der Gesellschaft möglich. Denise Schmandt-Besserat konnte zeigen, dass die frühen Tontäfelchen, die ein System von Token (eine Gruppe zusammengehöriger Zeichen) darstellen, der Keilschrift vorausgingen. Bilder von Token auf Tontäfelchen sind gerade keine Zeichen für Begriffe oder sprachliche Laute. Sie repräsentieren ursprünglich Gegenstände des Handels und bilden die Vorform von Rechnungssystemen und des Geldes. Handelsgeschäfte oder Lieferungen z. B. an Tempel wurden durch kleine Figuren (Token), die jeweils für Handelswaren standen, repräsentiert, die man in eine Tonkugel einbettete und außen auf deren Oberfläche einprägte. Diese Tonkugeln wurden gebrannt und waren aus heutiger Perspektive „Schuldscheine“, „Rechnungen“ und Lieferbestätigungen in einem. Dieses System reicht wohl bis zu 8000 Jahre v.u.Z. zurück. Zunächst hatte man die Zahl der gelieferten Waren (Schafe, Scheffel Weizen usw.) durch wiederholte Einprägung repräsentiert. Später wurde dies abstrahiert durch bloße Zeichen – auch Zahlen – auf Ton. „The substitution of signs for tokens was a first step toward writing. (…) As a result, tablets – solid clay ball bearing markings – replaced the hollow envelopes filled with tokens.“37
Die Token hatten mit den Gegenständen, die sie repräsentierten, keine Ähnlichkeit. Ebenso wird erkennbar, dass die Rechnung im ökonomischen Prozess zunächst an konkreten Formen vollzogen wurde, ehe der abstrakte Zahlbegriff sich durch Münzen in der Geldverwendung als Idee entwickelte, späteres Vorbild für alle „regierenden“ Abstraktionen in der Sprache. Es zeigt sich, dass das Schreiben sich untrennbar aus ökonomischen Formen der Vergesellschaftung entwickelt hat:
37Schmandt-Besserat
(2002, S. 7). „It became evident that recording with clay tokens was practiced in the entire Middle East and that the tradition originated as early as 8000 B.C. – five thousand years before writing was invented. The identification of tokens as counters was not surprising since sets of small objects have been used for counting in most so cities. What was unexpected was the discovery that more than 80 shapes closely matched the shapes of the earliest signs of writing.“ (Schmand-Besserat 1982, S. 3).
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„Writing, the most perfect supplement to language, originated from a modest system of counters to keep track of economic goods.“ (Schmandt-Besserat 1982, S. 5).
Dieser Vorgang vollzog bereits früh eine Abstraktion von Abbildungen und lautlichen Formen, untrennbar mit den frühen Zählformen verbunden. Ein häufig vermuteter linguistic turn hin zur Schrift in Israel und im frühen Griechenland vollzog sich nicht als wirkliches Novum in der Geschichte, sondern ist angelegt in der Herkunft aus schlichten Lehmtäfelchen in Babylon. Die Schrift als Zeichensystem ist zwar unmittelbar eine Form von bildlicher Darstellung. Ihre Bedeutung aber ist lautlicher oder zahlförmiger Natur. Bilder sind in der Schrift die äußere Form der sprachlichen Syntax, als innere Vorstellungen evozieren sie wiederum erinnerte Bilder oder erschaffen kreativ neue. Und noch die vermeintlich leeren Abstraktionen der Logik zeigen sich noch immer als Bilder, z. B. in Cantors Mengenlehre. Als äußere Form ist die Schrift allerdings ebenso handhabbar wie manipulierbar – etwas, das in der Lüge ursprünglich der „Wahrheit des Gesehenen“ gegenübergestellt wurde. Dies hat sich durch die Transformation von Schrift und Bild in bloße Information heute grundlegend gewandelt. Der Begriff der Information hat in der jüngeren Vergangenheit tatsächlich eine Epochenwende eingeläutet. Richtet man den Blick auf die neue Rolle der Bilder im Wahrnehmen, Denken und damit auf die Vergesellschaftung von Menschen, so zeigt sich ein schleichender Wandel. Er verändert auch die Subjektivität der Menschen, ihr Denken und Empfinden und erschafft korrespondierend eine gänzlich neue Welt, die weit über Huxleys Brave New World oder Orwells 1984 hinausweist. Diese zunächst literarisch geschilderte neue Welt der Transformation der Wirklichkeit selbst durch Bilder hindurch betrifft die Wissenschaften, die Ökonomie, Politik und den Alltag. Eine Ahnung dieser neuen und simulierten Welten geben SF-Filme wie „Simulacrum 3“ oder „The Matrix“. Fragen wir genauer: Was ist eigentlich eine Simulation, im Unterschied zu einer Erklärung oder einer Theorie? Das Wort „Simulation“ stammt von dem Lateinischen simulare, was Nachbilden, Nachahmen, aber auch Vortäuschen bedeutet. Der Erfolg der Wissenschaften, nachgerade auch der ökonomischen Organisation der Moderne, lag in einer vollzogenen Abstraktion: Theoriebildung und technische Anwendung. Durch die wachsende Bedeutung von Simulationsmodellen wird dies aufgehoben. Die Wahrnehmung selbst verläuft immer stärker durch eine nur simulierte Bild-Realität hindurch und wird so z. B. für politische Interessen leicht manipulierbar. Platons Urbilder werden zu Walter Lippmanns „Stereotypen“ in der PR. Die Wirtschaft wird in statistischen Kennzahlen beobachtet, die nicht einfach nur nachträglich wirtschaftliches Handeln abbilden; sie fließen in Entscheidungen der Marktteilnehmer unmittelbar mit ein
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(BIP-Wachstum, Inflationsraten, Aktienindizes). Das Bild der Wirtschaft kehrt im Geist der Aktoren in die „reale“ Wirtschaft als gestaltendes Element selbst zurück. In der Physik, besonders in der Kosmologie, beobachten wir schon lange nicht mehr unmittelbare Erfahrungsgegenstände, sondern technisch hergestellte Phänomene. Die kosmische Expansion existiert nicht „irgendwo da draußen“, sondern ist ein rechnend-simuliertes Artefakt, das vor allem in großen Computern zuhause ist. Ebenso ist eine politisch so aufgeladene Größe wie „das“ Klima etwas, das als Totalität nur in der gewaltigen Rechenleistung großer Computer wirklich ist. Diese Simulationen liefern zwar auch Bilder – Grafiken, Statistiken –, zu denen dann aber nur journalistisch andere Bilder hinzugefügt werden als vermeintlicher Realitätsgehalt. Ähnliches geschieht bei den Finanzmarktmodellen, die Aktienkurse nicht nur simulieren als Indexzahlen, sondern selbst als Algorithmus Käufe und Verkäufe bei Banken tätigen (Robotrading). Was sich in Zeitungen bereits früh als Bilder der Gesellschaft etabliert hat, das ist im Internet auf millionenfachen Kanälen längst zu einer virtuellen Realität geworden. Die Propagandatechniken, die im 20. Jahrhundert durch Walter Lippmann und Edward Bernays entwickelt wurden, machen von lenkenden Bildern ausführlichen Gebrauch. Fotos oder Filme sind nicht mehr so etwas wie einfache Abbilder „der Realität“; sie schaffen ihre eigene Wirklichkeit. Die Werbepsychologie ist schon lange dazu übergegangen, Reaktionsweisen auf simulierte Wirklichkeiten – von der musikalisch untermalten Urlaubslandschaft bis zu emotional besetzten Bildern von jungen Frauen, Männern oder Kindern – zu präsentieren. Dass in jüngerer Zeit Verfahren entwickelt wurden, die es erlauben, Gesichter, Bewegungen und die Sprache von „wirklichen“ Menschen beliebig zu verändern und ihnen gänzlich Fremdes in den Mund zu legen38, ist nur ein weiterer Schritt der Virtualisierung, worin Bilder zur unmittelbaren „Wirklichkeit“ geworden sind. Dieser iconic turn ist anders als der linguistic turn kein Vorgang im Binnenreich der philosophischen Erkenntnis – dieser iconic turn ist real; eine hergestellte, simulierte „Wirklichkeit“, teils ununterscheidbar von der traditionellen Erfahrungswelt durch die Sinne, teilweise auch ohne jede Ähnlichkeit mit etwas Trans-Imaginativen.
38Vgl.
Taggart, Dagney: Deepfake Technology Can Put Words In Anyone’s Mouth – Even Yours, zerohedge 21.06.2019, www.zerohedge.com/news/2019-06-20/deepfaketechnology-can-put-words-anyones-mouth-even-yours.
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Es mag sein, dass sich Menschen durch das Gehirn, durch angeborene Wahrnehmungsgrenzen, durch tradierte, erlernte Denkformen immer schon partiell in einer simulierten Wirklichkeit bewegt haben, die sich bislang nur im Traum von der Realität abkoppelte. Vielfache Formen der Virtualisierung, die Bilder nur noch in manipulierbare Informations-Bits verwandeln, heben ihre Kraft als Zeugnis der Wirklichkeit schrittweise auf. Man kann in Bildern wohl überzeugender lügen als in Worten: Man verknüpft Bilder aus verschiedenen, nicht zusammengehörigen Bereichen und erzählt durch eine Bildfolge oder einen manipulierten Film eine Lügengeschichte. Was in der Wirtschaft die Lüge durch schweigende Geldentwertung der Zentralbanken, in der Wissenschaft die gefälschte Statistik ist, das wird in den Medien zu einer gefälschten Welt, auch des Erlebens. Da sich simulierte Wirklichkeiten nur wiederum durch andere Simulationen „kritisieren“ lassen, beginnen Gesellschaften sich völlig bild-endogen zu reproduzieren. Ein reales „Außen“, das möglichst ähnlich abgebildet wird, war nie eine Wirklichkeit der Bilder. Was die simulierten Welten in allen Bereichen heute zeigen, ist allerdings nicht nur graduell von frühen Bildformen verschieden.39 Die Sprache wird als „Parole“ und „Slogan“ selbst bildhaft, nicht nur auf Transparenten bei Demonstrationen, bei Werbetexten oder als T-Shirt-Aufdruck. Die immer stärkere Zuwendung zu Bildern, die das lineare Lesen vielfach ersetzt (Stichworte dazu sind „YouTube“ oder an Schulen die „Powerpoint-Präsentation“) wird tatsächlich in einem iconic turn immer mehr zur sozialen Wirklichkeit. Beherrscht und dominiert wird diese Entwicklung aber durch einen Geldprozess, der alle Lebensbereiche ö konomisch-berechnend durchdringt. Der iconic turn ist nur die Fortführung eines pecuniary turn, der vor zweieinhalb Jahrtausenden begann. Diese Kritik der neuen Herrschaft der Bilder, ideologisch genutzt und immer mehr zum Teil einer simulierten Wirklichkeit gemacht, kann nur gelingen, wenn Sprache, Bild, rechnendes Denken und soziales Handeln in ihrer inneren Verbindung wiedererkannt werden. Dazu einen kleinen Beitrag zu liefern, war die Aufgabe der vorhergehenden Seiten.
39Dieses
entzauberte Verhältnis von Wahrheit und Illusion lässt sich aus der buddhistischen Tradition allerdings ganz anders interpretieren, etwas, das ich an dieser Stelle nicht einmal skizzieren kann; vgl. Brodbeck (2018b).
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Diltheys Traum Vom Haben einer Weltanschauung Ralf Lüfter
Zusammenfassung
Der Autor stellt anhand von Diltheys Abhandlung Traum die spezifischen Cha rakteristiken dar, die eine Weltanschauung aufweisen muss. Ohne sie kann kein Wissen erworben oder ein historisches Bewusstsein erlangt werden, z. B. eine Vorstellung von der eigenen Herkunft und jener Möglichkeiten gewonnen werden, die in der eigenen Zukunft liegen. Eine Weltanschauung ist historisch bedingt, begrenzt und relativ – und besitzt zugleich unergründliche und unvorstellbare Momente. Schlüsselwörter
Dilthey · Weltanschauung · Historisches Bewusstsein · Bildphilosophie
1 Vorbemerkung Wir haben etwas, wo wir es unser eigen nennen. Wir haben es in einer ausgezeichneten Weise, wo das Eigene durch das Haben in seinem Wesen bestimmt ist – wo also das Haben nicht bloß ein äußerliches Besitzverhältnis anzeigt, sondern das Wesen des Eigenen trägt und entscheidet – wo das Eigene durch dieses Haben allererst in sein Wesen gelangt und darin bleibend gehalten ist. Im Ausgang eines kurzen, nur wenige Seiten umfassenden Textes von Wilhelm Dilthey (1960a, S. 220 ff.) – der Schilderung eines Traumes, in dessen Zentrum R. Lüfter (*) Freie Universität Bozen, Bozen, Italien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_3
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Raffaels Fresko Die Schule von Athen steht – geht es im Folgenden um ein solches Haben – genauer: Um das Haben einer Weltanschauung als Bedingung der Möglichkeit ein Wissen von der Welt zu gewinnen und mithin unterschiedliche Formen begründeten Wissens – wie sie für die abendländische Tradition des Denkens charakteristisch sind – zu entfalten. Gemeint sind das philosophische Wissen ebenso wie das wissenschaftliche Wissen, das künstlerische Wissen ebenso wie das theologische Wissen. Wenngleich ihre jeweilige Weise zu begründen und die Art des Grundes, den sie zum Tragen kommen lassen, verschieden sein mögen, so ist den unterschiedlichen Formen des Wissens doch allen der Anspruch gemein, den Grund ihres jeweiligen Wissens einsehen zu wollen und überhaupt nur solches als Wissen anzuerkennen, wofür ein Grund angegeben werden kann. Dabei ist das dem Menschen Eigene – im Rahmen der genannten Tradition – darin gesehen, dass er nicht nur zeitweise und nicht nur zufällig, sondern seinem Wesen nach in der Sorge um das Wissen steht. Als Mensch zu leben, hieße demnach, immer schon in die Sorge um das Wissen eingelassen zu sein und aus dieser Sorge heraus sein Leben einzurichten1. Wenn nun aber innerhalb der genannten Tradition das Haben einer Weltanschauung als Bedingung der Möglichkeit gesetzt ist, ein Wissen von der Welt zu gewinnen, wird in eins damit auch das dem Menschen Eigene so bestimmt, dass sein Wesensgrund in diesem Haben liegt. Welt meint bei Dilthey das Ganze des natürlich und geschichtlich Seienden, von dem der Mensch eine Anschauung hat und verschiedene Anschauungen bilden kann. Die Welt steht dem Menschen vor Augen. So wie es mit ihr für ihn steht. In der Anschauung stellt sich die Welt dem Menschen als etwas mit der Anschauung Gegebenes und durch die Anschauung Gegenwärtiges vor. So handelt es sich entweder um eine Anschauung der Welt, in der sich der Menschen an einer für ihn gegebenen und gegenwärtigen Wirklichkeit ausrichtet – oder aber um eine Welt, die durch die Anschauung vorgestellt, vom Menschen vermittelt, diesem selbst gegeben und für ihn gegenwärtig ist und so allererst zur Wirklichkeit wird. Was Welt heißt, richtet sich dann nach der menschlichen Anschauung. In eins damit stellt sich der Mensch selbst vor und ist folglich wie das übrige Seiende in die Weltanschauung mit hinein gestellt und als Mensch vorgestellt. Nur so vermag das Haben einer Weltanschauung zur Bedingung der Möglichkeit zu werden, überhaupt ein Wissen zu gewinnen und mithin verschiedene Formen begründeten Wissens zu entfalten.
1So
heißt es etwas zu Beginn der Metaphysik des Aristoteles (A1, 980 A 21): πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται ϕύσει.
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Eine Bedingung ist etwas, das etwas anderes ermöglicht. Sprechen wir in unserem Zusammenhang von einer Bedingung der Möglichkeit, so schauen wir auf etwas, dank dessen es eine Möglichkeit allererst gibt, dank dessen eine Möglichkeit allererst eingeräumt wird. In der genannten Schilderung des Traumes geht es Dilthey um die Fragwürdigkeit der Bedingung der Möglichkeit, von der Welt zu wissen und sich das Ganze des natürlich und geschichtlich Seienden so vor Augen zu führen, dass sich ein begründetes Wissen von der Welt einstellt. Wenngleich wir im Rahmen dieses kurzen Beitrags nicht eigens darauf eingehen und auch nur grob die Unterschiede zur Antike und zum Mittelalter sichtbar machen können, so sei doch am Rande erwähnt, dass das von Dilthey Angezeigte für die Weise charakteristisch ist, wie das Ganze des natürlich und geschichtlich Seienden in der Neuzeit zur Sprache kommt.
2 Traumschilderung Band VIII der Gesammelten Schriften Diltheys enthält neben anderen Abhandlungen zur Weltanschauungslehre einen kurzen Text mit dem Titel Traum. Die Schilderung eines eben solchen steht im Zentrum dieses, anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag verfassten und als Dankesrede an seine Gratulanten konzipierten, Textes, der Dilthey (1960a, S. 221) zufolge etwas von dem „Lebensgefühl“ zum Ausdruck bringen möchte, „das aus der philosophischen Arbeit so vieler Jahre hervorgegangen“ ist (ebenda). „Ich habe keine Lösung des Lebensrätsels aber die Lebensstimmung, die aus dem Sinnen über die Konsequenzen des historischen Bewusstseins mir erwachsen ist, diese wollte ich ihnen mitteilen.“ (ebenda).
Es ist nicht zuerst die Unterschiedlichkeit der Formen des Wissens, welche die Ursache für die synchronen und diachronen Divergenzen verschiedener Weltanschauungen ist, sondern das historische Bewusstsein – die Annahme, dass nicht allein die Umstände und Verhältnisse, denen der Mensch ausgesetzt ist, einem fortwährenden Wandel unterliegen, sondern auch die Anschauungen, die der Mensch von diesen gewinnt. Dem historischen Bewusstsein entspringen je verschiedene Weltanschauungen, sodass nicht allein das Ganze des natürlich und geschichtlich Seienden historisch verfasst zu sein scheint, sondern auch die Anschauungen dieses Ganzen. Die Verflechtung beider mag zwar Teil dessen sein, was Dilthey an der bereits zitierten Stelle das „Lebensrätsel“ nennt. Dessen Kern aber bleibt die Frage nach dem gemeinsamen Grund, der aus dem
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historischen Bewusstsein abgeleiteten, divergierenden Weltanschauungen. Fehlt ein solcher Grund, zerfällt die Einheit des Ganzen des natürlich und geschichtlich Seienden ebenso wie jeder begründete Anspruch auf Wahrheit. Das historische Bewusstsein wäre dann eine äußerste Grenze des Wissens, von der her sich lediglich eine Pluralität von Weltanschauungen feststellen ließe, ohne zugleich einen einheitlichen Grund für diese Pluralität angeben zu können. Nach einem langen, bis tief in die Nacht hinein gehenden Gespräch mit seinem Freund Paul Graf Yorck von Wartenburg und erst nachdem er im Anschluss daran noch einige Zeit „vor dem schönen Stich der Schule von Athen von Volpato“ (ebenda) gestanden war und diesen in all seinen Details betrachtet hatte, kam Dilthey zur Ruhe und der Schlaf über ihn. „Alsbald bemächtigte sich ein geschäftiges Traumleben des Raffaelschen Bildes und der Gespräche“, die er an dem Abend mit seinem Freund geführt hatte. „Die Gestalten der Philosophen [wurden] zu Wirklichkeiten. Und aus weiter, weiter Ferne sah [er] von links dem Tempel der Philosophen eine lange Reihe von Männern in den mannigfaltigen Trachten der folgenden Jahrhunderte sich nähern.“ (ebenda)
Augustinus war unter ihnen, Giordano Bruno, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schelling, Fichte, Hegel, sogar Goethe, Schiller und Ranke. Nach und nach fanden sich neben den Denkern, auch die Wissenschaftler, die Dichter und die Theologen verschiedenster Epochen der abendländischen Tradition ein; nach und nach bildeten sie Gruppen, die, untereinander ins Gespräch vertieft, zusammenstanden und die miteinander Auseinandersetzung suchten. Auf der einen Seite jene, „welche ihre Welterklärung auf die feste, allumfassende physische Natur gründen […], die aus dem Zusammenhang voneinander abhängiger Naturgesetze eine einheitliche Kausalerklärung des Universums finden wollen und so den Geist der Natur unterordnen oder auch resigniert unser Wissen auf das nach naturwissenschaftlicher Methode Erkennbare einschränken“ (ebenda, S. 222).
Auf der anderen Seite jene, „die auf das Bewußtsein des Gottes im Menschen das Wissen von einer übersinnlichen Weltordnung zu gründen unternommen haben“ (ebenda, 223). Und schließlich jene, die „einer allverbreiteten geistigen göttlichen Kraft im Universum“ das Wort reden – einer göttlichen Kraft, die „jedem Ding und jeder Person einwohnend, in allem nach Naturgesetzen wirkt: so daß es außer ihr keine transzendente Ordnung gibt und keinen Bezirk von Freiheit und Wahl“ (ebenda, S. 223).
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Zwischen den Gruppen schien indes ein Austausch immer weniger möglich. Zwar gab es den einen und den anderen, der sich darum bemühte und wohl auch geschäftig zwischen den einzelnen Gruppen hin und her lief – allein der Abstand zwischen den Gruppen wuchs „mit jeder Sekunde“ (ebenda, S. 221) bis schließlich der gemeinsame Grund, auf dem sie sich bis dahin zu bewegen schienen, abhanden kam und sich eine „furchtbare, feindliche Entfremdung“ einstellte (ebenda, S. 223). In diesem Augenblick überfiel den Träumenden auch schon die Angst, „daß die Philosophie dreimal oder vielleicht noch mehrere Male da [sein könnte]“. Unter diesem Eindruck wurde „die Decke des Schlafes dünner“ (ebenda, S. 224) und Dilthey erwachte allmählich aus dem Traum. „Die Sterne schimmerten durch die großen Fenster des Gemachs. Die Unermesslichkeit und Unergründlichkeit des Universums umfing mich.” (ebenda).“
3 Maßgebende Unermesslichkeit der Welt Im „Tempel der Philosophen“ – den Dilthey am Beginn seiner Schilderung zwar vor Augen hat, auf den er in seinen Ausführungen dann aber nicht mehr eigens eingeht – ist das Unermessliche und Unergründliche gerade das Maßgebende. Der Tempel bewahrt die Gegenwart des Göttlichen, die sich dem Menschen im Aufbrechen dessen zeigt, was er letztlich weder zu ermessen, noch zu ergründen vermag und was für ihn insofern ständig unverfügbar bleibt, als er es weder je herstellen noch je steuern kann. Das Unermessliche und Unergründliche ordnet die menschlichen Bezüge und gibt dem menschlichen Tun und Lassen insoweit eine Richtung, als es diesem voraufgeht und es in Anspruch nimmt. Verstehen wir das Göttliche hier nicht voreilig in einem für uns heute gängigen, religiösem Sinn, dann erweist es sich als maßgebend, insofern es den Menschen heißt, das Ganze des natürlich und geschichtlich Seienden so zu ermessen und in seiner Gegenwart zu ergründen, dass allererst eine Welt sei. Mensch sein hieße demnach vor allem und durchweg, in einem entsprechenden Bezug zum Unermesslichen und Unergründlichen zu stehen und darin sein Eigenes zu haben: Zu ermessen das Unermessliche, das sich erst dank des menschlichen Versuches, es zu ermessen, in seiner ganzen Unermesslichkeit erweist. Zu ergründen das Unergründliche, das sich erst dank des menschlichen Versuches, es zu ergründen, in seiner ganzen Unergründlichkeit erweist. Wo es indes kein solches Ermessen und Ergründen brauch, dort gibt es keine Welt und hat der Mensch kein Bleiben. Genau genommen gäbe es dort weder Welt noch Mensch und folglich auch nicht schon ein Verhältnis der beiden. Die Rede von den Weltanschauungen erschiene
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dann gegenstandslos. Mensch und Welt konstituierten sich ebenso wie ihr Verhältnis allererst und durchweg im Zuge der geahnten Gegenwendigkeit durch das Ermessen des Unermesslichen im Ergründen des Unergründlichen. Diese Gegenwendigkeit zeichnet den Bezirk des Tempels aus, in dem sich der Philosoph ebenso wie der Wissenschaftler, der Künstler ebenso wie der Theologe einfindet und die Tradition des abendländischen Denkens ihren ersten Anfang hat. Was hier lediglich angedeutet werden konnte, aber einer ausführlicheren Auslegung bedürfte, bleibt im Rahmen der Weltanschauungslehre unbemerkt. Im Blick derselben steht vor allem anderen das Verhältnis einer irgendwo vorhandenen Welt in ihrem Gegenüber zu einer irgendwie vorhandenen menschlichen Anschauung derselben. In die Ahnung der Unermesslichkeit und Unergründlichkeit eines von sich aus geordneten und in sich gesammelten Ganzen bricht dann nur die Gewissheit, dass jeder Philosoph, jeder Dichter, jeder Wissenschaftler und jeder religiöse Seher unausweichlich „unter der Macht des Ortes und der Stunde“ (ebenda, S. 222) steht und deshalb jede Interpretation der Wirklichkeit, jede Weltanschauung2 „historisch bedingt, sonach begrenzt, relativ“ sein muss (Dilthey 1960a, S. 224). Daraus ergibt sich für Dilthey zum einen, dass nicht nur das für wirklich Gehaltene, sondern auch alle Interpretationen der Wirklichkeit im Hinblick auf ihre jeweilige Herkunft und zukünftige Möglichkeit thematisiert und in dem gesehen werden müssen, was als so bestimmte Geschichtlichkeit3 „die philosophische Arbeit so vieler Jahre“ (ebenda, S. 221) in Atem gehalten hat. Andererseits zeigt sich darin andererseits auch zugleich das Aufmerken Diltheys auf ein Versetzt sein in die Gegenwendigkeit einer in ihre jeweiligen „Denkgrenzen“ (ebenda, S. 224) befreiten Ahnung des Unbegrenzten, welche den Sinn dessen trägt und entscheidet, was er am Beginn seines Textes als die „aus dem Sinnen über die Konsequenzen des historischen Bewusstseins“ erwachsene „Lebensstimmung“ anspricht, die ihrerseits aus der Unlösbarkeit dessen erwächst, was er an der selben Stelle das „Lebensrätsel“ nennt (ebenda, S. 221). Ersteres zeigt sich in jener spezifisch historischen Weltansicht, welche nicht mehr nur einem historischen Wandel der Umstände und Verhältnisse Rechnung trägt, sondern auch den historischen Veränderungen „in der Art
2Dilthey
definiert den Begriff „Weltanschauung“ an einigen Stellen seines Werkes als „Interpretation der Wirklichkeit“. (Vgl. Dilthey 1960b, S. 379). 3In einem Brief vom 4. Juni 1895 spricht Paul Graf Yorck von Wartenburg von dem „uns gemeinsamen Interesse, Geschichtlichkeit zu verstehen“ (Rothacker 1923, S. 185). Martin Heidegger nennt das hier angesprochene Interesse die „echteste Quelle dieser vorbildlichen Philosophenfreundschaft“. (Heidegger 2004, S. 3).
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und Weise, auf die menschliches Verstehen die Welt als eine zusammenhängende Einheit strukturiert“ (Barash 1999, S. 1). Dagegen ist das Versetzt sein in die angedeutete Gegenwendigkeit gerade nichts, was seinerseits historisch wäre und sich also historisch verrechnen ließe, sondern etwas, dem wir solange ausgesetzt bleiben, solange wir uns in einem Wissen um das Dass überhaupt von Welt halten. Ein solches Wissen ist zwar konstitutiv für das Sein von Welt, sodass der Mensch nirgends ohne dieses Wissen sein kann, wo es aber, wie im Denken, „zum Bewußtsein seiner selbst“ (Dilthey 1960a, S. 224) erhoben und also ausdrücklich wird, entstehen laut Dilthey die „historisch bedingten, begrenzten, sonach relativen“ Grundformen der Weltanschauung. Das Ermöglichenden jedes Bedingten – nämlich: das Unbedingten –, jedes Begrenzten – nämlich: das Unbegrenzten –, bleibt dabei bloße Ahnung. „Die Weltanschauungen sind gegründet in der Natur des Universums und dem Verhältnis des endlich auffassenden Geistes zu denselben. So drückt jede derselben in unseren Denkgrenzen eine Seite des Universums aus. Jede ist hierin wahr. Jede aber ist einseitig.“ (ebenda).
Die im Wahren geborgene Einseitigkeit der Weltanschauungen, bzw. das in die Einseitigkeit sich bergende Wahrsein derselben, verweist von sich aus auf jene Gegenwendigkeit, die wir bereits im Hinblick auf den „Tempel der Philosophen“ anzudeuten versucht haben. Das Gegenwendige dieses Verhältnisses ist nichts Gegensätzliches, sich Widersprechendes und also miteinander Unvereinbares. Gegenwendiges schließt sich nicht gegenseitig aus und hebt sich nicht gegenseitig auf. Gegenwendiges widerspricht sich nicht und nennt auch keinen bestehenden Widerspruch. Gegenwendiges verweist aufeinander, indem es aus dem ihm eigenen Füreinander das jeweils andere zu sich kommen und auf diese Weise allererst das sein lässt, was es jeweils ist. So verdankt sich die von Dilthey angesprochene Gewissheit, dass „das reine Licht der Wahrheit […] nur in verschieden gebrochenem Strahl“ (ebenda) zu erblicken sei, dass „jede […] Weltanschauung [nur] einen Teil der Wahrheit“ (ebenda, S. 225) zu erkennen vermöchte, einer Ahnung, die im Lichte einer ungebrochenen Helle auf das Ganzen geht und die Wahrheit des natürlich und geschichtlich Seienden in der Einheit dieses Ganzen verortet. Diltheys Feststellung der Einseitigkeit und Begrenztheit aller Weltanschauungen verdankt sich so gesehen der Ahnung einer Ganzheit und Unbegrenztheit, durch die jede Weltanschauung in ihr Maß gebracht, als historisch einseitig und dadurch begrenzt gegründet ist.
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4 Historisches Bewusstsein Allererst im Zuge der genannten Gegenwendigkeit konstituiert sich das „im Denken zur Erkenntnis seiner Tragweite erhoben[e]“ historische Bewusstsein (ebenda, S. 221). Dieses wird von Dilthey einerseits als Grund synchron und diachron divergierender Weltanschauungen gesetzt – andererseits bleibt es selbst unbegründet, insofern es ohne weiteres vorausgesetzt ist und in seinem Bezug zu dem nicht weiter infrage gestellten Versetzt sein des Menschen in ein Wissen um das Dass überhaupt von Welt ungesehen bleibt. Solches Versetzt sein eigens zu bedenken und zur Sprache zu bringen, hieße, auf den ersten Anfang des abendländischen Denkens hin zu denken und – um im Bild des Diltheyschen Traums zu bleiben – den „Tempel der Philosophen“ allererst zu betreten. In der Offenheit des dort in seine unverfügbare Gegenwart Geborgenen gibt allein der Aufbruch des Dass überhaupt von Welt zu denken und damit jenes Einfache, das sich im Zuge seiner geschichtlichen Entfaltung in die vielfältigen Anschauungen der abendländischen Tradition des Denkens überliefert und dabei als das Ganze des natürlich und geschichtlich Seienden in Frage gestellt wird. Der „Streit der auf Leben und Tod sich bekämpfenden Systeme“ (ebenda, S. 221), welcher von Dilthey als Streit verschiedener Weltanschauungen vorgestellt ist, bleibt im Hinblick auf die jedes Mal neu zu erringende Gründung dieses Einfachen unwesentlich. Wesentlich dagegen ist das Einfache selbst, daraus sich die Weltanschauungen in ihr Eigenes bringen und so die geträumte Vielfalt der philosophischen, wissenschaftlichen, künstlerischen und theologischen Positionen konstituieren. Ohne Wissen um dieses Einfache fehlen der rechte Zusammenhang und damit der tragende Grund des Zustandekommens und Bestehens der Vielfältigkeit. Ohne Rückbindung in das Wissen vom Einfachen löst sich die Philosophie, die Wissenschaft, die Kunst und die Theologie nach und nach in eine Vielzahl von Systemen auf, die unvereinbar nebeneinander bestehen bleiben, ohne dass es ein Kriterium gäbe, das ihre jeweilige Wahrheit zu entscheiden vermöchte. „Vergebens liefen geschäftig die Vermittler zwischen diesen Gruppen hin und her – die Ferne, die diese Gruppen trennte, wuchs mit jeder Sekunde – nun verschwand der Boden selbst zwischen ihnen – eine furchtbare feindliche Entfremdung schien sie zu trennen – mich überfiel eine seltsame Angst, daß die Philosophie dreimal oder vielleicht noch mehrere Male da zu sein schien – die Einheit meines eigenen Wesens schien zu zerreißen, da ich sehnsüchtig bald zu dieser, bald zu jener Gruppe hingezogen ward […].“ (ebenda, S. 223)
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Im Zuge der genannten Gegenwendigkeit zeigt sich eine Grenze im Denken und in eins damit ein möglicher Übergang für eben dieses. Insbesondere im Hinblick auf Diltheys Bemühen um ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis des Lebens als der geistig gesellschaftlichen und also historischen Wirklichkeit des Menschen sind diese Grenze und der aus ihr abgeleitete Übergang grundlegend.4 Grob gesprochen: Auf der einen Seite der Grenze liegt der denkbare Bereich des sicheren, weil beweisbaren Wissens. Auf der anderen Seite liegt der denkbare Bereich des unsicheren, weil bloß geahnten Wissens. Seit Langem ist das neuzeitlich wissenschaftliche Denken dazu übergegangen, alles Unermessliche und Unergründliche in etwas Messbares zu übersetzen oder als Unwissen in seiner völligen Unbegründetheit zu erweisen. Ausschließlich ein im Messbaren gegründetes Wissen scheint den kontrollierten Zugriff auf die Wirklichkeit sicherzustellen und das Wirkliche in operativen Zusammenhängen optimal nutzbar zu machen. Mehr noch: Im Zuge des angedeuteten Übergangs ist die Messbarkeit selbst zum einzig gültigen Wirklichkeitsprinzip geworden. Nur solches kann als wirklich gelten, was von sich her messbar ist, oder aber wenigstens von sich her Messbarkeit verspricht. Die Messbarkeit wird so von vornherein als jenes oben in seinem Fehl bemerkte Kriterium eingeführt, im Lichte dessen sich die Wirklichkeit des Wirklichen entscheidet und zur einzig möglichen Welt wird. Offensichtlich haben dann weder das Unermessliche als Unermessliches noch das Unergründliche als Unergründliches Anspruch darauf, wirklich zu sein und folglich für die Welt als konstitutiv zu gelten. An ihre Stelle tritt das Noch nicht Erklärte, das zwar noch jenseits des heute schon Erklärbaren liegt, aber mittels geeigneter Methoden und unter Einsatz geeigneter Instrumente bereits morgen, oder in zehn Jahren, oder in hundert Jahren erklärbar sein wird und so gesehen immer schon ein Erklärbares, d. h. ein in seiner Erklärbarkeit Vorausgesetztes war. Das Unermessliche und das Unergründliche sind dann gerade nicht mehr als solche fragwürdig, d. h. sie sind dann gerade nicht mehr aus jener vorhin genannten Gegenwendigkeit heraus fragwürdig, welche sich dem messenden und gründenden Denken jedes Mal entzieht. Die Weltanschauungslehre Diltheys steht in besonderer Weise an dieser hier nur grob skizzierten Grenze und ihrer ständig im Gegenwendigen als Gegenwendigkeit
4Vgl. Heidegger (2004, S. 6 f.) Leben ist für Dilthey das schlechthin Unhintergehbare und damit an sich selbst eine Grenze für das Denken. „Das Leben ist das Erste“. (Dilthey 1997, S. 345) „Deshalb kann das Denken auch nie hinter das Leben, in welchem es auftritt und in dessen Zusammenhang es auftritt […]“ (ebenda, S. 346 f.). Das Leben bleibt „für das Denken unergründlich“ (ebenda, S. 347).
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spielenden Ermöglichung. Als Grenze konstituiert sie von sich her einen Übergang für das Denken, nicht zuletzt deswegen, weil sie „die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung“ als „das letzte Wort der historischen Weltanschauung“ setzt (Dilthey 1960a, S. 225). Das letzte Wort ist dann gesprochen, wenn es darüber hinaus nichts mehr zu sagen gibt, wenn alles ausgesprochen ist, wenn nichts Ungesprochenes mehr bleibt und das Ausgesprochene und das Aussprechbare für das einzig Wirkliche gehalten werden. Dann also, wenn sich im Sagen von dem, was ist, selbst eine Grenze offenbart. Diese ist in Diltheys Traum insofern von Bedeutung, als es in diesem Text ja gerade nicht darum geht und auch nicht darum gehen kann, die Verschiedenheit der Weltanschauungen zu charakterisieren und einzeln in ihren Unterschieden aufzuzeigen, sondern vor allem darum, die Bedingung der Möglichkeit eines menschlichen Wissens von Welt im Haben einer Weltanschauung zu verorten (vgl. Bollnow 2017, S. 1 ff.). Wo an der genannten Grenze das Gegenwendige als solches bemerkt ist, d. h. wo eigens nach der Wahrheit im Ganzen gefragt wird und sich der Mensch dabei in das Wissen vom eigenen Nicht Wissen versetzt sieht, hat bekanntlich die Philosophie und mit ihr die Wissenschaft und in anderer Weise auch die Kunst und die Theologie und alle Weltanschauung ihren Anfang. Im Rahmen eines solchen Wissens vermag das Unermessliche ebenso wie das Unergründliche vom Einseitigen und Begrenzten her in den Blick zu kommen und damit das Einseitige und Begrenzte selbst in seiner jeweiligen Bedingtheit und Begrenztheit zu erscheinen. Das angesprochene Versetzt sein in das Wissen vom eigenen Nicht wissen ist bestimmt vom Versetzt sein in das Wissen um das Dass überhaupt von Welt. Das anfängliche Dass überhaupt von Welt steht indes niemals nur am Beginn eines feststellbaren und aus dem Gesichtskreis der Gegenwart her erklärbaren Prozesses, den wir als historische Abfolge miteinander vergleichbarer philosophischer, wissenschaftlicher, künstlerische, theologischer Systeme vorstellen und beschreiben können, sondern im Gegenteil: Jede genuine Weltanschauung erwächst einem eigenständigen, einmaligen und unvergleichlichen Aufmerken auf das anfängliche Dass überhaupt von Welt. So gesehen ist die Tradition nicht einfach nur die bloße Weiter- und Wiedergabe von Weltanschaulichem sondern vor allem die Bewahrung und Verwahrung dieses anfänglichen Aufmerkens. „Ja, meine Freunde, lasset uns dem Licht zustreben, der Freiheit und der Schönheit des Daseins. […] Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.“ (Dilthey 1960a, S. 226)
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Im Aufmerken auf das Dass überhaupt von Welt, welches seinerseits bestimmt ist von einem Versetzt sein in die Gegenwendigkeit einer in ihre jeweiligen Denkgrenzen befreiten Ahnung des Unbegrenzten, sieht Dilthey nicht nur die Geschichtlichkeit des Lebens, d. h. die Geschichtlichkeit der geistig gesellschaftlichen und also historischen Wirklichkeit des Menschen, sondern auch die Geschichtlichkeit aller menschlichen Vorstellungen darüber, die ihrerseits nichts anderes sind als aus dem Haben einer Anschauung von Welt erwachsene Interpretationen der Wirklichkeit – nämlich: Ihrerseits Grundlage der geistig gesellschaftlichen und also historischen Wirklichen, d. h. Grundlage des Lebens.5 So wie das Leben in der objektivierten Form als geistig gesellschaftliche und sonach historische Wirklichkeit gesehen ist, so kann die der objektivierten Form des Lebens entgegengesetzte subjektive Form als „historisch bedingt[e], sonach begrenzt[e], relativ[e]“ Interpretation des Wirklichen gesehen werden (Dilthey 1960a, S. 224). Allein das grundlegende Verhältnis der beiden bleibt unklar. Entspringt die geistig gesellschaftliche und also historische Wirklichkeit den vermeintlich subjektiven Interpretationen derselben, oder entspringen diese umgekehrt jener Form des Lebens, welche in ihrer objektivierten Form die geistig gesellschaftliche und also historische Wirklichkeit ist?6
5 Vom Haben einer Weltanschauung Im Hinblick auf diese Unklarheit vermag das einfache Hören auf das Wort „Weltanschauung“ erhellend zu sein, insofern es in die Lage versetzt, die angesprochene Fragestellung besser in den Blick zu bringen. Dem Grimm entnehmen wir, dass das Wort „zuerst bei Kant belegt“ (Grimm und Grimm 1971, Sp. 1531) ist; Heidegger, der seine Auslegung des Wortes am Leitfaden der Diltheyschen Weltanschauungslehre entwickelt, spricht von einer „spezifisch deutschen Prägung des ausgehenden 18. Jahrhunderts“ (Heidegger 2001, S. 230 ff.). Tatsächlich kennt das Wort in anderen europäischen Sprachen keine entsprechende Übersetzung, weswegen es oft – wie z. B. im Italienischen –
5„Historische
Weltanschauung ist eine solche, in der das Wissen um die Geschichte die Auffassung von Welt und Dasein bestimmt. Sie gründet in dem geschichtlichen Charakter der Weltentwicklung und des menschlichen Daseins.“ (Heidegger 1925, S. 145). 6„Dieses Verhältnis muß der Ausgangspunkt sein, bei dem eine nähere Bestimmung der Weltanschauung einsetzt.“ (Bollow 2017, S. 6).
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unübersetzt bleibt und in seiner deutschen Wendung übernommen wird7. In einer ersten Bedeutung sagt das Wort so viel wie: Anschauung, Beobachtung, Betrachtung einer mittels der Sinneswahrnehmung erlebten Wirklichkeit. Die Wirklichkeit selbst ist dabei als etwas Vorhandenes vorgestellt, während die genannte Anschauung im Hinblick auf das, was wirklich ist, angemessen oder unangemessen, richtig oder falsch sein kann. In einer zweiten Bedeutung des Wortes wird der Anschauung ein ebenso produktives wie konstruktives Vermögen unterstellt. Die Wirklichkeit ist dann nicht mehr etwas an sich Vorhandenes, sondern etwas, das allererst in der Anschauung, durch sie und mit ihr, gebildet, gestaltet, konstituiert wird. In einer dritten Bedeutung schließlich weist das Wort in die Richtung einer grundlegenden Vorstellung über die Wirklichkeit bzw. einer grundlegenden Ansicht über die Wirklichkeit. Einerseits wird die Wirklichkeit zwar als etwas Vorhandenes und in seiner Vorhandenheit Feststellbares gesetzt, andererseits erlauben allererst die grundlegenden Anschauungen die Setzung des Vorhandenen in seine feststellbare Wirklichkeit, insofern die grundlegenden Anschauungen, die wir von der Welt haben, von vorne herein entscheiden, was als wirklich zu gelten hat und was nicht. Der Grund der Wirklichkeit wird so in seiner Verfügbarkeit prinzipiell vorausgesetzt, sodass der schon genannte Zug der Produktivität und Konstruktivität im Hinblick auf die Herstellbarkeit und Machbarkeit des Wirklichen und das Haben einer Weltanschauung nicht verschwindet, sondern verstärkt wird. Ungesagt bleibt bei all dem das Haben einer Weltanschauung, welches noch vor dem Haben einer Weltanschauungen zu denken gibt. Das Haben einer Weltanschauung gründet in einem Haben, welches sich am Dass überhaupt von Welt orientiert. Daraus erwachsen alle menschlichen Verhaltungen, d. h. alle Verhaltungen, darin sich der Aufenthalt des Menschen allererst konstituiert. Im Verhalten hält sich der Mensch in dem, was ist. Er stellt ein solches Verhalten nicht her, er verfügt nicht darüber. Sein jeweiliges Handeln, sein jeweiliges Sprechen, sein jeweiliges Denken konstituiert sich als eine Haltung, welche aus dem Verhalten selbst, aus dem Versetzt sein in die Gegenwendigkeit einer in ihre jeweiligen Denkgrenzen befreiten Ahnung des Unbegrenzten, aus dem Haben einer Weltanschauung erwächst.
7Vgl. Heidegger (2007, S. 366). Vgl. dazu: Note di traduzione der italienischen Übersetzung von Heideggers Einleitung in die Philosophie. (Heidegger 2007, S. 366).
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Literatur Barash, Jeffrey Andrew. 1999. Heidegger und der Historismus. Sinn der Geschichte und Geschichtlichkeit des Sinns. Würzburg: Königshausen und Neumann. Bollnow, Otto Friedrich. 2017. Diltheys Lehre von den Typen der Weltanschauung. http:// www.otto-friedrich-bollnow.de/index.html. Zugegriffen: 2. Febr. 2017. Dilthey, Wilhelm. 1960a. Traum. Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Gesammelte Schriften, Bd. VIII. Stuttgart: Teubner Verlagsgesellschaft. Dilthey, Wilhelm. 1960b. Das Wesen der Philosophie. In Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, (Hrsg.) Wilhelm Dilthey. Hälfte 1, Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. V. Stuttgart: Teubner Verlagsgesellschaft. Dilthey, Wilhelm. 1997. Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870–1895). Gesammelte Schriften, Bd. XIX. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rothacker, Erich, Hrsg. 1923. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und Paul Graf Yorck von Wartenburg. 1877–1897. Halle: Niemeyer. Grimm Jacob, und Grimm Wilhelm. 1971. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 28. Leipzig: Hirzel. Heidegger, Martin. 1925. Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung. 10 Vorträge. (Gehalten in Kassel vom 16.IV.–21. IV.1925). Dilthey-Jahrbuch 4:1986–1987 (Frithjof Rodi Hrsg.). Heidegger, Martin. 2001. Einleitung in die Philosophie, Bd. 27. Frankfurt a. M.: Klostermann. Heidegger, Martin. 2004. Der Begriff der Zeit. GA 64. Frankfurt a. M.: Klostermann. Heidegger, Martin. 2007. Avviamento alla filosofia. In trad. italiana a cura di Maurizio Borghi con la collaborazione di Ivo De Gennaro e Gino Zaccaria, Hrsg. Martin Heidegger. Milano: Marinotti.
Die Selbstwahrnehmung der Wirtschaft Zum Wandel herrschender Leitbilder Karl-Heinz Brodbeck
Zusammenfassung
Das Paper beschreibt den enormen Wandel, den die Ökonomik in ihrer Selbstsichtweise vom 17. bis zum 20. Jahrhundert unternommen hat: von einer Staatslehre bzw. einer Staatswissenschaft zu einer abstrakten Ökonomik – eine zentrale Rolle hat dabei die Entwicklung der Statistik gespielt. In diesem Prozess wurde die Ökonomik quasi objektiviert und zugleich ihrer Moralität entkleidet, die in der Schottischen Politischen Ökonomie noch enthalten war. Schlüsselwörter
Theoriegeschichte der Ökonomik · Selbstbilder der Ökonomik · Politische Ökonomie · Geschichte der Statistik · Subjektbegriff · Moralphilosophie
1 Vorbemerkung Der Blick auf die Wirtschaft hat sich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert prima facie grundlegend gewandelt. Aus einer Ethik und Staatswissenschaft entwickelte sich eine naturalistische Theorie. Dass im Spiegel dieser Denkformen sich jeweils die Wirtschaft selbst reflektiert und in ihren Herrschaftsformen reproduziert, dies möchte ich nachfolgend zeigen. Stand am Anfang der Fürst sichtbar im Zentrum dieser Selbstwahrnehmung, der die Untertanen als Mittel für Staatszwecke K.-H. Brodbeck (*) Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_4
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auf dem Wege der Statistik erfassen wollte, so verbirgt sich diese Blickweise zunehmend in einer immer abstrakter werdenden Ökonomik. Die handelnden Menschen in der Wirtschaft wurden hinter statistischen „Massen“ und darauf bezogenen Begriffen unsichtbar. Ludwig von Mises meinte: „Die Erkenntnis des wahren Zusammenhanges der Dinge kann dem Arbeiter aus seiner Stellung unmöglich kommen.“ (Mises 1940, S. 350) Das historische Intermezzo des Marxismus hat diese Blickweise nicht verändert: „Das moderne sozialistische Bewußtsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. (….) Der Träger dieser Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz“ (Kautsky 1902, S. 79).
Die Selbstwahrnehmung der Wirtschaft verlief historisch stets durch das Nadelöhr der Interessen von Eliten und war schon durch ihre theoretische Form Ideologie.
2 Statistik als Methode der politischen Ökonomie1 Die erste systematische Form der Selbsterkenntnis der Wirtschaft firmierte unter dem Namen „Statistik“. Sie ist im ursprünglichen Sinn „Staatszustandswissenschaft“2. Tatsächlich kennt die frühe Statistik in Deutschland, wie sie Hermann Conring und Gottfried Achenwall im 17. und 18. Jahrhunderts begründet haben („Göttinger Schule“), vor allem „die zwei Hauptgegenstände Land und Leute“ (Schlieben 1834, S. 1). Der logische Status dieser Wissenschaft blieb lange unklar.3 Knies nannte sie „eine historische Disziplin“ (Knies 1850, S. 17). Schnabel erblickte in ihr nur „eine Wissenschaft der Gegenwart mit wirklich vorhandenen Thatsachen“ (Schnabel 1841, S. 65; meine Hervorhebung).
1Vgl.
Felsing (1930): „Die Statistik als Methode der politischen Ökonomie im 17. und 18. Jahrhundert“. 2Butte (1808, S. 158); Holzgethan (1829, S. 7); vgl. die Diskussion bei John (1884, S. 3 ff.). 3Knies (1850, S. 169), bezeichnet die Statistik als „ein mannigfaltiges Gewirre von Verschiedenheiten und Gegensätzen“; Wagner (1867, S. 400 ff.), sieht in ihr „das völlige Auseinandergehen der theoretischen Auffassungen“. Erst die „mathematische Statistik“ (Knapp 1874, S. 4), die sich nur noch auf das „von der Zahl begleitete exacte Factum“, (Knies 1850, S. 173), bezog, hat das geändert – in Fortführung der mehrfachen Ansätze von Petty (1755) und Laplace (1819).
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Der Begriff „Staat“ wurde ursprünglich umfassend verwendet. So begreift Achenwall unter dem Terminus „Staat“ „jede bürgerliche Gesellschaft“, aber auch „das Regierungswesen, wenn es so viel als Staatsverfassung bedeutet.“ (Achenwall 1749, S. 2 f.) Diese Wissenschaft hat es „nicht bloß mit Menschen; sondern auch mit ihrem Eigenthum zu schaffen.“ (ebenda). Obgleich man von der „Conring-Achenwall schen Statistik“4 zu sprechen sich angewöhnt hat, liegt doch zwischen beiden Autoren nicht nur ein ganzes Jahrhundert, sondern auch ein anderer Blick auf den Staat und die Wirtschaft. Conring, von Roscher in die Riege der Mitbegründer der Nationalökonomie gerückt5, haftet noch ganz an einer im Fürsten zentrierten Ordnung von Wirtschaft und Staat, der die Menschen nur untertan sind. Conring gliedert seine Theorie aristotelisch in vier Ursachen, die dem Staatszweck, der causa finalis des Staates, zugeordnet sind (vgl. Felsing 1930, S. 22 ff.). Bei Achenwall lässt sich bereits die beginnende Emanzipation der bürgerlichen Marktgesellschaft und des Privateigentums erkennen. Doch wie bei Conring dreht sich auch bei ihm noch alles um die Regierung. Man kann in der frühen Statistik den Gedanken erkennen, dass die Regierenden über ihre „Untertanen“ möglichst viele Informationen sammeln wollten, um so den Reichtum des eigenen Landes im Wettbewerb der Staaten zu instrumentalisieren. Selbsterkenntnis der Wirtschaft bedeutete hier vornehmlich das statistisch geordnete Wissen des Fürsten und seiner Minister über die eigenen Untertanen und deren Eigentum. Der zentrale Ort für dieses Wissen ist die „Kammer“.6 Es waren aber nicht zuletzt die Fürsten selbst, die ihre eigene Macht relativierten und der Geldökonomie zum Durchbruch verhalfen. Zentrales Beispiel hierfür ist Kurfürst August von Sachsen (Regierungszeit 1553–1586), den Roscher als den „größten deutschen Staatswirth seiner Zeit“ (Roscher 1874, S. 129) und Heinrich Büsch als den „ersten Nordischen Fürsten“ bezeichneten, der „diejenige Staatswirtschaft, welche für inländische Staaten anwendbar ist, (…) verstand“ (Büsch 1796, S. 20). Kurfürst Augusts Modernität charakterisiert „das Streben, die Naturalbesoldung der Beamten in Geld zu fixieren“. Hierdurch „erhielt die kurfürstliche Kammer, die sich vorher fast ausschließlich mit
4John
(1884, S. 12, 34, 84) und öfter. (hat) zu den Ersten gehört, welchen ein würdig umfassendes Ideal der Volkswirthschaftslehre vor Augen schwebte“; sein Examen rerum publicarum potiorum totius orbis (1660) zeige dies „in Bezug auf die, mit der Nationalökonomik so nah verwandte Statistik und Staatskunde.“ (Roscher 1874, S. 256). 6Vgl. zum Begriff der „Kammer“ als „Ordnungs- und Erkenntnisprinzip“ des Staates Segelken (2010, S. 13 f.) und passim. 5„Conring
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erwaltung der Domänen beschäftigt hatte, eine starke Richtung auf gewerbliche V und Handelsunternehmungen des Herrschers, auf Unterstützung vieler Privatgewerbe durch polizeiliche Gunst und landesherrliches Kapital“ (Roscher 1874, S. 133). Die Kammer, bislang Sammelort für allerlei Kuriositäten und Kunst, aber auch Tabellen und Nachrichten über das jeweilige Land, wandelte sich so schrittweise in ein Rechenzentrum des Staates. Die Selbstwahrnehmung, zentriert in der Fürstenkammer, erhielt eine pekuniäre Form. Regierungsziel war eine Maximierung, die Johann Peter Süßmilch so charakterisierte: „Die besondern Einkünfte eines Fürsten und die Zuflüsse zur allgemeinen Schatzkammer müssen vergrößert werden“ (Süßmilch 1761, S. 408 f.). Man könnte sagen, die Fürsten wandelten sich auf diese Weise in Geldsubjekte – sowohl was die Erfassung des Reichtums im jeweiligen Staatsgebiet als „Eigenthum“ wie dessen Geldform betrifft (Achenwall 1749, S. 3). Das Beispiel von Kurfürst August zeigt zudem, dass sich Geld und Märkte nicht gleichsam spontan und naturwüchsig durchgesetzt haben. Sie hatten mächtige Geburtshelfer in den regierenden Fürsten. Erst deren pekuniäre Neuinterpretation ihres Reichtums förderte auch allgemein den Handel, entlohnte die Beamten in Geld und nötigte nicht zuletzt über Geld steuern die Bürger zum Gelderwerb. Noch Petty klagt etwa ein Jahrhundert nach der Regierungsperiode von Kurfürst August über Steuern in Geldform: „It seems somewhat hard; that all Taxes should be paid in money, that is, (…) that fat Oxen and Corn should not be received in kind, but that Farmers must first carry their Corn perhaps ten Miles to sell, and turn into Money“ (Petty 1667, S. 16).
Die obrigkeitlich begünstigte Durchsetzung der Geldökonomie durch die Forderung, Steuern in Geldform leisten zu müssen, wurde durchaus als Gewaltakt empfunden, als „the force of paying (taxes) in money at a certain time“ (ebenda, S. 4). Dass hiermit – wie bei der Durchsetzung der Geldrechnung überhaupt – auch die Notwendigkeit verknüpft ist, alle in Geld bewerteten Dinge ihrerseits einem Maß zu unterwerfen und die Welt dadurch zu „rationalisieren“, sei hier nur am Rande erwähnt.7 Begleitet wurde dies durch den Wandel der frühen Statistik in eine immer stärker quantitative, später mathematische Form.
7Vgl.
Brodbeck (2012, S. 893–926). Vgl. Brodbeck (2014, S. 33 ff.).
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3 Statistik und Ökonomik als „Selbsterkenntnis“ Dass in der Kammer, symbolisch im Fürsten, sich die Gesellschaft selbst erkennt und wahrnimmt, dieser Gedanke blieb auch dann noch gültig, als sich längst die bürgerliche Gesellschaft in der Französischen Revolution von der Idee eines Herrschaftsvertrages verabschiedet hatte. Zu der Zeit, da die frühe Statistik in zahlreichen Abhandlungen ihren Begriff gefunden hatte, erreichte sie auch ihren Zenit als Wissenschaft der „Staatsmerkwürdigkeiten“ im Achenwall’schen Sinn, welcher „den gesellschaftlichen Zustand des Menschengeschlechts in seinen wichtigsten Resultaten auffaßt.“ (Holzgethan 1829, S. III; vgl. John 1884, S. 74 ff.). Butte fügte hier das Moment der Selbstreflexion in den Begriff der Statistik ein, wenn er formuliert, „daß diese Wissenschaft dem gegebenen Staate das ‚Noscere se ipsum‘ gewähren müsse.“ (Butte 1808, S. III). Dieses „Erkenne dich selbst!“ wird als Hauptaufgabe und Nutzen der Statistik interpretiert: Die „Nützlichkeit der Statistik (ist) das Gewähren solcher Selbstbeschauung des Staates“ (ebenda, S. IV). Bei Butte ist die Statistik nicht mehr nur eine tote Kollektion von „Merkwürdigkeiten“, sie wird zum Medium der Selbstreflexion der Wirtschaft. Dies keineswegs nur passiv, liefert die Statistik doch „Winke für den Staat, dem es darum zu thun ist, sich in genaue Selbstbeschauung zu setzen und darin zu erhalten.“ (ebenda, S. XXV; meine Hervorhebung). Butte sah in der Statistik nicht nur ein Hilfsmittel neben vielen anderen für eine ansonsten mit sich identische Gesellschaft. Vielmehr bemerkte er in der in der Statistik vollzogenen Selbsterkenntnis zugleich die fundierende Rolle der Selbstbeherrschung des Staates: Ihr fällt als Bewusstseinsform die Aufgabe zu, das „Bedürfniß der Selbstbeherrschung des Staats zu befriedigen“ (ebenda, S. 230). Die wissenschaftliche Form der Statistik, „der akademische Lehrstuhl dieser Wissenschaft, an Nützlichkeit schlechthin keinem der zweite (…), muß von dem Staate besonders beachtet werden“ (ebenda, S. 317).8 Dieser Gedanke prägte auch die frühe Ökonomik. So sagt Friedrich von Hermann: „die Statistik ist für den Staat, was das Selbstbewusstsein für den Menschen.“ (Knapp 1925, S. 315). Später findet dieser Gedanke nur noch ein schwaches Echo in dem Satz, dass in der „theoretische(n) National ökonomie (…) der Mensch sich selbst erkennen“ wolle (Wieser 1929, S. 4). Die leere Floskel „der Mensch“ markiert den vollzogenen Wandel von der Politischen
8Vgl.
„‚Die Statistik ist Teil der Politik‘ – das ist der Grundgedanke der gesamten deutschen Universitätsstatistik.“ (John 1884, S. 34).
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Ökonomie und der Statistik als Staatswissenschaft zu einer auf einem abstrakten, ökonomischen Menschenbild beruhenden Ökonomik.
4 Geldökonomie und Gesellschaftsvertrag Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Ich greife zunächst eine Gedankenlinie auf, die unmittelbar zur schottischen Schule der Ethik führt. Es hat sich gezeigt, dass die Zentrierung der Gesellschaft, damit auch ihre (Selbst-)Erkenntnis auf den Fürsten und die Schatzkammer eine wesentliche Geburtshilfe in der Durchsetzung der Geldökonomie war. Diese im 17. Jahrhundert verstärkt einsetzende Verwirklichung von Markt- und Geldformen, die noch lange am Gängelband staatlicher Krücken gingen, hat die fundierenden Begriffe der Ökonomik grundlegend verwandelt. Was charakterisiert eine Geldökonomie, also eine über das Geld, Anerkennung von Privateigentum und Austausch vollzogene Vergesellschaftung? An den Anfang rückt nun nicht mehr eine Ganzheit der Ordnung wie in den mittelalterlichen und feudalen Systemen, sondern ein Konzert aus Individuen. Der Gedanke an einen gottgewollten Herrschaftsvertrag zwischen Fürst und Untertanen, ein Herrscher, der alle sozialen Formen auf sich hin zentriert und als Mittel für seinen, den Staatszweck nutzt, wird vor allem in der französischen Philosophie kritisiert. Der Staat wird nun vor dem stillschweigenden Hintergrund einer Geldökonomie verstärkt als Vertragsverhältnis zwischen prinzipiell gleichen Individuen gedeutet. Die personale Zentrierung im Fürsten beruht nach Bodin auf einer abstrakten Souveränität und verliert so die personale Qualität.9 Bei Locke akzeptieren die Bürger den aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgehenden Herrschaftsvertrag; auch bei Hobbes stimmen die Untertanen aus der Erfahrung des bellum omnium contra omnes einem Herrschaftsvertrag zu. Rousseau lehnt dies grundsätzlich ab, indem er die Geltung eines Herrschaftsvertrages schlicht negierte.10 Er sagt in seinem Discours sur l’Economie politique in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert von 1755:
9„Sovereignty
resides in the supreme senates and legislative authority“. (Hallam 1848, S. 315). 10„Bei Bodin noch ist Souveränität oberste Staatsgewalt; bei Rousseau ist Souveränität der Gesellschaftswille“. (Bluntschli und Brater 1867, S. 553). „Es war daher in Wahrheit eine revolutionäre That, als Rousseau den Herrschaftsvertrag aus der Vertragslehre strich.“ (Gierke 1880, S. 91).
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„Fassen wir in wenigen Worten den Sozialvertrag zwischen beiden Ständen (= Herrschaftsvertrag, KHB) zusammen: Ihr seid auf mich angewiesen, denn ich bin reich und ihr seid arm. Schließen wir also ein Abkommen miteinander: Ich werde euch die Ehre gewähren, mir zu dienen unter der Bedingung, daß ihr mir das wenige gebt, was euch bleibt, für die Mühe, die ich auf mich nehme, euch zu befehlen.“ (Rousseau 1977, S. 99).
Das Wissen, das in der frühen Statistik in der „Kammer“ gesammelt wur de, war aus Rousseaus Perspektive reines Herrschaftswissen – niemand nützlich, außer dem Fürsten. Der Wandel der sozialen Selbstwahrnehmung war zugleich eine Verschiebung der Bedeutung des Selbst – sowohl ein sozialer wie ein philosophischer Wandel. Je mehr der Austausch in einer Geldökonomie den stillschweigenden Hintergrund lieferte für die Selbstauslegung der Menschen, desto stärker rückte das Individuum in den Mittelpunkt.
5 Der Wandel des Subjektbegriffs Dies lässt sich vor allem am Wandel des Subjektbegriffs demonstrieren. Philosophisch ausgedrückt: Die beiden Kategorien Subjekt und Objekt haben spätestens mit Kant nicht nur ihre Bedeutung verändert (vgl. Karskens 1992); sie haben erkenntnistheoretisch ihre Stellung vertauscht.11 Das Subjekt wurde nicht nur – im modernen Sinn – „subjektiv“, es wurde vornehmlich zum fühlenden, vereinzelten Individuum. Das, was in der Neuzeit „wissenschaftliche Objektivität“ heißt, also das überindividuell, in sich Existierende, das steht nun einer Vielheit von Subjekten gegenüber: „The history of objectivity becomes, ipso facto, part of the history of the self.“ (Daston und Galison 2007, S. 37). In Geldökonomien beziehen sich vereinzelte Privateigentümer auf das Geld als reine Objektivität ihres Handelns. Waren und zugehörige sinnliche Wahrnehmungen erscheinen dagegen vereinzelt. Das Allgemeine ist die abstrakte Zahl im Geld. „Subjekte“ waren notwendig als vereinzelt vorgestellt und als Vereinzelte zugleich nicht-rational, also leidenschaftlich, in abgegrenzter Perspektive. Erfahrung wurde, herkommend aus der Vereinzelung der Eigentümer in Geldökonomien, zur Einzelerfahrung: „Die Erfahrungen sind demnach Sätze von
11„Es
ist eine in der Philosophiegeschichte allgemein bekannte Tatsache, daß beide Begriffe in der mittelalterlichen Scholastik im umgekehrten Sinne im Vergleich zur heutigen Zeit verwendet wurden.“ (Kahl-Furthmann 1953, S. 326).
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einzelnen Dingen, weil man nichts als einzelne Dinge empfinden kann.“ (Wolff 1775, S. 16). Das so isoliert gedachte Subjekt als Träger individueller Empfindungen und Willensentscheidungen ist gleichwohl frei. Die Freiheit des Subjekts ist hier aber jenseits jeder Rationalität, jeder Mechanik und jeder Erkennbarkeit vorgestellt.12 Eine Frage wird damit unabweisbar: Ist es möglich, aus vielen Einzelerfahrungen eine allgemein gültige Aussage abzuleiten? David Hume beantwortete sie schlicht mit: „Nein!“. Induktion von Gesetzen ist unmöglich. Die Vorstellungen von Bacon werden von der schottischen Schule abgelehnt. Es stellt sich dann aber die Frage, wie viele auseinanderlaufende Einzelwillen der Individuen überhaupt noch eine gesellschaftliche Ordnung ermöglichen sollen. Was die Guillotine in der Französischen Revolution in grausame Wirklichkeit übersetzte, vollzog sich als ideelle Dekapitation zuvor in der Philosophie und in der Ökonomik. Der Gedanke, dass letztlich göttliche Gesetze die Menschen moralisch formen und so „in Ordnung“ halten, wurde durchgestrichen. Zugleich wurde damit auch die Regentschaft der Vernunft über die Sinne als Bestimmungsgrund für jedes Individuum infrage gestellt, die Wolff auf den Spuren von Leibniz oder Jean Bodin noch als Ordnungsprinzip selbstverständlich akzeptierten.13 Mit der – wenigstens philosophischen – Enthauptung des regierenden Subjekts, für das der Staat zugleich dessen Selbstwahrnehmung in der Kammer war, trat ein in viele Individuen zersplittertes Selbst, dessen Einheit zum Rätsel wurde. Die wirkungsmächtige Lösung dieses Problems durch die schottische Moralphilosophie ist mehrdeutig. Sie zeigt sich abhängig und beeindruckt von Thomas Hobbes’ These vom notwendigen Egoismus des Individuums. Bernard Mandeville hat sie in eine Theorie verwandelt, die Adam Smith bei aller Distanzierung durchaus noch beunruhigte.14 Shaftesbury und Hutcheson erkennen eine moralische Ordnung an, obgleich sie den Individuen im modernen Wortsinn die Subjektivität ihrer Leidenschaften bescheinigen. Ihre Antworten differieren untereinander und von der Smith’schen Theorie, laufen aber auf eine gemeinsame Denkform zu, die ich nachfolgend skizzieren möchte.
12Bei
Locke sind Maschine und Freiheit noch ein direkter Gegensatz; „… by denying freedom to mankind, and thereby making men no other than bare machines“. (Locke 1824a, S. 45; vgl. Locke 1824b, S. 439). 13„Das Gemüt aber ist glückselig, wann sich die begierden der vernunft underwerffen.“ (Bodin 1592, S. 5). 14„(T)he system of Dr. Mandeville (…) (is) in almost every respect erroneous, there are, however, some appearances in human nature, which, when viewed in a certain manner, seem at first sight to favour them.“ (Smith 1979b, S. 308).
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6 Vom Moral Sense zur Moral-Maschine Da das neu gedeutete Subjekt als vereinzeltes, freies Individuum zum Ausgangspunkt geworden ist, rückt die Selbstliebe als Problem in den Vordergrund. Die traditionelle Ethik hatte die Selbstsucht als Sünde abgelehnt und moralisch gezügelt im Begriff des Mitleids als Christenpflicht. Shaftesbury führt hier ein Substitut ein, das gleichsam Gottes Stimme im vereinzelten Individuum bleibt; doch nun sensualistisch umgedeutet. Die Sympathie mit anderen Menschen ist eine von vielen Leidenschaften. Da aber aus der Sympathie Vergnügen entsteht, die „Pleasures of Sympathy or Participation with others“ (Shaftesbury 1727, S. 112), da, als zweite Voraussetzung, gilt: „the social Pleasures are superior to any other“ (ebenda, S. 102) – deshalb bilden die Menschen doch eine harmonische Ordnung. So formt das Individuum auch die Gesellschaft. Die innere Organisation des Selbst konstituiert einen „moral sense“15, ein System der pleasures. Aus der beobachteten inneren Organisation jedes Menschen, der Sympathie mit anderen als oberster Freude, ergibt sich dasselbe, was früher als moralische Gesetzgebung eines Gottes betrachtet wurde. Jeder Mensch ist eine moralische Maschine, eine „Fabrik“ der Leidenschaften und offenbart darin eine göttliche Spur: „Now having recogniz’d this uniform consistent Fabrick, and own’d the Universal System, we must of consequence acknowledge a Universal Mind; which no ingenious Man can be tempted to disown, except thro’ the Imagination of Disorder in the Universe, its Seat.“ (Shaftesbury 1727, S. 290)
Aus einem in seinen Leidenschaften selbstbezogenen Menschen wird so ein moralisches, von Gott gelenktes Wesen: „For in this case ’tis not a Self-govern’d, but a God-govern’d Machine.“ (ebenda, S. 337)
Hutcheson knüpft an Shaftesbury an, führt allerdings den moral sense als eine eigene soziale Empfindung in das System der Leidenschaften ein. Der moral sense ist gleichsam die moralische Triebenergie der moralischen Maschine
15Shaftesbury
(1727, S. 46 und 240). Thomas Reid naturalisiert den moral sense noch weiter: „The very ideas or notions of just and unjust are got by the moral sense; as the ideas of blue and red are got by the sense of seeing.“ (Reid 1863, S. 51; vgl. Bonar 1930, S. 236 ff.).
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„Mensch“. Wie Shaftesbury kennt er die Vorstellung einer inneren, mechanischen Interaktion der diversen Antriebe der „moral machinery of these instincts“ (Hutcheson 1740, S. 153). Er vergleicht dies mit der Muskulatur, in der Agonist und Antagonist eine harmonische Gesamtbewegung hervorbringen – und er zieht aus diesem Bild weitgehende Schlussfolgerungen: „Our passions no doubt are often matter of uneasiness to ourselves, and sometimes occasion misery to others (…). But which of them could we have wanted, without greater misery in the whole? They are by nature balanced against each other, like the antagonist muscles of the body; either of which separately would have occasioned distortion and irregular motion, yet jointly they form a machine, most accurately subservient to the necessities, convenience, and happiness of a rational system.“ (Hutcheson 1769, S. 163; meine Hervorhebung).
Weil in den Individuen die verschiedenen Leidenschaften so harmonisch aufeinander abgestimmt sind, verbunden mit dem besonderen moralischen Sinn, ergibt sich auch eine harmonische Gesellschaft, „and promote a general good amidst all the private interests.“ (ebenda). So wird das „larger system of mankind“ (ebenda. S. 282) wie eine große Maschine zusammengeführt. Die innere Harmonie geht der sozialen auch bei Hutcheson voraus. Der moral sense, das Gewissen, bewegt die Menschen, nicht eine äußere Steuerung: „For what our conscience or moral sense chiefly regards are the affections of the heart, and not the external effects of them.“ (Hutcheson 1747, S. 23). Die Moral ist wie bei Shaftesbury eine Frage individuierten Gefühls, eines Vergnügens (pleasure), nicht von Vernunft – wie in der kontinentalen Aufklärungsphilosophie –, angewandt auf die Situationen des Alltags, in denen sich sonst die Selbstliebe ungehemmt entfalten würde. Der moralische Sinn ist nicht vernünftig, er bereitet Vergnügen: „This same moral sense also filling the soul with the most joyful satisfaction and inward applauses“ (ebenda, S. 37). Der moral sense bewertet soziale Handlungen höher: „a much higher value upon abilities and dispositions immediately connected with virtuous affections, and which exclude the worst sorts of selfishness.“ (ebenda, S. 68). In der Sympathie offenbart sich für Hutcheson damit die soziale Quelle für Glück; „another source of happiness or misery, our sympathy or social feelings with others“16. Das ist bei ihm die Funktion des moral sense (ebenda, S. 49). In der logischen Struktur bildet bei Shaftesbury und Hutcheson das Bild der harmonischen Moral-Maschine allerdings keine befriedigende Erklärung.
16Hutcheson
(1747, S. 49).
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Denn ein Vergnügen aus der Sympathie einfach zu postulieren, ist ebenso eine petitio principii wie ein Sinn, der moralisches Handeln in der Maschine Mensch kausal hervorbringt (moral sense). Erkennbar ist der Versuch bei Shaftesbury und Hutcheson, das ökonomische Grunddilemma – die Grundfrage: Wie ergibt sich aus irrationaler Subjektivität bei freien Entscheidungen so etwas wie Ordnung in der Gesellschaft – gleichsam systemtheoretisch zu beantworten. Die dominierende Entdeckung Newtons, den Lauf der Planeten aus einfachen Gesetzen deduzieren zu können als Ur-Bild einer harmonischen Maschine, lässt sich als stillschweigender Subtext bei fast allen Autoren vom 17. bis zum 19. Jahrhunderts entdecken. Der Staat wird zur Maschine – bei Iselin17, Justi18, Kant19, Schlözer20 oder Burke21. Adam Smith ist hier nicht nur keine Ausnahme, sondern das Erbe und die frühe Beantwortung dieses zunächst rein logisch gestellten Problems. Wie seine History of Astronomy, seine frühe Arbeit über die Sinneswahrnehmung und schließlich in reifer Form seine Theory of Moral Sentiments zeigen, ist die harmonische Ordnung im Subjekt und in der Gesellschaft der kosmischen Ordnung völlig analog. Ich greife hier nicht noch einmal die wiederkehrende Debatte über das Verhältnis vom „Egoismus“ in Wealth of Nations und der „Sympathie“ in Theory of Moral Sentiments auf.22 Es genügt im Rahmen der vorliegenden Fragestellung auf zwei Bilder bei Adam Smith hinzuweisen. Das erste davon ist hinreichend bekannt. In seiner History of Astronomy definiert Smith, was er unter „System“ versteht: „Systems in many respects resemble machines. A machine is a little system, created to perform, as well as to connect together, in reality, those different movements and effects which the artist has occasion for. A system is an imaginary machine invented to connect together in the fancy those different movements and effects which are already in reality performed.“ (Smith 1979d, S. 66; meine Hervorhebung).
17„Der
Staat ist eine große Maschine, deren Endzwek die Glückseligkeit der Bürger ist“. (Iselin 1670, S. 16). 18„(D)er Staatskörper ist eine moralische Maschine“. (Justi 1759, S. 392). 19Die „Welt (sei) so anzusehen (…) wie sich eine Uhr“ verhält. (Kant 1902, Bd. IV, S. 357). 20Man betrachte „den Stat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine“. (Schlözer 1793, S. 4). 21Er spricht von der „politic machinery in the world“. (Burke 1874, S. 276). 22Vgl. zum Beispiel Buckle (1865, S. 421 ff.) und die Gesamtdarstellungen bei Zeyss (1889); Braun (1878); Hildebrand (1922, S. 271) und Göçmen (2007).
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In dieses Bild gehört auch die invisible hand, die Metapher für die durch die Maschine verwirklichte Gesetzmäßigkeit einer göttlichen Ordnung – vom Kosmos bis zur inneren Organisation des Subjekts (durchaus in der Tradition von Shaftesbury und Hutcheson).23 Ein Naturgesetz ist eine Ordnung disparater Glieder. Als Gesetz ist es unsichtbar und verbindet doch „a chain of intermediate, though invisible, events“ (Smith 1979d, S. 42). Die menschliche Imagination folgt diesem Zusammenhang.24 In der Ethik und der Ökonomie wird die unsichtbare Hand schließlich zu einem bestimmenden, autonomen Gesetz. Die invisible hand ist dort das gesetzmäßige, lenkende Prinzip sozialer Beziehungen, jene „Fabrik“ von der Shaftesbury sprach oder der moralischen Maschine Hutchesons, die aus innerer Nötigung die Menschen in soziale Harmonie führt. Bei Smith erscheint diese Denkform aber so, dass der irrationale Egoismus der Individuen durch eine äußere Mechanik in eine Harmonie getrieben wird. Er knüpft an David Hume, nicht zuletzt auch an Levesque de Pouilly an: „We are separated from each other by self-love, but we are, notwithstanding, all members of the same body. Every man has a distinct motion, of which his personal interest is the centre, and all these particular motions form one grand and universal movement, which has the general good for its centre.“25
Während der moral sense ein Sinn neben anderen Sinnen in jedem Individuum ist, Zeichen göttlicher Lenkung und Verursacher des Guten, ist bei Smith „das Gute“ eine Systemeigenschaft und geht aus der Wechselwirkung der Egoismen hervor. Nicht im Individuum liegt durch einen Gemeinsinn, einen common sense (wie bei Thomas Reid) oder durch einen moral sense die Quelle eines harmonischen Zusammenlebens. Es ist die Wechselwirkung der Egoismen, worin jeder gelenkt wird „by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention“ (Smith 1979c, S. 456). Jeder bleibt selbstbezogen; sein Erkenntnishorizont bleibt auf sein unmittelbares Umfeld beschränkt. Doch es ist gerade der Egoismus, der den Reichtum aller fördert. Selbst die Reichen gehorchen diesem Prinzip: „The rich (…) are led by an invisible hand“ (Smith 1979c, S. 184 f.)
23Smith
„sees nature, including human nature, as a vast machine supervised by God and designed to maximise human happiness.“ (Denis 1999, S. 71). 24Vgl. dagegen: Systems „are no more than a chain of contingent consequences (…). Such systems are mere conceits“, (Steuart 1770, S. vii). 25de Pouilly (1794, S. 92); Smith bekennt de Pouilly’s Einfluss auf seine Theorie. (Smith 1979d, S. 250).
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Smith hebt den Egoismus der Individuen nicht auf; noch die Sympathie mit anderen bleibt auf die je eigene Imagination bezogen. Thomas Reid trifft deshalb den Punkt, wenn er am 30. Oktober 1778 an Lord Kames schreibt: „I have always thought Dr S(mith)’s system of sympathy wrong. It is indeed only a refinement of the selfish system“ (Reid 1863, S. 92). War die invisible hand ursprünglich bei Smith ein neutrales Prinzip nach Analogie eines Naturgesetzes, so kehrte er nie den vergleichbaren Gedanken bei Shaftesbury und Hutcheson den Rücken, dass sich in der menschlichen Gesellschaft ein göttliches Walten offenbart: „the great Director of the universe“ (Smith 1979b, S. 236), einer „beautiful and noble machine“ (ebenda. S. 316).
7 Das duale Selbst und die Gesellschaft der Eigentümer Um im Individuum so etwas wie ein über sein Selbstinteresse hinausgreifendes Interesse zu entdecken, führten also Shaftesbury und Hutcheson den moral sense ein, und auch der Widersacher von David Hume innerhalb der schottischen Aufklärung – Thomas Reid – kennt einen alle verbindenden common sense. Bei Smith taucht dieser Gedanke nur in modifizierter Form auf: „(I)f experience did not teach us how common they are, one should imagine the least spark of common sense would save us from.“ (Smith 1979b, S. 115). Der common sense ist also das Ergebnis einer moralischen Imagination, nicht a priori gegeben (vgl. Ötsch 2016). Er regiert („governing“) nicht faktisch, sondern bleibt normativ („it should be the ruling“26). Um auch im selbstbezogenen Individuum eine über es hinausgehende Perspektive geltend machen zu können, führt Smith den impartial spectator ein.27 Damit wird das logische Dilemma des Gegensatzes von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung zu einer in der Einzelperson wiederkehrenden Dualität. Es ist bemerkenswert, dass sich eine fast wortgleiche Überlegung hierzu bei Immanuel Kant findet. Smith und Kant orientieren sich in dieser Frage – darin liegt ihre vermeintlich zeitlose Modernität – an der äußeren Form der Geldökonomie: Am Vertragsverhältnis, am Rechtsstreit. Smith sagt: „I divide myself“, in
26Smith
(1979b, S. 171); meine Hervorhebung. Der common sense wäre für Smith allgemein akzeptiert, „had not the interested sophistry of merchants and manufacturers confounded the common sense of mankind.“ (Ebenda, S. 494). 27Schon de Pouilly kennt einen „dispassionate spectator“ (de Pouilly 1794, S. 46).
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einen spectator und einen agent (Smith 1979b, S. 113). Auch Kant kennt diese Dualität, die Spaltung der Persönlichkeit in der Moral; die „zwiefache Persönlichkeit“ (Kant 1902, Bd. VI, S. 439. Note.), als moralischer Richter und als Verurteilter: eine Dualität aus Vernunft und dem „mit Vernunft begabte(n) Sinnenmensch“28. Die Quelle der Vernunft verweist dann doch wieder in die theologische Tradition, wobei wir deren „Macht (als Weltherrscher) durch unsere Vernunft nicht weiter verfolgen“ (Kant 1902, Bd. VI, S. 439. Note.) Auch bei Smith bleibt das Universum und die Menschenwelt von einem weisen Urheber regiert, „all the inhabitants of the universe, the meanest as well as the greatest, are under the immediate care and protection of that great, benevolent, and all-wise Being, who directs all the movements of nature and who is determined (…) to maintain in it, at all times, the greatest possible quantity of happiness.“29.
8 Die Gleichheit der Eigentümer und ihre Herrschaft über die Armen Weder Smith noch Kant betrachten aber alle Menschen als Gleiche. Kriterium bleibt die Zugehörigkeit zu einer herrschenden Elite der Eigentümer. Für Smith ist die Gesellschaft „a nation of shopkeepers“ (Smith 1979c, S. 613), die die „Handelsmaschine“30 in Bewegung setzt und deren Eigentum zu schützen die erste Aufgabe jeder Regierung sei. Doch der Überfluss der Reichen zieht die Armut nach sich. „Wherever there is great property, there is great inequality“ (ebenda, S. 710). Die Armen seien deshalb getrieben von Neid und Eifersucht
28Kant
(1902, Bd. VI, S. 439). Note. Dies ist eine völlig andere, aus der sozialen Form entnommene Dualität als jene der platonischen Tradition, die noch Bodin kennt: Ein „Mensch (ist) gleichsam zwifach, sentemal er ein sterblichen Leib, un unsterbliche Seele hat“. (Bodin 1592, S. 6). 29Smith (1979b, S. 235). Hier reproduziert sich im impartial spectators (dem „Gerichtshof im Inneren des Menschen“, Kant 1902, Bd. VI, S. 439) die abstrakte Herrschaft des Geldes, biblisch als Quelle der Vernunft („all-wise Being“) personifiziert, die alles nach Maß, Zahl und Gewicht ordnet (Weish 11.21) – ein Zusammenhang, den ich hier nicht vertiefen kann (vgl. Brodbeck 2012, S. 893–902; Brodbeck 2014, S. 42 ff.). 30Berkeley (1996, S. 58) „Human society (…) appears like a great, an immense machine“. (Smith 1979b, S. 316).
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und jederzeit bereit, die Reichen anzugreifen.31 Recht, Gesetz und die zivile Regierung schützen nur die Reichen vor den Armen. Nicht Karl Marx, sondern Adam Smith sagt: „Laws and government may be considered in this and indeed in every case as a combination of the rich to oppress the poor“32.
Das moralische Individuum erweist sich hier als Besitzbürger, der Staat als bürgerlicher Staat. Auch für Kant wie für Smith hatte die Égalité durchsichtige Grenzen. Nur Eigentümer sind Bürger, nicht Frauen oder Lohnabhängige. „Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: daß er (…) irgend ein Eigenthum habe“ (Kant 1902, Bd. VIII, S. 295).
Das moralische Subjekt also aus einer „zwiefachen Persönlichkeit“ wie Kant und Smith abzuleiten, bezieht moralisches Handeln faktisch nur auf Eigentümer. Smith’s Theorie gehört ganz zu seinem sozialen Umfeld. Was Buckle über Smith’s Freund Hume schrieb, trifft auch auf ihn zu. Seine soziale Stellung hindere ihn, „den Kreis seines Mitgefühls über die intellectuellen Klassen hinaus auszudehnen, d. h. über die Klassen hinaus, deren Gefühle er direct in Erfahrung gebracht.“ (Buckle 1865, S. 447). Dass man unter den shopkeepers die im Geschäftsalltag gewöhnlichen Gepflogenheiten des Taktes und Anstands wahrte, während man gleichzeitig den Egoismus, das Streben nach Reichtum wechselseitig anerkannte, bildet die stillschweigende Hintergrundfolie sowohl von Theory of Moral Sentiments wie von Wealth of Nations.
31„It
is only under the shelter of the civil magistrate that the owner of that valuable property (…) can sleep a single night in security.“ (Smith 1979c, S. 710). 32Smith (1979e, S. 208). „The government and laws hinder the poor from ever acquiring the wealth by violence which they would otherwise exert on the rich“, Ebenda. „Civil government, so far as it is instituted for the security of property, is in reality instituted for the defence of the rich against the poor“, Smith (1979c, S. 715). Reichtum impliziert bei Smith den Horizont der Herrschaft schon im Wertbegriff: A Man is „rich or poor according to the quantity of that labour which he can command“, Smith (1979c, S. 47); meine Hervorhebung. Das heißt, „every man is rich or poor, according as he can command the labour of others.“ (Cazenove 1840, S. 133; meine Hervorhebung.).
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9 Die reine Objektivierung von Wirtschaft und Gesellschaft Die Statistik als Wissenschaft der „Staatsmerkwürdigkeiten“ war, nach dem Wort Buttes, „Selbsterkenntnis des Staates“. Seit dem 16. Jahrhundert sammelten Statistiker für ihre Herrscher, die Fürsten, Berichte aus dem jeweiligen Staatsgebiet, ordneten sie in Tabellen33, verwendeten bereits früh grafische Darstellungen (vgl. z. B. Playfair 1798) und wollten vor allem die Bevölkerung ihrer jeweiligen Staatsgebiete als wichtigste Ressource erfassen. Die Untertanen sind darin bloßes Mittel zum Zweck, die bei Wilhelm von Schröder ungeschminkt in Analogie zum Vieh gesetzt wurden. „Das vieh muß er mästen, will er es schlachten, und die kühe muß er wohl füttern, wann er will, daß sie sollen viel milch geben. Also muß ein Fürst seinen unterthanen erst zu einer guten nahrung helffen, wann er von ihnen etwas nehmen will.“34
Die Geldform als Vergesellschaftung der Märkte wandelte die Staatsziele in monetäre, die Kammer in eine Schatzkammer.35 Man könnte dialektisch formulieren: Indem die Fürsten über Steuern und Großprojekte ihre Staatsziele dem Geld subsumierten, halfen sie der Durchsetzung der Märkte und produzierten so die Negation der eigenen Herrschaft. Die ganze Gesellschaft wurde nicht mehr nur qualitativ statistisch erfasst, sie wurde berechnet. Petty, später Süßmilch und andere trieben die Statistik als „Zahlenstatistik“ (Roscher 1874, S. 1044) voran, und Quesnay entwarf ein Bild der Ökonomie als Kreislauf von Geldströmen (sein berühmtes Tableau économique von 1758). Eine besondere Rolle kommt in diesem Transformationsprozess der Wahrnehmung der Lehre von der Bevölkerung zu. Und mehr und mehr galt die
33Süßmilch
(1761, S. 291); John (1884, S. 84). Vgl. auch die Tabellen über die Staatswirthschaft von Friedrich Anton von Heynitz, Leipzig, 1786, passim. 34Schröder (1744), Vorrede (unpaginiert). Die in der Statistik vollzogene wachsende Quantifizierung verbirgt derartige Fragen „wertneutral“ in der „nach dem (ökonomischen oder staatswirthschaftlichen) Werthe des Menschen“ (Engel 1883, S. 1). 35Die traditionelle Statistik verfiel der Kritik: „Aber der Statistik Glorie erbleichte nach sehr kurzer Dauer. Es kamen Tage für die Statistik, wie einst sie die Astrologie und später die Physiognomik kurz vor ihrem gänzlichen Verschwinden erfuhren.“ (Lueder 1817, S. 4 f.).
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menschliche Arbeit auch in der Ökonomik als wichtigste Reichtumsquelle.36 Was von Fürsten ursprünglich als in Stände gegliederte Masse von Untertanen erkannt und erfasst wurde, erscheint später im Horizont der Geldrechnung als bloße Menge geleisteter Arbeit. Die in der Philosophie vorbereitete, in der Französischen Revolution explodierende Geltendmachung der Freiheit der Bürger blieb gleichwohl ein Zentralproblem der Theorie der Gesellschaft. Der entscheidende Wandel zur völligen Objektivierung menschlichen Handelns vollzog sich in der Bevölkerungsstatistik. (vgl. Knapp 1874.) Petty und Graunt hatten bereits wichtige Elemente vorbereitet; ein zentraler Impuls kam aber durch die Schriften Süßmilchs. Einerseits noch ganz im theologischen Geist befangen, fasste er die Frage so: Wie gelingt es Gott, durch den freien Willen der Einzelnen hindurch die Gesellschaft zu ordnen? Der Titel seines 1741 erschienenen Hauptwerkes „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts“ verrät die Zielrichtung der Fragestellung. David Hume entwickelte einen Gedanken, der die menschliche Freiheit dem Zufall gleichsetzte, was für große Massen dennoch Kausalität ermöglicht: „What depends upon a few persons is, in a great measure, to be ascribed to chance, or secret and unknown causes: What arises from a great number may often be accounted for by determinate and known causes.“37
Dies liefert die Denkform, die nachgerade aus der Statistik gewonnen wurde, um ökonomische Gesetze, das maschinenhafte Wirken der Wirtschaft bei gleichzeitig freien Wahlentscheidungen „erklären“ zu können. Süßmilch entdeckt dies zuerst bei der Entwicklung der Bevölkerung – wobei er „Gesetz“ und „göttliche Ordnung“ identisch setzte. Er formuliert die Frage so: Man kann „bey der Ordnung in der Bewegung der Himmelskörper“ noch Gesetze vermuten – bei der Bevölkerung ist „nicht ein Schatten einer Nothwendigkeit“. „Alles ist hier veränderlich“ (Süßmilch 1761, S. 58 f.). Doch die Statistik entschlüsselt dennoch hier für die große Masse und den Zeitablauf eine Regelmäßigkeit, die zeigt, dass durch die vermeintliche Freiheit der privaten Entscheidungen sich doch auf „wundersame Weise“ eine hohe Regelmäßigkeit und Ordnung zeigt. Die
36Die
ökonomische Klassik wurde immer so gedeutet: „human labour as the main source of wealth“. (Malthus 1827, S. 13). 37Hume (1875, S. 175) Vgl. „Das räthselhafte Ende unseres Daseins erfolgt danach, trotz seiner scheinbaren Willkührlichkeit und Zufälligkeit im Einzelnen, im Grossen nach festen Gesetzen.“ (Wagner 1864, S. 11; meine Hervorhebung.).
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atensammlung in Listen aus den Fürstenkammern durch die frühe Statistik D bildete das Rohmaterial, um diese Ordnung zu entdecken. Die spezifische „Modernität“ von Süßmilch, gerade in seinen theologischen Atavismen, liegt darin, dass er die Mehrung der Bevölkerung zwar als Gottes Gebot betrachtet – das biblische „Seid fruchtbar und mehret euch!“ (ebenda, S. IXf.), dies aber zugleich „rational“ als Mittel zur Reichtumsschaffung deutete. Die Maximierung der Schatzkammer als Oberziel benützt die Bevölkerungspolitik („Peuplierung“) als Mittel: „So wie es überhaupt wahr ist, daß durch jeden neuen Unterthan eines Landes dessen Reichthum und Ueberfluß vergrössert wird; so ist es auch insbesondere klar, daß die besondern Einkünfte eines Fürsten und die Zuflüsse zur allgemeinen Schatzkammer müssen vergrößert werden. Ohne Abgaben an den Staat kann kein Reich bestehen.“ (ebenda, S. 408 f.)
Die Bevölkerungspolitik wurde so auch zum bereits erwähnten Mittel, durch die Geldform der Abgaben, wie immer „unfreiwillig“ oder „unbewusst“, die Geldökonomie durchzusetzen. Hinter dem „göttlichen Gesetz“, das Süßmilch bemühte, offenbart sich die wachsende Herrschaft des Geldes als oberstes Imperativ. Was bei Süßmilch mit Blick auf die Bevölkerung erscheint, ist eine Denkfigur, die sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in vielen Gestalten zeigt. Faktisch wurde dabei – unter tätiger Geburtshilfe der Fürsten – die wachsende Unabhängigkeit der Geldökonomie immer deutlicher erkennbar. Die ursprüngliche Gleichsetzung von Staat und Wirtschaft, wie sie in der frühen Statistik und Nationalökonomie wie selbstverständlich vollzogen wurde, begann sich aufzulösen. Say hat dies wohl erstmals klar ausgesprochen: „Lange hat man die eigentlich sogenannte Politik – die Wissenschaft von der Staatenverfassung – mit der Nationalökonomie vermengt, welche lehrt, wie die Reichthümer, wodurch der mannigfaltige Bedarf der Staatsgesellschaften befriedigt wird, erzeugt, vertheilt und consumirt werden. Gleichwohl stehen die Reichthümer in wesentlicher Unabhängigkeit von der Staatsorganisation.“(Say 1830aI, S. 1)
Die Wirtschaft erscheint nun als autonomes System, das von eigenen Gesetzen gelenkt wird. Der Gedanke einer Teleologie, wie er in der frühen Statistik noch selbstverständlich schien, wird durch die Schriften von Malthus, Ricardo, Say und Mill ausgelöscht. Damit hört auch die bei Smith noch deutlich erkennbare implizite Gleichsetzung von ökonomischem und moralischem System auf. Was sich erstmals in der Bevölkerungsstatistik zu zeigen schien – eine Gesetzmäßigkeit für die Masse an Menschen ungeachtet individueller
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Freiheit38 –, das wird nun in „makroökonomischer“ Perspektive für die gesamte Gesellschaft und deren Institutionen generalisiert, so z. B. im Begriff der „Nationalwohlfahrt“ (Schlieben 1834, S. III). Nicht mehr werden prinzipiell frei unterstellte Individuen durch ein moralisches Selbst „in Ordnung“ und damit für die Wirtschaft tauglich erhalten. Wie immer sie individuell entscheiden mögen – in der großen Masse ergeben sich für Aggregate „Gesetze der Ordnung“ (Süssmilch 1765, S. 487). War es zunächst bei Graunt, Petty, Ring, Wargentin oder Süßmilch die Bevölkerung, so tritt mit der klassischen Ökonomik die Logik der Märkte in den Mittelpunkt. Malthus stellt hierbei den eigentlichen Übergang dar. Seine Bevölkerungslehre relativiert die These der Peuplierung, also politisch das Bevölkerungswachstum zu begünstigen – ein Echo auf den 30jährigen Krieg und das damit verbundene Massensterben. Er erblickt nun naturalisiert ein „law of population“ (Malthus 1820, S. 208), das ohne Eingriffe als Notwendigkeit die menschlichen Geschicke regiere: Die Bevölkerung wird durch rasches Wachstum an die Grenze der Nahrungsmittel getrieben; daraus folgen Armut und Hunger, bis schließlich – hier spricht noch der Pastor Malthus – „lockere Sitten“ erneut zur Vermehrung und einem neuen Zyklus des Bevölkerungswachstums führen.39 Malthus universalisiert den Gesetzesbegriff auch für andere Phänomene. Er spricht vom „law of exchange“, „law of demand and supply“ (Malthus 1827, S. 26 und S. 62). Malthus kennt noch mehr Gesetze der Wirtschaft – und David Ricardo folgt hier seinen Spuren –, wie „the general law of competition“ (Ricardo 1951b, WW Bd. VI, S. 25), allerdings auch „the great fundamental law of property, on which all progress in civilization, improvement, and wealth, must ever depend“ (Malthus 1836, S. 426.). Um die Wirtschaft – wie Say sagt – tatsächlich als eine vom Staat, damit auch von menschlichen Willensakten unabhängige Entität betrachten zu können, wird ihr ein quasi-natürlicher Status zugeschrieben, der durch „Naturgesetze“ bestimmt wird. Was in der früheren Moralwissenschaft über die Wirtschaft ausgesagt wurde, ist für Say ohne Interesse. Erstens, so Say in einer heute gebräuchlichen Dualität, ist strikt zwischen Fakten und Normen zu unterscheiden; Ökonomik ist nicht die „Erforschung
38Vgl.
die Titel: „Die moralische Statistik und die Willensfreiheit“, Drobisch (1867) und „Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkührlichen menschlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik“, Wagner (1864). 39„The great law of necessity, which prevents population from increasing in any country beyond the food which it can either produce or acquire“; (Malthus 1826, Vol. I, S. 529); „an inevitable law of nature“ (Malthus 1826, Vol. II, S. 255).
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Dessen, was da seyn sollte, sondern Dessen, was da ist“ (Say 1830b, S. 111, Note.). Zweitens ist Ökonomik keine Statistik, die nur stets unsichere und unvollständige Tatsachen sammelt, die zudem rasch veralten (Say 1830a, S. 10). Drittens ist die Ökonomik keine historische Wissenschaft. Vergangenes umfasst stets vergangene Irrtümer. Und es wird „uns ziemlich wenig interessiren, was unsere Vorfahren darüber geträumt haben, und wir hätten keinen Grund, jene Reihe von Fehltritten zu zeichnen, wodurch der Mensch von der Wahrheit abgeführt worden ist.“40 Viertens ist die Staatsform, damit auch Recht und Moral für die Ökonomik nicht bestimmend: „Unter jeder Verfassungsform kann die bürgerliche Gesellschaft gedeihen, wenn nur die Verwaltung gut ist.“ (Say 1830a, S. 1). Fünftens schließlich handelt die Ökonomik – getrennt von Statistik (Staatskunde) und Moral – abstrakt „blos von den gesellschaftlichen Reichthümern, welche auf den Tausch und das Eigenthumsrecht gegründet sind“ (ebenda, S. 2, Note). Was bei Say noch undeutlich ausgesagt ist, wird zum bestimmenden Prinzip in der neu entstehenden mathematischen Statistik, die aus der Bevölkerungslehre hervorgeht. Als Bild ist die Maschine bereits seit dem 17. Jahrhundert zunehmend das Denkmodell für Wirtschaft und Gesellschaft. Sogar Napoleon wurde als Staatsmechaniker gedeutet41 – ein Modell der Gesellschaft, das für die schottischen Moralwissenschaftler Pate stand und auch Smith in seiner Theory lenkte: Wirtschaft und Gesellschaft sind bestimmt vom „harmonious movement of the system, the machine or oeconomy“ (Smith 1979b, S. 183). Damit wird die Ökonomik, aus zwei Tendenzen herkommend, in ihrer logischen Form zu einer reinen „Naturwissenschaft“.42 Einmal durch den aus der Bevölkerungslehre stammenden Gedanken, dass für ökonomische Gesetze die Massen bestimmend wirken, in denen sich die individuellen Freiheiten wechselseitig aufheben – was bei Smith in der Kategorie der invisible hand noch seinen Begriff sucht. Zum anderen, eng damit verknüpft, durch die Vorstellung, dass die Ökonomik sich auf Aggregate, große Einheiten bezieht. Das Bild des Menschen wandelt sich hier in die Masse zufällig verteilter Handlungen
40Say
(1830b, S. 466). Die „Wahrheit“ ist selbstredend die eigene Theorie von Say. ist der Heros der mechanischen Politik: ihm ist der Staat eine Maschine“, Buß (1839, S. 611). Vgl. den „mechanism of government“ bei Steuart (1770, S. 69). 42Quételet betitelt ein Buch „Zur Naturgeschichte der Gesellschaft“ 1856 und schrieb ex pressis verbis eine „Soziale Physik“, Quételet 1921 (Originaltitel: „Physique sociale ou essai sur le développement des facultés de l'homme“, Brüssel 1869) und plädierte für eine Maßtheorie des Menschen: „Anthropométrie ou mesure des différentes facultés de l'homme“, Quételet (1870). 41„Bonaparte
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oder Durchschnitte. Adolphe Quételet hat diesen Gedanken zuerst systematisch entwickelt in seiner Idee vom durchschnittlichen Menschen. Dieser Mensch ist ein idealisiertes Subjekt, das eine Masse repräsentiert und individuelle Differenzen nivelliert. Dieser „mittlere Mensch“, nicht mehr das Individuum, wird zum einseitigen Träger sozialer Beziehungen – in allen Sphären der Gesellschaft: Ökonomie, Bevölkerung, Bildung, Gesundheit usw. Quételet verwendet zugleich einen Begriff, der später – vor allem im Ordoliberalismus – zu einem bestimmenden Bild geworden ist: Der Typus. „Der mittlere Mensch ist in den Augen des Naturforschers nichts anderes als der Typus eines Volkes“43.
Die Selbstwahrnehmung wandelt sich hier zur Wahrnehmung des statistischen Durchschnitts, der als „typisch“ für die Gesellschaft oder die Wirtschaft gilt.44 „Man erreicht dadurch eine quantitative und zugleich typische Versinnlichung“ ökonomischer Sachverhalte (Knapp 1874, S. 103). Auffallend ist bei Quételet, dass dies der Blick „des Naturforschers“ auf die Gesellschaft ist – ein Blick, der bei ihm explizit den Namen „Soziale Physik“ erhält (Quételet 1921). Dieser Blick, der Naturdinge und Menschen im selben logischen Horizont betrachtet, ist das Maß, das die Geldrechnung und die in ihr Herrschenden an alles anlegen und zu abstrakten Entitäten verdinglichen.45 Es wurde immer wieder auf den Spuren von Quételet versucht, mit Hilfe von Durchschnitten, für die man glaubte, Gesetzmäßigkeiten nach Analogie der Natur zu entdecken, die menschliche Freiheit mit gesellschaftlicher Ordnung
43Quételet
(1838, S. 566). Dies habe „uns erst die Statistik gelehrt (…), daß ein gleichsam mathematischer Rhythmus dieses bunte Lebensgewirre beherrscht“. Weil „erst in einer größern Zahl alle diese kleinen Modifikationen des allgemein menschlichen Typus (…) sich in gleichmäßiger Zahl wiederholen.“ (Schmoller 1871, S. 5 und 28). Auch kennt diese Statistik einen „Ertragswerth verschiedener, gleichsam als Typen anzusehender Menschen“. (Engel 1883, S. 35). 44Auch Marx ist ein Schüler von Quételet: „Man wird hier dieselbe Herrschaft der regulierenden Durchschnitte finden, wie Quételet sie bei den sozialen Phänomenen nachgewiesen hat.“ (Marx und Engels 1956, Bd. 25, S. 868; meine Hervorhebung. Vgl. auch Marx und Engels (1956, Bd. 23, S. 342; Marx und Engels 1956, Bd. 32, S. 596). 45Es entwickelte sich neben Typen, Mittelwerten und Durchschnitten auch eine neue Lehre vom „Kollektivmass“. (Vgl. die Abhandlungen von Fechner 1897; Bruns 1906; Czuber 1908).
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zu versöhnen.46 Dies trat als Bild neben den Smith’schen Gedanken, dass die moralische Ordnung bei freien, individuellen Entscheidungen durch den äußeren Zwang der Konkurrenz den Menschen dennoch aufgenötigt wird. Wirklich wissenschaftlich erfolgreich erwies sich die immer stärker mathematisierte Statistik der Durchschnittswerte und Verteilungen jedoch nur in ihrer Übertragung auf die Naturwissenschaften (Thermodynamik, Genetik usw.). Es bleibt aber eine unaufhebbare Differenz zwischen einer Stochastik der Elementarteilchen und einer Durchschnittsbildung in der Gesellschaft. Während Teilchen in der Natur durch ihre Verteilungsfunktionen determiniert sind, folgen freie Entscheidungen keiner inneren Notwendigkeit.47 Zwar durchziehen – das wurde sowohl von Hume wie von Smith betont – die freien Entscheidungen der Individuen auch sich wiederholende Bewegungen. Dies sind die Gewohnheiten. Aber Gewohnheiten bleiben „bewusstseinsfähig“, also aufhebbar und kreativ wandelbar.48 Die Objektivierung menschlicher Handlungen scheitert an menschlicher Kreativität – eine Tatsache, die alle Durchschnitte, Trendprognosen und „Gesetze“ rein wissenschaftlich ad absurdum führt. Menschliches Leben ist keine statistische Masse. Eine theoretische Form, die sich auf abstrakte Massen und Typen bezieht, ist die Denkform der Herrschaft einer Elite über die Vielen. „Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt.“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 24)
10 Schlussbemerkung Das Programm einer Verwandlung der Ökonomik von einer Staatslehre („Statistik“) und Ethik in eine verdinglichende Wissenschaft, wobei das Denkmodell der Maschine, die Statistik von Massen und die Zwangsgesetze der Konkurrenz als Begründung herhalten mussten, konnte nicht liefern, was es versprach. Die Modelle der modernen Ökonomik, obgleich in ihrer äußeren Form
46Auch in der „subjektiven Schule“ der Ökonomik, beginnend bei Gossen, der z. B. ein „durchschnittliche(s) Quantum des Lebensgenusses, welches jedem Menschen zufällt“, kennt. (Gossen 1854, S. 163). 47Vgl. zur Willensfreiheit Bardili (1796); Wagner (1864); Drobisch (1867). 48Ich habe das systematisch entwickelt in Brodbeck (1996, 2006). Bei Lueder klingt dies in seiner Kritik der Statistik bereits an. (Vgl. Lueder 1812, S. V ff.).
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unverkennbar physikalistisch oder naturalistisch, konnten ihrem eigenen Anspruch nicht genügen. Aus der richtigen Erkenntnis, dass es keine „theoriefreien“ Fakten gibt, und der Betonung, dass Theorien notwendig von „der Realität“ abstrahieren, zog Milton Friedman den Fehlschluss, dass „a hypothesis must be descriptively false in its assumptions“.49 Wahrheitskriterium sollten zutreffende Prognosen sein – auch aus deskriptiv falschen Voraussetzungen gefolgert. Dieses Programm zeitgenössischer Ökonomik ist grandios gescheitert (vgl. Brodbeck 2002, 2013). Die objektivierende Form, all die Maschinen- und Massenbilder, der Durchschnitt als Leitstern oder der „Typus“50 als Erkenntnismittel – all dies hat die Ökonomik als Ethik nur scheinbar entmachtet. Eine offenbar vielfach prognostisch versagende „Wissenschaft“, die dennoch beharrlich propagiert wird in je wandelnden Modeerscheinungen (als Institutionenökonomik, Spieltheorie, Neuroökonomik usw.) und in Wirtschafts- und Politikberatung sich als herrschende Denkform reproduziert – trotz aller Crashs und Krisen –, solch eine Wissenschaft ist weder logisch noch empirisch wahr. Sie entpuppt sich als eine implizite Ethik (vgl. Brodbeck 2004, S. 211 ff.). Schon Ricardo entschlüpft in einer privaten Äußerung diese Erkenntnis. Am 9. September 1821 schreibt er an Francis Place: „(By) ‚law of nature‘ Mr. Malthus clearly means, ‚moral right‘“51. Hier wird eingestanden, was die Naturalisierung menschlichen Handelns in der Wirtschaft durch „Gesetze“, die Bildung von Typen und Durchschnitten hinter all den Gleichungen und Wortmasken geblieben ist: Eine versteckte Moral der Eliten – zum Nachteil der Armen.
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49Friedman
(1953, S. 14). Annahmen oder Definitionen sind immer abstrakt. Im Satz: „Der Mensch ist ein Lebewesen“ ist „Lebewesen“ aber keine Falschaussage über und keine Negation von „Mensch“. 50Vgl. Haller (1950); Seiffert (1953). 51Ricardo (1951c, S. 52). Diese Moral hatte bei Smith den Namen: „the interested sophistry of merchants and manufacturers“ (Smith 1979b, S. 494).
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„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“ Der motivationale Frame der Ökonomik Silja Graupe Zusammenfassung
Der Beitrag rekonstruiert die verborgenen Selbstbilder, die in Hauptwerken und Lehrbüchern der Ökonomik seit den 1870er-Jahren enthalten sind. Die Autorin analysiert die sprachlichen Selbstbeschreibungen ökonomischer Ansätze: welche Ziele setzen sie sich, für welche Personen wird die Theorie formuliert und nach welchen Kriterien wird dabei vorgegangen? Die Analyse verdeutlicht, wie weit sie sich die Lehrbuchökonomie heute von dem ursprünglichen Anspruch der Politischen Ökonomie als einer praktischen und moralischen Wissenschaft entfernt hat. Schlüsselwörter
Politische Ökonomie · Framing · Sprachanalyse · Neoklassik · Lehrbücher
1 Die Ökonomik und ihre verborgenen Selbstbilder „Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken“, soll bereits Heraklit gesagt haben. Trifft eine solche Fähigkeit zur (Selbst-) Imagination auch auf heutige Ökonominnen und Ökonomen zu? Können sie verständig darüber denken, durch welche Haltungen und Handlungen ihre Profession und damit sie selbst als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt
S. Graupe (*) Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Bernkastel-Kues, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_5
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sind? Und können sie diese aktiv ändern? Konfuzius soll einmal gesagt haben: „Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut, das ist Wissen.“ Meine These ist, dass die Ökonomik, die spätestens seit der Finanzkrise 2008 in vielfacher Hinsicht in Kritik geraten ist, nicht in ausreichendem Maße explizit jene Bildlichkeit, die sich in ihren Selbstbildern manifestiert, reflektiert. Sie leitet – ganz im Gegensatz zu Konfuzius Leitspruch – nicht dazu an, zu wissen was man als Ökonom oder Ökonomin tut, eben weil sie nicht offenlegt, wie sie Wissensbestände und die epistemischen Tugenden, die sie bedingen, formt. Dies betrifft auch und gerade den Bereich der ökonomischen Bildung. Hier drohen nicht nur ein bestimmtes Wissen, sondern auch bestimmte Haltungen wie selbstverständlich von einer Generation zur nächsten stillschweigend weitergegeben zu werden, ohne dass hierüber ein expliziter Diskurs stattfinden würde (vgl. Graupe 2016). Um das zu ändern, kann gefragt werden, was wir tatsächlich darüber wissen können, was Ökonomen tun, wie sie es tun und warum sie es tun. Wovon sind ihre wissenschaftlichen Aktivitäten geprägt? Welche Wissensformen und Praktiken dürfen sie als legitim erachten und welchen haben sie im Gegenzug zu entsagen? Und welche Haltungen und Einstellungen entstehen daraus? Und was hat dies für eine Welt, die zunehmend durch Ökonomen beraten wird, sowie für Studierenden der Ökonomik und damit der neuen Generation von Ökonomen und Ökonominnen (und durch sie geprägten Praktiken) zu bedeuten? Nach Michael Polanyi (z. B. 1958) können wir zwischen explizitem und implizitem Wissen unterscheiden: Explizit ist Wissen dann, wenn wir etwas exakt benennen und begrifflich von anderen Dingen unterscheiden können. Implizit ist unser Wissen hingegen, wenn wir zwar wissen, wie etwas geht, es aber lediglich tun, ohne es mit Worten beschreiben und somit klar artikulieren zu können. Als klassisches Beispiel für implizites Wissen wird oft das Fahrradfahren bemüht: Die meisten von uns können es, ohne umzufallen, aber weit weniger werden über die Fähigkeit sagen zu können, warum wir die Balance zu halten vermögen. Das fragliche Wissen steckt im praktischen Können – und kaum irgendwo sonst. Meine These ist, dass Ökonomen und Ökonominnen bezüglich ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeiten ebenfalls weitgehend nur über ein solches, implizites Wissen verfügen. Als Argument, wenn auch keinesfalls als Beleg oder Beweis hierfür lässt sich zunächst auf allgemeine wissenschaftstheoretische Erkenntnisse verweisen. Laut Thomas Kuhn (1976, S. 37 ff.) zeichnet sich eine „Normalwissenschaft“ dadurch aus, dass ihre Wissensbestände so selbstverständlich geworden sind, dass sie von einer Generation zur nächsten allein über standardisierte Lehrbücher weitervermittelt werden.1 Ihre Vertreter und Vertreterinnen halten sich zwar allesamt an strikte 1Kuhn
(1976) spricht deswegen auch von einer „Lehrbuchwissenschaft“.
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erhaltensvorgaben – sie betreiben also alle auf ähnliche Weise Wissenschaft –, V sind aber in der Regel nicht in der Lage, explizieren zu können, wie genau und warum sie es auf diese Weise tun. In einer Normalwissenschaft lernt jede Generation neuer Wissenschaftler die Regeln, wie Wissenschaft adäquat betrieben wird, durch die Orientierung an Vorbildern (den etablierten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen) sowie durch das wiederholte Lösen immer gleicher oder ähnlicher Aufgaben. Aber sie lernt es nicht, indem man sie explizit über diese Regeln aufklärte, sodass sie sich bewusst für oder gegen sie entscheiden könnte (vgl. ebd., S. 59 f.). Die Forderung nach expliziter Ausdrucksfähigkeit des eigenen Tuns stellt auch und gerade die Ökonomik vor große Schwierigkeiten. Wozu und zu welchem Zwecke soll man Volkswirtschaftslehre studieren und Ökonom oder Ökonomin werden? Über diese Frage herrscht, soweit ich es sehen kann, vor allem innerhalb dieser Wissenschaft bislang kaum eine Form konstruktiver Klarheit. Die Standardökonomik ist schlicht nicht bereit, über sich selbst, über ihr eigenes know-how aufzuklären. Weitgehend herrscht zwar Übereinstimmung darüber, dass das Studium der Ökonomik faktisch in einem gerade für viele Studierende überraschendem Ausmaß ein mathematisches Denken und eine Beschäftigung mit äußerst abstrakten Modellen erfordert (vgl. zu einem empirischen Befund etwa Bäuerle et al. 2020). Warum dies aber so sein soll – darüber finden sich lediglich in den einführenden Kapiteln der ökonomischen Standardlehrbücher ein paar verstreute Hinweise, wohl aber kaum eine explizite Diskussion.2 2Ein erster Überblick ergibt: N. Gregroy Mankiw und Marc P. Taylor z. B. heben in ihren Principles of Economics den Anspruch an wissenschaftliche Objektivität hervor, der für Ökonomen ebenso gelte wie für das naturwissenschaftliche Studium der Erdgravitation oder der Entstehung der Arten (Mankiw und Taylor 2014, S. 17). Zugleich behaupten sie aber auch, die Volkswirtschaftslehre bereite für die Rolle als Politikberater vor (ebd., S. 23). Moralische Fragen hingegen verbannen sie in den Bereich der bloßen Meinungen und damit in die Privatsphäre, dies allerdings ohne es zu begründen (vgl. etwa ebd., S. 70) – ähnlich auch bei Pindyck und Rubinfeld (vgl. etwa 2009, S. 31). Nach den Economics von Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus soll das Studium der Ökonomik zu nicht weniger als der Wahrheit führen. „There are few basic concepts that underpin all of economics. [..] We have therefore chosen to focus on the central core of economics – on those enduring truths that will be just as important in the twenty-first century as they were in the twentieth“. (2005, S. xvii). Zugleich soll sich dadurch auch dem Eigennutz besser frönen lassen, weil sich durch ein solches Studium Geld verdienen lasse (ebd., S. 3). Und überhaupt rüste es einen für den brutalen Kampf ums Überleben: „All your life – from cradle to grave and beyond – you will run up against the brutal truths of economics. […] Of course, studying economics cannot make you a genius. But without economics the dice of life are loaded against you“ (ebd.). Und als wäre dies nicht bereits genug der Fülle an Argumenten, soll die Tatsache, Ökonom zu sein oder zu werden, auch noch dazu dienen können, den Kampf von Freiheit und Demokratie zu gewinnen. „Students like you are marching, and even going to jail, to win the right to study radical ideals and learn from Western textbooks like this one in the hope that they may enjoy the freedom and economic prosperity of democratic market economies“ (ebd., S. xxi).
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2 Frame-Semantik ökonomischer Texte Wie aber eine Wissenschaft zum Reden über ihre Selbstbilder zu bringen, wenn sie selbst überwiegend darüber schweigt bzw. sie im Rahmen ihrer Bildung stillschweigend antrainiert? Wie über ihr verborgenes Selbstverständnis aufklären, ohne externe Maßstäbe an sie heranzutragen?3 Als eine mögliche Antwort auf diese Fragen wähle ich in diesem Beitrag den Weg, Schlüsseltexte der Ökonomik einer frame-semantischen Analyse zu unterziehen. Die Frame-Semantik ist eine semantische Theorie, die die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken in Bezug zu einem umfassenden Wissen setzt, das tief in das erfahrungsbasierte und damit meist nur implizit vorhandene Wissen und dessen Genese reicht. Sie fragt danach, welche Bedingungen der Möglichkeit der Produktion, des Erscheinens, der Formation, der Wirkungskraft und der Reproduktion bestimmte Äußerungen steuern und expliziert diese (vgl. Busse 2000, S. 41): „Ich spreche in diesem Zusammenhang auch von dem Bereich bedeutungsrelevanten bzw. verstehensrelevanten Wissens, das in einer vollständigen semantischen Analyse expliziert werden muss. Eine ‚reiche‘ Semantik oder ‚Tiefensemantik‘ in diesem Sinne kann sich nicht auf die Explizierung der sozusagen ‚offen zu Tage liegenden‘ epistemischen Elemente von Wort- und Textbedeutungen beschränken, sondern muss gerade auch das zugrundeliegende, versteckte, normalerweise übersehene, weil als selbstverständlich unterstellte Wissen explizieren. Zu dieser Analyse gehört auch die Explizierung in sprachlichen Äußerungen transportierten oder insinuierten epistemischen Elementen, von deren Vorhandensein die Sprecher und Rezipienten möglicherweise gar kein reflektiertes Bewusstsein haben. Jede Tiefensemantik, ob als Wortsemantik, Begriffsgeschichte, Satzsemantik oder Diskursanalyse angelegt, erfordert die Explizitmachung solchen bedeutungskonstitutiven Wissens“ (ebd., S. 42).
Die Frame-Semantik drängt dabei nicht nur auf die bloße Feststellung der Existenz stillschweigenden Wissens, sondern setzt sich zum Ziel, dieses Wissen tatsächlich sprachfähig zu machen und ins reflektierte Bewusstsein zu heben. Ihr wesentlicher Zugang liegt dabei in einem umfassenden und tieferen Verständnis von Sprache und ihrer Wirkung auf die Erkenntnisfähigkeiten und -möglichkeiten des Menschen.
3Zwei Ansätze, die die Ökonomie einerseits selbst zum Sprechen zu bringen und andererseits von verschiedenen ihr äußeren Perspektiven zu kritisieren, sind Brodbeck (2013) und Mirowski (1989).
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Ein erstes einfaches Beispiel soll die Vorgehensweise der Frame-Semantik illustrieren. Viele ökonomische Standardlehrbücher beginnen unvermittelt mit dem Konzept von Kurven – meist der Angebots- und Nachfragekurve, z. B.: „Das Modell von Angebot und Nachfrage verbindet zwei wichtige Konzepte: die Angebotskurve und die Nachfragekurve. Ein genaues Verständnis, was diese Kurven darstellen, ist wichtig“ (Pindyck und Rubinfeld 2009, S. 51, Hervorhebung im Original).
Sogleich werden diese Kurven in einem Diagramm visualisiert und erläutert, was sie darstellen.4 Auf diese Weise werden Studierende der Ökonomik zu Beginn ihres Studiums lediglich angeleitet, in und mit dem Konzept von „Kurven“ oder „Marktdiagrammen“ über wirtschaftliche Phänomene nachzudenken, nicht aber diese Konzepte selbst zu verstehen.5 Die Frame-Semantik spricht bezüglich eines solchen Umgangs mit Wörtern anschaulich von einer „Eisbergspitzen-Semantik“, „weil sie achtzig bis neunzig Prozent dessen, was als Wissen notwendig ist, um die Bedeutung eines Wortes im Kontext vollständig zu aktualisieren, unexpliziert lässt, ignoriert oder bestenfalls als selbstverständlich gegebenes Alltagswissen voraussetzt und damit als uninteressant (für weitere wissenschaftliche Betrachtung bzw. semantische Explikation) abtut“ (Busse 2003, S. 21).
Sinn und Zweck frame-semantischer Analysen ist es, die gewöhnliche Untersuchungsrichtung nun gleichsam um hundertachtzig Grad zu wenden. In unserem Beispiel bedeutet dies, die grundlegende Bedeutung von Konzepten wie „Kurven“ und „Diagrammen“, die von Ökonomen als selbstverständlich vorausgesetzt werden, möglichst vollständig aufzuklären. Es gilt gleichsam, nicht
4„Die
Angebotskurve stellt die Menge eines Gutes, die Produzenten zu einem bestimmten Preis verkaufen wollen, dar, wobei alle anderen Faktoren, die die angebotene Menge beeinflussen könnten, konstant gehalten werden“ (Pindyck und Rubinfeld 2009, S. 51). 5In anderen Lehrbüchern sieht dies nicht anders aus. So beginnt auch Varian sein Lehrbuch mit der Vorstellung des Marktmodells, das sich wie selbstverständlich Graphen zur Visualisierung mathematischer Funktionen bedient, die erneut als Angebots- und Nachfragekurve bezeichnet werden. Zu einer Diskussion über die Gründe der Verwendung dieser Vorstellungen kommt es dabei nicht. Das Lehrbuch von Samuelson und Nordhaus verfügt zwar extra über einen Anhang an sein erstes Kapitel, in dem das know-how über das Lesen von Graphen vermittelt wird, weil diese für Ökonomen so „unverzichtbar sind wie ein Hammer für den Zimmermann“ (2005, S. 19). Warum diese Unverzichtbarkeit aber herrschen soll, wird auch hier nicht gesagt.
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länger auf der schmalen und rutschigen Spitze jenes semantischen Eisberges zu verweilen, der gerade noch das Licht ökonomischer Reflexion in den Standardlehrbüchern erreicht (um sodann eine ganze Wissenschaft auf ihr zu errichten), sondern in die Tiefe dieses Eisbergs vorzudringen, d. h. in die Schichten unterhalb des normalerweise Sichtbaren, d. h. in die im Unbewussten verborgen liegenden Bedeutungsschichten. Es ist das diskursive Feld offenzulegen, in dem in der Ökonomik eine mathematische oder doch zumindest mathematische inspirierte Sprache wie selbstverständlich (und in jedem Falle als nicht erklärungsbedürftig) verwendet wird. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, sind die Strukturen, Ebenen und Elemente des bedeutungskonstitutiven (oder auch verstehensrelevanten) Wissens herauszuarbeiten. Dafür kann die Frame-Semantik auf bereits existierende Frame-Modelle (vgl. etwa Busse 2012, S. 535) zurückgreifen, deren wesentliche Bausteine ich im Folgenden kurz erläutern möchte. Zunächst ist zu klären, was ein „Frame“ überhaupt sein soll. Die Frame-Semantik geht davon aus, dass Menschen Wörter nicht einfach durch ihre (explizite) Definition verstehen, sondern dadurch, dass sie sie in ein ganzes Deutungsgefüge einlassen, das beim Hören oder Sprechen nahezu automatisch aktiviert wird. Dieses Deutungsgefüge lässt sich mit Walter Lippmann als „Stereotype“ (2018), mit Frederic Charles Bartlett als „Schema“ (1967) oder mit Marvin Minsky als „Wissensrahmen“ bzw. „kognitiver Rahmen“ bezeichnen – im Englischen Frame genannt: „When one encounters a new situation […] one selects from memory a structure called a Frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary. A frame is a data-structure for representing a stereotyped situation“ (Minsky 1974, S. 1).
Minsky schlägt vor, sich Frames wie Netzwerke vorzustellen, die ihrerseits aus Knoten und Relationen bestehen: „We can think of a frame as a network of nodes and relations. The ‘top levels’ of a frame are fixed, and represent things that are always true about the supposed situation. The lower levels have many terminals – ‘slots’ that must be filled by specific instances or data. Each terminal can specify conditions its assignments must meet. […] Simple conditions are specified by markers that might require a terminal assignment to be a person, an object of sufficient value, or a pointer to a sub-frame of a certain-type“ (ebd.).
Die innere Struktur von Frames lässt sich auch als eine Art „mentale Infrastruktur“ (Welzer 2011) bezeichnen. Sie verfügt gleichsam über Autobahnen
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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(nach Minsky: die Verbindungslinien), in die das Denken routinemäßig einspurt und sodann kaum mehr anders kann, als unwillkürlich, schnell und ohne weiteres Wissen um das eigentliche Umfeld von einem Autobahnkreuz (den Antworten als Knotenpunkte in Minskys Bild) zum anderen zu eilen, bis es an die Spitze des semantischen Eisbergs gelangt, um erst dort, am Zielpunkt, zu einem bewussten, sprachlich artikulierten know-how überzugehen. Die Kernaufgabe frame-semantischer Untersuchungen ist es, dieses Autobahnnetz offenzulegen und einer bewussten Reflexion zugänglich zu machen. Damit geht auch einher, alternative Wege des Denkens aufzuspüren, die in alternativen Fragen ebenso wie in alternativen Antwortmöglichkeiten bestehen, aber in den aktuell dominanten Infrastrukturen des Wissens verschüttet, marginalisiert oder aber so verfemt sind, dass das normalisierte Denken sie allenfalls noch als Irrwege identifizieren, nicht mehr aber beschreiten kann. Die Kunst einer solchen Offenlegung besteht vornehmlich darin, die wesentlichen Fragen herauszuarbeiten, die das Denken von den unausgesprochenen Tiefenschichten des Wissens gleichsam an die Spitze des semantischen Eisbergs leiten. Es „besteht eine zentrale Funktion von Frames also darin, eine Liste von strategisch entscheidenden Fragen bereitzustellen“ (Ziem 2005, S. 5). In der Fachsprache der Frame-Semantik werden diese Fragen Slots genannt: Slots sind „konzeptuelle Leerstellen, die in Gestalt von sinnvoll zu stellenden Fragen identifiziert werden können“ (Ziem 2005, S. 4). Sie werden auch als „definierende Wissenselemente“ beschrieben (Busse 2012, S. 564). Die frame-semantische Analyse fragt daher: Welche Fragen können und dürfen in einem Wissenskontext überhaupt gestellt werden? Welche gelten als sinnvoll und richtig und welche werden im Gegenzug in einem aktuellen Diskurs als unsinnig von vornherein aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausgeschlossen, d. h. noch nicht einmal gestellt, geschweige denn je beantwortet? Dabei liegt es in der Natur von Fragen, im Normalfall eine Bandbreite von Antwortmöglichkeiten aufzuwerfen. Auf die Frage „Was sind Bestandteile einer Geburtstagsfeier?“ etwa lassen sich verschiedene Antworten wie „Geschenke-Auspacken“, „Kuchen essen“ und „Kerzenausblasen“ geben, die zunächst prinzipiell als gleichberechtigt gelten können (vgl. Ziem 2005, S. 5). Diese Antwortmöglichkeiten werden in der frame-semantischen Forschung als Filler bezeichnet. Sie spannen in ihrer Gesamtheit den denk- und erwartbaren Antwortbereich auf, der in einem bestimmten Fragehorizont möglich ist. Zugleich finden sich von diesem Bereich andere Antworten exkludiert. Würde man auf die obige Frage etwa antworten: „Hunde essen“, so würde dies zumindest in unserem Kulturbereich die Grenze des konventionellen und damit gewohnheitsmäßigen Sprechens zuwiderlaufen. Unsere mentale Infrastruktur
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S. Graupe
verfügte über keine routinehaften Verbindungen zwischen „Geburtstag“ und „Hunde essen“. In der Fachsprache der Frame-Semantik bedeutet dies, dass „Hunde essen“ nicht im sog. Wertebereich des Slots „Welche Bestandteile hat eine Geburtstagsfeier?“ liegt. Es stellt keine Standard-Ausfüllung, keinen sog. Default-Wert, dar. Die Denkverbindung gilt damit als nicht-salient, d. h. als dem Bewusstsein schwer zugänglich und damit als schwer oder gar nicht kognitiv verfügbar. Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, diese allgemeinen frame-semantischen Überlegungen für eine Analyse des unbewussten Sockels des Denkens der ökonomischen Standardwissenschaft fruchtbar zu machen. Dabei frage ich: Welches komplexe Frage- und Antwortfeld öffnet sich in der Tiefe des semantischen Eisbergs der Ökonomik, die von vornherein auf mathematische Konzepte baut? Welches Netz aus Fragen (Slots, Relationen) und Antworten (Fillern, Knoten) existiert im Unbewussten des modernen ökonomischen Denkens, damit Konzepte wie „Diagramm“ und „Graph“ sich auf der Oberfläche des Bewusstseins als dominante ‚Werkzeuge des Denkens‘ etablieren können? Auf welche Frage vermögen sie tatsächlich eine Antwort zu geben, und aus welchem tieferliegenden Antwortbereich rührt wiederum diese Frage her? Indem ich diesen und ähnlichen Fragen nachgehen werde, werden sich nicht nur aus meiner Sicht überraschende Gründe für die heute dominante ökonomische Denkstruktur ergeben, sondern sich auch Möglichkeiten eröffnen, alternativen längst in Vergessenheit oder in Verruf geratenen Denkstrukturen auf die Spur zu kommen. Denn es wird sich, wie in der Frame-Semantik üblich, herausstellen, dass jede tieferliegende Frage auch andere Antwortmöglichkeiten zulassen kann, sodass innerhalb der Tiefenschichten des semantischen Eisbergs der ökonomischen Standardwissenschaft eine Vielfalt möglicher alternativer Frage- und Antwortschemata erkennbar werden kann, die an der Spitze des semantischen Eisbergs zwar nicht mehr sichtbar, wohl aber vorausgesetzt bleibt. Anders gesagt: Sobald wir in die Tiefe des semantischen Eisbergs vordringen, werden alternative Denkstrukturen sichtbar werden, deren Absterben oder Abschneiden die heutige Ökonomik entlang ihrer mentalen Infrastruktur als immer schon gegeben voraussetzen muss, die aber an irgendeinem Punkt ihrer Genese tatsächlich einmal mit rhetorischen Strategien und Argumenten aktiv ausgelöscht worden sein müssen. Das Fundament der heutigen Ökonomik wird sich damit gewissermaßen als ein „Kampfplatz“ (Flasch 2009) erweisen, dem eine genuine, gleichwohl stets umstrittene Pluralität innewohnt: ein Kampfplatz, von dem heute zwar nur noch Spuren im Bewusstsein zu finden sind, dessen Entscheidungen über Sieg und Niederlage aber dennoch – oder gerade deswegen – unmittelbar für die Einseitigkeit des heutigen ökonomischen Denkens, für dessen Monokultur (vgl. Graupe
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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2017a, 2013a) verantwortlich zeichnet, eben weil sie zu stillschweigenden Voraussetzungen mutiert sind. Selbstverständlich wird es auf den folgenden Seiten nicht möglich sein, die Tiefenstrukturen des semantischen Eisbergs der Ökonomik in seiner Gesamtheit offenzulegen.6 Stattdessen werde ich lediglich eine einzige und zugleich zentrale Tiefenbohrung vornehmen: Warum wollen oder sollen Ökonomen und Ökonominnen von Anbeginn an ausschließlich auf einem unreflektierten Fundament mathematischer Konzepte denken (lernen)? Was ist das eigentliche, wenngleich auch tief verschüttete und deswegen eben unausgesprochene Motiv hierfür? Ich stelle diese Fragen nach der Motivierung nicht ohne Grund. Gelten innerhalb der Frame-Semantik die Motivierungen von Erkenntnis zu den grundlegendsten semantischen Tiefenschichten von Wissen überhaupt: Menschen können Wörter in ihrem Gebrauch nur dann angemessen verstehen, wenn sie zuvor implizit ein bestimmtes, das jeweilige Wort ‚motivierendes‘ Wissen erworben haben (Busse 2012, S. 69): „Die Frage nach der Motivierung für eine sprachliche (oder sprachlich realisierte) Kategorie ist die Frage danach, welche Gründe eine Sprachgemeinschaft dafür gehabt haben könnte, diese Kategorie hervorzubringen, die durch das Wort repräsentiert wird, und ist damit eingebettet in den Versuch, die Wortbedeutung zu erklären durch das Vorstellen und Aufklären dieser Gründe. […] Man versteht ein Wort (kennt seine Bedeutung) nur, wenn man den motivierenden Hintergrund für dieses Wort (gleichzusetzen mit dem Frame); den motivierenden Hintergrund zu kennen, heißt (implizit) die Gründe zu kennen, die es dafür gibt, diese Kategorie in einer Gesellschaft, einer Sprache, einer Kultur überhaupt zu haben und sie in einer bestimmten Weise zu gebrauchen. Frames werden damit immer auch verstanden als quasi Motivations-Zusammenhänge“ (Busse 2012, S. 229).
Motivationale Frames fungieren also gleichsam als grundlegende Slots jedes menschlichen Know-hows – und damit auch in der Wissenschaft: Wie Wissenschaft betrieben wird, hängt im tiefsten Grund mit der (verborgenen) Frage nach den Zielsetzungen des wissenschaftlichen Denkens und Handelns ab. Je nachdem, wie diese beantwortet (also als Slot mit einem bestimmten Filler versehen) wird, bildet sich eine spezifische mentale Infrastruktur aus, die einem Baumstamm gleich eine ganz Krone unterschiedlicher Verästelung in wissenschaftlichen Teildisziplinen zu tragen vermag.
6Hierzu
entsteht derzeit eine Monographie von mir, die im Jahre 2020 veröffentlicht werden soll.
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Für den Rest dieses Beitrags widme ich mich folglich der Explikation des motivationalen Frames der Ökonomik, wobei ich zwei unterschiedlichen Formen von Textmaterial frame-semantischen Untersuchungen unterziehen werde. Es sind dies zum einen historische Quellen, in denen Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlagen der neoklassischen Theorie gelegt wurden. In diesen Quellen muss, so meine Hypothese das heutzutage Selbstverständliche noch so neu gewesen sein, dass es noch explizit begründungsbedürftig war, und diese Spuren der Explikation werde ich gleichsam ans Licht zu holen versuchen. Als konkretes Untersuchungsmaterial werden mir dabei die einleitenden Kapitel der Éléments d’économie politique pure von Léon Walras aus dem Jahre 1874 sowie Ausschnitte aus den Grundlagenwerken von Alfred Marshall (Principles of Economics, 1890), William Stanley Jevons (The Theory of Political Economy, 1871), Ysidro Edgeworth (Mathematical Psychics: An Essay on the Applications of Mathematics to the Moral Sciences, 1881) und Irving Fisher (Mathematical Investigations In The Theory of Value und Prices, 1892) dienen. Als zweite Art des Textmaterials werde ich Ausschnitte aus den Lehrbüchern von N. Gregory Mankiw und Taylor (2014), Pindyck und Rubinfeld (2009) sowie von Varian (2007) und von Samuelson und Nordhaus (2005) frame-semantisch untersuchen. Dabei lasse ich mich von der Hypothese leiten, dass sich zumindest Spuren eines explizierbaren Verständnisses der motivationalen Tiefenstruktur ökonomischen Denkens in gegenwärtigem didaktischem Textmaterial auffinden lassen müssten, insofern diese Materialien uneingeweihte Anfänger einer Wissenschaft pädagogisch erstmalig mit besagten Konzepten, Modellen und Theorien konfrontieren und dafür zumindest rudimentär Hinweise auf deren sinnhafte Einbettung in kognitive Deutungsstrukturen geben müssten.
3 Begründung eines neuen motivationalen Frames ökonomischen Denkens durch die Neoklassik. Das Beispiel Léon Walras’ Beginnen wir mit einer frame-semantischen Analyse der ersten Seiten im Hauptwerk von Walras.7 Dabei wird deutlich werden, wie der französische Ökonom und Ingenieur einen neuen Frame mathematischer sozialwissenschaftlicher Analyse 7Aus Gründen der eigenen sprachlichen Kompetenz ebenso wie zumindest eines Teils meiner Leserschaft stütze ich mich auf die englische Übersetzung der Èlements von William Jaffé aus dem Jahre 1954. Eine komplette deutsche Übersetzung liegt bislang nicht vor (vgl. Walras 1972).
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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zu begründen versucht, ohne dabei auf ein vorgegebenes semantisches Deutungsgefüge aufbauen zu können. Stattdessen muss er sich an der Konstruktion eines neuen Frames versuchen, das ihm vornehmlich durch explizite Opposition zu den zu seiner Zeit in der Politischen Ökonomie (wie die Wissenschaft der Wirtschaft damals noch hieß) dominierenden Wissensgefügen einerseits und durch metaphorische Anleihen bei den Naturwissenschaften andererseits gelingen wird. Gleich zu Beginn seiner Überlegungen zitiert Walras den schottischen Moralphilosophen Adam Smith: „Political economy, considered as a branch of the science of a statesman or legislator, proposes two distinct objects: first, to provide a plentiful revenue or subsistence for the people, or more properly enable them to provide a revenue for subsistence for themselves, and secondly, to supply the state or commonwealth with a revenue for the public services. It proposes to enrich both the people and the sovereign.“ (Smith zitiert in Walras 1954, S. 51 f.)
Was ist das Ziel der Politischen Ökonomie? Das Zitat von Smith lässt für diesen Slot nur einen Filler zu: Sie hat den Reichtum zu mehren. Zugleich wird ein weiterer Slot eröffnet, indem gefragt wird, in wessen Dienst die Politische Ökonomie sich zu stellen hat. Für diesen Slot existiert erneut nur ein Filler: Sie soll eine Wissenschaft für den Staatsmann und den Gesetzgeber sein. Und für wen soll sie in deren Dienste Reichtum schaffen? Hier verzweigen sich die Denkmöglichkeiten in zwei Richtungen: Zum einen soll Reichtum für das Volk oder die Bevölkerung, zum anderen Reichtum für den Staat und dessen öffentlichen Leistungen geschaffen werden. Für Walras ist es selbstverständlich, dass damit zwei unterschiedliche Bereiche markiert sind, die je für sich einen eigenen Sub-Frame wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses oder -gebietes ausbilden und dabei prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander stehen: „To provide an income for the people and to supply the State with a sufficient revenue are two operations of equal importance and delicacy, but very distinct in character.“ (Walras 1954, S. 53)
Für den ersten Bereich der Politischen Ökonomie, der sich dem Reichtum bzw. Einkommen der Bevölkerung widmet, führt Walras genauer aus: „The first operation consists in placing agriculture, industry and trade in such and such determinate conditions. According as these conditions are favourable or unfavourable, the agriculture, industrial and commercial output will be abundant or scanty.“ (ebd., S. 53)
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S. Graupe
Und zum zweiten Bereich schreibt er: „The problem of supplying the State with sufficient revenue is an entirely different matter. In fact, this operation consists in deducting from individual outcomes the amounts necessary to make up community income. This takes place under good or bad conditions. The character of these conditions is determined not only by the sufficiency or insufficiency of the State’s revenue, but also by the fairness or unfairness with which the individuals are treated.“ (ebd.)
Es treten also zwei Erkenntnisbereiche auseinander, die gemeinsam die Politische Ökonomie bilden. Ersteren bezeichnet Walras ohne Zögern oder weitere Erklärung mit „praktischer Wissenschaft“ oder „Kunst“ und letzteren mit „moralischer Wissenschaft“ oder „Ethik“ (vgl. etwa ebd., S. 61). Damit markiert er sprachlich, wie selbstverständlich es zu seiner Zeit gewesen sein muss, die Kunst und die Ethik nicht nur zur Politischen Ökonomie zu zählen, sondern sie als ihre eigentlichen Kernbereiche anzusehen. Dies bedeutet zugleich, von einer inhärent plural verfassten Wissenschaft auszugehen: Die Politische Ökonomie kennzeichnet eine Einheit in Vielfalt (Ethik und Kunst bzw. moralische und praktische Wissenschaft). Im Text von Walras existiert kein Hinweis darauf, dass diese Einheit in Vielfalt zugunsten einer strikten Bevorzugung einer der beiden (Teil-)Disziplinen aufzugeben wäre. Stattdessen gelingt es Walras mühelos (d. h. ohne größere Erläuterungen), ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede klar zu benennen, ohne dabei infrage zu stellen, dass sie beide zusammen die Politische Ökonomie ausmachen. Weiterhin fällt auf, dass Walras für beide Teilbereiche die gleichen wissenschaftlichen Aktivitäten vorsieht. So sollen sich Ökonomen auf beiden Feldern aktiv und engagiert ins gesellschaftliche und politische Leben einbringen, indem sie etwa Staatsmännern und Gesetzgebern Rat erteilen, ihnen Dinge vorschreiben oder sie auf andere Weise führen (vgl. ebd., etwa S. 58 und 62). Zugleich ist es dem französischen Ökonomen aber selbstverständlich, dass hierfür je eigene, voneinander unterschiedene Beurteilungsmaßstäbe anzulegen sind: „Thus the aim in procuring plentiful revenue for the people is practical expediency, whereas in supplying the State with a sufficient revenue the aim is equity. Practical expediency and fairness, or material well-being and justice, are two very different orders of consideration“ (ebd., S. 54).
Und auch soll die Politische Ökonomie als Kunst nach dem „Nützlichen“, als Ethik aber nach dem „Guten“ streben (vgl. ebd., S. 64).
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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Abb. 1 gibt einen Überblick über den motivationalen Frame, wie ich ihn in den vorangegangen Abschnitten am Beispiel Walras skizziert habe. Dabei ist eine Darstellung gewählt, in der die Slots, d. h. die erkenntnisleitenden Fragen, als Relationen und die Filler, d. h. die möglichen Antworten auf diese Fragen, als Knoten dargestellt sind und sich so insgesamt der visuelle Eindruck eines semantischen Netzes (einer mentalen Infrastruktur) der ursprünglichen Politischen Ökonomie ergibt. Betrachtet man die Abbildung, so wird deutlich, wie der motivationale Frame tatsächlich durch eine Einheit in Vielfalt gekennzeichnet ist: Auf den unterschiedlichen Ebenen, d. h. in horizontaler Richtung, finden sich mehrere Filler, die auf die gleichen erkenntnisleitenden Fragen antworten und dabei zwar Differenzen markieren, zugleich aber stets mit Hilfe inkludierende Verknüpfungen (etwa „und“ oder „gemeinsam“) verbunden sind. Zudem finden die beiden vertikalen Verläufe, die die Unterschiedlichkeit der beiden Subdisziplinen der Politischen Ökonomie als Ethik und als Kunst verdeutlichen, an bestimmten Stellen stets wieder zusammen. Sie entstehen aus dem gleichen Anliegen (dem Ziel, Reichtum zu schaffen) und teilen später dann auch wieder die Antwort auf die Frage der Art probater wissenschaftlichen Aktivitäten (engagierter Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben im Sinne des Ratgebens). Doch damit ist das Verständnis der Politischen Ökonomie von Walras keineswegs erschöpft. Zwar würdigt er zunächst Adam Smith als „Vater der Politischen Ökonomie“ und heißt das Ziel seiner Art, Wissenschaft zu betreiben, also das Streben, den Reichtum zu mehren, gut. (ebd., S. 52). Zugleich aber hebt er dazu an, das Smithschen Verständnis der Politischen Ökonomie zu delegitimieren: „To provide a plentiful revenue for the people and to supply the State with a sufficient income are incontestably most worthy aims. If political economy helps to achieve this double purpose, it renders a signal service. But it seems to me that this is not, strictly speaking, the object of a science. […] It must be pointed out that political economy is not quite what Adam Smith thought. The primary concern of the economist is not to provide a plentiful revenue for the people or to supply the State with an adequate income, but to pursue and master purely scientific truth. […] Hence Adam Smith’s definition is incomplete, because it fails to mention the aim of political economy considered as a science strictly speaking.“ (Walras 1954, S. 52 f.)
Die rhetorische Strategie von Walras ist hier in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst macht die gerade zitierte Textpassage deutlich, wie er ein neues Selbstverständnis der Politischen Ökonomie anstrebt – und zwar als einer „Wissenschaft im engen Sinne“. In dieser soll kein Platz mehr für die bisherigen Motivlagen sein. Stattdessen wird die Frage nach dem Ziel von Wissenschaft
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S. Graupe Directing
Advising
Political Advice
Deducing Rules Material wellbeing Plentifulness Practical Expediency
How to? Achieve?
Prescribing
How to? Achieve
Usefulness
Goodness
What Criteria?
What Criteria?
For the People
For the State
For Whom?
Justice Fairness Equity
For Whom?
Provision of Plentiful Revenue
What Goal?
What Goal? Moral Science / Ethics
Practical Science / Art
What Subdiscipline?
What Subdiscipline?
Political Economy
Abb. 1 Walras Frame der ursprünglichen Politischen Ökonomie. (Quelle: eigene Darstellung)
nun auf vollkommen andere Weise beantwortet. Neben den Filler „den Reichtum mehren“, der zuvor als einzig mögliche Voreinstellung Default-Wert gesetzt war, tritt nun ein anderer: Es soll der Wunsch und der Wille regieren, „die reine wissenschaftliche Wahrheit zu verfolgen und zu beherrschen“. Dabei wird deutlich, dass es sich dabei keineswegs mehr um ein integratives Verständnis handelt. Stattdessen formuliert Walras so, als müssten sich die beiden Zielsetzungen diametral gegenüberstehen und wechselseitig ausschließen: Die Politische Ökonomie ist nicht, was Smith dachte; ihr Interesse ist nicht, den Reichtum
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
131
zu mehren, sondern rein wissenschaftliche Wahrheiten zu verfolgen. Walras erweitert auf diese Weise zwar das Spektrum möglicher Motive der Politischen Ökonomie, doch setzt er diese zugleich in ein oppositionelles Verhältnis. Zudem bereitet er unmittelbar eine neue Kategorie der Politischen Ökonomie vor, aus der die Motivierung, den Reichtum zu mehren und damit für die Gesellschaft einen Dienst zu leisten, prinzipiell ausgeschlossen sein soll. Es ist dies die Politische Ökonomie als Wissenschaft im strengen oder eigentlichen Sinne. In wessen Dienst aber soll diese neue Form der Politischen Ökonomie stehen? Wem kann und wem soll sie dienen? Interessanterweise ist es Walras erst an späterer Stelle möglich, diese Frage ausdrücklich zu beantworten, wenn er etwa zwanzig Textseiten später anmerkt, „der Ökonom habe ein Recht, Wissenschaft um ihrer selbst willen zu betreiben“ (ebd., S. 71). Doch was soll das für eine Sozialwissenschaft sein, die keinerlei weltliches Anliegen mehr verfolgt? Walras vermag ihr zunächst nur einen neuen Namen zu geben – eben jenen der „reinen Wissenschaft“ –, sodass neben die Politische Ökonomie als Kunst und die Politische Ökonomie als Ethik eine dritte mögliche Wissenschaftsform erwächst. Was aber soll die Politische Ökonomie als „reine Wissenschaft“ charakterisieren? Die Aussage von Walras ist klar: Sie soll sich ein neues Vorbild suchen, und dieses liegt weder auf dem weiten Feld der bisherigen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften noch in einer Praxis des Sozialen, sondern auf gänzlich anderem Felde: jenem der reinen Naturwissenschaften (vgl. im Folgenden ebd., S. 52). Seine Argumentation verläuft dabei überwiegend metaphorisch: Der Geodät8 vermag, schreibt Walras, rein theoretisch zu postulieren, dass ein gleichseitiges Dreieck auch gleichwinklig sein muss. Architekten und Bauingenieure mögen daraus ein praktisch anwendbares Wissen machen, das etwa für die Konstruktion und Erbauung eines Hauses nützlich ist, doch können sie keineswegs als wirkliche, reine Wissenschaftler gelten. Allein dem Geodäten ist diese Bezeichnung vorbehalten. Und noch ein Beispiel gibt Walras: Nur der Astronom soll strikt wissenschaftliche Aussagen etwa über die Umlaufbahnen der Planten um die Sonne treffen können, während der Navigator diese Aussagen lediglich zur Orientierung anzuwenden vermag. Auf die exakt gleiche Weise, so läuft das Argument von Walras weiter, soll sich die reine Ökonomie von der praktischen politischen Ökonomie unterscheiden lassen:
8Wir
würden heute wohl eher von einem Mathematiker sprechen, der sich mit der Geometrie beschäftigt.
132
S. Graupe
„Now the two lines of action of which Adam Smith speaks are analogous, not to those of the geometer and the astronomer, but to those of the architect and the navigator. Thus if political economy were simply what Adam Smith said it was, and nothing else, it would certainly be a very interesting subject, but it would not be a science in the narrow sense of the term“ (Walras 1954, S. 52).
Was aber kann dann der Ziel- und Fluchtpunkt dieser neuen Wirtschaftswissenschaft sein? Was sollen Ökonomen tun dürfen? „It must be pointed out that political economy is not quite what Adam Smith thought. The primary concern of the economist is not to provide a plentiful revenue for the people or supply the State with an adequate income, but to pursue and master purely scientific truth. That is precisely what economists do when they assert, for example, that the value of a thing tends to increase as the quantity demanded increases or as the quantity supplied decrease […].“ (ebd., S. 52)
Hier wird deutlich: Die Motivierung, die Ökonomen und Ökonominnen dazu veranlasst, rein formale Aussagen über Märkte zu treffen, besteht im Kern darin, eine reine Wissenschaft betreiben zu wollen, deren Ideal nicht in irgendwelchen sozialen oder sonstigen weltlichen Bezügen, sondern allein in dem Willen zur Imitation der (ebenfalls reinen) Naturwissenschaften liegt. Im Hinblick auf das tatsächliche Tun des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin geht es dabei um den unbedingten Anspruch, die Politische Ökonomie von einer verbalen zu einer mathematisch verfassten Wissenschaft zu verwandeln: „Pure mechanics ought to precede applied mechanics. Similarly, given the pure theory of economics, it must precede applied economics; and this pure economics is a science which resembles the physico-mathematical sciences in every respect. […] If the pure theory of economics or the theory of exchange and value in exchange, that is, the theory of social wealth considered by itself, is a physico-mathematical science like mechanics or hydrodynamics, then economists should not be afraid to use the methods and language of mathematics.“ (ebd., S. 71, Hervorhebung im Original)
Dieser Anspruch wird a priori erhoben: Die Motivierung, eine Wissenschaft nach mathematischem Vorbild zu betreiben, soll vor jeglicher Betrachtung der Wirklichkeit und vor jeder (wirtschaftlichen) Erfahrung feststehen. Sie bildet gleichsam eine vorgegebene Brille, durch die der Ökonom oder die Ökonomin auf die Welt schauen soll, ohne dass sie umgekehrt durch die Welt geprägt wäre. Als Objekte wissenschaftlicher Untersuchungen können in der Folge nur noch quantitativ messbare Phänomene dienen – allen voran der preisförmig bewertete Tauschwert. Und selbst dieser ist unmittelbar in ein rein mathematisches Gewand
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
133
zu kleiden und damit so zu idealisieren, dass sich tatsächlich rein kalkulierend mit ihm hantieren lässt. Es lohnt sich, die Überlegungen von Walras hier ein wenig ausführlicher zu zitieren. Zunächst beschreibt er abstrakt die Prozedur naturwissenschaftlichen Argumentierens, und zwar ohne jeden Bezug zur Politischen Ökonomie: „The mathematical method is not an experimental method; it is a rational method. Are the sciences which are strictly speaking natural sciences restricted to a pure and simple description of nature, or do they transcend the bounds of experience? I leave it to the natural scientists to answer this question. This much is certain, however, that they physico-mathematical sciences, like the mathematical sciences, in the narrow sense, do go beyond experience as soon as they have drawn their type concepts from it. From real-type concepts, these sciences abstract ideal-type concepts which they define, and then on the basis of these definitions they construct a priori the whole framework of their theories and proofs. After that they go back to experience not to confirm but to apply their conclusions.“ (ebd., S. 71)
Sodann vermag er auf dieser Basis konkrete Praktiken innerhalb der Naturwissenschaften zu beschreiben: „Everyone who has studied any geometry at all knows perfectly well that only in an abstract, ideal circumference are the radii all equal to each other and that only in an abstract, ideal triangle is the sum of the angles equal to the sum of two right angles. Reality confirms these definitions and demonstrations only approximately, and yet reality admits of a very wide and fruitful application of these propositions.“ (ebd.)
Weiterhin fordert Walras von Ökonomen, es dem Naturwissenschaftlicher exakt gleichzutun: „Following this same procedure, the pure theory of economics ought to take over from experience certain type concepts, like those of exchange, supply, demand, market, capital, income, productive services and products. From these real-type concepts the pure science of economics should then abstract and define ideal-type concepts in terms of which it carries on its reasoning. The return to reality should not take place until the science is completed and then only with a view to practical applications. Thus in in an ideal market we have ideal prices which stand in an exact relation to an ideal demand and supply“ (ebd.).9
9Interessant
ist, dass Walras in dieser Passage bereits den Begriff economics nutzt (den ich in diesem Beitrag mit Ökonomik übersetze) – und nicht mehr dem der Politischen Ökonomie. Diesen Umbruch in der Begrifflichkeit vollzieht auch Alfred Marshall, worauf ich später in diesem Beitrag eingehen werde – allerdings nur kursorisch. Vgl. ausführlicher Graupe 2019.
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S. Graupe
Mithilfe dieser Zitate wird deutlich, wie sehr die Argumentation ihre Kraft nahezu ausschließlich durch den (metaphorischen) Bezug auf die reinen Naturwissenschaften und damit auf eine rein geistig-wissenschaftliche Prozedur erhält. Nicht die Beschäftigung mit der ökonomischen Wirklichkeit, sondern der Wunsch und der Wille, sich am Vorbild abstrakter Naturwissenschaften zu orientieren, weist dem Tun des Ökonomen den Weg. Der Ökonom soll rechnen, nicht, weil damit wie im Falle der Politischen Ökonomie als Kunst oder als Ethik ein praktisches Ziel zu erreichen wäre, sondern weil sich auf diese Weise ein wissenschaftliches Ideal verwirklichen lässt. Erst die Theorie, dann die Praxis, so lässt sich hier die Devise auf den Punkt bringen. Damit wandeln sich auch die Vorstellungen über die legitimen und anzustrebenden Aktivitäten innerhalb der Politischen Ökonomie: Nicht mehr um Teilhabe, Engagement und Gestaltung des wirtschaftlichen und politischen Lebens geht es, sondern darum, eine sichere Distanz zu den Untersuchungsobjekten einzunehmen, sodass diese sich lediglich entdecken, beobachten und beschreiben (vgl. ebd., S. 58) bzw. identifizieren, verifizieren und erklären (vgl. ebd., S. 61) lassen.10 Zugleich wandeln sich auch die Beurteilungsmaßstäbe, die an diese Aktivitäten sinnvoll anzulegen sind: Weder um materielles Wohlergehen geht es noch um Fairness und Gerechtigkeit. Stattdessen rückt das Kriterium der Wahrheit in den Fokus: „Indeed the distinguishing characteristic of science is the complete indifference to consequences, good or bad, with which is carries on the pursuit of pure truth.“ (ebd., S. 52)
Dabei handelt es sich bei der „reinen Wahrheit“ um eine rationale Wahrheit, die jenseits der Welt der Erfahrung im Reich des reinen Denkens wie im Falle der Mathematik handeln soll (vgl. ebd. S. 71) und die als drittes Kriterium der Politischen neben die der Dienlichkeit und des Guten tritt: „Such, then, are the distinguishing characteristics of science, art and ethics. Their respective criteria are the true; the useful meaning material well-being; and the good, meaning justice.“ (ebd., S. 64)
10Welche
Form des kühlen Gleichmuts, der Mitleidlosigkeit als legitime Form wissenschaftlicher Praktik, anders gesagt als epistemische Tugend sich hierhinter verbirgt, analysiere ich genauer in Graupe (2014).
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
135
Abb. 2 visualisiert den gesamten motivationalen Frame der Politischen Ökonomie, wie er sich frame-semantisch aus dem Werk von Walras rekonstruieren lässt. Im Vergleich zur Abb. 1 findet sich der Zweig der Politischen Ökonomie als reiner Wissenschaft ergänzt. Zunächst fällt auf, dass sich damit insgesamt ein nochmals pluraleres Verständnis der Politischen Ökonomie ergibt, wobei sowohl unterschiedliche Zielvorstellungen als auch legitime Aktivitäten und Beurteilungsmaßstäbe zumindest prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander stehen. Zugleich findet sich aber der Frame der Politischen Ökonomie als rein wissenschaftliche Aktivität bereits von den anderen beiden Frames isoliert. Denn während sich die Politische Ökonomie als Kunst und Ethik untereinander verschiedene Slots und Filler teilen, so ist dies bei der Politischen Ökonomie als reiner Wissenschaft nicht der Fall. Sie findet sich von den anderen beiden Wissenschaftsformen stattdessen klar abgesetzt, weil sie keinerlei Ziele und Anliegen teilt, nicht die gleiche Gruppe von Menschen anspricht und über ein eigenes Gütekriterium (das der wissenschaftlichen Wahrheit) sowie über eigene
Theoretical Contemplation
Political Advice How to? Achieve?
How to? Achieve?
How to?
Usefulness
Goodness
Scientific Truth
What Criteria?
What Criteria?
What Criteria?
For the People
For the State
For its own sake
For whom?
For whom?
Provision of Plentiful Revenue
What Goal? Practical Science / Art
What Subdiscipline?
For Whom?
Pursuit of Purely Scientific
What Goal? Moral Science / Ethics What Subdiscipline?
Political Economy
Abb. 2 Walras II. (Quelle: eigene Darstellung)
What Goal?
Pure Science
What Subdiscipline? Natural Science
136
S. Graupe
legitime wissenschaftliche Aktivitäten verfügt. Ihre mentale Infrastruktur – das Netz von Kanten und Knoten, von Slots und Fillern – verläuft vollständig in anderen Bahnen, und es scheint als würde ein Graben zwischen ihren Bahnen und jenen der Politischen Ökonomie als Kunst oder Ethik verlaufen, der durch wertende Abgrenzungen auf jeder Ebene nochmals verstärkt wird. Es ließe sich argumentieren, dass sich hier nicht weniger als die Grundlegung eines neuen Paradigmas visuell veranschaulicht findet (vgl. Kuhn 1976).
4 Semantische Strategien des Paradigmenwechsels Wie aber gelingt es Walras, seinen Paradigmenwechsel, der anschaulich gesprochen dem Anlegen einer neuen mentalen Autobahn gleicht, plausibel zu machen? Ich möchte im Hinblick auf diese Frage vier semantische Strategien skizzieren, die hierfür von Bedeutung sind.
4.1 Reframing Die erste Strategie besteht in einer Rekontextualisierung bzw. einem Reframing. Gerade lautete meine These, dass sich in Walras’ Éléments nicht weniger als ein Paradigmenwechsel auf der Ebene der Motivierung und damit in der tiefsten Tiefe des semantischen Eisbergs vollzieht, der einen vollständigen Bruch mit den zuvor gewohnten Bahnen des Denkens innerhalb der bisherigen Politischen Ökonomie bedeutet. Zugleich argumentiert aber Walras nicht jenseits aller Bahnen des traditionellen ökonomischen Denkens. Doch versteht er es geschickt, ihren Bezugspunkt radikal zu wandeln. Denn seine Rhetorik gewinnt ihre Überzeugungskraft nicht mehr aus den althergebrachten Frames der politischen Ökonomie als Kunst und als Ethik, sondern dadurch, dass er die Naturwissenschaften gleichzeitig zum Ideal, zum Vorbild und zur Quelle der neuen reinen Wirtschaftswissenschaft erhebt. So vermag er etwa, wie ich bereits skizziert habe, zwar nicht explizit zu sagen, was ein „reiner Ökonom“ genau tun soll, um nach reiner Wahrheit zu streben. Aber er versteht es, das Denken seiner Leser mit Hilfe von Metaphern so anzuleiten, dass sie beginnen, sich ihn wie einen Astromomen oder wie einen Mathematiker der (reinen) Geometrie vorzustellen. Das Denken vermag damit einen neuen Bezugspunkt zu gewinnen, aus dem zwar keine ausdrückliche Begrifflichkeit, wohl aber Inferenzen bzw. Implikationen abgeleitet werden können. Dies bedeutet in der Sprache der Frame-Semantik, dass neue Quellen des „Ergänzens“ und „Erschließens“ erschlossen werden (vgl. etwa Busse 2012,
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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S. 262), um das eigene Argument in einen stützenden alternativen, wenngleich im Falle von Walras lediglich metaphorischen Deutungsrahmen einzulassen. Allgemeiner gesagt, wird am Beispiel Walras deutlich, wie sich in der Neoklassik eine erhebliche, ja radikale Rekontextualisierung wissenschaftlicher Argumentation vollzieht. Indem Walras immer wieder Anleihen bei den Naturwissenschaften nimmt, ohne dies je explizit zu begründen, gelingt es ihm, die Politische Ökonomie aus ihren früheren Bezügen der praktischen Frage nach Wohlstand zu reißen und gleichsam mitsamt ihres Wurzelwerkes in den Kontext abstrakter Wissenschaften umzutopfen. So lässt er diese Sozialwissenschaft etwa in die Aura des „Wahren“ und „Richtigen“ ein, wie sie den Naturwissenschaften bereits im 19. Jahrhundert eigen gewesen ist, aber zuvor keine Bedeutung für die moralischen und praktischen Wissenschaften gehabt hatte.11
4.2 Abwertung der bisherigen Tradition Die zweite Strategie besteht in der rhetorischen Abwertung der bisherigen Tradition. Ein wichtiger Kampfplatz bildet dabei das Ringen nicht so sehr um Deutungshoheit über den Begriff der Politischen Ökonomie, sondern um jenen der Wissenschaft bzw. des Wissenschaftlichen selbst. Kunst und Ethik mögen zwar für Walras noch zur Politischen Ökonomie gehören, sie können aber keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne mehr darstellen und werden so an den Rand des Wissenschaftlichen gedrängt. Ich werde gleich noch zeigen, wie andere Neoklassiker nicht zögern, sogar noch einen Schritt weiter zu gehen und sie aus dem Bereich des Wissenschaftlichen überhaupt zu verbannen (worin ihnen später die ökonomischen Standardlehrbücher folgen werden). Doch bereits bei Walras finden sich Abwertungsstrategien, die bis ins Polemische reichen. So schreibt er etwa am Schluss seiner einführenden wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Überlegungen: „As to mathematical language, why should we persist in using everyday language to explain things in the most cumburous and incorrect way, as Ricardo has often done, and as John Stuart Mill does repeatedly in this Principles of Political Economy, when the same things far more succinctly, precisely and clearly in the language of mathematics?“ (Walras 1954, S. 73) 11Dabei
ist nicht zuletzt auch die Begriffsbildung der reinen Wissenschaft bemerkenswert, da das Adjektiv „rein“ in einen Frame positiver (emotionaler) Bezüge eingelassen ist und seine unreflektierte Verwendung im wissenschaftlichen Kontext deswegen Zustimmung zu erheischen vermag, ohne je genau zu explizieren, was „Reinheit“ im Kontext der Politischen Ökonomie überhaupt bedeuten könnte.
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S. Graupe
Dieses Beispiel zeigt, wie eine Denkstruktur geschaffen wird, die die unterschiedlichen Wissenschaftsformen gleichsam in Schwarz und Weiß einteilt und die guten Eigenschaften allein der Politischen Ökonomie als reiner Wissenschaft zuordnen – und dies in klar wertender Weise.
4.3 Neue Perspektivierung Eine dritte Strategie begründet sich darin, eine neue Perspektivierung zu schaffen: „Frames schaffen Perspektiven. Zu den […] wichtigsten Eigenschaften von Frames […] gehört, dass sie ein und dieselbe Szene in unterschiedlichen Perspektiven beleuchten können“ (Busse 2012, S. 65).
Zwar ist richtig, dass Walras noch den gesamten motivationalen Frame der Politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts überblickt. Seine Blicke auf die Zweige der Kunst und der Ethik erfolgen aber fast ausschließlich aus der Perspektive des Zweigs der reinen Wissenschaft. Dabei besteht seine rhetorische Strategie darin, diesen Zweig zunächst als ebenbürtig zu etablieren (was zu seiner Zeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit war) und sodann als überlegen darzustellen. Die Kriterien für diese Überlegenheit nähren sich dabei allerdings nicht aus einem nochmalig übergeordneten Standpunkt, sondern eher aus den Beurteilungs- und Wertmaßstäben, die innerhalb des Zweigs der reinen Wissenschaft dominieren – allen voran der Wahrheit und der Reinheit und daraus abgeleiteter Kriterien wie jene der Präzision und Klarheit. Minsky schreibt: „Each view has its own questions. Separate views speak mostly past each other. Occasionally, of course, they speak to the same issue and then comparison is possible, but not often and not on demand“ (Minsky 1974, S. 60).
Entscheidend ist dabei nicht nur, wie die Beurteilungsmaßstäbe artikuliert, sondern auch, wie sie – zumeist unterschwellig – angewendet werden. So wird bei Walras deutlich, wie er die unterschiedlichen Maßstäbe der Politischen Ökonomie als Kunst, Ethik und reiner Wissenschaft zwar durchaus neutral benennen kann: Die erste strebt nach materiellem Wohlergehen und dem Nützlichen, die zweite nach dem Guten, der Fairness und der Gerechtigkeit und die dritte nach der Wahrheit. Doch vermeidet er es tunlichst, von den beiden erst genannten Gruppen von Maßstäben praktisch Gebrauch zu machen. Er nutzt sie schlicht nicht, sondern färbt seinen gesamten Text gleichsam wie durch die Brille des
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Strebens nach Wahrheit ein. Damit wird eine normative Komponente gesetzt, und zwar im Hinblick auf das Sollen der Erkenntnis. Geht es doch darum, eine bestimmte kognitive Struktur nicht nur zur Anwendung bringen zu wollen, sondern dies auch als ein Müssen zu formulieren. Es sei hier als Beispiel nochmals die folgende Passage zitiert: „Pure mechanics surely ought to precede applied mechanics. Similarly, given the pure theory of economics, it must precede applied economics; and this pure theory of economics is a science which resembles the physico-mathematical sciences in every respect.“ (Walras 1954, S. 71, meine Hervorhebung)
4.4 Alternative Praktiken schaffen Werden Frames wie in Abb. 1 und 2 visualisiert, so gilt, dass die oberen Ebenen von den unteren gleichsam gesteuert werden. Wie eine Lotusblume nur aus einem bestimmten Teichsediment emporwachsen kann, so erhält die anzustrebende wissenschaftliche Aktivität theoretischer Kontemplation mit ihren Unteraktivitäten des Beobachtens, Beschreibens und Verifizierens ihre Sinnhaftigkeit nur vor dem Hintergrund des Ziels, eine reine Wissenschaft betreiben zu wollen. Im Kontext eines anderen Ziels (etwa jenem, Staatsmännern und Gesetzgebern helfen zu wollen, oder den Reichtum zu mehren) müssen diese Aktivitäten hingegen als weitgehend sinnlos erscheinen. Frame-semantisch gesprochen meint dies, dass die theoretische Kontemplation stets schon das Ideal reiner Wissenschaft präsupponiert. Sie setzt es, wo immer sie praktisch betrieben wird, voraus – auch, ja gerade dann, wenn sie dies nicht ausdrücklich sagt. Diese Strategie hat bedeutsame Implikationen für den motivationalen Frame der Politischen Ökonomie. Walras nennt auf den ersten Seiten seines Werkes zwar noch verbal, wie gesagt, die Subframes der Kunst und der Ethik. Doch vermögen sie praktisch sodann in seinem gesamten Werk keine Rolle mehr zu spielen. Stattdessen animiert Walras seine Leser allein dazu, die in und durch den Frame einer reinen Wissenschaft legitimierten Aktivitäten nachzuvollziehen. Wollen seine Leser ihm folgen, so können sie nicht anders, als diese wissenschaftlichen Praktiken wieder und wieder zu imitieren. Bzgl. der durch die anderen (Sub-) Frames legitimierten Aktivitäten hingegen können sie keinerlei Erfahrung mehr machen und folglich auch keine Expertise darin sammeln. Mag es ihnen auch noch so relevant erscheinen, sich aktiv für das materielle Wohlergehen, für Fairness und Gerechtigkeit einzusetzen, es werden ihnen in der Praxis der Neoklassik als reiner Wissenschaft hierfür keinerlei konkrete Möglichkeiten mehr geboten. Ihre geistigen Fähigkeiten drohen diesbezüglich zu verkümmern.
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S. Graupe
5 Der Totalverlust pluraler Motivierungen: Das Beispiel Marshalls, Jevons, Edgeworths und Fishers Walras war bekanntlich zu seiner Zeit noch wenig erfolgreich. Seine eigentliche Wirkungsgeschichte folgt daraus, dass Arrow und Debreu in den 1950er-Jahren Teile seines Gesamtmodells neu formuliert haben, dieser Ansatz gilt später als Basis einer neuen Neoklassik. Dabei gerieten u. a. spezifische Interpretationen der ersten Neoklassik durch Alfred Marshall in Vergessenheit, die vor allem in Großbritannien dominant gewesen waren, z. B. seine biologischen Metaphern. Marshall fordert auch verbal eine Ökonomik als reiner Wissenschaft nach dem Vorbild der reinen Naturwissenschaft, kommt aber dieser Forderung in seinem Hauptwerk (Princinciples of Economics, 1890) außerhalb ihrer mathematischen Anhänge faktisch kaum nach. Es mangelt seinem Werk schlicht an der Strategie, das Knowing-how der Ökonomie als Wissenschaft praktisch zu verändern. Aber zwei andere semantischen Strategien bei Marshall werden in der neuen Neoklassik aufgegriffen (auch als Folge der Neudeutung der Ökonomik durch Lionel Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science 1932), die hier zumindest kurz erwähnt werden: Erstens wertet Marshall die Frames der Kunst und der Ethik aus der Wissenschaft nicht mehr nur verbal ab, wie es bei Walras der Fall ist, sondern drängt sie vollständig aus dem Grundverständnis des Wissenschaftlichen heraus – und verbannt sie ins Alltägliche, in den Common Sense. Hinsichtlich moralischer und praktisch-politischer Frage, soll der Ökonom nicht mehr sagen können, als der Mann auf der Straße: „The question [of freeing people from the pains of poverty, S.G.] cannot be fully answered by economic science. For the answer depends partly on the moral and political capabilities of human nature, and on these matters the economist has no special means of information: he must do as others do, and guess as best he can. But the answer depends in great measure upon facts and inferences, which are within the province of economics; and this it is which gives to economic studies their chief and high interest“ (Marshall 2013, S. 29, meine Hervorhebung).
Damit vollzieht sich eine dramatische Verengung des Frage- und Antwortraumes der Politischen Ökonomie. Denn den Frames der Kunst und der Ethik, die die moralischen und politischen Fähigkeiten des Menschen ja gerade befähigen und strukturieren helfen sollen, wird jeder ökonomisch-wissenschaftliche Anspruch abgesprochen. Damit wird die vormals ureigene Aufgabe der Ökonomie als Kunst und Ethik, Gesetzgebern und Staatsmännern praktischen Rat zu
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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erteilen, eliminiert: kein Ökonom soll hierzu besser befähigt sein als der normale Mensch.12 Zweitens werden die Kunst und die Ethik der reinen Wissenschaft in gewisser Weise nachgelagert. Sie markieren fortan nur noch Bereiche angewandter Wissenschaft, denen die reine Wissenschaft systematisch vorausliegen soll. Damit aber verlieren sie ihre Eigenständigkeit: In ihren Bereichen soll nur das zur Geltung kommen dürfen, was woanders bereits exakt vorgedacht worden ist. Es ist, als dürften sie ihre eigenen Werkzeuge des Denkens nicht mehr schmieden, sondern müssten es zulassen, wenn mit fremden Werkzeugen ihr vormals ureigenes Terrain beackert wird.13 So heißt es etwa: „Economics has then as its purpose to acquire knowledge for its own sake, and secondly to throw light on practical issues. But though we are bound, before entering on any study, to consider carefully what are its uses, we should not plan out our work with direct reference to them. For by so doing we are tempted to break off each line of thought as soon as it ceases to have an immediate bearing on that particular aim which we have in view at the time: the direct pursuit of practical aims leads us to group together bits of all sorts of knowledge, which have no connection with one another except for the immediate purposes of the moment; and which throw but little light on one another. Our mental energy is spent in going from one to another; nothing is thoroughly thought out; no real progress is made“ (Marshall 1920, S. 50–51, meine Hervorhebung).
Durch diese zwei Strategien verliert die Politische Ökonomie sowohl als Kunst als auch als Ethik endgültig ihren Anspruch, Wissenschaft sein zu können. Zentral ist dabei, dass dieser Verlust bei Marshall auch einen sprachlich-definitorischen Ausdruck annimmt. Die Wissenschaft von der Wirtschaft soll seines Erachtens fortan nicht mehr Politische Ökonomie, sondern Economics heißen; ein Begriff, den ich in diesem Beitrag konsequent mit Ökonomik übersetze: “But it [economics, S.G.] shuns many political issues, which the practical man cannot ignore; and it is therefore a science, pure and applied, rather than a science and an art. And it is better described by the broad term ‘Economics’ than by the narrower term ‘Political Economy’.“ (ebd., S. 53)
12Vgl. 13Vgl.
für eine genauere Ausführung Graupe 2019. für eine genauere Ausführung erneut Graupe 2019.
142
S. Graupe Theoretical Contemplation
?
How to? Scientific Truth What Criteria?
For the People
For its own sake
For Whom?
For Whom?
Provision of Plentiful Revenue What Goal?
What Goal? Moral Capability
Practical Capability What kind?
Pursuit of Purely Scientific
What kind? Common Sense
What Goal? Pure Science
Character?
Natural Science
Economics
Abb. 3 Marshall. (Quelle: eigene Darstellung)
Abb. 3 visualisiert am Beispiel Marshalls, wie die Filler der einstigen Politischen Ökonomie aus der Vorstellung des Wissenschaftlichen vollständig verschwindet und die Economics, die Ökonomik also, an ihre Stelle treten können. Allein die reine Wissenschaft vermag nun noch als Ausgangspunkt für das ökonomische Denken zu dienen, und auf ihr errichtet sich eine mentale Infrastruktur, die einer Einbahnstraße gleich Kurs auf die rein theoretische Kontemplation als einzig legitime wissenschaftliche Aktivität nimmt. Die einstigen Denkwege der Politischen Ökonomie – jener der angewandten und jener der moralischen Wissenschaft – finden sich hingegen systematisch von der Ökonomik abgetrennt. Sie nehmen ihren Ausgang nun allein im Common Sense, der sich klar in Opposition zur Wissenschaft gesetzt sieht. Zugleich verliert sich ihr eigentlicher Ziel- und Fluchtpunkt, der vormals im politischen Ratgeben lag, im Vagen und Dunkeln. Denn sowohl bzgl. ihrer Kriterien als auch ihrer legitimen Aktivitäten weisen sie substantiell semantische Leerstellen auf.
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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Diese radikale Beschränkung der Wissenschaft der Wirtschaft auf die Ökonomik wird durch Neoklassiker wie William Stanley Jevons (The Theory of Political Economy, 1871), Francis Ysidro Edgeworth (Mathematical Psychics: An Essay on the Applications of Mathematics to the Moral Sciences, 1881) und Irving Fisher (Mathematical Investigations In The Theory of Value und Prices, 1892) nochmals verstärkt.14 Insbesondere fällt bei diesen Autoren auf, dass sie eine Alternative zur Ökonomik kaum mehr auch nur nennen. Vielmehr findet von vornherein und nahezu begründungslos eine Fokussierung auf diese eine Wissenschaftsform nach dem Vorbild der Physik und Mathematik statt. So schreibt Jevons am Anfang seiner Theory of Political Economy (hier in ihrer vierten Auflage aus dem Jahre 1911 zitiert): „It is clear that Economics, if it is to be a science at all, must be a mathematical science. There exists much prejudice against attempts to introduce the methods and language of mathematics into any branch of the moral sciences. Many persons seem to think that the physical sciences form the proper sphere of mathematical method, and that the moral sciences some other method, – I know not what. My theory of Economics, however, is purely mathematical in character. Nay, believing that the quantities with which we deal must be subject to continuous variation, I do not hesitate to use the appropriate branch of mathematical science, involving though it does the fearless considerations of infinitely small quantities. The theory consists in applying the differential to the familiar notions of wealth, utility, value, demand, supply, capital, interest, labour, and all the other quantitative notions belonging to the daily operations of industry. As the complete theory of almost every other science involves the use of that calculus, so we cannot have a true theory of Economics without its aid“ (Jevons 1911, S. 3).
Man spürt hier förmlich, wie das Ringen um die pluralen Motivierungen einstigen politischen Ökonomie, wie es noch das Werk von Walras noch prägt, keinerlei Rolle mehr spielt. Denn gleich zu Beginn aller Argumentation steht bereits der (Sub-)Frame der reinen Wissenschaft als eindeutiger, nicht weiter hinterfragbarer Default-Wert fest: Er erscheint als einzig möglicher Frame der Ökonomie als Wissenschaft überhaupt. Die Wissenschaft von der Wirtschaft ist von vornherein reine mathematische Wissenschaft, ist bloße Ökonomik, und neben der mathematischen Methode existieren keine anderen möglichen Wege des Denkens mehr. Die moralische Wissenschaft wird zwar als solche noch als Begriff genannt, ihr aber keinerlei Gestalt mehr geben. „I know not what“, formuliert
14Ihnen
folgen dann, so meine ich, ohne es hier eigenes begründen zu können, (ohne explizite Debatte) Arrow und Debreu.
144
S. Graupe
Jevons treffend: Er weiß oder will um diese noch nicht einmal mehr wissen. Das Streben nach und Beherrschen von rein wissenschaftlichen Wahrheiten wird als einziges legitimes Ziel von vornherein zementiert, bevor irgendeine Form aktiven bewussten Nachdenkens einsetzen könnte, und auch der Maßstab der Wahrheit gilt damit als gesetzt. Ökonomik kann nichts mehr anderes als wahre Theorie sein, und diese Theorie wird von vornherein klar auf die reine Mathematik festgelegt. Dass dieses nicht einfach nur einen Verlust an Kreativität bedeutet, sondern auch zu neuen Ausprägungen der mentalen Infrastruktur führen kann, zeigt die gerade zitierte Passage von Jevons Theory deutlich auf. Denn während Walras den Bereich der legitimen wissenschaftlichen Aktivitäten nur sehr allgemein mit Verben wie „beobachten“, „beschreiben“ etc. zu markieren vermag, vermag Jevons nun sehr präzise zu formulieren: Zu Theoretisieren heißt, das mathematische Konzept des Differentials auf alles in der Wirtschaft anzuwenden. Damit geht der Großteil der Freiheit in den Fragen zu der Motivierung ökonomischen Denkens verloren. Das gesamte Motiv, warum Ökonomie zu betreiben sei, findet sich wie auf einen Stecknadelkopf zusammenschrumpft: auf einen winzigen Trittstein im weiten Meer der Denkmöglichkeiten, der im Wunsch und Willen besteht, der Analysis als Teilgebiet der Mathematik unmittelbar nachzueifern. Zugleich aber lässt sich damit ein neuer Grad an Präzision und Spezialisierung, gleichsam eine Kreativität im Detail erlangen. Ist diese Motivierung, Ökonomik zu betreiben, erst einmal auf die Praxis einer ganz bestimmten Form der Mathematik geschrumpft, so kann es selbstverständlich keine eigenständige Politische Ökonomie als praktischer oder moralischer Wissenschaft mehr geben – nicht einmal als bloße imaginative Möglichkeit.15 Stattdessen müssen nun selbst alle „alltäglichen Operationen“ ausschließlich mit Denkwerkzeugen bearbeitet werden, die jenen der Mathematik nachempfunden sind. So mag es zwar durchaus noch ‚moralische‘ Themen geben, nicht aber moralische Formen des Knowing-hows. Mit noch mehr Pathos als im Werk von Jevons vermögen die Mathematical Psychics von Edgeworth dies auf den Punkt zu bringen: 15Konsequenterweise plädiert Jevons ebenso wie Marshall ab der 2. Auflage seines Werkes aus dem Jahre 1879 dafür, den Begriff der Politischen Ökonomie gänzlich aus dem Sprachgebraucht zu tilgen. „I may mention the substitution for the name Political Economy of the single convenient term Economics. I cannot help thinking that it would be well to discard, as quickly as possible, the old troublesome double-worded name of our Science. Several authors have tried to introduce new names, such as Plutology, Chrematistics, Catallactics, etc. But why do we need anything better than Economics? This term, besided being more familiar and closely reltaed to the old term, is perfectly analogous in form to Mathematics, Ethics, Aesthetics, and the names of various other branches of knowledge.“ (ebd., S. xiv).
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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„‘Mecanique Sociale’ may one day take her place along with ‘Mecanique Celeste’, throned upon the double-sided height of one maximum principle, the supreme pinnacle of moral as of physical science. As the movements of each particle, constrained or loose, in a material cosmos are continually subordinated to one maximum sum-total of accumulated energy, so the movements of each soul whether selfishly isolated or linked sympathetically, may continually realising the maximum energy of pleasure, the Divine love of the universe. (…) The invisible energy of electricity is grasped by the marvelous methods of Lagrange, the invisible energy of pleasure may admit of a similar handling.“ (Edgeworth 1881, S. 12 f.)
Nichts scheint dieser Unterwerfung unter eine einzige Form theoretischer Kontemplation mehr entkommen zu können: Alles in der sozialen Welt kann dieser Perspektive unterworfen worden – selbst dann, wenn es bedeutet, den Menschen nur noch als Maschine erkennen zu können. Denn auch dies dient eben der Motivierung, Ökonomik nach mathematischen Vorbild zu betreiben: „At least the conception of Man as a pleasure machine may justify and facilitate the employment of mechanical terms and Mathematical reasoning in social science“ (ebd., S. 15).
Aus meiner Sicht kann man die im wahrsten Wortsinn denk-würdige Umkehrung der Argumentation, die hier vollzogen wird, in ihrer Bedeutung für das K now-how der neoklassischen Theorie kaum überbetonen: Nicht etwa weil der Mensch wie eine Maschine handelte, wird er der mathematischen Berechnung unterzogen, sondern er wird wie eine Maschine gedacht, weil es den Gebrauch mathematischen Denkens ermöglicht und rechtfertigt. Es ist das Streben nach einer ganz bestimmten theoretischer Kontemplation, nicht die Realität, die die wissenschaftliche Erkenntnis an eine spezifische Form der Mathematisierung bindet. Mit ihm wird zugleich auch eine neue Form der Kreativität entfesselt: Die schier unerschöpfliche Freiheit, sich alles in der sozialen Welt nach mathematischen Kriterien rein zu imaginieren. Keine Sphäre des sozialen wie auch individuellen Handelns kann sich diesem Blick, dieser methodischen Brille mehr entziehen. Allerdings reflektieren Jevons, Edgeworth und Fisher, wenn überhaupt, kaum mehr als ein paar Seiten explizit über diese gravierend gewandelte methodische Voreinstellung. Stattdessen gehen sie in ihren Werken schnell dazu über, die Ökonomik als Anwendungsgebiet des mathematischen Differentialkalküls zu praktizieren. So benötigen insbesondere Fishers Mathematical Investigations kaum mehr als zwei Seiten, um zum ersten konkreten mathematischen Definition der „Nützlichkeit“ zu kommen; keine Seite später vermag er schon den „Grenznutzen“ als „Differentialquotienten“ in Form einer Gleichung zu bestimmen (vgl. Fisher 1926, S. 13).
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Nützlichkeit, im Frame von Walras noch ein genuin eigenständiger Wertmaßstab der Politischen Ökonomie verstanden als Kunst, die sich praktisch mit dem Reichtum der Bevölkerung und seiner Mehrung beschäftigt, mutiert damit beispielsweise zur bloßen Funktion innerhalb eines mathematischen Kalküls und damit zu einem bloßen Objekt der reinen Ökonomik: Sie ist allein noch als bloß Funktion U zu denken und wird damit „exakt parallel zu denen anderer mathematischen Größen“ gedacht (ebd., S. 12): „Before mechanics was a science, ‚force‘ stood for a ‚common sense‘ notion resolvable in the last analysis into a muscular sensation felt in pushing and pulling. But to construct a positive science, force must be defined with respect to its connection with [the abstract notions of, S.G.] space, time and mass. So also, while utility has an original ‚common sense‘ meaning relating to feelings, when economics attempts to be a positive science, it must seek a definition which connects it with [the abstract notion of, S.G.] objective commodity.“ (ebd., S. 17)
Abb. 4 veranschaulicht den Wandel im motivationalen Frame der Politischen Ökonomie, wie er am Beispiel der Werke der frühen Neoklassiker Jevons, Edgeworth und Fisher deutlich wird: Die (Sub)frames der Politischen Ökonomie als Kunst und Ethik sind vollständig verschwunden. Die Wissenschaft von der Wirtschaft findet sich von vornherein auf die Ökonomik im Sinne der reinen Wissenschaft reduziert, wobei die praktische Aktivität mathematischer Kalkulation als spezifischer Default-Wert gesetzt ist. Deren Zielsetzungen ebenso wie die Beurteilungsmaßstäbe werden nicht mehr explizit reflektiert, sondern allein präsupponiert, also als gegeben vorausgesetzt. Einzig die Frage nach dem wissenschaftlichen Vorbild wird noch explizit gestellt und präzise mit der Aufforderung beantwortet, es einer hochgradig spezifischen Form der Wissenschaft gleichzutun: der mathematischen Wissenschaft im Sinne Analysis. Die Abb. 4 macht auch deutlich, wie weniger Pluralität in der Tiefe des motivationalen Frames der Wissenschaft von der Wirtschaft eine Unmöglichkeit darstellt. Stattdessen gleicht diese mentale Infrastruktur einer geistigen Einbahnstraße, die ihren Ausgang in einer hochgradig spezialisierten Motivierung nimmt, aber kaum mehr in der Lage ist, diese zu reflektieren. Dabei gilt: Ohne das präsupponierte Motiv, Sozialwissenschaft als mathematische Wissenschaft „um ihrer selbst willen“ betreiben zu wollen, ist diese Form des totalen Pluralitätsverlusts nicht vorstellbar. Doch weiß die bloße Anwendung mathematischer Formeln auf die Sozialwelt um diesen Verlust nicht ausdrücklich. Vielmehr schmückt sie sich, alles in der Welt inklusive der tiefsten Tiefen des individuellen Seelenlebens durch die Brille mathematischer Kalküle betrachten zu können. Damit entsteht gleichsam eine neue Form oberflächlicher Pluralität: Alles, auch jene Aspekte
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147 Usefulness / Utility
Exchange What Objects?
What Objects?
Morality / Goodness What Objects?
Mathematical Calculation How to?
?
Scientific Truth What Criteria? For its own sake For Whom? Pursuit of Purely Scientific Truth What Goal? Pure Science Character?
Mathematical Science
Economics
Abb. 4 Jevons und andere Neoklassiker. (Quelle: eigene Darstellung)
und Kriterien, die zuvor der Politischen Ökonomie als Kunst und als Moral vorbehalten waren, werden nun in der Sprache der Ökonomik als reiner Wissenschaft rekontextualisiert und refokussiert. Dadurch werden sie semantisch fundamental umgedeutet und ihrer ehemaligen Sinnzusammenhänge entrissen. Sie können nur noch als etwas völlig Anderes erscheinen, auch wenn sie dem Wortlaut nach noch gleich klingen mögen.
6 Ausgehöhlt und entleert: der motivationale Frame ökonomischer Standardlehrbücher Ich vollziehe nun einen Sprung um mehr als hundert Jahre, um mich den ökonomischen Standardlehrbüchern der Gegenwart zuzuwenden. Wie werden Studierende heute mit den Motivierungen der Ökonomik konfrontiert? In welchem motivationalen Frame argumentieren die ökonomischen Standardlehrbücher?
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Welche Bereiche werden dabei zumindest ansatzweise ins Bewusstsein gehoben und welche sind im Verborgenen wirksam? Um diese Fragen zu klären, unterziehe ich Ausschnitte der einleitenden Kapitel der Principles of Economics von Mankiw und Taylor (2014), der Mikroökonomie von Pyndick und Rubinfeld (2009) und der Grundzüge der Mikroökonomik von Varian (2007) exemplarisch framesemantischen Untersuchungen. Zunächst lässt sich feststellen, dass insbesondere das Lehrbuch von Varian außerordentlich offensiv vorgeht, was die Vergessenheit der eigenen Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis betrifft: „Das übliche erste Kapitel eines Mikroökonomielehrbuchs ist eine Diskussion über ‚Umfang und Methoden‘ der Volkswirtschaftslehre. Obwohl diese Thematik interessant sein kann, erscheint es eher unangebracht, das Studium der Ökonomie damit zu beginnen. Der Wert einer derartigen Diskussion ist eher gering einzuschätzen, bevor man Beispiele angewandter ökonomischer Analyse kennengelernt hat. Stattdessen werden wir daher dieses Buch mit einem Beispiel einer ökonomischen Analyse beginnen“ (Varian 2007, S. 1, Hervorhebung im Original).
Hier wird der Frame der Ökonomik von vornherein als gegeben vorausgesetzt. Studierende sollen in diesem Frame, nicht aber über diesen denken lernen. Sie sollen allein das know-how ihrer Wissenschaft praktisch erlernen (vgl. die vierte Strategie bei Walras), ohne dies auch nur ansatzweise selbst in den Blick nehmen zu können. Warum dieses know-how gemäß welcher Wertmaßstäbe sinnvoll sein soll, darüber erfahren sie nichts. Stattdessen setzt das Lehrbuch bereits nach einer halben Seite mit der „Konstruktion eines Modells“ an, gut eine Seite später wird bereits auf die Konzepte von „Optimierung“ und „Gleichgewicht“ abgestellt (vgl. ebd., S. 1 und 3). Dabei wird noch nicht einmal explizit erwähnt, dass es sich um Konzepte handelt, die sich allein im Kontext einer mathematisch orientierten Wissenschaft sinnvoll framen lassen. Dieses Vorgehen wiegt dabei umso schwerer, insofern Varian auch an späterer Stelle seines Lehrbuchs in keiner Weise die „Diskussion über ‚Umfang und Methoden‘ der Volkswirtschaftslehre“ nachholt. Die Lehrbücher von Mankiw und Taylor einerseits und Pindyck und Rubinfeld andererseits gehen im Vergleich dazu nicht ganz so rigoros vor. Doch fällt auch hier auf, wie die Autoren die Studierenden unmittelbar mit den Gegenständen der Ökonomie konfrontieren. So beginnen sie gerade nicht mit der grundlegenden Frage „Wozu Ökonomik?“ und damit mit der Frage nach der Motivierung dieser Wissenschaft. Stattdessen platzieren etwa Mankiw und Taylor explizit als ersten Satz auf der ersten Seite ihres Lehrbuchs die Frage: „Was ist Ökonomie“? (Mankiw und Taylor 2014, S. 1). Nachdem sie sodann (scheinbar objektiv) zehn
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thematische Aussagen über ökonomische Phänomene treffen (ihre mittlerweile weithin bekannten „10 Principles“), heißt es: „You now have a taste of what economics is all about. In the coming chapters we will develop many specific insights about people, markets and economies. Mastering these insights will take some effort, but it is not an overwhelming task. The field of economics is based on a few basic ideas that can be applied many different situations.“ (Mankiw und Taylor 2014, S. 12)
Wenn man aber mit der Frame-Semantik davon ausgeht, dass jede Aussage über ein Phänomen einen motivierenden Hintergrund voraussetzt (der darüber bestimmt, warum dieses Phänomen überhaupt thematisiert und damit als wichtig erachtet wird, und aus welcher Perspektive ihm Sinn und Bedeutung verliehen wird),16 dann verschweigen Mankiw und Taylor genau diese Gründe. Stattdessen zielen sie darauf ab, die Ökonomie immer schon von der Basis bestimmter „elementarer Ideen“ zu starten und den motivierenden Hintergrund, auf dem diese basieren, im Dunkel vermeintlich unexplizierbarer Tiefen des Vorsprachlichen zu belassen. Bei Pyndick und Rubinfeld nimmt ein solches Verschweigen der eigenen Voraussetzungen der Erkenntnis eine noch extremere Form an. Dabei setzt auch ihr Werk von vornherein bei den „Themen der Mikroökonomie“ an, wobei es gleich im ersten Abschnitt heißt: „Die Rolling Stones haben einmal gesagt: ‚Du kannst nicht immer das bekommen, was du willst‘. Das ist sicher wahr. Für die meisten Menschen (sogar für Mick Jagger) ist die Tatsache, dass man nicht immer das haben oder tun kann, was man will, eine einfache, aber harte Lektion, die sie in der frühen Kindheit gelernt haben. Für Ökonomen kann diese Tatsache allerdings zu einer Besessenheit werden.“ (Pindyck und Rubinfeld 2009, S. 26, meine Hervorhebung)
Im Anschluss an diese Passage „übersetzen“ Pindyck und Rubinfeld die lebensweltliche Aussage „‚Du kannst nicht immer das bekommen, was du willst“ in das ökonomische Konzept der „Tradeoffs“, das sie als beste Abwägung zwischen alternativen Wahlmöglichkeiten definieren (vgl. ebd.) und legen diesem Konzept wiederum „die Rolle der Preise“ zugrunde (vgl. ebd., S. 28). Dabei bleiben im
16Vgl.
etwa: „Ein adäquates Verstehen eines Textes ist […] daher auch immer gleichzusetzen mit dem Verstehen der motivierenden Gründe, die dazu geführt haben, dass ein in diesem Text enthaltenes Wort [oder eben eine gesamte textliche Aussage, S.G.] überhaupt entstanden ist“ (Busse 2012, S. 229).
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S. Graupe
Hintergrund die Aussagen der gerade zitierten Textpassage erhalten: Es soll sich dabei um sichere Wahrheit, um Tatsachen, um Fakten handeln. Doch aus frame-semantischer Perspektive sind weder lebensweltlich noch wissenschaftlich begründete Tatsachen einfach von sich aus wahr oder faktisch gegeben. Selbst die „Tatsachen“ der Ökonomik ergeben sich als solche stets nur innerhalb eines kognitiven Deutungsrahmens, der ihnen systematisch vorausliegt. Doch die Studierenden erfahren von all diesen Überlegungen nichts. Stattdessen soll ihnen das (vermeintlich) Wahre und Tatsächliche, die „brutalen Wahrheiten“, wie sie Samuelson und Nordhaus nennen (vgl. 2005, S. 3), zur Besessenheit werden können.17 Wie aber kann dies sein? Mir scheint der Grund hierfür darin zu liegen, dass die Studierenden gleich von Beginn an mit thematischen Aussagen konfrontiert werden, die stets aus der Perspektive des Endpunkts aller motivationalen Überlegungen, wie ich sie am Beispiel einiger Texte aus dem Begründungszeitraum der neoklassischen Theorie in den vorangegangenen Abschnitten rekonstruiert habe, formuliert sind: allein von der Spitze des semantischen Eisbergs der neoklassischen Theorie wird die Frage nach dem Wahren und den (scheinbaren) Fakten und Tatsachen der Wirtschaft gestellt und beantwortet. Weder wird den Studierenden je gesagt, warum noch wie sie diese Spitze erklimmen sollen. Sie können sich diesen Standpunkt lediglich unbewusst aneignen, indem sie die Perspektive der Lehrbücher wieder und wieder imitieren. Dafür werden sie auch stillschweigend lernen müssen, ihre eigenen Motive, Ziele und Gründe, die sie in ihr Studium hineintragen, sofern diese mit den von den Lehrbüchern implizit
17Auch
wenn der Begriff „Besessenheit“ (im englischen Original: „obsession“) von Pindyck und Rubinfeld auch nicht bewusst gewählt worden sein mag, so handelt es sich aus frame-semantischer Sicht um eine durchaus treffsichere Wortwahl: Laut Duden meint Besessenheit „von etwas völlig beherrscht oder erfüllt“ zu sein. Wachgerufen wird mit diesem Begriff die Vorstellung eines Menschen, der durch andere Wesen oder übernatürliche Kräfte wie in Besitz genommen ist, sodass er nicht mehr eigenständig denken und handeln kann, sondern eher am Rande des Wahnsinns operiert und sich im Verhalten und im Bewusstsein vollständig ändert. Indem Pindyck und Rubinfeld diesen Begriff nutzen, erwecken sie also das Bild von Ökonomen, die von scheinbar „lebensweltlichen Tatsachen“ so vollkommen beherrscht sind, als wäre ihr Denken fremdgesteuert. Was die diese Tatsachen überhaupt erst als Tatsachen erscheinen lässt und warum sie als wahr gelten sollen: Darüber können sie ebenso wenig wissen, wie ein Wahnsinniger, der von Dämonen und Geistern übermannt wird, ohne sie selbst je gerufen zu haben. Inhaltlich hat diese Haltung zur Folge, dass in den Standardlehrbüchern ein Mythos im wahren Sinn des Wortes propagiert wird: der „des Marktes“ in der Einzahl, der wie ein handelndes Subjekt auftritt. Vgl. dazu im Detail Ötsch (2019).
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vorausgesetzten im Konflikt stehen, aufzugeben oder doch zumindest tiefgreifend umzuwandeln. Sie müssen lernen, einen Bewusstseinswandel zu vollziehen, der bis tief in die subjektiven Wertvorstellungen ihrer Motivierungen zu reichen vermag, ohne je dazu angeleitet worden zu sein, dies ausdrücklich zu reflektieren. Eine bewusste Entscheidungsfindung kann so als ausgeschlossen gelten (vgl. Graupe und Steffestun 2018). In den Werken der neoklassischen Theorie, die ich in den vorangegangen Abschnitten untersucht habe, zeigte sich das Streben nach Wissenschaftlichkeit als dominierende Motivierung: Weil man dem Vorbild der physikalisch-mathematischen Wissenschaften nacheifern will, deswegen wendet man sich den ‚reinen Fakten‘ zu. Diese Motivierung wird in den ökonomischen Standardlehrbüchern nun zwar stillschweigend geteilt, zugleich aber verschleiert. Dies lässt sich an zumindest vier Beispielen verdeutlichen: Erstens wird in den untersuchten Lehrbüchern diese Motivlage nicht klar adressiert, Motive werden, wenn überhaupt, nur kursorisch angesprochen.18 Insbesondere bei Varian fehlen dazu, wie gesagt, jegliche Explikationen. Eine Diskussion über „Umfang und Methoden“ der Volkswirtschaftslehre wird nicht nur unterbunden; sie wird sogar als unangebracht abgestempelt und ausdrücklich geringgeschätzt (vgl. erneut Varian 2007, S. 1). Wie sollen Studierende aber auch nur auf den Gedanken kommen können, dass sie die Themen und Konzepte ihrer Disziplin nur verstehen und sich zu eigen machen können, wenn sie ihre eigenen
18Mankiw
und Taylor (2014) sprechen auch vom Motiv, den Studierenden „Thinking like an economist“ beizubringen (so die Überschrift des zweiten Kapitels des Lehrbuchs), aber das ist der besagten thematischen Schwerpunktsetzung nicht etwa vor-, sondern nachgelagert. In der zweiten Abschnittsüberschrift wird dies gleich überführt als „The Economist as Scientist“: „Economists try to address their subject with a scientist’s objectivity. They approach the study of the economy in much the same way as a physicist approaches the study of matter and a biologist approaches the study of life: they devise theories, collect data and analyse the data in an attempt to verify and refute these theories. There is much debate about whether economics can ever be a science – principally because it is dealing with human behavior. The essence of any science is scientific method – the dispassionate development and testing of theories about how the world works. The method of inquiry is as applicable to studying a nation’s economy as it is to studying the Earth’s gravity or a species’ evolution“ (Mankiw und Taylor 2014, S. 17, Hervorhebung im Original). Bei Pindyck und Rubinfeld (2009) findet sich ein entsprechender Unterabschnitt „Theorien und Modelle“, der denen über „Tradeoffs“ und „Preisen und Märkten“ ebenfalls nachgestellt ist. Diese Ausführungen sind in keinerlei Hinsicht ideen- und kulturgeschichtlich verankert. Ebenso wenig geben sie irgendeinen systematischen Hinweis darauf, dass die Frage nach den Zielen und Motiven der Ökonomik fundamental für die Auswahl, Perspektivierung, ja überhaupt die Sinnhaftigkeit der durch sie behandelten Themen ist.
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Zielsetzungen des Wissenserwerbs denen der Ökonomik als reiner Wissenschaft angleichen und dafür insbesondere dem Streben nach praktischem Ratgebens im Sinne der Politischen Ökonomie als Ethik und als Kunst entsagen? Zweitens wird in Zusammenhang damit die Ökonomik als Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften apodiktisch gesetzt, aber die tatsächlichen Parallelen zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem ökonomischen Denken verschleiert und nicht explizit diskutiert – durchaus im Gegensatz zu den ersten Neoklassikern. Wie Ökonominnen und Ökonomen ihre Wissenschaft betreiben, soll damit von vornherein feststehen. Welche Entscheidungen dafür in den tieferen Schichten des motivationalen Frames bereits getroffen sein müssen, wird mit keinem klaren Wort erwähnt. Pindyck und Rubinfeld sprechen zum Beispiel nur von einer „sehr ähnlichen Situation“ in den Wirtschaftswissenschaften, auch seien die Naturwissenschaften „vielleicht“ auch nur begrenzt erfolgreich, weil auch sie Realität nicht vollständig erfassen könnten. Die Gefahr ist hier, dass Studierende aus dem Text nur auf unbewusste Weise einen Appell an die Autorität der Naturwissenschaften werden wahrnehmen können, der sie womöglich zu einer eher blinden Akzeptanz des Gesagten, statt zu einem vertieften Nachdenken verleitet (vgl. Graupe 2017b). Auch die wenigen wissenschaftstheoretischen Ausführungen legen diesen Schluss nahe. Bei Pindyck und Rubinfeld machen sie beispielsweise gerade einmal drei Seiten von insgesamt 936 Textseiten aus. Sie beginnen dabei zunächst mit knappen Aussagen zu Theorien und Modellen, die aber keinerlei Hinweise auf deren motivationalen Frame zu geben vermögen (vgl. ebd. S. 29). Nach zwei weiteren Absätzen über Prognosen und die Korrektheit von Theorien heißt es sodann recht unvermittelt: „Bei der Bewertung einer Theorie ist es wichtig zu berücksichtigen, dass diese zwangsläufig nicht absolut korrekt sein kann. Dies trifft auf alle Wissenschaften zu. So setzt in der Physik beispielsweise das Boylesche Gesetz Volumen, Temperatur und Druck eines Gases zueinander in Beziehung. Dieses Gesetz beruht auf der Annahme, dass sich die einzelnen Gasmoleküle so verhalten, als wären sie winzige, elastische Billardkugeln. Die heutigen Physiker wissen allerdings, dass sich die Gasmoleküle nicht immer so verhalten. Aus diesem Grund versagt das Boylesche Gesetz bei extremen Druckverhältnissen und Temperaturen. Unter den meisten Bedingungen kann allerdings mit diesem Gesetz exzellent prognostiziert werden, wie sich die Temperatur eines Gases ändern wird, wenn Druck und Volumen sich ändern. Deshalb ist das Boylesche Gesetz ein wichtiges Instrument für Ingenieure und Wissenschaftler. Die Situation in den Wirtschaftswissenschaften ist sehr ähnlich. So maximieren beispielsweise Unternehmen ihre Gewinne nicht ständig. Vielleicht ist die Theorie der Unternehmung deshalb bei der Erklärung bestimmter Aspekte des Verhaltens von Unternehmen, wie z. B. der Wahl des Zeitpunkts für
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153
eine Entscheidung über Kapitalinvestitionen, nur sehr begrenzt erfolgreich. Trotzdem erklärt die Theorie eine Vielzahl von Phänomenen im Hinblick auf das Verhalten, das Wachstum und die Entwicklung und ist somit zu einem wichtigen Instrument für Manager und politische Entscheidungsträger geworden“ (Pindyck und Rubinfeld 2009, S. 30).
Man sieht sich hier an Walras erinnert. So nehmen auch Pindyck und Rubinfeld Anleihen bei den Naturwissenschaften, speziell der Physik. Dabei setzen sie nicht im Allgemeinen, sondern bei einem spezifischen Teilgebiet der Physik an. Auch setzen sie die Möglichkeit einer reinen Wissenschaft voraus, die sich sodann auf die Praxis anwenden können lassen soll. Doch was sich zumindest bei Walras noch ausdrücklich als Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis herausgearbeitet und zumindest ansatzweise begründet findet, wird nun vollständig als gegeben vorausgesetzt. Nicht steht zur Frage, ob sich eine reine Ökonomik überhaupt begründen lässt, sondern allein noch die völlig anders gelagerte Frage, wo sie eingesetzt werden kann. Interessant ist dabei, wie wesentliche Kategorien des motivationalen Frames, wie er bei Walras in seiner Differenziertheit deutlich wurde, nun vollständig durcheinandergeraten: So bezieht sich in der neoklassischen Theorie das Kriterium der „Wahrheit“ eindeutig auf Fragen innerhalb der rein abstrakten Wissenschaft. Hier nun aber wird dieses Kriterium hin zu einer „absoluten Korrektheit“ verschoben und unmittelbar konstatiert, dass dieses nie zu erreichen sei, sowie sogleich dennoch vom potentiellen „Erfolg“ ökonomischer Theorien wie die der Gewinnmaximierung gesprochen. Wie und woran aber sollte sich beides – Korrektheit und Erfolg – bemessen? Als mögliche Antworten wird unvermittelt einerseits auf die Erklärungskraft abgestellt (ohne zu sagen, wie diese ermittelt werden könnte) und andererseits auf die Bedeutung der Theorie als Instrument der Praxis. Wie sich dies tatsächlich klar denken können lassen sollte, bleibt schleierhaft. Auf diese Weise wird zwar die Motivierung, eine reine Wissenschaft um ihrer selbst willen zu betreiben, nirgendwo erwähnt, dennoch aber mithilfe metaphorischer Anleihen bei den Naturwissenschaften als notwendige Basis allen Denkens über Wirtschaft doch stillschweigend postuliert. Offensichtlich muss man zunächst (reine) Theorien und Modelle entwerfen, um erst dann mit ihrer Hilfe etwas über den Zustand der Welt zu erfahren. Die alternativen Wege des Denkens, die (wie noch bei Walras) im Sinne der Kunst und Ethik unmittelbar zum praktischen Ratgeben im Hinblick auf die Schaffung und Verteilung von Reichtum und Wohlergehen führen könnten, klingen im Gegenzug noch nicht einmal andeutungsweise an. Man zielt zwar irgendwie auf „Praxis“ ab, aber nur auf dem – wenn auch unklaren – Umweg über die reine Wissenschaft.
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Was in der Anfangszeit der neoklassischen Theorie also klar als alternative Zielsetzungen ins Bewusstsein treten konnte – praktisches Ratgeben hier, theoretische Kontemplation dort –, wird nun gleichsam irgendwie in Serie geschaltet. Man scheint letztere praktizieren müssen, um zu ersterer überhaupt vordringen zu können.19 Drittens erfolgt eine klare Abwertung des politischen (bzw. politökonomischen) Denkens, die stillschweigend auf dem eben angesprochenen Vorrang der reinen Theorie vor seiner Anwendung basiert. So definieren Mankiw und Taylor (2014) (im Gegensatz zu anderen Lehrbüchern) im Abschnitt „The Economist as Policy Advisor“ am Beginn ihres Buches zwar, dass das politische Ratgeben zum Aufgabenfeld des Ökonomen oder der Ökonomin gehören kann: „When economists are trying to explain the world, they are scientists. When they are trying to help to improve it, they are policy advisors.“ (ebd., S. 23)
Zugleich aber zementieren sie die Kluft zwischen diesem Aufgabenfeld und jenem der theoretischen Kontemplation: Man kann sich entweder wie ein Wissenschaftler oder wie ein politischer Berater verhalten. Sodann postulieren sie, dass diese Kluft sich auf einen unterschiedlichen Gebrauch von Sprache zurückführen lässt: „To help clarify the two roles that economists play, we begin by examining the use of language. Because scientists and policy advisors have different goals, they use language in different ways. For example, suppose the two people are discussing minimum wage laws: Pascale: Minimum wage laws cause unemployment. Sophie: The government should raise the minimum wage. There is a fundamental difference in these two statements. Pascale’s statement is spoken like that of a scientist: she is making a claim about how the world works. Sophie is speaking like a policy advisor: she is making a claim about how she would like to change the world.
19Aus
rhetorischer Sicht ist dies ein guter Schachzug: Es lassen sich Studierende bei ihrem Drang, Wirtschaft und Gesellschaft konkret gestalten zu wollen, abholen und dennoch zunächst (d. h. wahrscheinlich für ihr gesamtes Studium!) strikt auf die reine theoretische Kontemplation verpflichten. Ob dieser Zug von den Autoren intendiert ist oder nicht, lässt sich allerdings nicht feststellen.
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Pascale is making a positive statement. Positive statements are descriptive. They make a claim about how the world is. Positive statements have the property that the claims in them can be tested and confirmed, refuted or shown to not be provable either way. A second type of statement, such as Sophie’s, is normative. Normative statements are prescriptive. They make a claim about how the world ought to be.“ (ebd., S. 23 f.)
Auf den ersten Blick wirkt es so, als könnte sich hier ein plurales Verständnis von Ökonomie ergeben. Aber zugleich wird (wie in allen untersuchten Standardlehrbüchern) dem Bereich der Politik keine eigene Sprachlichkeit zugebilligt. Aus der Perspektive Mankiws und Talyors, die von vornherein jene der Ökonomik ist, gerät die ganze Frage des Motivs, die Welt gestalten und politischen Rat erteilen zu wollen, zu einem bloßen Stereotyp, das fast ausschließlich durch die Begriffe „normativ“, „Wert“ und „Sollen“ geprägt ist. Während sprachlich gut markiert wird, sie sich eine „positive Analyse“ tatsächlich betreiben läst – to devise theories, to collect data, to analyse, to verify, to refute etc. –, so findet sich kaum ein Hinweis, wie man im Denken zu „normativen Urteilen“ kommen könnte. Vielmehr scheint man diese Urteile nur haben oder besitzen zu können – und dies wiederum lediglich im Sinne einer bloßen Meinung: „Normative statements have the property that they include opinion; it is not possible to test opinions and confirm or reject them.“ (ebd., S. 24)
Die Differenzierung zwischen wissenschaftlichem und politischem Denken impliziert viertens auch einen Ausschluss aller normativen Überlegungen aus dem Gegenstandsbereich der Ökonomie. Normative Analyse, einst das Hoheitsgebiet der Politischen Ökonomie als moralischer Wissenschaft, gerät zu einer reinen Glaubenssache, während die Ökonomie als reine Wissenschaft im klaren Licht der Fakten zu stehen scheint: „Economists could engage in positive analysis to test whether there is any evidence to support the statement but equally could engage in normative analysis on the basis that there are many people who believe that reducing the deficit will benefit the economy.“ (ebd., meine Hervorhebung)
Ein genaueres Beispiel: Pindyck und Rubinfeld unterscheiden zunächst zwischen „positiver und normativer Analyse“ (ebd., S. 30) wobei sie erstere als „Analyse zur Beschreibung der Beziehung von Ursache und Wirkung“ und die zweite als „[d]ie Frage danach stellen, ‚was das Beste‘ ist“ definieren (2009, S. 30 und 31). Die Frage der normativen Analyse lassen sie sodann in einen Frame
156
S. Graupe
von Begriffen wie „alternative politische Ordnungen“, „Gestaltung bestimmter politischer Entscheidungen“, „Wünschenswertigkeit“ und „Werturteile“ ein (vgl. ebd., S. 31). Damit ist eindeutig der Frame der moralischen Wissenschaft bzw. Ethik mit seinem Selbstverständnis einer Politischen Ökonomie im Dienste der Politik, mit den praktischen Ideen zum Ratgeben und dem Wertmaßstab des Guten (etwa im Sinne des Fairen oder Gerechten) aufgerufen. Doch sodann erfolgt ebenso wie bei Marshall auch schon dessen Ausschluss aus der Ökonomik: „Die normative Analyse beschäftigt sich nicht nur mit alternativen politischen Optionen, sie beinhaltet auch die Gestaltung bestimmter politischer Entscheidungen. Nehmen wir z. B. an, dass entschieden worden ist, dass eine Kraftsteuer wünschenswert ist. Nach dem Abwägen von Kosten und Nutzen stellen wir die Frage nach der optimalen Höhe der Steuer. Die normative Analyse wird oft durch Werturteile ergänzt. […] An diesem Punkt muss die Gesellschaft ein Werturteil fällen, bei dem Gerechtigkeit und wirtschaftliche Effizienz abgewogen werden müssen. Wenn Werturteile gefällt werden müssen, kann die Mikroökonomie keine Aussagen darüber treffen, welche die beste Politik ist. Allerdings kann sie die Tradeoffs verdeutlichen und dadurch zur Erhellung der Kernpunkte und zur Entfaltung der Diskussion beitragen“ (ebd., S. 31, meine Hervorhebung).
Damit wird auch hier ein ganzer Zweig des motivationalen Frames der Politischen Ökonomie aus dem Bereich des Wissenschaftlichen eliminiert, eben jener der moralischen Wissenschaft, der Ethik.20 Moralische Aussagen gelten (wie oben zitiert) nur als bloße Ansichten, die innerhalb der Ökonomie nicht weiter zu diskutieren sind und denen keine eigene wissenschaftliche Sprachlichkeit einzuräumen ist. Sie drohen ins rein Private, jedenfalls aber ins Unwissenschaftliche abzugleiten. Ist etwa eine bestimmte Abgabenlast gerecht? Die Ökonomik soll uns nichts darüber sagen können. Entsprechend heißt es auch bei Mankiw und Taylor:
20Ähnliches
gilt auch für den Zweig der Kunst im Sinne der praktischen Wissenschaft, wenngleich diese Exklusion deutlich subtiler verläuft. Denn das Bestreben, der Bevölkerung unmittelbar ein reichliches Einkommen zu sichern und hierfür Kriterien des Praktischen und Zweckdienlichen als Wertmaßstäbe zu entwickeln und zur Anwendung etwa in der politischen Ratgebung zu bringen, wird nirgends auch nur ansatzweise thematisiert, sondern schlicht verschwiegen: Da es sich nicht in die Distinktion zwischen positiver und normativer Analyse einordnen lässt, handelt es sich schlicht um ein ausgeschlossenes Drittes: Wird die Normativität wenigstens noch als solche genannt und sodann als unwissenschaftlich gebrandmarkt und aus der Ökonomik verbannt, so findet die praktische Wissenschaft überhaupt keine Erwähnung mehr. Die Trittsteine ihrer mentalen Infrastruktur bleiben vollständig unterhalb der Oberfläche bewusster Erkenntnis verborgen.
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„Policies cannot be judged on scientific grounds alone. Economists give conflicting advice sometimes because they have different values. Perfecting the science of economics will not tell us whether it is Anneka or Henrik who pays too much.“ (Mankiw undTaylor 2014, S. 25)
Gewiss ist diese Einsicht aus frame-semantischer Sicht richtig: Wenn man die Wissenschaft der Wirtschaft allein mit dem (Sub)Frame der Ökonomik gleichsetzt, dann kann sie nichts mehr über moralische Fragen aussagen. Das Problem liegt aber darin, dass diese Bedingung und vor allem ihr Umkehrschluss niemals expliziert werden: Ließe man die Engführung auf die Ökonomik im Sinne der reinen Wissenschaft fallen, dann könnte sie nicht nur, sie müsste etwas über moralische Fragen aussagen können – es wäre eine ihrer ureigenen Aufgaben.21 So aber weiß man als Anfängerin oder Anfänger der Ökonomie bestenfalls um unterschiedliche Werte, aber wie sie diskutiert werden könnten, darüber erfährt man nichts. Und in der Folge lernt man auch nichts darüber zu wissen, wie sich diese Werte womöglich gar entwickeln ließen. Stattdessen einem wie bereits im Werk Marshalls kaum etwas anderes, als Fragen moralischer Werte im Verhältnis zum Wahrheitsstreben der Ökonomik in den Hintergrund zu drängen und nicht mehr als gleichberechtigt, sondern allenfalls als nachrangig anzusehen:
21Denn
auch dem Frame der Ökonomie als (reine) Wissenschaft liegt grundsätzlich ein Werturteil zugrunde: Die Entscheidung nämlich, eben nur nach reiner wissenschaftlicher Wahrheit streben zu wollen; die Wertvorstellung also, sich aller weltlichen Urteile unmittelbar entsagen zu müssen. Offensichtlich ist genau diese Wertvorstellung bereits ins Unausgesprochene und damit Selbstverständliche und eher Unbewusste sedimentiert. Sie erscheint so selbstverständlich, als dass sie niemals begründet werden müsste. Dies wiederum hat dramatische Folgen: Mankiw und Taylor schreiben so stark aus der Perspektive des Kriteriums der reinen Wahrheit, dass ihnen dies wie automatisch nicht mehr als wissenschaftliches Kriterium, sondern als Kriterium des Faktischen an sich gilt: Die positive Wissenschaft soll die Welt so beschreiben können, wie sie wirklich ist. Der eigene Wertmaßstab der Wahrheit im streng wissenschaftlichen Sinne wird mit Wahrheit in einem realen Sinne verwechselt. Wie die Welt aus Sicht der reinen Wissenschaft erscheint, so soll sie auch wirklich sein. Da man um die Tiefenschichten dieses Frames und der Möglichkeiten anderer Weltverständnisse, die sich in ihm an den verschiedenen Knotenpunkten eröffnen, nicht mehr explizit weiß, gerät hier das eigene Denken so stark zur vermeintlich absoluten Wahrheit, dass sie das eigene Wirklichkeitsverständnis absolut beherrscht – und dies, obwohl die reine Wissenschaft gerade umgekehrt ursprünglich nach Entsagung allen weltlichen Wissens zu Gunsten einer rein weltabgewandten theoretischen Kontemplation strebte.
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„Our normative conclusions cannot come from positive analysis alone; they involve value judgements as well. Normative analysis has its value but it may be necessary to carry out positive analysis first in order to inform the normative.“ (ebd., S. 24)
Abb. 5 und 6 veranschaulichen exemplarisch zwei Frames ökonomischer Standardlehrbücher. Abb. 5 visualisiert dabei die besondere semantische Armut des Lehrbuchs von Varian: Allein an der Oberfläche der Objekte wissenschaftlicher Analyse lassen sich überhaupt erste bewusste Aussagen über das know-how der Ökonomik finden; alle anderen vorhergehenden Bereiche der mentalen Infrastruktur der Ökonomik werden vorausgesetzt, nicht aber expliziert. Die geistige Monokultur, wie sie durch Jevons, Fisher etc. begründet wurde, hat hier nun auch noch das letzte
Exchange / Prices / Quantities What Objects? Mathematical Calculation How to?
?
? Economics
Abb. 5 Varian. (Quelle: eigene Darstellung)
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People / Markets / Economies What Objects? Political Advice
Theoretical Contemplation
How to?
?
? Pursuit of Purely Scientific Truth
What Goal? Pure Science Character?
Values / Personal Beliefs /
Mathematical Science
Economics
Abb. 6 Mankiw/Taylor. (Quelle: eigene Darstellung)
Wissen um ihren eigentlichen Ursprung verloren. Demgegenüber finden sich bei Mankiw und Taylor (vgl. die Abb. 6) zumindest noch Spuren der Explikation des Anspruchs der Ökonomik, eine theoretische Kontemplation betreiben zu wollen; alle tieferen Schichten hingegen werden ebenfalls nicht oder kaum mehr expliziert. Zudem wandelt man hier noch ein wenig auf den von Marshall gelegten Spuren, indem die Wissenschaft vom bloß alltäglichen Wissen abgegrenzt wird. Doch ist im Bezug auf letzteres keineswegs mehr von moralischen und praktischen Fähigkeiten mehr die Rede, sondern allein noch von einem bloß persönlichen Glauben und Meinen. Wie ein solches zur politischen Ratgebung führen bzw. beitragen soll, bleibt dabei semantisch unklar.
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7 Verfälscht und missbraucht: P olitischideologisches Reframing am Beispiel des Lehrbuchs von Samuelson und Nordhaus Zunächst scheint sich den Economics von Samuelson und Nordhaus (2005) kaum etwas Neues zu finden. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, wie in diesem Lehrbuch die ursprünglichen Motivlagen der Ökonomie als reiner, praktischer und moralischer Wissenschaft mit ursprünglich vollkommen disziplinfremde Fillern besetzt werden, die sich in dem in diesem Beitrag bislang rekonstruierten motivationalen Frame in keinerlei Weise wiederfinden. Die Folge ist, dass die mentale Infrastruktur der Ökonomik insgesamt durcheinander gerät und in ihr wesensfremde und zugleich klar politisch-ideologische Motive eingelagert werden.22 Im Folgenden sei dies kurz anhand des Abschnitts „Cool Heads at the Service of Warm Hearts“ der Economics demonstriert, den ich Absatz für Absatz analysieren werde. Im ersten Absatz dieses Abschnitts heißt es: „Economics has, over the last century, grown from a tiny acorn in a mighty oak. Under its spreading branches we find explanations of the gains from international trade, advice on how to reduce unemployment and inflation, formulas for investing your retirement funds, and even proposals for selling the rights to pollute. Throughout the world, economists are laboring to collect data and improve our understand of economic trends.“ (ebd., S. 6)
Hier werden offensichtlich Formen der Aktivitäten sowohl der politischen Ökonomie als praktische und moralische Wissenschaft („advice“, „proposals“) als auch der Ökonomik als reine Wissenschaft („explanations“, „formulas“, „collect data“, „improve understanding“) angesprochen und damit zunächst zumindest in gröbsten Zügen ein Panorama auf den gesamten motivationalen Frames der Ökonomie eröffnet. Im nächsten Absatz widmen sich Samuelson und Nordhaus sodann unvermittelt der Grundfrage nach der Motivierung der Ökonomie: „You might well ask, What is the purpose of this army of economists measuring, analyzing, and calculating? The ultimate goal of economic science is to improve the living conditions of people in their everyday lives. Increasing the gross domestic product is not just a numbers game. Higher income means good food, warm houses, and hot water. They mean safe drinking water and inoculations against the perennial plagues of humanity“ (ebd., Hervorhebung im Original).
22Dies
findet sich auch in den anderen untersuchten Lehrbüchern, insbesondere bei Mankiw und Taylor, wohl aber in schwächerer Form. Vgl. auch Graupe (2017b).
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Dabei vollzieht sich nicht nur eine klare Verankerung im Bereich des Zieles der politischen Ökonomie („to improve the living conditions of people in their everyday lives“), auch findet eine klare Abgrenzung zur Ökonomik als reine Wissenschaft statt („not just a numbers game“). Zugleich aber werden Aktivitäten genannt („measuring, analyzing, and calculating“), die genau dieser reinen Wissenschaft zuzuordnen sind. Auf diese Weise kommt es zu einer wirren Vermischung der verschiedenen semantischen Zweige der Politischen Ökonomie als Kunst und reiner Wissenschaft, ohne dass es hierauf irgendeinen expliziten Hinweis gäbe. Es ist, als würde man die Slots und Filler des semantischen Netzwerks in ein großes Gefäß geben und einmal ordentlich durchschütteln. Und mitten in diesem semantischen Chaos, das angehende Ökonominnen und Ökonomen nur verwirren kann, vollzieht sich sodann, wenngleich fast unmerklich, ein schwerwiegender Kategorienwechsel auf der Ebene der Filler: Das allgemeine motivationale Ziel, als Ökonom oder Ökonomin die Lebensbedingungen von Menschen verbessern zu wollen, wird unmittelbar allein durch das weitaus spezifischere Ziel der Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes konkretisiert. Nicht mehr der politische Rat im Allgemeinen wird hier als Ziel ausgegeben, sondern eine ganz spezifische Form der politischen Aktivität selbst. Und noch mehr: Ein erhöhtes Einkommen wird automatisch an konkret verbesserte Lebensbedingungen gekoppelt – und dies nicht nur in einer stereotypen, sondern zugleich auch emotionalisierenden Art und Weise: Wer wollte schon nicht für sauberes Trinkwasser und gegen die Seuchen der Menschheit kämpfen wollen? Welcher Mensch wollte nicht auf dieser Seite humanitärer Motivlagen zu stehen? Die Motivation, Wissenschaft zu betreiben, rückt auf diese nahe daran, sich zum Apologeten wirtschaftlichen Wachstums aufzuschwingen; eine Tendenz, die sich im folgenden Abschnitt nochmals verstärkt: „Higher incomes produce more than food and shelter. High-income countries have the resources to build schools so that young people can learn to read and develop the skills necessary to use modern machinery and computers. As incomes rises further, nations can afford scientific research to determine agricultural techniques appropriate for a country’s climate and soil or to develop vaccines against local diseases. With the resources freed by economic growth, people have free time for artistic pursuits, such as poetry and music, and the population has the leisure time to read, to listen, and to perform. Although there is no single pattern of economic development, and cultures differs around the world, freedom from hunger, disease, and the elements is a universal human goal.“ (ebd.)
In nicht einmal fünfundzwanzig Halbzeilen findet sich das Ziel, die konkreten menschlichen Lebensbedingungen zu verbessern, unmittelbar daran gekoppelt,
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Einkommenswachstum uneingeschränkt zu befürworten. Nur mit und durch dieses Wachstum hindurch sollen sich die „universellen menschlichen Ziele“ der Befriedigung von Grundbedürfnissen verwirklichen lassen. Dabei geht es allerdings nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, um praktische Fragen, wie sich das Volkseinkommen tatsächlich erhöhen ließe. Auch steht nicht zur Debatte, ob die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts tatsächlich als geeignetes Mittel zur Mehrung des Wohlstands angesehen werden kann. Damit umschiffen die Lehrbuchautoren nicht zuletzt auch die Frage, um die es der politischen Ökonomie eigentlich einmal gegangen war: die Frage nach gerechter und fairer Verteilung des Einkommens. Stattdessen gerät allein die absolute Höhe des Volkseinkommens in den Fokus, sodass die ursprünglichen Wertmaßstäbe der Ökonomie als moralischer Wissenschaft ausgeklammert werden und ein alleiniges numerisches Ziel – eigentlich ein Maßstab der Ökonomie als reiner Wissenschaft – an ihre Stelle tritt. Damit ist der semantischen Umdeutung nicht genug. Weiter heißt es: „But centuries of human history also show that warm hearts alone will not feed the hungry or heal the sick. A free and efficient market will not necessarily produce a distribution of income that is socially acceptable. Determining the best route to economic progress or an equitable distribution of society’s output requires cool heads, ones that objectively weigh the costs and benefits of different approaches, trying as hard as humanly possible to keep the analysis free from the taint of whishful thinking. Sometimes, economic progress will require shutting down an outmoded factory. Sometimes, as when the formerly socialist countries adopted market principles, things get worse before they get better. Choices are particularly difficult in the field of health care, where limited resources literally involve life and death.“ (ebd., S. 7)
Hier herrscht zunächst eine semantische Verwirrung. So bleibt etwa ein Rätsel, warum dieser Absatz mit einem „aber“ („but“) an den vorherigen angeschlossen wird. Auch ist unklar, für was die „warmen Herzen“ stehen sollen. Lediglich implizit lässt sich hier auf einen moralischen Standpunkt schließen, dem allerdings keine eigene wissenschaftliche Ausdrucksfähigkeit zugebilligt wird (wie es im Frame der Politischen Ökonomie als Ethik einst noch selbstverständlich war), ja noch nicht einmal die Intelligenz des Common Sense. Stattdessen wird hier sprachlich der Eindruck einer reinen Gefühlsmäßigkeit, eines rein emotionalen Standpunkts erweckt. Und für was soll man sich nun „erwärmen“? Für den bedingungslosen Kampf für Wachstum? Und was hat hiermit der „freie und effiziente Markt“ zu tun, wie er unvermittelt als Begriff eingeführt wird? All dies bleibt unklar. Doch bevor
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dies auch nur aufzufallen vermag, vollzieht sich erneut ein semantischer Sprung, mit dem die Autoren zur eigentlichen Frage nach den wünschenswerten Aktivitäten von Ökonominnen und Ökonomen zurückkehren. Diese lagern sie dabei unvermittelt und überraschenderweise nun wieder im (Sub-) Frame der Ökonomie als reiner Wissenschaft ein, indem sie zu Distanziertheit, Objektivität und dem reinen Abwägen von Fakten als wissenschaftliche Kerntugenden des Ökonomen aufrufen und alle anderen möglichen (wissenschaftlichen) Aktivitäten zum „reinen Wunschdenken“ degradieren. Doch wozu hier tatsächlich den „kühlen Kopf“ bewahren? Die Antwort lautet nicht etwa, um nach reiner wissenschaftlicher Wahrheit um ihrer selbst willen zu streben, wie es im Bereich der Ökonomik eigentlich nach neoklassischem Vorbild der Fall sein sollte. Der kühle Kopf – in der Neoklassik das Ideal des weltabgewandten, rein um wissenschaftliche Wahrheit bemühten Denkers – wird stattdessen unter der Hand politisch instrumentalisiert: Es sollen auf dem ureigenen Felde der Politischen Ökonomie als Ethik und Kunst – eben jenem des Ringens um den richtigen wirtschaftspolitischen Rat – keine Kriterien der Fairness und Gerechtigkeit mehr gelten dürfen. Stattdessen sollen an ihre Stelle eine Mitleidlosigkeit gegenüber den Verlierern des ökonomischen Wachstumsstrebens und ein blinder Glaube an dieses Streben treten.23 Kein neoklassischer Ökonom des 19. Jahrhunderts wäre darauf je gekommen. Diese Umkehrung aller Wertmaßstäbe, die die kühle Distanziertheit wissenschaftlicher Objektivität nicht mehr dem Streben nach reiner wissenschaftlichen Wahrheit zuordnet, wie es in den Ursprüngen der Neoklassik der Fall war, sondern nun gleichsam wie ein trojanisches Pferd in den Bereich der ursprünglichen Politischen Ökonomie als Ethik und als Kunst schiebt, verschärft sich nochmals im darauffolgenden Absatz: „You may have heard the saying, ‚From each according to his ability, to each according to his need.‘ Governments have learned that no society can long operate solely on this utopian principle. To maintain a healthy economy, governments must preserve incentives for people to work and to save. Societies can support the unemployed for a while, but when unemployment insurance covers too much for too long, people come to depend upon the government and stop looking for work. If they begin to believe that the government owes them a living, this may dull the sharp edge of enterprise. Just because governments derive from lofty purposes does not mean that they should be pursued without care and efficiency.“ (ebd.)
23Eine
exzellente Untersuchung des Marktfundamentalismus, der hier anklingt, nimmt Walter Ötsch vor. Vgl. Ötsch (2019).
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Hier wird ein ethischer Maßstab kurzerhand in den Bereich des bloß Utopischen verbannt und ebenso unvermittelt wie pauschal durch ein Denken in Anreizen ersetzt. Sodann wird ohne weitere Erklärung oder gar Begründung die Perspektive nicht eines distanzierten wissenschaftlichen Beobachters, sondern einer staatskritischen politischen Weltanschauung eingenommen und von dieser aus kurzerhand über die ethische Frage nach dem Umgang mit jenen, die aus dem System marktförmig organisierter Erwerbsarbeit herausfallen, geurteilt. Dabei wird die Verwirrung dadurch komplementiert, dass dieses Urteil nicht klar moralisch, sondern in Kategorien des Faktischen geframet wird, so als ginge es um die Verkündigung von Tatsache, die unabhängig von jeglichem semantischen Frame universelle Gültigkeit beanspruchen können. Zu guter Letzt führt der Text von Samuelson und Nordhaus im Absatz, der diesen Abschnitt beendet, auf den Kampfplatz politischer Stereotype: die Frage nach der Motivierung ökonomischer Erkenntnis wird im Schwarz-Weiß-Schema eines Kampfes zwischen „dem Markt“ und „dem Staat“ geframt. Spätestens hier wird deutlich, dass es nicht um das Ziel abstrakter wissenschaftliche Wahrheit, sondern um ein politisch motiviertes Ziel geht, das sich allerdings der objektiven Wissenschaft zu bedienen versteht: „Society must find the right balance between the discipline of the market and the compassion of government social programs. By using cool heads to inform our warm hearts, economic science can do its part in ensuring prosperous and just society.“ (ebd.).
Und im Vorwort heißt es gar: „Students like you are marching, and even going to jail, to win the right to study radical ideals and learn from Western textbooks like this one in the hope that they may enjoy the freedom and economic prosperity of democratic market economies“ (xxi).
Abb. 7 versucht das semantische Netz von Samuelson und Nordhaus zu visualisieren, auch wenn dies aufgrund der vielen semantischen Unklarheiten nicht eindeutig zu gelingen vermag. Umdeutungen von Frame-Elementen sind in roter Schrift hervorgehoben. Die geistige Einbahnstraße der Ökonomik wird dabei – wie bei allen anderen ökonomischen Standardlehrbüchern auch – kaum mehr explizit reflektiert, sondern stillschweigend präsupponiert. Dabei finden sich einige semantische Umdeutungen. So wird etwa das Kriterium der wissenschaftlichen Wahrheit in die „brutale Wahrheit“ wirtschaftlicher Fakten
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“ Political Advice
Prescribi ng
165
Frame Element (Filler)
Ergänzende Relaon
Ausprägung eines Frame Elements (Beispiel)
Metaphorische Fundierung
Widerstreitende Relaon
Political Economy
Konzept, das beschrieben werden soll
For whom? Mathematical Science
Konzept, von dem das zu beschreibende Konzept erbt
For whom? Mathematical Calculation
Warm Hearts
Pure Science
Erkenntnisleitende Frage (Slot)
Sllschweigend vorausgesetzte erkenntnisleitende Frage
Default-Wert
Semansch umgedeuteter Filler
?
Semansche Leerstellen (Filler- und Slotbereiche)
Sllschweigend vorausgesetztes Frame-Element
Abb. 7 Samuelson/Nordhaus. (Quelle: eigene Darstellung)
umgedeutet. Ebenso wird der Charakter der reinen Wissenschaft eher als kühle und distanzierte Haltung gegenüber der Welt der Erfahrungen („Cool Heads“) geframet (Abb. 8). Die mentale Einbahnstraße der Ökonomik grenzt sich scharf zu einem Denkweg ab, der als jener des moralischen Denkens kaum mehr zu erkennen ist, da er ausschließlich in rein negativ-abwertenden Konzepten geframet ist und zudem in seiner Spitze eindeutig auf staatliche Intervention zuläuft. Links daneben findet sich ein weiterer Denkweg, der ebenfalls kaum wiederzuerkennen ist: jener des praktischen Wissens. Denn dessen Quellen bleiben semantisch ebenso unklar, wie seine oberen Strukturen überdeterminiert sind, da sie das Denken von vornherein auf eine einzige Idee der Mehrung des Wohlstands festlegen: auf das ökonomische Wachstum, ausgedrückt im Bruttoinlandsprodukt (BIP) und erzielt durch das Walten einer (möglichst) freien Marktwirtschaft.
166
S. Graupe Whom to serve?
Advocacy of Free Markets
Government Intervention
How to?
How to?
GDP
Utopian Principles
What Criteria?
What Criteria?
For the Nation
For Whom?
Economic Growth
What Goal?
?
? Lofty Purposes
Dispassionate Theorizing
? „Brutal Truth“
?
What Goal? Warm Hearts
Cool Heads
?
?
Wishful Thinking
Economics
Abb. 8 Legende (Quelle: eigene Darstellung)
Und ein Weiteres fällt auf: Die Aktivitäten der Ökonomik, die als „mitleidloses Theoretisieren“ konzeptionalisiert werden, sehen sich in den Dienst des Strebens nach Wachstum gestellt. Sie werden schlicht ausgebeutet, auf dass sie einem ihnen gänzlich wesensfremden Ziel dienen mögen. Dies aber heißt: Wissenschaftliche Aktivitäten drohen zu politischen Zwecken missbraucht zu werden, indem angehende Ökonominnen und Ökonomen erstens nicht über die ursprünglichen Motivierungen ihrer dem Ursprung nach reinen Wissenschaft aufgeklärt werden, zweitens ethische Motivierungen diffamiert und drittens Motivierungen einer politischen Ratgebung a priori auf die Befürwortung des Marktes eingeschränkt werden und dann auch noch mit den Mitteln einer abstrakten Wissenschaft realisiert werden sollen. Insofern dabei auch noch mit emotionalisierenden Elementen gearbeitet wird, lässt sich dies aus meiner Sicht,
„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
167
worauf ich an anderer Stelle bereits ausführlich hingewiesen habe, als Beeinflussung oder gar Manipulation bezeichnen (vgl. Graupe 2017b).
8 Fazit In den letzten Jahren sind die Menschenbilder der Ökonomik – allen voran der homo oeconomicus und der rationale Entscheider – vermehrt in die Kritik geraten und u. a. als einseitig und verkürzt zurückgewiesen worden (vgl. etwa Graupe 2013b; Panther und Nutzinger 2004; Thaler 2009; Wilson und Dixon 2012). Auch wird in Debatten etwa um das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007) darauf verwiesen, dass Menschen, indem sie als homo oeconomicus angerufen werden, sich selbst zu eben solchen wandeln können. In diesem Beitrag habe ich eine andere Richtung der Untersuchung eingeschlagen. Dabei habe ich mich von der Überlegung leiten lassen, dass nicht allein die Bilder über den Menschen, sondern vor allem auch die Selbstbilder von Ökonominnen Ökonomen sich als äußerst wirkungsvoll erweisen könnten: Selbstbilder, die im Sinne verborgener Motivierungen als Handlungs- und Haltungsideale im praktischen Tun, im know-how der Ökonomik wirksam sind. Tatsächlich hat mein Beitrag oberflächlich gesehen keine Aussagen über die tatsächliche Wirksamkeit dieser Bilder treffen können, sondern zunächst nur ihre ersten Umrisse in Form von Repräsentationen mentaler Infrastrukturen umreißen können. Doch zeigt sich in der Untersuchung des ökonomischen Textmaterials, das eine Zeitspanne von weit über hundert Jahren umfasst, dass diese Infrastrukturen bei aller Variabilität doch eine erhebliche Kontinuität aufweisen. Sie scheinen von Generation zu Generation weitergegeben zu werden – und zwar ohne dass hierüber je ein ausdrückliches Wissen herrschte. Damit scheinen sie vor allem implizit wirksam zu sein. Doch ist diese Form der Wirksamkeit im Verborgenen, in den Tiefenschichten des semantischen Eisbergs der Ökonomik eingeschlossen. Aus meiner Sicht ist es dringend geboten, sie in Zukunft verstärkt ins Licht bewusster Reflexion zu holen. Denn nur so wird Menschen auch und gerade in der ökonomischen Bildung wieder eine freie Entscheidung für oder wider die Übernahme dieser Bilder ins eigene Selbstverständnis möglich sein. Und diese neu gewonnene Freiheit wiederum wird helfen können, so meine Hoffnung, jener Instrumentalisierung des verborgenen Selbstbilds der Ökonomik zu politisch-ideologischen Zwecken, wie ich sie am Beispiel des Lehrbuchs von Samuelson und Nordhaus zu skizzieren versucht habe, wirkungsvoll entgegenzutreten. Zugleich wird sie auch ermöglichen können, die Politischen Ökonomie
168
S. Graupe
als praktische und als moralische Wissenschaft wiederzuentdecken und damit der Herabwürdigung des Praktischen und Ethischen als bloß privates Meinen und rührselige Gefühlsduselei wirkungsvoll entgegenzutreten und in ihnen als wissenschaftliche Anliegen erneut Bedeutung zu verleihen. Keineswegs zuletzt wird sich damit (wieder) ein plurales Verständnis von Wissenschaft gewinnen lassen, dessen Vielfalt bis weit in die normalerweise unausgesprochenen Tiefenschichten der Motivierung ökonomischen Denkens zu reichen vermag.
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„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
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Bilder in der Geschichte der Ökonomie Das Beispiel der Metapher von der Wirtschaft als Maschine Walter Otto Ötsch Zusammenfassung
Der Beitrag beschreibt die lange Geschichte der Metapher von der Maschine in der Philosophie (seit der Antike) und in der Ökonomik (seit dem 18. Jahrhundert), letztere reicht von den Physiokraten über Adam Smith, Robert Malthus, David Ricardo, John Stuart Mill, Stanley Jevons und Léon Walras sowie Gérald Debreu bis zu Hayeks Konzept einer erweiterten Ordnung. Dabei wird der Mensch immer mehr auf rein maschinenhafte Aspekte reduziert. Es wird gezeigt, dass in der Neoklassik heute zwei sich widersprechenden Metaphern von der Maschine enthalten sind. Schlüsselwörter
Maschinenmetapher · Geschichte der ökonomischen Theorie · Marktmodell · Neoklassik · Hayek
Die Ökonomie als Theorie bzw. früher als Lehre hat wie jede andere Wissenschaft immer Metaphern für ihren Erkenntnisbereich verwendet. Was sind Metaphern und welche Bedeutung kommt ihnen zu?
W. O. Ötsch (*) Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Bernkastel-Kues, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_6
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172
W. O. Ötsch
1 Metaphern: Von schmückenden Worten zu Erkenntnis erzeugenden Instrumenten In einem weiten Begriff können Metaphern als „alle Formen des bildhaften Sprachgebrauchs“ verstanden werden (Weinrich 1976, S. 227): mittels Sprache werden Bilder transportiert. Das griechische Wort metaphérein bedeutet wörtlich übertragen oder hinübertragen. Metaphern projizieren Elemente von einem Quellbereich auf einen Zielbereich, man spricht auch von Bildspender und Bildempfänger. Metaphern galten ursprünglich als Ausdrucksformen der Sprache bzw. der Ästhetik.1 Aristoteles spricht von der Übertragung eines Wortes, er wendet in seiner Definition bezeichnenderweise die Metapher eines Transports von Objekten auf die Sprache an.2 Metaphern beziehen sich nach Aristoteles auf einzelne Worte, die letztlich nur übersetzt bzw. substituiert werden. Die Bedeutung eines Wortes in seiner metaphorischen Verwendung ist gleich der wörtlichen Bedeutung des ersetzten Wortes.3 Für den Erkenntnisprozess werden Metaphern nicht benötigt, diesbezüglich gelten sie als Fehlprädikationen bzw. als überflüssiges Beiwerk. Diese Einschätzung hat mit grundlegenden Positionen zum Problem des Erkennens zu tun. Bis zum hohen Mittelalter hängt bekanntlich das menschliche Erkennen nicht von Sprachmodifikationen ab. Hier wird von der Existenz eine vorsprachliche Ordnung der Gegenstände ausgegangen, wie sie z. B. die unterschiedlichen Varianten des Universalismus behaupten. Die vorgegebene Ordnung der Welt kann vom Menschen (jedenfalls im Prinzip) erkannt sowie durch Sprache (mehr oder minder genau) abgebildet werden. Zum Erkennen werden bildhafte Vergleiche nicht benötigt. Metaphern stellen in diesem Vorgang nur eine Dekoration dar. In der beginnenden Neuzeit wird der Stellenwert der Metapher in der Wissenschaft weiter reduziert. Sowohl im Empirismus als auch im Rationalismus bleibt für den Bereich der Wissenschaft nur die wörtliche Sprache reserviert. Bilder bekommen den Geruch des Irrationalen, im wissenschaftlichen Reden sollte man
1Zur
Geschichte der Metapher vgl. Hawkes (2018). Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie.“ (Aristoteles: Poet. 21; 67), zitiert nach Raschauer (2013), S. 40; d. h. als Definition von und zu Art und Gattung ergeben sich vier Arten von Übertragungen. 3Vgl. Raschauer (2013), S. 52 ff. 2„Eine
Bilder in der Geschichte der Ökonomie
173
sie vermeiden. Hobbes z. B. hat im Leviathan 1651 viele Metaphern platziert, schon der Titel nimmt auf das Buch Hiob im Alten Testament Bezug. Dennoch fordert Hobbes „eigentliche Benennungen“ anstatt metaphorische oder andere bildliche Ausdrücke, diese werden als „nichtssagende oder zweideutige Irrlichter“ abgetan.4 Giovanni Battista Vico hat in Kritik dieser Tradition Sprache nicht nur als Instrument zur Benennung einer äußeren Wirklichkeit, sondern als eine eigene kulturelle Wirklichkeit verstanden, die ihre Wahrheitsansprüche geltend macht. In seiner „Neuen Wissenschaft“ von 1744 bilden „phantastische Allgemeinbegriffe“ (generi fantastici) und „Bilder“ (immagini) die Grundlage für die Idiome aller Zeiten. Die Metapher gilt für ihn als die „lichtvollste“ und zugleich „notwendigste“ aller Tropen.5 Metaphern stellen für Vico Ordnungsentwürfe für komplexe Situationen bereit und erbringen damit eine Orientierungsleistung, die sie der philosophischen Aufmerksamkeit besonders empfehlen. Vico gilt als Vorläufer der sprachphilosophischen Wende im 20. Jahrhundert. Hier wird die Metapher als ein semantisches, kontextuelles und kommunikationstheoretisches Phänomen gefasst, die Untersuchung verlagert sich auf die Ebene von Sätzen, Äußerungen und Texten.6 Die Bedeutung eines metaphorischen Ausdrucks hängt vor allem vom Satzkontext ab. Metaphern fungieren wie „Filter“, die bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zeigen und andere verbergen. Ähnlichkeiten sind nicht ontologisch vorgegeben, sondern intentional geschaffen. Metaphern gelten als wörtlich nicht ersetzbar und können vielschichtig interpretiert werden. Damit besitzen sie einen doppelten Erkenntniswert: „Indem sie durch die Erzeugung einer neuen Ähnlichkeit einen Zusammenhang neuartig beschreiben, stellen sie zugleich die alte(n) Beschreibung(en), also die alte semantische Ordnung in Frage. In dieser reflektierenden und rekategorisierenden Funktion liegt die besondere Bedeutung der Metapher in der Moderne.“ (Debatin 1995, S. 100, vgl. auch Schieder 2006, S. 57)
Metaphern steuern damit den Erkenntnisprozess. Hans Blumenberg (1960) geht noch weiter: Für ihn stellen „absolute Metaphern“ die „Grundbestände der
4Hobbes
(1992), S. 43 und 45 f. Vgl. Schieder (2006), S. 48 f. cap. 404, zitiert nach Konersmann (2014), S. 7 f. 6Ein Beispiel ist die Interaktionstheorie der Metapher, die auf Richards (1936), Black (1996) und Bühler (1965) zurückgeht. Als Einführung vgl. Schieder 2006, S. 54 ff. und Raschauer 2013, S. 94 ff. 5In
174
W. O. Ötsch
philosophischen Sprache“ dar. Als Beispiele führt er u. a. die Metaphorik der mächtigen Wahrheit und den Topos von der Leichtigkeit der Erkenntnis (in der Antike und im christlichen Mittelalter) sowie die Sichtweise von Francis Bacon von der Welt als Tribunal an, in dem der Mensch mit seinen Experimenten zum Richter in einem Verhör wird. Für Metaphern dieser Art wird nach Blumenberg die Gleichsetzung übertragener und uneigentlicher Redeweise fragwürdig. Als dominanter Zugang zur Metaphernforschung gilt heute die kognitive Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson (1980).7 Hier wird das Funktionsprinzip der Metapher von der Sprache gelöst, auf die Ebene der Kognition übertragen und zur Grundlage des menschlichen Erkennens selbst gemacht. Die Autoren sprechen nicht mehr von Metaphern, sondern von metaphorischen Konzepten, die systematisch zwei verschiedene konzeptuelle Domänen verbinden. Lakoff und Johnson postulieren, dass Menschen seit ihrer frühesten Kindheit basierend auf körperlichen Erfahrungen Konzeptstrukturen ausbilden, diese repräsentieren das erworbene Wissen über die Welt in Form von Kategorien. Ihre Basis bilden (bildhafte) Vorstellungs-Schemata (image schema bzw. image schematic models). Sie fungieren gleichsam als „universelle kognitive Atome“8 und dienen ihrerseits als Bildspender für komplexere Konzepte. Metaphern bilden die Grundlage für Kognitionen schlechthin, ihnen kommt eine epistemische Funktion zu.9 Die Beziehung von Sprache und Metapher hat sich damit umgedreht: Metaphern sind nicht nur eine schmückende Stilfigur, sondern die Sprache selbst ist metaphorisch fundiert. Der erkennende Mensch bedarf nach Lakoff und Johnson Metaphern, um die Welt zu verstehen. Diese determinieren die Beziehung zwischen Denken (concept), Handeln (activity) und Sprache (language). Sprachliche Ausdrücke sind bestimmten Begriffen (concepts)
7Überblicke
über eine Vielfalt von darauf aufbauenden Untersuchungen liefern Moser 2000, Jäckel 2003, Buchholz 2010 und Schmitt 2011. 8„An image schema is a recurring, dynamic pattern of our perceptual interactions and motor programs that gives coherence and structure to our experience. […] I call these patterns „image schemata,“ because they function primarily as abstract structures of images. They are gestalt structures, consisting of parts standing in relations and organized into unified wholes, by means of which our experience manifests discernible order. (Johnson 1987, S. xiv und xix). 9Die sprachliche Metapher wird damit zu einem Sekundärphänomen, weil Sprache auf leiblich erworbenen Konzepten beruht: Nicht Sprache, sondern körperliche Erfahrungen prägen das Denken (These vom verkörperten Geist, embodiment). Zu den breiten Definitionen von Konzept, Kognition und Erfahrung bei Lakoff und Johnson und einer Kritik aus philosophischer Sicht vgl. Raschauer 2013, S. 53 ff.
Bilder in der Geschichte der Ökonomie
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zugeordnet, die dann zur Analyse von Handlungen (activity) herangezogen werden (vgl. Schieder 2006, S. 60 ff). Diese Aussagen gelten auch für wissenschaftliche Sprache, sie nimmt diesbezüglich keine Sonderstellung ein. Ein Beispiel sind abstrakte Begriffe, die Identitäten ausdrücken, wie „Idee“, „Geist“, „Aktion“ oder Aggregate wie „Staat“, „Wirtschaft“ oder „System“. Lakoff und Johnson (1980) bezeichnen sie als „ontologische Metaphern“. Sie basieren entwicklungspsychologisch auf Erfahrungen, die Kinder im Umgang mit einzelnen physischen Objekten machen. Daraus formen sich Bilder von abgegrenzten Einheiten, die dann auf abstrakte immaterielle „Gegenstände“ übertragen werden, mit denen man imaginativ (wie mit physikalischen Dingen) bzw. manipulativ umgehen kann. Unter diese Kategorie fällt nach Lakoff und Johnson jede Art von Behälter-Metaphorik, z. B., wenn wir sagen, dass ein bestimmter Gedanke „in“ einem anderen enthalten ist (vgl. Raschauer 2013, S. 270 ff.). Ein Spezialfall von ontologischen Metaphern stellen Bilder über andere Menschen dar, bzw. der Akt der Personifizierung: wie ein „Etwas“ zu einer abgegrenzten „Person“ gemacht wird.10 Einheitsvorstellungen dieser Art, auf denen auch wissenschaftliche Bilder (Konzepte) vom Menschen beruhen, weisen immer metaphorische Bezüge auf. Das gilt für jede ökonomische Theorie, die zumindest implizit immer auch ein Bild des handelnden Menschen aufweist. In jedem Fall können wir für diese und andere Grundbegriffe der ökonomischen Theorie fragen: Mit welchen Metaphern werden sie dargestellt und erklärt? Auf welche anderen Bereiche wird damit verwiesen? Welche Eigenschaften dieses Bereiches werden auf diese Weise in die Ökonomie transportiert? Was wird damit suggeriert, was wird ausgeblendet? Fragen dieser Art vermögen neue Bedeutungsschichten für die Ökonomik erschließen.11 Das gilt selbst dann, wenn die philosophische Basis des Ansatzes von Lakoff und Johnson nicht geteilt wird. Ihre Vorgangsweise, vor allem ihre philosophische Selbstinterpretation, wirft viele Fragen auf, auf die hier nicht
10Derks
2005 spricht von Personifikation, vgl. auch Derks u. a. 2016. „Durch die Schaffung neuer Ähnlichkeiten erzeugen Metaphern Bedeutungsinnovationen, so dass Dinge auf andere Weise als zuvor gesehen und beschrieben werden. Metaphern haben immer einen doppelten Erkenntniswert, wie Debatin (1995, S. 100) hervorhebt: ‚Indem sie durch die Erzeugung einer neuen Ähnlichkeit einen Zusammenhang neuartig beschreiben, stellen sie zugleich die alte(n) Beschreibung(en), also die alte semantische Ordnung in Frage. In dieser reflektierenden und rekategorisierenden Funktion liegt die besondere Bedeutung der Metapher in der Moderne.‘“ (Raschauer 2006, S. 56, mit Rekurs auf Debatin 1995).
11Vgl.:
176
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eingegangen werden kann. Aus einer (kultur-)historischen Perspektive muss vor allem der quasi-naturwissenschaftliche Anspruch der beiden Autoren zurückgewiesen werden. Er äußert sich z. B. darin, dass sie Übersichtslisten zentraler metaphorischer Konzepte erstellen, denen sie universelle Gültigkeit und zwar über alle Kulturen und alle Geschichtsperioden zusprechen.12 Lakoff und Johnson sind offensichtlich nicht in der Lage über ihre eigenen kulturellen Kontexte zu reflektieren, aus dem sie ihre Theorie entwickelt haben.13 Vor allem wenden sie ihren eigenen Ansatz nicht auf sich selbst an und sind damit – so kann gefolgert werden – auch nicht in der Lage, ihre eigene kulturelle Gebundenheit zumindest zu thematisieren. Denn die Behauptung, dass z. B. für einen Begriff ein konkretes metaphorisches Konzept (in einer quasi-absoluten Bestimmtheit) vorliegt, ist selbst eine Deutung, die dem üblichen hermeneutischen Zirkel unterliegt. Halten wir positiv fest: Metaphern im Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sind nicht in der Lage auf stabile Beziehungen unabhängig vom kulturellen Kontext zu verweisen. Sie repräsentieren immer auch kontextabhängige Bedeutungen. In Berücksichtigung dieser Kritik schlägt Schmitt (2011) vor, die Metaphernanalyse von Lakoff und Johnson als spezielle Hermeneutik zu verstehen und sie für sozialwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen. In dieser Hinsicht kann sie einen kreativen Zugang zu der Geschichte der ökonomischen Theorie eröffnen. Dies soll im Folgen angedeutet werden.
12Lakoff und Johnson (1999), S. 50 ff. Schmitt spricht von einem „szientistischen Selbstmissverständnis der kognitiven Linguistik“: „Lakoff und Johnson konstruieren metaphorische Gegenständlichkeiten und unterschlagen ihre eigene Deutungsarbeit, denn die Identifikation von Metaphern einerseits und die Rekonstruktion von metaphorischen Konzepten andererseits sind von sinnverstehenden Kompetenzen der Interpretierenden abhängig. Dieses Ordnen nach sinnhaften Bezügen kann nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinn algorithmisiert werden.“ (Schmitt 2011, S. 51). 13Ein Beispiel ist die Anwendung räumlicher Beziehungen, der in ihrem Ansatz eine große Rolle spielt, z. B.: „Given that a bounded physical space is a CONTAINER and that our field of vision correlates with that bounded physical space, the metaphorical concept VISUAL FIELDS ARE CONTAINERS emerges naturally.“ (Lakoff und Johnson 1980, S. 30). Die Autoren wenden dabei in einer großen Selbstverständlichkeit das (im Alltag populäre) Raumverständnis von Newton an, hier wird der Raum als Container konzipiert. Aber diese „Gegebenheit“ kann für Generationen vor Newton nicht unterstellt werden, weil Newtons Raumkonzept damals noch nicht verfügbar gewesen war. Zum Wandel des Raumkonzeptes vom Mittelalter in die Neuzeit vgl. Ötsch 2016a. Sätze wie „Zeit ist Geld“, mit denen Lakoff und Johnson (1999) gleich am Anfang ihr Konzept erörtern, können nach meinem Verständnis im Denken der Antike und des frühen und hohen Mittelalters weder formuliert noch als verständlich vermittelt werden.
Bilder in der Geschichte der Ökonomie
177
Um die Fülle der dabei angesprochenen Ebenen zu skizzieren, werden (nach Raschauer 2013, S. 70 ff.) neun Thesen angeführt, auf denen der Ansatz von Lakoff und Johnson beruht. Sie dienen als Anregungen für die Funktion und die Bedeutung der mechanistischen Metaphern in der Ökonomie, die in den nächsten Teilen dieses Papers in einem knappen Überblick erörtert werden. 1. Ubiquitäts-These: Metaphern findet man überall, jede Sprache (und jede Theorie) ist getränkt von Metaphern. 2. Notwendigkeits-These: Metaphern sind unverzichtbar, jedermann (jeder Theoretiker) ist auf Metaphern angewiesen. 3. Domänen-These: Metaphern verbinden großräumig ganzer Bereiche, egal ob sie nun kognitiver oder linguistischer Natur sind. Für ökonomische Theorien ist zu fragen, aus welchen Quellbereichen (Domänen) sie ihre Grundkonzepte beziehen. 4. Modell-These: Konzeptuelle Metaphern bilden mentale Modelle aus, die eine er- kenntnisstiftende Funktion haben, indem sie systematisch einen unbekannten Erfahrungsbereich durch einen bekannten erschließen. Diese Funktion ist insbesondere für die diskursive Durchsetzung einer Theorie bedeutsam: auf welche kulturell akzeptierten Phänomene, welche gesellschaftliche Autoritäten, bedeutsame Institutionen oder anerkannte Technologien beziehen sich bestimmte Theorien? Wie erringen sie damit in einer geschichtlichen Epoche Beachtung oder gar Dominanz? 5. Unbewusstheits-These: Metaphern wirken auch unbewusst, insbesondere jene, die tief in das konzeptuelle System einer Kultur eingesunken sind und so unerkannt Sprache, Denken und Handeln lenken. Für eine Theorie kann man fragen, ob dieser Aspekt angesprochen und wie er interpretiert wird. 6. Unidirektionalitäts-These: Metaphern verlaufen im Allgemeinen von einem Bereich zu einem anderen und lassen sich nicht ohne weiteres umkehren. Diese These kann prinzipiell für historische Entwicklungen als widerlegt gelten: Der ökonomische Akteur kann wie ein Computer modelliert werden (wie in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie nach Debreu, siehe 4.5) und gleichzeitig kann umgekehrt (wie Varianten der „Künstlichen Intelligenz“) einem logischen Programm Züge von ‚Bewusstsein‘ zugesprochen werden (was Hayek zumindest sprachlich unternimmt, siehe 4.6).14
14Ein
bedeutsamer historischer Gegenbefund liegt in der analytischen Geometrie, die Descartes konzipiert hat. Hier können bekanntlich Erkenntnisse der Geometrie und der Arithmetik (die damals als unterschiedliche Domänen mit differenten Personen und Praktiken galten) wechselseitig aufeinander bezogen werden.
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7. Kreativitäts-These: Neue Metaphern können Tatsachen, Sachverhalte, Ähnlichkeiten usw. erzeugen, d. h. „Realitäten“ verändern. Metaphern der Ökonomie können damit – wenn sie z. B. von der Öffentlichkeit oder der Politik akzeptiert werden – auch Aspekte der Wirtschaft selbst verändern, dies stellt einen wichtigen Aspekt einer Wirkungsgeschichte der Ökonomik dar. 8. Invarianz-These: Metaphern übertragen neben sprachlichen Elementen auch Einstellungen, Bewertungs- und Inferenzmuster aus dem Ursprungs- in den Zielbereich, z. B. wenn gesagt wird, dass Griechenland „krank“ sei. Damit kann die Wahl konkreter Wirtschaftspolitiken entscheidend gelenkt werden. 9. Fokussierungs-These: Metaphern stellen nur für einen Teil eines Konzepts ein Erklärungsmodell zur Verfügung, jedoch nie für ein Konzept als Ganzes.
2 Metaphern der Maschine in der Kulturgeschichte Die dominante neoklassische Ökonomie basiert (wie schon in der Einleitung gesagt) auf einer mechanistischen Metapher.15 Die Metapher von der Maschine, die hier angesprochen wird, hat eine lange Geschichte. Das Wort Maschine stammt vom griechischen mechané – es kann nach einer umfangreichen Datenbank von klassischen antiken Texten 260mal nachgewiesen werden.16 Mechané besitzt die Bedeutung von „komplizierter Vorrichtung“, z. B. für Belagerungszwecke oder um Lasten zu heben. In einer allgemeineren Bedeutung sind auch alle „künstlichen Mittel“ gemeint, die Menschen hergestellt haben. Aber eine „Maschine“ kann in der Antike nicht als Bezugsdomäne für Begriffe wie „Welt“, „Leib“ oder „Haus“ (für Ökonomie: die Lehre vom Haus) dienen, denn diese Bereiche können nicht in Analogie zu einer Maschine beschrieben werden. Die Welt der Griechen (z. B. kósmos) ist ein Organismus mit einer Seele und mit Verstand. Sie wird zwar, wie bei Aristoteles, durch einen „unbewegten Beweger“ in Bewegung versetzt – dieser ist aber keine Person, die die Welt in
15Jevons
spricht von einer „Mechanik des Nutzens“ (Jevons 1923, S. 20), Walras von einer Wissenschaft, in der die Schlüsse „der reinen Mechanik“ zu gelten haben (Walras 1972, S. 17). Vgl. dazu Mirowski (1990), Ötsch (1990), Kap. 4, Pribram (1992), S. 531 ff. und Ötsch (2019). 16Nach Glebkin (2013), S. 4, mit Bezug auf die Datenbasis der Perseus Digital Library: www.perseus.tufts.edu.
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seiner Gesamtheit erschaffen hat.17 Weil „Maschinen“„künstlich“ erzeugte Artefakte sind, kann kósmos in diesem Denken keine „Maschine“ sein und nicht analog zu einer Maschine konzipiert werden. Die Welt existiert, aber sie wurde nicht erschaffen. Die Antike kennt eine Genealogie der Götter, aber keinen Schöpfungsmythos für die Welt. Im Christentum hingegen hat Gott die Welt erschaffen – und zwar aus dem „Nichts“. Gott ist wie ein „Künstler“ (im Sinn von creator), der eine majestätische „Fabrik“ errichtet hat. Augustinus beschreibt im 11. Buch der Bekenntnisse das Werk Gottes als machina: „Wie aber hast du Himmel und Erde geschaffen und welches war das Werkzeug deines so großen Werkes?“,18 im Original: „quae machina tam grandis operationis tuae?“
In diesem Bild wird Gott als oder wie ein Maschinenbauer begriffen. Im Unterschied zu einem „menschlichen Künstler“ schafft Gott aber nicht durch seine Hände und nicht aus einem „vorhandenen Stoffe“, sondern durch sein Sprechen und aus dem „Nichts“: „Deshalb hast du gesprochen und es ist geworden und in deinem Worte hast du es gemacht.“ Gott als reiner Geist agiert nicht körperlich, sondern denkend bzw. selbstdenkend. Gott befindet sich gleichsam in einem Zwiegespräch. Er hat die Schöpfung „von Ewigkeit her“ „ausgesprochen“ und im Schöpfungsakt in die Tat umgesetzt. (In der Neuplatonik ist Gott reiner Akt). Die Idee eines vorher gedachten Planes hingegen (die ein „vor“ und „nach“ der Schöpfung impliziert) wird von Augustinus nicht formuliert – sie würde auch mit seiner Vorstellung von der „Ewigkeit“ als einer Nichtzeitlichkeit außerhalb der menschlich erfahrbaren Zeit kollidieren. Wenn die Welt als (göttliche) Maschine gedacht werden kann, dann können viele Aspekte der Welt in einer Maschinenmetapher erfasst werden. Diese Entwicklung kann im frühen Christentum bis zum hohen Mittelalter in einer steigenden Zahl nachgewiesen werden.19 Dabei ändert sich der Bedeutungsinhalt 17Im antiken Rom wurden ähnliche Vorstellungen vertreten Vgl. dazu die Quellenverweise bei Glebkin (2013), S. 2 ff. 18Nach der Online-Übersetzung der Bibliothek Gutenberg, vgl. http://gutenberg.spiegel.de/ buch/die-bekenntnisse-des-heiligen-augustinus-510/12. 19Vgl. damit die Teilauswertung der Patrologica Latina von Jacques-Paul Migne (eine umfangreiche Sammlung von Schriften der Kirchenväter vom Ende des 2. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts) durch Glebkin (2013), S. 9 f. Glebkin findet vom Anfang des 2. bis zum Ende des 5. Jahrhunderts 127 Verwendungen von machina bei 34 Autoren (das sind 36,6 % aller erfassten Autoren). Im Vergleich dazu finden sich im 12. Jahrhundert 303 Belege von 81 Autoren (52,6 % aller).
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von machina. Drei Arten von Metaphern stehen im Vordergrund: Die Metapher eines Planes oder eines Designs als einer Belagerungsmaschine (auch negativ konnotiert: so geht der Teufel vor), zweitens die Metapher einer spirituellen Aktion als ein Instrument, um eine spirituelle Konstruktion zu errichten, und drittens die Metapher des Universums, des Himmels, des Körpers und sogar von Tieren als „Maschinen“ (vgl. Glebkin 2013, S. 9 ff.). Die letztere Art bezieht sich immer auf Gott. „Maschinen“ in dieser Bedeutung dienen keinem praktischen Zweck, wie Maschinen in der Antike, sondern nur Gottes Absichten, die letztlich dem Menschen verborgen sind. Im hohen Mittelalter wird auch die soziale Organisation der Kirche (die Gott gegründet hat) als „Maschine“ beschrieben, z. B. im 12. Jahrhundert als machina Ecclesiae bei Sicardus Cremonensis.20 Die Metapher von der Maschine bekommt einen ungeheuren Aufschwung durch die Erfindung der mechanischen Räderuhr mit Gewicht und Spindelhemmung, die zwischen 1270 und 1300 gemacht wird – die genaueren Umstände dazu sind unbekannt. Ihre Verbreiterung erfolgt mit der Erfindung des Schlagwerks im Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert, und zwar in Form der großen Turmuhren, zuerst in den italienischen Stadtstaaten, dann in anderen Städten Europas. Die weitere Verbreitung ist gut dokumentiert: zuerst in den Städten (als Prestigeprojekt der örtlichen Obrigkeit, die ihren Reichtum und ihre Aufgeschlossenheit gegenüber Neuerungen zur Schau stellte), dann am Land (z. B. Dorn-van Rossum 1992, Whitrow 1991 und Mayr 1987). Die Räderuhr diente zuerst nicht zur Zeitmessung per se, sondern nur als zusätzliches auditives Signal im reichen Glockenreigen der Städte, durch den von den zuständigen Behörden viele Tätigkeiten geregelt wurden. Langsam ersetzte die Uhr andere Zeitsignale, bis schließlich sogar das Konzept des Tages, der früher nur die Zeitspanne von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang umfasste, auf die heute übliche 2 4h-Einheit umgestellt wurde. In diesem Prozess verbreiten sich unzählige Metaphern über die mechanische Uhr selbst. Im Horologium aternae sapientiae (um 1330) z. B. versteht der Dominkaner Heinrich Seuse die Uhr als eine spirituelle Weckeruhr. Jean Froissant unternimmt einige Jahrzehnte später in Li Orologe amoureus eine Analyse der Liebe in Analogie zur Uhr: die Spindelhemmung z. B. wird zum Äquivalent der Tugend der mesure (Mäßigung, Maß, Selbstbeherrschung).21 Später werden die allegorische
20Mirale
sive Summa de officiis ecclesiasticus; PL 213, 22B; zitiert nach Glebkin (2013), S. 16. 21Nach Mayr (1987), S. 49 ff. Mayr dokumentiert ausführlich die vielfältigen Anwendungen der Uhren-Metapher bis zum 18. Jahrhundert. Vgl. auch Wendorff 1985.
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Figuren der Sapientia (Weisheit) und der Temperantia (Mäßigung) mit einer Uhr abgebildet, letztere wurde dann zum Bestandteil des Tugendkanons der aufstrebenden städtischen Bürger. Ab dem 16. Jahrhundert symbolisieren mechanische Uhren Ordnung, Regelmäßigkeit und Autorität. Auf vielen Portraits zeigen sich hochgestellte Personen mit Uhren. Johann Amos Comenius, der Pionier der modernen Pädagogik, will einen Unterricht, bei dem alle Abläufe „ebenso leicht und bequem gehen wie die Uhr, wenn sie von ihrem Gewicht richtig reguliert werden. […] Lasst uns also im Namen des Höchsten versuchen, einen Typus [conformatio] von Schule zu begründen, die einer kunstreich angefertigten, mit der vielfachen Pracht gezierten Uhr entspricht.“22
Ab dem 16. Jahrhundert gilt die Räderuhr auch als Archetyp für Maschinen bzw. Automaten schlechthin (sie war eine Metapher für diese), Maschinen und Uhren wurden z. B. in Wörterbüchern weitgehend als ein und dieselbe Sache betrachtet. Der Höhepunkt der Uhrenmetapher liegt im 17. und 18. Jahrhundert: „In Schriften zu beinahe jedem Thema pflegte man sich in Form von Metaphern und Vergleichen auf Uhren zu beziehen.“ (Mayr 1987, S. 46)
Eine große Bedeutung erlangt die Uhren- bzw. Maschinenmetapher durch die neuen Philosophien von Thomas Hobbes, Pierre Gassendi und Rene Descartes.23 Naturerscheinungen wurden jetzt prinzipiell als Mechanismen verstanden. Sie mussten und konnten nur durch mechanische Gesetze erklärt werden – im Umschwung vom 16. zum 17. Jahrhundert wird das moderne Konzept von „Naturgesetzen“ formuliert. Die ganze Welt wird damit zur Maschine. Christian Wolff bringt das so auf den Punkt: „Eine Maschine ist ein zusammengesetztes Werck, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Die Welt ist gleichfalls ein zusammengesetztes Ding, dessen Veränderungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Und demnach ist die Welt eine Maschine.“24
22Johann
Amos Comenius: Große Didaktik, vermutlich 1632 abgeschlossen, übers. und hgg. von Andreas Flitner, Düsseldorf 1954, S. 77; zitiert nach Mayr (1987), S. 61. 23Francis Bacon, Galileo Gallei und Marin Mersenne liefern Vorarbeiten, sind aber keine eigentlichen mechanistischen Philosophen. 24Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1719), S. 337; zitiert nach Remmele (2014), S. 228.
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In der neuen Naturphilosophie können damit (jedenfalls im Prinzip) alle Naturphänomene in mechanistischen Metaphern erzählt werden, für Descartes auch für tierische Organismen. Robert Boyle prägte für die neue Sichtweise 1661 den Ausdruck mechanical philosophy.25 Jedes Phänomen konnte jetzt in den Begriffen von Größe, Form und Bewegung von Teilen erklärt werden, die so agieren, als ob sie insgesamt eine kausal strukturierte Maschine bilden würden. Diese Ansichten werden im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts immer stärker von gebildeten Personen geteilt. Dabei mussten die abstrakten Prinzipien des mechanistischen Welt-Bildes durch konkrete Maschinen illustriert und popularisiert werden. Nur so konnten sie vermittelt werden, dies gilt selbst für viele der beteiligten Wissenschaftler. Beliebte Beispiele für die Übersetzung von Grundgedanken mechanistischer Philosophien in ein Alltagsverständnis bildeten Wind- und Wasserräder, Kirchenorgeln oder die hydraulische Gartenkunst – z. B. auch bei Descartes.26 Die beliebteste Metapher aber bildete die mechanische Uhr selbst. Bei Boyle z. B. finden sich Analogien zu Feuerwaffen, Flaschenzügen oder Hebeln. Sein Hauptbeispiel war aber die Uhr an der Kathedrale in Strassburg, die nicht nur die Alltagszeit, sondern viele Arten von kosmischen Zyklen anzeigte. Boyle argumentierte: So wie dieser komplizierte Mechanismus für den Betrachter unsichtbar blieb, so seien die komplexen „Mechanismen“ der Natur den Menschen vordergründig verborgen – sie können aber durch eine (natur) wissenschaftliche Analyse enthüllt werden (vgl. Eaton 2005, S. 72 ff.). Bzw. „Denn nach dieser Hypothesi, da man das gantze Welt-Wesen (die Seel ausgenommen) ansiehet, als ein grosses Uhrwerk, eine Maschine […] Und weil also die Welt nicht größer ist als ein Mechanismus Horologicus, so ist ein Physicus, so fern er ein solcher ist, nicht mehr als ein Mechanicus, wiewohl die Theile der Machinae, so er betrachtet, hier viel grösser, dort viel kleiner seyn als die Theile der Uhren.“27
25Vgl.
Roux (2017), S. 26 ff., Garber (2013), S. 6 ff. Garber bezieht sich auf Boyles The Origin of Forms and Qualities according to the Corpuscular Philosophy, eine Art Manifest für das neue korpuskulare bzw. mechanistische Programm. 26Vgl. Specht (1980), S. 110 ff. und Mayr (1987), S. 82 ff. 27Boyle: The Excellence of Theology Compared with Natural Philosophy, 1655, in Works, Bd. 4, S. 49; zitiert nach Mayr (1987), S. 77. Die Uhrenmetapher spielte bei der Durchsetzung des mechanistischen Weltbildes auch in der Philosophie eine entscheidende Rolle. Vgl. dazu die Beispiele, die Mayr (1987, S. 74 ff.) für Blaire Pascal, Christian Huygens, Nicholas Malebranche, Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff, Voltaire, Denis Diderot, Robert Boyle, Joseph Glanville, Roger Cotes, John Locke und Robert Hooke anführt.
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3 Der Staat als Uhrwerk Im Bereich der Sozialwissenschaften war die Metapher von der Uhr in vielen Fällen mit den Ordnungsvorstellungen des Absolutismus verbunden. Das Bild vom Staat als einem Uhrwerk findet sich in Europa vom Ende des 16. bis zum 18. Jahrhundert. Ein vielgelesenes Buch war Relox de principe (Die Uhr des Fürsten) des spanischen Jesuiten Antonio de Guevera aus dem Jahre 1529. Hier hieß es: „Die Uhr des Fürstens ist die Uhr des Lebens. […] das Wesen dieser Uhr […] ist es, uns zu lehren, wie wir uns jede Stunde zu betätigen und wie wir unser Leben in jedem Augenblick zu bessern haben.“28
Der bekannteste Autor für die Maschinenmetapher des Staates ist vermutlich Thomas Hobbes. Im Leviathan (1651) wurde erstmals die traditionelle Analogie vom Staatskörper auf das mechanistische Welt-Bild ausgedehnt (Hobbes 1992). Wie das Weltall von außen von Gott in Gang gehalten wird und eine harmonische Ordnung bildet, so wird der Staat durch den Herrscher, den König oder den Fürsten, in Gang gehalten und harmonisch geordnet. Der Staat (von ihm Leviathan genannt) ist ein „künstliches Tier“ und wird als Uhrwerk illustriert. Mit der Uhrwerkmetapher werden zahlreiche Annahmen über den Staat und über Politik verändert, z. B. die Stellung des Herrschers zur Gesellschaft. Als absolutistischer Herrscher steht er – das besagen viele Systementwürfe – außerhalb der Gesellschaft. Er ist das Subjekt, dass in Analogie zu Gottes Stellung zur Welt der Gesellschaft als Objekt gegenübersteht. In Analogie zur Natur, die aus Atomen besteht, wird in einer Maschinenmetapher die Gesellschaft als System von (quasi atomisierten) Individuen gedacht. Diese sind mit dem Herrscher einen (fiktiven) Gesellschaftsvertrag eingegangen, um von ihm regiert werden. Die Individuen formen dabei einen gemeinsamen Körper, der als eine gesellschaftliche Maschine verstanden werden kann, und „derjenige, welche die höchste Gewalt besitzt, (ist) gleichsam die Seele, welche den ganzen Körper belebt und in Bewegung setzt“. (Hobbes 1992, S. 5)
Ähnliche Sichtweisen finden sich in Theorien des aufgeklärten Despotismus zwischen 1740 und 1780, z. B. bei Condillac:
28Antonio
de Guevara: The Diall of Princes, übers. v. Thomas North, London 1557; Reprint Amsterdam 1968, Prolog; zitiert nach Mayr (1987), S. 61 f.
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„Ein Volk ist ein künstlicher Körper; es obliegt dem Magistrat, der über seine Erhaltung wacht, die Harmonie und die Kraft in allen Gliedern aufrechtzuerhalten. Er ist der Maschinist, der die Federn repariere und die gesamte Maschine wideraufziehen muß, sooft die Umstände es erfordern. … Der erfolgreiche Herrscher muß in allen Aspekten der Staatskunst fachmännisches Wissen zumindest in dem Maße besitzen, wie man es bei einem Uhrmacher erwartet, dem man einen komplizierten Mechanismus anvertraut.“29
Die Metapher vom Staat als Maschine wird in der deutschen Spätkameralistik des 18. Jahrhunderts als effizientes Strukturmodell formuliert, ein wichtiger Autor ist Johann Heinrich Gottlob (von) Justi.30 In seiner „Politischen Metaphysik“ wird der Staat instrumentell gedeutet. Der „Endzweck der Republiken“ (als causa finalis) ist „das allgemeine Beste, die Wohlfahrt aller und jeder Familien, die sich solchergestalt mit einander vereinigen, kurz, die gemeinschaftliche Glückseligkeit des gesammten Staats.“31
Ein solches Ziel zu erreichen ist Aufgabe des aufgeklärten Monarchen, der dabei nach einem effizienten Gesamtentwurf vorgehen soll. Dazu hat der Herrscher eine übergeordnete Perspektive einzunehmen, er soll den Reproduktionsprozess der Gesellschaft von außen analysieren. Auf diese Weise wird der Herrscher befähigt verschiedene Produktions- und Eigentumsformen zu gestalten und gleichzeitig die Kapitalakkumulation zu fördern. Der Monarch agiert in absolutistischen Systementwürfen auch als Umverteilungsinstitution und übernimmt die Kosten für anfallende öffentliche Arbeiten. Er wird dabei von den Regierungswissenschaften (Staatskunst, Policeywissenschaft, Commercienwissenschaft, Oeconomie und Cameralwissenschaft) unterstützt und kann wie ein omnipotenter Ingenieur eine Staatsmaschine leiten:
29Etienne
Bonnot de Condillac, Traité des systèmes, 1749, in: Oeuvres philosophique, hrsg. V. Georges Le Roy, 3 Bände, Paris 1947, Band 1, S. 208; zitiert nach Mayr (1987), S. 135. 30Das Folgende nach Rüdiger (1994), S. 15 ff. 31Justi: Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey, und aller Regierungswissenschaften, desgleichen als die Quelle der Gesetze, 1760, § 30., S. 61; zitiert nach Rüdiger (1994), S. 18.
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„Ein wohleingerichteter Staat muß vollkommen einer Maschine ähnlich sein, wo alle Räder und Triebwerke auf das genaueste ineinanderpassen und der Regent muß der Werksmeister, die erste Triebfeder oder die Seele seyn, […] die alles in Bewegung setzt.“32
4 Ökonomie als Sozialphysik Alle diese Beispiele stellen keine Metaphern über „die“ Wirtschaft dar. Denn die Wirtschaft (in der Einzahl) konnte erst dann zum Zielbereich einer mechanistischen Metapher werden, als sie selbst als eigenständiges System abgegrenzt von Gesellschaft und Staat gedacht wurde. Dies wurde im Wesentlichen erst im 18. Jahrhundert realisiert, vorher gab es „die“ Wirtschaft nicht.33 Dazu wurde ein neuer Bereich „der Gesellschaft“ konzipiert, die „einen Gegenstand darstellt, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist. Die Gesellschaft ist eine Natur, die sich die Gesetze, denen sie unterworfen ist, selbst gibt“ (Jonas 1980, S. 15). Davon zu unterscheiden ist „die“ Wirtschaft, sie kann mit der Gesellschaft verschiedenartige Beziehungen eingehen. In der Eigenständigkeit der Wirtschaft entfaltet sich ein Erkenntnisbereich, den es theoretisch zu durchdringen gilt. Auf diese Weise wird erstmals eine Wirtschaftstheorie möglich, die bekanntesten Versionen stammen bekanntlich von den Physiokraten (vorrangig von Francois Quesnay) und von Adam Smith. In ihren Theorien sind viele mechanistischen Metaphern zu finden, weil in beiden Fällen eine mechanistische Sicht auf die Welt vertreten wird. Die in ihnen enthaltene Mechanistik hat die Geschichte des ökonomischen Denkens bis heute entscheidend (mit)geprägt. Der Hauptstrang, der sich als dominant durchgesetzt hat (und oft als mainstream tituliert wird), kann als Abfolge unterschiedlicher „Sozialphysiken“ verstanden werden, bei denen Erkenntnisse einer mechanischen Physik auf den Gegenstandsbereich der Wirtschaft übertragen werden – immer vor dem Hintergrund
32Justi:
Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller Oekonomischen und Cameralwissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden, zitiert in Albrecht Timm: Kleine Geschichte der Technologie, Frankfurt 1783, Bd. I, S. 25; zitiert nach Mayr (1987), S. 123. 33In den Jahrhunderten vorher war Wirtschaften auf das Haus (oikos) bzw. bei den Merkantilisten (als „Politische Ökonomie“) auf den Staat insgesamt bezogen, ein eigenständiger Bereich der Wirtschaft existiert begrifflich noch nicht.
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zeitgemäßer Philosophien und aktuell moderner Maschinen. In einem knappen Überblick finden zumindest wir acht mechanistische Metaphern:34 (1) Bei Quesnay: eine machine économique mit Bezug auf Descartes, (2) bei Smith: eine natural order mit Bezug auf Newton, (3) und (4): bei Malthus und Ricardo: das Konzept von ökonomischen Gesetzen in Analogie zu Naturgesetzen in einer Neuinterpretation von Newton – ähnlich auch bei John Stuart Mill (5), (6) bei Jevons und Walras: die bereits erwähnte „mechanistische Nationalökonomie“, (7) bei Autoren wie Gérald Debreu: eine Neuformulierung des Ansatzes von Walras als einer Informationsmechanik, sowie (8) bei Friedrich August von Hayek: das Konzept von „dem Markt“ als einem Informationsnetzwerk. Wie immer dienten konkrete Maschinen als Bildspender: Variante 1 zeigt die Wirtschaft als Uhrwerk, die Varianten 2 bis 6 verweisen auf eine (gleichgewichtige) Waage, die Variante 7 auf den digitalen Computer, der damals entstanden ist, und Variante 8 auf ein Telekommunikationssystem.
5 Die Wirtschaft als Uhrwerk Die Physiokraten beschreiben die Wirtschaft erstmals als eigenes Subsystem innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems (das zugleich für die Integration der Gesellschaft eine Hauptrolle darstellt, weil diese als rein wirtschaftlich begriffen wurde).35 Die Wirtschaft fungiert wie ein von außen gesteuertes Uhrwerk (siehe unten).36 Die Steuerung erfolgt jedoch nicht, wie in den personifizierten Varianten der Uhrwerk-Metapher durch eine von Gott eingesetzte Person (der Fürst als staatlicher Souverän, wie im Leviathan), sondern durch die Natur
34Die
Liste ist nicht vollständig. Es werden nur einige wichtige Ansätze der Theoriegeschichte angeführt. 35„Die Gesellschaft setzt zu ihrem Funktionieren nichts weiter als wirtschaftliche Tätigkeiten voraus. Die Klassengliederung, die hier gegeben wird, ist rein ökonomisch orientiert, während man bisher immer von einer Gesellschaftsschichtung ausging, in der sehr verschiedene Prinzipien zur Geltung kamen.“ (Jonas 1980, S. 50). 36Vgl. Foley (1973), Rieter (1983) und (1990).
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selbst, die mit göttlichen Attributen versehen wird. Die Natur fingiert bei den Physiokraten als die exogene, nicht-maschinelle Triebkraft des Uhrwerks der Ökonomie. Das System der Wirtschaft wird nach einem eigenen Bauplan in Analogie zu Gesetzmäßigkeiten in der Natur beschrieben, das ist bekanntlich das Tableau économique von Francois Quesnay. Tableaus zeigen Ordnungsschemata, mit denen ein Erkenntnisbereich geordnet, schematisiert und klassifiziert werden konnte, wie für Lebewesen (das bekannte System von Carl von Linné), Armeen, Krankenhäuser oder Schulen. Das Tableau im 18. Jahrhundert ist nach Foucault „zugleich eine Machttechnik und ein Wissensverfahren. Es geht um die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine Ordnung verliehen werden muss.“37
Das Tableau économique wird meist als Darstellung eines Kreislaufs in der Ökonomie in Analogie zum Blutkreislauf im menschlichen Körper interpretiert – zumal Quesnay als Arzt mit der Entdeckung des doppelten Blutkreislaufes durch William Harvey vertraut war. Bei den Physiokraten finden sich jedoch nur wenige Anhaltspunkte für eine biologisch-organische Metapher. Quesnay selbst hat kein kreisförmiges Strömungsdiagramm verwendet (diese Darstellung wurde erst viel später entwickelt),38 sondern den Kreislauf der Wirtschaft in Form eines „Zickzacks“ dargestellt. Sie entspricht einer mechanistischen Anordnung, bei der ein äußerer Antrieb als die Ursache der „Bewegung“ des Systems fungiert. Dieser Impetus kommt im Tableau économique ‚von oben‘: das Nettoprodukt aus der Landwirtschaft bildet die „übergeordnete“ exogene Anfangsgröße für den Kreislauf der drei im Modell enthaltenen Klassen. Die Interdependenz-Idee von Quesnay (wie sich Käufe und Verkäufe jeder Klasse auf die anderen Klassen auswirken) ist vermutlich ein direkter Anwendungsversuch der Physik von Descartes auf die Ökonomie. Quesnay war ein überzeugter Descartianer, vermittelt durch Malebranche, der als Schüler von Descartes eine eigene Interpretation der Naturphilosophie seines Lehrers entwickelt hat, die später in Vergessenheit geraten ist. Bei Descartes sind bekanntlich materielle Körper durch ihre räumliche Ausdehnung definiert, einen leeren Raum wie bei Newton gibt es nicht. Die Bewegung von Körpern wird
37Foucault
(1989), S. 190. Zum Tableau économique als Ordnungsschema vgl. auch Bauer und Matis (1988), S. 287 und 414 ff. Zu Foucaults Interpretation vgl. De Lima (2006), S. 228 ff. 38Ihr Urheber ist nach Rieter (1990, S. 60) der belgische Sozialökonom und Politiker Hector Denis.
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impetus-mechanisch erklärt: der gesamte Raum ist von Materie erfüllt und die Bewegungsübertragung erfolgt durch Druck und Stoß der dicht aneinander liegenden Materieteile, vergleichbar den Zahnrädern in einem Uhrwerk. (Die Newtonianische Erklärung durch fernwirkende Kräfte wurde von den französischen Descartianern als Neuauflage scholastischer Gedanken abgelehnt.) Jedes materielle System, wie auch das System der Ökonomie, ist damit analog zu Descartes per se ein geschlossenes System. Es kann nur durch einen äußeren Anstoß in Bewegung gesetzt werden. Die Bewegung eines Körpers setzt sich im gesamten System solange fort, bis der Platz, den der zuerst bewegte Körper freigemacht hat, von einem anderen Körper wieder besetzt ist. Die Bewegung verläuft damit im Kreise. „Bewegung“ kann auf diese Weise bei Descartes und seinen Schülern als Kreislauf-Bewegung verstanden werden. Die Physiokraten sprechen wiederholt von der Ökonomie als machine économique und kommentieren ihre Kreislauflehre zum Teil an prominenter Stelle in Analogie zu Uhren und sogar zu einzelnen Bauteilen von Uhren. Der Ökonom Heinz Rieter (1990) versteht die Bezeichnung ziczac als technischen Ausdruck bei Kugellauf-Uhren, die damals in Gebrauch standen, dabei wurden Kugeln, die auf einer schiefen Ebene im Zickzack nach unten liefen, zur Zeitmessung verwendet. Nach dieser Deutung hatte Quesnay eine K ugellauf-Uhr vor Augen, als er seine (Uhren-)Wirtschaft in einer visuellen Darstellung symbolisierte: der Zickzack-Geldfluss im Tableau économique widerspiegelt demnach den Zickzack-Lauf von Kugeln in einer Kugellauf-Uhr. Dabei werden die Kugeln nach Ablauf der Einheitszeit (unsichtbar für den Betrachter) wieder nach oben gehoben, wodurch der Anstoß für einen neuen Zyklus gegeben ist. In Analogie dazu fließt der Reinertrag im Tableau économique von ‚oben‘ nach ‚unten‘. Er wird dabei nicht vernichtet, sondern in seiner ursprünglichen Höhe reproduziert: er fließt gleichsam auf der Rückseite des Tableaus unsichtbar nach ‚oben‘. Den Antrieb dazu bildet eine exogene Größe, nämlich die Fruchtbarkeit des Bodens. Nach Ablauf der Einheitsperiode beginnt ‚oben‘ ein neuer Zyklus, der den alten ident wiederholt.
6 Die Wirtschaft als soziale Waage Die Lehren von Smith stehen im schroffen Gegensatz zu den Theorien der Physiokraten und man könnte vermuten, dass Smith mit seinem liberalen Systementwurf (the natural system of liberty) auch das mechanistische Welt-Bild verworfen hat. Tatsächlich hat Smith jedoch nur die Descartianische Variante
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abgelehnt und sie durch eine zeitgemäße ersetzt. Vereinfacht gesagt: Descartes wurde in der ökonomischen Theorie von Newton abgelöst. Die Implikationen dieses Überganges zeigen sich auch im Vergleich des Menschen-Bildes. Sowohl Descartes als auch Newton gehen von einer korpuskularen Theorie der Materie aus.39 Eine darauf aufbauende Sozialphysik beschreibt den wirtschaftenden Menschen in Analogie zu einem Atom: Eigenschaften der Grundeinheit der Materie (das Atom) werden auf die Grundeinheit der Wirtschaft (den Menschen) übertragen. Bei Descartes wird Materie als räumlich ausgedehnt definiert (res extensa). Die einzelnen Partikel führen eine Eigenexistenz, beziehen sich aber in ihrer Räumlichkeit unmittelbar auf den Gesamtzusammenhang der Materie, die den Raum ausmacht. Malebranche ist Okkasionalist: er glaubt, dass Gott bei jeder Interaktion von Geist und Materie unmittelbar eingreift (vgl. Pribram 1992, S. 207). Materielle Körper werden als „passive Agenten“ verstanden, die Bewegung nicht erzeugen, sondern nur übertragen können. Alle Bewegung stammt aus einer äußeren Ursache, von Gott, d. h. von außerhalb des materiellen Universums. Gott greift in die Welt andauernd ein. Er hat die Welt mit einer bestimmten Menge an Bewegung versehen, die er andauernd neu schöpft und konstant hält. In Analogie dazu werden in einer Sozialphysik, die sich auf Descartes beruft, die wirtschaftlich handelnden Personen unmittelbar in einen systemischen Bezug gestellt. Ihre essentielle Eigenschaft ist ihre Zuordnung zu einer Klasse (gleichsam ein „Ort“ im „gesellschaftlichem Raum“). Dieser „Ort“ erklärt ihr wirtschaftliches Handeln und bestimmt ihren funktionalen Beitrag für die Wirtschaft. Die „Bewegung“ der Ökonomie, die jedes Jahr gleich abläuft, kommt von „außen“, hier von der Natur. Im Naturkonzept von Newton hingegen kann Raum von Materie kategorial unterschieden werden. Der Raum fungiert wie ein Container, in welchem einzelne Partikel isoliert herumliegen. Diese sind mit „essentiellen“ Eigenschaften ausgestattet, die sie für sich alleine besitzen, unabhängig von ihrer aktuellen Lage im System. Die essentielle Eigenschaft der Materie ist bei Newton bekanntlich die Trägheit (vis inertiae). Sie kann – in der idealisierten Form eines Massepunktes – unabhängig von der räumlichen Ausdehnung materieller Objekte beschrieben werden. (vgl. Freudenthal 1982, S. 42 ff.). Objekte werden, wie
39Vgl.
(1982).
zum folgenden Black (1963), Campbell (1971), Clark (1992) und Freudenthal
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die Planeten, durch fernwirkende Zentripetal- und Trägheitskräfte in Bewegung gehalten. Diese Kräfte liegen im System selbst und entstammen keiner äußeren Quelle. Unter bestimmten Bedingungen, wie sie im Planetensystem gegeben sind, befindet sich das System im Zustand eines Gleichgewichts. Ein solches System ist ein sich selbst steuerndes System. Es bedarf zu seiner Stabilität keiner stützenden Hand von außen. In einer Sozialphysik nach Newton werden die Individuen wie Newtonianische Atome beschrieben. Als eigenständige und isolierte Wesen sind sie mit „essentiellen Eigenschaften“ ausgestattet, die ihnen als Menschen unabhängig von ihrer aktuellen Stellung im sozialen System zukommen.40 Smith stattet den Menschen mit „natürlichen“ Eigenschaften aus: in der Theory of Moral Sentiments mit passions, im Wealth of Nations mit einem Tauschtrieb (the propensity to truck, barter, and exchange) und ein Bündel anderer Motive, wie das Eigeninteresse (the desire to better one’s condition). Diese Aspekte stellen für Smith anthropologische Konstituenten dar, die jeder Person zukommen.41 Sie gelten für die ganze Geschichte, d. h. für alle vier Stadien, mit denen Smith die Geschichte der Menschheit beschreibt.42 In der Theory of Moral Sentiments definiert Smith die Gesellschaft als eine „immense Maschine“. Ihr gewöhnlicher Zustand bildet eine Harmonie, die als emotionales Gleichgewicht verstanden werden kann. Darin haben sich die wechselseitigen moralischen Bewertungen aller Mitglieder der Gesellschaft so arrangiert, dass insgesamt die Tugend der Gerechtigkeit herrscht. Sie ist. „the main pillar that upholds the whole edifice. If it is removed, the great, the immense fabric of human society, that fabric which to raise and support seems in this world, if I may say so, to have been the peculiar and darling care of Nature, must in a moment crumble into atoms.“ (Smith 1976b, S. 78)
Smiths Konzept eines Gleichgewichtssystems (das sich sowohl in der Theory of Moral Sentiments als auch im Wealth of Nations findet) korrespondiert in
40Vgl.
zu dieser Gegenüberstellung Black (1963), S. 92. sind prämoralische Impulse bzw. Triebkräfte. Sie beschreiben nach Smith die Natur des Menschen und werden durch die imagination in einem gesellschaftlichen Sozialisationsprozess zu moralischen Werturteilen, diese bilden die Basis der Gesellschaft. 42Das sind hunting, pasturage, agriculture und commerce. Vgl. Smith (1982), S. 459 und Smith (1976a), Buch 3 und 5. 41Passions
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wesentlichen Zügen mit dem Systemkonzept von Newton.43 Ein Gleichgewicht kommt durch den Ausgleich endogener Kräfte zustande und nicht durch direktive Anordnungen von außen (wie im Absolutismus). Ein System mit diesen Eigenschaften fungiert wie eine sich selbst steuernde Maschine. Ihre Kräfte halten sie in einem stabilen Zustand. Im Wealth of Nations beschreibt Smith Züge des Wirtschaftssystems als potentiell harmonisch. Dabei nimmt er wieder auf systemendogene Faktoren Bezug. In seiner Werttheorie z. B. ist die Arbeit die Quelle des Wertes – und nicht die systemexogene Natur wie bei Quesnay. Smiths „System der natürlichen Freiheit“ besitzt sich selbst regulierende Aspekte, in dem einander widersprechende Kräfte zu einem Gleichgewicht tendieren. Ein Beispiel findet sich in Smiths Analyse von Preisen. Märkte können (aber müssen nicht per se) als Feedback-System mit dem Angebot als Rückkopplungsvariable gedeutet werden, das sich „ganz von selbst der wirksamen Nachfrage an(passt)“.44 Der Anpassungsprozess geschieht nicht im direkten Kontakt der Akteure, sondern über Märkte – gleichsam in einer „Fernwirkung“. Die Steuerungsvariable ist hier der (kurzfristige) Marktpreis, welcher sich längerfristig dem kostenbestimmten „natürlichen Preis“ nähert, der eine Art „Gravitationspunkt“ ausmacht. „The natural price, therefore, is, as it were, the central price, to which the prices of all commodities are continually gravitating.“ (Smith 1976a, S. 75)
Der Übergang von Descartes zu Newton in der ökonomischen Theorie ist von einem Wechsel der konkreten Maschine im Quellbereich der Metapher begleitet: das Bild von der Uhr wird durch das Bild von der Waage ersetzt. Smith „natürlicher Preis“ hat sich, wie das Zitat zeigt, gleichsam „eingependelt“.45
43In
der 1795 posthum publizierten History of Astronomy betont Smith dabei die imaginativ-kreative Leistung von Wissenschaftlern: „A system is an imaginary machine invented to connect together in the fancy those different movements and effects which are already in realty performed.“ (Smith 1980, S. 66). Als Überblick über den Newtonianismus bei Smith vgl. Berry (2006). 44Smith (1988), S. 50. Zum Einfluss von Newton auf die Preistheorie von Smith vgl. zusammenfassend Worland (1976). Die Deutung der invisible hand als eines universellen Gestaltungsmoments bzw. als entscheidender Aspekt „des Marktes“ (in der Einzahl), die heute in den meisten Lehrbüchern der Mikroökonomie vertreten wird, findet sich in den beiden Hauptwerken von Smith nicht. 45Zum Übergang von der Uhren- auf die Waagen-Metapher im Lebenslauf von Smith vgl. Skourtos (1994), S. 15 f.
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Die Metaphern von der Waage, vom Ausgleich und vom Gleichgewicht, haben wie jene der Uhr eine lange Geschichte, die wiederum bis in die Antike zurückreicht. Ein bekanntes Beispiel sind die antiken und mittelalterlichen Humorallehren in der Medizin. Hier wurde eine Balance der vier menschlichen Säfte angestrebt, nur so konnte der Mensch gesund sein. Im Bereich des Wirtschaftens verweist das Wort „Balance“ in der beginnenden Neuzeit auf die „Bilanz“ in der doppelten Buchhaltung, die sich ab den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts in Europa ausbreitet. Ihre „Ausgeglichenheit“ verfolgt nach Mary Poovey auch eine propagandistische Absicht: „Thus the entries in the double-entry system seemed simply to refer to the particulars of a merchant’s trade, while the system as a whole, which subordinated those particulars to the all-important balance, produced meanings that exceeded even the veracity of the individual entries. Most immediately, the balances produced by this system of writing proclaimed the creditworthiness of the individual merchant; more generally, the system’s formal coherence displayed the credibility of merchants as a group.“ (Poovey 1998, S. xvii)46
Fast ein Jahrhundert später gibt Edward Misselden dem Begriff Balance eine neue Bedeutung, und zwar als kollektive Größe für den Außenhandel: „So wie die Waage eine Erfindung ist, die uns das Gewicht der Dinge zeigen kann, wodurch man das Schwere vom Leichten zu unterscheiden vermag, so ist auch diese Handelsbalance eine ausgezeichnete und politische Erfindung, um uns den Gewichtsunterschied im Handel eines Königsreichs mit einem anderen zu zeigen: das heißt ob die importierten ausländischen Waren auf der Handelswaage einander aufwiegen oder überwiegen.“47
46Nach
Aho (1985) wurde damit der Zweck verfolgt, die Profite des Kaufmanns als legitim darzustellen und sie so gegen den Vorwurf des Zinswuchers zu verteidigen. 47Misselden, Edward: The Circle of Commerce: or the Ballance of Trade, London 1623; hier zitiert nach Pribram (1992), 104 f. (Pribram gibt zum Zitat keine Seitenangabe).
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Karl Pribram kommentiert diese neuen Sprachgebrauch so: „So wurde ein der Mechanik entstammender Begriff darauf verwandt, die Wirkungen ökonomischer Transaktionen zu bestimmen.“ (Pribram 1992, S. 104 f.)48
In der Folgezeit wurde das Bild einer mechanischen Waage mit den neuen Ordnungsvorstellungen des Liberalismus verbunden – in Kritik der Metapher von der Uhr, die für einen absolutistischen Systementwurf stand. Smiths Theorien können als wichtiger Teil dieser Bewegung gedeutet werden. Ihr gelang es, die Idee von Gleichgewichten im sozialen Diskurs nachhaltig zu verankern. Ein Hauptargument lieferte die Referenz auf die Welt als einer Maschine, in der zahllose Gleichgewichtssysteme zu finden sind. Ein solcher Verweis kann im politischen Diskurs vorteilhaft sein, weil man damit suggerieren kann, „die eigentliche Wirklichkeit“ würde auf der eigenen Seite stehen. Das Bild von der Waage besaß im Liberalismus auch eine politische Dimension und diente der Absicherung politischer Forderungen. Zu diesem Zwecke wurden, wie bei Smith, ideale Gleichgewichtssysteme konstruiert und ihre Durchsetzung in der sozialen Realität verlangt. Eine bekannte Version ist die populäre Theorie der Demokratie. Sie entfaltet ein Systembild in Analogie zu Newton: ein liberaler bzw. demokratischer Staat besteht demnach aus getrennten und voneinander unabhängigen Institutionen, die durch soziale (gesetzlich regulierte) „Kräfte“ verbunden sind und sich auf diese Weise einander wechselseitig begrenzen bzw. kontrollieren. In der einfachsten Variante handelt es sich um die Exekutive, die Legislative und die Judikative. Die Trennung dieser drei Institutionen in autonome Einheiten erlaubt es, zwischen ihnen anziehende oder abstoßende Kräfte zu postulieren. Das Ideal der Demokratie bildet in diesem Bild ein System, in dem die drei Teile miteinander eine abgestimmte dreiseitige Balance eingehen, im Englischen spricht man von check and balances. Der Staat funktioniert in diesem Idealbild wie das Planetensystem bei Newton (vgl. Mayr 1987, S. 216 ff.):
48Ebenda.
Wieder geht es um die Reputation der Kaufleute als Gruppe. Misselden steht in einer heftigen Kontroverse mit Gerald de Malynes, der den englischen Kaufleuten vorgeworfen hatte, sie würden nur ihren privaten Gewinn suchen. Misselden war selbst Kaufmann und Mitglied zuerst der Merchant Adventure und dann der East India Company. Für ihn kann der private Vorteil aus dem Handel (Privatum Commodum) vom öffentlichen nicht getrennt werden, die Kaufleute würden das Wohl des Königs fördern, vgl. Ingram (2006), S. 6 f., Mitra-Khan (2011) argumentiert, Misselden würde bereits über die Vorstellung verfügen, dass die Wirtschaft einen abgrenzten Raum mit eigenen Regeln ausmacht.
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„Wie drei unterschiedliche Kräfte der Mechanik treiben sie gemeinsam die Maschine der Regierung in eine anderer Richtung, als jeder von ihnen es für sich alleine getan hätte; zugleich aber in eine Richtung, an der jeder einzelne teil hat und die aus allen gebildet wird: eine Richtung, welche die wahre Linie der Freiheit und des Glücks der Gemeinschaft ausmacht.“49
7 Die Wirtschaft als naturgesetzliche Waage In der Folgezeit wurde in der ökonomischen Theorie die Metapher von der Waage beibehalten, aber entscheidend verändert. Im Hintergrund steht eine neue Vorstellung von der Natur, die sich im 18. Jahrhundert anbahnt und im 19. Jahrhundert dominant wird. Smith ist noch ein Vertreter der etablierten Naturtheologie, der im 17. und 18. Jahrhundert fast alle Vertreter einer mechanistischen Deutung der Natur anhingen. Hier wurde „die Maschine der Welt“ immer in einen direkten Zusammenhang zum christlichen Schöpfergott gestellt.50 Naturgesetze wurden nicht, wie das dann in einer materialistischen Deutung im 19. Jahrhundert üblich wurde, nur als rein funktionale Zusammenhänge interpretiert, sondern besaßen auch (so sonderbar dies heute klingen mag) moralische Züge (vgl. Clark 1992, S. 44). Sie wurden auch als moralische Kommandos eines wohlwollenden Gottes an die Natur begriffen 51 das besagte z. B. auch die
49So
ein Kommentator zur englischen Regierung Anfang des 19. Jahrhunderts: Sir William Blackstone: Commentaries on the Laws of England, hrs. V, St. George Trucker, 5 Bände, Philadelphia 1803, wiederaufgelegt South Hackensack, N.J., 1969, S. 51 f.; hier zitiert nach Mayr (1987), S. 196. 50Prominente Beispiele sind Robert Boyle: Disquisition about the Final Causes of the Natural Things, 1688; John Ray: Wisdom of God Manifested in the Works of Creation, 1691; Joseph Butler: The Analogy of Religion, 1736; Abraham Tucker: The Light of Nature Pursued, 1768 und William Paley: Natural Theology, 1802. 51Newtons Schüler Roger Cotes schreibt im Vorwort zur 2. Auflage der Principia: „Die wahre Aufgabe der Naturphilosophie ist es, nach jenen Gesetzen zu forschen, die der große Schöpfer tatsächlich auswählte, um diese wunderschöne Welt zu schaffen. […] Ohne Zweifel, diese Welt …[…] konnte durch nichts anderes entstehen, als durch den völlig freien Willen Gottes, der lenkend und regierend über allem ist. Von dieser Quelle sind die Gesetze, die wir Gesetze der Natur nennen, geflossen, in denen in der Tat viele Spuren des allerweisesten Entwurfes deutlich werden, aber nicht der leiseste Schatten einer Notwendigkeit.“. (Newton, Isaac: Opera quae Exstant Omnia, eds. S. Horsley in fünf Bänden, London 1779–1785, Faksimile Neudruck, Stuttgart und Bad Cannstatt 1964, II, XX.XXII, zit. nach Krolzik 1988, S. 118).
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Doktrin von der Vorhersehung.52 Adam Smith war mit diesen Ansätzen vertraut, er hatte Naturtheologie auch in seinem Basiscurriculum an der Universität Glasgow unterrichtet.53 Seine Theorien weisen direkte Bezüge zur Naturtheologie auf (vgl. Ötsch 2007), wenngleich diese im Laufe seines Lebens (auch unter dem Einfluss seines Freundes David Hume) schwächer geworden sind. Dass Smith in der Folgezeit nur als Ökonom, nicht aber als Moralphilosoph interpretiert wurde (bzw. dass die Theory of Moral Sentiments später als Widerspruch zum Wealth of Nations galt: das so genannte Adam Smith-Problem) hat auch mit dem Niedergang der Naturtheologie Ende des 18. Jahrhunderts und dem Aufkommen eines materialistischen Wissenschaftskonzepts zu tun. Bedeutsam für die Uminterpretation des Werks von Adam Smith waren insbesondere die Arbeiten von Jan-Baptiste Say (sie waren in Deutschland, Frankreich und in den USA populär)54 sowie von Malthus und Ricardo. Der Schwenk von einer naturtheologischen zu einer materialistischen Interpretation, für den diese drei Autoren stehen, hatte viele Konsequenzen. So wurde die Wirtschaft aus dem Konnex der Gesellschaft (Smiths commercial society) gelöst und die moralische Dimension des Menschen sowie die geschichtliche Dimension der Wirtschaft vermindert bzw. später aufgegeben. Die mechanistische Metapher der Wirtschaft bezieht sich jetzt auf eine (rein) materialistisch verstandene Natur. Weil Naturgesetze ewig gelten und mit Moral nichts zu tun haben, wird (analog) der geschichtliche und der moralische Aspekt des wirtschaftenden Menschen weniger wichtig bzw. ganz außer Acht gelassen.
52Die
mechanistische Metapher wurde in England und Schottland in einer naturtheologischen Deutung popularisiert, z. B. durch Predigten der Anglikanischen Kirche: „The Boyle lecturers, Jacob showed, did not see their purpose as popularizing Newton nor as creating a distinct Newtonianism. Rather, in the course of their battles within the Anglican church, as well as those waged against atheists and deists, they found in Newton’s view of the universe the ingredients for a powerful natural theology. They argued that the universe was governed by divine providence – a providence that coexisted with natural laws such as gravity and motion – and that this governance made for an orderly and predictable world.“ (Fissel und Cooter 2003, S. 134, mit Bezug auf: Margaret C. Jacob: The Newtonians and the English Revolution, 1689–1720, Hassocks, Sussex: Harvester Press, 1976). 53Vgl. Haakonssen (2006), S. 7 und Ronge (2015), S. 122. Die impliziten moralischen Aspekte in der Natur widerspiegeln sich auch in Smiths Sichtweise einer moralischen Persönlichkeit. 54Bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts war in den USA Says Hauptwerk Traité d’économie politique (das erstmals 1803 erschienen und 1816/1817 erstmals ins Englische übersetzt worden ist), das populärste Lehrbuch überhaupt.
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Diese Trends können wir u. a. bei Say, Malthus und Ricardo erkennen.55 Say trennt den Bereich der Politischen Ökonomie von dem der Politik bzw. der Gesetzgebung. Er spricht auch von Gesetzen von Märkten (bzw. „stilisierten Prinzipien“) in Analogie zum Gravitationsgesetz (wenngleich er diese Analogie nur verbal behandelt), die auf „generellen Fakten“ beruhen.56 Noch deutlicher kommt der Schwenk zu einer moralfreien Natur im Bevölkerungsgesetz von Malthus zum Vorschein, das Gesetz selbst wird als Check and balancesAnsatz in Analogie zu Newton formuliert (vgl. Cremaschi 2010). Malthus kombiniert zwei Theoreme: ein Gesetz über die Entwicklung der Nahrungsmittelproduktion (das Ertragsgesetz, abgeleitet aus der Pflanzenphysiologie) und ein Gesetz über die Entwicklung der Bevölkerung (ein Theorem über die Fruchtbarkeit der Menschen, abgeleitet aus dem Geschlechtstrieb der Tiere). Malthus braucht sein „Gesetz“ zur Erörterung der „Armenfrage“ im Gefolge der Industriellen Revolution. Er steht in Streit mit den „Utilitaristischen Anarchisten“, wie Robert Wallace, William Oglivie, William Godwin oder Thomas Spence, die weit reichende Sozialreformen anstreben (vgl. Ötsch 2016b). Malthus antwortet mit einem neuen Konzept der Gesellschaft: Sie wird von biologischen Gesetzen regiert, wie sie für Pflanzen und Tiere gelten, die Armenfürsorge wird damit weitgehend einer politischen Gestaltung entzogen. Ricardo folgt ihm in dieser Analyse. Armengesetze (politisch verordnete Lohnerhöhungen) stehen für ihn in Widerspruch zu den Naturgesetzen der Ökonomie: „Das Gesetz der Schwerkraft ist nicht unfehlbarer als die Tendenz solcher Gesetze, Wohlstand und Lebenskraft in Elend und Schwäche zu verwandeln, […] bis schließlich alle Klassen mit der Seuche allgemeiner Armut angesteckt würden.“ (nach Polanyi 1978, S. 176)
Mit Say, Malthus und Ricardo wird die ökonomische Theorie an die zeitgemäßen materialistischen Naturwissenschaften angebunden und verliert zunehmend das Kennzeichen einer echten Humanwissenschaft. Die Analogie von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zu Naturgesetzen (insbesondere zum Gravitationsgesetz) wird von einem Bereich, der menschlichem Einfluss und politischem Wollen unterworfen war, zu einem Bereich verschoben, der den Menschen entzogen ist. In den neuen Sozialphysiken des 19. Jahrhunderts verblassen die primär menschliche
55Zu
den materialistischen Implikationen bei Malthus und Ricardo vgl. Taylor (1930), S. 16 ff. und Büscher (1991), S. 131 ff. 56Zu Differenzen des „Sayschen Gesetzes“ zu heutigen Deutungen in den mikroökonomischen Lehrbüchern vgl. Forget (1999), ch. 13.
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„Kräfte“, die im 17. und 18. Jahrhundert als Handlungsmotive im Vordergrund standen, wie die Angst bei Hobbes, das Eigeninteresse bei Quesnay oder die Sympathie und das Eigeninteresse bei Smith. Mit Malthus und Ricardo gewinnt gleichzeitig der ökonomische Mechanismus ein Eigenleben. Er nimmt die Gewalt eines Naturereignisses an, das unabhängig vom bewussten Wollen der Menschen abläuft. „Nun glaubte man, dass der selbstregulierende Markt aus den unerbittlichen Naturgesetzen folge und die Entfesselung des Marktes eine unausweichliche Notwendigkeit sei.“ (Polanyi 1978, S. 177)
Diese Verschiebung hat auch Konsequenzen für die Methodik. Mit Ricardo zieht die formale Methode (hier auch das Differentialkalkül) in die ökonomische Theorie ein. Die neue Methode ist die unmittelbare Konsequenz der neuen Sozialphysik. Wenn sich wirtschaftliche Phänomene nicht mehr qualitativ von Phänomenen der Physik unterscheiden, dann können erstere durch formale Modelle adäquat beschrieben werden.57 Mitte des 19. Jahrhunderts verzichtet die Ökonomie weitgehend auf der Entwicklung einer eigenständigen Epistemologie und übernimmt jene der klassischen Physik. John St. Mill, der damals als führender Ökonom in England galt, grenzt in „A System of Logic“ die Politische Ökonomie ausdrücklich als eigenständigen Bereich von anderen Sozialwissenschaften ab. Ihr Gegenstandsbereich sei die Untersuchung des Reichtums („wealth“), ihre Phänomene werden zurückgeführt auf „the desire of wealth“. Dies könne kausal erklärt werden – wiederum in direktem Bezug zu der Himmelsmechanik bei Newton (Mill 1882, 1092 ff.) Die Ökonomie folgt in ihrem Kernbereich (der „production“) ausschließlich der deduktiven Methode.58 Mit anderen Worten: Die Metapher von der Wirtschaft als Maschine gilt auch im Methodenbereich der Ökonomie. Der Bildtransfer von der Natur auf die Wirtschaft gilt ab jetzt nicht nur heuristisch und ontologisch, sondern auch methodisch. 57Schumpeter
(1967) bezeichnet die formale Methode Ricardos („das Ricardianische Übel“, S. 584) als die Konstruktion einer „Vielzweck-Maschine“ (S. 585). 58Die Gesetze der Produktion zeigen nach Mill den Charakter „physikalischer Wahrheiten“. Sie sind zeitlos und allgemeingültig, wie die Naturgesetze der Physik. Die Gesetze der Verteilung hingegen sind „rein menschliche Einrichtungen“: sie hängen von den „Gesetzen und Gewohnheiten der Gesellschaft“ ab. Der Teil der Ökonomie, der sich mit der Produktion beschäftigt, zeigt alle Charakteristika einer „exakten Wissenschaft“, wie die Astronomie. Der Bereich der Verteilung hingegen ist nach Mill den „Moralwissenschaften“ zuzurechnen. Diese seien „unexakt“, weil sie auf einer mangelhaften Informationsbasis beruhen. Vgl. Clark (1992), S. 101 ff. und Pribram (1992), S. 333 ff.
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8 Die Wirtschaft als kraftgesetzliche Waage Die neoklassische Theorie, wie sie von Jevons und Walras entwickelt wurde, markiert einen Meilenstein in der Geschichte der mechanistischen Metapher in der Nationalökonomie. Jetzt bezeichnet sich sogar, wie eingangs zitiert, die Wissenschaft von der Wirtschaft selbst als „mechanisch“. Das dabei entworfene deterministische Bild von der Wirtschaft steht in der Tradition des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace (1749–1827), der eine streng deterministische Deutung der Naturwissenschaften entworfen hat, die im 19. Jahrhundert eine große Beachtung fand. In seiner Einleitung zur Theorie analytique de probabilities (1812) hatte Laplace einen fiktiven Weltgeist (den Laplaceschen Dämon) skizziert. Wenn dieser Geist – so argumentierte Laplace – den Ort und den Impuls aller Partikel der Welt zu einem gegebenen Zeitpunkt kennen würde, dann wäre er bei Kenntnis aller Kräfte in der Lage, den Zustand der gesamten Welt lückenlos für jeden Zeitpunkt in der Vergangenheit und in der Zukunft zu berechnen. Laplace war überzeugt, dass der Mechanismus der gesamten Welt auf mathematische Funktionen reduziert werden könne. Der Traum von Laplace bildet eine der geistigen Grundlagen der Neoklassik. Jevons und Walras wollten mit einem einzigen Formalismus alle relevanten Phänomene der Ökonomie erklären, für beide nimmt die Grenznutzentheorie diese Stellung ein.59 Sowohl Jevons als auch Walras weisen zur Begründung auf eine Iso morphie bei Newton hin: die Formel für das Haushaltsgleichgewicht (relative Grenz nutzen gleich relativen Preisen) entspricht der Goldenen Regel der Mechanik (relative Kräfte gleich den inversen relativen Strecken der Hebeln).60 Die Gleichartigkeit in
59„Es
wird sich zeigen, daß der Grenznutzengrad jene Funktion ist, auf welcher die ganze Theorie der Wirtschaft ruht.“ (Jevons 1923, S. 50). „Maximum effective utility on the one hand; uniformity of price on the other hand […] these always constitute the double condition by which the universe of economic interest is automatically governed, just as the universe of astronomical movements is automatically governed by the double condition of gravitation which acts in direct proportion to the masses and in inverse proportion to the square of the distances. In one case as in the other, the whole science is contained in a formula two lines in length which serves to explain a countless multitude of particular phenomena.“ (Walras 1965, S. 308). 60Jevons entwickelt in seinem Hauptwerk nach der „Theorie des Tausches“ (1923, S. 91–94) die „mathematische Darstellung der Theorie“ (bis S. 97). Gleich im Anschluss daran wird auf die „Ähnlichkeit mit der Theorie des Hebels“ aufmerksam gemacht. Jevons bringt auch eine Zeichnung, die zweifach für die Hebeltheorie und die Preistheorie kommentiert wird. Bei Walras findet sich diese Analogie in seiner Spätschrift Économique et mécanique aus dem Jahre 1909 (Walras 1960). Dabei bezeichnet er die Analogie seiner „physisch-mathematischen Wissenschaft“ zur Theorie von Newton noch einmal als sein zentrales wissenschaftliches Anliegen. Zur Isomorphiebehauptung vgl. auch Pokorny (1978), Fußnote 20.
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der Form wird von ihnen naiv interpretiert: so wie in der Mechanik die Bewegungsänderung von materiellen Körpern aus der Wirkungsweise von mechanischen Kräften „erklärt“ werden, so werde in der neuen Grenznutzentheorie die „Bewegungsänderung“ der Preise (die relativen Preise) aus der Wirkungsweise „innerer Kräfte“ „erklärt“. Jevons und Walras verstehen die Grenznutzentheorie gleichsam als „Krafttheorie der Preise“: Jevons in Bezug auf „Lust- und Unlustgefühle“ (als eher psychologisches Konzept), Walras in Bezug auf „Willenskräfte“ (als mehr formales Konzept). In beiden Fällen wird kausal argumentiert: die relativen Grenznutzen (das Ausmaß der inneren „Kräfte“) sind die Ursache(n) der relativen Preise (vgl. Ötsch 1990, S. 111 ff). Das implizite Laplacesche Programm der Neoklassik kann auch an der Gleichgewichtstheorie von Walras studiert werden. Walras entwirft das Modell einer völlig determinierten Wirtschaft, deren Endzustand aus den Ausgangsbedingungen berechnet werden kann. Er stellt sein Gleichgewichtssystem in Analogie zur Himmelsmechanik bei Newton und weist wiederum auf eine Isomorphie hin (vgl. Walras 1960). Ähnliche Aussagen finden sich bei Edgeworth und Pareto.61 Die umfangreichste Beschreibung der mechanistischen Metapher in der Neoklassik hat Irving Fisher in seiner Dissertation 1892 unternommen (Fisher 1926). Fisher formuliert die mechanistische Metapher auf mehreren Ebenen. Er vergleicht zum einen im Detail die Grundbegriffe der Mechanik mit den Grundbegriffen der Neoklassik, und zwar bei Jevons. So werden die ökonomischen Begriffe Individuum, Ware, Nutzen und Grenznutzen den physikalischen Begriffen Partikel, Raum, Energie und Kraft gegenübergestellt.62 Fisher beschreibt auch die Isomorphie von Basissätzen der Neoklassik zu denen der Mechanik und stellt die Analogie auch grafisch dar. Schließlich wird die mechanistische Metapher in Form einer konkreten Maschine illustriert – und zwar als hydraulisches Modell mit Zisternen, Schleusen und Hebeln, welches ein Gleichgewichtssystem mit zehn Märkten repräsentieren soll. Die Wirtschaft funktioniert in dieser Metapher wie
61„These
eqautions do not seem new to me, I know them well, they are old friends. They are the equations of rational mechanics.“ (On the Economic Phenomenon, International Economic Papers, no. 3, 1953, S. 185; zitiert nach Mirowski 1990, S. 221.). 62Eine detaillierte kritische Diskussion der Analogie von Fisher findet sich bei Mirowski (1990), S. 223 ff. Vgl. auch Tobin (2009) und Lagueux (1990), S. 37 ff.
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eine hydraulische Maschine, beschrieben durch ein Gleichungssystem aus der Mechanik. Neoklassische Ökonomie erscheint hier wie eine angewandte Physik.63 Mit Jevons und Walras wird das Differentialkalkül zum zentralen Instrumentarium der ökonomischen Theorie und dient denselben Zwecken wie in der Mechanik (vgl. Routh 1975, S. 216 ff.). Im Unterschied zur Ricardianischen Ökonomie findet das Differentialkalkül jetzt auf alle Individuen und alle Güter Anwendung. Die Neoklassik entwirft auf diese Weise eine Laplacesche Welt: die ‚Bewegung‘ jedes einzelnen Partikels der Ökonomie (Individuum und Gut) kann mithilfe des Differentialkalküls berechnet (und so dachte man in der Anfangszeit auch „erklärt“) werden.64 Damit wird ein statisches Bild der Wirtschaft entworfen, eine historische Netrachtung der Wirtschft kann nicht mehr unternommen werden. Denn im hier implizierten Naturalismus geht es um universelle Wahrheiten: [Economic theory] „consists of those general laws which are so simple in nature, and so deeply grounded in the constitution of man and the outer world, that they remain the same throughout all those ages which are within our consideration“. (Jevons 1965, S. 198) „This is the law of supply and demand that regulates all these exchanges of commodities, like the law of the universal gravitation governs all the movements of the celestial bodies. Here the system of the economic world finally appears in its full extent and complexity, and is seen to be just as beautiful, that is to say, both as vast and as simple, as the system of the astronomic world“ (Walras 2014, S. 432 f.).
Walras (in einem rationalistischen Verständnis des mechanistischen Welt-Bildes) postuliert die Existenz platonischer „Universalien“ in der Wirtschaft, Pareto
63„‚Mécanique
Sociale‘ may on day take her place along with ‚Mécanique Celeste‘, throned each upon the double-sided height of one maximum principle, the supreme pinnacle of moral as of physical science. As the movements of each particle, constraint or loose, in a material cosmos are continually subordinated, to one maximum sub-total of accumulated energy“ [gemeint ist Hamiltons Prinzip der kleinsten Aktion, formuliert als Extremprinzip, W.Ö.] „so the movements of each soul wheter selfish isolated or linked sympathetically, may continually be realising the maximum pleasure.“ (Edgeworth 1967, S. 9 ff. Edgeworth nimmt auch in seiner Verteidigung des „moral calculus“ von Jevons direkt auf Laplace Bezug, S. 7). 64Walras (1972, S. 93) stellt seinen Ansatz („die Beschreibung der Welt der wirthschaftlichen Phänomene, gestützt auf auf den Grundsatz der freien Konkurrenz“) direkt der Mechanik der Gestirne von Laplace („die Beschreibung […] der Welt der astronomischen Phänomene, gestützt auf den Grundsatz der allgemeinen Anziehung“) gegenüber. Vgl. zu dieser Analogie Ötsch (1990).
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spricht von ahistorischen „Uniformitäten“.65 Die unhistorische Sichtweise der Ökonomie bedarf einer unhistorischen Sichtweise des ökonomisch handelnden Menschen. Für Adam Smith und John Stuart Mill war der Mensch ein geschichtlich gewachsenes Wesen, lernfähig und dem Einfluss menschlicher Institutionen unterworfen. In der Neoklassik hingegen wird das starre Gerüst einer mechanisch geordneten Welt auf den Menschen übertragen. Der Mensch selbst wird auf diese Weise zu einem maschinenhaften Wesen, er wird wie eine Maschine konzipiert. Denn das Identitätsmerkmal des neoklassischen Homo Oeconomicus, das (so in vielen Lehrbüchern) seine Individualität ausmacht, ist seine Nutzenfunktion bzw. seine Präferenzordnung. Dieser Aspekt wird naturwissenschaftlich modelliert, das Vorbild bzw. die Analogie ist ein elektromagnetisches Feld im Verständnis der Physik ab 1840 (vgl. Mirowski 1990, Kap. 5). Der neoklassische Homo Oeconomicus weist damit die Merkmale eines Mechanismus auf: z. B. Ordnung, Regelmäßigkeit, Messbarkeit, Widerspruchsfreiheit und Berechenbarkeit.
9 Die Wirtschaft als digitaler Computer Die zeitgemäße Neoklassik baut auf diesem Fundament auf. Ihr Kernmodell (die moderne allgemeine Gleichgewichtstheorie, z. B. Debreu 1959) wurde in den 1950-er Jahren entworfen und stellt einen Teil des Modells von Walras in topologischen Räumen dar. Dieser Ansatz dominiert heute die Lehrbücher der Mikroökonomie und wird darin – meist am Anfang – sowohl als Modell der vollkommenen Konkurrenz als auch als Grundbild der Wirtschaft und ihrer „Mechanik“ präsentiert.66 Die neue Version der Neoklassik nahm sich die modernste Maschine aus ihrer Entstehungszeit zum Vorbild, nämlich den digitalen Computer, und überträgt ihn auf den Gegenstandsbereich der Wirtschaft (vgl. Edwards 1996; Mirowski 2002 und Amadae 2003). Die digitale Computer und die neue Wirtschaftstheorie haben sich parallel entwickelt und einander
65Der
pointierteste Vertreter dieses Standpunktes war vermutlich John Bates Clark: „There is […] a distinct set of economic laws, the action of which is not dependent on organization. They are fundamental; and we now have to note that they are universal. They act in the economy of the most advanced state, as well as in that of the most primitive.“ (Clark 1992, S. 129). 66Was oft vergessen wird: Jedes Angebots- und Nachfragediagramm mit den üblichen Kurvenverläufen ist isomorph zum Modell der vollkommenen Konkurrenz, vgl. Ötsch (2019), S. 176.
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beeinflusst.67 Der Ort dieses Vorgangs sind vor allem die Cowles Commission und die RAND Corporation (Abkürzung für Research And Development), letztere ist ein Think Tank, der 1946 von der U.S. Army Air Force und dem Rüstungskonzern Douglas Aircraft Company gegründet wurde. Dies hat auch politische Implikationen: Die neue Rational Choice Theory passt auch zur Ideologie des „freien Westens“ gegen „den Kommunismus“ und wird von staatlichen Stellen als geplantes Projekt entwickelt und finanziert, Amadae spricht vom Cold War Rational Choice Project.68 Dieser Forschungsstrang beruht auf der Metapher vom digitalen Computer. Der Mensch wird wie ein Informationsprozessor und das Preissystem der Märkte wie eine Apparatur zur Verarbeitung von Daten behandelt.69 Die Wirtschaftstheorie wird auf diese Weise zu einem Unterzweig der Informations-ProzessTheorie, Mirowski (2002) spricht von einer „Cyborg-Wissenschaft“. Die Bedeutung (und die Suggestion) der Computermetapher liegt in ihrer universellen Einsetzbarkeit – man könnte sagen, das Bild der Welt als Maschine aus dem 17. und 18. Jahrhundert habe im 20. Jahrhundert die Form einer Welt als Computer angenommen. In der Computermetapher vermischen sich viele Wissensbereiche, die früher getrennt waren, u. a.: – die Biologie (z. B. das Konzept eines genetischen „Codes“ als „Information“ verstanden), die Naturwissenschaften („Information“ als physikalische Größe) und die Sozialwissenschaften (in denen menschliches Wissen, das verstanden werden muss, mit technisch handbaren Informationen vermengt wird);
67Nach
Edwards (1996), Mirowski (2002) und Amadae (2003). Mirowski (2002) illustriert im Detail folgende These: „that the military usurpation of science funding in America in World War II; the rise of theories of science planning, organization, and policy: the rise of the cyborg sciences; and the rise to dominance of neoclassical economic theory within the American context are all different facets of the same complex phenomenon.“ (S. 157). 68Amadae (2003), S. 15. Prominente Beispiele sind die Theory of Games and Economic Behavior von John von Neumann und Oskar Morgenstern (1944), Social Choice and Individual Values von Kenneth J. Arrow (1951), An Economic Theory of Democracy von Anthony Downs (1957), The Calculus of Consent von James M. Buchanan und Gordon Tullock (1962) und The Logic of Collective Action von Mancur Olson (1965). 69Auf Basis dieser neuen „Selbstverständlichkeit“ wird die Geschichte der Ökonomie in naiver Weise rückinterpretiert: „The role of the price system as a computing device for achieving an economic optimum has been one of the main strands of economic theory since the days of Adam Smith.“ (Arrow, Kenneth: The Economics of Information, Vol. 4 der Collected Papers, Cambridge, Harvard University Press 1984, S. 44; zitiert nach Mirowski 2002, S. 301).
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– Reale Abläufe (in der Natur oder im Sozialen) und Simulationen davon, bis hin zu virtuellen Welten; – Biochemische Vorgänge (z. B. im Gehirn) und psychologische Prozesse, usw. (Diese Aspekte gehen auch im Metaphernkonzept von Lakoff und Johnson ineinander über.) Diese Grenzüberschreitungen machen Ansätze möglich, wie die Kybernetik, System- und Informationstheorien sowie später die Kognitionswissenschaften, die mit einem weit reichenden Anspruch auftreten. Die neue Neoklassik (wie schon die alte) vollzieht diese Grenzüberschreitungen (kaum reflektiert) mit, vor allem auch, weil alle Grundkategorien (wie Markt, Akteur, Handeln oder Rationalität) in der Regel nicht definiert sind bzw. es kaum einen Diskurs gibt, der ihrer Klärung dient. In der Computermetapher gilt dies vor allem für das Konzept der Information, das in vielen widersprüchlichen Bedeutungen auftritt, z. B. als Ding (das z. B. auf Märkten gehandelt werden kann), als Indexgröße oder als Symbol.70 Auch die erkenntnistheoretischen Positionen der Neoklassik sind weitgehend ungeklärt. So geht z. B. das Standardmodell in den Lehrbüchern der Mikroökonomie von gegebenen Zuständen der Welt aus, die den Akteuren in Form von (digitalisierbaren) Daten vorliegen, wie die Preise auf allen relevanten Märkten. Diese Daten sind den handelnden Wirtschaftssubjekten im Modell als objektive Gegebenheiten bekannt. Sie werden als direkter Zufluss (Input) gesetzt, ein (subjektives, gesellschaftliches, kulturelles, …) Verstehens- bzw. Deutungsproblem wird nicht problematisiert: jeder Akteur ist wie ein Computer über eine Schnittstelle an eine „äußere Umwelt“ angeschlossen. „Entscheiden“ wird in diesem Ansatz als schrittweise Transformation einer Menge in eine andere dargestellt: Die „objektive Zustände der Welt“ werden in eine Menge von Handlungsalternativen, diese in eine Menge der Konsequenzen und diese in eine Menge von Bewertungen transformiert. Aus dieser Menge wird anhand einer vorgegebenen Zielfunktion eine optimale Größe ausgewählt, daraus ergibt sich ein Output nach „außen“, der als Kaufabsicht und dann in seiner Realisation als Kaufakt interpretiert wird. Alle Aspekte dieses „Prozesses“ werden in einem formalen Programm dargestellt. „Geistige“ Prozesse erscheinen als Manipulation von Symbolen. Dies korrespondiert mit einer Interpretation, die in Teilen der Kognitionswissenschaften vertreten wird: Ideen und mentale Prozesse werden wie technisch manipulierbare Dinge gedacht bzw. in einer technisch
70Diese
Unterschiede werden ausführlich erörtert in Mirowski und Nik-Khah (2017).
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manipulierbaren Form dargestellt. Der menschliche Geist ist nur eine andere Art von Computer (vgl. Krämer 1994). Populär heißt es: das Gehirn ist wie eine Hardware, der Geist wie eine Software, das Gedächtnis wie ein Datenspeicher, usw. (vgl. Edwards 1996, S. 161 ff.) Die Computeranalogie der Ökonomie entwirft das Bild eines ökonomisch handelnden Wesens, das ungemein beschränkt ist. Es kann nicht autonom Wissen erwerben, nicht wirklich lernen – d. h. es kann sich weder verändern noch schöpferisch tätig sein. In dieser Kritik kann gesagt werden: „[Neoklassische] Modellsubjekte [dürfen] keine über einen Objektcharakter hinausgehenden Eigenschaften haben. Sie sind prinzipiell durch nichts außer ihrem Etikett qualitativ von Automaten oder Programmen unterscheidbar. […] Statt von Subjekt kann […] mit gleicher Berechtigung von einem Programm gesprochen werden.“ (Blaseio 1986, S. 140 und 136 f.)
Was die Computermetapher für das Bild des Menschen in der modernen Neoklassik tatsächlich zu bedeuten hat, ist schwer zu sagen. In Gegensatz zu der alten Neoklassik, die sich selbst als mechanistisch bezeichnet und zumindest rudimentär über die ihrem Menschenbild zugrunde liegende Metapher reflektiert hat, findet man derartige Überlegungen bei den führenden Vertretern der neuen Neoklassik kaum. Von Neumann jedenfalls hat die Analogie des Homo Oeconomicus zum Computer nicht ontologisch verstanden, er war sowohl mit der Quantenmechanik (von Neumann hat dazu einen eigenen Formalismus entwickelt) als auch mit den Unvollständigkeitssätzen von Gödel vertraut; beide können als Kritik der klassischen Mechanik – auf der die Neoklassik von Jevons und Walras beruht – gedeutet werden.71 Mirowski argumentiert, dass mit der Übernahme der Computermetapher in die Neoklassik die Beschäftigung mit Konzepten des Selbst für die ökonomische Theorie aufgehört habe. Mehr noch:
71Die
Quantenmechanik führt zu schwerwiegenden Interpretationsproblemen für eine Ontologie der Welt als Maschine, z. B. im Beobachterproblem beim Kollaps der Wellenfunktion, die die strikte Trennung von Objektiv/Äußerlich und Subjektiv/Innerlich auf eine Weise durchbrochen wird, die zu philosophischen Rätseln Anlass gibt (vgl. Zukav 1981, Herbert 1985; Rohrlich 1987). Die Sätze von Gödel haben mit der Reflexionsfähigkeit von Menschen zu tun. Sie weisen auf die Grenzen einer formal verstanden Mathematik hin, die nicht einmal ihren eigenen Gegenstandsbereich vollständig abbilden kann. (Vgl. zu einer möglichen Anwendung auf die Neoklassik Ötsch 1991).
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„It would seem that the primary reason why the Self has experienced a certain delinquescence in the larger culture that is the cyborg science have served to undermine each and every definition of the individual Self enumerated here. In a phrase, methodological individualism is being slowly and inexorably displaced by methodological cyborgism.“ (Mirowski 2002, S. 441).
Einige dieser Fragen werden im nächsten Teil beantwortet, allerdings mit einer bezeichnenden Pointe.
10 Die Wirtschaft als Telekommunikationssystem Als letzte Version in der Abfolge der mechanistischen Metapher der Ökonomie soll auf Karl August Friedrich (von) Hayek verwiesen werden. Hayeks Ansätze sind im Vergleich zur Neoklassik relativ wenig verbreitet. Hayek hat es aber geschafft, auch durch das von ihm mitgestaltete Netzwerk (vor allem von Think Tanks) in den Wirtschaftswissenschaften eine neue Maschinenmetapher über das Wirtschaftssystem nachhaltig zu verankern.72 Seine Metaphorik ist in beachtliche Teile der heutigen Ökonomie eingeflossen, unter anderem auch in die (neoklassischen) Lehrbücher der Mikroökonomie, die scheinbar ein anderes Paradigma vermitteln. Ein entscheidender Moment für diese Wirkung liegt in der Umdeutung des Wirtschaftssystems durch einen neuen Begriff, nämlich den „des Marktes“ bzw. „der Ordnung“ (in der Einzahl) mit sehr spezifischen Bedeutungen, die im Folgenden kurz erwähnt werden (im Detail bei Ötsch 2019). Hayek übernimmt den Begriff „der Markt“ von seinem Lehrer Ludwig von Mises, der in großer Selbstverständlichkeit eine Maschinenmetapher formuliert. 73 Mises postuliert: „Der Mechanismus des Marktes gibt der Wirtschaft ihren Sinn“ (Mises 1931, S. 10). Was aber „der Markt“ als Institution sein soll, wird von Mises nicht erörtert. Er konzipiert jedenfalls „den Markt“ als eine homogene und nicht weiter differenzierte Entität, der er eindeutige Eigenschaften zuweist. „Der Markt“ wird zugleich – auch das ist in der Theoriegeschichte der Ökonomie neu – als konstitutiver Begriff für das Wirtschaftssystem als Ganzes gesetzt. Mehr noch: Für Mises bezeichnet „der Markt“ auch ein Gesellschaftssystem. Im Prinzip gibt es nämlich für Hayek nur zwei Gesellschaftssysteme: solche, in
72Aspekte der Wirkungsgeschichte von Hayek werden zusammengefasst in Ötsch et al. (2017) und Ötsch (2019). 73Eine weitere Quelle sind die Ordoliberalen, vgl. dazu Ötsch et al. (2017).
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denen „der Markt“ „behindert“ ist (das ist „Sozialismus“), und solche, in den das Gegenteil der Fall ist. „Es gibt eben keine andere Wahl als die: entweder von isolierten Eingriffen in das Spiel des Marktes abzusehen oder aber die gesamte Leitung der Produktion und der Verteilung an die Obrigkeit übertragen. Entweder Kapitalismus oder Sozialismus; ein Mittelding gibt es eben nicht.“ (Mises 1929, S. 12)
Jede andere „Gesellschaftsordnung“ wird ausgeschlossen: „Nie ist es gelungen, zu zeigen, dass […] noch eine dritte Gesellschaftsordnung denkbar und möglich sei. Das zwischen beiden vermittelnde System des durch obrigkeitliche Maßnahmen beschränkten, geleiteten oder regulierten Eigentums einzelner ist in sich selbst widersprüchlich und sinnwidrig; jeder Versuch es ernstlich durchzuführen, muss zu einer Krise führen, aus der dann entweder Sozialismus oder Kapitalismus allein den Ausweg geben können.“ (Ebenda, S. 24)
Gleichzeitig wird diese Gegenüberstellung bei Mises immer normativ aufgeladen: „der Markt“ wird positiv beschrieben, sein vermeintliches Gegenteil negativ. „Der Mark“ ist z. B. der Hort „der Freiheit“, hier tritt keine „Behinderung“ auf. Diese wird als „Eingriff“ „in den Markt“ definiert und stellt einen „Befehl“ dar, der „von einer gesellschaftlichen Gewalt“ ausgeht. „Eingriffe“ „zwingen […] die Eigentümer der Produktionsmittel und die Unternehmer […], die Produktionsmittel anders zu verwenden, als sie es sonst tun würden.“ (Ebenda, S. 6)
Das Markt-Konzept von Mises beinhaltet u. a. folgende Aspekte, die für seine Wirkungsgeschichte bedeutsam wurden (Details bei Ötsch 2019, Kap. 1): 1. Mises setzt Markt mit Wirtschaft und Gesellschaft ident bzw. setzt „den Markt“ als das entscheidende konstitutive Element für Wirtschaft bzw. Gesellschaft. 2. Er trennt dabei den zu analysierenden Bereich (wie mögliche Gesellschaftsordnungen) in prinzipiell zwei Teile, die 3. zugleich als wechselseitige logische Negationen definiert werden (wie „behindert“ und „nicht behindert“) und 4. belegt diese mit einem strickt dualen Code: „Liberalismus“ wird konsequent mit positiven Begriffen belegt, der „Sozialismus“ mit negativen. Dieser Codierung unternimmt Mises nicht nur für die theoretischen Konzepte, sondern auch für die Personen, die sie (seiner Ansicht nach) vertreten: z. B.
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wer den „behinderten Markt“ anstrebt, will „die Allmacht des Staates“ und eine „Politik, die alle irdischen Dinge durch Gebote und Verbote der Obrigkeit zu ordnen bestrebt ist.“ (Ebenda, S. 124) 5. Die Vermischung von Deskription und Normation weist auf ein entscheidendes Element im Konzept von „dem Markte“ hin: es besitzt mehrere durchaus widersprüchliche Bedeutungen (Polysemie „des Marktes“).74 „Der Markt“ wird z. B. von Mises als „Gedankenbild“ a priori gesetzt, ist zugleich eine empirisch beobachtbare Wirklichkeit (hier herrschen „Kräfte“ und „Gesetze“), gilt als Norm für die Wirtschaftspolitik, als Vorlage für die Interpretation der Geschichte (in welchem Ausmaß in Geschichtsepochen „der Markt“ existent war) und dient auch als Utopie für eine in Zukunft anzustrebende Gesellschaft. 6. Der Markt“ wird zugleich in der Metapher einer Person verwendet (d. h. personifiziert), er erscheint wie ein handelndes Subjekt, z. B. 7. „Der Markt weist dem Handeln der Einzelnen die Wege und lenkt es dorthin, wo es den Zwecken seiner Mitbürger am nützlichsten werden kann.“ (Mises 1929. S. 250 f.) Ein Konzept von „dem Mark“ mit diesen Eigenschaften findet sich auch bei Hayek. Dieser stellt „den Markt“ allerdings auf andere philosophische und wissenschaftstheoretische Fundamente (die in den vielen Varianten, die Hayek formuliert hat, durchaus widersprüchlich sind). Hayek wollte „eine umfassende Neudarstellung der Grundprinzipien einer Philosophie der Freiheit“ entwerfen (Hayek 1971, S. 4), sie sollte dazu dienen, „dem Markt“ bzw. „der erweiterten Ordnung“ ein endgültiges philosophisches Fundament zu geben. Hayek hat diese Absicht in mehreren Ansätzen und mit unterschiedlichen Methoden verfolgt, u. a. in seinen Theorien der Freiheit und einer kulturellen Evolution (z. B. Hayek 1971 und 1996). Am wirkungsmächtigsten waren seine Konzepte des Wettbewerbs und des Wissens (z. B. Hayek 1937, 1945 und 1969). Hayek verwendet dabei eine Computermetapher, Individuen gelten als informationsprozessierende Wesen. Hayeks Metapher unterscheidet sich aber grundlegend von der neoklassischen Computermetapher. Für Hayek macht es z. B. keinen Sinn, Präferenzen als Identitätsmerkmal des ökonomischen Akteurs zu nehmen. Denn die Inhalte von Präferenzen sind subjektiver Natur (das wurde bereits angedeutet): wie kann ein Wissenschaftler die Präferenzen einer anderen Person kennen? Hayek sieht hier ein prinzipielles
74Vgl.
Zum Folgenden Ötsch u. a. (2017), Kap. 4, und Ötsch (2019), S. 39 ff.
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Problem, das alle exogenen Daten der allgemeinen Gleichgewichtstheorie betrifft: „Umstände“ können keine „Daten“ sein, denn das Wissen um sie „never exists in concentrated or integrated form, but solely as the dispersed bits of incomplete and frequently contradictory knowledge which all the separate individual possess.“ (Hayek 1945, S. 519)
Wissen ist für Hayek subjektiv, verstreut, ungleich verteilt, heterogen und auch impliziter Art, teilweise sei den Akteuren sogar ihr eigenes Wissen nicht bewusst. Für Hayek zieht daraus den Schluss, dass sich die Subjekte nicht direkt koordinieren können. Sie benötigen eine Instanz, die dies bewerkstelligt. Genau diese Funktion erfüllt für Hayek „der Markt“, sein Marktbegriff teilt die sechs Aspekte, die wir für Mises festgehalten haben. In Analogie zu Mises beschreibt Hayek „den Markt“ wiederholt in einer mechanistischen Metapher, z. B. als „Mechanismus zur Nutzung verstreuter Informationen“ (Hayek 1996, S. 14). „Der Markt“ ist aber kein statischer Allokationsmechanismus, wie in der Neoklassik, sondern (wie bei Mises) ein dynamischer Prozess. Er wird nicht in einem formalen Modell abgebildet (das kritisiert Hayek wiederholt), sondern verbal anhand seiner Qualitäten beschrieben. Das Kennzeichen eines „Marktes“ ist für Hayek „der Wettbewerb“, wiederum ein Ausdruck in Einzahl. „Wettbewerb“ ist ein „Entdeckungsverfahren“ (Hayek 1996, S. 14): „Der Markt“ „entdeckt“ (eine Personifikation) das verstreute Wissen der Subjekte, auch jenes, das vorher noch nicht bekannt gewesen war, koordiniert es und „wandelt“ es in „objektive“ Preisinformationen um. Preise gelten als Signale, die Informationen „tragen“, diese Signale werden durch „den Markt“ allen Akteuren vermittelt.75 „Der Markt“ wird dabei in einer neuen Metapher beschrieben, die (in einem oberflächlichen Verständnis von Metaphern) zugleich als Realität behauptet wird:
75Hayek
erkennt nicht, dass seine Beschreibung eines Feedbacksystems von „subjektivem“ Wissen bei den Akteuren mit dem „objektiv“ existierendem Markt, der „objektive“ Preisinformationen liefert, die allen Akteuren ohne Informationsproblematik zugänglich sein sollen, einen Kategorienfehler enthält. Wenn Wissen als nur subjektiv gesetzt wird (was man bestreiten kann), dann kann kritisch gesagt werden: das Wissen über Marktpreise ist von keiner anderen Qualität als anderes Wissen, es muss also subjektiver Art sein. Die Instanz der Preisbildung kann für das Individuum keine subjekt-überschreitende Qualität besitzen. Vgl. Brodbeck (2014), S. 32.
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“We must look at the price system as such a mechanism for communicating information if we want to understand its real function which, of course, it fulfills less perfectly as prices grow more rigid. […] The most significant fact about this system is the economy of knowledge with which it operates, or how little the individual participants need to know in order to be able to take the right action. In abbreviated form, by a kind of symbol, only the most essential information is passed on and passed on only to those concerned. It is more than a metaphor to describe the price system as a kind of machinery for registering change, or a system of telecommunications which enables individual producers to watch merely the movement of a few pointers, as an engineer might watch the hands of a few dials, in order to adjust their activities to changes of which they may never know more than is reflected in the price movement. (Hayek 1948, S. 86 f.)
Wie bei Mises operiert „der Markt“ als automatisch ablaufender Prozess. Er muss auch – wenn er „frei“ existieren kann – tendenziell zu gleichgewichtigen Preisen führen, bleibt jedoch als Prozess in steter Bewegung. Aber Hayek geht noch einen Schritt weiter. Er treibt die Personalisierung „des Marktes“ auf die Spitze, indem er Aspekte „des Marktes“ in Analogie zu geistigen Fähigkeiten des Menschen stellt. „Der Markt“ selbst wird bei ihm zu einer Quelle von Wissen, welches ohne „ihn“ keiner anderen Person verfügbar gewesen war.76 Damit können Mensch und Markt im Hinblick auf ihre Bewusstseins- oder bewusstseinsähnlichen Kapazitäten verglichen werden. Nach Hayek produziert das menschliche Bewusstsein zwei Arten von Ideen: konstitutive und erklärende. Erstere dienen der Festlegung von Abstraktionen, wie „die Wirtschaft“, „das ökonomische System“ oder „die Gesellschaft“, letztere erklären Phänomene in diesem Rahmen.77 Konstitutive Ideen gelten für Hayek als spekulative „Pseudo-Entitäten“, sie sind nicht mehr als „populäre Generalisierungen“ und stellen ein „kollektivistisches Vorurteil“ dar. Entscheidend ist nun, dass Hayek zum einen die konstitutiven Ideen in das Unbewusste verbannt (und sie damit einem bewussten Diskurs entzieht) und zum
76„I
propose to consider competition as a procedure for the discovery of such facts as, without resort to it., would not be known to anyone, or at least would not be utilised.“ (Hayek 1990, S. 179). 77„in the social sciences it is necessary to draw a distinction between those ideas which are constitutive of the phenomena we want to explain and the ideas which either we ourselves or the very people whose actions we have to explain may have formed about these phenomena and which are not the cause of, but theories about, the social structures.“ (Hayek 1952, S. 36).
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anderen nur jene konstitutiven Ideen als wissenschaftlich haltbar gelten lässt, welche das System „des Marktes“ gedanklich gestalten.78 „Der Markt“ hingegen muss in diesem Konzept überhöht und b ewusstseins-ähnlich beschrieben werden. Er wird von Hayek in ein „überbewusstes“ Wesen verwandelt, dem eine „Übervernunft“ verliehen wird. Sie bezieht sich „im buchstäblichen Sinn […] auf das, was weit über unser Verständnis, unsere Wünsche und Zielvorstellungen sowie unsere Sinneswahrnehmungen hinausgeht, und auf das, was Wissen enthält und schafft, dass kein einzelnes Gehirn und keine einzelne Organisation besitzen und erfinden kann.“79
Damit spricht Hayek ein striktes Verdikt aus, über „den Markt“ anhand von äußeren Zielen zu reflektieren. Wer so etwas unternimmt, wird in das Camp der „Kollektivisten“ oder „Sozialisten“ verbannt: Eine solche Person würde eine „verhängnisvolle Anmaßung“ begehen – so der Titel seines letzten Buches. Denn die „Kräfte der bewussten Vernunft“ des Menschen sind zu schwach, um die komplexe Maschinerie „des Marktes“ gedanklich zu durchdringen:
78Wiederum
liegt ein prinzipielles Kategorienproblem vor. Claus Thomasberger hat es so formuliert: Hayek „betrachtet […] den konstitutiven Teil des Bewusstseins – im geraden Gegensatz zu den erklärenden Ansichten – so, als sei dieser objektiv gegeben. Er wischt nicht nur die Erkenntnis beiseite, dass dies in der Wirklichkeit nicht der Fall ist. Er negiert auch, dass er selbst es als die Aufgabe der Wissenschaft betrachtet, die Vorstellungen, die sich die Menschen von sich und der Umwelt machen, sowie die Begriffe, in denen sie darüber nachdenken, zu formen und zu verändern. Der konstitutive ‚Teil‘ des Bewusstseins wird präsentiert als absolute Voraussetzung, als Tatsache, die als unabhängig von jeder Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit erscheint.“ (Thomasberger 2012, S. 116). Man könnte auch sagen, dass Hayek in einem Zirkelschluss seine eigene Theorie unterminiert, denn er als Subjekt dürfe ja auch über „die erweiterte Ordnung“ keine Aussage tätigen, vgl. Brodbeck (2001).
79Hayek
(1996), S. 76. Folgerichtig schreibt Hayek der „Übervernunft“ „des Marktes“ gottähnliche Qualitäten zu. In der Fortführung des Zitates heißt es: „Deutlich zeigt es sich in der religiösen Bedeutung des Wortes, wie wir das etwa im Vaterunser sehen, indem eine Bitte lautet: ‚Dein Wille (d. h. nicht der meine) geschehe, wie im Himmel und auf Erden“ oder in der Evangeliumsstelle, in der es heißt: „Nicht ihr habt mich auserwählt, sondern ich habe euch auserwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt’ (Joh. 15,16).“ „Der Markt“ gibt in dieser Überhöhung Leben („Gleichgültig, wofür die Menschen leben, heutzutage leben die meisten nur durch die Marktwirtschaft.“; ebenda, S. 146.) und steht über dem Leben: „als Teil des Systems allgemeiner Regeln, die der Menschheit helfen, zu wachsen und sich zu vermehren, haben nicht einmal alle vorhandenen Menschen einen moralischen Anspruch auf Erhaltung.“ (ebenda, S. 36). Zur Gottähnlichkeit „des Marktes“ vgl. auch Ötsch (2019), S. 90 ff.
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„If it is true, that the spontaneous interplay of social forces sometimes solves problems no individual mind could consciously solve, or perhaps even perceives, and if they thereby create an ordered structure which increases the power of the individuals without having been designed by any one of them, they are superior to conscious action. Indeed, any social processes which deserve to be called ‘social’ in distinction to the action of individuals are almost ex definitione not conscious.“ (Hayek 1952, S. 87.)
Markt und Individuen sind in diesem Konzept in ihrer Wissenskapazität klar festgelegt. Die Individuen sind ungemein beschränkt, ihr Wissen über das System ist unbewusster Art. „Der Markt“ hingegen generiert ein verehrenswertes „Überwissen“: „The Market as a super information processor knows more than we could ever begin to devine“ (Mirowski und Nik-Khah 2017, S. 72)
Damit wird „dem Markt“ eine Mächtigkeit über die Individuen zugesprochen. Denn die Preise „des Marktes“ gelten als „Signale, die dem einzelnen sagen, was er tun muß, um sich in diese Ordnung einzufügen.“ (Hayek 1996, S. 272)
In dieser Hinsicht erweist sich „der Markt“ als eine Befehlsinstanz: „die Funktion der Preise die ist, den Menschen zu sagen, was sie tun sollen.“ (ebenda)
Hayeks Konzept von „dem Markt“ hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große Wirkung entfaltet, die in ihrer Gesamtheit noch zu wenig erkannt und erforscht worden ist. Dieser Prozess kann hier nur angedeutet werden: 1. „Der Markt“ (vor allem in seiner dualen Codierung gegenüber „dem Staat“ oder „der Politik“) wurde zum Bestandteil vieler ökonomischer Ansätze, die in ihrer Gesamtheit den Keynesianismus verdrängt haben. Beispiele sind der Monetarismus, Public Choice, der Neue Institutionalismus (z. B. nach Coase), Humankapitalansätze, viele makroökonomische Theorien (wie die Neue Klassik oder Real Business Cycle-Modelle) und die meisten Ansätze von „Modern Finance“.80 80Speziell
in Public Choice-Ansätzen werden – analog zu Hayeks Verdikt – Begriffe wie „kollektiver Wille“, „gesellschaftliche Wünsche“, „soziale Wohlfahrt“ oder „öffentliches Interesse“ als inhaltsleer abgetan. Vgl. Buchanan (1954).
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2. „Der Markt“ kann als Kollektivgedanke (im Sinn der Wissenschaftssoziologie von Ludwik Fleck) des Denkkollektivs verstanden werden, das sich um die von Hayek gegründete Mont Pelèrin Gesellschaft entwickelt und als politisch intendiertes Programm ab den siebziger Jahren (verästelt in zahlreiche ökonomische Paradigmen) die Wirtschaftspolitik vieler Länder beeinflusst hat.81 3. Insbesondere diente „der Markt“ als theoretische Basis „der Globalisierung“ bzw. „des globalen Marktes“, gegen den „die Politik“ – so wurde gesagt – wenig ausrichten könne. Dies wurde spätestens ab dem Niedergang der sozialistischen Länder und der Umformung vieler sozialdemokratischer Parteien zu einer „Marktsozialdemokratie“82 zu einer dominanten Meinung.83 4. Ab den 1980-er Jahren hält „der Markt“ in die Lehrbücher der Mikroökonomie Einzug, stillschweigend wird die allgemeinen Gleichgewichtstheorie nach Arrow und Debreu neu interpretiert. Heute wird in den meisten Lehrbüchern „der Markt“ in den angesprochenen Aspekten in einer großen Selbstverständlichkeit verwendet,84 vor allem die Dualität von „Markt versus Staat“ wird von Anfang wie eine Tatsache hingestellt.85
81Dieses
Denkkollektiv wird meist als neoliberal bezeichnet. Der Ausdruck Marktfundamentalismus ist demgegenüber präziser. Er gilt für alle Ansätze, in denen sich das Konzept „des Marktes“ mit den genannten Aspekten nachweisen lässt. Teile der Neoklassik können demnach als markfundamental klassifiziert werden. Die umfangreiche Literatur zur Geschichte des Neoliberalismus kann hier nur auszugsweise wiedergegeben werden. Vgl. Cockett (1995), Gellner (1995), Hartwell (1995), Geppert (2002), Walpen (2004), Nordmann (2005), Tevelow (2005), Ptak (2004), Plickert (2008), Mirowski und Plehwe (2009), Ther (2014), Wolter (2016), Ötsch et al. (2017) und Ötsch (2019). 82Nachtwey (2009). Vgl. Ötsch u. a. (2017), S. 234 ff. 83Zum Einfluss des Marktdenkens auf die Systemtransformation der ehemaligen planwirtschaftlichen Länder Europas vgl. Ther (2014). 84Vgl. die Belege in Graupe (2017) über den Markbegriff in den aktuellen Lehrbüchern von Mankiw und von Samuelson und Nordhaus. 85Eine erste Durchsicht der gescannten Vorworte (nicht der Texte) von allen internationalen Editionen des Lehrbuches Economics von Paul Samuelson (von 1948–1980 alleine verfasst, ab 1985 mit William D. Nordhaus als Zweitautor) ergibt folgenden Befund: Der Begriff „market mechanism“ wird ab 1958 (4. Auflage) erwähnt. 1992 taucht im Vorwort der 14. Auflage erstmals „der Markt“ in der Einzahl auf, die Autoren sprechen von der „Wiederentdeckung des Marktes“ angesichts des „Triumphes des Marktes“ nach 1989. Jetzt wird die Mikroökonomie an die Spitze des Lehrbuches gestellt, viele institutionelle Bezüge werden gestrichen und die Makroökonomie mikrofundiert präsentiert. In der 15. Auflage (1995) wird im Vorwort zum ersten mal die duale Gegenüberstellung von „the market and the state“ sowie der „global marketplace“ angesprochen. Jetzt heißt es auch: „With the final collapse of the Lenin-Stalin-Gorbachev totalitarian Soviet system, victory has been declared in favor of the market pricing mechanism over the command mechanism of regulatory bureaucracy.“ Erst in der 19. Auflage (2010) taucht erstmals das Wort Globalisierung im Vorwort auf.
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5. Ab den 1980-er Jahren wird „der Markt“ zunehmend in der Telekommunikations-Metapher von Hayek verstanden.86 Dabei hat sich der Effizienzbegriff von einer allokativen Effizienz (im Sinne von Jevons und Walras) zu einer informationalen Effizienz (in Sinn von Hayek) verändert. 6. Ab den 1990-er Jahren durchdringt das Denken „des Marktes“ die ganze Gesellschaft, die sich zunehmend auf neue Weise ökonomisiert: viele Bereiche, die vorher eigenen Logiken gefolgt sind, werden betriebswirtschaftlichen Kennziffern, Ratings und Rankings unterworfen (vgl. Mau 2018). Ein Indiz dafür ist Angela Merkels Diktion einer „marktkonformen“ Demokratie (Pühringer 2015a, b). In dieser Hinsicht kann die aktuelle Gesellschaft als ökonomisierte Gesellschaft verstanden werden, die von einem Bild „des Marktes“ gelenkt wird, das sich als kulturelle Überzeugung fest etabliert hat. Sie wird dabei von ÖkonomInnen unterstützt, die von der Existenz der „Gesetze des Marktes“ derart überzeugt sind, dass sie jede Reflexion über sie als unnütz abtun. Ein spezielles Bild von der Wirtschaft als Maschine ist zum noch kaum erkannten „Sozialen Imaginären“ (in der Bedeutung von Taylor 2004) für die Gesellschaft selbst geworden und hat viele Bereiche einer Logik „des Marktes“ unterworfen.
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86Zwei
Ökonomen aus der Österreichischen Schule meinen: „information economics is the most prominent example of how formal theoriests have attempted to translate Hayek’s ideas into a form easily digested and incorporated by mainstream economics.“ (Boettke et al. (2013): The Failed Appropriation of F.A.Hayek by Formalist Economics, Critical Review, 25 (3/4), S. 306; zitiert nach Mirowski und Nik-Khah 2017, S. 64).
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Auswege aus dem Labyrinth der phantasmata Thomas Hobbes als Begründer des homo oeconomicus? Hans Schelkshorn Zusammenfassung
Der Beitrag zeigt, wie in der Renaissance in der Politischen Ökonomie die imaginatio aufgewertet und im 17. Jahrhundert problematisiert und abgewertet wurde, verdeutlicht unter anderem bei Hobbes. Dieser betont aber auch die schöpferische Freiheit beim Menschen, was wiederum Strategien einer Visualisierung seines Denkens freisetzt: Hobbes Bilder von der Wolfsnatur des Menschen oder vom Krieg aller gegen alle haben sich tief in das kollektive Bewusstsein Europas eingeprägt. Schlüsselwörter
Politische Ökonomie · Bildersprache · Hobbes · Freiheit · Krieg aller gegen alle
1 Einleitung Die Gründerväter moderner Wissenschaft stellten der teleologischen Kosmologie der Antike ein mechanistisches Weltbild entgegen, dessen Bedeutung nicht auf die Naturphilosophie beschränkt blieb, sondern spätestens seit Hobbes auch die politische Philosophie erfasste. Im Rückblick auf die frühe Neuzeit
H. Schelkshorn (*) Institut für Christliche Philosophie, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_7
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erscheint Hobbes daher immer wieder als Ahnherr des homo oeconomicus. C.B. Macpherson sah in Hobbes’ Naturzustand ein anschauliches Bild für die marktwirtschaftliche Logik des Besitzindividualismus (Macpherson 1980, S. 30–86). Nach Habermas verwandelt Hobbes die klassische politische Philosophie in eine „Physik der Vergesellschaftung“ zwischen atomisierten Individuen, die ausschließlich ihren eigenen Vorteil suchen (Habermas 1971, S. 76). In der Konstitution moderner Wissenschaft kommt es darüber hinaus zu einer Abwertung der Einbildungskraft (imaginatio). So stellt René Descartes dem allzufreien Spiel der phantasmata eine mathematisierte Physik, Locke hingegen eine sensualistische Erkenntnistheorie entgegen. Die frühneuzeitliche Kritik an der imaginatio entspringt allerdings nicht einfach einer reduktionistischen Verblendung, sondern reagiert auf die epochale Aufwertung der imaginatio in der Philosophie der Renaissance, in der sich zuletzt das Denken in einem Labyrinth der phantasmata zu verlieren drohte. Auch Hobbes entwickelt zunächst eine radikale Kritik an der imaginatio. Bereits im „Leviathan“ nimmt Hobbes eine vorsichtige Rehabilitierung der imaginatio vor, die wiederum Strategien einer Visualisierung seines Denkens freisetzt. So haben sich nicht zufällig vor allem Bilder von Hobbes’ Philosophie, insbesondere die Bilder von der Wolfsnatur des Menschen oder vom Krieg aller gegen alle und nicht zuletzt das Frontispiz des „Leviathan“, tief in das kollektive Bewusstsein Europas eingeprägt. Im Folgenden möchte ich in einem ersten Schritt die Aufwertung und Problematisierung der imaginatio im Denken der Renaissance in einigen groben Strichen skizzieren. Zu diesem Zweck spanne ich einen Bogen von Gianfrancesco Pico über Cusanus zu Montaigne und Cervantes. Vor diesem Hintergrund wende ich mich im zweiten Teil Hobbes’ Auseinandersetzung mit der imaginatio im Kontext seiner politischen Philosophie zu, die sich der einlinigen Logik des homo oeconomicus zwar annähert, de facto jedoch die materialistische Körperontologie mit äußerst heterogenen Denkmotiven, insbesondere mit der Idee einer schöpferischen Freiheit des Menschen, aber auch mit Motiven der Naturrechtsethik, zu einer spannungsreichen Einheit verbindet.
2 Zur Aufwertung der imaginatio im Denken der Renaissance – Eine historische Skizze 2.1 Gianfrancesco Pico della Mirandola Das Aufblühen der Künste und Wissenschaften führte in der Renaissance zu einer Aufwertung des schöpferischen Geistes (ingenium) und der Einbildungskraft
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223
(imaginatio). Gianfrancesco Pico della Mirandola widmet der Einbildungskraft sogar einen eigenen Traktat. Die Vorstellungskraft des Menschen ist, wie Pico in „De imaginatione“ (1501) mit Blick auf die philosophische Tradition herausstellt, von einer tiefen Ambivalenz bestimmt. Einerseits kann der Mensch als leibhaftiges Wesen, wie bereits Aristoteles betont, nicht ohne Vorstellungen denken. Denn die Vorstellung. „versorgt die Ratio ununterbrochen mit den aus den Sinnen geschöpften Bildern, steht ihr als ständiger Begleiter bei all ihren Handlungen bei; und so sehr ist sie bei allen Aufgaben und Geschäften beteiligt, daß es scheint, als könne ohne sie überhaupt nichts geschehen, überhaupt nichts getan werden.“ (Pico 1997a, S. 133).
Andererseits gilt die imaginatio seit der Antike durch ihre enge Bindung an die Sinnesorgane zugleich als Quelle von Irrtümern. Die Vorstellungen (imaginationes) bedürfen daher der Prüfung durch den Verstand (ratio) und die Vernunft (intellectus), die nach Pico „in ihren Funktionen vom Körper ebenso unabhängig und getrennt sind wie das Ewige vom Vergänglichen“.1 Allerdings ist nach Pico zumindest die Ratio noch anfällig für Irrtümer, „nicht so sehr, weil die Eigentümlichkeiten der Dinge im Strudel der Materie versunken sind, sondern vielmehr wegen der Verwandtschaft mit der Vorstellung, die die Ratio von ihrem natürlichen Ursprung her hat.“ (ebenda, S. 133). So kommt Pico im Geist des Neuplatonismus zur paradoxen Konsequenz, „daß wir unsere Phantasie umso sicherer und mächtiger beherrschen, je weiter wir uns von ihr entfernen und nicht bei der Ratio, die dem Menschen zu eigen ist, stehen bleiben, sondern zum Intellekt fortschreiten, mit dessen Hilfe wir den Engeln, d.h. jenen reinsten Geistern, die Gott beständig dienen, ähnlich werden, soweit es die Schwäche unseres Fleisches zuläßt.“ (ebenda, S. 135)
Ohne Leitung durch Ratio und Intellectus ist nach Pico der Mensch von höchst ambivalenten, unsteten und auch gefährlichen Vorstellungen besessen. „Da aber die Seelen, solange sie im Körper verbleiben, auf Vorstellungen angewiesen sind und diese nicht nur bei verschiedenen, sondern […] selbst bei ein und demselben Menschen bald richtig, bald falsch, bald dunkel, bald klar, bald froh, bald traurig sind, müssen wir zugeben, daß die Schuld an all den monströsen
1Vgl.
Ebenda (S. 95), wo Pico auf Aristoteles (1995, S. 76) und auf Platon (1958a, S. 43–45) verweist.
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Meinungen und an jedem falschem Urteil eindeutig den Fehlern der Phantasie zuzuschreiben ist.“ (ebenda, S. 97)
Die enorme Bedeutung, die der Prüfung der Vorstellungen durch Ratio und Intellectus für den Menschen zukommt, hebt Pico im Licht der berühmten Rede über die Würde des Menschen seines Onkels Giovanni Pico della Mirandola hervor. Als „Former und Bildner (plastes et fictor)“ seiner selbst kann sich der Mensch, wie es in der Oratio de hominis dignitate (1486) heißt, entweder zum Göttlichen emporheben oder zum Tierischen herabsinken.2 In dieser extremen Spannung sieht auch Gianfrancesco Pico den Menschen im Umgang mit seinen Vorstellungen: „Wer den Einflüsterungen fehlgeleiteter Sinne und trügerischer Vorstellungen folgt, verliert seine Würde und sinkt auf die Stufe des Tieres herab […] dazu ist er geschaffen und an dem Platz in der Ordnung des Universums gestellt, daß er aufsteigt zum Höheren, zu Gott, er, der es vorzieht, zum Niederen hinabzusteigen, um seine Würde vergessend, jenen Platz einzunehmen, der den Tieren bestimmt ist.“ (Pico 1997a, S. 91 ff.)
Die Depotenzierung auf das tierische Niveau hat bei Gianfrancesco Pico nicht nur eine individualethische, sondern auch eine politische Dimension. „Es ist nicht schwer zu zeigen, daß alle Irrtümer, die sowohl im gesellschaftlichen als auch im philosophischen und christlichen Leben vorkommen, einem Fehler der Vorstellung entspringen. Ehrgeiz, Grausamkeit, Wut, Habsucht, Zügellosigkeit – stören den Frieden einer Gesellschaft. Mutter und Amme des Ehrgeizes aber ist eine verdorbene Vorstellung: sie suggeriert, wie schön es doch sei, alle anderen auszustechen, ohne Tugend und Herkunft zu berücksichtigen […] Grausamkeit, Zorn und Wut werden durch die Vorstellung eines eingebildeten und trügerischen Gutes hervorgerufen und am Leben gehalten, das jemand, der durch kochende Sinne und rasende Vorstellung zu Verbrechen, Körperverletzung und Mord getrieben, im Racheakt vermutet. Doch was, außer der Vorstellung, ruft den unstillbaren Hunger nach Gold hervor? Was entzündet die Glut der Begierde?“ (ebenda, S. 93)
Für Pico steht außer Streit, dass
2Pico
(1997b, S. 9) „Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.“.
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„die trügerische Vorstellung […] – ungeachtet der Ratio – jedem Unrecht vor dem Recht, der Zügellosigkeit vor der Beherrschtheit, der Aggressivität vor der Umgänglichkeit, dem Geiz vor der Großzügigkeit, dem Streit vor dem Frieden den Vorzug gibt.“ (ebenda, S. 95)
Picos „De imaginatione“ ist daher nicht bloß eine theoretische Abhandlung, sondern zugleich ein therapeutischer Traktat, in dem die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten falscher Vorstellungen untersucht werden.3 Letztlich können die trügerischen Vorstellungen nur überwunden werden, wenn sich der Mensch in den engelhaften Zustand des Intellectus emporhebt. Denn durch den Intellekt ist der Mensch in der Lage, wie von einem „höchsten Turm“ die „Phantasie ständig zu beobachten und ihrem blinden Ansturm zuvorzukommen.“ (ebenda, S. 135). So hofft Pico, dass sein Traktat über die Phantasie, die inmitten „des Waffenlärms“ und „im Chaos des in Italien herrschenden Aufruhrs […] für spätere Leser (sofern es solche geben wird) vielleicht von einigem Nutzen sein“ wird (ebenda, S. 67). Denn das christliche Kaiserreich sei „von äußeren Feinden bedroht und von inneren Feinden zerrissen. Die vom Blut Christi, unseres Herrn, zusammengehaltene und geweihte Herde erlitt und erleidet immer noch täglich viel Schlimmeres durch jene Wölfe, die im Schafspelz auftreten als durch jene, die in ihrem eigenen Wolfsfell umherstreunen.“ (ebenda, S. 69)
2.2 Nikolaus von Kues Nikolaus von Kues geht wie Pico vom vierteiligen Schema der Erkenntnisfähigkeiten (sensus-imaginatio-ratio-intellectus) aus. Im Ausgang von der Einsicht in die Unerkennbarkeit Gottes, d. h. der docta ignorantia,4 und dem
3Ebenda,
S. 97 „Aber davon genug, denn es muss geklärt werden, wie es kommt, daß die Vorstellung getäuscht wird und unterschiedlich ist und wie wir gegen ihre Krankheiten Abhilfe schaffen können.“ Pico behandelt zunächst die physischen bzw. physiologischen Ursachen falscher Vorstellungen, z. B. den Einfluss der Körpersäfte und des Klimas auf das Temperament und den Geist. Eine zweite Quelle für falsche Vorstellungen sind Sinnestäuschungen äußerer Gegenstände, eine dritte Quelle böse Engel, deren Macht letztlich nur durch den göttlichen Beistand, d. h. durch den christlichen Glauben und das Gebet, überwunden werden kann (vgl. Pico 1997b, S. 97). 4Da sich menschliches Erkennen im Vergleichen vollzieht und sich Gott jedem Vergleich entzieht, weil jeder Vergleich eine Verendlichung Gottes implizieren würde, ist Gott nach Cusanus im strengen Sinn „unerkennbar (ignotum). Vgl. dazu Cusanus (2002a, S. 8).
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verum-factum-Prinzip, wonach der Geist nur das vollständig erkennen kann, was er selbst hervorbringt, lockert sich bei Cusanus die epistemische Beziehung zwischen Mensch und Welt. Da die Natur nicht vom Menschen, sondern von Gott erschaffen worden ist, kann sich der Mensch der Welt nur durch Vermutungen (coniecturae) annähern, ohne ihre Wesenheit je vollständig erkennen zu können (vgl. Cusanus 2002c, S. 124 ff.). Nikolaus von Kues stellt daher Jahrzehnte vor Picos „De imaginatione“ eine zentrale Säule seiner Therapie der trügerischen phantasmata, nämlich die Erkennbarkeit der allgemeinen Wesenheiten der Dinge, in Frage. In der Idee einer unendlichen Approximation kommt es bei Cusanus darüber hinaus zu einer beachtlichen Aufwertung sowohl der sinnlichen Wahrnehmung als auch der imaginatio. Die progressive Erforschung der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit vergleicht Cusanus mit dem berühmten Bild eines Kosmographen, „der eine Stadt mit fünf Toren, nämlich den fünf Sinnen, besitzt, durch welche Boten aus der ganzen Welt eintreten und vom gesamten Aufbau der Welt berichten.“ (Cusanus 2002d, S. 31). Um eine Beschreibung der gesamten sinnlich wahrnehmbaren Welt („totius sensibilis mundi descriptionem“) zu erstellen, darf kein Bote, d. h. kein Sinnesorgan, ausfallen (ebenda). Da die Wesensstrukturen der Dinge dem menschlichen Geist verborgen bleiben, kommt nach Cusanus der Ratio plötzlich eine schöpferische Funktion zu. Die Ratio liest die Wesenheiten (quidditates) von den Dingen nicht mehr ab, sondern entwirft selbst Begriffe und Gleichnisse, um sich den Dingen anzunähern. An dieser Stelle modifiziert Cusanus das platonische Bild des Wachsblocks (vgl. Platon 1958b, S. 158–160). Während für Platon das Wachs ein Bild für die Seele ist, der sich die Dinge bleibend einprägen, wird für Cusanus der Biegsamkeit des Wachses zum Bild für vis assimilitiva des Geistes. „Wenn man sich daher Wachs vorstellte, dessen inneres Gestaltprinzip der Geist wäre, dann würde der Geist, der darin existiert, das Wachs jeder Gestalt, die sich ihm zeigte, gleichgestalten“ (Cusanus 2002b, S. 57). Mehr noch: Der Geist, genauer die Ratio, nähert sich nicht nur den Dingen in freier Souveränität an, sondern entwirft, wie Cusanus am berühmten Beispiel des Löffelschnitzers illustriert, auch völlig neue Ideen, die nicht der Nachahmung der Natur entspringen (ebenda, S. 14 ff.). Die Aufwertung der schöpferischen Macht des menschlichen Geistes gründet nach Cusanus in der Teilhabe des Menschen an der göttlichen Schöpfermacht. Der schöpferischen Macht des Verstandes kommt allerdings keine unumschränkte Freiheit zur Begriffsbildung zu. Denn in der Vernunft (intellectus), die wie bei Pico von der sinnlichen Wahrnehmung losgelöst ist,
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stößt der Mensch auf unveränderbare, dem Geist je schon eingestiftete Maßstäbe, in deren Licht die Begriffe des Verstandes geprüft werden können. „Denn deutlich erfahren wir einen Geist, der in unserem Geist spricht und urteilt, dies ist gut, dies gerecht, dies wahr, und uns tadelt, wenn wir vom Rechten abweichen. Diese Rede und dieses Urteil hat unser Geist niemals erlernt, sondern sie ist ihm angeboren.“ (ebenda, S. 33)5
Die Ideen des Wahren, Guten und Gerechten, aber auch die Goldene Regel, fungieren nach Cusanus als letzte Orientierungsmaßstäbe für die schöpferische Verstandestätigkeit und sind folglich nicht selbst wieder revidierbare Begriffe der Ratio.6 Die orientierende Funktion des Intellectus lässt allerdings noch die Frage, ob sich der Mensch durch seine Begriffs- und Sprachwelten den Dingen überhaupt anzunähern vermag, noch ungelöst. Das erkenntnisphilosophische Problem der Einheit von Mensch und Welt löst Cusanus schließlich durch das Theologoumenon der Selbstoffenbarung Gottes. Da sich Gott dem Menschen in der Welt mitteilt, müssen den menschlichen Erkenntnisfähigkeiten jeweils bestimmte Seinsbereiche entsprechen. Aus diesem Grund laufen die Entwürfe des menschlichen Geistes nicht ins Leere. In diesem Kontext gewinnt für Cusanus der Homo-mensura-Satz eine positive Bedeutung: Da Gott die Welt auf den Menschen hin geschaffen hat, finden die Dinge im Erkanntwerden durch den Menschen ihr „Maß“ im Sinne des Sinnziels (finis) (vgl. Cusanus 2002e, S. 7).
2.3 Michel de Montaigne und Miguel de Cervantes’ „Don Qujote“ Im 16. Jahrhundert gerät die Lehre vom Intellectus als kriteriologische Instanz für die Klärung der phantasmata in eine tiefe Krise. Die Gründe dafür sind vielfältig
5Vgl.
dazu auch Cusanus (2002d, S. 20 f.), wo dieser dem Intellectus die zehn Kategorien, die fünf Universalien und die vier Kardinaltugenden zuordnet. 6Vgl. Cusanus (2002d, S. 45): „Daher erkennt der Mensch von Natur aus das Gute, das Gleiche, das Gerechte und Richtige, weil dies alles Abglanz der Gleichheit (splendor aequalitatis) ist; und er erkennt jenes Gesetz an: ‚Was du willst, daß man dir tu, das tu auch dem andern!’, weil es ein Abglanz der Gleichheit ist. Denn das vernunftbegabte Leben bezieht seine Nahrung aus solchen Tugenden; deshalb kennt es die Erquickung, die ihm seine Nahrung schenkt.“
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und reichen zum Teil bis ins Hochmittelalter zurück. Ich kann hier nur stichwortartig auf einige wenige Aspekte verweisen. Seit Ockham stehen sämtliche Beerbungen platonischen Denkens unter dem Verdacht, die Allmacht Gottes illegitimerweise einzuschränken. Die Wirren der frühneuzeitlichen Religionskriege erschüttern nicht nur die Rangordnung von Ratio und Intellectus, sondern auch die Instanz des christlichen Glaubens, den Pico gegen die bösen Engel aufgeboten hatte. Der Zusammenprall mit bislang unbekannten Völkern im Zuge der transozeanischen Expansion führt zu einer tiefen Erschütterung des christlichen Naturrechts. Wenn ganze Völker, wie die Berichte über die Menschenopfer der Azteken zu belegen schienen, in schockierender Weise vom Naturrecht abweichen, kann die Moralphilosophie, konzediert, nicht mehr problemlos an ein allen Menschen ins Herz geschriebenes Gesetz appellieren. So verlagert selbst wie selbst Ginés de Sepúlveda, der entschiedenste Verteidiger der Konquista Amerikas, den Geltungsgrund der lex naturae im Geist des Humanismus stillschweigend auf den Konsens der gebildeten Völker (gentes humaniores), konkret der griechisch-römischen Philosophie (vgl. Schelkshorn 2009, S. 308 ff.). Die Rückbesinnung auf die Antike konnte allerdings der Erosion des moralischen Bewusstseins nicht Einhalt gebieten. Im Gegenteil, da die Vielfalt antiker Literatur und Denkformen durch den Buchdruck plötzlich einem breiten Publikum zugänglich wird, löst die humanistische Bewegung selbst in der europäischen Öffentlichkeit einen Prozess der Relativierung moralischer Grundorientierungen aus. Die vielfachen Erschütterungen der mittelalterlichen Welt fließen Ende des 16. Jahrhunderts in den „Essais“ von Michel de Montaigne zusammen. Nach der ermüdenden Tätigkeit als Bürgermeister von Bordeaux zog sich Montaigne auf sein Schloss zurück, um in einer stoischen Selbstbesinnung die Seelenruhe zu finden. Da jedoch sämtliche Vorstellungen über das höchste Gut in einen Wirbelsturm vielfältiger Relativierungen geraten sind, findet seine Seele keinen festen Halt. So stößt Montaigne in der Einkehr in sein Selbst nicht auf die erhoffte Seelenruhe, sondern auf das chaotische Eigenleben seiner Vorstellungen. Der Geist ist ihm, wie Montaigne bekennt, „zum ruhelosen Irrlicht“ geworden; „wie ein durchgegangnes Pferd […] gebiert [er] mir soviel Chimären und phantastische Ungeheuer, immer neu, ohne Sinn und Verstand“ (Montaigne 1998, S. 20). Da der menschliche Geist „für ein und dieselbe Sache hundert entgegengesetzte Gründe vorzubringen vermag“ (ebenda, S. 228), ist für Montaigne die orientierende Macht von Ratio und Intellectus vollkommen diskreditiert. Die wachsähnliche Biegsamkeit menschlicher Vernunft, die Cusanus noch als vis assimilativa rühmte, wird bei Montaigne zum Merkmal der Schwäche des menschlichen Geistes: „ein Werkzeug aus Weichblei oder Wachs, dehnbar, biegsam und jedem Maß und jeder Richtung
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anzupassen.“ (ebenda). Da die prästabilisierte Harmonie zwischen menschlichen Erkenntnisfähigkeiten und den Seinsbereichen des Alls zerbrochen ist, hat Montaigne für den Satz des Protagoras, den Cusanus ein Jahrhundert zuvor noch gegen Platons Verdikt verteidigte, nur mehr beißenden Spott übrig. „Protagoras hat uns wahrlich einen schönen Bären aufgebunden, als er den Menschen zum Maß aller Dinge machte! […] Doch da er ständig sich selber widerspricht und bei ihm ein Urteil unablässig das andre über den Haufen wirft, erwies sich diese schmeichelhafte These bloß als Witz, der uns erst für die Nichtigkeit des Messgeräts wie des Vermessers die Augen geöffnet hat.“ (ebenda, S. 278 II)
Da der Intellectus keine klaren Maßstäbe mehr zur Verfügung stellt, fällt für Montaigne auch Picos Option, sich vom Sinnlichen in einen rein-geistigen, d. h. engelhaften Zustand zu erheben, in sich zusammen. Mehr noch: Gerade in der angemaßten Selbsterhebung in eine engelhafte Existenzform droht der Mensch auf das Niveau tierischer Barbarei herabzusinken. „Jene Philosophen aber streben über sich hinaus und suchen ihrem Menschsein zu entrinnen. Das ist Torheit: statt sich in Engel zu verwandeln, verwandeln sie sich in Tiere, statt sich zu erheben, stürzen sie zu Boden.“ (ebenda, S. 566 III).
Die Verstrickung des Menschen in seinen eigenen phantasmata ist, worauf abschließend zumindest hingewiesen werden soll, auch das zentrale Thema von Cervantes’ Don Qujote. Cervantes reagiert bereits auf die Medienrevolution der frühen Neuzeit. Don Quijote ist ein Literaturroman; die Hauptfigur ist überwältigt von den Bildern der Ritterromane, die durch den Buchdruck plötzlich ein Massenpublikum erreichen. Da durch das exzessive Lesen die Urteilskraft verloren gegangen ist, entwirft sich Don Qujote in immer neue Sprachwelten, die offenbar keinen Halt mehr in der gesellschaftlichen Wirklichkeit finden. Die idiosynkratische Phantasmagorie erfasst schließlich auch die Figuren im Umkreis des Helden des Romans. Da die Bücher die Urheber seines Unglücks sind, beschließen der Pfarrer und die Haushälterin die Krankheit gleichsam an der Wurzel zu heilen; sie dringen in die Bibliothek von Don Quijote ein und schaffen bis auf wenige Ausnahmen alle Bücher weg (Cervantes 1987, S. 51 ff.) Doch der Heilungsversuch misslingt. Mehr noch: Cervantes treibt das Spiel der phantasmata immer weiter, so dass im zweiten Teil des Romans, der zehn Jahre
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später erschien, Don Quijote den Leser_innen des ersten Teils begegnet.7 Wie immer das komplexe Spiel der phantasmata zu deuten ist, Cervantes beschreibt im Don Quijote – Stroesetzki mit Blick auf die Deutungen von Don Quijote von Francisco Ynduraín und Georg Lukács –, „die für den modernen Roman charakteristische Spannung zwischen der gegebenen Realität und dem mit seinen Einsichten und Vorstellungen von dieser Realität abweichenden Individuum. Eine derartige Spannung gab es zuvor weder bei Boccaccio noch im Schäfer- oder Ritterroman. Dort herrscht zwischen der Romanfigur und ihrer Welt Korrespondenz.“ (Stoesetzki 1991 S. 123)
3 Thomas Hobbes: Auswege aus dem Labyrinth der phantasmata 3.1 Die Zähmung der imaginatio durch eine Wissenschaft der Politik Der realgeschichtliche Ausgangspunkt von Hobbes’ politischer Philosophie ist die Eskalation von Gewalt, einerseits durch die religiös motivierten Bürgerkriege, andererseits durch die kriegerischen Konflikte zwischen den Nationen und Völkern. In der berühmten lupus-Formel kritisiert Hobbes den römischen Imperialismus.8 Die Gewaltexzesse der frühen Neuzeit sind nach Hobbes die Folgen eines radikalen Orientierungsverlustes, in der sich letztlich eine Krise der Vernunft manifestiert. Ratio und Intellectus sind – darin stimmt Hobbes mit Montaigne vollkommen überein – biegsam geworden. Die Erosion orientierender Vernunft manifestiert sich in eminenter Weise in der Lehre vom Naturrecht, die nach Hobbes bereits in der Antike in den Sog divergierender Deutungen geraten ist. Daher sind nach Hobbes die Versuche, die leges naturales, wie dies Sepúlveda versuchte, auf „die übereinstimmende Meinung aller weisesten und gebildetsten
7Vgl. Stroesetzki (1991), S. 184: „Zweimal ist Don Quijote Opfer der Lektüre, die ihn um den Verstand bringt. Beim ersten Mal ist er selbst der Leser von Ritterromanen. Beim zweiten Mal sind es die Leser des ersten Teils seiner Abenteuer, die ihn immer wieder in der Fortsetzung seiner Torheit bestätigen. Ein Paradox i besteht nun darin, daß ein Buch, das sich gegen den verhängnisvollen literarischen Einfluß wendet, so viel Einfluß ausgeübt hat.“ 8Hobbes (1994b, S. 59), Hobbes weicht damit von der humanistischen Verehrung des Imperium Romanum deutlich ab.
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Völker“ oder gar auf die „übereinstimmende Meinung des ganzen Menschengeschlechts“ zurückzuführen, zum Scheitern verurteilt, da die Frage, „wer über die Weisheit, Bildung und Gesittung der Völker entscheiden soll“, offen bleibt. Darüber hinaus ist es nach Hobbes „unbillig, die natürlichen Gesetze aus der Übereinstimmung derer zu entnehmen, die sie häufiger verletzen als befolgen“ (Hobbes 1994b, S. 86). Vor diesem Hintergrund bedarf es nach Hobbes einer neuen politischen Philosophie, die sich an der von Bacon und Descartes begründeten Wissenschaft orientiert. Zugleich grenzt sich Hobbes von Bacon und Descartes deutlich ab. Denn im Unterschied zur Naturwissenschaft hat die politische Philosophie keinen Spielraum für Experimente, sondern muss hic et nunc eine verbindliche Ordnung schaffen. Descartes’ Rationalismus ist hingegen für Hobbes aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht akzeptabel. Angesichts der Biegsamkeit von Ratio und Intellectus zieht Hobbes in der Begründung einer neuen politischen Wissenschaft eine radikale Konsequenz: Die Philosophie muss auf den Bereich sinnlich-wahrnehmbarer Körper, deren Bewegungen im Licht der Material- und Wirkursache analysiert werden, eingeschränkt werden. Der Gegenstand der Philosophie ist „ein jeder Körper, bei dem sich verstehen lässt, dass er erzeugt wird oder irgendwelche Eigenschaften hat“ (Hobbes 1997, S. 23). Da Gott oder Engel nicht als Körper angesehen werden können, schließt die Philosophie „die Theologie aus sich aus.“ (ebenda). Dennoch reduziert Hobbes die politische Philosophie, wie am Leitfaden seiner Auseinandersetzung mit der imaginatio gezeigt werden soll, nicht auf eine Physik der Gesellschaft. Mit der Fokussierung auf die imaginatio wird keineswegs eine Außenperspektive künstlich an Hobbes’ Denken herangetragen. Vielmehr sieht Hobbes selbst in falschen Lehren über die imaginatio, die im zweiten Kapitel des Leviathan aufgelistet werden, eine der Hauptursachen für das Versagen der traditionellen politischen Philosophie. Da die philosophischen Schulen nach Hobbes „nicht wissen, was Einbildung oder die Empfindungen sind, lehren sie, was sie gelernt haben: Die einen, Einbildungen entständen aus sich selbst und hätten keine [körperliche] Ursache“, wie in der Lehre von angeborenen Ideen des Intellectus; „die anderen, sie entständen gewöhnlich aus dem Willen, und gute Gedanken würden von Gott in einen Menschen geblasen (inspiriert) oder gegossen (eingeflößt) und die schlechten vom Teufel.“ Dies ist die Lehre religiöser Reformer von John Wicliff bis Luther, in der das Naturrecht durch die christliche Dialektik von Sünde und Gnade ersetzt wird.
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„Einige sagen, die Sinne empfängen die Species der Dinge und leiteten sie an das Sinnenzentrum, das Sinnenzentrum an die Vorstellungskraft, die Vorstellungskraft an das Gedächtnis, das Gedächtnis an die Urteilskraft weiter, wie man Gegenstände von einem zu anderen reicht – viele Worte, die nichts erklären.“ (Hobbes 1984, S. 17)
Diese Lehre ist, wie oben dargestellt, weder von Gianfrancesco Pico noch von Giovanni Pico della Mirandola vertreten worden. Die fatalen Irrlehren über die imaginatio versucht Hobbes mit einer Erkenntnisphilosophie zu überwinden, die zunächst von der mechanistischen Körperontologie ausgeht. Sinneswahrnehmungen werden durch äußere Objekte verursacht; die sekundären Sinnesqualitäten (Farbe, Schall u. a.) ergeben sich aus der Eigenart der Sinnesorgane. Die Vorstellung (imaginatio) ist nach Hobbes eine zerfallende Empfindung (decaying sense). Denn nach der Sinneswahrnehmung bleibt in uns noch ein Bild der inzwischen abwesenden Gegenstände präsent, vergleichbar den Wellen, die durch einen ins Wasser geworfenen Stein verursacht worden sind. Im Wachzustand nimmt der Mensch nach Hobbes je neue Eindrücke auf, die im Geist alte Bilder in den Hintergrund drücken, jedoch in Träumen zuweilen wiederkehren. Dies bedeutet: Der Mensch lebt – so weit stimmt Hobbes mit Aristoteles und der philosophischen Tradition überein – ständig in Bildern. Mehr noch: Selbst wenn die Welt vernichtet würde, blieben nach Hobbes die bis dahin angesammelten Vorstellungen im Menschen weiterhin präsent (Hobbes 1994c, S. 22). Die Fähigkeit, Bilder im Gedächtnis zu behalten, besitzen nach Hobbes auch Tiere; im Unterschied zu den Tieren gibt jedoch der Mensch seinen Vorstellungen Namen, um sie besser erinnern zu können. Zwar reagieren auch Tiere auf bestimmte Zeichen (marks); allein der Mensch verwendet jedoch nach Hobbes Zeichen für Propositionen (words).9 Hobbes bewundert zwar mit der Renaissancephilosophie die ungeheure Schnelligkeit der imaginatio, die blitzschnell verschiedenste Vorstellungen vergegenwärtigen und kombinieren kann. Zugleich sieht jedoch auch Hobbes in der
9Vgl.
Hobbes 1984, S. 18: „Die Einbildung, die im Menschen oder in anderen Lebewesen, die Einbildungskraft besitzen, durch Wörter oder andere willkürliche Zeichen entsteht, nennen wir gewöhnlich Verstehen (understanding), und sie ist Menschen und Tier gemeinsam. Denn ein Hund wird durch Gewöhnung den Ruf oder das Schelten seines Herrn verstehen, ebenso viele andere Tiere. Das dem Menschen eigentümliche Verstehen liegt darin, daß er nicht nur seinen Willen, sondern auch seine Vorstellungen und Gedanken versteht, indem er Namen von Dingen zu Bejahungen, Verneinungen und anderen Sprachformen aneinanderreiht und verknüpft.“
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ungezügelten imaginatio ein ernsthaftes Problem. Denn wenn wir zuerst einen Berg und in der Folge ein Stück Gold sehen, so kann nach Hobbes in uns die irreale Fiktion von einem goldenen Berg entstehen (Hobbes 1994c, S. 22 f.). Mehr noch: Der imaginatio ist eine Eigendynamik inhärent, die den Menschen zum Opfer seiner eigenen Bilder zu machen droht. In einer literalisierten Welt, wie sie in der frühen Neuzeit durch den Buchdruck entstanden ist, scheint der Mensch in seinen Phantasmata geradezu zu versinken. Auch wenn Hobbes nicht direkt auf Cervantes Bezug nimmt, so deckt sich seine Diagnose sachlich mit der Problematik von Don Quijote: „Wenn jemand das Bild seiner eigenen Person mit den Bildern der Taten anderer vermischt, z.B. wenn sich jemand einbildet, er sei ein Herkules oder ein Alexander (was oftmals dem widerfährt, der sich viel mit dem Lesen von Abenteuerromanen abgibt), so ist dies eine zusammengesetzte Einbildung und genau genommen nur eine Erdichtung (fiction) des Geistes (mind).“ (Hobbes 1984, S. 14 f.)
Die Macht der sprachlichen Fiktionen, die einem Spinnengewebe gleichen,10 kann nach Hobbes nur durch eine rigorose Orientierung an den sinnlichen Eindrücken überwunden werden. Da der Mensch jedoch selbst ein lebendiger, d. h. selbstbewegter Körper ist, werden in der sinnlichen Wahrnehmung die Objekte allerdings nicht einfach passiv entgegengenommen, sondern je schon im Hinblick auf ihre Lebensförderlichkeit bzw. -schädlichkeit bewertet. Daraus ergibt sich für Hobbes eine erste Bedeutung der moralischen Grundkategorien: „Aber was immer das Objekt des Triebes oder Verlangens eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut (good), das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung böse (evil) und das seiner Verachtung verächtlich und belanglos (vile and inconsiderable).“ (Hobbes 1984, S. 41)
Da sich jedoch „die Verfassung des menschlichen Körpers fortwährend ändert“, ist es nach Hobbes „unmöglich, daß alle Dinge in ihm immer die gleichen Neigungen oder Abneigungen verursachen. Noch viel weniger können alle Menschen in dem Verlangen nach ein und demselben Objekt übereinstimmen“ (ebenda, S. 40). Nach Gianfracesco Pico droht die imaginatio, wenn sie nicht
10Vgl.
Hobbes (1997, S. 49) „Die Rede hat nämlich (was man seinerzeit von Solons Gesetzen sagte) eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Spinnengewebe; denn Menschen von empfindsamer und verfeinerter Sinnesart kommen von den Worten nicht los und verstricken sich darin, kraftvolle dringen durch sie hindurch.“
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durch Ratio und Intellectus orientiert wird, zu einer Quelle von Unordnung und Gewalt zu werden. In dieser Aporie scheint sich auch Hobbes mit seiner „nachmetaphysischen“ Konzeption einer politischen Philosophie zu verstricken. Denn im Rahmen der Körperontologie, in der die moralischen Grundkategorien (gut, schlecht) nur im Sinne des Angenehmen (bonum iucundum)11 bestimmt werden können, lässt sich – dies gesteht Hobbes offen ein – kein allgemeinverbindliches moralisches Prinzip begründen. Im Gegenteil: Wenn man die Sinnestäuschungen bedenkt, die Mehrdeutigkeit der Namen und die Macht, die die Leidenschaften über die Menschen ausüben, ergibt sich für Hobbes ein klares Bild: „kaum zwei stimmen überein darin, was gut und was schlecht, was Freigebigkeit und was Verschwendungen, was Tapferkeit und was Tollkühnheit zu nennen sei“.12 Die Biegsamkeit der Ratio höhlt nach Hobbes auch das Naturrecht und selbst die Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Staatsgewalt aus. Wer die Unterwerfung unter den Staat ablehnt, nennt sie einfach Sklaverei (Hobbes 1994c, S. 26). Auch die großen Gestalten der antiken Philosophie – Platon, Aristoteles, Cicero, Seneca, Plutarch – hätten mit der Befürwortung des Tyrannenmords die Anarchie befördert (Hobbes 1994b, S. 194 f.). Da die Ratio nur der verlängerte Arm der imaginatio ist und die engelhafte Macht des Intellectus durch die Körperontologie von vornherein eliminiert worden ist,13 sieht Hobbes im Geiste Montaignes in der Unstetigkeit des menschlichen Geistes die entscheidende Quelle für die Konfliktivität menschlichen Lebens.
11Ebenda, S. 41 f. „Diese Bewegung, welche Neigung und hinsichtlich ihrer Erscheinung Lust und Vergnügen genannt wird, scheint Stärkung und Unterstützung der vitalen Bewegung zu sein. Und deshalb nannte man Dinge, die Lust hervorriefen, nicht unrichtig jucunda (von juvando), weil sie die vitale Bewegung unterstützen und stärken“. 12Hobbes (1994c, S. 34–39). Die Biegsamkeit des menschlichen Geistes führt Hobbes auf sechs Ursachen zurück: Temperament, Erfahrung, Gewohnheit, Glücksgüter, die Meinung, die einer von sich hat, und fremde Autorität. Vgl. dazu auch Hobbes (1994a, S. 36–43). 13Vgl. Lemetti (2004, S. 68): „What Aristotle, Aquinas, and Hobbes share is the idea that imagination is something appearing, and as such perhaps unreliable, but while Aristotle and Aquinas think that the intellect is able to overcome this when with the help of imagination(s) it grasps from particular things their essence, Hobbes offers a different account. Though imagination formally is in the same role in Hobbes’ theory (mediator between sense and rational understanding of reality), it has a rather different content and function. In brief, displacing intellect with imagination and adding a verbal emphasis to it are the points where Hobbes breaks with the aforementioned tradition.“
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„Und verschiedene Menschen weichen nicht nur im Urteil ihrer Sinne über das voneinander ab, was dem Geschmack, Geruch, Gehör, Gefühl und Sehen angenehm oder unangenehm ist, sondern auch über das, was bei den Handlungen des täglichen Lebens mit der Vernunft übereinstimmt oder nicht. Ja, ein und derselbe Mensch hat zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ansichten und lobt – das heißt, nennt gut –, was er ein andermal tadelt und böse nennt. Daraus entstehen Zank, Streitigkeiten und zuletzt Krieg.“ (Hobbes 1984, S. 40; vgl. dazu auch Hobbes 1994b, S. 112).
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Hobbes nach Auswegen aus der Verstrickung des Menschen in seine eigene phantasmata sucht. Da der Weg über eine nichtempirische Vernunft (intellectus) versperrt ist, schlägt Hobbes zwei alternative Strategien vor: Erstens müssen die phantasmata konsequent auf konkrete sinnlich-wahrnehmbare Objekte zurückbezogen werden; diese Strategie kann jedoch nur irreale Fiktionen eliminieren, nicht jedoch, wie Hobbes selbst durch seine Analyse des bonum iucundum aufzeigt, die Uneindeutigkeit moralischer Ideen eliminieren. Zweitens gilt es die Reihenfolge der sprachlich artikulierten phantasmata in eine strenge Ordnung zu bringen. Die empiristische Erkenntnislehre geht daher in eine Sprachkritik über, die wiederum die Brücke zur Wissenschaft bildet. Denn in der Moralphilosophie und der politischen Philosophie dürfen wir uns nach Hobbes nicht mit Erfahrungsurteilen, in denen wir uns, wie in sachlicher Konvergenz zu Cusanus betont wird, stets im Bereich vorläufiger der Vermutungen (conjecturae) bewegen, begnügen. Die Folge wäre eine Kapitulation vor dem Bürgerkrieg. In den Elements und De Cive begründet Hobbes die politische Philosophie nach dem aristotelischen Modell deduktiver Wissenschaft, in der wie in der Geometrie und jüngst mit Galilei auch in der Naturphilosophie Erkenntnisse aus präzise definierten Axiomen und Begriffen logisch stringent abgeleitet werden. So wie die Arithmetiker mit Zahlen, Geometer mit Linien und Figuren rechnen, so addieren nach Hobbes „Schriftsteller, die über Politik schreiben, Verträge, um die Pflichten der Menschen zu finden.“ (Hobbes 1984, S. 32). Das Projekt einer politischen Philosophie more geometrico, beginnt, wie Hobbes nicht unbescheiden, aber auch nicht ohne Grund festhält, mit seinem Werk De Cive.14 Hobbes’ politische Philosophie, die vor allem mit Verträgen, d. h. mit Akten freiwilliger Selbstbindung, „rechnet“, entwickelt zwar keine plumpe Physik der Gesellschaft. Dennoch wirft der methodische Spagat zwischen sensualistischer
14Hobbes
(1997, S. 5): „Die Physik ist eine neue Wissenschaft. Doch die Staatsphilosophie ist es in viel höherem Maße, weil es sie nicht gab, bevor ich mein Buch De Cive geschrieben hatte.“
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Erkenntnisphilosophie und geometrischer Methode, wie an zwei Beispielen illustriert werden soll, nicht nur exegetische, sondern auch sachliche Probleme auf. Nach den epochalen Erschütterungen des moralischen Bewusstseins lässt sich nach Hobbes von der stoisch-christlichen Naturrechtslehre nur mehr das Selbsterhaltungsstreben als universell konsensfähiges Prinzip retten. Das Streben nach Selbsterhaltung kann zwar empirisch mit der Körperontologie begründet werden; doch aus dem Faktum, dass lebendige Wesen wie der Mensch nach Selbsterhaltung streben, lässt sich eben nicht, wie Hobbes ohne zusätzliche Begründungen leichtfertig „rechnet“, das normativ verstandene Recht auf Selbsterhaltung ableiten. In der sprachkritischen Methodik vermeidet Hobbes zwar den Sein-Sollens-Fehlschluss. Ohne Rekurs auf nichtempirische Ideen des Intellectus versteigt sich jedoch die Definition von obersten Axiomen entweder in willkürlichen Festlegungen oder repetiert bloß eine historisch-kontingente Konsensbasis. Damit droht Hobbes in jene Fallgruben zurückzufallen, aus denen die politische Philosophie befreit werden sollte. Die offenen Begründungsprobleme treten bereits im Herzstück der scientia civilis, nämlich der Idee der Gerechtigkeit, offen zu tage. Denn Hobbes definiert die Gerechtigkeit als Vertragsgerechtigkeit15, eine Definition, die sich nicht einfach aus einer Präzisierung der Alltagssprache ergibt, sondern eine Konsequenz der eigenen Kritik am Naturrechtsdenken ist. Für Aristoteles wäre Hobbes’ „Definition“ der Gerechtigkeit völlig inakzeptabel. Wie weit sich Hobbes selbst vom selbstgesteckten Ziel, die Vieldeutigkeit der Wörter zu eliminieren, zeigt die provokante Ableitung seiner Definition der Gerechtigkeit: Da die Inhaber der höchsten Gewalt im Staate niemandem durch Vertrag verpflichtet sind, folgt für Hobbes stringent, dass sie keinem Bürger Unrecht tun können.16 Diese These ist zwar formallogisch mit der eigenen Definition von Gerechtigkeit kompatibel, jedoch aus sachlichen Gründen wohl völlig verfehlt.
3.2 Der homo oeconomicus als Fundament der Staatsphilosophie? Die Lehre vom Naturzustand und die Rehabilitierung der imaginatio Mit der Transformation der politischen Philosophie in eine deduktive Wissenschaft schränkt Hobbes in den Elements und in De Cive die Bedeutung der
15Vgl. 16Vgl.
dazu Hobbes (1994b, S. 98): „Den Vertragsbruch … nennt man ein Unrecht.“ dazu Ebenda, (S. 155 f.).
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imaginatio rigoros ein. Dies erklärt auch seine Kritik an der Rhetorik, die seit der Antike als ein fruchtbares Feld für die Praxis der imaginatio galt. Im Leviathan nimmt Hobbes allerdings bedeutsame Veränderungen in seiner politischen Philosophie vor; so öffnet sich Hobbes stärker als bisher dem epikureischen Denken17, die Idee der demonstrativen Wissenschaft wird durch das verum-factum-Prinzip vertieft; und nicht zuletzt wertet Hobbes in seinem Spätwerk die Rhetorik und damit auch die imaginatio wieder auf.18 Die enorme Bedeutung, die der reife Hobbes trotz aller Kritik der imaginatio beimisst, manifestiert sich vor allem in der Lehre vom Naturzustand. Denn im status naturalis beschreibt Hobbes kein empirisches Szenario, sondern entwirft ein abstraktes Modell, d. h. eine Fiktion, in deren Licht allererst geschichtliche Zustände analysiert werden können.19 Hobbes’ Theorie des status naturalis gilt weithin als Ursprung des neuzeitlichen homo oeconomicus; der Krieg aller gegen alle erscheint in dieser Perspektive als Resultat der Maximierungsstrategien des Machtstrebens egoistischer Akteure.20 Die ökonomische Deutung des Naturzustands scheint bereits in der ersten Konfliktursache, nämlich der Konkurrenz, offen zu Tage zu liegen. Wenn die Konkurrenzsituation, in der „zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können“ (Hobbes 1984, S. 95) als Kampf um knappe Güter gedeutet wird, wäre der Naturzustand tatsächlich, wie zuweilen vorgeschlagen worden ist, durch eine Steigerung der Produktion zu entschärfen (vgl. Nonnenmacher 1989, S. 24 ff.). Zwar ist nach Hobbes bei allen Menschen „ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht“ (Hobbes 1984, S. 75) zu beobachten, dieses Verlangen ist jedoch nicht einfach angeboren. Hobbes leugnet keineswegs, dass der Mensch mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann. Die Logik der Machtausweitung resultiert, wie Hobbes in der Lehre vom Naturzustand zu erläutern versucht, allein aus dem Problem, wie ein bescheidenes Leben angesichts unvorhersehbarer Gewaltausbrüche gesichert werden kann.21
17Vgl.
dazu unter anderem Ludwig (1998, S. 400–451). (1996, S. 299–305). Der Übergang in der Einschätzung der imaginatio vollzieht sich im Vorwort zu D’Avenants monströsem Werk „Gondibert“. Vgl. D’Avenants (1971, S. 45 ff.). 19In der folgenden Skizze zur Lehre vom Naturzustand stütze ich mich auf meine ausführliche Analyse. Vgl. Schelkshorn (2009, S. 496 ff.). 20Vgl. Gauthier (1969, S. 27–98); Kavka (1986, S. 64–80). 21In diesem Sinne bereits Höffe (1987, S. 314 ff.). 18Skinner
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Als Beispiel für die Konkurrenzsituation schildert Hobbes das Leben von einfachen Bauern, die ihre Bedürfnisse keineswegs grenzenlos ausdehnen, sondern in ihrem bescheidenen Wohlstand in Ruhe leben möchten. Die Ursache des Kriegs aller gegen alle ist daher keineswegs ein universeller Trieb nach permanenter Machtsteigerung, auch nicht die Knappheit subsistenzsichernder Güter, sondern, wie Hobbes selbst betont, allein der Umstand, dass es „einige (!)“ Menschen gibt, „denen es Vergnügen (!) bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben“ (Hobbes 1984, S. 95).
Wenn eine kleine Minderheit ihre Macht maßlos ausdehnt, und zwar nicht ausschließlich und primär aus ökonomischen Gründen, sondern schlicht aus Vergnügen an der Machtausweitung, sind nach Hobbes auch die Bescheidenen, zur Extension ihrer Macht gezwungen, um sich nicht zur Beute der Aggressoren zu machen. Da niemand im Voraus wissen kann, wer vom Vergnügen an maßloser Macht überwältigt wird, müssen idealiter alle Menschen, d. h. auch diejenigen, die „an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden“ (ebenda), ihre Macht auf alle und alles ausdehnen, um ihr Leben zu sichern. Die Folge dieses Gedankenexperiments ist der Krieg aller gegen alle. Da es im realgeschichtlichen Leben, wie Hobbes selbst betont, niemals zu einer vollständigen Auflösung sämtlicher sozialen Bindungen von der Familie bis zum Staat kommt, ist der Naturzustand als bellum omnium contra omnes eine ahistorische Fiktion, d. h. ein Produkt der imaginatio. Das Bild vom Krieg aller gegen alle extrapoliert nicht bloß empirische Daten über das menschliche Verhalten, sondern baut de facto auf einer „sparsamen“, d. h. auf das Prinzip der Selbsterhaltung reduzierten Naturrechtslehre auf; „da folglich eine solche Vermehrung der Herrschaft über Menschen zur Selbsterhaltung eines Menschen notwendig ist, muß sie ihm“, wie Hobbes durch einen unvermittelten Sprung von der empirischen auf die normative Ebene betont, auch „erlaubt werden“ (ebenda). An dieser Stelle fließen daher in die Fiktion des Naturzustandes subkutan normative Elemente ein. Auch in der dritten Konfliktursache des Naturzustandes, dem Streben nach Ruhm (glory), bricht Hobbes das enge Korsett des homo oeconomicus auf. Die Konfliktivität menschlichen Zusammenlebens beruht, wie Hobbes bereits vor Hegel aufweist, im Kampf um Anerkennung. Da die menschliche Natur so beschaffen ist,
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„daß sie, wie sehr sie auch den größeren Witz, die größere Beredsamkeit oder Gelehrsamkeit anderer anerkennen, doch kaum annehmen, es gebe viele, die so weise sind wie sie, denn sie sehen ihren eigenen Verstand unmittelbar vor Augen und den anderer Menschen über eine Entfernung“ (ebenda, S. 94),
und darüber hinaus jede/r einzelne darauf bedacht ist, „daß ihn sein Nebenmann ebenso schätzt, wie er sich selbst einschätzt, und auf alle Zeichen von Verachtung oder Unterschätzung hin, ist er von Natur aus bestrebt, soweit er es sich getraut […] seinen Verächtern durch Schädigung und den anderen Menschen durch das Exempel größere Wertschätzung abzunötigen“ (ebenda, S. 95),
bewegt sich das Zusammenleben von Menschen stets auf einem psychologischen Minenfeld. Oft genügt eine kleine Geste der Geringschätzung, sei es „ein Wort, ein Lächeln, eine verschiedene Meinung“ (ebenda, S. 96), die in einer friedlichen Gemeinschaft plötzlich eine nicht endendwollende Spirale der Gewalt auslöst. So wie der Naturzustand so ist auch der Gesellschaftsvertrag kein realgeschichtliches Ereignis, sondern ein Produkt der imaginatio, die der Begründung der Gehorsamspflicht gegenüber der Staatsgewalt dient. Hobbes stellt zwar den Gesellschaftsvertrag erneut als eine Rechenoperation dar. Da im fiktiven Szenario des Naturzustandes aus dem Recht jedes einzelnen auf alle und alles notwendigerweise der Krieg aller gegen alle folgt, muss in der theoretischen Konstruktion des Staates dieses Recht gleichsam wieder subtrahiert werden.22 Wie im Naturzustand so fließen auch in die vertragstheoretische Begründung des status civilis unter dem Deckmantel der deduktiven Wissenschaft moralisch gehaltvolle Normen ein. Denn der Gesellschaftsvertrag muss nach Hobbes ein Vertrag aller mit allen sein. Hobbes bringt an dieser Stelle das empirische Argument ein, dass die Schwachen durch Bündnisse und Hinterlist auch die Stärksten töten können (ebenda, S. 94). Die Möglichkeit eines Vertrags zwischen Mächtigen auf Kosten Dritter kann allerdings mit empirischen Argumenten nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Hobbes bringt daher für die Begründung der universellen Reziprozität des Gesellschaftsvertrags noch die Goldene Regel ins Spiel (ebenda, S. 100). Als normatives Prinzip einer universalistischen Ethik – und nicht bloß einer Vergeltungsmoral – kann jedoch die Goldene Regel, wie
22In
der Sprache des Vertrags bedeutet dies einen Verzicht; Vgl. dazu Hobbes (1984, S. 100): „Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält.“
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bei Cusanus deutlich geworden ist, nicht mehr durch die Ratio, die noch auf Empirisches bezogen ist, sondern nur durch den Intellectus, genauer durch die eingeborene Idee universeller Unparteilichkeit begründet werden. Da Hobbes eingeborene Ideen per se ablehnt, steht die Begründung der normativen Fundamente seiner politischen Philosophie auf tönernen Füßen. Im Leviathan vergleicht Hobbes den Staat zwar mit einer Maschine; dennoch ist die scientia civilis von einer Physik der Gesellschaft meilenweit entfernt. Denn der Staat ist das „Produkt“ von Verträgen, die wiederum auf einer schmalen Naturrechtsethik aufbauen. Darüber hinaus deutet Hobbes die vertragliche Selbstverpflichtung im Licht der vis creativa der Renaissancephilosophie: Insofern durch Verträge eine soziale Realität geschaffen wird, die zuvor in dieser Form nicht existierte, impliziert Selbstverpflichtung für Hobbes eine Selbstkreation. Die Konstruktion des Staates entspringt, wie Hobbes im Vorwort des Leviathan im Geist der Renaissance emphatisch betont, durch eine Nachahmung der göttlichen Schöpfermacht: „Schließlich gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile dieses politischen Körpers anfangs geschaffen, zusammengesetzt und vereint wurden, jenem ‚Fiat‘ oder ‚Laßt uns Menschen machen‘, das Gott bei der Schöpfung aussprach.“23 Das „Produkt“ des Gesellschaftsvertrags ist keine Maschine, sondern ein künstlicher Mensch („artificial Man“). Die scientia civilis überbietet daher die neue Wissenschaft von Bacon und Descartes, die die Natur bloß künstlich reproduziert bzw. aus ihren Elementen neue Körper zusammensetzt.24 Hobbes variiert sogar das Bild von Pico della Mirandola, dass sich der Mensch als Bildner seiner selbst sowohl zum Tierischen depotenzieren als auch zum Göttlichen erheben kann. So wie sich der Mensch im
23Hobbes
(1984, S. 5). Vgl. dazu auch Hobbes (1997, S. 9): „Sie müssen es also machen, wie die Bildhauer tun, welche, indem sie das überflüssige Material wegmeißeln, das Bild nicht machen, sondern auffinden. Oder ahmen Sie die Schöpfung nach!“ Die Rezeption der vis creativa erfolgt keineswegs unbewusst; denn Hobbes kannte die hermetische Literatur, insbesondere den „Asklepius“ von Hermes Trismegisthos, auf den sich die Anthropologie der Renaissance in ihrer Aufwertung der schöpferischen Macht des Menschen stützte. (Vgl. Bredekamp 1999, S. 62 ff.). 24Vgl. Bredekamp (1999, S. 62): „Mit der Vorstellung, daß die Nachahmung der Natur einen organisch gestalteten Staat in Menschenform zu erzeugen vermag, der auch in Intellekt und Seele menschliche Züge in übermenschlichem Maßstab besitzt, vollzieht Hobbes den vielleicht entschiedensten Bruch mit Descartes Philosophie.“ Im Hinblick auf Bacon vgl. dazu Ludwig (1998, S. 226).
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Naturzustand in einen Wolf verwandelt, so werden die Menschen im status civilis einander zu Göttern.25 Mit der vertragstheoretischen Schöpfung eines politischen Körpers kommt Hobbes’ Rehabilitierung der imaginatio zu einem vorläufigen Höhepunkt. Eine gelehrte Abhandlung, die noch dazu wie De Cive in Latein verfasst ist, vermag jedoch, wie Hobbes schmerzlich bewusst wird, die Massen nicht zu erreichen. Die scientia civilis bedarf daher der Rhetorik und selbst der Visualisierung. Das Frontispiz des Leviathan ist daher nach Horst Bredekamp kein „Zusatz zum Text, sondern dessen Protektor, wie der Leviathan nicht nur der Repräsentant, sondern die Essenz des Staates ist. Ohne das Bild des Leviathan bleibt Hobbes’ politische Theorie so mißverständlich wie die Dunkelheit jener Sprache, die Hobbes als Verfall der semantischen Verbindlichkeit kritisiert.“26 Die „Phantasmatik der Auslegung von Verträgen und Gesetzen“ zu begrenzen, diese Aufgabe hat allerdings Hobbes – dies ist gegen Bredekamps überschießende Deutung der imaginatio zu betonen27 – nicht einfach der Macht des Bildes aufgebürdet. Trotz der bemerkenswerten Aufwertung der Rhetorik und der Strategien der Visualisierung seiner Philosophie vermag nach Hobbes allein das Gewaltmonopol des Staates die Vieldeutigkeit der Sprache zu begrenzen und Verträge in kontrollierte Handlungen zu überführen. Denn der Souverän erlässt nicht nur Gesetze, sondern sorgt auch für ihre definitive Auslegung. Mehr noch: Der Souverän kontrolliert selbst den Streit der politischen Philosophien, die nach Hobbes eine nicht versiegende Quelle der Vieldeutigkeit moralischer Kategorien ist. Von der Kontrollmacht des Souveräns nimmt Hobbes bekanntlich auch seine eigene Philosophie nicht aus. Indem dem Staat das Recht zugestanden wird, das Buch „Leviathan“ zu verbieten,28 löst Hobbes gleichsam durch eine paradoxe Intervention die Inkonsistenzen in den begründungstheoretischen Reflexionen seiner politischen Philosophie.
25Vgl.
Hobbes (1994b, S. 60). Vermutlich spielt Hobbes in De Cive auch an Francis Bacon an, für den sich die Göttlichkeit des Menschen in den technischen Künsten manifestiert. Vgl. dazu Bacon (1999), § 3; § 129. 26Bredekamp (1999, S. 130 f.). 27Vgl. Ebenda „Dies ist der Sinn des Frontispizes. Damit Verträge und Gesetze zu kontrollierten Handlungen werden, müssen sich Worte in Körper verwandeln, und diesen Vermittlungsschritt leistet das Bild des Leviathan. Ohne visuelle Repräsentation kann der Leviathan zwar gegründet, aber nicht dauerhaft am Leben erhalten werden. Er ist kein Zusatz zur Schrift, sondern das Medium zur Überwindung ihrer Schwäche.“ 28Vgl. Hobbes (1984, S. 139 f., 212).
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H. Schelkshorn
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Erwarten, Vorstellen, Entscheiden Zeitbilder der futurischen Entscheidung Birger P. Priddat
Zusammenfassung
Der Autor beschreibt, wie bei ökonomischen Entscheidungen die Zukunft als Erwartungsraum mit Erwartungspunkten imaginiert wird: eine Landkarte von verwirklichbar vorgestellten Möglichkeiten, eingebettet in den weiteren Raum „des Möglichen, das wir uns als nicht verwirklichbar vorstellen.“ Finanzobjekte erscheinen nach dieser Analyse als Projekte imaginativ-apperzeptiver Art, dabei formen sich „Bilder“ von Märkten, die sich unmittelbar wandeln können. Phänomene dieser Art kann die ökonomische Standardtheorie aus epistemischen Gründen nicht erfassen. Schlüsselwörter
Zukunftsimaginationen · Finanzentscheidungen · Marktbilder · Ökonomische Erwartungen
B. P. Priddat (*) Universität Witten-Herdecke, Witten, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_8
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1 Das Wahrscheinliche und das Mögliche Entscheidungen – gerade die ökonomischen – sind Entscheidungen innerhalb eines Erwartungshorizontes. Der Horizont erscheint immer vor einem: wir ‚sehen die Zukunft vor uns‘, d. h. zeiträumlich. Die Zeit, die hier wirksam wird, ist in einem Bild gefangen – quasi una pittura. Innerhalb des Horizontes sehen wir Möglichkeiten. Weil wir den Raum bis zum Horizont als ‚Gelände‘ betrachten, sehen wir die Möglichkeiten als ‚begehbar‘, erreichbar, realisierbar an. Selbst wenn wir sie noch nicht ‚sehen‘, übertragen wir das, was wir ‚hinter dem Horizont‘ wähnen, auf das vertraute Schema des Weges in die Zeit. ‚Wege‘ sind wir – so die Erfahrung – immer schon gegangen. Wir meinen daher zu wissen, ‚was ein Weg bringt‘.1 Überhaupt ist es bemerkenswert, dass wir die Zeit als Raum betrachten: als ob wir uns in die Zukunft hinein bewegen. Gewöhnlich betrachten wir die Zukunft als offenen Horizont. Wenn wir aber für den Entscheidungskontext genauer werden, bezeichnen wir auf dem Horizont bereits bestimmte Punkte, die wir anvisieren: die Zukunft erscheint dann in unseren Erwartungen als Fluchtpunkt, den wir als eine Zukunfts-Perspektive imaginieren, auf die alles hinausläuft (es ‚gibt‘ in dem Sinne keinen Horizont, sondern nur den in die Horizontale eingespannten anvisierten Punkt, den wir ‚erwarten‘). Der Weg läuft zwar auf einen Horizont zu, aber, als Weg, auf bestimmte Punkte hin, nie auf den ganzen Horizont.2 Denn sähen wir den Horizont als Horizont, müssten wir mehrere, viele Fluchtpunkte zugleich anvisieren. Also viele Wege gehen. Welche dann? Welchen
1Als
Weg bleibt der Weg Weg: ein immer gleiches Voran. Aber die Ereignisse, die am Rand beim Gehen geschehen, wechseln. Es sind immer andere Ereignislandschaften. Indem man geht, verschiebt sich der Horizont und – um im Bild zu bleiben – kommt der im alten Horizont anvisierte Ereigniserwartungspunkt näher. Dabei bleibt übersehen, dass sich durch die Verschiebung des Horizontes auch die alte Erwartung neu justieren kann und dann andere Punkte anvisiert werden in fortlaufender Revision. In den Sinn birgt die Wegmetapher eine Progressionsgeschichte, ohne dass das, was da je kommt, besser sein muss. Aber auch als besser eingeschätzt werden kann, in laufender Ambivalenz. Hierbei steht nichts unabdingbar fest. 2Der Horizont, wenn wir in diesem Bild bleiben, zeichnet eine offene Zukunft, während die Erwartungen die wir entwerfen, bereits bestimmte Punkte im Horizont anvisieren, d. h. eine Schließung der offenen Zukunft anzeigen.
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luchtpunkt erklären wir für uns als relevant? Wenn wir uns für einen entscheiden, F für welchen? Warum dann der eine, nicht ein anderer?3 Sind die Möglichkeiten (Fluchtpunkte) nicht im Horizont alle gleich? Ist etwas ‚möglicher‘ als möglich? Wir kommen gleich darauf: das Wahrscheinliche scheint eine Art der Selektion von Möglichkeiten zu sein. Darin scheint alle Zeit aufgehoben: der Erwartungsraum – einer Geometrie ähnlich – öffnet sich nicht, sondern schließt sich – auf den Erwartungspunkt. Wir erwarten nicht ‚alles Mögliche‘, sondern etwas Bestimmtes. Als ob der Prozess, der sich im Prinzip in die Zukunft hinein öffnet, auf einen Punkt, auf ein Bestimmbares hin jetzt schon abschließt. In dieser Geometrie der Zeit verschwindet die Zeit. Sie hat in der ökonomischen Analyse keine besondere Bedeutung. Die futurischen bzw. die Anlageentscheidungen fixieren einen Punkt in einem imaginären Raum; das zeitliche Äquivalent der ‚jetzt-später‘-Unterscheidung erscheint als Wegmarke ‚weiter vorne‘. Wir simulieren, dass wir das zukünftige (Ertrags-)Ereignis wie auf einer Landkarte ‚lesen‘ können. Die Metapher der Landkarte beschwört eine epistemische Eindeutigkeit, die wir uns zurechtlegen, obwohl wir wissen können, dass wir die Zukunft nicht kennen (die Landkarte verschwimmt im entscheidenden Bereich; sie ermisst dort nichts). Wir befinden uns in einer handlungszubereitenden Fiktion: als ob wir es ‚sehen‘ könnten (vgl. Priddat 2015b, 2016c). Wir simulieren das, was eigentlich ‚erst kommt‘, als vorher-sehbar. Es ist im Weg angelegt. Taugt die Wegmetapher überhaupt? Doch ist das nur ein Anschein. Denn das Erwarten ist auch ein Warten auf etwas, was sich zeigt. Der Aktienkäufer z. B. ‚bewegt‘ sich nicht; er wartet passiv, was im nächsten Markt geschieht. Sein Warten wird zum Er-Warten, auf eine Steigerung, die er anvisiert hat. Weil wir wissen können, dass das, was wir erwarten, viel zu ungenau und unbestimmt ist, als dass es überhaupt oder so eintreffen muss, öffnet sich notwendig wieder der ‚Raum der Zukunft‘: es sind viel mehr Möglichkeiten als die eine, die wir erwarten. „Zur Gegenwart des Möglichen gehören immer mehrere gleichzeitige Möglichkeiten“ (Rustemeyer 2014, S. 57; Kaiser 2012). Und es zeigt sich, dass das, was wir erwarten, eine Wunschkonstellation ist, die ‚das aus der Zukunft nimmt‘, was wir wollen oder begehren
3Vergessen wir nicht den Weg, den wir zurückgelegt haben: die Spur, die auch weiterführt. Auf welchem Weg wir herkommen, bestimmt zugleich, dass es dieser Weg und kein anderer ist, auf dem wir weitergehen. In der Institutionenökonomie redet man von einer Pfadabhängigkeit. Als ob man, im Bildraum der Zeit, die Richtung schon festgelegt haben muss (als ob es eine festgelegte Strecke von Möglichkeiten gibt, kein Gelände).
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oder hoffen, ohne wissen zu können, ob es tatsächlich eintreten wird. Es bietet Orientierung, aber keine Wahrheit. Dass der Aktienkäufer auf etwas wartet (einen Preis, einen Kurs), heißt, dass das Ereignis auf ihn zukommt. Wenn wir aber ins Bild der Raumzeit zurückgehen, bedeutet das ‚Kommen‘, dass sich das Bild auf ihn zubewegen würde – und nicht, dass er auf den erwarteten Punkt hinzuschreitet. Das Bild des Weges passt nicht zu dem ‚kommenden‘ Ereignis. Der Markt bewegt sich, nicht der Erwartungsentscheider. Er bleibt Beobachter eines auf ihn zulaufenden Prozesses: ein Film, kein Bild, um ein dafür angemessenes Analogon zu verwenden. Was in einem Film auf ihn zukommt, kann er aber nicht ermessen, da er das Script nicht kennt. Wir kennen den (Finanzmarkt-)Film ja nicht (wenn wir ihn erstmals sehen. Aber der gleiche Film wird im Finanzmarkt nicht wieder gespielt). Er besteht aus laufenden, überraschenden Bildern. Wir erwarten eine plausible story, wissen es aber vorher nicht. Das ist der narrative Plot: dass wir das Investitions-/Anlageereignis als Beginn und schließlich als Auflösung einer plausiblen story ansehen mögen (wie ein ‚schlechter‘ Roman, der immer positive Auflösungen bietet). Indem wir uns auf die story einlassen, wollen wir glückhaftes Gelingen. Die Antizipation, die wir im Erwarten eingehen, ist auf glückhaften Ausgang plausibilisiert: a good story. Wir befinden uns, wenn wir es so sehen, in einer Abteilung der Literatur, die das Ende, das wir nicht kennen, immerhin als positiv signalisiert. D. h. wir befinden uns in einem Genre, einer spezifischen Literatur, die uns nicht hängen lässt. Ohne zu wissen, was kommt, meinen wir zu wissen, dass es gut ausgeht (weil wir einem Roman folgen: einer Handlungs-story). Das Raum-Zeit-Bild hatten wir verwendet, um das Einschätzen dessen, was sich in Zukunft – später – ereignet, markieren und ausmessen zu können. Als Ereignispunkt auf einer ‚Landkarte‘. Das statische Bild, in dem wir meinten, ermessen zu können, wird im Film unbrauchbar, weil zwar ständig Ereignisbilder auf einen zukommen, aber in Form aufschießender neuer Gegenwarten, deren Zukunft wir nicht er-messen können (wir können sie ahnen, wenn die Sequenz linear fortläuft; bei jedem Schnitt allerdings haben wir eine bildliche und narrative Disruption). Wir wissen nicht, welche Bilder/welche Marktkonstellationen auf uns zukommen werden. Wir wissen – im Film – nur, dass ständig etwas geschehen wird, aber wir sind nicht mehr – wie im vorherigen Schema – ‚im Bild‘ (somit auch nicht im Bild darüber, was kommt). Wir sind – im Film – auch nicht mehr nur Beobachter, sondern ins laufende Ereignisgeschehen hineingenommen,
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von ihm ‚gefesselt‘ (gleichsam ‚ekstatisch‘, statt ‚statisch‘). Dieses zeitliche involvement ändert nicht nur uns im Zeit-Raum, sondern den Raum selber. Das ‚Gelände‘ ist viel unübersichtlicher – bleiben wir bei der Visualisierungsmetapher des Zeitlichen -, als wir es uns im Erwarten vorstellen; nur die ‚nahe liegenden‘ Möglichkeiten erscheinen uns als realisierbar. Das Vorstellen dessen, was wir erwarten, verstellt bereits den Horizont. Die ‚weiter hinten‘ liegenden Möglichkeiten, die wir ‚schlechter erkennen‘ können, bleiben Denkmöglichkeiten (Intelligibilitäten). „Was möglich ist, ist nicht notwendigerweise, sondern möglicherweise möglich“ (Nitt 1995, S. 5). Das Wahrscheinliche ist jenes Mögliche, das wir uns als verwirklichbar vorstellen können (probabilistischer Raum). Das Mögliche, das wir uns erst gar nicht als notwendig verwirklichbar vorstellen, ist der weitere Raum (possibilistischer Raum). Das Unterscheidungsspektrum lautet: wirklich – wahrscheinlich – möglich
Da das ‚Wahrscheinliche‘ nur jene Möglichkeiten umfasst, die wir uns als realisierbar vorstellen können (Mahr 2015, S. 166), unterscheiden wir also zwei Möglichkeitsräume: realisierbar möglich (möglich 1) – lediglich denkmöglich (intelligibel, möglich 2). Dabei vergessen wir, dass das anvisierte wahrscheinliche Objekt sich post hoc gegebenenfalls als ‚nur denkmöglich‘ herausstellen kann, wenn es sich nicht ereignet (oder nicht so, wie wir es in der Erwartung fixierten). Die analytische Trennung lässt sich auf den futurischen Anlageprozess (in den Finanzmärkten, bei den Investitionen) nicht eindeutig übertragen. Was wir als möglich und als wahrscheinlich anvisierten, kann sich später als nicht- bzw. un-möglich erweisen. Ein Horizont beschreibt eine Grenzlinie, hinter der weitere Möglichkeiten liegen, aber unerkennbar. In dem Sinne ist der Horizont eine unüberschreitbare Linie, eine Selektion des Möglichkeitsraumes nach der Erkennbarkeit. Was dahinter liegt, ist die (vermutete) Totalität aller Möglichkeiten, aber für uns unbestimmbar. Das, was uns unbestimmbar erscheint, im Sinne eines Nichtwissens, ist un-möglich. Allein die Redeweise von einer ‚Totalität aller Möglichkeiten‘ ist problematisch, da sie suggeriert, als wäre das ‚alle‘ angebbar. Das, was wir nicht wissen, können wir nicht angeben; wir wissen nur, aus Erfahrung, dass da ‚mehr ist‘ als wir wissen (ohne irgend etwas davon abzählen zu können): eine – hochungenaue – Metaerwartung.
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Wenn wir von einem Horizont reden, reden wir so, als ob wir etwas ‚vor Augen haben‘. Wir haben aber nur eine Erwartung entworfen, die einen Punkt darstellt auf einer imaginären Linie. Das Imaginäre daran weist auf viele Punkte (die erst überhaupt eine Horizont-Linie bilden würden). Bedeutsam nun aber ist, dass wir die Linie, die anderen Punkte, ignorieren und nur den einen Erwartungspunkt anvisieren. So bestimmt er durch die simulierte Geometrie erscheint, ist er doch eine Fiktion: ein fingierter Punkt (wie Wolfgang Iser auf das fingere verweist der fictio (Iser), ein fingierter, imaginärer ‚Punkt‘) (Priddat 2016b; vgl. Iser 1991). Der Wahrscheinlichkeits- oder probabilistische Raum umfasst, vor dem Horizont, nur die Möglichkeiten 1, nicht aber mehr das nur Denkmögliche (möglich 2). Der probabilistische Raum bildet einen Erwartungshorizont, der den probabilistischen vom possibilistischen Raum trennt. Der Erwartungshorizont unterscheidet sich vom Horizont, der alle uns möglich erscheinenden Möglichkeiten umfasst, dadurch, dass er nur die für realisierbar erwarteten Möglichkeiten einschließt. Denn wir erwarten nur, worauf sich zu warten lohnt, d. h. warten auf etwas, von dem wir erwarten, dass es sich verwirklicht. ‚Erwarten‘ ist eine Haltung, die selbst dann, wenn man sich für etwas Bestimmtes entschieden hat, ein Warten auf etwas Kommendes zum Ausdruck bringt. Man hofft, dass das kommt, was man erwartet, weiß es aber nicht. Das heißt: das, was man bereits entschieden hat (indem man eine Erwartung erwartet), wird wiederum ein zweites Mal entschieden, und zwar nicht von einem selbst, sondern z. B. von der Konstellation des Systems, des Marktes, auf den man seine Entscheidung projiziert. Dabei ist klar, dass die schöne Unterscheidung zwischen probabilistischem und possibilistischem Raum imaginär bleibt, denn alles, was wir für wahrscheinlich erachten, kann auch nicht eintreffen (also statt probabile wieder nur possible werden, d. h. das Realisierbarkeitskriterium verfehlen). Die Zeit, die zwischen Entscheidung und Marktergebnis tritt, ist das Medium der Kontingenz. Die Entscheidung, in den Finanzmarkt einzutreten, wird nicht im selben Markt ergebnisfest, sondern in einem anderen, nächsten Markt. Die futurische Transaktion ist keine Interaktion mit sicherem Preis und sicherem Partner, sondern in beiden Punkten offen: der Preis, den der nächste Markt generiert, ist unbestimmt, und auch, wer dann die Aktie, die man im ersten Markt gekauft hat, wann kauft. Man geht in den Finanzmärkten ungesicherte und unvollendete Transaktionen ein: Optionen in einem ganz allgemeinen Sinne. Die Ökonomie nennt es eine Risikoposition,
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aber wir werden sehen, dass es komplexere zeitliche Prozesse sind.4 Reden wir vom Risiko, reden wir bereits von etwas, das wir meinen, bestimmen zu können. Das zu tun ist selber wiederum riskant (und zwar auf eine Weise riskant, die nicht in der probalistischen Risikoeinschätzung vorkommt).
2 Die Ungewissheit des Risikos Da es sich um zukünftige Ereignisse handelt, besteht Ungewissheit, inwieweit oder in welchem Maße das Erwartete eintreten wird. Das Ungewisse wird wahrscheinlichkeits-begrifflich eingeschätzt, in riskante Unsicherheit transformiert (p als Eintrittswahrscheinlichkeit, z. B. 80 %; 1 − p als Nichteintritt des Ereignisses, i. d. F. 20 %): vermeintlich eine Reduktion von Ungewissheit in Unsicherheit/ Risiko. Das Wahrscheinliche ist das, was am ehesten den ‚Anschein der Wahrheit‘ hat – wie es in der alten Rhetorik benannt wurde (Campe 2002; Priddat 2016c). Heute werden die Wahrscheinlichkeiten für die Entscheidungen als numerische Eintrittswahrscheinlichkeiten gewertet, die über Häufigkeitsvermutungen gebildet werden: als das, was mit der Wahrscheinlichkeit p als am häufigsten einzutreten erwartet wird. Oder über subjektive (Savage-)Estimationen.5 Wie ermessen wir p (und zugleich 1 − p)? Wenn wir keine E reigniseintrittsHäufigkeitsmessungen (d. h. lange statistische Zeitreihen vergangener Ereigniseintritte) zur Verfügung haben, schätzen wir p subjektiv ( Savage-Wahrscheinlichkeit). 4Das
ist anders in den Bereichen der Finanzmärkte, die Derivate handeln (Vgl. Riedel 2013; Derman 2012a, b; Langenohl 2007; Eposito 2011). Als Termingeschäfte sind sie datiert, d. h. ihre Fälligkeit wird im Kontrakt von vornherein fixiert. Dabei wird der Preis gegenwärtig fixiert (und nicht wahrscheinlichkeitstaktisch auf sein zukünftiges Erscheinen bestimmt (vgl. dazu die komplexe Analyse von Ayache 2010, 2015). Die Zeit wird ignoriert; zum Fälligkeitstermin zeigen sich die reellen Werte, d. h. die Über- oder Unterschreitung des vorher fixierten Preises. „Financial models don’t forecast; they transform one’s forecasts of the future into present value“ (Derman 2012a, S. 192). „Auf den Finanzmärkten versuchen unzählige Akteure die zukünftigen Kurse vorauszusagen und durch geschicktes Kaufen und Verkaufen Gewinne zu erzielen. Deshalb spiegeln die heutigen Kurse all diese Aktivitäten und alle heute verfügbare Informationen und Erwartungen. Die Kurse bewegen sich nur, wenn neue Informationen verfügbar werden oder die Anleger sie neu interpretieren. ‚Neu‘ heißt dabei immer auch ‚nicht prognostizierbar‘. Folglich ist auch die Kursentwicklung nicht prognostizierbar und zufällig – eben ein ‚Random Walk‘, eine Zufallsbewegung“ (Eichenberger und Portmann 2014, S. 1). Derivate sind eine andere Kategorie der Finanzmärkte; die Aktie hingegen ist affin der allgemeinen Investition, die auf einen späteren return on investment optiert. 5Vgl. Silver (2012); Papineau (2012), Abschn. 7.6; Svetlova und van Elst (2013).
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Meistens haben wir keine Statistik zur Verfügung (allein, was für eine Vorstellung für die Alltagsentscheidungen!). Wenn wir p aber subjektiv schätzen, ist die Aussage p = 80 % eine imaginative Aussage. Wie kann sie sich von p = 60 % oder p = 90 % unterscheiden?6 Nur durch die Aussage ‚ich schätze es so ein‘ – semikognitiv, semi-intuitiv. Dann aber ist die Aussage p = 60 % der Aussage p = 80 % ähnlich, wenn nicht gleichrangig etc. Die Skalierung ist eindeutig, aber simuliert. Man kann sagen, dass alle Aussagen p > 50 % positive Ereigniseintrittserwartungen beinhalten. Die ‚degrees of belief‘, die sich als 60 %, 80 % oder 90 % ausweisen, sind untereinander kaum differenzierbar, außer dass sie differenziert werden. Sie dienen alle dazu, sich für eine Erwartung des Ereigniseintritts zu entscheiden7. Das nur als Hinweis: dass wir eine epistemologische Operation vollziehen, ohne uns dessen gewiss zu sein. Das Einschätzen ist oft ein intuitiver Akt, ohne ihn aber – wie Gigerenzer (2007) vorschlägt – auf die Kopie älterer Erfahrungen oder Muster einzugrenzen. Das Intuitive kann eine nicht-analytische komplexe Aussage sein, in der ein Nexus von Erfahrung, Information, Kommunikation, Haltung etc. als ein ‚ganzes Bild‘ der Lage oder Konstellation undifferenziert synthetisiert in Anschlag gebracht wird. Es ist verwandt mit dem stillschweigenden, nicht explizierbaren Wissen, das Michael Polanyi ‚implizites Wissen‘ (tacit knowledge) nannte (vgl. Ortmann 2011, S. 120 f.). Man hat das Bild, eine Vorstellung der Zusammenhänge, ohne sie explizit begründen zu können. Man ‚glaubt zu wissen‘ (Wittgenstein 1970, S. 12), dass man richtig liegt. Es ist von der Art einer Dezision. Dabei wird nicht rational zwischen Alternativen gewählt, sondern eine begriffslose, oft emotionale (oder kognitiv-emotional hybride) Estimation vollzogen.
6Ein
Logiker sieht es nüchtern: „In truth, there isn’t really a precise answer to the question of exactly how much I believe p, for every proposition p. There are plenty of propositions that I have never thought of, and even among those I have thought of are many to which I have a pretty fuzzy attitude. Nor is it realistic to suppose that I can attach numbers to all the things I care about“ (Papineau 2012, S. 97). 7Die Aussage ‚morgen wird es regnen‘ z. B. wird über einen degree of belief eingeschätzt, der in Nummer von 0 bis 1 repräsentiert wird (Papineau 2012, S. 96). Wir gewinnen eine Zahl (bzw. eine so eingeschätzte Eintrittswahrscheinlichkeit), die nicht unser Wissen repräsentiert, sondern unsere – vague – Einschätzung von etwas, das wir in seinem Zustandekommen nicht überblicken können. Wir wissen weder, wie das Wetter sich morgen bilden wird, noch wie die nächsten Aktienkurse tatsächlich sich entwickeln werden. Nicht die Tatsache des rankings ist bemerkenswert, sondern die Simulation der Einschätzung von relativ komplexen Phänomenen, die wir leichterdings zu einem Objekt unserer Bestimmbarkeit machen. Indem wir dann z. B. 60 % sagen, operieren wir damit wie mit einer objektiven Tatsache, die ihre Ambiguität und Kontingenz gänzlich verloren zu haben scheint. Dabei sind die Zahlen fingert: fiktiv gesetzt, in intuitiver Abschätzung. Eine sich selbst verdeckende doppelte Intuition (Morgan 2013).
Erwarten, Vorstellen, Entscheiden
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Die fundamentale Aussage ‚ich schätze es so ein‘ ist eine Aussage über zukünftige Ereigniseintritte, ohne dass wir notwendig etwas über die Zukunft, d. h. die zukünftigen Marktkonstellationen wissen können. Wir behandeln die Zukunftsereignisse, als ob wir die Alternativen so bemessen, wie wir es für ‚Entscheidungen unter Sicherheit‘ gewohnt sind. Wir transponieren das Mögliche als Wahrscheinliches in einen bewählbaren Objektraum, was erst die Entscheidbarkeit herstellt. Hier täuscht die Raumvorstellung der Zeit ein Kontinuum vor.8 Die Zeit erscheint darin als Warten (Er-Warten) auf das ‚vor uns liegende‘ vor-gestellte Objekt. Als eine unbestimmte Dauer. Der Zeit-Raum erscheint als identisch. Dass in der Zeit sich etwas anderes ereignen kann, als wir uns jetzt vorstellen, ist ein Hinweis darauf, dass es ein ‚anderer Raum‘ sein kann, ein anderer Kontext/Markt etc. Das, was darin anders wird, revidiert unsere ersten Erwartungen. Und damit die damit einhergehende Raum-Zeit. Die Gravitation der Konstellationen des Marktes krümmen die Raumzeit. Wie oben schon einmal betont: ‚Wir behandeln die Zukunftsereignisse, als ob wir die Alternativen so bemessen, wie wir es für ‚Entscheidungen unter Sicherheit‘ gewohnt sind. Wir transponieren das Mögliche als Wahrscheinliches in einen bewählbaren Objektraum, was erst die Entscheidbarkeit herstellt‘. Die Simulation, dass wir es bei futurischen Entscheidungen mit ähnlichen Entscheidungen (oder gar Wahlakten) wie bei ‚Entscheidungen unter Sicherheit‘ zu tun haben, verleitet dazu, die zukünftigen Ereignisse wie bekannte Objekte zu behandeln. Bernd Mahr modelliert den Zeitbezug als Verhältnis von Intention, Bezugnahme, Zugänglichkeit und Erfüllungsbedingungen (Mahr, S. 157 ff.). Zukünftige Zustände können keine objektive, subjektunabhängige Realität haben, wohl aber existieren (mit Bezug auf Husserl 2015, S. 162 f.). Die Idee des Bezugnehmens ändert sich in vielen Modellen der Welt (wozu auch die ökonomischen zählen) nicht, „wenn das, worauf Bezug genommen wird, nicht in der Gegenwart oder Vergangenheit liegt, sondern in der Zukunft. Ein Grund für diese Stabilität der Idee könnte darin liegen, dass das Subjekt den Akt des Bezugnehmens, den es mit jedem Zeichengebrauch , mit jeder Vorstellung , mit der Bewusstseinsleistung
8Wir
behandeln das zukünftige Objekt (das Projekt), „als ob es vollzogen worden wäre. ‚Ich werde gehandelt haben‘“ (Ortmann 2011, S. 68, mit Bezug auf Alfred Schütz). So erscheint uns das, was erst kommt und durch unser gegenwärtiges Handeln nicht erschlossen werden kann, als ob wir es schon getan hätten – eine Defuturisierung der Entscheidung, die alles in einem ‚Raum‘ zu vollziehen meint und die Zeit negiert (zur Negierung der Zeit in der Ökonomie vgl. Berns 2015; Esposito 2014 und Svetlova 2014).
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B. P. Priddat
der Wahrnehmung und mit jedem intentionalen Zustand vollzieht, als etwas Gegenwärtiges erlebt und dadurch zugleich mit der Vorstellung verbindet, dass das Objekt der Bezugnahme gegenwärtig ist und gleichsam ‚vor Augen‘, auch wenn es als zukünftig gedacht oder ausgesagt wird“. (ebenda 2015, S. 168 f.)9
Die Redeweise, dass das Zukünftige als Gegenwärtiges ‚vor Augen‘ liegt, gleichsam als Horizont, entsteht aus der Raumvorstellung der Zukunft: eine Versinnlichung oder Naturalisierung des Zeitlichen. Luhmann spricht von ‚Defuturisierung‘. Indem wir das Zukünftige als Gegenwärtiges behandeln, liegt es nahe, den Entscheidungsvorgang so zu strukturieren, als ob er gegebene Objekte beurteilt. Wir entscheiden nicht künftig, sondern jetzt – gegenwärtig -, was kommen soll. Richtig ist, dass wir ‚jetzt entscheiden‘, unrichtig aber, dass wir das Objekt, das wir entscheiden, gegenwärtig kennen oder verfügen. Dabei fällt auf, dass wir gar keine Methode haben, Zukünftiges als Zukünftiges zu behandeln. Elena Esposito greift auf Luhmann zurück (Luhmann 1991, S. 83 ff.), wenn sie zwischen einer ‚gegenwärtigen Zukunft‘ und einer – späteren – ‚Gegenwart der Zukunft‘ unterscheidet (Esposito 2007, 2011), die nur fiktional gekoppelt sind (Priddat 2016a). Eigentlich interessiert sich der ökonomisch konstruierte Entscheider nicht für die Zukunft. Er will einzig und dezidiert das intendierte Ergebnis (gleichsam ‚versorgt‘ sein). Es wäre ihm wünschenswert, wenn es sofort einträte. Die Zeit muss nur notwendig eingefügt (eher nur erwähnt) werden, weil erst ein nächster Markt die Wertsteigerung, die man intendiert, erbringen kann (deshalb muss man sich ‚sorgen‘, in der heideggerschen Diktion). Man kauft kein Finanzmarktobjekt, weil es den höheren Wert bereits schon hat, sondern in einem nächsten Markt erst bekommt. Man kauft die – nur zeitlich ‚herzustellende‘ – Zeitwertdifferenz. Die Differenz zwischen Markt 1 und Markt 2 beruht auf der dann geänderten Konstellation (dem ‚anderen Raum‘). Der zeitliche oder Phasenübergang von M 1 zu M 2 ist entscheidend für die Wertgenese. Wir legen es ja gerade auf die (Wert-) Änderungen der Zukunft an. Es erscheint als paradox, möglichst gleich das Ergebnis haben zu wollen, aber zu wissen, dass es nur als positive Zeitwertdifferenz realisiert werden kann. In dieser Überlappung von Wunsch/Vorstellung und konstellativer Ereignisbildung oszilliert das Objekt der Entscheidung und nimmt als Erwartungswunsch eine normative Form an, die die Identität von Sollen und Sein simuliert. Wir arbeiten später heraus, dass es nicht nur abstrakt um die Zeitdifferenz geht, sondern um die Zeit der Entscheidung im zweiten Markt: um den richtigen 9Die
Namen sind von B.P. eingefügt wurden, als Referenten der Zeittheorien, auf die Mahr sich in seinem Text bezieht.
Erwarten, Vorstellen, Entscheiden
255
Moment des Verkaufs. Es geht nicht um einen Phasenübergang (innerhalb ‚des Marktes‘), sondern um eine komplementarisierende Singularität (vgl. Berns 2015) in einem anderen Markt (vgl. Priddat 2017). Hier war lediglich zu zeigen, dass die Zeitlosigkeit der Entscheidung in der Ökonomik auf einer Objektivation der (futurischen) Alternativen beruht, die sie analog setzt zu den gegenwärtigen Alternativen der rational choice (d. h. der Wahl der besten Alternative aus gegebenen Alternativen). Dabei wird unterschlagen, was es heißt, dass futurische ‚Objekte‘ ‚gegeben‘ seien. Sie sind weder Objekte, noch ‚gegeben‘, sondern Projekte (imaginativ-apperzeptiver Art). „Bei Bezugnahme auf Zukünftiges ist Objektivierung nur sehr eingeschränkt möglich. Denn die Unbestimmtheit zukünftiger realer Existenz geht über die Ungewissheit der realen Existenz von Gegenwärtigem und Vergangenem in grundsätzlicher Weise hinaus. Sie entzieht sich nicht nur weitgehend den Methoden der Naturwissenschaften, sondern auch den Möglichkeiten der Leistungen des Bewußtseins. Zukünftiges hat keine Zeugen und keine Dokumentation. Zukünftiges kann nicht erinnert werden und Erfahrungen im Hinblick auf Zukünftiges können nur über einen Analogieschluß aus den Erfahrungen im Hinblick auf vergangenes Zukünftiges gewonnen werden. Während die Existenz in der Gegenwart und Vergangenheit faktisch entschieden und dadurch als gesichertes Wissen, zumindest im Prinzip, zugänglich ist, fehlt der Existenz des Zukünftigen diese prinzipielle Zugänglichkeit des Faktischen. Nur wenn ein deterministisches Prinzip oder ein über der Zeit stehendes Wissen die Zukunft bestimmen würde, wäre auch die Existenz des zukünftig Realen entschieden, aber eben noch nicht faktisch, sondern nur als etwas, das uns erwartet“ (Mahr 2015, S. 167).
Es geht dann darum, zu klären, was es heißt, dass wir etwas erwarten bzw. dass uns etwas erwartet. Wenn der ‚Existenz des Zukünftigen‘ diese ‚prinzipielle Zugänglichkeit des Faktischen‘ fehlt, befinden wir uns im Fiktiven, Imaginären (vgl. Priddat 2015b, 2016c; Beckert 2011). Kehren wir in die Wahrscheinlichkeitsverwendungserklärung zurück. Allein das subjektive Gefühl oder die Einschätzung, das die Differenz zwischen p = 90 % und p = 60 % ausmacht, variiert. Natürlich wird es mit Hilfe von Informationen, Fiktionen, Gerüchten, Berechnungen10 etc. gebildet; es sind alles
10Die
Berechnungen sind das entscheidende Geschäft der Ökonomik. (Vgl. Gilboa und Schmeidler 2008; Svetlova und van Elst 2013) Aber sie beruhen auf Konstruktionen der Erfassung von etwas, dessen Kontingenz sie nur einkreisen, nicht bewältigen können (über die Geschichte der Theorien der Unsicherheitsbewältigung (Vgl. Köhn 2017). (Vgl. auch Frydman 2015).
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B. P. Priddat
ebenso zulässige wie zugleich unzuverlässige Medien, die den Zweck haben, eine Einschätzung zu bewerkstelligen. Aber mit p = 60 % wird die Entscheidung dennoch getroffen, auch wenn man fühlt, dass es mit p − 1 = 40 % weniger gut ausgehen könnte. Man ist vielleicht unsicher, ob nicht die 40 % Ereignisnichteintritt eher eintreten werden. Aber durch die gefällte Entscheidung hat man sich für die Ignoranz dieses Risikos entschieden. Das Risiko, das wir in Wahrscheinlichkeitsaussagen explizite (als 1 − p) benennen, wird durch die Benennung zugleich subjektiv ignoriert und – asymmetrisch – durch p = 60 % hochgewichtet. „Wahrscheinlichkeit ist nicht einfach nur eine Berechnung der Chancen, sondern die Akzeptanz der fehlenden Sicherheit unseres Wissens und die Entwicklung von Methoden zum Umgang mit unserer Ignoranz“ (Taleb 2008, S. 25). Die Wahrscheinlichkeitszuschreibung dient dazu, die Entscheidung – trotz Ungewissheit – zu entscheiden, d. h. sich für sie zu entscheiden statt nicht zu entscheiden. Indem wir so die Entscheidung sichern, schließen wir lokal-temporär die Kontingenz aus, die sich in der Realisation der Entscheidung – später, wenn das ‚erwartete‘ Ereignis anders eintritt – wieder einstellt. Die Zwischenzeit aber, bis zum späteren Ereigniseintritt, sind wir uns sicher, richtig entschieden zu haben. D. h. wir setzen die Unsicherheit still, bis sie wieder, am Ende, aufbricht. Die ganze Zeit über können wir hoffen, dass das nicht geschieht, sondern dass das Erwartete tatsächlich auch eintritt: ‚suspension of disbelief‘.11 Dass wir der Wahrscheinlichkeit des Ereigniseintrittes p einen Rest an Nichteintrittserwartung notwendig zufügen müssen (1 − p), macht das Risiko aus. Die Risikoentscheidung ist notorisch eine Entscheidung im Feld von erwarteten Ereignissen; man entscheidet sich für p und für 1 − p zugleich (z. B. 80 %:20 %). Wir entscheiden uns aber in der Hoffnung, dass p dominiert. Allerdings gibt es keine Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wahrscheinlichkeitsverteilung: wir wissen nicht, ob im erwarteten Ereigniszeitpunkt p oder eher 1 − p gelten wird. p wird zwar als ‚häufiger‘ imaginiert, aber ‚Häufigkeit‘ enthält keine Angabe darüber, wann etwas eintritt. Wir ‚glauben‘, dass p eintreten wird (und imaginieren, dass 1 − p ‚selten‘ eintreten wird. ‚Selten‘ heißt aber
11„A
main function of thought is to ‚fix a belief‘ and to ‚settle an opinion‘ about the consequences of our actions because we cannot act in a state of doubt about this anticipated result. … In pragmatist terms, the knowledge of this reality in process arises from the method of ‚inquiry‘ that rests on creative hypotheses and experiences. … this inquiry is oriented by the search for stable beliefs out of a state of doubt“. (Dutraive 2012, S. 101 ff.).
Erwarten, Vorstellen, Entscheiden
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nicht notwendig ‚später‘12).13 Nur deswegen wagen wir die Entscheidung unter Risiko: statt zu wissen oder nur zu glauben, ‚glauben wir zu wissen‘.14 Dabei ist aber eines hochbedeutsam: wir müssen die Wahrscheinlichkeit selber entscheiden. Sie ist nicht – wie in den Modellen der Ökonomik – gegeben. Wenn aber die Wahrscheinlichkeit, die wir in der Erwartung künftigen Ereignisauftritten zuschreiben, nicht – irgendwie – objektiv gegeben ist, sondern aus unserer Zuschreibung entsteht, ist die Analogie zur normalen rational choice (aus gegebenen Alternativen die beste zu wählen) riskant, weil wir das Objekt, das wir hier so bestimmt einführen, verfehlen können, indem wir die künftigen Konstellationen, in denen die Ereignisse generiert werden, nicht kennen oder falsch einschätzen (die künftigen Märkte). Dann aber haben wir es nicht mit einer rational choice im klassischen Sinne zu tun – die Analogie stimmt dann nicht
12Dass
wir 1 − p als den ‚selteneren‘ Ereigniseintritt wichten, hängt an der spezifischen Asymmetrie zwischen p und 1 − p. Bei einer 50:50-Relation können wir das nicht mehr behaupten. Aber bei 60:40 z. B. meinen wir bereits, dass p ‚häufiger‘ eintreten wird als 1 − p. Das mag für ‚große Ereigniszahlen‘ gelten, aber wir berechnen gerade immer nur eine einzige bzw. singuläre Situation. ‚Singulär‘ heißt hier: einzig und erstmalig in dieser Konstellation auftretend. ‚Erstmalig‘ heißt hier: neu, und ohne Erfahrung. Nur über die – ungeprüfte und im Marktalltag unprüfbare – Analogie, dass immer Ereignisse aufgetreten waren, schließen wir unbillig darauf, das es immer neue Ereignisse gegeben hat, die aus der Analogperspektive als Serie von Ereignissen erscheinen, so dass wir uns angewöhnen, das singulär Neue imaginär in einer solchen Reihe zu sehen und als im Prinzip bekannt bzw. erkennbar zu halten. 13Dabei weiß man nicht, wann der 20 %-Fall des Nichteintritts eintreten wird. Eine Aussage darüber, wann die 80 % oder die 20 % eintreten, ist nicht möglich. Es wäre eine Wahrscheinlichkeit über den Eintritt der angenommenen Eintrittswahrscheinlichkeit nötig, z. B. dass mit 50 % die Wahrscheinlichkeit von 80 % einträte (Sedlacek 2013, S. 61). Wenn es keine „Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit“ (Sedlacek 2013, S. 60) gibt, gibt es keine Basis der Geltung der 80 %-p-Einschätzung – außer Intuition (Vgl. auch Priddat 2016a). 14Wittgenstein (1970, S. 12); Vgl. auch Priddat (2015c). Wir können zwar eine Erwartung haben, aber nicht den Zeitpunkt wissen, wann sie eintreten könnte. Der Zeitpunkt wird bedeutsam, wenn die Konstellationen, in denen zukünftig sich etwas ereignet, sich laufend ändern. Denn wir erwarten Ereignisse innerhalb gewisser Konstellationen (die wir – notwendig, gerade wenn wir das nicht reflektieren – mit erwarten). Ändern sie sich aber, z. B. in dynamischen Märkten, kann die Erwartung, die wir (implizite) für eine Konstellation 1 tätigen, in einer geänderten Konstellation 2 nicht mehr gelten. Die Erwartung, die wir zum Objekt unserer Entscheidung machen, wird mit einer Konstellationen-Objektivierung gekoppelt, die entscheidungstheoretisch wie – praktisch nicht reflektiert wird. Der Übergang von Markt 1 in Markt 2 ist kein Phasenübergang in der gleichen Raumzeit, sondern ein Übergang in einen anderen Raum.
258
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mehr –, sondern mit einer hypothetischen Wahl, die fiktionale Züge trägt. Da wir die möglichen Ereignisse nicht kennen, legen wir uns auf die erwarteten fest. Die ‚Gegebenheit‘ der erwarteten Ereignisse ist eine Projektion: ein Entwurf von possible worlds bzw. eine Vorstellung möglicher Realien (vgl. Iser 1991). Wir entscheiden nicht, was sich ereignen wird, sondern was wir uns vorstellen, was sich ereignen wird. Dadurch werden wir allerdings erst entscheidungsfähig: wäre die Wahrscheinlichkeit des Eintritts oder Nichteintritts 50:50, wäre es zufällig, was je eintritt. Die geschätzte Asymmetrie von p > 1 − p (z. B. 80 %:20 %) ermutigt uns zu einem Urteil auf positiven Ausgang. Aber das Risiko bleibt, selbst wenn es nur 10 % oder 1 % des Nichteintritts wäre. Im Alltag – auch im ökonomischen Alltag – beruht alles auf subjektiven Häufigkeits-Schätzungen, d. h. auf gefühlter vergangener Erfahrungen als Übertragung auf die gegenwärtig zu entscheidende Zukunft. Oder auf unabhängigen Neueinschätzungen (Singularitäten). Genauer gesagt simulieren wir nur Häufigkeiten; für die meisten Entscheidungen haben wir gar keine Statistik langer Zeitreihen in die Vergangenheit zur Verfügung, um Häufigkeitsmuster zu ermessen. Wir meinen, uns auf Erfahrungen zu beziehen, aber es sind keine konkreten Häufigkeitserinnerungen, sondern eher M eta-Erfahrungen: dass wir meinen, immer wieder, d. h. irgendwie häufig, positive Ergebnisse unserer vergangenen Entscheidungen zu erinnern. „Menschen glauben oft den Vorhersagen, die zu dem passen, was sie gerade erlebt haben. Außerdem suchen sie in Analysen und Vorhersagen meist nach Bestätigungen für ihre Überzeugungen und nicht nach Fakten, die ihre Sicht widerlegen könnten“. (Hens 2013) „Nichts ist so unvorhersehbar wie die Vergangenheit“ (Groebner 2015, S. 65 ff.).
Dass die Erinnerung täuscht, können wir wissen. Sie enttäuscht aber nicht völlig. Wir erinnern eher gute als schlechte Erfahrungen (gerade traumatische bleiben unbewusst). Erfahrung bezieht sich selten auf Fakten (Shaw 2016), als auf gewünschte Erinnerungen (Steffens und Mecklenbräuker 2007). Bei Entscheidungen erinnern wir uns ja nicht zuerst, was je geschehen war, sondern wollen eine bestimmte Möglichkeit realisiert sehen, die uns anleitet, die Erfahrung daraufhin zu beleuchten, unser Ansinnen zu unterstützen und zu verstärken. „Im Grunde erwarten wir nur, was wir bereits verklärten“ (Strauss 2013, S. 83). Die Vergangenheit ist interpretierbar. Das, was wir aus der Erinnerung ausblenden, könnten wir wissen, verwenden es aber nicht. Oft aber ist das Negative längst verdrängt. In diesem Sinne besteht unsere Erfahrung aus einem changierenden Wissen/Nichtwissen-Konglomerat, dessen wir uns
Erwarten, Vorstellen, Entscheiden
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erwartungs-verstärkend bedienen. Das anteilige Nichtwissen, die Ignoranz oder Verdrängung des Negativen, ist somit konstitutiv für die Nomination von Erwartungen, indem wir bevorzugt positive Erinnerungen verwerten. Das hier zum Einsatz kommende Nichtwissen arbeitet – oft – mit der Ausblendung/ Ignoranz negativer Erfahrungen. Indem wir die positiven Erinnerungen bevorzugen, stützen wir die Entscheidbarkeit bezüglich prospektiver Entscheidungen – ein selektiver positiver feed-back- oder Verstärkerzyklus. Damit gelingt es uns, die Entscheidung zu entscheiden, aber wir gewinnen wenig bezüglich der Verwirklichung dessen, was wir entschieden haben. Wir haben nur sehr allgemein die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass ein Ereignis eintreten kann: indem wir etwas entschieden haben. Aber wir haben immerhin etwas anderes erreicht: dass wir uns zu entscheiden wagen, indem wir uns plausibel machen, wie wir die Lage subjektiv einschätzen (meist unter Beobachtung anderer Entscheidungen bzw. von Entscheidungen Anderer. Oder mithilfe von ‚Berechnungen‘). Wir haben uns eine kohärente Geschichte bereitlegen können, die uns überredet, die Entscheidung zu wagen, obwohl wir nichts oder wenig ‚wissen‘ (Priddat 2015c, 2016c). Doch muss man Folgendem gewahr bleiben: ein Ereignis kann auch eintreten, wenn wir nichts entschieden hätten. Es tritt immer alles Mögliche ein, aber erst dadurch, dass wir uns für etwas entschieden haben, d. h. uns auf etwas fokussiert haben, wird es beobachtungsrelevant. Durch die Entscheidung tritt es für uns ein (oder gegen uns, wenn es nicht oder ganz anders eintritt). Indem wir eine Möglichkeit vor anderen durch unsere Entscheidung nominiert haben, haben wir alle Aufmerksamkeit auf das erwartete Ereignis fokussiert: • Der Ereigniseintritt hat für uns hohe Relevanz, weil wir auf ihn hin entschieden haben. Aber wir entscheiden nicht, ob – und wann – das Ereignis eintritt. • Ob das Ereignis (später) eintritt bzw. in welcher Höhe, hängt letztlich von der – zwischenkünftigen15 – Konstellation vieler Entscheidungen in dem System ab, in dem wir uns bewegen. Aber nur partiell von unserer Entscheidung.
15‚Zwischenkünftig‘
heißt: alle Zustände, die die Märkte zwischen der ersten Entscheidung (Kauf) und der zweiten, dem Verkauf, durchlaufen, bilden jeweils verschiedene Zukünfte relativ zum Erwartungsentscheidungszeitpunkt, die alle mögliche ‚Realisierungen‘ bedeuten könnten. Diese Zustände ändern sich relativ zum Erwartungsentscheidungszeitpunkt; jede Zustandsänderung könnte eine Revision bedeuten. Die erste Entscheidung kann nicht aufgehoben, aber die zweite kann angepasst werden. Genauer betrachtet haben wir es mit (vielen) unabhängigen neuen Entscheidungen zu tun. Da wir aber mental auf unsere Erwartung ausgerichtet bleiben, irren wir, wenn wir darauf verharren.
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B. P. Priddat
• Unsere Entscheidung wird zum Maßstab, mit dem wir die Devianz des tatsächlichen Ereigniseintritts ermessen. In der Entscheidung fokussieren wir uns lediglich auf eine Möglichkeit, weil wir meinen, Gründe, Motive, Anreize, Informationen, Emotionen etc. zu haben, das bevorzugt tun zu sollen (und zu können). Wir entwerfen darin den Fokus unserer Wahrnehmung (und selegieren andere Wahrnehmungen aus), als ein uns plausibel bzw. kohärent erscheinendes Entscheidungsnarrativ (vgl. genauer Priddat 2016a; auch Seewald 2016). Doch wenn nicht eintritt, was wir für wahrscheinlich eintretend entschieden hatten, tritt deswegen nicht nichts ein. Nur das, was wir erwartet hatten, tritt nicht ein, aber etwas Anderes. In der Wahrscheinlichkeitslogik ist 1 − p nur eine Leerstelle für den Nichteintritt dessen, was wir erwartet hatten. Was dann anders eintritt, ist es – nach unserer subjektiven Meinung – schlechter oder besser als erwartet. Wenn wir nur 1 − p erwarten würden, würden wir uns für die Option gar nicht erst entscheiden. Wenn wir uns allerdings entscheiden, bleibt 1 − p als Risiko unvermeidlich bestehen. Aber wir verhalten uns so, als ob wir völlig überrascht sind, dass etwas Anderes als erwartet eintritt (‚potential surprise‘, Shackle 1992; Pelzer 2012). Dabei hat sich der Erwartungshorizont auf den Eintritt von p verengt und 1 − p wird ignoriert. Durch die Entscheidung dimensionieren wir den Eintrittsraum enger. Wir reden dann in Wahrscheinlichkeitssemantik, nehmen sie aber nicht in ihrer ganzen Konsequenz für wahr (Vergleich die Forschung zu den biases und Wahrscheinlichkeitsfehleinschätzungen, Kahnemann 2012; Hens 2012). Obwohl wir haben wissen können, dass das mit p erwartete Ereignis mit 1 − p nicht eintreten kann, sind wir auf den p-Eintritt fixiert und von 1 − p-Ereignissen überrascht.16 Man sieht leicht, wie wir selbst das, was wir wissen können, nicht wissen müssen. Dirk Baecker spricht von der ‚Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Ereignisse‘. Man kann wissen, dass sie auftreten, weiß aber nicht, wann und wie, in welcher Extension (Baecker 2012). So ist Shackles’ ‚potential surprise‘ zu verstehen (Shackle 1992). Wir müssen den Nichteintritt ebenso erwarten wie den Eintritt. Da hilft uns die Häufigkeitsbetonung von p nichts, weil wir nicht wissen, ob sie den erwarteten
16„Wo
es keine guten, gar sicheren Gründe gibt, werden sie fingiert. Wo wir es nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben, greift Platz, was Luhmann ‚die Selbstverstärkung des Wahrscheinlichen‘ genannt hat. Wenig Wahrscheinliches wird behandelt, als ob es wahrscheinlich, einigermaßen Wahrscheinliches, als ob es sicher wäre“ (Ortmann 2011, S. 63).
Erwarten, Vorstellen, Entscheiden
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Eintritt zeitlich dominiert.17 Denn der in einer Wahrscheinlichkeitsaussage mitentschiedene 1 − p-Ereigniseintritt besagt nicht, dass der Nichteintritt von p ‚irgendwann einmal‘ stattfindet. Er kann unmittelbar eintreten. Wir haben mit einer unbestimmten Zeitlichkeit zu tun, die wir nicht bestimmen können (etwa als ‚irgendwann‘ im Sinne von ‚sehr viel später‘). Dass das Erwartete (möglicherweise) nicht eintritt, gehört systematisch zur Erwartung selber.18 Was wir nicht wissen noch erwarten können ist das, was dann Anderes eintritt. Und wann. Der Nichteintritt gehört in den Erwartungsraum, das Unerwartete hingegen nicht. Das Unerwartete ist das Andere, das stattdessen eintritt. Es befindet sich, wenn man die Raummetapher verwenden will, in einem anderen Raum. Wir haben es mit einer triangulären Figur zu tun: – p (Eintreten des wahrscheinlichen Ereignisses) – (1 − p) (Nichteintreten des wahrscheinlichen Ereignisses) – Eintreten eines unerwarteten anderen Ereignisses. Ereignisse, die man nicht wissen kann, sind im strengen Sinne nicht-möglich bzw. unmöglich (vgl. Pelzer 2012). Das heißt erst einmal nur: wir haben sie uns nicht als möglich vorgestellt. Denn wenn wir das Mögliche als etwas bezeichnen, das wir uns zumindest (intelligibel) vorstellen können, ist das, was wir uns nicht einmal vorstellen können, nicht möglich. Es wäre unsinnig, das, was wir uns überhaupt nicht als möglich vorstellen können, irgendwie doch als möglich zu bezeichnen. Unser Unterscheidungsspektrum muss erweitert werden: wirklich – wahrscheinlich (möglich 1) – möglich 2 – unmöglich
Das Unmögliche ist keine Hypernegation, sondern das, was man nicht erwarten kann, darin aber positiv: das unerwartete Andere. Wenn das Unerwartete immediamente eintritt und damit wirklich ist, ist es unmöglich, aber real.19 Da es nicht als zu realisieren möglich je vorgestellt, d. h. niemals als wahrscheinlich betrachtet wurde, können wir das so hereingebrochene Reale als ‚unwahrscheinlich‘ bezeichnen (es ist genau die Differenz, die Frank Knight
17Wenn
wir viele – sehr, sehr viele – Versuche hätten, könnte die erwartete Dominanz von p auftreten. Aber wir haben immer nur eine Entscheidung. Es kommt entscheidend darauf an, was jetzt – oder demnächst – passiert. D. h. auf den Zeitpunkt. 18p ist die Erwartungsposition, 1 − p die Erwartungsnegation. Beides zusammen nennen wir ‚Erwartung‘, vergessen aber, dass wir damit zugleich erwarten müssen, dass das, was wir erwarten, nicht eintreten kann. Wir interpretieren die Asymmetrie gegebenenfalls zu positiv. 19„Das Unmögliche ist leichter als das Schwierige, denn an das Unmögliche sind keine Erwartungen geknüpft“. (Barenboim 2014).
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zwischen Unsicherheit (Risiko) und Ungewissheit setzte). Es verbleibt hinter einem Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance): als etwas Unvorhersehbares oder Unerwartbares. Es ist aus der Sicht der Entscheidung im Erwartungshorizont nicht existent, weil nicht einmal geahnt. Es ist zudem eine absolute Singularität, in ihrer jeweiligen Konstellation erfahrungslos.20 Wir haben plötzlich eine Realität – das jäh verwirklichte Unerwartete, die wir weder für wahrscheinlich noch für möglich hielten. Nennen wir sie eine ‚unmögliche Realität‘, weil sie nicht durch den Möglichkeitskorridor gekommen ist, sondern jäh anders plötzlich da ist. „Im Allgemeinen versuche ich zwischen dem zu unterscheiden, was man Zukunft nennt (future), und einem ‚Kommen‘ (l’avenir). Die Zukunft ist das, was – morgen, später, nächstes Jahrhundert – sein wird. Es gibt eine Zukunft, die prognostizierbar, programmiert, geplant, vorhersagbar ist. Aber da ist noch eine Zukunft (l’avenir, to come), die sich auf etwas bezieht, dessen Ankommen völlig unerwartet ist. Für mich ist das die wirkliche Zukunft. Sie ist etwas völlig Unvorhersehbares. Es ist das Andere, das kommt, ohne für mich antizipierbar zu sein. So gibt es eine wirkliche Zukunft über die ansonsten bekannte Zukunft hinaus: sie ist ein Kommen (avenir), d.h. ein Kommen des Anderen, dessen Ankommen mir vollständig unvorhersehbar ist“.21
20Reden
wir allerdings vom ‚Schleier des Nichtwissens‘, reden wir so, als ob wir den Schleier als einen Horizont kennten, hinter dem etwas liegt, was wir noch nicht wissen. D. h. wir verorten es wieder in unserer raumzeitlichen Geometrie als Ort möglichen Wissens, das nur aktuell nicht zur Verfügung steht. Wir reden bereits in – topologisch zugeschnittenen – Verfügbarkeitskategorien. Dabei wissen wir nichts, nicht einmal, was hier ein ‚Schleier‘ sein soll. Wir meinen nur, dass etwas kommen kann, was wir nicht wissen. Indem wir uns aber auf das Wissen-Können fokussieren, achten wir nicht auf das Wesentlichere: das nicht Gewusste. Kommen-Können von etwas. Wir neigen dazu, das, was kommt, als bestimmter zu sehen als es uns eigentlich möglich ist. 21Derrida (2002) (übersetzt von B.P.). Waldenfeld übersetzt das Derrida’sche ‚l’avenier‘ als ‚Ankunft‘ „Das Wort ‚Ankunft‘, das dem französischen avenir oder avenèment nachgebildet ist, scheint uns in diesem Zusammenhang prägnanter als das Wort ‚Zukunft‘. Was das Unerwartete angeht, so müssen wir unterscheiden zwischen einem Erwarten von etwas und einem Warten auf …, das kein Bezugsobjekt hat, sondern einen mehr oder minder unbestimmten Attraktor“ (Waldenfels 2006, S. 332, Fn. 17). Die Zukunft, die wir hier Ankunft nennen, erweist sich darin, dass sie ‚unsere eigenen Möglichkeiten überschreitet’. „Dem ersten Futur, mit dem wir uns selbst vorweg sind, unterschiebt sich ein zweites Futur, mit dem Andere unserer Initiative zuvorkommen. Die Zeit des Anderen erzeugt eine andere Zeit“ (Waldenfels 2006, S. 332, für das ‚zweite Futur‘ mit Verweis auf Levinas 2003, Lacan 1973, S. 143/I und den späten Merleau-Ponty 1986, S. 244). Das, was wir von der Zukunft erwarten, uns vorweg, hat eine horizontale Struktur. Wir stellen uns jetzt vor, was später kommen wird (future). Die Ankunft (avenir) dagegen ist einen unmittelbare Zukunft: eine schlagartige Gegenwart, als ob sie keine Zukunft (future) gehabt hätte (vgl. Derrida 2003).
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Das überraschend unerwartet Ankommende (avenir) fällt jäh ein: von oben. Jedenfalls in unserem zeitgeometrischen Bild (würden wir das Bild nicht verwenden, würde es ausreichen zu sagen, dass das unerwartet Ankommende eine plötzliche Gegenwart wäre). Wir haben es, um im Bild zu bleiben, mit einer vertikalen Struktur des Zeiteinbruchs zu tun. Das sind metaphorische Aussagen. Dass wir das Wahrscheinliche und das Mögliche räumlich, gleichsam geometrisch einordnen, beruht auf der Analogie des Nacheinander in der Zeit.22 Folglich kann das, was jäh und immediamente eintritt, nicht als ‚später‘/zukünftig eingeordnet werden, sondern als eine Wandlung des Jetzt. D. h. das, was wir gemeinhin später erwarten, tritt jetzt ein, als ‚eine andere Zeit‘ bzw. als etwas, das die Gegenwart so verwandelt, als befänden wir uns unmittelbar in einer anderen als der erwarteten Zukunft. Das unerwartet in die Gegenwart Einbrechende erscheint als aus einer anderen Zeit, weil wir Wandlung gemeinhin als etwas ansehen, das sich in der Zeit vollzieht. Man kann das weiterhin so behaupten, aber im jäh Unmittelbaren springt zugleich eine andere Zeit ein. Wandelt sich etwas unmittelbar, erscheint es so, als ob sich eine Zukunft in die Gegenwart einlagert. Die Gegenwart, in der das überraschend Ankommende einbricht, wird dadurch zu einer anderen. Damit ändert es die lineare Zeit; das Unerwartete ist die Präsenz einer anderen Zeit: unmittelbar veränderte Gegenwart – die zudem das, was wir erwarten, ändert, und uns selber, indem wir uns im Erwartungsraum neu positionieren müssen. „Aus der Sicht der Handelnden betrachtet stellt sich die Zukunft als ein Feld von Erwartungen und Entwürfen dar, doch diese Sichtweise greift zu kurz. Es gibt Ankünfte, die im strengen Sinne unerwartbar sind, da sie unsere eigenen Möglichkeiten überschreiten.“ (Waldenfels 2006, S. 332)
Nicht nur die jeweilige Gegenwart und ihre Objekte ändern sich, sondern auch wir uns selber. Die neu konstellierte Situation: alte Erwartung/neue Realität erweitert sich zu einer triadischen Relation, in der das Subjekt der Entscheidung sich neu positionieren muss, d. h. sich selber ändern: sich der neuen Realität stellen. Die alte Subjekt/Raum-Relation wandelt sich in eine andere, indem sich nicht nur der ‚Raum austauscht‘, sondern das Subjekt reflektieren muss, warum es den ersten Raum bevorzugte (welches Welt-Verhältnis durch es konstituiert
22Und
auf der Vorstellung, das Zukünftige ‚vor Augen‘ zu haben. Was unmittelbar kommt, sehen wir nicht. Das erwartete Zukünftige verwandelt sich in eine unmögliche Gegenwart. Das damit einhergehende ‚Plötzliche‘ ist eine eigene Zeit: eine Zeit unmittelbarer Transformation und Wandlung (kairos).
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wurde. Und warum dieses?). Aus der Beobachterposition gerät das Subjekt in eine Reflektion der Welt-Konstitution, das seine Subjekt-Position befragt. Plötzlich stehen wir ohne unsere bisherige Zukunft da. Wir hatten uns im Erwarten auf ein Kommen dessen eingestellt, was wir uns vorstellen: eine Art von Erreichen. Jetzt ist es plötzlich anders: eine andere Zukunft ist eingetroffen, die nicht nur eine unerwartete Gegenwart beschert, sondern auch die Vergangenheit – die damalige Gegenwart, in der wir entschieden hatten, etwas Bestimmtes zu erwarten – revidiert. Die neue Gegenwart ändert die damals erwartete Zukunft, wie auch die Vergangenheit, die sich als irrende Quelle der Erwartung erweist. Das sind dramatische epistemische Ereignisse, kleine R evolutionen/ Um-Drehungen. Wir reagieren nicht so nüchtern, wie wir die Erwartungsentscheidungen fällten: wir sind getroffen, verlustergriffen, einschätzungsverunsichert.23 Es ist erstaunlich, dass die Entscheidungstheorien das nicht verarbeiten: der Verlust verschwindet in den Theorien. Jeder Verlust wird euphoro-methodisch ‚umgedreht‘, als Chance interpretiert, es das nächste Mal besser zu machen (Lernen). Aber damit wird das kleine epistemische Drama übergangen bzw. verdeckt (das existentielle sowieso). Die Redeweise vom ‚kleinen Drama‘ umfasst auch Verluste, die für den Anleger nicht unbedingt dramatisch sein müssen (die großen sind es natürlich, existentiell). Es geht um das epistemische Drama, d. h. um das allemal mögliche Verfehlen dessen, was man in seinen Entscheidungen antizipiert.24 Nur selten trifft man genau, was man erwartet. Meistens sind die Ergebnisse kleiner, manchmal größer. Alles aber, was die Erwartungen nicht genau trifft, ist – streng gesehen – ungenau: eine economy of guess. Der Anspruch der Ökonomie, eine exakte Wissenschaft zu sein, zerrinnt im futurischen Geschäft. Wir gehen mit einem Erwartungsüberschuss ins futurische Geschäft.25 Um zu gewinnen, muss man immer wieder neu investieren, immer wieder die gleiche
23Was hierbei erlitten wird, ist nicht marginal, sondern bestimmt u. U. das Herangehen an nächste Entscheidungen. 24Z. B. realisiert man gewisse Gewinne, aber die Transaktionskosten der Umschichtungen, um das je zu erreichen (Gebühren der Banken), fressen die Gewinne auf. 25Dass man sich auf einen Erwartungswert festlegt, ist der sichernde Teil der Operation; sublim erwartet man ‚mehr als man erwartet‘. Es ist wegen dieser sublimen Dimension immer zugleich ein Glücks-Spiel, auch wenn man berechnend meint nur eine spezifische Erwartung erfüllt bekommen zu wollen. Die sublime Übererwartung steht asymmetrisch zur nicht erwarteten Nicht- oder Untererfüllung der Erwartung.
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Prozedur tätigen, obwohl wir unsere Enttäuschungserfahrungen haben. Next time different.26 Es ist eines der großen Versprechen der Ökonomie, in der Finanzökonomie insbesondere: die Prokrastination des Gewinns. Was einer jetzt verliert, kann er, so das Versprechen, im nächsten Akt gewinnen. Er muss nur die gleiche Prozedur wiederholen, d. h. er darf nicht darauf reflektieren, nicht zu investieren. Dann bräche die Kette ab und die Verluste, die zwischendurch aufgefahren wurden, werden reelle Verluste. Solange man aber glaubt, über nächste Anlagen/ Investitionen wieder zu gewinnen (und letztlich mehr, als man bisher verlor), wird die ‚zeitliche differance‘ ‚unendlich‘ bewegt. Und da es viele gibt, die gewinnen, werden die, die verlieren (und nicht zugewinnen), ins Sublunare der Ökonomie entlassen. Sie fallen schlicht aus dem Markt heraus und damit aus der ökonomischen Perspektive. Die ‚unendliche Prokrastination‘, die wir hier anführen, ist ein Meta-Narrativ der Ökonomie, das die, die nicht weiter mitspielen können, nicht nur ausblendet, sondern denen, die weiter mitspielen, suggeriert, dass es sich lohne, um im Spiel zu bleiben, Kredit aufzunehmen, um investitionsfähig zu bleiben. Das jedenfalls ist das neue Narrativ der Finanzökonomie.27
26Der
Titel des Buches von Rogoff und Reinhardt (2011) über die Finanzkrisen der letzten 600 Jahre; man kann die Muster erkennen, die Blasen und Krisen generieren, aber ignoriert sie – jedes Mal wieder – im neuen Kontext: next time different. ‚Diesmal aber gewinnen wir‘. Daran ist systematisch wahr, dass es jedesmal andere (Markt-)Kontexte sind, aber falsch, dass man sie erkennen könne, ihre Verkäufe und vor allem ihre Abbruchpunkte. Was Robert Shiller als ‚irrationalen Überschwang‘ (irrational excuberance Shiller 2005) bezeichnet, ist eine verhaltensökonomische Erklärung, die im Kern aber noch die mögliche Rationalität bewahrt, von der die Akteure aus – psychologischen – Gründen lediglich abweichen. Roman Frydman hält diese Erklärung Shillers, die im Kontrast steht zur der von Eugen Fama analysierten market efficiency (Fama 2013; auch Priddat und Haas 2016) – beide haben zugleich sich den Nobelpreis teilen müssen – für zwei Seiten desselben Rationalitätskonzeptes. Shillers Erklärung sei irrig, da unvorhergesehene Ereignisse nicht einrechnen zu können die Essenz der Finanzmärkte sei, also weder mit Rationalität noch deren Abweichung erklärbar. (Frydman 2015). 27Auf den Finanzmärkten (ausgestattet mit den neuen Mitteln strukturierter Finanzinstrumente, vor allem dem Schwindel erregenden und geheimnisvollen Derivatenhandel im OTC-Bereich) geht es in erster Linie um die Zeitverwaltung – in Form des Risikos, seines An- und Verkaufs, sowie des Spiels von Einflüssen und Verweisungen darauf, wie die Gegenwart die Zukunft sieht und wie die Zukunft sich dann tatsächlich verwirklicht. Was auf den Finanzmärkten verkauft wird, ist die Möglichkeit, Bindungen über die Zeit zu schaffen, sie miteinander zu kombinieren und Profitgelegenheiten zu gewinnen, die oft auf dem gegenwärtigen Gebrauch der Zukunft beruhen – auch und gerade, wenn die Zukunft unbekannt bleibt (Hutter 2010). Man handelt Fristen und Erwartungen.
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3 Entscheidbarkeit Bezüglich des epistemologischen Teils irrt sich die Ökonomik, bezüglich des pragmatischen hat sie Recht: nur wenn wir annehmen, dass das, was wir erwarten, auch mit ‚gewisser Gewissheit‘ eintritt, lohnt es sich zu entscheiden. Diese pragmatische Annahme unterscheidet sich aber von der epistemologischen, die die Ökonomik irrtümlich unterstellt; wir ‚wissen‘ nur, dass wir, um entscheiden und handeln zu können, Annahmen machen, d. h. einen orientierenden Entwurf setzen bzw. uns eine Vorstellung machen müssen, um überhaupt Erwartungen zu etablieren (zur Simulation, Imagination, Fiktion) (vgl. Loprieno 2011; Kleeberg 2009; Beckert 2011; Künzel 2014). Die (bayesianische) Rationalität ist eine Theorie imaginatorischer Pragmatik (homo imaginabilis) (Rescher 1998; vgl. Priddat 2016a).
Dazu werden komplexe Modelle zum Risikokalkül (ausgehend vom Harry Markowitzs CAPM), Verfahren zur Schätzung der Preise von Optionen und der Volatilität (BlackScholes), und insgesamt eine Reihe von Methoden verwendet, die es erlauben, die Risikoverteilung auf den Märkten zu kontrollieren und zu verwalten (oder genauer: zu kontrollieren und verwalten zu versprechen). Aber gerade auf der Ebene der Verwaltung der Zukunft ist Information immer unvollständig und diese Modelle haben sich als mangelhaft erwiesen. (Mandelbrot und Hudson 2004; Esposito 2011; Minsky 2011; Priddat und Haas 2016; Kullack-Ublick 2013; Svetlova und van Elst 2013; Riedel 2013) Die Finanzwirtschaft hat ihr Prinzip, mit nur erst versprochenen oder erwarteten Erträgen, Wertentwicklungen und Finanzierungslücken zu handeln, also mit ‚dem Morgen ihr Geschäft zu machen‘, nunmehr so weit vorangetrieben, das sich die Ungewissheit dieser Zukunft potenziert hat. Und zwar dadurch, dass diese Ungewissheit zunehmend in die Gegenwart zurückwirkt und sogar deren Verlauf bestimme. Die Zukunft, in der jede Spekulation zu Hause sein muss, ist, nachdem sie sich lange immer weiter in die Zukunft ausgedehnt hatte, in der Zeit zurückgewandert und hat die Gegenwart unterhöhlt. Dass man nicht weiß und nicht wissen kann, welchen Wert eine Sache oder eine Handlung in Zukunft haben wird – dieses Risiko ist zur Ungewissheit darüber geworden, welchen Wert eine Sache oder Handlung in der Gegenwart besitzt. Die Finanzmarktakteure versuchen, eine kontingente Zukunft danach zu bewerten, wie der Markt selbst sie gegenwärtig bewertet. (Langenohl und Schmidt-Beck 2007b, Riedel 2013) Der Markt funktioniert als ein System von Antizipationen, die das ökonomische Verhalten auf das Erraten dessen verpflichtet, was der Markt von der Zukunft denken mag. Dies macht scheinbar verlässliche Größen wie Angebot und Nachfrage nicht nur unkenntlich, sondern unerkennbar. (Vgl. Vogl 2010, S.).
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Erst post hoc stellt sich somit heraus, ob eine Entscheidung ‚rational‘ war, d. h. ob sie die beste Option gewählt hatte.28 Wir bezeichnen sie gewohnheitsgemäß nur deshalb weiterhin als ‚rational‘, weil wir nur so mit einer relativen Gewissheit überhaupt uns zu entscheiden wagen. Die Fiktion, die wir über das künftige Ergebnis hegen, ist notwendig, um nicht in Skepsis entscheidungsarm zu bleiben. Zudem haben wir die Erfahrung, dass viele Entscheidungen im futurischen Geschäft round about and so far zutreffen. Wir wissen aber weder in welchem Maße noch ob überhaupt bzw. wann.29 Die Wahrscheinlichkeit, die wir zuordnen, ist keine Aussage über die Realität, sondern über unsere – vage – Vermutung, die wir aber als feste Vorstellung behandeln. Vermutungen sind Methoden des Fürwahrhaltens, ohne Wissen, aber uns entscheidenden Mut machend zur Entscheidbarkeit. Die einzelnen Wahrscheinlichkeiten sind empfundene subjektive Estimationen/Vorstellungen. Als Vorstellungen versetzen sie uns in Entscheidungsstimmung (wie wir inzwischen aus der neuroeconomics wissen, sind alle kognitiven Aktionen notwendig mit emotionalen gekoppelt30. Es ist – in einem strengen Sinne – eine economy of
28Auch
das ist zweifelhaft. Um wissen zu können, was die beste Entscheidung war, müssten wir retrospektiv ausweisen können, alle Alternativen gekannt zu haben. Das ist für futurische Entscheidungen unmöglich. Denn wir wissen nicht, was möglich gewesen wäre (wie sollen wir nachher wissen, was vorher möglich gewesen wäre? Die Entscheidungssituation und ihre Konstellationen ist vergangen und post hoc auch nicht gänzlich auslotbar. Zumal es einen, das kommt hinzu, nicht mehr wirklich interessiert). 29Bzw., wie Barton Lipman darlegt, vague: „Vagueness requires a different way of thinking about and what it is. In most models of bounded or unbounded rationality, information takes the form of an event in some state space. That is, when an agent receives information, what he learns is always modeled as the fact that the state of the world lies in some set. The learning may be incomplete and even systematically flawed, but the ultimate conclusion takes this form. In this sense, what is learned is precise. I don’t know how we can mathematically represent vague knowledge, but I believe this is what is called for. …,. I think that a natural intuition is that vagueness is easier than precision, for the speaker, listener, or both. For the speaker, deciding which precise term to use may be harder than being vague. For the listener, information which is too specific may require more effort to analyze. With vague language, perhaps on can communicate the ‚big picture‘ more easily. This requires a different model of information processing than I know any“ (Lipman 2006, S. 11). „In short, it is not that people have a precise view of the world but communicate it vaguely; instead they have a vague view of the world. I know of no model which formalizes this. I think this is the real challenge …“ (Lipman 2006, S. 12). 30Singer und Fehr (2005); Kabalak und Priddat (2010); Vgl. auch Hens (2012).
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guess.31 Vermutungskonsistenz, plausible stories, Fiktionen und Imaginationen, allgemein gültige Narrative, manifeste Zeit-Bilder etc. sind die relevanten Operatoren für jede in die Zukunft sich ausrichtende Ökonomie. Womöglich ist das, was wir beim Entscheiden als ‚rational‘ bezeichnen, eine – kognitiv überbewertete – aber notwendige Gestimmtheit, eine Entscheidung zu wagen (die wesentlich auf einer Unterscheidung zwischen dem, was wir als erwartbar-realisierbar ansehen und allen anderen Möglichkeiten, die wie mit dieser entscheidenden Unterscheidung ausschließen). Wenn das Wagen einer Entscheidung der Kern des Rationalen ist, dann aber ist das, was wir erwarten, weniger bedeutsam als die Tatsache, dass wir etwas ‚zu erwarten‘ entscheiden. Die Bestimmtheit des zu Erwartenden ist dann ein Ergebnis dieser rationalen Form, mit der wir uns einer Entscheidbarkeit versichern. ‚Rational‘ handeln hieße dann, sich zu entscheiden wagen, d. h. sich in eine Gestimmtheit zu bringen, bestimmte Erwartungen zu setzen, die uns das, was wir damit wagen, über eine entworfene Gewissheit zutrauen lassen. Das würde erklären, warum wir subjektiv das Risiko, das wir ja eindeutig eingehen, ignorieren, indem wir ‚glauben zu wissen‘, dass das eintreten wird, was wir erwarten (bzw. eher als nicht). Die kognitive ‚Gestimmtheit der Rationalität‘ produziert dieses ‚glauben zu wissen‘ (vgl. Priddat 2015c). Das, was das System ‚entscheidet‘, ist nicht notwendig ‚das Beste‘, was die individuellen Entscheider sich vorstellten. Rational action als Wahl der besten Alternative aus den gegebenen ist hier allein schon deshalb problematisch, da man nicht wissen kann, was in Zukunft ‚gegeben‘ sein wird, d. h. was das System als tatsächliches Ergebnis liefern wird.32 Zudem ist die Einschätzung dessen, was kommen kann, nicht rein subjektiv; die Akteure stehen in permanenter Kommunikation mit anderen Akteuren,
31Man
redet bereits von guestimation: Half way between a guess and an estimation. „A guestimate may be a first rough approximation pending a more accurate estimate, or it may be an educated guess at something for which no better information will become available“ (Wikipedia: guestimate 15.11.2015). Es unterscheidet sich wenig von der (Gigerenzer’schen) Intuition. Was ein ‚half way‘ zwischen Vermutung und Einschätzung sein soll, bleibt unklar: ist eine Einschätzung auch nur teilweise vermutend, ist es der ganze Vorgang auch. 32Das, was wir uns post hoc als rational ausmalen (rationalisieren), ist auf eine noch wenig erforschte Weise sentimental, d. h. affektiv, emotional, lust- oder spielbestimmt (Hens 2009, 2012; über Hens: Kremer 2015). „The phrasing of news can influence the perception of investors when making decisions on the stock market. In fact, investors do not rely solely on essential facts when processing the provided information, but are impacted by unconscious and idiosyncratic characteristics in their perception“. (Pröllochs et al. 2015, S. 14).
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mit den Medien, mit der Gesellschaft (Priddat 2015a; Seewald 2016; Priddat und Haas 2016). Vieles, was wir bislang als individuelle Entscheidung unterstellten, ist in praxi an institutionale Settings delegiert: an schwarmartig sich ausbreitenden Kopien der Verhalten anderer (Öynhausen 2015), an heuristische Regeln (Gigerenzer 2007)33, an Konventionen, an Medien, deren Meinungen man übernimmt, weil man beobachtet, dass andere sie ebenso übernehmen, sodass man durch diese Delegation keinen sozialen Statusverlust erleidet (Priddat und Haas 2016). Überhaupt unterschätzt man die laufenden Kommunikationen, die ständig Rückversicherungen über Handlungsoptionen generieren, die man übernehmen kann, ohne sich selber entscheiden zu müssen (low cognition procedures) (vgl. Priddat 2015a). Die Entscheidungen, die im social mood andere Entscheidungen kopieren, sind, in einem strengen Sinne, ‚Schwärmereien‘, deren Sinn darin liegt, Entscheidbarkeit in Ungewissheitssituationen hervorzurufen: Entscheidungsübernahmen statt eigener Entscheidungen. Die (kommunikative) Autonomie des rational actors ist eine methodologische Fiktion.
4 Die eigenen Zeitlichkeiten der Märkte Wir reden die ganze Zeit über von futurischen Entscheidungen, d. h. von Investitions- und/oder Kapitalmarktanlageentscheidungen. Man investiert in t, aber der return on investment kommt in t + n (bzw. der Aktien- oder Derivatengewinn). Die Investition signalisiert, dass der, der investiert, davon ausgeht, dass er gewinnt (sonst täte er es nicht). Dass er aber auch verlieren kann, bleibt im Schatten des notorischen Optimismus, der handlungspragmatisch notwendig ist. Deshalb ist die Ökonomie eine Wissenschaft ‚nüchterner Euphorie‘. Doch bleibt Folgendes zu bedenken. Die Investition geschieht in Markt I. Der Gewinn/Verlust realisiert sich nicht im selben Markt, sondern in Markt II. Warum diese Unterscheidung? Weil ‚später‘ immer bereits andere Marktlagen, -Konstellationen, Umstände, Kontexte etc. gelten. ‚Der Markt‘ ist kein Gelände, das man bei ruhiger Betrachtung in gewissheitsbehaftete Handlungsziele analysieren kann – gleichsam wie in Betrachtung eines großen Tafelbildes. Märkte sind oszillierende Mannigfaltigkeiten von (bilateralen) Transaktionen, die ihre Ergebnisse prozessual herstellen, in ständiger Änderung, Rekonstellation, Valenz etc.
33Gigerenzers
Bauchentscheidungen’ sind eine Theorie des wirksamen Unbewussten. Grundlegend dazu: Gourgé (2001).
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Was man sich in Marktkontext I vorstellt, kann von Markt II ganz anders beantwortet werden. Diese Diskursmetapher ist hier brauchbar: X fragt in Markt I auf Gewinnmöglichkeiten hin; Markt II antwortet, nach seinen Bedingungen, die mit dem, was man sich in Markt I vorgestellt hat, nicht kongruent sein müssen – letztlich nicht kongruent sein können, weil der Markt II in Markt I ‚nicht weiß‘, wie er sich ausprägen wird. Da der Markt aber die Ergebnisse macht, kann einer, der in Markt I eine Entscheidung auf Markt II hin macht, nicht mehr wissen, als der Markt selbst, der sich womöglich gerade im selben Moment ändert. Wenn die Akteure dann noch in der Imagination befangen sind, es wäre derselbe Markt, in den hinein sie entscheiden und aus dem heraus sie gewinnen wollen, unterliegen sie einer Kontinuitätsillusion, die sie nicht kontrollieren können. Die Illusion der Kontrollierbarkeit der futurischen Entscheidungen entsteht aus der zweiten Illusion, Markt I und Markt II wären identisch. Erst das lässt die dritte Illusion zu, dass sich Muster wiederholen. Selbst wenn das so wäre: welche Muster? In welcher Extension, Frequenz etc. Das Bild des Marktes: als sei er ein kontinuierlich zu durchmessender Zeitraum, zerfällt in viele Bilder, die je ihre eigene Zeitlichkeit entfalten können (vgl. Priddat 2017).
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„The promised land“ Das Bild der Zukunft in Keynes’ „Economic Possibilities for our Grandchildren“ Ivo De Gennaro Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert das Szenario, dass Keynes 1930 für die Situation nach 100 Jahren entworfen hat. Keynes entwickelte damals die Vorstellung, im Jahre 20130 müsse das ökonomische Problem der Knappheit gelöst sein. Seine Ansicht beruht auf der Hypothese absoluter Bedürfnisse, die nur operativ bzw. machbar befriedigt werden können. Dies impliziert einen in der ökonomischen Theorie verankerten Machtwillen bzw. einen „Willen zum Willen“ – eine spezifische Form der Einbildung, die „das Ökonomische“ zur „universellen zieldefinierenden Wahrheit der Erde“ gemacht hat. Schlüsselwörter
Keynes · Utopie · Ökonomisches Grundproblem · Knappheit
I. De Gennaro (*) Freie Universität Bozen, Bozen, Italien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_9
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1 Einleitung In seinem Aufsatz „Economic Possibilities for our Grandchildren“ (1930; Keynes 2010, S. 321 ff.) blickt der britische Ökonom John Maynard Keynes ein Jahrhundert in die Menschengeschichte voraus.1 Indem der ökonomische Verstand die kombinierte Wirkung der abzuschätzenden Kapitalakkumulation und des zu erwartenden technischen Fortschritts berechnet, eröffnet sich der Vorstellungskraft für die bereits absehbare Zukunft eine erregende Aussicht: „Ich sehe uns also frei, zu einigen der sichersten und gewissesten Prinzipien der Religion und der überlieferten Tugend zurückzukehren: dass Geiz ein Laster, dass Wucher ein Fehlverhalten und die Liebe zum Geld widerwärtig ist; dass diejenigen wahrlich auf den Pfaden der Tugend und der gesunden Weisheit wandeln, die sich am wenigsten um das Morgen sorgen. Wir werden wieder die Ziele höher schätzen als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden jene ehren, die uns lehren können, unsere Stunden und Tage tugendhaft und zum Guten zu fristen, die wonnevollen Menschen, die sich unmittelbar der Dinge freuen können, die Lilien auf den Wiesen, die weder schuften noch spinnen.“ (Keynes 2010, S. 330 f., Übers. v. Verf.)
Das Bild von den Lilien ist dem 6. Kapitel des Matthäusevangeliums („Vom Schätzesammeln und Sorgen“) entnommen. Dort sind die Menschen geheißen, im Tag zu leben, nicht Güter anzuhäufen und nicht dem Mammon zu dienen; selbst um die einfachsten Bedürfnisse des Lebens sollen sie unbekümmert sein: „Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung?“ (Evangelium des Matthäus 1904, 6: 25, S. 9)
Statt in den unmittelbaren Lebensnöten aufzugehen, sollen die Menschen sich auf dieses „Mehr“ und also auf ihr wahres Wesen besinnen und, in der Sorge um Gottes neue Welt, schon auf Erden, da ihnen noch das Vergängliche anhaftet, nach Gottes Willen leben. Diejenigen, die in solcher Hingabe auf Gott vertrauen,
1„My
purpose in this essay, however, is not to examine the present or the near future, but to disembarrass myself of short views and take wings into the future. What can we reasonably expect the level of our economic life to be a hundred years hence? What are the economic possibilities for our grandchildren?“ (Keynes 2010, S. 322.).
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wird dieser selbst – wie schon die von Natur aus sorglosen Lebewesen – mit dem Nötigen versehen: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie?“ (ebenda,6: S. 26)
Nach Matthäus muss der Mensch von der Sorge um die Bedürfnisse des nackten Lebens frei sein, um sich auf das wahre Leben in Gott entwerfen zu können. Diese Befreiung gelingt jedoch nicht durch Vorkehrungen, welche die Befriedigung der so genannten Grundbedürfnisse sichern; sondern die Befreiung beruht gerade in der Selbst-Übereignung an Gott, in der sich der Mensch zugleich mit Leib und Leben dessen Fürsorge anvertraut. Mit anderen Worten: Die Überwindung der Sorge um den Lebensunterhalt als Hindernis für den Zugang zum wahren Leben geschieht als ein Akt des Glaubens, der bereits Einkehr in jenes Leben ist. Denjenigen, die schon auf Erden in Gott leben, ist zu Lebzeiten die Versorgung mit dem Nötigen, nach dem Tod das ewige Leben gewiss. Was bei Matthäus eine Anleitung zur Erlangung der Freiheit in Gott und dadurch auch vom Vorrang der Bedürfnisse ist, wird bei Keynes zu einer wirklichen Befreiung vom Problem des Lebensunterhalts als Bedingung für die Rückkehr zur Religion. Diese Befreiung geschieht durch die Macht des Zinseszinses und des wissenschaftlich betriebenen technischen Fortschritts. Unter der Annahme gewisser Begleitumstände (etwa die Dynamik des Bevölkerungswachstums betreffend) kann der Ökonom den Zeitpunkt errechnen, da durch das Wirken dieser Mächte das so genannte ökonomische Problem, nämlich die Bestreitung des Lebensunterhalts, tatsächlich und nachhaltig gelöst sein wird. Demnach muss der Mensch nicht mehr – im Vertrauen darauf, sich in der Folge in Gott von Gott versorgt zu sehen – durch einen Sprung des Glaubens von der Haftung an den Lebensnöten und allem Schlechten, das daraus fließt, ablassen. Sondern er soll so lange den Wirkungskräften, die zur Lösung des ökonomischen Problems führen (in der Sprache des Evangeliums: dem Mammon), dienen, bis der faktische Zustand erreicht ist, da jenes Problem für immer beseitigt und somit die Möglichkeit der Hinwendung zu Gott und zum Guten wieder eröffnet ist. Und was ist dieser Zustand? Antwort: Die Verfügbarkeit von so viel und so beschaffenem Kapital, dass sich aus dessen Ertrag mit vernachlässigbarem Aufwand für immer leben lässt.
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Der Weg in dieses „gelobte Land“ und die damit verbundene „ökonomische Seligkeit“2 führt somit gerade über die vom Evangelium als verwerflich angeprangerten Laster, Fehlverhalten und Widerwärtigkeiten und erfordert, bis nicht jener angepeilte Tatbestand eintritt, die Hintanstellung der wahren Ziele und des Guten zugunsten der bloßen Mittel und des lediglich Nützlichen: Eine Zeit lang noch muss der Mensch, um endlich, von der ökonomischen Not befreit, zu Religion und Tugend zurückzukehren, beiden den Rücken zukehren; um das vom Evangelium Verheißene zu erreichen, muss er, bis das Angehäufte für alle Zeit zureicht, gegen das Gebot des Evangeliums verstoßen.3 Als Lohn für den vorläufigen Aufschub des Guten winkt das nie mehr Aufschiebenmüssen des Guten. Worin nun dieses Gute beruht, beschreibt Keynes mit den Worten der Grabinschrift einer alten Reinmachefrau: „Trauert nicht, Freunde, weint für mich nimmer, Denn ich werde nichts tun für ewig und immer.“ (Keynes 2010, S. 327, Übers. v. Verf.)
Freilich ist das Nichtstun, und sei es auch für immer, nicht an sich schon das Gute. Vielmehr ist jenes die Voraussetzung für dieses: Nur wer, im Nichtstun bzw. Nichts-Tun-Müssen ruhend, es vermag, in irgendeiner Weise sich dem Guten zuzuwenden, wird „selig“.4 Weil aber seit Menschengedenken das Nichtstun – die Muße – niemals ein bleibender, als gesichert geltender Zustand des Menschen gewesen ist und dieser somit ungerüstet in den Genuss der endgültigen Befreiung vom Tun-Müssen gerät, sagt Keynes eine lange Zeit der Umgewöhnung des Menschen in die neuen Lebensumstände voraus. 2Bei
Keynes „the promised land“ bzw. „economic bliss“ (Keynes 2010, S. 321 bzw. S. 331.). 3„But beware! The time for all this is not yet. For at least another hundred years we must pretend to ourselves and to every one that fair is foul and foul is fair; for foul is useful and fair is not. Avarice and usury and precaution must be our gods for a little longer still. For only they can lead us out of the tunnel of economic necessity into daylight.“ (Keynes 2010, S. 331.). 4Dass dieses Vermögen – also die Möglichkeit – in der modernen Ökonomie nicht thematisch ist, mit einem Wort: der von der Ökonomie beanspruchte „Agnostizismus der Ziele“ hängt, wie sich zeigen wird, nicht lediglich an der Eingegrenztheit ihres vermeintlich nur die Beschaffung von Mitteln umfassenden Gegenstandsbereichs (der im Gegenteil, weil im neuzeitlichen Sinn methodisch geprägt, grundsätzlich unbegrenzt ist), sondern daran, dass im Willen zum Willen jedes Ziel gleich gilt als Mittel des allein auf sich selbst abzielenden, sich selbst wollenden Willens (s. unten die Ausführungen zum Willen zum Willen und Fn. 13).
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Im Folgenden ist zu fragen: 1. Welche Wesensbestimmung der modernen Ökonomie ergibt sich aus deren Herkunft in der christlich geprägten Moralphilosophie? (Erster Teil) 2. Welche Art der Einbildung und welches Bild der Zukunft liegt in der Verheißung der „ökonomischen Seligkeit“? (Zweiter Teil)
2 Erster Teil Was ist es, wovon das Evangelium dem Menschen Erlösung verheißt? Das Evangelium verspricht die Rettung der Seele und das ewige Leben; das Verheißene ist somit die Erlösung vom Tod. Diese beginnt schon im Leben durch die Loslösung vom dem, was sich im Irdischen (Endlich-Vergänglichen) erschöpft und das „Mehr“ des Lebens (dessen Wahrheit) nicht kennt. Denn: was ist das Leben auf der Erde – bloß für sich genommen und auf sich beschränkt? Ist es nicht ein end- und sinnloses Verfliegen und Vergehen, darin durch alles Aufblühen schon das Verwelken, in allem Wachstum der Niedergang, aus jeder Geburt das Hinscheiden hervorblickt? Darf der Mensch in diesem Leben auf eine letzte ihn aufnehmende Gunst, auf eine Wahrheit vertrauen? Die Erde kennt den Menschen nicht: nirgends ist es schon für ihn eingerichtet und bereitet, während er doch auf die irdischen Gegebenheiten angewiesen bleibt in der täglichen Not der Nahrungsbeschaffung, des Schutzes vor den Widrigkeiten der Natur und den Unbilden des Wetters, vor Krankheit und Feindeswut. Immer strebt der Mensch danach, sich durch seine Mühen, durch Findigkeit und Geschick über diese Not hinwegzusetzen, das Ungastliche der Erde zu überwinden, ihr – auch in der Üppigkeit und im Einladenden – im Grunde Abstoßendes und Hinderliches, Befremdliches zu brechen, um sie bleibend seinen Bedürfnissen zu beugen und gefügig zu machen. Doch aller noch so große Aufwand bringt die letzte Befreiung nicht: alles Geleistete und Gewonnene, jedes Errichtete und scheinbar Gesicherte macht die Erde einst wieder zunichte und nimmt es endlich in ihr stummes Verfließen zurück. Auch die auf der Erde gebauten menschlichen Verhältnisse zeigen sich unablässig in Gestalt und Bestand bedroht. Nicht nur durch das Wegbrechen ihres irdischen Haltes und den Einbruch übermächtiger zerstörerischer Gewalt; sondern in diesen Verhältnissen, im Versuch selbst, sich in einem freundlichen, heilen Gefüge einzurichten, nistet unausrottbar der Keim des Verderbens: Das einmal erfahrene Glück geht zu Ende; die auf immer angelegte Bindung löst sich auf; die lang gehegte Hoffnung zerfällt; allzu kurz währt, wenn sie denn je geschenkt ist, die Erfüllung des Gewünschten. Wo jedoch, aus menschlicher Not kommend,
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ein Streben nach ordnendem, Halt gebendem Wissen und ein Verlangen nach höherem Zuspruch ist, starrt aus dem Grund jeder gewonnenen Einsicht ein tieferes Dunkel, aus jedem deutenden und lindernden Wort eine furchtbarere Stille hervor. Ein jeder Mensch, im Wesen unter die anderen gepflanzt und an sie gebunden, bleibt im äußersten Augenblick und Ort seines Daseins allein. Sofern aber endlich eine Frist der Ruhe gewährt ist vom täglichen Ringen um die Behauptung im Leben, ein Augenblick der Entlastung vom Andrang vielfältiger Not, eine Weile der Eintracht mit den Nächsten und der Verständigung mit den Fremden, eine Stunde des ungetrübten Sinnens in die Zeit – da blickt der Mensch über kurz oder lang ins unermessliche All, in dem Ding um Ding hingestreut ist und nichts darauf deutet, dass er selbst nicht bloß ein weiteres Ding unter Dingen im Unendlichen, sondern im Wesen ausgezeichnet und mit einem Anderen in einem höheren Einverständnis sei. Wenn Rettung heißt: Asyl vor drohender Auflösung und lauerndem Verfall in einem davon unberührbaren, höheren Bezug, so gibt es Rettung nur als Gerettetsein vom irdischen Leben. Die Erde, sofern sie den Menschen mit der überkommenden Bedrohung des Zerfalls alles Wahren angeht und doch in die unentwegte Abmühung an ihr weist, ohne dass der menschliche Sinn sich unverbrüchlich mit einem Anderen zum unendlichen Einerlei des Alls5 verbinden kann – in einem Wort: die Ausweglosigkeit der Erde ohne Ratschluss in eine höhere Bedeutung ist das Böse. Indem das Evangelium die Erlösung vom Tod verheißt, verspricht es bereits im Leben die Befreiung vom Bösen in der Gunst des allwissenden, allmächtigen und allgütigen Gottes als der ewigen überirdischen Wahrheit.6 Vermag es der Mensch, der Vordringlichkeit der
5Das
„Andere zum Einerlei“ ist das Sein selbst als der Unterschied, insofern er sich zum Seienden unterscheidet. 6Die Art und Weise der Einführung des Begriffs des Bösen steht hier von Anfang an im Dienst des Hinweises auf eine das Evangelium und die neuzeitliche Ökonomie prägende Erfahrung, die sich eben als eine bestimmte Erfahrung des Bösen auslegen lässt. Eine zureichendere Besinnung auf dieses Phänomen verlangte freilich einen zugleich freieren und strengeren Ansatz, der u. a. eigens auf den Zusammenhang des Bösen mit dem Willen eingehen müsste. Hier sei lediglich zu bedenken gegeben, dass es wesentlich zur Erfahrung des Bösen sowohl des Evangeliums als auch der Ökonomie gehört, dass dieses als ein zu Überwindendes, zu Besiegendes entgegentritt. Nietzsches Denken des Willens zur Macht steht im Äußersten dieser Erfahrung, indem es sie einerseits als „moralische“ überwindet, andererseits mit seinem „jenseits von Gut und Böse“ gesprochenen „Ja“ zum Erdenleben in gewisser Weise die Ausweglosigkeit der Erde endgültig besiegelt. (Einige vorläufige Gedanken zum Bösen in der Auseinandersetzung mit Heidegger und Leopardi finden sich in Verf. und G. Zaccaria, „Dies ultimus. Per una diagnosi del male nell’anamnesi dell’essere“. (De Gennaro und Zaccaria 2016, S. 1 ff.).
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Sicherung des Lebensunterhalts und der Suche nach einem im Irdischen verhafteten Sinn zu entsagen und sich Gottes Willen zu überantworten, gibt dieser wiederum die Gewähr für den Lebensbedarf und schenkt, mit der Gewissheit des seligen Lebens, zugleich dem Erdenleben (als dem vorbereitenden Durchlauf zum Wahren) einen Sinn. Selig aber heißt: für immer des Bösen enthoben – in Sicherheit vor ihm. Bald verbindet sich der christliche Glaube an die Erlösung vom Bösen mit der ins Römische überführten griechischen Philosophie. Diese ist anfänglich das Wissen vom Ausweg aus der Befangenheit in der Sinnverdunkelung des unmittelbaren Andrangs des nur Seienden hin zur Freiheit im Anblick und in der Erkenntnis des Ursprungs des Seins, d. h. des „Guten“, das – selbst das ganz Andere zum bloß Seienden – jegliches in einer auf es selbst bezogenen Sinnbestimmtheit in sich zurücknimmt und eint. Aus der Wahrheit des Guten blickt für die Griechen der Seinsgrund, der dem Seienden als solchen Maß und Sinn verleiht und als dieser Verleihende das eigentliche und höchste Seiende – τὸ θεῖον – genannt werden kann.7 Aus der Philosophie als Metaphysik geht die Wissenschaft hervor. Diese nimmt vom Seienden jeweils einen abgelösten Teil und betrachtet, was sich mit diesem zusammen eingestellt hat als dasjenige, was ihn als solchen ausmacht, woraus er kommt und durchweg bestimmt bleibt (Aristoteles 1982, Γ 1, S. 122). Die Wissenschaft wird mit dem Beginn und der Entfaltung der Neuzeit zur letzten Möglichkeit und Vollendung der Philosophie. In der neuzeitlichen Wissenschaft nimmt der metaphysische Entwurf des Seins des Seienden einen entschieden operativen, nämlich methodischen Charakter an, der im Vorhinein das Seiende im Hinblick auf seine funktionale Erklärung und rechnerische Verfügbarmachung für das Planen und Steuern ansetzt. Dass zum Ende der Neuzeit die Philosophie in ihre letzte Möglichkeit gelangt und die aus ihr hervorgegangene methodische Wissenschaft das Leitwissen wird, bedeutet: das Böse – die Aufspreizung der sinnlosen Natur, das vom Sein verlassene Seiende – kommt, wenngleich als solches nicht erkannt, unmittelbar und uneingeschränkt in die Vormacht. Denn: die Wissenschaft kennt außer der unendlich (d. h. ins unendlich Große und unendlich Kleine) betrachtbaren, in modellhafte
7Das θεῖον ist den Griechen der befremdliche Anblick, der, ins Anwesende hereinblickend, dieses erst in die Helle des Anwesens hebt und darin hält und also in einer bewohnbaren Deutlichkeit als Anwesendes auszeichnet. Weil das Anwesen eben in dieser bewohnbaren Deutlichkeit (d. h. in einer irgendwie bestimmten Durchlässigkeit für die Deutung im Ganzen) beruht, ist das θεῖον notwendig ganz anders zum Anwesen selbst, d. h. aber wiederum ein (u. zw. zuhöchst und allein eigentlich) Anwesendes.
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Wirkungszusammenhänge aufgeschlüsselten Natur nichts. Dass die Erde sich als solche im Anschein der Unbestimmtheit (also wortlos) zeigt, gilt als Auszeichnung des wissenschaftlichen Zugangs und seiner Wahrheit. Indem die losgelassene Macht des nur Seienden das Wissen vom Ausweg und vom letzten Ratschluss (d. h. die Überlieferung der Philosophie) in seine letzte Möglichkeit, die neuzeitliche Wissenschaft, treibt, besiegelt diese Macht ihre unbedingte Herrschaft. Eine der Gestalten der in ihre letzte Möglichkeit auslaufenden Philosophie entsteht im 18. Jahrhundert als politische Ökonomie. Weil aber die Philosophie inzwischen christlich, genauer: jüdisch-christlich und römisch geprägt ist, kommt in dieser Endgestalt auch das Christentum in ein Letztes. So ist die Tatsache, dass sich beim Wirtschaftswissenschaftler Keynes Bezugnahmen auf das Evangelium finden und die Ökonomie sich ausdrücklich als Wegweiser in ein „gelobtes Land“ darstellt, weder ein Zufall noch nur eine leichtfertige Anspielung oder Redeweise. Keynes selbst macht keinen Hehl daraus, dass der Schluss, zu dem seine Hochrechnung der unter geeigneten Umständen zu erwartenden Kapitalakkumulation führt, den Charakter einer Offenbarung hat: „Nun zu meinem Schluss, den Sie, wie ich meine, desto aufschreckender und erregender für die Einbildungskraft finden werden, je länger Sie ihn bedenken. Ich ziehe nämlich den Schluss, dass, unter der Voraussetzung des Ausbleibens bedeutender Kriege und eines bedeutenden Bevölkerungsanstiegs, das ökonomische Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst oder zumindest in seiner Lösung absehbar sein wird. Das bedeutet, dass das ökonomische Problem – wenn wir in die Zukunft blicken – nicht das ständige Problem der Menschenrasse ist.“8
Die Lösung des ökonomischen Problems ist, noch bevor sie faktisch eintritt, ein Einschnitt in der Erdgeschichte. Denn nicht nur ist in Aussicht gestellt, dass zum ersten Mal, seit es auf der Erde Leben, d. h. ein Problem der Bedürfnisbefriedigung gibt, dieses Problem nachhaltig gelöst sein wird. Sondern zugleich mit der Lösung zeigt sich erstmals das eigentlich ständige und somit artdefinierende Problem der Menschenrasse, die menschliche differentia
8Übers.
v. Verf. „Now for my conclusion, which you will find, I think, to become more and more startling to the imagination the longer you think about it./I draw the conclusion that, assuming no important wars and no important increase in population, the economic problem may be solved, or be at least within sight of solution, within a hundred years. This means that the economic problem is not—if we look into the future—the permanent problem of the human race.“ (Keynes 2010, S. 326.).
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specifica, und das ist: das Streben nach einem sinnvollen Leben. Das für das Lebewesen Mensch spezifische Problem lautet genauer: Wie soll die (dank der Lösung des ökonomischen Problems nunmehr permanent verfügbare) freie Zeit besetzt, die bis dahin versagte beständige (d. h. permanent gerettete) Muße im Sinne eines erfüllten (glücklichen) Lebens verwertet werden? Mit dem Erscheinen dieses noch nicht dagewesenen Problems kommt erst der Mensch zu ihm selbst. So erregend die Vorstellung dieses Augenblicks ist, so erschreckend muss sie zugleich aus der Sicht des bisherigen Menschen bleiben, der durch Evolution und Gewohnheit in den „bösen“ ökonomischen Trieben und Instinkten verfestigt, dagegen für die Entfaltung des wahren Menschseins kaum gerüstet ist. Bereits die Bezeichnung „ökonomisches Problem“ verrät, welcher Blick hier am Werk ist. In Bezug auf die Erhaltung des Lebens wird ein begrifflicher Rahmen in Anschlag gebracht, der ein Operationsfeld definiert. Was vorliegt, sind parametrische Sachverhalte, die im Hinblick auf Ergebnisauswertungen im Rahmen optimierbarer Prozesse einer plan- und steuerbaren Ordnung zu unterwerfen sind. Auf diese Weise wird das Böse als zu lösendes Problem operationalisiert: die Ökonomie selbst versteht sich als ein Verfahren, das durch die fortschreitende operative Lösung eines Problems den Menschen vom Bösen erlöst, indem sie die Frage des Lebensunterhalts ausschaltet und so die Möglichkeit der Hinwendung zum (freilich wiederum als Problem gefassten) Guten eröffnet. Das Werkzeug dafür bezieht sie aus der Philosophie, indem sie das Seiende im Ganzen auf operative, d. h. das rechnende Operieren ermöglichende Hypothesen stellt. Die in diesem Zusammenhang entscheidende Grundannahme ist bei Keynes die Hypothese der so genannten absoluten Bedürfnisse. Damit sind solche Bedürfnisse gemeint, die der Mensch unbedingt, also unabhängig vom Verhältnis zu anderen Menschen verspürt. Sie unterscheiden sich von den relativen Bedürfnissen, die sich hingegen nur insofern einstellen, als ihre Befriedigung den Einzelnen jeweils über die Mitmenschen hinaushebt. Während die relativen Bedürfnisse niemals als endgültig befriedigt gelten können, ist bei den absoluten ein Punkt anzunehmen, an dem die Befriedigung erreicht ist und der Mensch sich anderen, d. h. jetzt: nicht-ökonomischen Zielen zuwendet. Das ökonomische Problem ist das Problem der Befriedigung der absoluten Bedürfnisse. Durch die operative Annahme der absoluten Bedürfnisse ist ein Gegenstandsbereich definiert, der folgende Grundzüge aufweist: 1. Der Bereich und was in ihm vorgeht entspricht einer unbedingten, universellen Tatsache der Menschlichkeit, die einen gezielten Handlungsbedarf definiert;
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2. im Bild des Menschen als handelndes Bedürfnis-Subjekt, das der Natur als Bedürfnis-Objekt, d. h. als Ressource, gegenübersteht, liegt eine Entscheidung nicht nur über das Sein des Menschen, sondern über das Seiende als solches und im Ganzen: die ökonomische Form der Vergegenständlichung betrifft prinzipiell jedes Seiende, sofern es mittelbar oder unmittelbar in irgendeinem Grad der Aktualität (einschließlich des Null-Grads, also der Potentialität) in der absoluten Bedürfnisbefriedigung im Einsatz steht; 3. innerhalb dieses Bereichs ist alles auf Operativität oder Machbarkeit abgestellt, d. h. für das problemlösende Rechnen zeigt sich von vornherein jegliches nur als das Faktische und Machbare für das Planen und Steuern; weil die einzige Wahrheit die machbare Wirklichkeit des Problems ist, gilt nur jenes Rechnen als wahres Denken; 4. das Gesetz der machbaren Wirklichkeit, das alles Rechnen und Handeln orientiert, d. h. der Grundzug der offen sich durchsetzenden, fraglosen Sinnlosigkeit, die mehr ist als die facta bruta,9 ist im Problemlösungsbereich der absoluten Bedürfnisse der absolute Wille zur Akkumulation und zum Mehr, der sich im Zwang zur nachhaltigen Steigerung von Wirksamkeit und Effizienz vermittelt.10 In diesem letzten Zug verbirgt sich der entscheidende Sachverhalt für die Erörterung des Wesens der politischen Ökonomie. Der Wille zur Akkumulation oder Wille zum Mehr ist weder ein bloßer Wachstums- noch vor allem zuerst ein menschlicher Wille. Vielmehr kommt darin der neuzeitliche Grundzug des Seienden unverhehlt zum Tragen. Dieser Wille, der das Seiende als solches in seiner Wahrheit bestimmt, beruht darin, nicht etwas, sondern einzig und zuvor sich selbst, u. zw. stets mehr, d. h. absoluter und unbedingter zu wollen. Aufgrund dieses wesenhaften Sichwollens kann dieser Wille auch „Wille zum Willen“ heißen. Der Wille zum Willen will als Medium und Mittel seines Wollens die ausschließliche – von allem Sinn (oder anders: von aller bewohnbaren Deutlichkeit) losgelöste, diesen als Widerstand ausschließende – Wirklichkeit des bloß Seienden als des auf die Einsatzfähigkeit getrimmten factum brutum. „Bloß“ Seiendes heißt
9Das
Mehr beruht in der weiter unten angesprochenen Einsatzfähigkeit für den Willen zum Willen. 10Diese Steigerung bleibt unabhängig von einem quantitativen Wachstum, kann sich also auch auf dem Wege einer quantitativen Verringerung durchsetzen.
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gerade: Seiendes, das von allen Widerständen gegen das Wollen selbst gereinigt und somit rein willentlich ist. Das Seiende als w iderstandslos-willentliches Mittel des Wollens geht auf in der restlosen Machbarkeit und ist derart reiner Wille zum Willen. Auch Raum und Zeit sind für den Willen zum Willen willentliche bzw. machbare (d. h. je und je einrichtbare, speicher- und abrufbare, optimierbare) Mittel zur Herstellung des Seienden in die restlose Machbarkeit und Willentlichkeit. Nennen wir die Vorsehung und Bereitstellung von Mitteln „Technik“, so lässt sich sagen: der Wille zum Willen, insofern er nichts als – um seiner selbst willen – Mittel zu sich selbst will und hervorbringt, ist als Wille technisch verfasst. Der in sich technische Wille ist es, der das Ganze des Seienden als operatives Problemfeld in der Beziehung von Bedürfnis-Subjekt und Bedürfnis-Objekt, also die in Bezirke des Machbaren geordnete Wirklichkeit will, um im Zuge der Problemlösung stets unbedingter und absoluter sich durchzusetzen. Dieser Wille ist leitend bei der Annahme der absoluten Bedürfnisse und der Definition des ökonomischen Problems samt seiner in die Zukunft ausgreifenden Lösungsverfahren. So sind „Problem“ und „Lösung“ hier nicht Phänomene, sondern in erster Linie neuzeitliche Methodenbegriffe des sich selbst wollenden und befördernden Willens. Sie erhalten ihre augenscheinliche, von der modernen Wirtschaftswissenschaft zugrunde gelegte Evidenz (dank welcher sie als nicht weiter fragwürdig gelten) aus der Wahrheit des Willens zum Willen. Indem die Ökonomie durch die Annahme der absoluten Bedürfnisse den Gegenstandsbereich des ökonomischen Problems konstituiert, überantwortet sie das Seiende im Ganzen dem Willen zum Willen. Im Hinblick auf die Entstehung der neuzeitlichen Ökonomie bedeutet das: Die Ausbildung der methodischen Ökonomie aus der Moralphilosophie angelsächsischer Prägung geschieht auf Geheiß jenes Willens bzw. das so geartete ökonomische Wissen zeigt sich als jenem Willen (u. zw. mehr so denn andere Zugänge zum Ökonomischen) konform.11 Die Methode der Ökonomie sagt: es kommt das Reich des ewigen Nichtstuns (der nachhaltig gesicherten „freien Zeit“) und der möglichen Erfüllung – doch Vorsicht: noch nicht! Bis und damit es einmal soweit ist, müssen noch Geiz und Gier vorherrschend bleiben, muss das in der blinden Akkumulationssucht liegende Streben nach einer „falschen und trügerischen Unsterblichkeit“ im Recht bleiben, muss das Schlechte, weil nützlich, als gut,
11Inwiefern
die maßgebliche angelsächsische Moralphilosophie bereits für die Herausbildung der neuzeitlichen Ökonomie vorgeprägt ist, muss der Gegenstand einer eigenen Untersuchung bleiben (vgl. dazu Simon 2016).
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das Gute, weil unnütz, als schlecht ausgegeben werden.12 Das heißt im Licht der hier versuchten Diagnose: Bis zum Erreichen des nicht eigens bestimmten, jedoch in operativer Hinsicht als gewiss angesetzten Punktes der Befriedigung der absoluten Bedürfnisse müssen das Seiende im Ganzen und der Mensch so sein, wie der Wille zum Willen sie braucht. Weil dieser prinzipienlose Wille aber prinzipiell nie zu einem Ende kommt und keine Befriedigung kennt, ist die Zeit des „Noch nicht“ selbst unendlich, das operativ schematisierte Böse die absolute Ausweglosigkeit des nur Machbaren. Der angenommene Punkt der endlichen Befriedigung der absoluten Bedürfnisse erweist sich als eine operative Hypothese des Willens zum Willen.
3 Zweiter Teil Doch ein Zweifel meldet sich: Trifft es das Wahre, wenn in Bezug auf die neuzeitliche Ökonomie von einer operativen Schematisierung „des“ Bösen gesprochen wird? Die Ökonomie mag durch die Annahme der absoluten Bedürfnisse zwar einen Aspekt des Bösen operativ fassen und einer Lösung zuführen wollen. Doch „das“ Böse umgreift weit mehr als diese und auch als die darüber hinausgehenden relativen Bedürfnisse; die eigentlichen Bereiche, in denen es sein Unwesen treibt, bleiben der ökonomischen Betrachtungsweise überhaupt entzogen. In der Tat geht es in der Ökonomie – so auch bei Keynes – offenbar nur um eine notwendige, nicht aber schon um die zureichende Bedingung einer „Erlösung vom Bösen“, so dass die Rede vom „gelobten Land“ und von der „ökonomischen Seligkeit“ streng genommen überzogen und in der Sache unbegründet scheint: Die Lösung des ökonomischen Problems allein bietet keinerlei Gewähr, dass damit schon die Ausweg- und Ratlosigkeit des Erdenlebens überwunden
12Die
„falsche und trügerische Unsterblichkeit“ fasst Keynes wie folgt: „The “purposive” man is always trying to secure a spurious and delusive immortality for his acts by pushing his interest in them forward into time. He does not love his cat, but his cat’s kittens; nor, in truth, the kittens, but only the kittens’ kittens, and so on forward for ever to the end of cat-dom. For him jam is not jam unless it is a case of jam to-morrow and never jam to-day. Thus by pushing his jam always forward into the future, he strives to secure for his act of boiling it an immortality … Perhaps it is not an accident that the race which did most to bring the promise of immortality into the heart and essence of our religions has also done most for the principle of compound interest and particularly loves this most purposive of human institutions.“ (Keynes 2010, S. 330.) Purposive heißt „zielgerichtet, zweckorientiert“ und meint hier eine Ausrichtung, darin das Vorliegende grundsätzlich nur im Hinblick auf ein Darüberhinausliegendes in Betracht kommt.
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sei; vielmehr „ermöglicht“ sie das selige Leben nur insofern, als sie einen Hinderungsgrund desselben aus dem Weg räumt.13 Wenn es sich aber so verhält, ist die Behauptung, die Ökonomie sei eine operative Behandlung „des“ Bösen, unmöglich. Doch gerade dieser Schluss geht ins Leere bzw. am Entscheidenden vorbei, das bereits in der Ansetzung des Gegenstandsbereichs der Ökonomie liegt. Durch diese Ansetzung geschieht bei Keynes – in einer Wiederholung des smithschen Gründungsakts der politischen Ökonomie – in der Tat ein (wiewohl verborgener) Ausgriff auf „das“ Böse, der in Wahrheit ein Zugriff des Bösen selbst auf das Seiende ist. Das soll sich in einer nochmaligen Vergegenwärtigung des keynesschen Gedankengangs erneut und deutlicher zeigen. Keynes definiert in hergebrachter Weise den Gegenstandsbereich des ökonomischen Wissens durch die Grundannahme der absoluten Bedürfnisse. Aus diesen ergibt sich das ökonomische Problem. Die absoluten Bedürfnisse binden den Menschen von der Seite des bloßen Überlebens, also in einem vermeintlich „objektiven“ Sinn und Maß an die Erde. Doch diese Bedürfnisse sind, weil nicht dauerhaft problematisch, nicht die eigentlich menschlichen, arttypischen; das bedeutet: der vorwiegend den absoluten Bedürfnissen zugewandte und also an der freien Ausrichtung auf das Gute gehinderte Mensch verharrt gleichsam in einer Vorkammer des wahren Menschseins. In der christlichen Religion ist der Mensch geheißen, das eigene Sein von den irdischen Ketten zu lösen und Gott zu übertragen: im Augenblick selbst, da er sich von der Sorge um den Lebensunterhalt befreien kann, ist er bereits erlöst. Dagegen wendet sich das ökonomische Wissen den von ihm definierten absoluten Bedürfnissen thematisch zu, indem es aufzeigt, wie der Mensch sich dauerhaft zwar nicht von den Bedürfnissen selbst, wohl aber von ihrem ins Unartige, bloß Animalische niederzwingenden Vordrang befreien kann. Dafür muss er freilich – im Vollzug einer bestimmten Wahrheit des Seienden – gerade vom Guten abgewandt und, statt ganz Mensch, noch das einzig auf den unmittelbaren Nutzen rechnende Tier bleiben. Ist erst die Akkumulation technisch hochentwickelten Kapitals so weit gediehen, dass die Zinseszinsen die absoluten Bedürfnisse der Menschheit befriedigen, bleiben dieser endlich nur noch andere, nicht-ökonomische Ziele, denen sie sich zuwenden kann. Zwar geht Keynes
13Allerdings
gehört, was hier nicht zu zeigen ist, zum Gründungssinn der modernen Ökonomie die Ausschaltung der Möglichkeit als solcher: das ökonomische Wissen geht unmittelbar und ausschließlich auf die Wirklichkeit als Bedingung des Willens zum Willen (s. oben Fn. 4).
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nicht davon aus, dass alle Menschen nunmehr von selbst nach der Vollendung ihres Menschseins streben werden. Immerhin ist aber durch die Beseitigung des nur scheinbar ständigen Problems der Weg frei für die mögliche, im Wesen des Menschen angelegte Entfaltung zum Guten: das eigentliche Problem kann sich jetzt zumindest als Anspruch melden und auf Entsprechung hoffen.14 So zeichnen sich für Keynes die Umrisse eines gewissermaßen p ost-ökonomischen Zeitalters ab, darin dank der nunmehr selbsttätig funktionierenden Bedürfnisbefriedigung das ökonomische Problem aus dem Leben verschwunden und sein gelegentliches Auftauchen der Behandlung durch eine Zunft von Fachleuten überlassen ist: „Vor allem aber sollten wir die Wichtigkeit des ökonomischen Problems nicht überschätzen oder seinen vermeintlichen Notwendigkeiten Dinge von größerer oder dauerhafterer Bedeutung opfern. Es sollte eine Sache für Fachleute sein – wie die Zahnheilkunde. Wenn die Ökonomen es dazu brächten, dass man sie als bescheidene, sachkundige Leute auf dem Niveau von Zahnärzten ansieht – das wäre wunderbar!“15
Dass in dieser auf die errechnete Kapitalentwicklung gestützten Vision das ökonomische Problem bis zur Belanglosigkeit schrumpft, darf nicht über die Tragweite dessen hinwegtäuschen, was eben in der Ansetzung jenes Problems liegt, nämlich, wie bereits gezeigt, die Überantwortung des Seienden im Ganzen an den Willen zum Willen. Das mit einem Hauch von koketter Selbstbescheidung in Aussicht gestellte Beinahe-Verschwinden der seit jeher vorherrschenden ökonomischen Sorgen und Ratschlüsse zugunsten nicht-ökonomischer Ziele und Verhandlungen verhehlt kaum den Triumph nicht des „Ökonomischen“ an sich, sondern des „Prinzips“, dem das ökonomische Wissen in seiner neuzeitlich-methodischen Ausprägung entspricht: Möchte das operativ (nämlich durch die Annahme der absoluten Bedürfnisse) definierte Ökonomische auch zur Bagatelle geworden sein, so hat doch jenes Prinzip schon das Ganze des Seienden
14In
Keynes’ hier entworfener Darstellung der Befreiung des Menschen lässt sich unschwer eine neuzeitlich-ökonomische Version des Lehrstücks der platonischen Höhle aus dem siebten Buch der Politeia erkennen. 15Übers. v. Verf. „But, chiefly, do not let us overestimate the importance of the economic problem, or sacrifice to its supposed necessities other matters of greater and more permanent significance. It should be a matter for specialists—like dentistry. If economists could manage to get themselves thought of as humble, competent people, on a level with dentists, that would be splendid!“ (Keynes 2010, S. 332.).
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für sich und gemäß seiner Wahrheit – und das bedeutet: in die Funktionskreise einer Wahrheitslosigkeit – geprägt. Darum ist es nicht verwunderlich und keineswegs nur die Folge eines aus welchem Grund immer nicht aufgegangenen Kalküls, dass inzwischen das „Ökonomische“ (nämlich der Wille, der sich selbst als die totale Plan- und Steuerbarkeit des Seienden und von daher die nachhaltige Steigerung von Wirksamkeit und Effizienz will) nicht nur noch nicht in seiner Bedeutung zurückgegangen, sondern zur universalen zieldefinierenden Wahrheit der Erde geworden ist, während jeder Versuch, den Gegenstandsbereich der ökonomischen Wissenschaft auf eine Region der Seienden oder einen Aspekt des menschlichen Lebens einzuschränken, sich als unhaltbar erwies.16 Damit ist aber auch die Reichweite der vom ökonomischen Verstand verheißenen Erlösung universal, d. h. alles in einem einzigen Sinn umgreifend, und keineswegs nur auf die notwendige Voraussetzung einer dadurch als Möglichkeit zum Tragen kommenden Erlösung beschränkt: Für die nun wieder bzw. erstmals dauerhaft erstrebbaren „sichersten und gewissesten Prinzipien der Religion und der überlieferten Tugend“17 steht nicht etwa neben und unabhängig von der Wahrheit des Willens zum Willen (aus welcher ständig – gleichsam unter Putz – der Lebensunterhalt gewährleistet wird) noch eine andere, die Wahrheit des „wahren Lebens“ parat. Dass jene (einzige) Wahrheit weiterhin bestimmend bleibt, deutet sich bereits darin an, dass die durch die Lösung des ökonomischen Problems eröffnete Möglichkeit der Rückkehr zu Religion und Tugend wiederum als – diesmal allerdings permanent – zu lösendes Problem gefasst wird, dessen Möglichkeitsraum – ebenso wie die im „gelobten Land“ wartende „Seligkeit“ – gänzlich unbestimmt bleibt.18 Die Vorstellung einer sinnfreien („technischen“) Voraussetzung für eine darauf aufgestockte mögliche Sinnesfülle bleibt in ihrer Wahrheitsblindheit hinter der metaphysischen Besinnung wie auch hinter dem theologischen Glauben zurück; zugleich entspricht sie dem Willen zum Willen (dem sich unbedingt in ihm selbst aufsteigernden Bösen) am entschiedensten: Weil in der vom ökonomischen Verstand ausgegebenen
16Die
heute geläufige Rede von der „Ökonomisierung“ der verschiedensten Lebensbereiche trifft etwas Richtiges, bleibt nach Auffassung d. Verf. jedoch in diagnostischer Hinsicht unzureichend, solange nicht die dabei im Blick stehenden Phänomene aus dem hier durch den Hinweis auf den Willen zum Willen angedeuteten Geschichts-Raum bedacht sind. 17„the most sure and certain principles of religion and traditional virtue“. (Keynes 2010, S. 330.). 18Der Problemcharakter ist das willentliche (machenschaftliche) Unwesen des streithaften Wesens der Freiheit, das der Mensch als solcher durch das anfänglich erfahrene Böse hindurch austragen muss.
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Parole („eigentlich ist das Wahre das andere – aber noch sind die Voraussetzungen dafür nicht erwirkt“) eben jener Wille spricht, ist es einerlei, ob die Frist des „Noch nicht“ auf einen Tag oder auf hundert Jahre angesetzt ist: Die Parole selbst kann, in dem Maße wie die Einpassung des Menschseins in den Willen zum Willen und die Übersetzung jeglichen Sinnes in die Wert-Gegenstände der „Lebensqualität“ fortschreitet, nach und nach verklingen – die im einzigen „Gut“ der ständig zu steigernden Lebensqualität (als einer letzten Moralvorstellung) angelangte Menschheit ist bereits vom Bösen erlöst, nämlich: in dessen unerkannter Alleinherrschaft aufgegangen. Die Vergegenwärtigung der im Ansatz der modernen Ökonomie liegenden Entscheidung mündet in die folgende Wesensbestimmung: Die Ökonomie ist zum einen der aus der Philosophie hervorgegangene wissenschaftliche Entwurf des Seienden im Ganzen als Mittel des Willens zum Willen, d. h. eine Technik; sie ist zum anderen die in der Tradition des Christentums stehende Prognose und Verheißung einer faktischen Erlösung vom Bösen. Nimmt man beide Hinsichten zusammen, so erweist sich die moderne Wissenschaft des Ökonomischen als eine, ja die Technik des Bösen. Der Titel „Technik des Bösen“ ist im streng terminologischen Sinn zu verstehen: Er nennt ein Wissen, in dem das Böse als ein technisches, technisch zu lösendes Problem erscheint und so sich selbst will. In der Ökonomie als der Technik des Bösen vollendet sich die jüdisch-christlichrömisch geprägte Philosophie und wird zum planetarischen Wissen des die Erde total wollenden Willens zum Willen. In der Vollendung der europäischen Neuzeit wird erdumspannend technisch-ökonomisch gedacht.19
4 Schluss Aus der Wesensbestimmung der Ökonomie als Technik des Bösen fällt zuletzt ein Licht auf die Art und Rolle von Bild und Einbildung in dieser Wissenschaft. Deren Bild-Bezug ist geprägt durch den die neuzeitliche Wissenschaft auszeichnenden methodischen Grundcharakter.
19In
einer Aufzeichnung von 1887 spricht Nietzsche – freilich aus seiner metaphysischen Grundstellung heraus – von der „unvermeidlich bevorstehenden Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde“ und der Notwendigkeit eines Menschentyps, der diesem Werden nicht – wie der bisherige Mensch – aus einem „ökonomischen Optimismus“ begegnet; dieser Optimismus beruht in dem ganz ins Rechnungshafte verirrten Glauben, „mit den wachsenden Unkosten Aller [müsse] auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen“ (Vgl. Nietzsche 1982, S. 462 f.; dazu De Gennaro 2012, S. 201 ff.).
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Bereits im bildhaften Entwurf des hypothetischen Denkens, den Platon im Liniengleichnis der Politeia versucht,20 zeigt die wissenschaftliche Theorieformung ein konstitutives bildliches Moment. Wie Platon am Beispiel der Geometrie aufzeigt, gründet das hypothetische Wissen auf einem eigentümlichen Akt der Einbildung. Die Einbildungsleistung besteht darin, dass ein Sichtbares, von dem es wiederum sichtbare Abbildungen gibt (z. B. ein gezeichnetes Dreieck), nicht als dieses Sichtbare, sondern seinerseits als Bild (Platon sagt: als εἴκων) genommen wird, allerdings nun als Abbild des eigentlich Seienden, d. h. platonisch: der (unsichtbaren) Idee. Durch diesen Akt wird das sichtbare Seiende unter das Gesetz des unsichtbaren Seins gestellt, indem zugleich dieses im sichtbaren Seienden, das als sein operatives Abbild fungiert, untergebracht wird. „Operativ“ heißt: ein Operieren ermöglichend von der Art eines im – freilich verbildlichten – Unsichtbaren bleibenden Durchdenkens (διανοεῖν), das wiederum operative Züge (sprich Funktionsweisen) des Abgebildeten herausstellt. Das wissenschaftliche Durchdenken des im Bild festgemachten Seins ist somit zugleich eine Erklärung des abbildenden, zum S eins-Bild erstarrten Seienden: beides, Seiendes und Sein, ist im hypothetischen Bild dasselbe. Dabei bleibt dieses Erklären sowohl gegenüber dem Sein selbst als auch gegenüber dem Seienden selbst in gewisser Weise blind, hat also weder den rein im Schauen des Unsichtbaren aufgehenden, im Un-Hypothetischen bis zu einem Anfang (d. h. zum Guten selbst) fortschreitenden Blick der Philosophie noch das im Vertrauen auf die Wahrheit des Sichtbaren vernehmende Auge des gewöhnlichen Meinens.21 Die eigentümliche Einbildungshandlung der hypothetischen Wissenschaft beruht somit – das ist gleichsam der Preis, den sie als operative Theorie des menschlichen Handelns und also des Bezugs des Menschen zum Seienden bezahlt – in einer wesenhaften doppelten Blindheit. Im Akt der Einbildung, der das Sein als operative Hypothese des Seienden und zugleich das Seiende als operative Ikone des Seins setzt, entscheidet sich indes der Wahrheitsgehalt des jeweiligen Erklärungsmodells. Dieser Gehalt hängt davon ab, wie sehr die wissenschaftliche Einbildung im Zuge ihres Verfahrens zu ihrer doppelten Blindheit und also zum Sein und zum Seienden hin offen und derart auf ihre Weise dennoch sehend bleibt. So richtet die Ökonomie den Blick auf den sichtbaren Menschen, nimmt diesen aber nicht als solchen wahr, sondern als ein rechnerisch handhabbares
20Platon 21…
(2000, S. 509d–511e, 556–565). noch das dichtende Auge der Kunst.
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Bild des (unsichtbaren) Menschen selbst, nämlich etwa als „Verbraucher“, dessen Verhalten durch eine Nutzenfunktion erklärbar ist. „Verbraucher“ ist die selbst unsichtbare, im sichtbaren Menschen in operativer Absicht abgebildete Idee „Mensch“, also der Mensch selbst in ökonomischer Fassung. Das Nehmen des sichtbaren Menschen als Bild ist die Hineinbildung der (durchdenkbaren, nämlich mathematisch behandelbaren) Funktion in den Menschen. Die Erklärung des sichtbaren Verhaltens des Menschen erschließt den unsichtbaren Menschen als Verbraucher. Wie steht es im Licht dieser strukturellen Bestimmung der Wissenschaft mit Keynes’ Entwurf der Ökonomie im Ende der Neuzeit? Es zeigte sich: Die Hypothese der absoluten Bedürfnisse überstellt das Seiende im Ganzen, und den Menschen in ihm, dem Willen zum Willen: sie ist gleichsam dessen Einfallstor ins Seiende als solches. Der Wille zum Willen will sich selbst im Medium der unbedingten Machbarkeit, d. h. er will das Sein des Seienden als die absolute Machbarkeit des Machbaren. Entsprechend wird die ins Sichtbare gefasste Hypothese, z. B. die berechenbare Nutzenfunktion des Verbrauchers, so angesetzt und nach und nach abgeändert werden, dass die Operativität des Modells, also seine Erklärungsmacht, sich möglichst steigert. Je erklärungsmächtiger das Modell in Absehung von allem theoretischen und konkreten Sinn, desto reiner die Machbarkeit als Medium des Willens zum Willen. Insofern der Einbildungssinn der Ökonomie aus dem Willen zum Willen bestimmt ist durch die Steigerung der Operativität um der Operativität selbst willen, kann die Ökonomie nicht in ihrer konstitutiven Blindheit ruhen; sondern diese Blindheit wird, weil in den Dienst jenes willentlichen Einbildungssinns gestellt, noch einmal mit Blindheit geschlagen. Die Einbildung der modernen Ökonomie ist somit eine mit Blindheit geschlagene Blindheit, d. h. die Blindheit eines Blinden, der von seiner Blindheit nichts weiß und darum auch nicht aus Vorsicht sich tastend fortbewegt und bei Bedarf eines Stockes behilft, sondern – gleichsam unzugänglich für jegliche Erfahrung und Widerfahrnis – unbeirrbar voranstrebt.22 Im Augenblick selbst, da die Hypothese der absoluten Bedürfnisse greift, sieht die Ökonomie nur noch, ohne ihn als solchen zu sehen, den Willen zum Willen, also die Erde im Griff der ausweglosen Machbarkeit. Die Verheißung, die den Menschen für den an sich sinn- und maßlosen Prozess der Effizienz- und Wirksamkeitssteigerung gewinnt, beruht wiederum
22Diesbezüglich
bleibt – gerade im Hinblick auf jüngere Ansätze wirtschaftswissenschaftlicher Forschung – der Unterschied zwischen Erfahrung und experimenteller Erkenntnis zu beachten.
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in einem Bild. Dieses Bild besiegelt gleichsam die mit Blindheit geschlagene Blindheit der Ökonomie. Es ist das Bild der in der Zukunft wartenden „seligen Muße“, d. h. eine bestimmte Einbildung der Zeit. Im christlichen Glauben ist diese Muße das im gelebten Glauben vorbereitete ewige Leben. Ewiges Leben meint: unendliche Dauer der Freiheit vom Bösen, endgültige Enthebung von der Ausweglosigkeit der Erde bei vollendeter Sinnesfülle in Gott: Befreiung vom Tod als unendlicher wacher Aufenthalt in der reinen Wahrheit. Das ewige Leben ist das Danach zum Davor des irdischen Lebens und zugleich dessen vorgängige und ständige Möglichkeit. Bei Keynes ist mit dem Bösen auch dessen Überwindung, die ewige Muße, operationalisiert. Was die Menschheit nach hinreichender Kapitalakkumulation erwartet, beschreibt er wie folgt: „So wird der Mensch erstmals seit seiner Erschaffung mit seinem echten, ständigen Problem konfrontiert sein: wie er seine Freiheit von drängenden ökonomischen Sorgen nutzen, wie er die Mußezeit ausfüllen soll, die Wissenschaft und Zinseszins ihm errungen haben werden, um weise und angenehm und gut zu leben.“23
Ebenso wie der Kampf um den Lebensunterhalt ist auch die Muße ein Problem, d. h. jetzt: ein Operationsfeld, in dem alle Bilder und Entwürfe technisch zu lösende Machbarkeiten vorstellen. Als eigentlich ständiges und deshalb artdefinierendes Problem liegt die Muße zwar potentiell schon vor, war aber und ist vorerst noch an der Aktualisierung gehindert: der Umschlag von der Potentialität in die Aktualität liegt irgendwo in der errechenbaren Zukunft. Keynes lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Danach, einmal zum Jetzt geworden, Ewigkeitscharakter hat: das durch die endgültige Lösung des ökonomischen Problems zutage tretende ständige Problem beruht gemäß dem eingangs angeführten Epitaph in einer endgültigen Befreiung vom Zwang des Tuns („Denn ich werde nichts tun für ewig und immer.“) und bedeutet den Eintritt in die Dauer eines todlosen, weil nunmehr in der unendlichen Optimierung technischer Lösungen (und damit der eigenen „Qualität“) bestehenden Lebens: es ist der Eintritt in die in jedem Jetzt sich erneuernde „Unsterblichkeit“ des rein Machbaren, welche die
23Übers.
v. Verf. „Thus for the first time since his creation man will be faced with his real, his permanent problem—how to use his freedom from pressing economic cares, how to occupy the leisure, which science and compound interest will have won for him, to live wisely and agreeably and well.“ (Keynes 2010, S. 328.).
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von Keynes angeprangerte „falsche und trügerische“ Unsterblichkeit, nach der die Ewig-Morgigen trachten, nicht durch eine „wahre und echte“ ersetzt, sondern vielmehr vollendet. Im Bild von der am Ende des steinigen Wegs der Akkumulation winkenden ständigen Muße geht die christliche Vorstellung vom ewigen Leben zusammen mit einem abgeleiteten und operationalisierten Begriff dessen, was die Griechen σχολή nannten. Mit diesem Begriff kommt die Metaphysik bei Platon und Aristoteles unversehens in den Vorraum der Möglichkeit eines ursprünglichen Denkens der Zeit. Ausdrücklich wird die Zeit jedoch bei Aristoteles, aus der Erfahrung des Seienden als ϕύσις und οὐσία, als das Nacheinander der Jetzt-Momente gedacht. Damit ist philosophisch die Kerbe geschlagen für die spätere Vorstellung der Muße als das „gute (d. h. operativ taugliche) Nichts“ der nicht vom Tun-Müssen besetzten, in einem Danach zum Zuvor der genötigten Tuns liegenden Zeitspanne, darin der Mensch „Zeit hat“, sich als Mensch zu bilden.24 Eben diese abgeleitete Vorstellung der σχολή dient der Technik des Bösen als operatives Ziel- und Zukunftsbild. Denn erst die verheißene Muße – die der Technik eigene „Versuchung“ – stellt dem daraufhin ausgerichteten, an sich sinnlosen Operieren einen Sinn in Aussicht, ordnet ihm eine eingebildete Zukunft zu, die es selbst nicht hat. Diese Aussicht bezieht ihr Gewinnendes daraus, dass sie die eigentliche, das Wesen des Menschen ausmachende Muße dem Menschen in einem abgeleiteten, operativen Bild, nämlich als ein Machbares vorstellt. So ist die in Aussicht gestellte Zukunft ein Trugbild: nicht, weil sie später als angekündigt oder gar nicht kommt oder kommen kann, sondern weil in ihr – in der künftigen „freien Zeit“ als dem ständigen Problem der Menschengattung – schon dasselbe, muße-lose Zeitverständnis herrscht wie in der „Zeit“ des „Noch-nicht“: die Zukunft des „guten Nichts“ ist in Wahrheit schon aktuell in der Dauer der Lösung des ökonomischen Problems; diese Dauer ist „zeitlos“, indem sie so etwas wie Zeit nur kennt als Ressource des Willens zum Willen.25 Das Danach ist schon das unendliche Jetzt, auf das nichts wartet und das – außer der nächsten Stufe der Problemlösung – nichts mehr auf sich zukommen lassen kann: das zeit–lose, unzeitige Jetzt der immer unbedingteren Durchsetzung des Willens zum Willen in der Machbarkeit des Machbaren.
24Zur
Muße vgl. De Gennaro (2014, S. 5 ff.), sowie De Gennaro (2013, S. 43 ff.). denke in diesem Zusammenhang an die „reine Dauer“ („durata pura“) des Futurismus (vgl. dazu Zaccaria 2016, S. 1 ff.).
25Man
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In der Vision einer der Zahnheilkunde gleichgestellten ökonomischen Technik ist eine des Bösen wie des Guten entledigte Menschheit vorgestellt: Eine zukunftslose Menschheit, die – freilich nicht in der von Nietzsche entworfenen gewandelten Wesensgestalt – „jenseits von Gut und Böse“ angelangt ist, wo es nur noch gilt, die einförmigen Verfahren der Machbarkeit, die automatisierte Sinnlosigkeit zu implementieren. Eine Menschheit, die außer dem Machen keinen Rat und aus dem nur Machbaren keinen Ausweg weiß; die das Problem der Rat- und Ausweglosigkeit in Bezug auf ein Wahres so gelöst hat, dass sie nichts anderes mehr kennt als das Machen des Machbaren: eine Menschheit des unendlich machbaren Glücks, dessen Bild das Ergebnis einer Rechnung ist.26
Literatur Aristoteles. 1982. Metaphysik. Bücher I (A) – VI (E). Hamburg: Felix Meiner Verlag. De Gennaro, Ivo. 2012. Nietzsche: Value and the economy of the will to power. In Value. Sources and readings on a key concept of the globalized world, Hrsg. Ivo De Gennaro. Leiden: Brill. De Gennaro, Ivo. 2013. Σχολή. Platon und das ökonomische Problem. In Wirtliche Ökonomie. Philosophische und dichterische Quellen. Erster Teilband (Elementa Œconomica 1.1), Hrsg. Ivo De Gennaro, Sergiusz Kazmierski, und Ralf Lüfter, 43–88. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz. De Gennaro, Ivo. 2014. Was ist Muße? Freiburger Universitätsblätter 206:5–17. De Gennaro, Ivo, Sergiusz Kazmierski, und Ralf Lüfter, Hrsg. 2015. Ökonomie und Zukunft. Bozen: Bozen University Press. De Gennaro, Ivo, und Zaccaria Gino. 2016. Dies ultimus. Per una diagnosi del male nell’anamnesi dell’essere. eudia 10:1–17. Evangelium des Matthäus. 1904. Die Bibel nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt. Gedinat, Jürgen. 2015. Ökonomischen Antizipation oder Zur Wendigkeit der Wirtschaft. In Ökonomie und Zukunft, Hrsg. Ivo De Gennaro, Sergiusz Kazmierski, und Ralf Lüfter, 15–30. Bozen: Bozen University Press. Kazmierski, Sergiusz. 2015. Das ökonomische Verfahren und die Zukunft. In Ökonomie und Zukunft, Hrsg. Ivo De Gennaro und Sergiusz Kazmierski, 117–122. Bozen: Bozen University Press. Keynes, John Maynard. 2010. Essays in persuasion. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
26Zur
Zukunftsoffenheit der Ökonomie vgl. De Gennaro, Lüfter (2015), dort vor allem die Beiträge von Gedinat (2015) und Kazmierski (2015) sowie das Vorwort zum Band.
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Nietzsche, Friedrich. 1982. Nachlaß 1885–1887. In Kritische Studienausgabe, Bd. 12, Hrsg. G. Colli und M. Montinari. München: dtv. Platon. 2000. Der Staat. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag. Simon, Robert. 2016. Natur und Vernunft – Ethik und Ökonomie. Grundbegriffe bei Adam Smith. In Wirtliche Ökonomie. Philosophische und dichterische Quellen. Erster Teilband (Elementa Œconomica 1.2), Hrsg. Ivo De Gennaro, Sergiusz Kazmierski, und Ralf Lüfter, 247–282. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz. Zaccaria, Gino. 2016. Boccioni. La fondazione futurista dell’opera d’arte. eudia 10:1–13.
Das massenmediale Bild als konstitutives Moment des Geldes Simon Küffer
Zusammenfassung
Der Autor stellt die These einer Entstofflichung des Geldes vor und argumentiert, dass damit keine Entsinnlichung verbunden ist, weil eine Akzeptanz von Geld immer auf visuellen Strategien beruht. Bilder sind konstitutive Bestandteile von Geld, das wird anhand von Bilder und den Strategien, auf denen sie beruhen, gezeigt. Damit realisiere sich auch Herrschaft – das sei mit ein Grund, warum Menschen „durch ihre Geldverwendung ein Geldsystem akzeptieren, welches ihnen vorwiegend schadet“. Schlüsselwörter
Geldgeschichte · Visuelle Strategien · Ästhetik · Macht · Zentralbanken
1 Einleitung Die Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung von Ökonomie und Kultur genießt (wieder) vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt mit der Finanzkrise 2007/2008 zusammenhängt. Dass sich der Spätkapitalismus auch des medialen Bildgebrauchs bemächtigt, ist nicht unbemerkt geblieben: Zuerst ist die Bildproduktion eine wirtschaftliche Tätigkeit wie jede andere und entsprechend den kapitalistischen Bedingungen unterworfen. Weiter sind visuelle S. Küffer (*) Hochschule der Künste Bern, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_10
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Ästhetik und Bilder zu entscheidenden Faktoren im Wettbewerb der Waren und Unternehmen geworden, sei dies als Corporate Design oder Werbung. Drittens ist der visuell-ästhetische Genuss selbst Ware, vielleicht gar die ideale, weil nie gesättigte – eine Erkenntnis, die an sich nicht neu ist, angesichts der digital beschleunigten Flüchtig- und Reproduzierbarkeit aber an Dringlichkeit gewinnt. Doch auch die Finanzbranchen sind auf bildliche Vermittlung angewiesen, vom Kuchendiagramm beim Anlageberater bis zum Chart am Finanzmarkt. Schließlich wird die ökonomische Praxis durch kulturelle Zeugnisse visuell dargestellt und interpretiert, sei dies durch Damien Hirsts Kalb oder den Wolf of Wall Street. Eine zentrale Frage bleibt bei diesen Überlegungen allerdings außen vor, auch wenn sie ihnen teilweise immanent sein mag: die nach der Rolle des Bildes für das Geld – bzw. das Funktionieren des aktuellen Geld- und damit zusammenhängenden Herrschaftssystems. Spätestens in unseren visuell dominierten massenmedialen Gesellschaften sind die massenmedialen Bilder ein konstitutives Moment des Geldes, und nicht bloß diskursives Begleitrauschen. Das Geld1 bedient sich der Sinnlichkeit der Bilder, um sich selbst und seine Versprechen zu versinnlichen. Damit begegnet es erstens auf effiziente Weise seinem grundsätzlichen Akzeptanzproblem, das sich in der aktuellen historischen Phase jedoch zunehmend verschärft. Zweitens erweitert es dadurch zirkulär seine Macht, insofern die Bildinhalte sinnlich-evident als durch Geld zu verhandelnde oder zumindest mit dem Geld zusammenhängende behauptet werden. Gerade die Werbung lässt sich in dieser Hinsicht als Programm ‚vorbereitender‘ Landnahme verstehen, die eben nicht nur die ganze Welt als Ware, sondern im Umkehrschluss das Geld als allmächtiges (und daher bedingungslos erstrebenswertes) inszeniert. Diese grundsätzliche These soll im vorliegenden Beitrag ausformuliert und mittels historischer sowie aktueller Beispiele untermauert werden.
1Die
metonymisch verkürzte Formulierung „das Geld“ schreibt dem Geld keineswegs Subjekt- oder Akteurstatus zu, sondern meint hier und folgend: die in irgendeiner Form an der Reproduktion des aktuellen Geldsystems interessierten oder schlicht Geld verwendenden, in einer Geldgesellschaft lebenden Akteure. Vgl. dazu: „Das Geld tut gar nichts. Geld ist keine vorhandene Entität – es ist Funktion, kein Ding, das eine Funktion erfüllt.“ (Brodbeck 2012, S. 363).
Das massenmediale Bild als konstitutives Moment des Geldes
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2 Zur These der Entstofflichung Beobachtet man die jüngere Entwicklung des Geldes – von der Goldmünze zur digitalen Zahl –, ist man verständlicherweise versucht, diese als zunehmende Virtualisierung wahrzunehmen. Entsprechende Befunde finden sich in der Fachliteratur zuhauf.2 Die These hält allerdings weder der philosophischen Analyse noch den historischen Fakten stand. Geld ist eine Bedeutung, die sozial hergestellt wird und auf zirkulärer Anerkennung basiert: ich akzeptiere es, weil du es akzeptierst (Brodbeck 2012, S. 348). Dahinter oder darunter gibt es keine Substanz – auch keine stoffliche. Der sogenannte ‚Wert‘ ist kein vom Material abgeleiteter, sondern ein dem Material zugeschriebener (Braun 2012, S. 34). Das Material erfüllt hierbei zwei Funktionen: es dient erstens der Dokumentation und zweitens als Beglaubigungsstrategie. Begreift man Geld als „System von Kredit- und Verrechnungskonten“ (Martin 2014, S. 23), dann stellt die Münze, die als genormte Werteinheit den Besitzer wechselt, weder das einzige noch das erste Modell dar: Im Tempelwesen Mesopotamiens diente Geld vor allem als Rechnungseinheit für Kredite, die auf Tontafeln verzeichnet wurden. Die mediterrane Antike verwendete Pfandbriefe als zirkulierende Währung, bevor die ersten Münzen in Umlauf kamen. Im England Heinrich des II. nutzte man Kerbhölzer und bis ins Hochmittelalter wurde in Europa in römischem Geld gerechnet, auch wenn nur wenige Münzen gab. Die historischen Geldformen genügen selten den klassisch geforderten Eigenschaften (teilbar, transportierbar, haltbar, knapp, begehrt): so bleibt ein hausgrosser Stein auf dem Meeresgrund aktiver Teil des Währungssystems auf der Pazifikinsel Yap – selbst, wenn er nur als Legende verbürgt ist.3 Es scheint daher wenig sinnvoll, eine Virtualisierung von etwas zu konstatieren, das per se virtuell ist. Selbst der Begriff der „Virtualität“ ist
2„Die
gesamte Geldgeschichte ist die Geschichte der Dematerialisierung des Geldes“, Haesler (2011, S. 187); Schnaas spricht davon, dass sich das Geld „über Münzen, Wechsel und Papiergeld allmählich in eine substanzlos-funktionale Geldillusion auflöst“ (2012, S. 31); Winkler versucht den Befund der „Immaterialisierung“ zeichentheoretisch zu differenzieren, bleibt aber bei einem Dreiphasen-Modell vom Gold zum virtuellen Zeichen (2004, S. 37 f.); weiter z. B. Gabriel (2002, S. 22); Ellenbürger und Gregor (2019, S. 2). Mit davon zu unterscheidenden, da im Sinne dieses Textes differenzierten Entstofflichungsthesen arbeiten Braun (z. B. 2012, S. 10) und Hörisch (z. B. 1998, S. 237). 3Tontafeln: Graeber (2014, S. 272); Pfandbriefe: Braun (2012, S. 33); Kerbholz: Graeber (2014, S. 64); keine Münzen: ebd. S. 320 (vgl. auch widersprechende Argumentationen, z. B. Steinbach 2019, S. 205); Steingeld Fei auf Yap: Martin (2014, S. 14).
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zumindest redundant, wenn man Geld als Bedeutungsprozess erkennt. Selbstverständlich realisiert sich diese Bedeutung immer wieder an materiellen Objekten (Brodbeck 2012, S. 41) – dies umso mehr, als die Anerkennung unter bestimmten sozialen Verhältnissen erschwert ist. In dieser Hinsicht kann die Bindung an ein Material als eine von verschiedenen Strategien gelesen werden, diesem Akzeptanzproblem zu begegnen.4 Historisch lässt sich hierbei ein Muster beobachten, das David Graeber folgendermassen beschreibt: „Während Kreditsysteme in Zeiten relativen sozialen Friedens vorherrschend sind oder auch in sozialen Netzwerken, die aus Vertrauensbeziehungen bestehen […], werden sie in Phasen, die durch langwierige kriegerische Auseinandersetzungen und Plünderungen gekennzeichnet sind, durch Edelmetalle abgelöst.“ (2014, S. 271)
Graeber macht für den eurasischen Raum zwei grosse Wellenbewegungen aus, die sich grob in vier Phasen einteilen lassen: 1. Kredit: erste Agrarreiche 3500 bis 800 v. u. Z. 2. Edelmetall: Achsenzeit 800 v. bis 600 n. u. Z.5 3. Kredit: Mittelalter 600 bis 1450 4. Edelmetall: Kapitalistische Imperien 1450 bis 1971 Erst vor diesem ausdifferenzierten Hintergrund lässt sich der These der Entstofflichung insofern zustimmen, als seit über vierzig Jahren wieder ‚virtuelles Kreditgeld‘ vorherrscht. Zwei stark zusammenhängende Entwicklungen sind für diese Argumentation entscheidend: Erstens das Ende des Kalten Krieges und seiner Stellvertreterkonflikte, zweitens das Erstarken sozialer Netze in Form globalisierter Märkte, Banken, Unternehmen, Medien und entsprechender Institutionen, wobei dem Schuldenverhältnis zwischen China und den USA eine zentrale Rolle zukommt (ebd. S. 470; Ferguson 2012, S. 295 f.). Die ‚Virtualität‘ ist nun allerdings eine zweifache: die grundsätzliche des Geldes und die spezifische der Blase. Der Unterschied lässt sich an einem einfachen Beispiel veranschaulichen: in einer Krise ist das Geld auf meinem Konto deutlich unsicherer als mein Bargeld zu Hause – nicht, weil das Bargeld materiell ist, sondern weil der Staat nur für dieses bürgt. Als hoch abstrakter Prozess wird
4„Geld
ist kein Material, sondern aufgeprägtes Vertrauen. Das Trägermaterial scheint kaum eine Rolle zu spielen.“ Ferguson (2012, S. 30). 5Zum Begriff der Achsenzeit bei Graeber (2014, S. 282 f.).
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das Geld immer von einem Akzeptanzrisiko begleitet, dem auf unterschiedliche Weise begegnet wird: durch Edelmetall, durch die Autorität des Staates oder der Religion, durch Anbindung an Grund und Boden, u. s. w. Auch wenn nun diese Strategien selbst wiederum der Akzeptanz bedürfen (Braun 2012, S. 21–25), finden wir uns doch in der historisch partikulären Situation, dass für einen Grossteil der Geldmenge erstens gar keine ‚herkömmlichen‘ Beglaubigungsstrategien vorliegen, und dass ihr zweitens keine wirtschaftliche Leistung entspricht: Schweizer Geld z. B. besteht zu 97 % aus staatlich nicht garantiertem Buchgeld, 80 % des globalen Geldes finden keine Entsprechung in Waren oder Dienstleistungen. Diese Blasenbildung ist historisch nichts Neues – das durch die Deregulierung der Finanzmärkte, die Digitalisierung und entsprechende ‚Produktinnovationen‘ bedingte Ausmass allerdings dürfte einzigartig sein. Das Geld steht also vor einem dreifachen Akzeptanzproblem: 1) der grundsätzlichen ‚Virtualität‘ des Geldes; 2) der Blasenbildung des Buchgeldes nach 1971; 3) der desaströsen Eigenschaften und Auswirkungen des aktuellen Geldsystems für die eklatante Mehrheit seiner Teilnehmer (Verschuldung, Ausbeutung, Armut, Umweltschäden, etc.). Meine These ist nun, dass zu jeder Zeit ein Pluralismus an Beglaubigungsstrategien herrscht, die sich den gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen, und dass in den letzten vierzig Jahren entsprechend eine Gewichtsverlagerung stattgefunden hat, die eine historisch durchaus erprobte Strategie ins Zentrum rückt: die Versinnlichung durch das massenmediale Bild.
3 Die Versinnlichung als Beglaubigungsstrategie Im Mai 1716 wurde in Frankreich die Banque Royale gegründet, die als erste in Frankreich das Recht erhielt, Banknoten auszugeben.6 Initiant und Direktor dieser Bank war der „flüchtige Schotte“ John Law. Der passionierte Spieler war der Überzeugung, Geld basiere lediglich auf Vertrauen, weshalb Papiernoten ebenso gut funktionieren sollten wie Edelmetallmünzen. Mit diesem Vorschlag war er bei mehreren Regierungen gescheitert, bis sich schliesslich im von Louis XIV. ruinierten Frankreich eine scheinbare Übereinstimmung von Interessen ergab. Gemäss Laws „absolutistischer Finanztheorie“ sollte die Bevölkerung ihre
6Zu
diesem Abschnitt: Ferguson (2012, ab S. 123).
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Steuern in Noten bezahlen, sodass sie automatisch in die Bank investierten. Derart würden die Staatsfinanzen konsolidiert, während das Papiergeld den Handel anregt. Eine Schlüsselrolle in diesem System bildete die Compagnie d’Occident, die das Monopol für den Handel mit dem Kolonialterritorium Louisiana innehatte, und der ebenfalls John Law vorstand. Unabhängig von Herkunft und Stand wurde die gesamte Bevölkerung angehalten, in die Aktien der West-Kompanie zu investieren – mit Banknoten. Auf diese Weise würde der Regierung noch mehr Edelmetall zufliessen, während die Geldscheine über den Weg des Aktienerwerbs ebenfalls zum Staat (bzw. zu Law) zurückkehrten. Ausgabepreis, Kurs und Dividenden hätten sich durch zukünftige Gewinne rechtfertigen sollen, doch Louisiana war ein mückenverseuchtes Moor. Law hielt die Aktie deshalb künstlich attraktiv, indem er – als Direktor der Kompanie – neue Aktien ausgab, und dafür – als Direktor der Bank – grosszügige Kredite verlieh. „Es war so, als würde ein und derselbe Mann die 500 amerikanischen Spitzenunternehmen, das US-Finanzministerium und die US-Notenbank leiten. […] Aktionäre konnten sich, mit ihren Aktien als Sicherheit, Geld leihen, das sie dann in weitere Aktien investieren konnten.“ (ebd., S. 129 f.)
Die weitere Entwicklung ist voraussehbar: nach Euphorie, Manie, Inflation, Panik und etlichen Winkelzügen Laws musste die Blase platzen. Im Dezember 1720 floh er aus dem Land. Die Episode Law ist fester Bestandteil der neueren Geldgeschichte, deren Faszination sich aus den „Einbildungen“ und „Chimären“ (ebd. S. 135) nährt, auf die sie gebaut ist. Diese Wortwahl ist nicht zufällig, bildet doch eine visuelle Praxis tatsächlich einen Grundstein dieses Luftschlosses: Nebst dem vertrauensstiftenden Design der Wertpapiere wurden aufwändige Karten und Bilder hergestellt, um Louisiana als erfolgsversprechende Investition zu präsentieren. Dies war – zumindest in der Anfangsphase – für das ganze Konstrukt entscheidend: „Deshalb wandte Law viel Zeit und Mühe auf, um ein rosiges Bild der Kolonie zu verbreiten, das sie als einen veritablen Garten Eden präsentierte, in dem freundliche Wilde lebten, die sich danach drängten, eine Fülle von exotischen Gütern zur Verschiffung nach Frankreich zu liefern.“ (ebd., S. 129)
Abb. 1 führt uns ein solch „rosiges Bild“ unmittelbar vor Augen. In leuchtenden Farben wird hier ein umtriebiger Hafen gezeigt, in dem ein vielversprechender Handel spriesst: Reich geschmückte Eingeborene tauschen ihre Waren mit gut gekleideten Franzosen, marine Blautöne frischen das gesund-goldene Ocker der indigenen Haut auf, die prallen Palmen, die Stadt im Hintergrund, alles ist
Abb. 1 Ein Gemälde aus dem Jahre 1721 zeigt den Handel der Franzosen mit den Indigenen am Mississippi und versinnlicht damit die Profitversprechen der Compagnie d’Occident. (Quelle: „Le Commerce que les Indiens du Mexique font avec les Francois au Port de Mississippi“, ca. 1721, Louisiana Digital Library, letzter Zugriff: 13.02.2020)
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überbordende Fülle unter einem freundlichen Himmel. Das Bild versinnlicht die Fruchtbarkeit der Kolonie, die strahlende Zukunft der West-Kompanie – und damit das Profitversprechen der Aktie. Mit Versinnlichung wird zunächst grundsätzlich die psychologische Notwendigkeit angesprochen, dass das abstrakte Geld sinnlich-emotionaler Momente bedarf. Dieses Erfordernis bleibt eine Behauptung, auch wenn es einerseits vielfach vorausgesetzt oder impliziert wird und andererseits auf Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen bauen kann.7 Etwas vereinfacht ausgedrückt: das sinnlich-emotionale Wesen Mensch glaubt nichts, was es nicht zuweilen sinnlichemotional erlebt. Der Begriff „Versinnlichung“ ist absichtlich breit gehalten und bezeichnet ein Spektrum, das von prinzipiell sinnlicher Wahrnehmung über sinnliche Unmittelbarkeit und Evidenz bis zu ästhetischem Erleben, Genuss und Lustgewinn reicht. Hinsichtlich des Geldes wird die Versinnlichung wesentlich auf zwei Weisen geleistet: erstens durch das tatsächliche Einhalten seiner Versprechen und Erzählungen: ich spare für ein saftiges Kotelett und kann es dann auch wirklich kaufen und sinnlich geniessen; zweitens durch mediale Inszenierung derselben.8 Das Geldmaterial ist eine Form solch medialer Versinnlichung. Der tägliche Umgang mit Münzen und Noten prägt die Vorstellung von Geld weiterhin stark. Das Bargeld versichert mir seine Existenz, ich kann es sehen, riechen, betasten, es hat eine spürbare Wertigkeit, und ich müsste (kriminellen) Aufwand betreiben, es zu vernichten. Hierbei ist seine heutige Form schon das Resultat vielfacher ‚innermedialer‘ Gewichtsverlagerungen. So garantierte das aufgeprägte Bild von Anfang an die Geltung der frühesten Münzen, zumal diese schon innerhalb
7Bspw.
Braun (2012, S. 279 f.); Brodbeck (2012, S. 319 und S. 883); Gabriel (2009, S. 265); für die Relevanz von (sinnlichen) Emotionen für Kognition und Gedächtnis, siehe z. B. Roth (2011, S. 180 f.). 8Mit Brodbeck ließe sich hier zu Recht kritisieren, dass das Geld nicht das Kotelett verspricht, sondern lediglich die Anerkennung des Gegenübers (2012, S. 347) – die wir in der Geldverwendung täglich sinnlich erleben. Man darf dennoch davon ausgehen, dass die jeweilig subjektive ‚Geldmotivation‘ bspw. an ein Kotelett gebunden ist. Mit Versprechen und Erzählungen sind zudem nicht nur ‚positive‘ Kaufwünsche gemeint, sondern eine komplexe Gemengelage von Narrativen, die bspw. auch moralistische Katharsis-Momente (das böse Geldsubjekt im Film, das am Ende seine gerechte Strafe erhält), Rationalisierungen (das Kuchendiagramm des Anlageberaters) oder Sanktionierungen (Bilder des Elends als Folge von Geldlosigkeit) beinhalten.
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weniger Jahrzehnte begannen, vom Materialwert abzuweichen9. Gabriel fragt in seiner ausführlichen Studie zur Ästhetik und Rhetorik des Geldes, inwiefern z. B. das mangelnde Gewicht der Kupfermünzen zu einer Wirkung der Minderwertigkeit und damit zur deutschen Hyperinflation beigetragen hat (2002). Aus dieser Möglichkeit der Versinnlichung durch das Material folgt notwendig, dass mit dem Wegfall des Materials auch ein Wegfall der Sinnlichkeit einhergeht. Davon ausgehend, dass dies die einzige Möglichkeit der Versinnlichung sei, führte dies verschiedentlich zum Missverständnis, wir befänden uns generell in einer Phase der Entsinnlichung des Geldes, ja sie sei dem Geld als Gesetzmässigkeit gar inhärent. Gabriel schreibt: „Mit dem sinnlichen Geld verschwindet die Möglichkeit, die Ästhetik rhetorisch einzusetzen, um die Geldillusion zu erzeugen.“10 Dem muss insofern widersprochen werden, als eben die wegfallende Versinnlichung durch andere mediale Bereiche aufgefangen werden kann. Die Digitalisierung bspw. bedeutet eben nicht nur virtuelle Zahlen, sondern auch eine exponentielle Zunahme von Bildern. Selbstverständlich wird hierbei eine spezifische Art der Versinnlichung durch eine andere ersetzt, sodass z. B. haptische zunehmend durch optische Erfahrungen verdrängt werden. Dies jedoch ist keine prinzipielle Entsinnlichung, sondern eine Verlagerung innerhalb des sinnlichen Spektrums.
4 Die Versinnlichung durch das massenmediale Bild Die mediale Versinnlichung zielt in erster Linie darauf ab, die Versprechen, Erzählungen und Beglaubigungsstrategien des Geldes durch Medien sinnlich erfahrbar zu machen. Dass dies heute vor allem visuell geschieht, hat unterschiedliche Gründe: Das Bild als ‚reine Qualität‘ ist dem Geld als ‚reine Quantität‘ diametral entgegengesetzt: es kann sinnlich zeigen, was das Geld stets nur abstrakt zu
9Braun
(2012, S. 28). Zur Rolle der ikonografischen und ästhetischen Mittel für die Akzeptanz von Münzen im Mittelalter: Steinbach (2019, S. 296). 10Gabriel (2002, S. 22); ignoriert hier auch die Möglichkeit, sich unliebsamer rhetorischer Effekte des „sinnlichen Geldes“ zu entledigen: virtuelles Geld fault nicht, es kann weder verbrannt noch sonst zerstört werden, es ist weit schwieriger zu stehlen oder umzuverteilen, und es kann leichter zurückverfolgt, verschoben, neu-investiert und einer Person zugewiesen werden – es ist im Platonischen Sinne realer als materielles Geld.
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behaupten vermag. Der Mensch nimmt seine Umwelt zu 80 % über die Augen wahr. Dass zudem die Vorstellungskraft stark visuell funktioniert, darauf verweist nicht nur die klassische Rhetorik mit ihren Konzepten der evidentia und enérgeia,11 sondern auch die Praxis der zeitgenössischen Medien, die sich mittlerweile ausnahmslos der visuellen Präsenzherstellung und Beweisführung bedienen.12 Allen voran die Werbung offenbart sich hier als paradigmatische Praxis, das Geld erstens „mit Begehren (zu) überladen“ (Heidenreich und Heidenreich 2008, S. 38), und dieses zweitens visuell-sinnlich greifbar zu machen. Es ist demnach nur folgerichtig, dass die unterschiedlichen Akteure zur Veranschaulichung von Lust, Leid und sonstiger Geldwirkungen auf Bilder zurückgreifen. Selbstverständlich lassen sich auch interessegeleitete ‚Invisibilisierungstendenzen‘ beobachten, bspw. hinsichtlich der Nachteile, die sichtbarer Reichtum birgt – sodass Liechtenstein einen denkbar starken architektonischen Kontrast zu Dubai abgibt (Oswalt 2011, S. 111). Es wäre jedoch verfehlt, in diesen Bemühungen einen Widerspruch zur Versinnlichung zu sehen. Vielmehr liegen diese Sichtbarkeitsstrategien an der Basis des visuell-rhetorischen Kalküls, welches das eine zeigen, das andere verbergen will – oder präziser: das eine zeigt, um das andere dahinter verbergen zu können. Genau diese Figur liegt ideologiekritischen Konzepten wie Verblendung, Verbrämung oder Fetisch zugrunde und weist diese zumindest teilweise als rhetorische aus. Ein letzter Grund, die Versinnlichung präferiert über massenmediale Bilder zu gewährleisten, liegt in ihrer ökonomischen Effizienz: geht es darum, eine möglichst glaubhafte Illusion zu erzeugen, ist die Aufwand-Ertrag-Relation aktueller bildgebender Verfahren nicht zu übertreffen – das zeigt nicht zuletzt der Siegeszug von Hollywood und Werbung. Für das Geld bedeutet dies, die materiellen Versprechen nicht wirklich einhalten zu müssen – zumal sie in vielerlei Hinsicht gar nicht mehr einzuhalten sind: an die Stelle des realen Koteletts tritt ein
11Ueding
und Steinbrink (2005, S. 285); damit ist einerseits das bildhafte Sprechen, andererseits aber auch das konkrete Zeigen angesprochen: man denke an Cäsars Umhang, Colin Powells Satellitenbilder oder O.J. Simpsons Handschuh. 12Präziser müsste man von einem Wechselverhältnis sprechen: gerade der Einzug der Fotografie in die Massenmedien hat dazu geführt, dass nur noch das Sichtbare als Wirklichkeit akzeptiert wird, und daher umgekehrt die Wirklichkeit immer sichtbar zugerichtet werden muss (Büttner 2019, S. 38 f.). Das würde die These der Notwendigkeit der Bilder für das Funktionieren des Geldes untermauern.
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Abb. 2 Der Rapper Drake mit einem Freund in einem Stripclub, auf den Schultern Packen von 1-Dollar-Scheinen, die auch schon den Boden bedecken. (Quelle: „Drake at a Strip Club (25 Pics)“, 2013, www.acidcow.com, letzter Zugriff: 13.02.2020)
Werbeplakat, an die Stelle der realen Frau tritt ein Musikvideo – und selbst an die Stelle des schon medialen Geldpapiers treten Bilder desselben. So dokumentiert der millionenschwere Rapper Drake einen Stripbesuch auf Instagram, und wirft bezeichnenderweise mit 1-Dollar-Scheinen um sich – weil eben hier die sinnliche Wirkung des Haufens wichtiger ist als der abstrakte Betrag (Abb. 2). Dasselbe gilt für unzählige Covers, Videos und Filme. In diesen medial versinnlichten Versprechen wäre zumindest eine Antwort auf die erwähnte Frage zu suchen, weshalb Menschen durch ihre Geldverwendung weiterhin ein Geldsystem akzeptieren, welches ihnen vorwiegend schadet. Hinsichtlich des Bildes vollzieht das abstrakte Geld eine zweifache Vereinnahmung: erstens seiner Sinnlich- und Bildlichkeit und zweitens der durch das Bildmotiv reklamierten Bereiche und Themen. Damit kommen wir zum zentralen Punkt der vorliegenden Argumentation: Bilder sind ein konstitutiver Bestandteil des Geldes. Spätestens seit der frühen Neuzeit sind Bilder nicht lediglich ein kulturelles Nebenprodukt, welches das ‚wahre‘ (meint materielle) Geld als Begleitmelodie untermalt, vielmehr tragen sie massgeblich zum Denken über, zum Handeln mit, zur Funktionsweise und damit zur Akzeptanz von Geld bei. Bilder sind schon rein
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deshalb konstitutiv, weil sie uns dauernd (und sinnlich) dazu anhalten, in Geld zu denken, was letztlich allein Geld erzeugt.13 Damit ist eine dialektische Begleitbewegung angesprochen, die auf den ersten Blick paradox erscheint. Die Versinnlichung des Geldes durch den Bildgebrauch ist immer auch eine Entsinnlichung, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits sprechen Bilder nur den visuellen Sinn an, und eben nicht den Geschmacks-, Geruchs- oder den Tastsinn wie z. B. im Falle der Münze. Andererseits formt das Bild als Relation beide darin verbundenen Relate, lässt uns also nicht nur im Geld versinnlichend die Möglichkeit eines köstlichen Essens, sondern im köstlichen Essen auch abstrahierend (oder kalkulierend) einen Geldbetrag sehen. Diese Tendenz wohnt dem Geld per se inne, wird aber durch die landnehmenden Behauptungen der Bilder massiv erweitert: auch das noch nicht Monetarisierte wird auf dem Bild als Monetarisiertes vorgestellt.14 Fern von Kulturpessimismus darf man darin zumindest das Risiko eines Teufelskreises gewahren.
5 Geld, Bild, ästhetische Wirkung Auch wenn diese These als vorsichtiger Vorschlag verstanden werden möchte, darf man sich doch über ihr spätes Erscheinen wundern.15 In den Bildwissenschaften und den visual culture studies stellt das Geld geradezu einen blinden Fleck dar (von einigen jüngeren Ausnahmen abgesehen), was bei der sonstigen Sensibilität für herrschaftliche Diskurse (Gender, Postkolonialismus, Waren-
13Brodbeck
(2012 (nach Oswald Spengler), S. 342). hier zeigt sich die Werbung als utopische Fiktion des Kapitals. Obenstehender Befund gilt allerdings nicht nur für die Werbung, sondern kann auch ex negativo als Kritik auftreten: wenn z. B. in einem Film eine Liebe als von Geldinteressen geleitete dargestellt wird. Generell stellt sich die Frage, ob die Ausbreitung jeglichen Paradigmas auf andere Bereiche nicht immer auch eine Monetarisierung oder kapitalistische Landnahme bedeutet, wenn dieses Paradigma selbst exklusiv über Geld verhandelt oder für sich schon kapitalistisch gedacht wird – also: ist z. B. die Medikalisierung der Gesellschaft inhärent eine Monetarisierung, weil Medikamente (etc.) Geld kosten. Das Gleiche liesse sich für Big Data, den Darwinismus oder eben die Bilderflut fragen. 15Implizit angedeutet ist sie bspw. bei: Braun (2012, S. 279); Brodbeck (2012, S. 934 und 1010); Fohrmann (2019, S. 165); Weiss (2019, S. 129); Künzel (2019, S. 94); Heidenreich und Heidenreich (2008, S. 52–54); u. a. 14Auch
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spektakel, etc.) doch etwas überrascht.16 Der These am nächsten kommen Crosthwaite et al., die in ihrem Band über „the image of finance“ schreiben: „The cultural and aesthetic artefacts […] play an active role in constituting those realities [of financial exchange]. […] (V)isual media have shaped how professionals and lay people alike perceive and act in the market; and since the market is nothing more than these perceptions and actions, they have shaped the market itself, too. […] (M)arkets are both mediated and, at least partially, made by visual and verbal rhetorics […].“ (2014, S. 1)
Diese Erkenntnisse hinsichtlich des Marktes gelten noch stärker für das Geld, dessen Wesen die soziale Geltung, die zirkuläre Anerkennung, der Schein ist (Brodbeck 2012, S. 338). Mit „visual rhetorics“ wird zudem die Frage berührt, mit welch Augenmerk und Methode sich eine zeitgemäße Politische Ökonomie – die eben zwingend auch eine kulturelle sein muss – diesen massenmedialen Bildern zu nähern hätte. Die Autoren schreiben weiter: „(I)f visual representations […] have highly consequential economic effects, then the ideological assumptions encoded in such representations matter profoundly, and the field of representation emerges as a primary site of political struggle. The task of the cultural economist is, then, to chart this field and identify the representational strategies via which dominant power structures have been entrenched […].“ (Crosthwaite et al. 2014, S. 3, Auszeichnung SK)
Der Begriff Repräsentation ist allerdings mit dem Risiko verbunden, die zentrale Qualität des Bildes zu verfehlen. Die wenigen mir bekannten Bildstudien des Geldes17 weisen zwei methodische Mängel auf: Sie schwenken erstens ab der
16Der
Band Bildwissenschaft (Sachs-Hombach 2005) kennt gar keine Ökonomie, das Interdisziplinäre Handbuch zum Bild erwähnt das Geld nur marginal (Günzel und Mersch 2014, S. 146), in den Einführungen und Readern zur Visual Culture wird höchstens das Warenspektakel der Werbung thematisiert (z. B. Mirzoeff 1999, Cartwright und Sturken 2009), ebenso in der deutschen Einführung (Rimmele und Stiegler 2012). Entsprechend konstatieren Crosthwaite et al.: „There have, however, been very few attempts to grasp the integral importance of visual culture to both the operation of finance itself and a critical questioning of some of its assumptions and practices.“ (2014, S. 2). 17Z. B. Musée de la Poste (1992); Pircher (2000); Harten und Ehling (2000); Schweizerische Nationalbank (2002); Holten (2016); Capeloa Gil und Gonçalves da Silva (2018); Eine Ausnahme bieten zumindest teilweise die Beiträge in Lim (2013) und Ellenbürger und Gregor (2019). Arbeiten zur Ästhetik und Ikonografie von Münzen und Banknoten sind hier nicht gemeint.
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Moderne in die freie Kunst ab und befragen nicht massenmediale Bilder aus Werbung, Politpropaganda und Unterhaltungsindustrie – d. h. sie folgen hinsichtlich Bildgebrauch und -funktion nicht kontinuierlich der primär instrumentell eingesetzten Auftragskunst (so hat ein Renaissance-Gemälde bspw. mehr gemein mit einem H&M-Plakat als mit zeitgenössischer Konzeptkunst). Zweitens – und dies scheint mir ein verbreitetes Problem in mit Bildern beschäftigten Disziplinen – wird zu sehr oder gar ausschliesslich auf Motive, Inhalte, Erzählungen, Bedeutungen fokussiert. Das mag damit zusammenhängen, dass selbst Kunsthistoriker Menschen bleiben, die sich vorwiegend mit Texten beschäftigen und Texte produzieren. Ein Bild ‚lese‘ ich aber nicht, ich sehe es zuerst einmal, ich nehme es wahr – auch und vor allem affektiv, emotional. Die Analyse dieser das Geld mittragenden Bildlichkeit muss sich daher auf die ästhetischen Stilmittel und die damit intendierte sinnlich-visuelle Wirkung richten – sie ist die spezifische Leistung des Bildes, die anderen Bedeutungsträgern abgeht. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Banknoten (allen voran die Schweizer). Die Banknote ist ein Bündel wirkungsintentionaler ästhetischer Massnahmen, die eine ökonomische Realität konstituieren. Was das Bild „repräsentiert“ ist tatsächlich zweitrangig, viel wichtiger ist wie es dargestellt wird: man kann sich auch einen Kolibri oder eine Dampfwalze auf dem Dollar vorstellen, eine lieblose Kugelschreiber-Skizze von Washington auf einem 80 g-Recycling-Papier jedoch nicht. Vielleicht hat Jochen Hörisch (nicht nur postmodern) auch daran gedacht, als er feststellte, die Ästhetik werde in der „monetären Moderne“ zur „‘diensthabenden‘ Fundamentalphilosophie“ (Hörisch 1998, S. 304). Ich möchte keinesfalls auf Semiotik, Ikonografie, etc. als komplementäre Instrumente zum Verständnis von Bildern verzichten, sondern lediglich behaupten, der Haupteffort der Bildproduktion – die Arbeit von Fotografen, Illustratoren, Grafikern, Designern, Filmemachern, usw. – liegt im ‚vor-semiotischen‘ Bereich der Stilmittel, Wirkungen und Affekte. ‚Lesen‘ lässt sich das Bild erst zu einem verhältnismässig späten Zeitpunkt – man übersieht das Entscheidende, wenn man sofort zur Bedeutung springen will. Ein konkreter Ansatz, die Wirkungen von Bildern und visuellen Medien zu analysieren ist die Visuelle Rhetorik, wie sie an der Hochschule der Künste Bern HKB seit über zehn Jahren entwickelt und praktiziert wird (Scheuermann 2017; Schneller 2017). Kommunikationsdesign (also auch Bildproduktion und -gebrauch) wird hierbei verstanden als regelbasierte Anwendungsästhetik, die mit dem Einsatz von Stilmitteln Wirkungsintentionen verfolgt. Dieser Schule angesiedelt ist das Projekt „Geldschein – zur visuellen Rhetorik des Geldes“, innerhalb dessen ich vier Bereiche massenmedialer ‚Geldbilder‘ untersuche: Banken- und Versicherungswerbung, Titelblätter von investigativen Zeitschriften,
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Abb. 3 Beispiele aus dem untersuchten Bildkorpus: Eine Werbung der Zürcher Kantonalbank. (Quelle: Inserat Finanzberatung der Zürcher Kantonalbank 2012)
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Abb. 4 Beispiele aus dem untersuchten Bildkorpus: ein Titelblatt der Zeitschrift Spiegel. (Quelle: Titelblatt Zeitschrift „Der Spiegel“, Nr. 48, November 2011)
Musikcovers und Banknoten – alle aus den Jahren 2006 bis 2015 (Abb. 3, 4, 5 und 6). Die Fragen der Wirkung, der Bedeutung und der Politischen Ökonomie werden in der Forschungsfrage zusammengeführt: Welche Erzählungen über Geld kommunizieren diese Bilder, und mit welchen visuell-rhetorischen Mitteln und Wirkabsichten tun sie dies? Die Macht des Geldes wird dabei nicht nur von den warm belichteten Zukunftsversprechen der Banken genährt, sondern ebenso von der zynischen Umarmung der Geldgier auf dem Rapcover oder der kathartischen Anklage suspekter Unternehmer auf dem Spiegel. Das im ersten Absatz umrissene vielgestaltige Zusammenspiel von Geld, Ästhetik, Kapital, Emotion, Kultur und Wirtschaft schlägt sich auch im Wissensbereich nieder – eine stetig wachsende creative economy (und entsprechend florierende Ausbildungen, Ratgeber, Stellenprofile, Kompetenzen) wie auch ein akademischer Trend zur Emotionsforschung untermauern dies. Das Risiko, als Herrschaftswissen verstanden, verwendet, missbraucht zu werden (oder gar zuerst als angewendetes Herrschaftswissen zu existieren) eignet jedem Wissen
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Abb. 5 Beispiele aus dem untersuchten Bildkorpus: ein Albumcover des US-Rappers Kendrick Lamar. (Quelle: Albumcover „To Pimp a Butterfly“ von Kendrick Lamar 2015)
– allerdings scheint es mir gerade bei den vorliegenden Befunden besonders hoch. Folglich erweist sich die An- und Einbindung in eine Politische Ökonomie und ein emanzipatorisches, genuin demokratisches Projekt als zwingend – ansonsten riskiert man, lediglich am kapitalistischen Machtgefüge mitzuarbeiten. Crosthwaite et al. schreiben dazu: „If cultural economy is to register fully the vast inequalities that are the ultimate consequences of the ‘culture of finance’ it must position itself as an ally of political economy, and not as an alternative to it.“ (2014, S. 3)
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Abb. 6 Beispiele aus dem untersuchten Bildkorpus: die neue 10-Franken-Note der Schweiz. (Quelle: Rückseite der neuen 10-Franken-Banknote, Schweizerische Nationalbank, Ausgabe Oktober 2017)
Diese m. E. zwingende Forderung beinhaltet auch, die Verschränkungen von kultureller und politischer Dimension der Wirtschaft präzise zu benennen und kritisch zu analysieren. Das massenmediale Bild als Moment der Vergesellschaftung (und Herrschaft) durch das Geld zu denken, scheint mir ein fruchtbarer Ansatz hierfür.
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„Bildnerisches Denken“ als Wissensform der Ökonomie? Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst Steffen W. Groß Zusammenfassung
In welcher Beziehung steht Wissenschaft zur Kunst, wissenschaftliches Wissen zu menschlicher Erfahrung? Der Autor beschreibt das Konzept der Ästhetik, das Alexander Baumgarten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Gegenposition zum neuzeitlichen Rationalismus (auf dem auch die neoklassische Mikroökonomie ruht) entworfen hat und stellt dies in Bezug zum „Bildnerischen Denken“ bei Paul Klee. Dieses markiert einen gestalterischen Erkenntnisprozess, der auch in den Wissenschaften stattfindet, wenn sie (wie Alfred Marshall) Weltbilder entwerfen und handlungsorientierende Geschichten schreiben. Schlüsselwörter
Ästhetik · Alexander Baumgarten · Alfred Marshall · Kunst und Wissenschaft · Weltbilder
S. W. Groß (*) Institut für Wirtschaftswissenschaften, Brandenburgische Technische Universität Cottbus – Senftenberg, Cottbus, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_11
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1 Vorbemerkung Das Wissen der Ökonomik steht seit längerem in der Kritik, in der Kritik von außen wie innerhalb der Disziplin. Einige Beobachter, wie FAZ-Autor Philip Plickert (2016), sehen die Ökonomie gar in einer Sinnkrise gefangen. Diese speist sich aus dem Verlust an praktischer Relevanz des Faches, daraus, dass sich zwischen ökonomischer Theorie und politisch-ökonomischen Gestaltungserfordernissen eine weite Kluft aufgetan hat: „There is a growing feeling, among those who have the responsibility of managing large economies, that the discipline of economics is no longer fit for purpose. It is beginning to look like a science designed to solve problems that no longer exist.“ (Graeber 2019, S. 52)
Es sind mithin die Formen der Wissensproduktion und -reflexion, ihre Quellen und die Methoden sowie der Wissensfortschritt in der Ökonomik, die als fragwürdig angesehen werden. Damit aber sind sie der Befragung auch würdig. Mein Beitrag nimmt diese Lage als Herausforderung an und möchte einige – durchaus vorläufige und unabgeschlossene – Überlegungen zum Wissen der Ökonomie und der Ökonomen vorstellen und diskutieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Herstellung einer Verbindung, die m. E. besonderes Anregungspotential bereitzuhalten verspricht: die Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen wissenschaftlicher Rationalität und künstlerischer Intuition, zwischen Erkennen, Wissen und Gestalten. In diesem mit großen politischen Jubiläen so überaus reich bestückten Jahr 2019 gerät ein besonderer Jahrestag fast aus dem Blick: einhundert Jahre Bauhaus und damit Grund genug, sich darauf zu besinnen, dass Bauhaus nicht nur neue Formen in Design und Architektur bedeutete, sondern ebenso in der Wissenslehre, im Wahrnehmen und Denken. Bieten sich hier eventuell Anknüpfungspunkte, um auch die epistemische Situation der Ökonomie besser zu verstehen? Mindestens zwei das Bauhaus prägende Persönlichkeiten könnten für diesen möglichen Zusammenhang von Interesse sein: Paul Klee und Wassily Kandinsky, der übrigens vor seiner Karriere als Maler und Lehrer am Bauhaus als Nationalökonom und Jurist begann. Mit dem von Klee und Kandinsky am Bauhaus entwickelten und dort in der Lehre erprobten „Bildnerischen Denken“ entsteht ein überaus spannender und ambitionierter Ansatz der Verbindung von Denken und Bilden, eine Theorie des Wahrnehmens, Erkennens und des Wissens, die die traditionelle Hierarchie von Kunst und Wissenschaft nicht nur infrage stellt, sondern selbstbewusst umzukehren beabsichtigt: nun ist Kunst nicht mehr
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der bisweilen abschätzig belächelte, als irrational bezeichnete Gegenpol zur Wissenschaft. Vielmehr möchten Klee, Kandinsky, Mondrian, Moholy-Nagy und andere zeigen, dass die Kunst ihrerseits Vorbildfunktion für die Wissenschaften und ihre Verfahren übernehmen kann und dazu bereit ist. Klee bringt diese neuen Verhältnisse recht selbstbewusst zum Ausdruck, wenn er 1920 in seiner Schöpferischen Konfession den Lesern nichts weniger verspricht, als sie mitzunehmen auf eine „Reise ins Land der besseren Erkenntnis“ (Klee 1971, S. 80). „Bessere Erkenntnis“ – haben Ökonomen, hat die Ökonomik als Wissenschaft hierfür Bedarf? Zunächst scheint kaum etwas dafür zu sprechen. Noch immer gilt die Volkswirtschaftslehre vielen als die „Königin der Sozialwissenschaften“, als die wissenschaftlichste unter den Disziplinen vom Menschen und seinen gesellschaftlichen Einrichtungen (vgl. Fourcade et al. 2015). Der zweifellos größere Teil der Volkswirte sieht in der Ökonomik eine positive Wissenschaft und folgt darin – erklärtermaßen oder unreflektiert – der Methodologie Milton Friedmans, die sich dadurch immer wieder neu als überaus wirkmächtig erweist. Danach studieren Ökonomen wirtschaftliche Tatbestände und produzieren vor dem Hintergrund eines Selbstverständnisses als „reiner Wissenschaft“ positives Wissen über die Funktionsweisen der Volkswirtschaft. Folgt man den Einführungskapiteln der gängigen Standardlehrbücher, dann sieht es ganz danach aus, als sei die Einteilung der Volkswirtschaftslehre in positive und normative Ökonomik ein Axiom, eine Wahrheit, die keines Beweises mehr bedarf. Doch sind damit die Tätigkeit der Ökonomen wie auch die epistemische Situation der Volkswirtschaftslehre adäquat erfasst? Zweifel daran sind allemal und bereits seit längerem angebracht. So hat u. a. David Colander (1992) in einem Aufsatz für das Journal of Economic Perspectives die Gültigkeit der schon klassisch zu nennenden Dualität von positiver und normativer Ökonomie infrage gestellt und den Verlust des Selbst-Verständnisses von Ökonomie als „art“, als Kunstfertigkeit beklagt (vgl. auch Colander 2001). Vor dem Erfahrungs-Hintergrund der in mehrfacher Hinsicht keineswegs ausgestandenen Finanz-, Wirtschafts- und politischen Krise der Jahre 2008 ff. erhält diese Kritik nicht nur neue Aktualität, sondern vor allem konkret-praktische Brisanz. Ökonomisches Wissen, die Formen, Quellen und Methoden der Wissensproduktion sehen sich einer Situation gegenüber, die das zur Regel werden lässt, was bis vor kurzem noch als seltene Ausnahme, wenn nicht gar als vollkommen unvorstellbar galt (Roubini 2016). Daraus entspringt eine fundamentale Herausforderung und mithin die Aufgabe einer Neuorientierung der Bemühungen um ökonomisches Wissen. David Colanders Voraussage, dass „economists’ failure to distinguish the art of economics as a separate branch from positive and normative economics
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would lead to serious problems“ (Colander 1992, S. 192) hat sich (leider) eindrucksvoll bestätigt. „Krise ist“, so Max Frisch 1970 in einem Brief an seinen Schriftstellerkollegen Uwe Johnson, „ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ (Johnson und Frisch 1999). In der Tat, das altgriechische Wort krisis hatte ursprünglich nicht die ängstigende, katastrophische Bedeutung, die wir ihm heute beizulegen pflegen. Vielmehr stellt uns die Situation der Krise die Aufgabe der Überprüfung des bislang verfolgten Weges und verlangt sodann, die Entscheidung für einen anderen Weg zu treffen, der der Lage eher gerecht zu werden verspricht (vgl. Menge und Güthling 1910, S. 333). Vielleicht kann es ja der Weg zur „besseren Erkenntnis“ sein, den Paul Klee (1971) mit seinem Bildnerischen Denken versprach. Zugespitzt gefragt: Können Ökonomen und Ökonomik von Künstlern und Kunst etwas lernen, was ihnen hilft, aus epistemologischen Sackgassen herauszufinden und dabei, sich in ihrem Tun selbst besser zu verstehen? Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, von Künstlern und Wissenschaftlern, ist seit jeher dynamisch und von Spannungen durchzogen. Der folgende knappe Überblick über die wichtigsten Einstellungen und ihre Umbrüche soll dies in knapp-prägnanter Form vor Augen führen.
2 Verhältnis(se) von Wissenschaft und Kunst 2.1 Antike Voreinstellungen: Die dynamische Spannung aus Komplementarität und Hierarchie Die Welt des antiken Griechenlands, Aristoteles kann als Gewährsmann dienen, sah Künste und Wissenschaften in enger Verbindung zu- und miteinander. Dem Grunde nach bestand kaum ein Gegensatz zwischen Kunst und Wissenschaft, weil Kunst bereits von vornherein durch eine bestimmte Art von Wissen (mit-) bestimmt war. Als „Kunst“ (techné) wurden jene Fähigkeiten angesehen, die es ermöglichen, auf der Basis folgerichtiger Überlegungen praktisch etwas zu bewirken. Kunst ist damit eine wissensbasierte und -geleitete praktische Fertigkeit, die denkerisches Überlegen und praktisch-gestalterisches Tun notwendig miteinander verbindet. Kunst kann sodann der rationalen Wissenschaft nicht als irrationaler Gegenpol gegenübergestanden haben, da sie sich selbst als rationales Können ausweist. Der aber dennoch gemachte Unterschied zwischen Wissenschaft (epistemé) und Kunst (techné) begründet sich daraus, dass der Wissenschaftler als théoros in erster Linie distanziert betrachtend
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und nachdenkend1 (diese Bedeutung ist im auf uns überkommenen Fremdwort „theoretisch“ immer noch enthalten) vorgeht und dabei auf die Erkenntnis verallgemeinerbarer Zusammenhänge aus ist, während der Künstler konkret herstellend-hervorbringend (poietisch) orientiert ist. Bei aller faktisch vor liegenden Komplementarität beider Formen menschlicher Aktivität dachte bereits das antike Griechenland das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst allerdings nicht als gleichgewichtig, sondern als klare Hierarchie. Wissenschaft im Sinne von theoria ist das höchste und wenn sich Kunst nun ihrerseits auf dieses Höchste hin orientiert, dann kann sie dadurch Anteil daran gewinnen, was einer Rangerhöhung gleichkommt. Mithin haben wir es mit dem Primat und Vorbild des Wissens in und für alle Dinge der Kunst zu tun.
3 Renaissance: Künstler als sinnliche Intellektuelle Die Renaissance hält an den antiken Voreinstellungen grundsätzlich fest und stärkt sie weiter. So wollte Leonardo da Vinci, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 500. Male jährt, in erster Linie als Wissenschaftler gesehen werden und weniger als Künstler, wie er auch selbst die Künste zuvorderst aus der Perspektive und mit der Haltung des Wissenschaftlers wahrnahm.2 In der Renaissance nun werden einige vordem als Handwerk angesehene Tätigkeiten wissenschaftsförmig. Der vom antiken Denken vorgezeichnete Aufstieg der Kunst wird nun praktisch ins Werk gesetzt – und er gelingt. Allen voran gilt dies für die Malerei, die durch Schriften wie jene von Cennino Cennini (1871) und Leon Battista Alberti (2010) über die Malkunst (aus den Jahren 1437 bzw. 1435/1436) auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt wird. Künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeiten nähern sich immer stärker an. An der gewohnten und tradierten hierarchischen Ordnung wird zwar formal festgehalten, verspricht sie doch nicht zuletzt klare Verhältnisse und Orientierung, doch zumindest die Malerei kann den Abstand zum „Allerhöchsten der Weisheit“ schnell verkürzen, da die Herangehensweise des Malers an seinen Gegenstand jener eines Wissenschaftlers kaum noch in
1Bemerkenswert
ist schon hier, dass das altgriechische Verb theoreó „sehen“ und „denkend erkennen“ gleichermaßen bedeutet und damit beide Seiten als ein sinnlich-geistiges „Einsehen“ zusammendenkt (Menge und Güthling 1910, S. 270). Sinnenfeindlich strictu sensu, etwa in Form eines übersteigerten Rationalismus, zeigt sich die antike Welt daher kaum. Vgl. dazu auch Welsch (1987, 2012). 2Vgl. Isaacson (2017), bes. Kap. 17: The Science of Art, S. 260–277.
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etwas nachsteht und eine erfolgreiche Tätigkeit als Maler inzwischen de facto eine wissenschaftliche Ausbildung voraussetzt. So verdiene die Malerei nach Cennini „mit Recht (…) die zweite Stufe nach der Weisheit und die Krone von der Poesie“ (Cennini 1871, S. 4). Die ehedem so hochgeschätzte Dichtkunst fällt so auf den dritten Rang zurück und nun gilt die Malerei als die wissenschaftlichste bzw. die den Wissenschaften am nächsten stehende unter den Künsten. Dem korrespondiert eine Hierarchie der Sinne. Das ohnehin bereits privilegierte Sehen erfährt eine weitere Aufwertung, die schon bald jedoch nicht mehr unwidersprochen bleibt. So erhebt Bernardino Telesio (1509–1588), ganz im Einklang mit der Tendenz, Künste wie Sinne zu intellektualisieren, nun seinerseits den Tastsinn zum höchsten Sinn überhaupt. Ernst Cassirer schreibt in Auseinandersetzung mit Telesios Hauptwerk De rerum natura: „Alle Arten des Erkennens sind nur spezielle Weisen der Tastwahrnehmung und durch räumliche Annäherung an den „Geist“ bedingt“ (Cassirer 1911, S. 233). Danach hat alles, was uns berührt und wodurch wir berührt werden, für uns die höchste sinnliche Bedeutung und geht uns in besonderem Maße an. Dies gilt vor allem im übertragenen Sinn einer innerlich-geistigen Berührung: „Jede denkende Erfassung eines Gegenstandes setzt die sinnliche Berührung mit ihm voraus. Denn das Bewußtsein eines Objekts haben wir nicht anders als dadurch, daß dieses Objekt auf uns wirkt, ja daß es Kraft dieser Wirkung in uns eingeht.“ (Cassirer 1994, S. 154)
So beruht unser Weltverhältnis auf Akten des Begreifens, des Berührens und Berührt-Werdens im umfassendsten Sinne des Wortes. Inneres Bewegt-Werden des Betrachters ist nun auch erklärtes Ziel der Kunst. Solides wissenschaftliches Studium kann dem Künstler dabei helfen, dieses Ziel, d. h. die gewünschten Wirkungen, auch zu erreichen. Zudem gewinnen die Künstler an sozialem Status und nicht wenige steigen die gesellschaftliche Leiter rasch steil nach oben. Intellektuelle und soziale Anerkennung der Künste und der Künstler gehen Hand in Hand: „Artists were more and more likely to be given titles and other signs of nobility; they were increasingly able to afford fine houses and dress; they were more frequently asked for advice or opinion about works of art; and more frequently they formed their own art collections.“ (Ames-Lewis 2007, S. 61)
Der wirtschaftliche Aufstieg lässt nicht lange auf sich warten. Nun, da Kunst in den Augen der Öffentlichkeit von niederer Handwerkerarbeit zur bisweilen als göttlich angesehen intellektuellen wie schöpferischen Tätigkeit avanciert,
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wachsen die Nachfrage und die Zahlungsbereitschaft derjenigen, die daran teilhaben wollen. Florenz gewinnt im 14. und 15. Jahrhundert eine Vormachtstellung sowohl in der Produktion von Kunst und anderen kulturellen Gütern als auch als Handelsplatz. Die Künste, insbesondere Malerei und skulpturale Plastik, werden zu gewichtigen und schnell wachsenden Wirtschaftszweigen, deren innovative Anregungskraft auch auf andere Bereiche der schnell wachsenden und sich diversifizierenden Renaissanceökonomien ausstrahlt. „(…) the release of creative imagination that we call the Renaissance in art was, at least in part, a manifestation of an economic culture driven by the entrepreneurial energy of artisans in the marketplace, who, through stylistic innovation, shaped and renewed taste and thereby generated further demand for their own products. In this way the economic system was a permissive, if not effective, cause of vigor of the market for the arts in Renaissance Florence.“ (Goldthwaite 2009, S. 391)
Einige stark nachgefragte und daher vielbeschäftigte Künstler, an vorderster Stelle wäre Michelangelo Buonarotti zu nennen, haben mit ihren Arbeiten nach heutiger Kaufkraft Millionen verdient. Seinem Biographen Martin Gayford (Gayford 2013, S. 9) galt Michelangelo gar „richer than any artist who had ever been.“ Dass kulturelle Entwicklung keine Einbahnstraße ist, zeigt sich in dieser Phase daran, dass Kunst nun ihrerseits der Wissenschaft gegenüber Vorbildfunktion erlangen, mithin, dass sich die gewohnte Hierarchie umkehren könnte. Das zentrale Ereignis hierfür war die Erfindung der Zentralperspektive, was Wahrnehmungs- Anschauungs- und Ausdrucksmöglichkeiten weit über den Bereich der Künste im engeren Sinne hinaus revolutioniert (vgl. Panofsky 1980) und damit die Möglichkeitsbedingungen für bspw. die Ingenieurswissenschaften grundlegt.
4 Neuzeitlicher Rationalismus als Entsinnlichung: Der große Bruch zwischen Wissenschaft und Kunst Demgegenüber bringt die neuzeitliche Wissenschaft im 17. Jahrhundert radikale Umstellungen im Beziehungsgefüge von Kunst und Wissenschaft mit sich. Von einer weiteren Annäherung, gar komplementären Beziehungen, kann nun nicht mehr die Rede sein. Vielmehr wird dem Sinnenhaften gegenüber eine ablehnende Distanz aufgebaut. Sinnlichkeit und Geist treten auseinander und im Sinnlichen
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wird zuallererst eine Gefahr für das klare Denken gesehen. In der Folge trennen sich auch die Welt des Wissens und die Welt der Erfahrung auseinander, es bildet sich eine Kluft, die als mehr kaum überbrückbar angesehen wird. Die neuzeitliche Wissenschaft (scientia) ersetzt sinnliche Erfahrung immer stärker durch mathematische Konstruktion. Vom sinnlich Beobachtbaren kann einzig noch das Messbare eine gewisse Dignität beanspruchen. Die Auswirkungen auf den Begriff des Wissens sind von drastischer Konsequenz: Gewusst werden kann nur das, was messbar und somit zahlenmäßig bestimmbar ist. Noch im Jahr 1883 ließ sich William Thomson, Lord Kelvin, in einer Vorlesung vernehmen: „I often say that when you can measure what you are speaking about, and express it in numbers, you know something about it; but when you cannot measure it, when you cannot express it in numbers, your knowledge is of a meagre and unsatisfactory kind; it may be the beginning of knowledge, but you have scarcely, in your thoughts, advanced to the stage of science, whatever the matter may be.“ (Thomson 1889, S. 73 f., Hervorhebung im Original)
Nur Kenntnis, die sich in Zahlen und Zahlenverhältnissen ausdrücken lässt, ist wissenschaftsfähig und kann wahrhaft „Wissen“ genannt werden. Die Ökonomik als Wissenschaft wird nur allzu bereitwillig dieser Vorlage und einem solchen Verständnis von Wissen und Wissenschaft folgen (siehe dazu Boumans 2007). Allerdings kann dadurch der Kunst in der Rolle als Gegenpol und Korrektiv zum szientifischen Geist der exakten Wissenschaft eine neue Bedeutung und Wirksamkeit zuwachsen – Bewegungen wie die der Romantik oder der Präraffaeliten legen davon immer noch beeindruckendes Zeugnis ab. Die von der Antike herkommende Allianz von Wissenschaft und Kunst ist jedoch (zunächst) dahin. In solchen Umständen hätte es für einen Leonardo keinen Platz gegeben.
5 Alexander Gottlieb Baumgarten: Die Ästhetik als „Kunst des schönen Denkens“ Um die Mitte des 18. Jahrhunderts baut sich eine dritte Konstellation im Verhältnis von Wissenschaft und Kunst auf. Sie ist durch die Begründung der philosophischen Sub-Disziplin Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten bezeichnet. Baumgarten entwarf schließlich mitnichten das, was heute weithin unter „Ästhetik“ verstanden wird – eine Philosophie des Kunstschönen –, sondern ein ambitioniertes, alternatives Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Wissensprogramm. Ursprünglich bedeutete Ästhetik eben nicht die Erkenntnis des Schönen, sondern ausdrücklich die Kunst, schön zu denken:
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Aesthetica §1: „AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis, est scientia cognitionis sensitivae./DIE ÄSTHETIK (Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst des Analogons zur Vernunft) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“ (Baumgarten 2007, S. 10 f.)
„Schönes Denken“ ist ein Denken in Zusammenhängen, das Denken der Zusammenstimmigkeit auf der Grundlage einer sensiblen Wahrnehmung. Sinnlichkeit und Kunst gewinnen neue Relevanz als Therapeutikum und Kompensat eines als einseitig und vereinseitigend wahrgenommenen Verstandes und als Mittel zur Ausbildung aller Vermögen des Menschen. Die Cognitio Sensitiva geht auf das spannungsvolle Insgesamt, auf Ausgewogenheit und lässt nicht zu, dass sich ein Teil auf Kosten der anderen nun seinerseits zum Ganzen erklärt (vgl. dazu Groß 2002, 2011). Allerdings bleibt auch Baumgarten zumindest in seinen Begriffsprägungen der klassischen Hierarchie der Erkenntnisvermögen verpflichtet. Von einer gleichgewichtigen bzw. gleichgeordneten Beziehung kann (noch) nicht die Rede sein. Die Ästhetik bleibt auch als ars analogon rationis und gnoseologia inferior ausdrücklich die untere Erkenntnislehre. Dennoch zeichnet sich hier eine neue Konstellation von Wissenschaft und Kunst ab: beide sind komplementär, aufeinander bezogen und künstlerische Tätigkeit ist eine eigene Form der Erkenntnis und der Produktion von Wissen, die der wissenschaftlichen Betätigung nicht nachsteht. Symmetrisch ist beider Verhältnis jedoch nicht. Der Vorrang kommt weiterhin der Wissenschaft als scientia zu. Kognitive Rationalität ist, das zeigen das 19. und das frühe 20. Jahrhundert sehr deutlich, die dominierende Sphäre, die alle anderen durchdringt und sich anzuverwandeln sucht. Zu dieser Leitmacht muss sich die Kunst immer wieder positionieren. Dafür stehen ihr, wie sich gezeigt hat, grundsätzlich zwei verschiedene Strategien zur Verfügung: zum einen das neuzeitlich-ästhetische der Kompensation der ‚Fehlstellen‘ der Wissenschaft durch die Kunst bis hin zur Komplementarität beider und zum anderen die antike Strategie der Angleichung der Kunst an die Wissenschaft.
6 Bildnerisches Denken: Kann Kunst der Wissenschaft Vorbild sein? Paul Klee und Wassily Kandinsky stehen nun wohl für eine Verbindung beider Strategien, die sie durch das „Bildnerische Denken“ auf ein höheres Drittes zu übersteigen suchen: auf die Vorbildfunktion von Kunst für die Wissenschaft.
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Dieser Schritt kommt nicht von ungefähr, erfahren sie doch eine Situation der radikalen Umbrüche, auf die es Antworten zu finden gilt. Vorzüglich lässt sich hier sehen, dass Krise in der Tat ein produktiver Zustand sein kann, der die Freisetzung kreativer Energien nicht nur lediglich begünstigt, sondern geradezu herausfordert und anreizt. Die Veränderungen in allen gesellschaftlichen Sphären durch und nach dem durchlittenen Weltkrieg lassen viele der überkommenen Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster obsolet werden. Künstlerinnen und Künstler sehen sich durch den Verlust von traditionellen Selbstverständlichkeiten auf sich selbst zurückgeworfen und beginnen mit einer kritischen Selbstreflexion ihres Tuns. Aus der Reaktion auf die Grundlagenkrise auch der Kunst entwickelt sich die sogenannte „Künstlertheorie“, repräsentiert durch Werke wie die Schöpferische Konfession Paul Klees oder Kandinskys Über das Geistige in der Kunst. Künstlerinnen und Künstler versuchen herauszufinden und tiefer zu verstehen, was sie tun und was sie bewirken wollen, was künstlerische Tätigkeit vermag und wo die Grenzen dieses Tuns liegen. Dabei schreiben sie nicht distanziert über Kunst, sondern als aktive Künstler aus ihr heraus. Die Theorie entsteht in Auseinandersetzung mit der Praxis: „Die Theorie entstand als notwendige Folge der schaffenden Tätigkeit. Die Künstler schreiben nicht über die Kunst, sondern aus der Kunst heraus.“ (Doesburg 1925, S. 5)
Allein dies kann vorbildhaft auch für Ökonomen und Ökonomie sein. Denn wird danach gefragt, was Volkswirte tun, kommt schnell der Jacob Viner zugeschriebene Spruch „Economics is what economists do“ – und das ist wohl eher Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit als profunder Einsicht. Und tatsächlich ließen kritische Erwiderungen nicht auf sich warten und so hieß es bald: „Whatever economists do is not economics“. Wie wäre es also, analog zur „Künstlertheorie“, mit einer „Ökonomentheorie“? Kunst sucht in dieser Phase des Umbruchs nach neuen Ausdrucksformen, die um Anerkennung durch das Publikum werben. Sie löst sich von der konkreten, abbildhaften Gegenständlichkeit und abstrakte Formen rücken in den Vordergrund. Farben sind jetzt nicht mehr lediglich Mittel zum Zweck der Darstellung. Sie beginnen sich von ihrer rein instrumentellen Funktion zu lösen und gewinnen einen Eigen-Wert. All dies ist der Reflexion und Erklärung bedürftig – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen, denn die noch ungewohnt abstrakten Arbeiten wollen schließlich an Sammler und Museen verkauft werden. Kunsthändler wie Daniel-Henry Kahnweiler, für Jahrzehnte der exklusive Galerist Pablo Picassos, können als hervorragendes Beispiel dafür dienen, wie mittels
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Publikationstätigkeit Aufmerksamkeit gelenkt und der neuen Kunst ein Publikum geformt werden kann. Kahnweiler u. a. leisten somit zweierlei: sie „machen“ Märkte und zugleich Kunstgeschichte – Kahnweilers Werk über den Kubismus (Kahnweiler 1920) gilt nach wie vor als Standardtext zu dieser Kunstrichtung. Kunst tastet somit neuerlich Grenzen ab, es gelingt ihr dabei, Wahrnehmungsund Sehgewohnheiten zu verschieben, sie ermöglicht dabei überraschende Perspektiven, lässt Bekanntes in neuem Licht erscheinen und schließlich gänzlich Neues sehen. „Echte Kunst“ bildet nicht mehr nur einfach ab. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (Klee 1971, S. 76) – so eröffnet Paul Klee seine Schöpferische Konfession. Dieser Schritt stellt einen klaren Bruch mit der abbildend-mimetischen Tradition dar, er bedeutet eine radikale Umkehr der Perspektive auf Kunst und künstlerische Tätigkeit und mithin nichts weniger als eine Neuformulierung der Aufgaben von Kunst und Künstlern. Abermals vollzieht sich eine Annäherung von Kunst und Wissenschaften, denn das Einsichtig- und Verstehbarmachen von nicht ohne weiteres offenkundigen Wirkprinzipien und Strukturen, sowohl in der Natur als auch im Sozialen, ist die Arbeit des Wissenschaftlers. Das „Bildnerische Denken“ entfaltet seine Kraft als Klammer, als Scharnier, zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Künstlern und Wissenschaftlern. Mit dem Begriff des bildnerischen Denkens wird ein dezidiert gestalterischer Erkenntnis- und Wissensprozess beschrieben. Womöglich macht bildnerisches Denken, als Ineinander von Erkennens- und Ausdrucksleistungen, den Kern der künstlerischen Tätigkeit aus. Generell verfügen Künstler in ihrem jeweiligen Medium, z. B. Malerei oder Skulptur, über ein Ausdrucksmittel non-verbaler Art und gleichzeitig über ein Erkenntnismittel nicht-begrifflicher Art. Tritt, wie die Beispiele von Klee und Kandinsky vorzüglich zeigen, die denkerische Kraft eines durchdringenden Intellekts hinzu, dann erfährt die Praxis der bildenden Kunst ihre Erweiterung hin zum bildnerischen Denken. Was kann bildnerisches Denken als gestalterischer Erkenntnisprozess bedeuten? Was wird erkannt? Und, vor allem, wie vollzieht sich der Prozess der Erkenntnisgewinnung? Paul Klee führt die vier wichtigsten Leitbegriffe bildnerischen Denkens bereits in der Schöpferischen Konfession ein. Dabei handelt es sich um Genesis, Bewegung, Raum und Zeit. In seiner Schöpferische Konfession nimmt Klee in erster Linie die Graphik in den Blick, weshalb die Farbe(n) hier noch keine eigene Rolle spielen. Die Graphik hat für Klee die besondere Eigenschaft, dass sie auf Abstraktion geradezu hindrängt. Abstraktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Betonung auf den elementaren Formen der Graphik
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liegt und nicht auf der möglichst naturgetreuen Abbildung konkreter und visuell erfahrbarer Objekte: „Je reiner die graphische Arbeit, das heißt je mehr Gewicht auf die der graphischen Darstellung zugrunde liegenden Formelemente gelegt ist, desto mangelhafter die Rüstung zur realistischen Darstellung sichtbarer Dinge.“ (Klee 1971, S. 76)
Das ist ein erster Hinweis dahingehend, worauf sich die Bemühungen der gestalterischen Erkenntnis richten bzw. darauf, was sie nicht besagt: Gestalterische Erkenntnis hat nicht die Erkenntnis von den Sinnen gegebenen Objekten zum Ziel. Im Abschnitt V der Schöpferischen Konfession wird Klee deutlicher und kontrastiert das neue Selbstverständnis der Kunst mit der Tradition: „Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind. Die Dinge erscheinen in erweitertem und vermannigfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von gestern scheinbar widersprechend. Eine Verwesentlichung des Zufälligen wird angestrebt.“ (Klee 1971, S. 78 f.)
Hiermit geht Klee einen in gleich mehrfacher Hinsicht bedeutungsvollen und folgenreichen Schritt. Statt der Gegenstände an und für sich wird die „Relativität der sichtbaren Dinge“ erkannt, denn „Relativität“ bedeutet in der (nicht immer leicht zugänglichen) Sprache Klees allerdings nicht Beliebigkeit, sondern Beziehungshaftigkeit. Kein Ding steht isoliert für sich da, sondern ist von vornherein immer schon in Beziehungen eingebettet. Das Sichtbar-Machen dieses nicht ohne Weiteres offen liegenden Beziehungsgeflechts und der vielfachen Verweisungszusammenhänge, in denen die einzelnen Elemente stehen, des Ineinandergreifens von elementaren Grundfunktionen, ist nach Klee die Aufgabe des modernen Künstlers – und, so wäre hinzuzufügen, eben auch jene des Wissenschaftlers. Der hierfür tragende Begriff ist bei Klee jener der Bewegung. Bewegung stellt ein wesentliches Prinzip der Gestaltung und mit ihr des Erkennens dar. Bewegung vollzieht sich auf beiden Seiten: In der Produktion wie in der Rezeption, was die traditionelle Kluft zwischen Produzenten und Rezipienten aufhebt und letztere zu Mit-Produzenten werden lässt. In der Schöpferischen Konfession schreibt Klee: „Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln).“ (Klee 1971, S. 78)
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Da jede Bewegung unweigerlich in einem Raum geschieht, erfährt auch der Raum seine Dynamisierung und Verzeitlichung. Dies führt Klee auf einen weiteren grundlegenden Begriff: den der Genesis. Auch dieser ist dynamisch zu verstehen, als Prozess, nicht als etwas Abgeschlossenes: „[…] das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es rein als Produkt erlebt.“ (ebenda)
Hierin steckt Potentialität, Potential für Neues, und so ist bildnerisches Denken Neues bildend. Neue Formen treten in Erscheinung und lösen sich wieder auf. Die andauernde Genesis eines Werkes demonstriert die unterschiedlichen Wahrheiten, in denen wir uns selbst als auch die Gegenstände um uns herum vorfinden. Daraus entsteht kreativer Überschuss. Selbst-Bewußt kann Klee schreiben: „Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig.“ (ebenda). Wassily Kandinsky steht dem in nichts nach: „Werkschöpfung ist Weltschöpfung“ heißt es bei ihm (Kandinsky 1980, S. 41). Bei einem gelungenen Kunstwerk (und ebenso bei einer gelungenen wissenschaftlichen Theorie) haben wir es mit einem monadologischen Widerspiegeln der Welt zu tun. Obgleich selbst singulär, eröffnet es uns doch die Möglichkeit, durch es die Welt in ihren Zusammenhängen zu begreifen. In diesem Sinne ist Gewusstes immer Gestaltetes und gestaltend Erzeugtes wird gewusst. Bildnerisches Denken als gestalterischer Erkenntnisprozess geht auf die Gestaltung von Praxis, auf die Gestaltung des Lebens. Will Grohmann, Dresdner Kunstkritiker und engagierter Förderer des Bauhauses, sah folglich „die wesentliche Kunst“ einerseits als „zum Symbol“ hin vorwärtsdrängen, „zum Gleichnis des Lebens, dessen Unergründlichkeit eine immer höhere Zahl von Lösungsarten involviert, auf der anderen Seite aber [abbiegend] in das Gebiet der das Leben beherrschenden Kräfte, mit der Technik einen Pakt schließt und das Leben erobert.“ (Grohmann 1926, S. 7)
Klee bestimmt das Verhältnis und die Beziehung von Begriff und Bild auf neue Weise. Sein schöpferisches Programm steht für die Synthese aus sinnlich-materialem Gestalten und anleitendem Begriff. Bildnerisches Denken vereinigt beides in sich, es ist das sich wechselseitige Bedingen von Sinnlichkeit und Begriff. Was hier konzipiert wird, kann als moderne Fassung der cognitio sensitiva bzw. der pulchre cogitatio Alexander Gottlieb Baumgartens angesehen werden, auch wenn sich bei Klee selbst kein ausdrücklicher Bezug auf das Erkenntnisprogramm von Baumgartens Aesthetica finden lässt. Schönes Denken war bei Baumgarten das Denken des Zusammenhanges, der prinzipiellen
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Unabgeschlossenheit, der ungeschiedenen Fülle und Komplexität. Dem kommt Klee sehr nahe, wenn er, wie gesehen, davon spricht, dass das Kunstwerk in erster Linie Genesis, als sich Entwickelndes, und nicht fertiges Produkt ist. Kandinsky spricht die sich stellende Aufgabe ebenfalls deutlich aus: „Dieser innere Sinn oder die innere Spannung der weiteren „Entwicklung“ sollte zur Grundlage jedes Unterrichts gelegt werden; die Zerstückelung wird allmählich durch Verbindung ersetzt. Das „entweder-oder“ muß den Platz dem „und“ räumen.“ (Kandinsky 2016, S. 69, Hervorhebung im Original)
Bildnerisches Denken ist insofern ein gestalterischer Erkenntnisprozess, der zunächst die Erkenntnis des Künstlers in eine konkrete Gestalt setzt und sodann diese Gestalt wiederum anderen Betrachtern die Produktion eigener Erkenntnis ermöglicht. Gegenstand Bildnerischen Denkens ist weniger die gegebene „objektive“ Realität der Dinge. Vielmehr sind es die Strukturen ihrer Erscheinung und ihrer Wahrnehmung. In produktiver Auseinandersetzung mit dem Programm des Bildnerischen Denkens kann Wissenschaft die Einsicht gewinnen, dass sie ebenso wie die Kunst poietischen Charakter hat. Wie die Kunst erzeugt auch die Wissenschaft Weltbilder und Welten, schreibt Entscheidungen anreizende und Handlungen orientierende Geschichten (vgl. bspw. Colander 2005). Kunst vermag vorbildhaft und ausdrücklich zu zeigen, was die Wissenschaft, und nachgerade die Ökonomie, produziert. Denn Wirklichkeit ist stets ein schöpferisches Leisten. Und so entsteht das scheinbare Paradox, dass Wissenschaft durch Verlust gewinnen kann. Sie verliert den Wiederholungscharakter des reinen Erkennens und gewinnt dafür den Kunstcharakter der gestalterischen, entwerfenden Produktion. Erkennen ist nicht mehr schlechthin Abbild von Wirklichkeit, sondern es ist eine eigene ursprüngliche Form, die ihren Stoff umformend gestaltet. Gerade als solcher Kunst, als eine mögliche „Weise der Welterzeugung“ (Nelson Goodman), wächst der Wissenschaft ihre Bedeutung bei und für die Gestaltung der menschlichen Einrichtungen zu. Das ist es wohl, was Colander mit der Wiederbesinnung auf die „art of economics“ im Blick hatte. Durchaus optimistisch stimmt, dass Wissenschaft bemüht ist, ihren fach- und methodenspezifischen Verengungen aktiv entgegenzusteuern. Sie geht Verbindungen nach, nimmt abgerissene Fäden wieder auf, berücksichtigt Interdependenzen und zeigt sich dem Ganzen gegenüber aufmerksam. Sie ist für die Rückkopplungseffekte von Theorie und praktischer Gestaltung, den Theorie-Praxis-Nexus, sensibler geworden. Die Ökonomie als Wissenschaft ist dabei keine Ausnahme, schließlich gibt es kein ökonomisches Phänomen, das isoliert, in „reiner Form“, auftritt. Kontexte sind zu berücksichtigen, politische,
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soziale, kulturelle und historische Faktoren wollen verstanden und durch dieses Verstehen gestaltet werden. Die performative Rolle (vgl. Groß 2014), die ökonomische Theorien und Modelle spielen, ihre Praxis gestaltende Macht und damit auch die Verantwortung, die den Ökonomen zuwachsen, werden inzwischen breit diskutiert.3 Auch dafür steht die Kunst als Vorbild. Umgekehrt tritt deutlicher ins Bewusstsein, dass Kunst schon immer auch ein Geschehen der Rationalität gewesen ist – nur eben einer untergründig wirksamen Rationalität. Von Aristoteles über Leonardo, Goethe, Alexander von Humboldt, Klee und Kandinsky wurde gespürt und gewusst, dass alles sinnenhaft uns „schön“ erscheinende schließlich doch auf einer insgeheim rationalen Struktur beruht. Jedes Kunstwerk, das sichtbar macht, macht diesen zwanglosen Zwang von Fügung und Ordnung, von immanenter Rationalität, erfahrbar. Mithin kann Kunst niemals bloß die Gegeninstitution zur Rationalität gewesen sein. „Der Künstler arbeitet (…) aufgrund seiner Kenntnisse mit Hilfe seines Denkvermögens und des intuitiven Moments.“ (Kandinsky 2016, S. 71)
Gleichermaßen steht die Wissenschaft steht zur Einbildungskraft, zur Phantasie und zum schöpferischen Entwurf nicht mehr einfach nur im Gegensatz. Ökonomen sollte dies nicht gänzlich fremd sein, denn der älteren Volkswirtschaftslehre war die Bedeutung der Imagination noch sehr bewusst: Sie wird hier positiv akzentuiert und Lehrbücher wie Alfred Marshalls Principles of Economics von 1890 sehen in der Ausbildung der imaginativen Fähigkeiten des wirtschaftswissenschaftlichen Nachwuchses eine unverzichtbare Voraussetzung für dessen spätere erfolgreiche Tätigkeit: „The economist needs the three great intellectual faculties, perception, imagination and reason: and most of all he needs imagination.“ (Marshall 1956, S. 36).
Elemente eines bildnerischen Denkens sind hier durchaus zu finden – dies mit dem Ziel, zu einer „besseren Erkenntnis“ zu gelangen, die komplexen Herausforderungen denkerisch zu bewältigen und gestaltungsrelevantes Orientierungswissen zu produzieren. Was spräche vor diesem Hintergrund eigentlich dagegen, Theorien und Modelle der Ökonomie als Kunstwerke, bzw. als Kunstwerken analog – ein „analogon rationis“ auch hier – zu verstehen? Sie bilden, wie „gute“ Kunstwerke auch, Sichtbares nicht
3Einige
Beispiele dafür sind Blinder (2000), Goshal (2005) und Greenspan (2014).
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einfach ab, sondern machen sichtbar – vor allem nicht ohne weiteres offenkundige Verbindungen und Zusammenhänge. Sie organisieren unsere Wahrnehmungen und eröffnen als Vor-Bilder Perspektiven auch für das gestalterische Handeln. Am Ende zeigt sich doch immer wieder: Wissenschaft und Kunst sind zwei Medien der Erfahrung, die wir beide gleichermaßen benötigen, um uns in komplexen Verhältnissen wissend orientieren zu können. Oder, in Worten Wassily Kandinskys: „Theorie ist (ganz besonders „heute“) unumgänglich und fruchtbar. Wehe aber dem, der auf diesem Wege allein ein „Werk“ schaffen will“ (Kandinsky 1929, S. 133). Ökonomie und Ökonomen können nur gewinnen, wenn sie diese Warnung annehmen und beherzigen.
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