Im Zeichen der Fiktion: Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag 9783515092784

Dieser Band beleuchtet das Spannungsverhältnis von ,Fiktion‘ und ,Literatur‘. Das Spektrum der Beiträge reicht von einer

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German Pages 372 [374] Year 2008

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Inhaltsverzeichnis 1.pdf
Vorwort
Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler
Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob und die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätstheorie – Stationen produktiven Missverstehens
Indexikalität und Indexikalisierung
Das Kunstwerk als Medium der Liebe: Tristran im Statuensaal
‚Favola fui‘
Die Wirkungsmacht der Fiktion
‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘ als Probleme der Programmatik in der spanischen Renaissance-Epik
Homerallegorese im Siècle classique: René Le Bossu und Anne Dacier
Fiktion und Erkenntnistheorie in Diderots Rêve de d’Alembert
Geschichte und Fiktion
Randstände der Fiktion
Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion
Diaphanes Erzählen
Schriftenverzeichnis Klaus W. Hempfer
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Im Zeichen der Fiktion: Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag
 9783515092784

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Irina O. Rajewsky / Ulrike Schneider (Hg.)

Im Zeichen der Fiktion Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht Romanistik Franz Steiner Verlag

Irina O. Rajewsky / Ulrike Schneider (Hg.) Im Zeichen der Fiktion

Irina O. Rajewsky / Ulrike Schneider (Hg.)

Im Zeichen der Fiktion Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag

Franz Steiner Verlag 2008

Umschlagabbildung: „Magritte’s Window“ von David Johnson (1980) Fotografie, 102  x 153 cm, Original in schwarz-weiß Bild in Privatbesitz © David Johnson www.david-johnson.co.uk

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09278-4 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungs­beständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Vorwort .........................................................................................................................

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Andreas Kablitz Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler ........... 13 Anita Traninger Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob und die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätstheorie – Stationen produktiven Missverstehens .............................. 45 Bernd Häsner Indexikalität und Indexikalisierung. Überlegungen zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines sprachphilosophischen Konzepts ...... 67 Ricarda Bauschke Das Kunstwerk als Medium der Liebe: Tristran im Statuensaal. Zum Verhältnis von Fiktionalität und Autoreferentialität in der Erzählliteratur des Mittelalters .................................................................... 85 Marc Föcking ‚Favola fui‘. Petrarca und die Gefahren des Fabulösen ......................................... 109 Ulrike Schneider Die Wirkungsmacht der Fiktion. Zur metatextuellen Dimension des Traumes in Giovanni Boccaccios Corbaccio ....................................................................... 125 Roger Friedlein ‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘ als Probleme der Programmatik in der spanischen Renaissance-Epik ................................................................................................... 151 Angelika Lozar Homerallegorese im Siècle classique: René Le Bossu und Anne Dacier .............. 181 Yann Lafon Fiktion und Erkenntnistheorie in Diderots Rêve de d’Alembert ............................ 197 Franz Penzenstadler Geschichte und Fiktion. A. Manzonis historischer Roman und A. Thierrys Programm einer neuen Historiographie ................................................................. 223

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Inhaltsverzeichnis

Henning Hufnagel Randstände der Fiktion. Leerstellen, Sammlungsbildung und die Suggestion einer Autobiographie ............................................................................................. 273 Christina Schaefer Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion ........................................................... 299 Irina O. Rajewsky Diaphanes Erzählen. Das Ausstellen der Erzähl(er)fiktion in Romanen der jeunes auteurs de Minuit und seine Implikationen für die Erzähltheorie ........ 327

Schriftenverzeichnis Klaus W. Hempfer ....................................................................... 365

Vorwort Es ist ein Charakteristikum der wissenschaftlichen Arbeit Klaus W. Hempfers, die historisch kontextualisierende Analyse von Texten eng mit theoretischen Überlegungen zu grundlegenden Konzepten und Kategorien des literaturwissenschaftlichen Diskurses zu verbinden. Seine Arbeiten haben damit auch über die Grenzen der Romanistik hinaus gleich mehreren Theoriedebatten maßgebliche Impulse zu geben vermocht. Neben Intertextualität, Autoreflexivität und Performativität galt und gilt Hempfers Interesse stets ganz zentral der Fiktionstheorie. Hiervon zeugt seine anhaltende Beschäftigung mit Ariost ebenso wie in jüngerer Zeit insbesondere seine Forschung zum frühneuzeitlichen Dialog als einer hybriden Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung. Bereits vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten hat sich Hempfer in einem breit rezipierten Aufsatz zudem ganz grundlegend mit „einigen Problemen der Fiktionstheorie“ befasst und eine Bestimmung von Fiktionalität vorgelegt, die von konkreten textstrukturellen Merkmalen ausgeht. 1 Die vorliegende Festschrift zu Ehren von Klaus W. Hempfer schließt programmatisch an jene Verknüpfung historischer und theoretisch-systematischer Zugangsweisen zum Verhältnis sowohl von ‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘ als auch von ‚Fiktion(alität)‘ und ‚Literatur‘ an. Sie versammelt sowohl theoretische Beiträge zum Fiktionsbegriff moderner Prägung, wie er in der literaturwissenschaftlichen Debatte in Deutschland spätestens seit Käte Hamburgers Logik der Dichtung (1957) diskutiert wird, als auch Beiträge, die sich anhand literarischer Texte französischer, italienischer und hispanischer Provenienz vom Mittelalter bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert mit spezifischen Aspekten fiktionaler Rede auseinandersetzen. Gegliedert ist der Band demgemäß in zwei Abteilungen: Die Aufsätze der ersten Abteilung diskutieren grundlegende Fragen der Fiktionstheorie und nehmen dabei eine Revision zentraler theoretischer Prämissen vor; jene der zweiten Abteilung eröffnen hingegen eine breite historische Perspektive, die ihrerseits mit systematischen Fragestellungen verbunden wird. Das Spektrum reicht hier von der Analyse fiktionaler Rede in mittelalterlichen und früh-neuzeitlichen Texten, über diskursive Praktiken im Spannungsfeld von Fiktion und Wahrheitsanspruch von der Frühen Neuzeit bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, bis hin zu einer Diskussion auffälliger Phänomene in zeitgenössischen literarischen Texten und deren Implikationen für die Fiktions- und Erzähltheorie.

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Hempfer, K. W., „Zu einigen Problemen der Fiktionstheorie“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), S. 109–137; engl. Übers. „Some Problems Concerning a Theory of Fiction(ality)“, Style 38,3 (2004), S. 301–324.

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Vorwort

Eröffnet wird der Band mit einem Aufsatz von ANDREAS KABLITZ, der auf eine grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von ‚Literatur‘ und ‚Fiktion‘ zielt und damit einhergehend bestehende Konzepte und gängige Annahmen der Fiktions- und Erzählforschung kritisch in den Blick nimmt. Ausgehend von Klaus W. Hempfers Fiktionalitätsaufsatz von 1990 zeigt Kablitz zunächst einen ‚dritten Weg‘ im Umgang mit der für die literaturwissenschaftliche Fiktionsdebatte zentralen Frage auf, ob ‚Fiktion(alität)‘ als differentia specifica literarischer Texte auszuweisen ist oder nicht. Damit trägt er der Tatsache Rechnung, dass in der neueren Forschung zwar überzeugend gezeigt worden ist, dass ‚Fiktionalität‘ weder als notwendiges noch als hinreichendes Kriterium für eine transhistorische Bestimmung von ‚Literatur‘ gelten kann, dennoch aber immer wieder auch der entgegengesetzte Standpunkt Unterstützung erfahren hat. In seinem Beitrag zeigt Kablitz, dass sich diese beiden Positionen keineswegs ausschließen müssen. Sie verlangen vielmehr nach einer Präzisierung und Schärfung bestimmter Differenzierungen, wobei der Unterscheidung zwischen ‚Fiktivität‘ und ‚Fiktionalität‘ besonderes Gewicht zukommt. Diese Überlegungen führen Kablitz in einem zweiten Schritt zu einer grundlegenden Auseinandersetzung mit der Frage nach der Erzählinstanz fiktionaler Texte, wobei er der Selbstverständlichkeit, mit der eine solche Instanz in der Erzählforschung gemeinhin angesetzt und mit der dementsprechend zwischen ‚Autor‘ und ‚Erzähler‘ unterschieden wird, eine radikale Absage erteilt. Der zweite Beitrag dieser Abteilung ist Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob gewidmet. Ausgehend von der Beobachtung, dass dieses Werk in der literaturwissenschaftlichen Forschung zwar häufig zitiert, gleichzeitig aber offensichtlich kaum zur Gänze rezipiert wird, unternimmt ANITA TRANINGER eine Rekapitulation der Elemente von Vaihingers Theoriebildung zum Fiktionsbegriff sowie eine Analyse deren spezifischer Transformation in einigen wegweisenden literaturwissenschaftlichen Ansätzen zur Integration und Operationalisierung des Als Ob. Dabei zeigt sich, dass das Als Ob mit Blick auf ganz unterschiedliche Phänomene und zudem in je unterschiedlicher Erklärungsabsicht verwendet wird. Auf einen Durchgang durch die verschiedenen Theoretisierungen folgt eine Ausformulierung des im Fiktionalitätskonzept Klaus W. Hempfers angelegten ‚Als Ob des Diskurses‘, die abschließend einen Akteur ins Spiel bringt, der erstaunlicherweise trotz der Theoriedebatten der letzten Jahrzehnte weitgehend unberücksichtigt geblieben war: den Leser. BERND HÄSNER greift in seinem Beitrag das in der Literaturwissenschaft bislang weitgehend ohne Resonanz verbliebene sprachphilosophische Konzept der ‚Indexikalität‘ auf und geht der Frage nach, welche Implikationen dieses Konzept für die Literaturtheorie hat. Sprachwissenschaftliche Indexikalitätstheorien machen eine irreduzible Präsenz des Äußerungssubjekts und der Äußerungsumstände innerhalb der Äußerung selbst geltend und erkennen darin eine Legitimierung des Wahrheitswerts wissenschaftlicher Sätze, und zwar auch solcher, die Anspruch auf objektive und kontextunabhängige Geltung erheben. Hierin liegt, wie Häsner zeigt, eine Herausforderung auch für literaturwissenschaftliche Textmodelle, in denen die Bedeutung fiktionaler Texte gemeinhin ausschließlich als Funktion textinterner Relationen konzipiert wird. Unter Rekurs auf den Stilbegriff formu-

Vorwort

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liert Häsner Überlegungen zu einer Reformulierung und Erweiterung des indexikalitätstheoretischen Ansatzes, auf deren Basis dieser auch für die Literatur- und Fiktionstheorie nutzbar gemacht werden kann. Die historisch perspektivierte zweite Abteilung des Bandes eröffnet RICARDA BAUSCHKEs Beitrag zum Verhältnis von Fiktionalität und Autoreferentialität in der Erzählliteratur des Mittelalters, am Beispiel des fragmentarisch überlieferten Tristran (ca. 1155–1170/80) des Thomas von England. Bauschke zeigt in der Analyse der metatextuellen Erzählereinlassungen, dass Thomas eine besondere Auffassung vom Kunstwerk als Vermittlungsinstanz vertritt, wie insbesondere im Spannungsverhältnis von Authentisierungsstrategien und Fiktionsdeixis manifest wird. Im Fokus des Beitrags steht die Episode vom Statuensaal als einer mise en abyme: Sie bietet, so Bauschkes These, nicht allein eine Analogisierung von präsentierter Skulpturkunst und literarischem Geschehen, sondern darüber hinaus eine Selbstreferenz des dargestellten Artefakts (Plastik) und hergestellten Kunstwerks (Text) auf die im Erzählvorgang entworfene Poetik. Die erzählende Kunst tritt bei Thomas mithin als Medium autoreferentiell hervor und bleibt, indem sie ihre eigene ,Wahrheit‘ konstituiert, dem factum überlegen. MARC FÖCKING geht in seinem Beitrag dem Verhältnis von fabula und experientia nach, wie es in verschiedenen Briefen Petrarcas erörtert wird. Föcking zeigt, inwiefern das Fabulöse dort eine deutliche Abwertung erfährt und im Angesicht der experientia als falsum in sich zusammenfällt. Für Petrarcas Canzoniere erlangt die Bereitstellung literarischer Verfahren zur Sicherung des Nicht-Fabulösen in dem Moment besondere Bedeutung, in dem sich die Liebe zu Laura selbst mit dem Verdacht konfrontiert sieht, reine fabula zu sein. So zielt die Formulierung „favola fui gran tempo“ im Proöm des Canzoniere nicht nur auf bloße ‚Nachrede‘, sondern aktualisiert die Opposition von fabula und experientia: Petrarca reflektiert hier, wie Föcking darlegt, den Verdacht einer bloßen Fingiertheit der Laura-Liebe und setzt ihm die in den Familiares erprobte experientia des „chi per prova intenda amore“ entgegen – als Wahrheitsgarant und als (heterodoxe) Begründung einer weltlich begründeten Lossprechung, die die sakramentale Absolution der Beichte ablöst. Der letzte erzählende Text Giovanni Boccaccios, Il Corbaccio, steht im Zentrum des Beitrags von ULRIKE SCHNEIDER. Sie legt eine neue Lesart dieses gern schlicht als ‚misogyn‘ klassifizierten Textes vor, dessen fiktionstheoretische Implikationen bislang nicht reflektiert wurden. Ausgehend von der These, dass in diesem Text ein gegenüber anderen Werken Boccaccios divergentes Verständnis von Fiktion deutlich werde, legt Schneider dar, inwiefern hier der Geltungsanspruch autonomer Fiktion formuliert wird. Demgemäß wird im Corbaccio nicht nur der Fiktionsstatus des Werkes selbst thematisch, sondern vermittels der Traumerzählung die Wirkungsmacht von Fiktion zugleich performativ vorgeführt. Möglich wird dies über eine spezifische Verschachtelung der Ebenen von histoire und discours wie auch über die besondere Rahmenkonstellation des Werkes. Die kathartisch anmutende Wirkungsmacht entfaltet sich dabei, wie gezeigt wird, auf der Basis einer fiktionsintern inszenierten Rezeptionshaltung, die den Fiktionskontrakt im modernen Verständnis präfiguriert.

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Vorwort

Das für das Renaissance-Epos auf der Iberischen Halbinsel zentrale Oppositionspaar von ‚Fiktion‘ und ‚Wahrheit‘ fokussiert der Beitrag von ROGER FRIEDLEIN in der Analyse proömialer Topik. Friedlein zeigt, dass mit den beiden später als Nationalepen kanonisierten Werken La Araucana von Alonso Ercilla y Zúñiga (1569–89) und Os Lusíadas von Luís de Camões (1571) schon früh der Typus des zeithistorischen Epos dominant wird und damit vorgängige Versuche der Nationalisierung der epischen Gattung ablöst, die ihrerseits an Ariosts Orlando furioso angelehnt waren. Die zeithistorischen Epen wenden sich programmatisch gegen die ‚Fiktionen‘ des italienischen romanzo im Sinne erfundener Geschichten und proklamieren an dessen Stelle die Überlegenheit der iberoromanischen Epik auf der Basis ihrer ‚Wahrheit‘. Wie Friedlein in der Analyse von Paratexten und Proömien nachweisen kann, durchzieht die Opposition ‚Fiktion‘ vs. ‚Wahrheit‘ im Stile eines Proömialtopos das ganze iberoromanische Korpus. Anhand dreier Epen arbeitet Friedlein in einem weiteren Schritt heraus, dass das programmatische Postulat des ‚wahren Epos‘ die Autoren vor beträchtliche Probleme in der poetischen Umsetzung ihrer Programmatik stellt, die ganz unterschiedlichen Lösungen zugeführt werden. Im Zentrum des Beitrages von ANGELIKA LOZAR steht die Homerrezeption im siècle classique, mit besonderem Akzent auf den allegorischen Interpretationen durch René Le Bossu und Anne Dacier. Die Epen Homers sind nicht nur als die ältesten Zeugnisse einer ‚abendländischen Textualität‘ bekannt; auch die Anfänge literaturtheoretischer Reflexionen sind untrennbar mit ihnen verknüpft. Ein Auslöser dieser Reflexionen war gerade ihr im Urteil späterer Generationen problematisch gewordener Wahrheitsanspruch. Eine mögliche, wenngleich von Beginn an umstrittene ‚Lösung‘ dieses Problems stellt die Allegorese dar, deren älteste Formen bis in das 6. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen und die zuerst an den Epen Homers entwickelt wurde. Am Beispiel des Traité du Poëme Epique René Le Bossus und der allegorischen Interpretation Anne Daciers nimmt Lozar die letzte Phase einer mit wissenschaftlichem Anspruch betriebenen Homerallegorese in den Blick, die zeitlich in die Querelle des Anciens et des Modernes fällt. In einer ganz anderen Weise werden diskursive Praktiken im Spannungsfeld von Fiktion und Wahrheitsanspruch im Beitrag von YANN LAFON relevant, dem es zentral um eine Relationierung von fiktionalem und theoretischem Diskurs, genauer um die fiktionale Inszenierung bzw. Veranschaulichung erkenntnistheoretischer Fragestellungen in Diderots Rêve de d’Alembert geht. Dieser Dialog steht im Zeichen einer thesenartigen Zusammenfassung von Diderots jahrelanger Beschäftigung mit Naturforschung und Naturbetrachtung. Lafon geht speziell der Frage nach, in welcher spezifischen Weise hier eine Auseinandersetzung mit der Quintessenz der materialistischen Naturanschauung der Aufklärungsideologie betrieben wird. These ist dabei, dass in diesem Text die grundlegenden materialistischen Hypothesen – und vor allem die daraus entwickelten erkenntnistheoretischen Konsequenzen – gerade vermittels der eingesetzten fiktionalen Strategien in eine kritisch hinterfragte Perspektive gerückt werden. Anliegen des Beitrags ist es mithin, diese Art der fiktionalen Veranschaulichung nachzuzeichnen, in ihrem Funktionsmechanismus zu erläutern und zudem zu erörtern, warum ein solcher erkenntnistheoretischer Entwurf gerade im Rahmen einer fiktionalen Ästhetik stattfindet.

Vorwort

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Der Beitrag von FRANZ PENZENSTADLER ist dem Thema ‚Geschichte und Fiktion‘ und damit dem seit altersher diskutierten Verhältnis von historiographischem und poetisch-fiktionalem Diskurs gewidmet. Anliegen des Aufsatzes ist es, zwei analoge literarhistorische Phänomene, nämlich Alessandro Manzonis Konzeption des historischen Romans und Augustin Thierrys Konzeption einer neuen Geschichtsschreibung aus dem von Foucault beschriebenen Epistemebruch um die Wende zum 19. Jahrhundert und der daraus resultierenden Transformation des Diskurssystems heraus zu erklären. Eine Folge dieser Transformation ist, dass der historische und der poetisch-fiktionale Diskurs hinsichtlich ihres Gegenstands zusammenfallen, während sie hinsichtlich ihrer pragmatischen Funktion – Vermittlung und Erklärung von Geschichte – in ein Konkurrenzverhältnis treten. Dieser Konstellation geht Penzenstadler zunächst anhand der Verknüpfung der beiden Diskurse in Manzonis Promessi sposi nach, um sich in einem zweiten Teil seines Beitrags Thierrys Programm einer neuen Geschichtsschreibung zu widmen, das dieser in seinen Lettres sur l’histoire de France entwickelt. Von besonderer Relevanz für die Ausgangsfragestellung sind dabei nicht zuletzt Thierrys poetischfiktionale Erzählverfahren in den narrativen Passagen der Lettres wie auch in den Récits des temps mérovingiens. Einer wiederum ganz anders gelagerten diskursiven Strategie geht HENNING HUFNAGEL nach. In seinem Aufsatz zu ‚Randständen der Fiktion‘ werden Formen und Effekte textueller Reihen- und Sammlungsbildung in den Blick genommen, wobei es Hufnagel speziell um den Bedeutungszuwachs geht, den Einzeltexte ganz offensichtlich erfahren, wenn sie durch Zusammenstellung mit anderen Texten in eine größere Struktur überführt werden. Untersucht werden Mechanismen der Kohärenzbildung, die sowohl in den Texten als auch in der Lücke zwischen diesen wirksam sind und die aus einer Anzahl auch durchaus heterogener Einzeltexte ein ‚Buch‘ machen. Entworfen wird insgesamt eine Typologie des ‚Umgangs mit der Lücke‘, wobei der Fokus auf Textsammlungen und insbesondere auf dem diesbezüglichen Potential der blancs zu einer narrativen Kohärenzbildung liegt. Auf dieser Grundlage zeigt Hufnagel, dass die Sammlungsbildung in Maurice Barrès Amori et dolori sacrum (1903) für ein self-fashioning des Autors funktionalisiert wird und inwiefern das Zusammenspiel der Einzeltexte die Stationen einer Autobiographie suggeriert. Die beiden letzten Beträge der zweiten Abteilung des Bandes widmen sich prominenten Phänomenen in der französischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts und situieren diese zugleich theoretisch. In dem Beitrag von CHRISTINA SCHAEFER geht es um die sogenannte autofiction, d.h. um eine Ende der 1970er Jahre von Serge Doubrovsky definierte Gattung, die sich dezidiert auf der Schwelle zwischen Fakt und Fiktion situiert. Schaefer arbeitet in einem ersten Schritt in Abgrenzung sowohl zur Autobiographie als auch zum Roman die Gattungsmerkmale der Autofiktion heraus. In einem weiteren Schritt zeigt sie im Rahmen einer vergleichenden Analyse, inwiefern Alain Robbe-Grillets Romanesques-Trilogie (1984–1994) als geradezu exemplarische Realisation dieser Gattung gelten kann, während ein Text wie Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance (1975) trotz fiktionaler Textanteile dem autobiographischen Modell

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Vorwort

verhaftet bleibt, insofern die fiktionalen Elemente vollständig in einen autobiographischen Rahmen integriert sind. Der Beitrag von IRINA RAJEWSKY ist einem spezifischen Phänomen in Texten der sogenannten jeunes auteurs de Minuit gewidmet, die als Nachfolgegeneration der französischen Avantgarde-Autoren der 1960er und 70er Jahre kanonisiert wurden. Rajewsky analysiert eine erzähltechnische Besonderheit, die sich in den Texten dieser Autoren auffallend häufig nachweisen lässt, greifen die jeunes auteurs doch wiederholt auf Erzählinstanzen zurück, die gängige Parameter der ‚klassischen‘ Erzählsituationen unterlaufen und die sich, auf eine kurze Formel (und die Terminologie Stanzels) gebracht, als ‚allwissende Ich-Erzähler‘ beschreiben lassen. Man hat es hier, wie dieser Beitrag zeigt, mit einer spezifischen Form metanarrativer und zugleich metafiktionaler Verfahren zu tun, die in der Erzählforschung bisher noch keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und die von einer theoretischen Warte aus betrachtet zugleich Anlass gibt, grundlegende Positionen der Erzählforschung kritisch zu hinterfragen. Die Beiträge, die dieser Band zu Ehren von Klaus W. Hempfer vereint, diskutieren ein breites Spektrum von Fragestellungen im Kontext der Fiktionstheorie. Die Bezüge, die sich dabei zwischen den einzelnen Beiträgen ergeben, setzen in gewisser Weise die vielfältigen Diskussionen fort, von denen der Arbeitsbereich von Klaus W. Hempfer an der Freien Universität Berlin stets geprägt war und ist. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das von Hempfer über Jahrzehnte hinweg geleitete Oberseminar hervorzuheben, das seinen Schülern und Schülerinnen über kürzere oder längere Phasen ein einzigartiges Forum zur Diskussion eigener und fremder Ideen und Konzepte geboten hat und das maßgeblich dazu beigetragen hat, eine Autonomie im je eigenen (literatur-)wissenschaftlichen Denken reifen zu lassen. Die Bedeutung, die dieses Seminar in wissenschaftlicher wie auch persönlicher Hinsicht für alle hatte, ist kaum zu überschätzen. Gedankt sei an dieser Stelle den wissenschaftlichen Hilfskräften am Lehrstuhl, die in verschiedenen Phasen an der Fertigstellung dieses Bandes beteiligt waren, namentlich Carolin Brinkmann, Sissina Eilbracht, Sinje Hörlin, Emily Martin und Toni Pape. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich Dr. Thomas Schaber vom Steiner Verlag in Stuttgart, der diese Publikation möglich gemacht hat. Irina O. Rajewsky Ulrike Schneider

Berlin, im Juli 2008

Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler ANDREAS KABLITZ 1. Literatur und Fiktion Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Fiktion wird seit geraumer Zeit in der Wissenschaft von der Literatur intensiv diskutiert, zählt doch die Fiktion zu den bevorzugten Kandidaten für ein, wo nicht das Kriterium aller Literarizität oder Poetizität. Hier wie sonst hat Klaus W. Hempfer in seinem Artikel „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie“ aus dem Jahr 1990 das zugrundeliegende Problem ebenso präzise benannt, wie er entschieden Position bezieht: „Während in einer Mehrzahl früherer Arbeiten ‚Fiktionalität‘ explizit oder implizit als differentia specifica literarischer Texte im allgemeinen oder bestimmter einzelner Typen literarischer Diskurse – der literarischen Form des Erzählens etwa – aufgefasst wurde, setzt sich zunehmend die Einsicht durch, daß ‚Fiktionalität‘ weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für ‚Literatur‘ ist.“ 1 Ein den Romanisten vertrautes Beispiel nicht-fiktionaler Literatur bietet etwa die Briefsammlung der Madame de Sévigné, der zweifellos das Prädikat der Fiktion nicht zukommt und die dennoch zum Kernbestand der klassischen französischen Literatur gehört. Schließlich sind ihre Briefe in der Bibliothèque de la Pléiade ediert worden, um im gleichen Zug ihre Zugehörigkeit zum patrimoine littéraire national zweifelsfrei zu bestätigen. Und als ein Beispiel für Texte, die fiktional sind, ohne als Literatur zu gelten, führt Hempfer zu Recht den Werbetext an. Die folgenden Überlegungen haben indessen zum Ziel, die beiden von Hempfer in seiner zitierten Äußerung unterschiedenen und sich zunächst auszuschließen scheinenden Positionen miteinander zu vermitteln, oder, wie man in einer Festschrift vielleicht vorzugsweise sagen sollte, miteinander zu versöhnen. Dabei mag ein Rest an Vertrauen in die ‚Logik der Forschung‘ zu den Ausgangsmotivationen dieser These gehören. Denn so unanfechtbar Hempfers Position zu sein scheint, es bleibt der Tatbestand bestehen, dass ungeachtet ihrer Evidenz der entgegengesetzte Standpunkt immer wieder Unterstützung erfahren hat. Dies mag man durchaus als Folge eines nicht auszurottenden Irrtums ansehen können, der, aus welchen Gründen auch immer, fortwährend seine uneinsichtigen Befürworter findet. Freilich ist auch nicht auszuschließen, dass beide Positionen jeweils unterschiedliche Gesichtspunkte formulieren, deren Kompatibilität indessen erst bei weiterer Differenzierung ersichtlich wird. Genau dies zu demonstrieren, ist das Anliegen der 1

HEMPFER 1990, S. 113. Als Beleg für eine solche Differenzierung vgl. etwa GABRIEL 1982, S. 543.

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Andreas Kablitz

folgenden Überlegungen. Es geht mir um den Nachweis, dass jedweder Text, der als ein literarischer begriffen resp. behandelt wird – auf diese Unterscheidung werde ich später zurückkommen – als ein fiktionaler Text behandelt wird und dass gleichwohl nicht alle gemeinhin ‚literarisch‘ genannten Texte fiktionale Texte sind. Insoweit scheint mir in der Tat ein essentieller Zusammenhang zwischen Literarizität und Fiktionalität zu existieren, und dennoch gilt, dass nicht alle Texte unseres literarischen Kanons fiktional sein müssen. Das klingt fürs erste reichlich paradox, indessen ist es meine Absicht, eben diesen Eindruck von Paradoxie aufzulösen, der sich m.E. erst aufgrund des Ausbleibens einer hier zu treffenden und für jede Theorie literarischer Fiktion kapitale Differenzierung ergibt. 1.1 Fiktion und Fiktionalität Bemerkenswert für die im Folgenden zu entwickelnde These scheint mir der historische Sachverhalt zu sein, dass sich die Klassifikation eines Textes als ‚fiktional‘ oder ‚faktual‘, wie zu sagen man sich inzwischen wohl angewöhnt hat, variabel ist. So galt über viele Jahrhunderte ein Text wie Vergils Aeneis als historische Quelle, während er für uns ganz selbstverständlich ein fiktionales Epos darstellt. Ähnliche Veränderungen aber lassen sich auch in jüngerer Zeit feststellen. So wird man Michelets Histoire de France um seiner fiktionalisierenden Erzählstrategien willen heutzutage kaum mehr als einen historiographischen Text ernst nehmen wollen, literarische Wertschätzung genießt er dessen ungeachtet in hohem Maße und gilt auch den Literarhistorikern als bedeutsames Zeugnis. 2 Just dieser 2

Übrigens scheint mir der Wechsel der Kategorie eines Textes zwischen seiner Bezeichnung als ‚fiktional‘ oder ‚faktual‘ fast immer zulasten seiner Faktualität zu gehen. Selten einmal findet das Umgekehrte statt. Ein – apartes – Beispiel mag Werner Kellers Buch Und die Bibel hat doch recht gelten, in dem gegen alle aufklärerische und postaufklärerische Bibelkritik die historische Wahrheit der Heiligen Schrift wissenschaftlich belegt werden soll (KELLER 1955). Die Frage der Historizität des Verständnisses eines Textes als ‚fiktional‘ ist darüber hinaus auch mit dem gleichermaßen einem historischen Wandel unterliegenden Konzept von Literatur verbunden. Hempfers Position ist hier eindeutig, unterscheidet er doch einen systematischen Begriff von Fiktion von einem historischen Begriff von Literatur: „Zu unterscheiden wäre demnach zwischen dem nur historisch rekonstruierbaren Begriff der Literatur, Dichtung u.ä., der auf epochal variablen Normen und Konventionen beruht und in Abhängigkeit hiervon eine bestimmte Gruppe von Texten aus der Gesamtmenge der Texte ausdifferenziert, und einem bestimmten Begriff der Fiktion, der in einer Theorie formuliert wird und einen spezifischen Modus der Relationierung von ‚Sprache‘ und ‚Welt‘ zu erfassen sucht“ (HEMPFER 1990, S. 116). Der Unterzeichnete gibt unumwunden zu, dieser exklusiv historischen Bestimmung eines Literaturbegriffs lange Zeit angehangen zu haben, inzwischen indessen davon abgerückt zu sein. Was mich heute gegenüber dieser ausschließlich historischen Definition eines Literaturbegriffs skeptisch macht, ist die Tatsache, dass, so unterschiedlich die jeweiligen Bestimmungen des Phänomens ‚Literatur‘ in einzelnen historischen Kontexten oder Kulturen auch immer ausfallen mögen, sie eben immer wieder stattfinden. Diese Ausgrenzung von Literatur als solche, technischer formuliert: die fortwährende Existenz einer Klasse literarischer Texte selbst macht insoweit die Konstante gegenüber allen historisch wechselnden Ausführungsbestimmungen, so verschieden sie sein mögen, für diese Unterscheidung aus.

Literatur, Fiktion und Erzählung

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historische Statuswechsel von Texten zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion wird uns im weiteren Verlauf unseres Gedankengangs einigen Aufschluss im Hinblick auf die Eigenart dessen, was wir als ‚fiktional‘ zu bezeichnen pflegen, bieten. Zur näheren Charakteristik literarischer Fiktion möchte ich ausgehen von einem Postulat, das noch einmal Klaus W. Hempfer in seiner zitierten Studie als Notwendigkeit jeglicher weiteren Klärung für das Problem der Fiktion zu Recht angemahnt hat, nämlich von der Forderung nach Präzision des Begriffsgebrauchs: „Theorieprobleme sind, speziell in den sogenannten Geisteswissenschaften, wenngleich nicht nur hier, häufig Sprachprobleme, und die Fiktionsdiskussion ist hierfür ein markantes Beispiel.“ 3 Bekanntlich lässt sich solche Präzision vorzugsweise, jedenfalls stets mit großem Gewinn aus Differenzierungen beziehen, und hier ist es mir vor allem um eine Unterscheidung zu tun, der Hempfer weniger Aufmerksamkeit widmet und die überhaupt in der Fiktionstheorie ganz allgemein das ihr meines Erachtens gebührende Interesse nicht findet: die Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität, deren ausbleibende Differenzierung für manche Konfusion sorgt. Zu den Gründen für die mangelnde Berücksichtigung dieser Differenzierung in der Fiktionstheorie mag es zählen, dass andere Sprachen als das Deutsche die betreffende Unterscheidung nicht mit gleicher lexikalischer Selbstverständlichkeit nachzuvollziehen vermögen. Indessen ist auch für den Sprachgebrauch der einschlägigen Theorie im Deutschen zu vermerken, dass diese Unterscheidung durchaus nicht konsequent stattfindet, die beiden Begriffe indessen häufig promiscue verwendet werden. Dabei gilt gerade, dass dann, wenn man die Besonderheiten des literarischen Umgangs mit der Fiktion zu erfassen trachtet, wie es zu ihrer Bestimmung in der Tat unerlässlich scheint, eben diese Unterscheidung ihre eigentliche differentia specifica ausmacht. Mir scheint es kapital für ein solches Anliegen zu sein, zwischen dem Fiktiven als einer Eigenschaft des Dargestellten und dem Fiktionalen als einer Eigenschaft der Darstellung zu unterscheiden. Schon hieran wird deutlich, dass die Literatur das Fiktive mit einer Fülle anderer Texte teilt. Ausgedachtes, Erfundenes, Hypothetisches, Simuliertes oder Erlogenes gibt es bekanntlich allenthalben, fiktional aber ist allein die Literatur selbst. Dies bedeutet auch, dass die Eigenheit literarischer Fiktion, die sie zugleich von allen anderen Erscheinungsformen des Fiktiven unterscheidet, auf einem bestimmten Verhältnis von Fiktivem und Fiktionalem beruht. Literarische Fiktion lässt sich daher grundsätzlich nur mittels dieser Relation definieren, und eben dies begründet ihre Spezifität. Damit ist natürlich die Frage nach der Definition von Fiktionalität aufgeworfen. Was ist es, das den literarischen Text zu einem fiktionalen und darin von allen anderen unterschiedenen macht? Die Antwort lautet: Fiktionalität, der berühmte Fiktionsvertrag, entbindet den Text von der anderweitig geltenden Ver-

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Insofern scheint mir nicht unbedingt eine strukturelle Differenz von solcher Art zu bestehen, dass sie die Entgegenstellung eines systematischen Fiktions- und eines historischen Literaturbegriffs zu begründen vermöchte. Vielmehr scheinen mir beide Begriffe strukturell darin affin zu sein, dass die Existenz des jeweiligen Phänomens verhältnismäßig konstant ist, die konkreten Kriterien, an denen es sich jeweils bemisst, indessen höchster Variation unterliegen. HEMPFER 1990, S. 111.

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Andreas Kablitz

pflichtung, dass die Inhalte seiner Prädikationen wahre Sachverhalte sein müssen. Sprachliche Äußerungen, so habe ich andernorts formuliert, kommen nicht ohne Behauptungen aus – Behauptungen, die stets auch die Existenz bestimmter Objekte und der zwischen ihnen existierenden Relationen voraussetzen. 4 Diese Beziehungen herzustellen, macht ja das Wesen aller Prädikationen aus. Der fiktionale Text befreit diese Behauptungen durch konventionelle Regelung nun von allen Konsequenzen, denen sie ansonsten unterliegen. 5 So können falsche Behauptungen bekanntlich auch juristische Folgen besitzen. Für den fiktionalen Text gilt dies stattdessen nicht. Im Gegenteil, hier kann, wie unlängst geschehen, gerade eine den Tatsachen allzu sehr entsprechende Aussage zum Anlass gerichtlicher Auseinandersetzungen und zum Grund für ein Verbot werden. Fiktionale Texte sind also charakterisiert durch eine Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert ihrer Sätze und damit der Wahrheit der in ihnen dargestellten Sachverhalte. 6 Ich benutze in diesem Zusammenhang den Begriff der ‚Vergleichgültigung‘ 7 mit Bedacht. Denn eben dies bewirkt die Fiktionalität. Sie ist eine Struktur zur Ermächtigung des Fiktiven, indessen verlangt sie nicht danach. Denkbar ist durchaus auch ein fiktionaler Text, der ohne jede Fiktion auskommt. Mitunter hat man

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Vgl. KABLITZ 2003. Wenn ich darin ein Spezifikum der Literatur sehe, das sie von anderen Darstellungsmedien unterscheidet, dann ist diese Besonderheit wohl an das Medium der Sprache gebunden. Während die Literatur nämlich Sonderbedingungen für den fiktionalen Umgang mit Sprache gegenüber ihrem Alltagsgebrauch definieren muss, gilt dies für andere Medien der Repräsentation, so etwa das Bild, nicht in gleicher Weise. Hier liegt der künstlerischen Praxis des Bildes keine der sprachlichen Kommunikation vergleichbare außerkünstlerische Bildkommunikation voraus, die dieses Medium in gleicher Weise auf den Wahrheitsgehalt von Informationen und die Zuverlässigkeit einer Informationsübermittlung festlegte. Ja es stellt sich meines Erachtens die Frage, ob man den sprachlichen Äußerungen unvermeidlich eingeschriebenen Behauptungsgestus nur durch zusätzliche Konventionen außer Kraft setzen kann, während umgekehrt für Bilder ein gleicher Referenzgestus erst durch zusätzliche Informationen, so etwa die Ähnlichkeiten des Dargestellten mit bekannten Objekten der historischen Welt oder eine Titelgebung, hergestellt werden muss. Solche Überlegungen zu einer möglichen medialen Komplementarität im Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit bei Text und Bild sind für den Augenblick noch gänzlich vorläufig und bedürfen weiterer Ausarbeitung. Möglicherweise ergibt sich aus diesem Sachverhalt auch ein Hinweis auf den Stellenwert der umfänglichen sprachphilosophischen Diskussion im 20. Jahrhundert über den Wahrheitswert fiktionaler Sätze. Nicht der spezifische Wahrheitswert fiktionaler Sätze – etwa ‚weder wahr noch falsch‘ im Rahmen einer dreiwertigen Logik – scheint mir von Belang zu sein, sondern die Tatsache der Belanglosigkeit eines solchen Wahrheitswertes, aus welchem Grund im fiktionalen Text ohne Weiteres wahre und falsche Sätze nebeneinander stehen können. Insoweit erscheint es im Grunde müßig, nach dem spezifischen Wahrheitswert fiktionaler Sätze zu fragen, weil diese Frage immer schon einer konventionellen Regelung unterliegt, welche diese Frage für die gesamte Rede belanglos macht. Dass er geeignet zur Charakteristik des Phänomens der Fiktion sein könnte, habe ich nicht zuletzt in zahlreichen Gesprächen mit Ludwig Jaeger über derlei Fragen erkannt. Ihm sei an dieser Stelle für diese fruchtbaren Diskussionen herzlich gedankt.

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sich auf diese theoretische Möglichkeit sehr konkret berufen. 8 Von hierher ergibt sich denn auch ein Hinweis auf die formale Struktur des Fiktions- resp. Fiktionalitätsbegriffs. Klaus W. Hempfer hat ‚Fiktion‘ in Anlehnung an Überlegungen Harald Weinrichs 9 zur Skalierbarkeit von Fiktion unter Verwendung eines Begriffs von Kutscheras 10 als einen Typenbegriff bezeichnet. 11 Indessen gilt es auch hier, zwischen Fiktion und Fiktionalität zu unterscheiden. Versteht man die beiden Begriffe im oben beschriebenen Sinn, so bezeichnet ‚Fiktionalität‘ ein Phänomen, das einzig und allein mittels eines klassifikatorischen Begriffs benannt werden kann. Ein Text ist entweder von der Verpflichtung, wahre Sachverhalte zum Inhalt zu haben, enthoben oder er ist es nicht. Hier gibt es kein Mehr oder Weniger. Was ein Text allerdings zur Darstellung bringt, ist in seinem Fiktionsgrad durchaus skalierbar. Das Dargestellte kann in der Tat mehr oder minder fiktiv sein; und diese Möglichkeit existiert für den fiktionalen Text nicht anders als für den ‚faktualen‘. 12 Skalieren lässt sich also das Fiktive, nicht aber das Fiktionale. Die Kon8

So nimmt etwa Friedrich Sieburg für seinen historischen Roman Robespierre ausdrücklich in Anspruch, dass alles, was er darin berichte, den historischen Tatsachen entspreche. „Die Angaben des Ortes, der Zeit und der Umstände, auch der geringsten, sind ausnahmslos zeitgenössischen Quellen entnommen. Kein Ereignis, kein Detail und keine wörtliche Äußerung ist erfunden. Die Verweisung auf die zugezogenen Werke und Dokumente hätte einen umfangreichen Anhang oder fast auf jeder Seite Fußnoten erfordert. Da das Werk aber nicht zum wissenschaftlichen Gebrauch dienen soll, sondern eine Darstellung und Deutung sein will, wurde mit Rücksicht auf den Leser jede Quellenangabe weggelassen“ (SIEBURG 1967, S. 6). Diese Versicherung völliger Faktizität des Dargestellten, welche sich mit der Gattung des Romans aufs Beste zu vertragen scheint, bleibt freilich blind für jene Fiktion, welche die Form der Darstellung schon im ersten Absatz des Romans produziert: „Um zwei Uhr morgens wird er auf einem Brett in die Tuilerien getragen. Es geht fünfzehn Schritte hinauf – der Verwundete fühlt in seinem halbzerschmetterten Kopf jeden Schritt, den seine Träger machen, wie einen Hammerschlag – dann links hinein in das Vorzimmer des Wohlfahrtsausschusses“ (ebd. S. 7). So verbürgt dies im Einzelnen sein mag, so wahrscheinlich auch jene Empfindungen sein können, welche dem Verwundeten zugeschrieben werden, indem fremdes Erleben als beobachtbare Tatsache ausgewiesen wird, muss es fiktiv wirken. 9 Vgl. WEINRICH 1975, S. 525. 10 Vgl. KUTSCHERA 1975, S. 198. 11 „Neben klassifikatorischen und komparativen Begriffen unterscheidet die neuere Sprachphilosophie sog. ‚Typusbegriffe‘. Um ein Beispiel von Kutscheras aufzugreifen: Ein solcher Typusbegriff ist etwa ‚Pykniker‘. Auch hier kann man sagen, ein bestimmter Mensch sei ein Pykniker oder er sei kein Pykniker, doch sind die Pykniker genausowenig alle gleich ‚pyknisch‘ wie fiktionale Texte alle gleich ‚fiktional‘ sind. Der Pykniker als reiner Fall ist sogar eher selten, und die meisten Menschen weisen in ihrem Körperbau neben pyknischen Merkmalen auch andere, nicht typische Züge auf. ‚Hier ist es daher sinnvoll zu sagen: a ist ein typischerer Fall eines Pyknikers als b, d.h. Pykniker sein ist nicht nur eine Sache des EntwederOder, sondern eine Sache des Mehr-oder-Weniger‘ (von Kutschera, 1975, 200). Damit vereinigen Typenbegriffe also gleichermaßen den klassifikatorischen wie den komparativen Aspekt. Eben dieser Sachverhalt ist […] charakteristisch für den Fiktionsbegriff“ (HEMPFER 1990, S. 119). 12 Eine solche Skalierbarkeit des Fiktiven scheint mir im Übrigen nicht nur in quantitativer Hinsicht gegeben zu sein, sondern auch in qualitativer. Dies gilt etwa für die spätestens seit Vaihingers Philosophie des Als Ob (VAIHINGER 1911) ja auch dem Geltungsbereich des Fiktiven zugeschlagene Hypothese. Wenn sie uns als weniger fiktiv erscheint denn Jules Vernes phan-

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fusion, die im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität herrscht, erklärt sich nicht zuletzt aus der semantischen Ambivalenz des Wortes ‚Fiktion‘ selbst, denn ihm gehören zwei Adjektive zu, ‚fiktiv‘ und ‚fiktional‘, welche diese Ambiguität kenntlich machen. Die Doppeldeutigkeit des Hauptwortes aber wirkt sich nicht zuletzt auch auf den Bedeutungsgehalt dieser Beiworte aus. Eine Theorie der literarischen Fiktion, die ihrem Gegenstand gerecht wird, hat hier klare Differenzierungen vorzunehmen. Mir scheint die Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität nachgerade das Kernstück aller Theorie literarischer Fiktion auszumachen. 1.2 Fiktionalität als Textmerkmal und Rezipientendisposition Diese Unterscheidung von Fiktionalität und Fiktivität 13 aber bietet uns nun auch eine Handhabe zur Antwort auf die Frage, ob es sich dabei um ein textstrukturelles Phänomen oder um eine Rezipientendisposition handle. Diese Streitfrage führt uns zum Kern der eingangs skizzierten Kontroverse, in der Hempfer sehr deutlich Position bezieht, und eben an dieser Stelle zu vermitteln, war mein erklärtes Anliegen. Denn wer postuliert, dass Literatur grundsätzlich fiktiv resp. fiktional sei, kann dies in schlüssiger Weise nur dann behaupten, wenn er diese Eigenheit der Literatur von Einstellungen zu Texten abhängig macht, weil wir zur ‚Textsorte‘ der Literatur offenkundig auch solche Texte zählen, für welche dies nicht oder nicht grundsätzlich gilt bzw. gegolten hat. Beispiele habe ich oben ja bereits genannt. Hempfer marginalisiert nun die Opposition zwischen Fiktion als Textstruktur bzw. Rezipientendisposition, indem er die grundsätzliche Labilität der Gegenüberstellung der Prädikate ‚textstrukturell‘ und ‚pragmatisch‘ herausstellt, welcher Skepsis zweifellos zuzustimmen ist. 14 Indessen scheint mir die mit der genannten Opposition aufgeworfene Frage nach dem Status von Fiktion oder Fiktionalität durchaus nicht unerheblich zu sein, doch zeigt sich ihre eigentliche Relevanz wohl vor allem dann, wenn man hier in der Tat von simplen Gegenüberstellungen absieht. tastische Romane, dann vor allem deshalb, weil die Techniken der Plausibilisierung andere sind. Vielleicht ist es überhaupt irreführend, von Hypothesen als Fiktionen zu sprechen, denn die Verfahren ihrer Darstellung integrieren ja als solche die Ungewissheit ihres Wahrheitsgehaltes. Sie sind deshalb nicht eigentlich Fiktionen, sondern Wahrheiten auf Widerruf. Schon MACDONALD 1989, S. 222f., betont, dass Hypothesen im Unterschied zu fiktionalen Erzählungen verifiziert resp. falsifiziert werden können. Doch scheint mir dies nicht den entscheidenden Unterschied auszumachen. Denn was würde es bewirken, wenn wir für einen historischen Roman feststellen, dass eine dort erzählte Begebenheit oder ein dort berichteter Sachverhalt nicht historischer Faktizität entspricht? Eine historiographische Rekonstruktion der Vergangenheit würde eine solche Feststellung diskreditieren, den Wert des Romans indessen nicht mindern. Entscheidend scheint daher nicht die Unmöglichkeit, sondern die Belanglosigkeit der Falsifikation zu sein. Eben dies aber gilt für die Hypothese nicht. Sie verliert ihren Wert als potentielle Wahrheitsbehauptung, wenn sie sich der Falsifizierbarkeit entzieht. 13 Mir scheint diese Unterscheidung nicht zuletzt von Belang zu sein im Hinblick auf eine Kategorie, die in der jüngeren Vergangenheit die Debatte um das Phänomen literarischer Fiktion

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sehr maßgeblich bestimmt hat. Gemeint ist das Imaginäre. Ich habe mich mit diesem Begriff an anderer Stelle etwas grundsätzlicher auseinandergesetzt (vgl. KABLITZ 2003), möchte aber aus aktuellem Anlass auf diese Debatte noch einmal zurückkommen. Wenn ich grundsätzliche Vorbehalte zur Eignung des Konzepts eines ‚Imaginären‘ zur Charakteristik der Spezifika literarischer Fiktion hege, dann nicht zuletzt deshalb, weil es im Grunde genau die Unterscheidung zwischen dem Fiktiven und dem Fiktionalen als einer fundierenden Eigenschaft des Literarischen zur Disposition stellt. Verdeutlichen möchte ich diesen Sachverhalt anhand einer Analyse in Jan-Dirk Müllers unlängst erschienener Studie Höfische Kompromisse (MÜLLER 2007). Müller vertritt in seinem Buch die These einer besonderen Tauglichkeit der Kategorie des Imaginären für eine sich kulturwissenschaftlich verstehende Literaturwissenschaft, weil gerade sie es gestatte, den Ort des Literarischen im Ensemblespiel der vielen Diskurse einer Kultur angemessen zu bestimmen. Vorausgesetzt ist dabei eine Teilhabe auch der Literatur an einem, im Sinne von Cornelius Castoriadis definierten, gesellschaftlichen Imaginären, das aller sozialen Realität voraufliegt und in sie eingeht (vgl. CASTORIADIS 1975). Ich diskutiere das Verhältnis zwischen dem Imaginären und der literarischen Fiktion mit Jan-Dirk Müller seit Längerem (vgl. etwa MÜLLER 2004). Worin wir uns letztlich unterscheiden, ist die Einschätzung der Relation von Reflexion und Imagination. In seinem neuen Buch heißt es dazu am Beispiel der Fabel vom Wolf und dem Lamm: „Tierfabeln setzen in bestimmten Hinsichten die Suspension von Realitätserwartungen voraus (,Tiere sprechen‘), in anderen bestätigen sie diese geradezu (‚der Mächtige läßt nicht mit sich reden, sondern nutzt seine Macht brutal aus‘). Die Fabel vom Wolf und dem Lamm, die beides erzählt, ist ein fiktionaler Text, der zwei Typen des Fingierens mit unterschiedlichem Realitätsgehalt miteinander verbindet. Auch der zweite Satz leitet sich nämlich aus habitualisierten Imaginationen menschlicher Gesellschaft ab; er ist nicht einfach gegeben“ (MÜLLER 2007, S. 16, A 35). Worauf hier absichtsvoll verzichtet wird, ist eine Unterscheidung zwischen Abstraktion und Imagination, und nur um diesen Preis, so scheint mir, ist eine universelle Kategorie des Imaginären zu haben, das dann als Konstituens aller gesellschaftlichen Wirklichkeit in Erscheinung tritt. Was man bei diesem Verzicht aber preisgibt, ist eine Differenzierung zwischen kognitiven Verfahren, die gerade in ihrer Unterschiedlichkeit einen erheblichen Anteil an der Vielfalt der Kultur besitzen und vermutlich nicht zuletzt deshalb deren Leistungsfähigkeit begründen; und eben hier kommt auch die Literatur, näherhin die Unterscheidung zwischen dem Fiktiven und dem Fiktionalen ins Spiel. Um bei Müllers Beispiel zu bleiben: Sprechende Tiere sind offenkundig ein fiktives Phänomen. Ein Text, der von ihnen erzählt, aber ist unvermeidlich auch ein fiktionaler Text. Denn nur er eröffnet jene Lizenz, folgenlos Dinge zu behaupten, die nicht den Tatsachen entsprechen. Dabei handelt es sich hier ja um einen speziellen Fall der tatsachenwidrigen Behauptung. Denn der erzählte Sachverhalt ist als ein solcher unmittelbar zu erkennen, weil er im Widerspruch zu unseren grundsätzlich geltenden, generellen Annahmen über das Funktionieren der Welt steht. Die Fiktivität des Dargestellten bemisst sich in diesem Fall also am Verstoß gegen eine allgemeine Regel, und eben darum gibt sie sich auch sogleich als solche zu erkennen. Was aber leistet diese Fiktion? Das hat noch einmal mit dem Allgemeinen zu tun. Denn die Fiktion der sprechenden Tiere ermöglicht eine Typisierung, welche diese Sprecher als Repräsentationen allgemeiner Charaktereigenschaften verstehen lässt. Der Wolf ist nicht nur ein Mächtiger, sondern er verkörpert die Macht selbst, und eben darum wird die fiktionale Gattung der Fabel auch zum privilegierten Instrument der Vermittlung von allgemeinen Einsichten in die Wirklichkeit. Die Fiktion der sprechenden Tiere besitzt hier also einen wesentlich instrumentellen Charakter und dient der Repräsentation einer Erfahrung, die auf vielfältigen Beobachtungen basiert und hier durch das Arrangement der fiktionalen Erzählung auf den Nenner einer allgemeinen Regel gebracht wird. Sie dient, anders gesagt, der Prägnanzbildung. Genau diese Leistungen der Fiktion in der fiktionalen Gattung der Fabel aber scheinen mir eher verunklart zu werden, wenn man einen Begriff des Imaginären ansetzt, für den die phantasmatischen sprechenden Tiere letztlich einem gleichen Phänomen

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Auch in diesem Fall lässt sich eine eindeutige Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität vornehmen. Fiktivität ist offenkundig eine Eigenschaft, welche dargestellten Objekten und Sachverhalten ganz unabhängig von den Dispositionen eines Rezipienten zukommt, welche Unabhängigkeit im Übrigen einschließt, dass der Rezipient sich über den Wahrheitsgehalt des Dargestellten täuschen kann, darüber keine Gewissheit besitzt etc. Man denke nur an den historischen Roman, für den es im Einzelnen äußerst schwierig festzustellen ist, ob die einer historischen Person zugeordneten Eigenschaften oder Handlungen Faktisches wiedergeben oder nicht. Demgegenüber gilt, dass Fiktionalität, welche man gern und nicht ohne Grund auf den sogenannten Fiktionsvertrag zurückführt, eine Einstellung gegenüber Texten impliziert, gewissermaßen eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit ihnen, eine Gebrauchsanweisung, die zunächst vor allem auf einer Negation beruht: Sie entbindet den Text von anderweitig geltenden Regeln. 15 Gilt jedoch, dass die Fiktionalität im Unterschied zur Fiktivität auf einer Rezipientendisposition beruht, wie erklärt es sich dann, dass es ganz unstrittig eine spezifische Gruppe von Texten gibt, die man als fiktional bezeichnet, während dies für andere nicht gilt? Die Antwort auf diese Frage möchte ich mittels einer weiteren Unterscheidung zu geben versuchen, der Unterscheidung zwischen Eigenschaften von Texten und Textstrukturen. Während, wie gesehen, ein fiktionaler Text als Voraussetzung seiner Fiktionalität nicht ein einziges strukturelles Merkmal aufweisen muss, das ihn von einem faktualen Text unterscheidet, ist er doch nur dann ein fiktionaler Text, wenn für ihn gilt, dass er keine andere Form zugehören wie die abstrahierenden Einsichten in die Wirklichkeit der Erfahrungen – mögen diese Einsichten nun zutreffen oder auch nicht. Der strukturelle Unterschied zwischen beiden mentalen Leistungen bleibt gleichwohl bestehen. Insofern scheinen mir die Struktur wie die Funktionen fiktionaler Texte in einem Begriff des Imaginären nicht hinreichend deutlich zu werden, der die Unterscheidung zwischen dem Fiktiven und dem Fiktionalen gerade unterläuft. Denn während Fiktionalität gerade jene Sonderbedingungen bezeichnet, unter denen die Differenz zwischen dem Fiktiven und dem Faktischen nivelliert wird, postuliert das Imaginäre gerade eine strukturelle Affinität des Fiktiven und des Realen. Am Ende bestätigt der entsprechende Gebrauch der Kategorie des Imaginären darum aus meiner Sicht eher die Vorbehalte gegenüber einer Kulturwissenschaft, die sich durch Entdifferenzierung Einsichten verbaut, statt durch Analogiebildung bislang unerkannte Zusammenhänge zu entdecken. 14 „Zumindest seit Schmidt (1972) existiert ein bei näherem Zusehen fruchtloser Streit um die Frage, ob sich Fiktionalität an Textstrukturen festmachen oder nur über spezifische Produzenten- und Rezipienteneinstellungen bestimmen läßt. Der Streit ist um so unfruchtbarer, als er einerseits abhängig ist von dem, was man unter Prädikaten wie ‚textstrukturell‘, ‚linguistisch‘ usw. auf der einen Seite und ‚pragmatisch‘, ‚texttheoretisch‘ usw. auf der anderen versteht […]“ (HEMPFER 1990, S. 120). 15 Hempfer bleibt gegenüber dem Konzept vom Fiktionsvertrag skeptisch, weil er zu Recht anmerkt, dass die Annahme seines Vertragscharakters noch keinen Hinweis auf seine Anwendbarkeit gibt (vgl. HEMPFER 1990, S. 121). Indessen scheint mir die Regelung der Anwendung doch Teil des Vertrags zu sein. So schließt der Vertrag wohl auch die Kenntnis von Markern der Fiktionalität ein. Dies gilt für Gattungsbezeichnungen (‚Roman‘) wohl nicht anders als für institutionelle Gegebenheiten (‚Theater‘). — Zu den spezifischen Bedingungen der Fiktionalität des Theaters vgl. unten S. 29f. und S. 40f.

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der Rezeption zulässt als eben diejenige eines fiktionalen Textes. Offenkundig gibt es nun eine Klasse von Texten, denen dieses Prädikat ‚fiktional‘ aufgrund konventioneller Regeln zukommt. In ihrem Falle verdichtet sich die durch den Fiktionsvertrag bestimmte Rezipientendisposition, der natürlich auch eine bestimmte Produzentendisposition entspricht, zu einer Eigenschaft von Texten – einer Eigenschaft, die zunächst in nichts anderem besteht als im Ausschluss anderweitiger Möglichkeiten der Rezeption. Es handelt sich dabei wohl um jene Texte, die man landläufig etwa ‚literarisch im engeren Sinne‘ zu nennen pflegt. Einzig diese Gruppe von Texten eröffnet nun die Möglichkeit zur Entwicklung von Textstrukturen, die als solche Phänomene präsentieren, die fiktiv sein müssen, weil sie mit unseren anderweitigen Wirklichkeitsannahmen kollidieren. Die Offensichtlichkeit der Fiktivität solcher Muster der Repräsentation ist dabei sehr unterschiedlich. So sind phantastische Erzählungen, die von Ereignissen berichten, welche unseren Vorstellungen vom realistisch Möglichen ostentativ widersprechen, offensichtlich für unsere Wahrnehmung in einem anderen Grad fiktiv als etwa die Darstellungsmuster des personalen Erzählens oder der erlebten Rede. Auch sie setzen ja etwas voraus, das wir für unsere Alltagswelt als unmöglich betrachten müssen, nämlich die Introspektion des Erzählers in die Gedankenwelt seiner Figuren. Doch die Konventionalisierung dieser Diskursmuster lässt ihren Fiktivitätscharakter weniger deutlich hervortreten, als dies für phantastische Ereignisfolgen gilt. So bleibt festzuhalten, dass Fiktionalität eine Definition für den Umgang mit Texten darstellt, die Texte von anderweitig geltenden Verpflichtungen befreit und dass es eine bestimmte Gruppe von Texten gibt, für welche weitere Möglichkeiten der Rezeption als eben diese ausgeschlossen bleiben. Bei ihnen verdichtet sich die ihrem Charakter nach pragmatische Kategorie der Fiktionalität zu einer Eigenschaft von Texten. Diese Restriktionen aber stellen zugleich das Potential für die Entwicklung von Textstrukturen bereit, welche allein in solchen Texten vorkommen können, weshalb sie auch als Fiktionssignale fungieren können. Hier hat es seinen Grund, warum Texte im Laufe der Zeit ihren Status wechseln. Weil Michelet in seiner Histoire de France Darstellungsmuster verwendet, welche eine spätere Historiographie als romanhaft verwerfen musste, verlor sein Geschichtswerk den Anspruch auf eine wissenschaftlich akzeptable Form der Repräsentation historischer Vergangenheit. Indem die Fiktionalität aber ihrem Wesen nach eine Disposition der Textrezeption meint, wird es möglich, letztlich jedweden Text als einen fiktionalen zu behandeln, d.h. vom Wahrheitsgehalt der in ihm referierten Sachverhalte abzusehen und seine referentielle Funktion zu suspendieren. Berühmt geworden sind die extremen Beispiele einer literarischen Lektüre von Telefonbüchern. Die Ordnungsmuster eines Telefonbuchs, die gänzlich für seinen Informationscharakter, für die Auffindung von Telefonnummern instrumentalisiert zu sein scheinen, werden ablösbar von ihrer referentiellen Funktion, in welcher diese Textsorte völlig aufzugehen scheint, um als solche, mit welchem ästhetischen Gewinn auch immer, betrachtet zu werden. Gewiss ist das Beispiel ein exzentrisches, aber eben seine Radikalität markiert noch einmal sehr entschieden den Charakter des Fiktio-

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nalen als einer pragmatischen Kategorie, die an keinerlei Eigenschaften eines Textes gebunden ist und sich gleichwohl in ihnen zu konkretisieren vermag. Genau hier aber scheint mir der strukturelle Zusammenhang zwischen Literatur und Fiktion gegeben zu sein. Einen Text als Literatur zu verstehen, bedeutet, von seinem primären Informationscharakter über individuelle außersprachliche Sachverhalte abzusehen und die Aufmerksamkeit auf anderes zu richten. Dieses ‚andere‘ kann durchaus unterschiedlichen Charakters sein. Es kann die sprachliche Gestalt eines Textes sein, seine ‚Gemachtheit‘ und ihr Raffinement. Bekanntlich auf solche Muster der Selbstreferentialität hat die linguistische Poetik des 20. Jahrhunderts einen besonderen Akzent gelegt und die literarische Funktion der Sprache schlechthin als Selbstreferentialität definiert. 16 Die postmoderne oder poststrukturale Texttheorie ist ihr darin weitgehend gefolgt, nur hat sie zu ihrem Unglück eine Unterscheidung aufgegeben, die Roman Jakobson ganz ausdrücklich in seinem Funktionsmodell der Sprache eingeführt hatte. Gemeint ist die in der Tat wesentliche Differenz zwischen Autoreferentialität und Metasprachlichkeit. Denn alles, was auf sich selbst verweist, handelt mitnichten auch schon von sich selbst. Der postmodernen Theoriebildung aber ist mehr oder minder jeder Selbstverweis eines Textes poetologisches Programm geworden. Das Absehen vom Dargestellten und seinem Wahrheitswert aber kann die Aufmerksamkeit von Lesern auch auf ganz andere Phänomene als die Strukturen der Sprache lenken. Zu den geläufigsten Praktiken im Umgang mit fiktionalen/ literarischen oder als solchen behandelten Texten zählt zweifellos die symbolische Transposition des Dargestellten. Hierauf beruht im Wesentlichen die wohl verbreitetste akademische Form des Umgangs mit Literatur, nämlich die Interpretation. Die Fiktionalität des Textes wird dabei umgesetzt in die Erwartung eines semantischen Mehrwertes jenseits des individuell Dargestellten, dessen exegetischer Ermittlung die Interpretation dient. 17 Aristoteles hat stattdessen eine emotionale Identifikation mit einer Katharsis als ihrem Effekt im Auge, womit er die von Platon verworfene affektive Aufwallung durch die Dichtung sublimiert und in eins legitimiert. 18 Das Spektrum der Möglichkeiten jener Funktionen, welche an 16 Vgl. JAKOBSON 1960. 17 Zur Erwartung eines solchen Mehrwertes fiktionaler Texte und seiner interpretatorischen Konkretisierung vgl. KABLITZ 2008 sowie 2008a. 18 Solche symbolischen oder affektiven Besetzungen des Dargestellten lassen sich übrigens auch für ein Argument nutzen, um dem gern in Anspruch genommenen Wahrheitscharakter der Fiktion zu begegnen. Dass ein Roman ‚wahrer‘ sei als mancher historisch zuverlässige Bericht, wird gern behauptet, nicht zuletzt um die mitunter ja sehr entschieden bestrittene Überlegenheit der Kunst gegenüber anderweitigen Formen der Wirklichkeitsrepräsentation zu bekräftigen. Doch hier gilt es einmal mehr zu unterscheiden. Die in entsprechenden Äußerungen beanspruchte Wahrheit meint etwas kategorial anderes als eine referentielle Zuverlässigkeit etwa der in der Bovary erzählten Begebenheiten und Sachverhalte. Wenn dieser Roman die ‚Wahrheit‘ des Lebens zur Geltung bringen mag, dann insofern, als er am Einzelnen etwas Allgemeines plastisch und überzeugend zur Anschauung zu bringen vermag. Doch diese ‚Wahrheit‘ lässt sich allein durch eine symbolische Transposition des Dargestellten gewinnen, sie setzt das Fiktive in ein Bedeutendes – übrigens im doppelten Sinne dieses Wortes – um. In solchem Sinne verstanden, lässt sich auch der Roman als ein historisches Dokument

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die Stelle des Informationsinteresses über den einzelnen Sachverhalt beim fiktionalen/literarischen Text treten, ist also vielfältig, und nur eine am linguistic turn orientierte Theorie der Literatur hat im 20. Jahrhundert einseitig die selbstreferentiellen Muster der Sprache akzentuiert. Wenn ich hier so entschieden am extremen Beispiel der literarischen Telefonbuchlektüre auf dem Charakter von Fiktionalität als einer Rezipientendisposition insistiere, dann nicht zuletzt deshalb, weil sich von hierher auch eine Antwort auf die von der postmodernen Poetik postulierte Entgrenzung des Literaturbegriffs geben lässt. Die Opposition zwischen Fiktionalem und Faktualem fällt hier sehr weitgehend, weil sich diese Poetik an einer Semiotik orientiert, welche die Unerreichbarkeit der Wirklichkeit für die Sprache aus der Natur des Zeichens selbst ableiten möchte – übrigens unter völliger Missachtung der Tatsache, dass sich die Frage der Referenz für das sprachliche Zeichen erst auf der Ebene des Satzes, also der Prädikation stellt. Doch die gewählten semiotischen Prämissen lassen die Begriffe ‚Text‘ und ‚Literatur‘ zusammenfallen, eben weil alle Sprache unweigerlich in die Fiktion führe. Das Fatale dieser Theoriebildung besteht darin, dass sie den Unterschied zwischen Möglichkeiten und Gegebenheiten leugnet. In der Tat lässt sich jeder Text wie Literatur behandeln. 19 Dies gilt für die Geschichtsschreibung lesen, etwa als Zeugnis einer Mentalitätsgeschichte oder der symbolischen Kodes der Wirklichkeitsrepräsentation. Vielleicht sind solche Strukturen der Repräsentation sogar dort plastischer zu gewinnen, wo sie einer Darstellung des durch Imagination Gefundenen geschuldet sind. Insoweit bezieht auch ein Roman sich durchaus auf die ‚Realität‘. Aber eine solche ‚Wahrheit‘ ist eben strukturell verschieden von der Frage nach der Faktizität der in diesem Roman erzählten individuellen Sachverhalte. Sie ist symbolisch, aber nicht durch Referenz zu gewinnen. Der Unterschied, der hier zu machen ist, entspricht in etwa demjenigen, den die Linguistik zwischen Bezeichnung und Bedeutung definiert hat. 19 Das hier vorgeschlagene Verständnis von Literatur, das sie an die Möglichkeit der Behandlung als einen fiktionalen Text bindet, scheint mir übrigens auch die Klärung einer Differenzierung zwischen zwei Begriffen zu ermöglichen, die häufig synonym behandelt werden, zwischen denen mir allerdings gerade im Hinblick auf die Fiktionsfrage ein nicht unerheblicher Unterschied zu existieren scheint, gemeint ist die Opposition von Literatur und Dichtung. Gewiss lässt sich auch der Begriff ‚Dichtung‘ als ein Synonym für das Erdachte und Erfundene verwenden, erinnert sei nur an den sprichwörtlich gewordenen Titel von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit. Indessen scheint mir hier, anders als im Falle des Literaturbegriffs, die Annahme der Fiktionalität nicht zwingend zu sein. Es gibt offensichtlich Dichtung, die nicht fiktional ist. Ein auch aus der Moderne vertrautes Zeugnis dafür bietet etwa die Choraldichtung, zu deren Wesen es zählt, dass der Wahrheitswert ihres Inhalts von höchstem Belang ist, jede Fiktionalisierung sich also per se verbietet. Choräle sind in diesem Sinne keine Literatur, auch wenn sie sich natürlich als solche lesen lassen. Dies mag die übliche Lektüre eines Agnostikers sein, sofern er sich denn, um des ästhetischen Wertes willen, etwa für Paul Gerhardt interessiert; aber auch der Gläubige kann bei einer zeitweiligen Beschränkung auf seine artistischen Verfahren einen Choral wie Literatur behandeln. Um Dichtung handelt es sich bei einem Choral also, weil es Muster einer Wortkunst, allen voran Vers und Reim gibt, welche sie von der Alltagssprache unterscheiden. Doch bedeutet Wortkunst hier nicht zugleich ,Literatur‘. Vielleicht lässt sich von hierher auch noch einmal ein Blick auf die linguistische Poetik werfen, die als poetische Funktion der Sprache die Selbstbezüglichkeit definierte, welcher Effekt durch ein Mehr oder ein Weniger an sprachlicher Ordnung gegenüber der Alltagssprache zustande kommt. Hier ist offensichtlich der Wahrheitswert einer

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nicht anders als für einen medizinischen Traktat oder eben das Telefonbuch. Der daraus folgende Trugschluss der postmodernen Texttheorie aber führt dazu, dass sie zu einer Eigenschaft von Texten erklären muss, was auf Rezeptionsdispositionen beruht; und damit ist eine Unterscheidung zum Verschwinden gebracht, welche die historische Praxis der Literatur maßgeblich bestimmt: Dass Kulturen, die über ein Konzept von Literatur verfügen, eine spezifische Klasse von Texten definieren und ausdifferenzieren, welche sich nicht anders denn als fiktionale Texte lesen lassen und die damit die Rezipientendisposition der Fiktionalität zu einer Texteigenschaft verdichten, welche keine anderen Formen der Rezeption mehr zulässt als eben diese. 2. Fiktion und Erzählung 2.1 Die Zeitstruktur des Erzählens und ihre Relation zur Fiktionalität Es war einmal – mit dieser topischen Formel beginnt ein jedes Märchen. Was an ihr mit besonderer Prägnanz zum Ausdruck kommt, ist die charakteristische Ambiguität des Phänomens der Fiktionalität selbst. Denn auf den ersten Blick scheint die Formulierung doch gerade das zu bekräftigen, was für den fiktionalen Text eben nicht mehr gelten muss: die Wahrheit des Gesagten. Es war, d.h.: Es hat gegeben, es hat stattgefunden. Die Markierung der Fiktionalität des Märchens fällt insoweit ausgesprochen paradox aus, besitzt doch gerade hier das Fiktive in besonderem Maße seinen angestammten Ort mit Riesen und Zwergen, mit Zauberinnen und Feen. Und doch signalisiert sich diese in hohem Maße von Fiktivem sprachlichen Äußerung nicht unmittelbar tangiert, und deshalb erscheint die poetische mit der referentiellen Funktion durchaus vereinbar. Indessen scheint hier zum anderen durchaus eine Affinität zur Fiktion angelegt zu sein. Denn in dem Maße, in dem die ‚Gemachtheit‘ des Textes Aufmerksamkeit attrahiert, lenkt sie von seinem referentiellen Wert ab. Hier hat die aufklärerische und bis heute wirksame Kritik an der Rhetorisierung wissenschaftlicher Rede ihren Ursprung. Indessen lassen sich auch in dieser Hinsicht durchaus keine eineindeutigen Korrelationen bemerken. Denn rhetorische Verfahren, in der richtigen Dosierung zur Prägnanzbildung eingesetzt, können durchaus den referentiellen Effekt verstärken (man denke nur an das bekannte Beispiel I like Ike), und zum anderen bedarf die Fiktionalität, wie gesehen, keiner textstrukturellen Abweichung gegenüber der Alltagssprache. Und berücksichtigt man die Verhältnisse anderer Kulturen, dann kann Wortkunst sogar das Gegenteil von Fiktionalisierung auslösen, nämlich den Anspruch auf eine besondere Wahrheit begründen. Nicht anders steht es um den poetischen Musenanruf, der den Zugang zu einem Wissen zu verbürgen hat, das anderen verschlossen bleibt. Der Unterschied von Dichtung und Literatur scheint mir also darin zu bestehen, dass die Relation von Dichtung und Wirklichkeit eine unbestimmte bleibt, dieses Verhältnis für die Literatur indessen durch die Kategorie der Fiktionalität grundsätzlich geregelt ist. — Hier ließen sich im Übrigen weitere Überlegungen anschließen, die indessen an dieser Stelle nur skizziert seien. So fragt sich etwa, ob der im Musenanruf für die Dichtung behauptete Anspruch auf Zugang zu einem anderen verschlossenen Wissen sich für die Literatur analog im Anspruch auf eine höhere Wahrheit findet, welches Postulat wir in der voraufgehenden Anmerkung als eine symbolische Repräsentation von Wahrheit bestimmt haben.

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lebende Gattung des Märchens ihren Lesern am Beginn mit der dazu gerade gegenläufigen Behauptung einer Wahrhaftigkeit des Erzählten. Freilich haben wir bislang auch nur die erste Hälfte der konventionellen Eröffnungsformel des Märchens in Betracht bezogen. Denn dem Es war folgt das Zeitadverb einmal, mit dem eine bemerkenswerte Unbestimmtheit eingeführt wird, bedeutet es doch: Es war irgendwann einmal, um nicht zu sagen: wann auch immer – und womöglich auch überhaupt nicht. Die anfängliche Bekräftigung der Faktizität dessen, was in der folgenden Geschichte erzählt werden wird, mündet also zugleich in den Entzug aller zeitlichen Fixierbarkeit der Geschehnisse, deren zunächst postulierte Existenz damit auch schon relativiert wird. Anders gesagt: Sie wird belanglos gemacht. Der topische Märchenanfang bewerkstelligt diese Ambiguisierung der Faktizität des Erzählten mit temporalen Mitteln. Ähnliches lässt sich indessen auch mithilfe einer lokalen Deixis bewirken. Ich wähle als Beispiel Walthers von der Vogelweide berühmtes Lindenlied, in dem mir eine solche Technik mit besonderer Prägnanz – wie Virtuosität – zum Einsatz zu kommen scheint: Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was, dâ mugent ir vinden schône beide gebrochen bluomen unde gras. vor dem walde in einem tal, tandaradei schône sanc diu nahtegal. 20

Die gesamte Deixis der hier benutzten Ortsangaben setzt zunächst die Bekanntheit der bezeichneten Lokalitäten für den Rezipienten voraus, wie die Fülle der bestimmten Artikel zu erkennen gibt, under der linden an der heide. Die Identität der erwähnten Orte scheint insofern unstrittig zu sein. Der damit präsupponierten Kenntnis der Stätte des Geschehens durch den Adressaten korrespondiert auch die Beteuerung, die Rezipienten des Liedes könnten sich dort durch gebrochene Blumen und Gras noch selbst der Spuren jener Ereignisse vergewissern, von denen der Sänger berichtet, sie hätten sich dort zugetragen. Bezeichnenderweise aber verwandelt sich noch in derselben Strophe die Funktion der lokalen Deixis nicht unerheblich, und zwar mit der Wendung vor dem walde in einem tal. Greift der Beginn dieses Verses noch einmal auf die Serie der bestimmten Artikel zurück, um eine Eindeutigkeit der Identität des bezeichneten Ortes zu postulieren, so entzieht die Fortsetzung mit der Verwendung eines unbestimmten Artikels, in einem tal, gerade die Möglichkeit, einen bestimmten Ort vorauszusetzen. Denn dieses Tal umfasst zugleich sämtliche zuvor genannten Lokalitäten und suspendiert damit die bislang zu gelten scheinende Implikation der Kenntnis ihrer Identität durch den Hörer – oder Leser.

20 WALTHER 1996, Buch II, 16 I, S. 77.

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Walthers Lindenlied bewirkt insoweit mit den Instrumenten einer lokalen Deixis den Effekt, den die topische Märchenformel mit temporalen Mitteln erzeugt. Hier wie dort wird anfängliche Referentialisierung durch den Entzug von Bestimmbarkeit problematisiert und damit belanglos gemacht. Was in beiden Techniken der Fiktionalisierung aber zum Vorschein kommt, ist jene strukturelle Ambivalenz, welche der Fiktionalität kategorial eignet. Denn mit allen sprachlichen Äußerungen teilt auch die fiktionale Rede den Gestus der Behauptung. Sie postuliert qua Rede unvermeidlich die Existenz der Gegenstände, Personen und Sachverhalte, über die sie Aussagen macht. Erst durch einen zusätzlichen Kode, erst durch die konventionelle Außerkraftsetzung dieses unhintergehbaren Prinzips einer Existenzbehauptung mittels des Fiktionsvertrags wird eine Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert des Dargestellten bewerkstelligt. Die sprachliche Geste der Behauptung der Existenz der Dinge, von denen der Text handelt, ist damit als solche durchaus nicht abgeschafft, sie bleibt unweigerlich bestehen, nur läuft sie aufgrund einer Zusatzregelung gewissermaßen ins Leere. Anders gesagt: Sie wird belanglos. Genau diese strukturelle Eigenheit des fiktionalen Diskurses aber scheint mir in der Eingangsformel des Märchens ebenso wie in Walthers Lindenlied im Spiel mit der lokalen Deixis nachgerade idealtypisch abgebildet zu sein. Beide beginnen mit der Bekräftigung resp. Voraussetzung der Existenz der Dinge, über die Aussagen gemacht werden, um dieses Postulat im Anschluss sogleich zu relativieren. Eben diese paradoxale Doppelung der Verfahren aber scheint mir die strukturellen Gegebenheiten des fiktionalen Diskurses sehr präzise zu repräsentieren. Denn auch er entkommt dem der Sprache eingeschriebenen Behauptungsgestus nicht. Dieser Gestus bleibt auch beim fiktionalen Text bestehen. Darum muss durch sekundäre Regelungen seine Geltung außer Kraft gesetzt werden, genauso, wie das Märchen und Walthers Lindenlied erst im Nachhinein, in einem zweiten Schritt, die zunächst postulierte Existenz des Erzählten in Zweifel ziehen. In diesem Effekt einer Markierung von Fiktionalität, welche zugleich deren Ambivalenz – oder besser: paradoxe Komplexität – im Umgang mit der Referenz zu erkennen gibt, entsprechen sich die in der topischen Märchenformel wie bei Walther benutzten unterschiedlichen sprachlichen Techniken recht genau. Indessen existiert zwischen ihnen auch ein nicht unerheblicher Unterschied, den ich mit der Opposition von Bekräftigung und Voraussetzung bereits anzudeuten versucht habe. Während die lokale Deixis Walthers die Identifizierbarkeit der genannten Örtlichkeiten nämlich voraussetzt und damit ihr Vorhandensein impliziert, wird eine solche Existenzbehauptung in der Eingangsformel des Märchens explizit. Die Wendung Es war macht die Existenz der Dinge als solche zum Thema. Zeitliche Markierung und Existenzbehauptung gehören hier unweigerlich zusammen, ein Umstand, der nirgends deutlicher wird als anhand der präsentischen Variante dieser Formel: Es ist. In diesem Fall sind die Zeitangabe, d.h. die Lokalisierung im Präsens, und die Existenzversicherung nachgerade ununterscheidbar voneinander. Aber im Vergleich der beiden Tempora wird im gleichen Zug auch schon erkennbar, welchen Effekt das Vergangenheitstempus zu bewirken vermag. Denn dieses Tempus eröffnet auch die Möglichkeit, in derselben Dimension der Zeit, welche

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die Existenz des Dargestellten verbürgt, deren Relativierung in Gang zu setzen: Es war irgendwann einmal, und d.h. vielleicht auch gar nicht. Damit komme ich zur zentralen Frage dieses zweiten Teils meiner Überlegungen, zur Frage nach der Affinität von Fiktionalität und Narration. Denn offenkundig ist es unbestreitbar, dass die weit überwiegende Mehrzahl fiktionaler Texte, d.h. im Sinne obiger Definition: die weit überwiegende Zahl jener Texte, die keine andere als eine fiktionale Lektüre zulassen, zugleich Erzählungen sind. Das Prinzip der Fiktionalität selbst gibt zunächst keinerlei Hinweise darauf, warum eben diese Form der Rede den bevorzugten Diskurstyp der Fiktionalität bildet. Wenn dieses Prinzip, wie oben erörtert, darin besteht, die für alle sprachlichen Äußerungen unvermeidliche Versicherung der Existenz der Dinge, über welche die Rede jeweils Aussagen macht, außer Kraft zu setzen, dann gibt es keine Affinität zu einem bestimmten Typus der Rede, welcher dies zu garantieren vermöchte, gilt doch die Unhintergehbarkeit der Existenzpräsuppositionen für jegliche Rede. Indessen gibt die ebenfalls erörterte Struktur der Komplexität, welche Fiktionalität als Aufhebung eines gleichwohl fortbestehenden Referenzgestus erscheinen lässt, bei näherem Zusehen in der Tat einige Hinweise, warum just die Erzählung besondere Affinitäten zu dieser Struktur aufweist. Ich komme zu diesem Zweck noch einmal auf die anhand der Eingangsformel des Märchens erörterte Temporalstruktur zurück. Es war dieselbe Achse der Zeit, welche die Bekräftigung der Existenz des Erzählten und den Entzug seiner Referenzialisierbarkeit betrieb. Ermöglicht aber wird dies durch die Doppelung der Situationen, durch die für Erzähltexte konstitutive Kombination einer Sprechsituation und einer Handlungssituation. Was sie zwischen beiden herstellt, ist jene Distanz, welche diesem Spiel wie wohl kein zweiter Diskurstyp entgegenkommt. Es scheint, als ließe sich diese Affinität der Erzählung zur Fiktion weitergehend schärfen, wenn man die Mechanismen der Generierung von Fiktion resp. Fiktionalität im Drama und in der Erzählung miteinander vergleicht. Was beide Formen in dieser Hinsicht unterscheidet, ist zunächst eine gewisse Asymmetrie. Während das Drama strukturell der Fiktion zugehört, gilt dies für das Erzählen nicht. Nur eine bestimmte, durch konventionelle Zusatzregeln versehene Gruppe von Erzählungen lässt sich als fiktional bezeichnen. Mit dieser einen Asymmetrie hängt eine zweite zusammen. Während auch die fiktionale Erzählung ohne jede Fiktion auskommen kann, gilt dies für das Drama nicht, weil die Vermittlungsstruktur des Dargestellten selbst schon eine unhintergehbar fiktive ist. Die Schauspieler repräsentieren je schon Gestalten, die sie selbst nicht sind, und eben dies macht die Fiktion für das Drama unvermeidlich. Die nicht einfach zu beantwortende Frage, die sich hieran anschließt, betrifft den Status der Fiktionalität jener Geschehnisse, welche auf der Bühne zur Darstellung gebracht werden. Vorderhand lässt sich natürlich auch hier eine Differenzierung treffen, wie sie für die Erzählung gilt. Das von den Schauspielern dargestellte Geschehen kann historische Ereignisse zur Anschauung bringen oder es kann gänzlich fiktive Geschichten auf die Bühne stellen. Indessen, und hier scheint mir der entscheidende Unterschied zu liegen, bleibt der Wahrheitswert des Dargestellten im Drama von der unhintergehbaren Fiktivität seiner Darstellungsform nicht unberührt.

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Erzählung ist stets Rede über etwas, zu dem sie sich in hohem Maße als Darstellung selektiv verhält. Genau dieses Moment der Selektivität aber fällt für das Drama aus. Die repräsentierte und sinnlicher Wahrnehmung zugänglich gemachte Situation präsentiert sich als identische, und eben dies macht auch ein historisch verbürgtes Geschehen, das ein Drama auf die Bühne stellt, unweigerlich fiktiv. Diese Illusion von Identität aber gründet sehr weitgehend auf dem jedem Drama strukturell eingeschriebenen Postulat einer Gleichzeitigkeit von Darstellung und Dargestelltem. Sie ist es, welche dem Theater die unhintergehbare Fiktivität seiner Repräsentation diktiert; und eben dies ist im Falle einer Erzählung anders. Das klassische, schon in der Aristotelischen Poetik formulierte Redekriterium unterscheidet das Drama von der Erzählung im Hinblick auf die Frage, ob es eine Vermittlungsinstanz zwischen dargestelltem Geschehen und Rezipienten gibt, um diese Frage sogleich für das Drama als dessen Konstitutionsbedingung zu verneinen. Indessen ist diese Unterscheidung durchaus fragwürdig. Denn auch im Drama existiert ja eine Instanz der Vermittlung des Geschehens, welche aus niemand anderem als den Schauspielern besteht. Nur wird diese Instanz als eine selbständige zunächst nicht sichtbar, weil die Schauspieler und die von ihnen verkörperten Figuren auf der Bühne personal identisch sind. Eben diese Doppelrolle, welche Vermittlung und Vermitteltes in derselben Gestalt vereint, aber macht die Vermittlung zu einer unweigerlich fiktiven, und, wie gesehen, problematisiert die fiktive Identität von Darstellenden und Dargestellten zugleich die für den Erzähltext entscheidende Opposition zwischen dem Fiktiven und dem Fiktionalen. 2.2 Abschied vom Erzähler Dieser Strukturvergleich zwischen Drama und Erzählung aber kann uns auf eine weitere Parallele zwischen beiden Gattungen aufmerksam machen, hinter der sich indessen bei genauerer Betrachtung eine weitere Asymmetrie zwischen beiden verbirgt. Denn während das Drama eine personelle Identität von Schauspieler und dargestellter Figur kennt, gibt es eine solche Doppelung, so hat es jedenfalls den Anschein, für die Erzählung in Gestalt des Erzählers. Die Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts hat sehr entschieden die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Autor und Erzähler postuliert, und mittels dieser Differenzierung den empirischen, ‚realen‘ Autor kategorial vom fiktiven Erzähler unterschieden. Doch eben diese Unterscheidung, die dem faktischen Autor in Gestalt des Erzählers so etwas wie sein fiktives Double beigesellt und zugleich gegenüberstellt, scheint mir im Licht der im Voraufgehenden unternommenen Analyse literarischer Fiktion erheblich an Plausibilität einzubüßen. Letztlich ist es die im Rahmen dieser Erörterung prominent gemachte Differenz zwischen Fiktionalität und Fiktivität, deren Kombination das Spezifische aller literarischen Konstitution von Fiktion ausmacht, welche der vertrauten Opposition von Autor und Erzähler für den fiktionalen Text die Grundlage entzieht. Zu den Argumenten, die man zur Begründung dieser Oppositionsbildung ins Feld geführt hat, zählt nicht zuletzt der Umstand, dass der Erzähler ja durchaus eine eigenständige, vom Autor verschiedene personale Identität erhalten kann.

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Erwähnt sei nur der berühmte Fall von Serenus Zeitblom, den Thomas Mann als Erzähler seines Romans Doktor Faustus einführt. Doch diese zweifelsohne für fiktionales Erzählen gegebene Möglichkeit der Installation einer eigenen Erzählerfigur scheint mehr und anderes zu sein als nur die Ausstattung der je schon vom Autor unterschiedenen Erzählerfigur mit einem eigenen Namen. Das kann recht deutlich der zitierte Fall des Serenus Zeitblom belegen, der sich auf die folgende Weise seinen Lesern im Vorwort des Doktor Faustus bekannt macht: Mein Name ist Dr. phil. Serenus Zeitblom. Ich selbst beanstande die sonderbare Verzögerung dieser Kartenabgabe, aber, wie es sich trifft und fügt, der literarische Gang meiner Mitteilungen wollte mich bis zu diesem Augenblick immer nicht dazu kommen lassen. Mein Alter ist sechzig Jahre, denn A. D. 1883 wurde ich, als ältestes von vier Geschwistern, zu Kaisersaschern an der Saale, Regierungsbezirk Merseburg, geboren, derselben Stadt, in der auch Leverkühn seine gesamte Schülerzeit verbrachte, weshalb ich ihre nähere Kennzeichnung vertagen kann, bis ich zu deren Beschreibung komme. Da überhaupt mein persönlicher Lebensgang sich mit dem des Meisters vielfach verschränkt, so wird es gut sein, von beiden im Zusammenhang zu berichten, um nicht dem Fehler des Vorgreifens zu verfallen, zu welchem man, wenn das Herz voll ist, ohne dies immer neigt. 21

Um die Differenz von Autor und Erzähler manifest zu machen, bedarf es offenkundig mehr als nur eines Namens. Hier ist eine Figur mit einer eigenen, raumzeitlichen Identität zu schaffen, welche ihn zugleich der Welt der erzählten Figuren subsumiert. Dass die Einführung eines solchen eigenständigen Erzählers durchaus nicht den Normalfall auch des fiktionalen Erzählens bedeutet, macht der Autor Mann hier sehr plastisch in Zeitbloms Entschuldigung für die Verzögerung seiner Selbstvorstellung deutlich. Ich selbst beanstande die sonderbare Verzögerung dieser Kartenabgabe, aber, wie es sich trifft und fügt, der literarische Gang meiner Mitteilungen wollte mich bis zu diesem Augenblick immer nicht dazu kommen lassen. „Der literarische Gang meiner Mitteilungen“ – der übliche Gang, dürfen wir wohl hinzufügen: Das sind eben jene Konventionen, in denen ein Erzähler sich am Beginn eines Textes präsentiert und in denen er über seine Identität gemeinhin keine Auskunft gibt. Was die ausdrückliche Installation eines mit eigener Identität versehenen Erzählers stattdessen bewirkt, ist die manifeste Markierung des Erzählvorgangs selbst als eines fiktiven. Das Erzählen als solches wird hier Teil der erzählten Welt, und aus diesem Grund ist ein solcher Erzähler gebunden an die ‚realistischen‘ Möglichkeiten, die auch einem jeden Alltagserzähler zu Gebote stehen. In gewisser Hinsicht paradoxerweise, aber durchaus konsequent bindet hier die Verlagerung des Erzählvorgangs in die Fiktion folglich den Spielraum des Sagbaren an die Voraussetzungen faktualer Erzählungen. Auch das Postulat eines namenlos bleibenden Erzählers, der als Statthalter des Autors im Text fungiert und die fiktive Repräsentation wie Reduplikation eben dieses Autors darstellt, verwandelt den Vorgang des Erzählens in eine fiktive Operation. Alle wahren Aussagen des Textes fallen hier ihrerseits unter die Bedingungen eines fiktiven Erzählaktes.

21 MANN 2007, S. 16.

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Indessen sollten wir über einen kapitalen Unterschied zwischen dem zur eigenen Person erklärten Erzähler und dem nur als Personalpronomen greifbar werdenden Erzähler nicht hinwegsehen. Denn nur im ersten Fall lässt sich ein Text als Repräsentation einer Erzählung begreifen. Sofern die Differenz von Autor und Erzähler jedoch nicht ausdrücklich markiert ist, gilt dies nicht. Erzählen ist hier nicht eine Repräsentation des Erzählens, sondern dessen Performativität selbst. Das Erzählen verweist in diesem Fall damit auf ein Subjekt der Rede, hinter dem wir niemand anderen als den ‚realen‘ Autor vermuten können. Nichts im Text zwingt uns dazu, die Personalpronomina, die er verwendet, auf jemand anderen zu beziehen als den faktischen Urheber der Rede. Den Erzähler mit einem Namen zu versehen, bedeutet also nicht eine personale Verdichtung einer für jede fiktionale Erzählung je schon gegebenen und vom Autor verschiedenen Sprecherfigur. Erst mittels dieser Markierung einer differenten Identität findet jene Separation des Erzählvorgangs vom Autor statt, welche im gleichen Zug die Erzählung des Autors zur Repräsentation der Erzählung eines anderen verwandelt. Aufgrund dieser Dissoziation aber befindet sich jeder Textexeget, der sich auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Autor und dem Erzähler einlässt, immer wieder vor die alles andere als leicht zu fällende Entscheidung gestellt, ob er im konkreten Fall vom Autor oder vom Erzähler sprechen soll. Denn ironisiert der Erzähler oder der Autor die Titelheldin – wie so manche andere Figur – in seiner Madame Bovary? Die Antwort ist natürlich eindeutig, die Ironie geht selbstredend auf das Konto des Gustave Flaubert. Aber welche Rolle spielt dann der Erzähler dabei? Ironisiert auch er? Überall dort, wo die Charakteristik des Erzählens also über eine bloße Wiedergabe des propositionalen Gehalts des Textes hinausgeht, beginnen die Probleme der Zuschreibung. 22 Sie stellen sich 22 Solchen Schwierigkeiten hat man in der Narratologie bezeichnenderweise durch weitere Binnendifferenzierungen abhelfen wollen. Zu diesem Zweck scheint mir etwa die Instanz eines implied author eingeführt worden zu sein (vgl. BOOTH 1961). Dieser in der Folgezeit immer weiter ausdifferenzierte implizite Autor scheint mir überall dort auf den Plan zu treten, wo der Erzähler als Urheber eines Textphänomens nicht mehr zu genügen scheint, der empirische Autor aber nicht in Anschlag gebracht werden kann, weil man auf keine textexterne Größe zurückgreifen möchte, deren Präsenz im wie Wirksamkeit für den Text mit der Einsetzung eines Erzählers generell auf Distanz gehalten wird und wohl werden muss. Der implizite Autor aber ist damit eine Folgeerscheinung des Erzählers, man möchte ihn sogar als dessen Kreatur bezeichnen. Denn die faktischen Verhältnisse sind hier in nachgerade kurioser Weise verkehrt. Während wir den Erzähler nicht anders denn als eine Figur begreifen können, die sich der Autor als fiktives Geschöpf in seinem fiktionalen Text fertigt, wird der implizite Autor statt dessen zu einem Postulat des Erzählers, der allein als Vertretungsinstanz des Autors innerhalb des Textes nicht zurechtkommt und darum Begleitpersonal benötigt, um weitere Funktionen des aus dem Text ausgegrenzten Autors zu übernehmen und ihm damit noch einmal ein Stück ähnlicher zu werden. Aber warum, in Gottes Namen, muss man hier vom ‚impliziten Autor‘ sprechen und kann nicht einfach ihn selbst, den Autor, einsetzen? Klaus W. Hempfer hat schon vor einem Vierteljahrhundert sehr begründete Einwände gegen das Erfordernis wie die Begründbarkeit des impliziten Autors formuliert: „Die auf kommunikationstheoretischer Grundlage konstruierten Modelle enthalten […] einige problematische Entitäten wie etwa den impliziten Autor und den impliziten Leser, auf die man besser verzichtet. Sie scheinen nicht nur theoretisch unnütz, sie vermischen auch die eigentlich fundamentale Un-

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übrigens auch sehr markant im Falle mancher Paratexte. Vorworte etwa, also Texte, in denen die jeweils folgende Erzählung selbst zum Thema gemacht ist, gelten gemeinhin als die Domäne des Autors. Doch nicht immer fällt die Entscheidung über die Frage wer spricht? leicht. Sollen wir das ‚Vorsatz‘ überschriebene Vorwort des Zauberbergs, welches die folgende Erzählung zu seinem Thema macht, schon dem Erzähler des Romans oder doch noch dessen Autor, der am Buchdeckel namentlich figuriert, zurechnen? 23 Derlei Fragen machen stets ein weterscheidung, nämlich die von textinterner und textexterner Sprechsituation“ (HEMPFER 1977, S. 10). Aber während Hempfer seine höchst plausiblen Argumente zur Sicherung der Distinktivität der Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler einsetzt, scheint mir stattdessen die Instanz eines impliziten Autors gerade die Künstlichkeit und damit Verzichtbarkeit dieser Unterscheidung sinnfällig zu machen. An der in der Tat ein wenig kuriosen Existenz dieses impliziten Autors wird die letztendliche Fragwürdigkeit einer Unterscheidung deutlich, welche denjenigen aus dem Text zu verbannen versucht, der in der Tat seine Implikation, nämlich sein Urheber ist. 23 Es fällt schwer, den Beginn des Vorsatzes, der mit den im Folgenden zitierten Worten einsetzt, jemand anderem als dem Autor zuzuweisen: „Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint […] ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen“ (MANN 2002, S. 9). Das selbstbewusste wir, mit dem der Sprecher sich zu Wort meldet, deutet unweigerlich auf die Instanz des Autors. Doch ebenso gibt der erste Relativsatz dieses Romans, „die wir erzählen wollen“, bereits zu erkennen, dass dieser Autor nicht gedenkt, seine Rede an jemand anderen abzutreten. Ganz unverkennbar wird dies mit dem letzten Satz des Vorsatzes, wenn es dort heißt: „Und somit fangen wir an“ (MANN 2002, S. 10). Diese Schlusswendung des Vorsatzes subvertiert unübersehbar die Zeitkoordinaten, die ein Vorwort üblicherweise setzt. Denn gewöhnlich handelt es von einem Text, dessen Entstehung schon in der Vergangenheit liegt und der eben deshalb zum Gegenstand der Rede werden kann. Anders aber liegen die Dinge im Falle dieses ‚Vorsatz‘ genannten Vorworts des Zauberbergs, wenn das Vorhaben der Erzählung des folgenden Romans noch in der Zukunft zu liegen scheint: „Und somit fangen wir an.“ Im Grunde gibt die unerwartete Bezeichnung ‚Vorsatz‘ diesen Sachverhalt ja schon selbst zu erkennen, deutet dieser Begriff doch auf eine Absicht, ein Projekt, also auf etwas Zukünftiges. Auch mit diesem letzten Satz des Vorwortes erscheint der Autor wenig geneigt, jemand anderen als sein eigenes Ich (oder besser: wir) seine Stelle einnehmen zu lassen. Dieser Eindruck bestätigt sich sehr deutlich am Eingang des ersten Kapitels des Romans: „Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen“ (MANN 2002, S. 11). Da kehrt er wieder, jener „einfache junge Mensch“, von dem ja auch schon der Vorsatz gleich in seinem ersten Satz gesprochen hatte. Die Eröffnung der Erzählung des Romangeschehens und dessen Vorwort sind auf eine Weise miteinander verknüpft, die kaum die Annahme eines Sprecherwechsels zuzulassen scheint. Denn diesen Beginn des ersten Kapitels einem anderen Sprecher als demjenigen des Vorsatzes zuzuschreiben, erschiene höchst artifiziell; doch zugleich scheint es ausgeschlossen, in diesem (Para-)Text die Rede eines anderen als diejenige des Autors zu vermuten. Nur ihm gebührt eine Charakteristik seines Romans wie die folgende: „Wir werden sie [sc. die Geschichte Hans Castorps] ausführlich erzählen, genau und gründlich, – denn wann wäre je die Kurz- oder Langweiligkeit einer Geschichte abhängig gewesen von dem Raum und der Zeit, die sie in Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, daß nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei“ (MANN 2002, S. 10). Was Thomas Mann mit dieser ostentativen Markie-

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nig ratlos; doch diese Ratlosigkeit ist anderes als nur eine fallweise auftretende Unentschiedenheit darüber, wer denn wofür im fiktionalen Text verantwortlich zu machen ist. Was sich in diesem Dilemma vielmehr manifestiert, sind die Symptome der Künstlichkeit einer Reduplikation des Autors um seinen fiktiven Statthalter. Es scheint vordergründig Sinn zu machen, eine fiktive Verdoppelung des Autors um die Figur eines Erzählers einzuführen, um damit das empirische, ‚reale‘ Subjekt des Autors von der Zuständigkeit für die Behauptung all dessen, was der Wahrheit nicht entspricht, entlasten zu können. Doch eben diese Verteilung der Rede auf ein faktisches und ein zuständiges, aber erfundenes Aussagesubjekt gleicht im Grunde einem Versuch, jenem Skandalon der Fiktionalität, der Ermächtigung zur Unwahrheit, die Spitze zu nehmen, indem man das Erfundene einer selbst schon erfundenen Sprecherinstanz zuschlägt, die, selbst schon ausgedacht, verständlicherweise auch Ausgedachtes hervorzubringen vermag. Doch all dies ist in letzter Konsequenz nichts als eine nur vermeintliche Entschärfung jenes transgressiven Momentes, das die Fiktionalität nun einmal mit sich bringt. Denn der Autor, und niemand sonst, gewinnt unter diesen Bedingungen der Rede die Berechtigung zu sagen, was der Wahrheit nicht entspricht. Wir sollten deshalb ihm auch die Rede dessen überlassen, der sich auf diese Transgression des Wahrheitspostulates einlässt. Die vertraute Instanz des Erzählers, die wir seit geraumer Zeit konsequent derjenigen des Autors gegenüberstellen, erweist sich darum bei näherem Zusehen im Grunde als nichts anderes denn eine Reihe von Lizenzen, über die ein Autor fiktionaler Texte verfügt, 24 allen voran die Entbindung von der Verpflichtung auf rung der Identität der Sprecherinstanz im Vorsatz und im erstem Kapitel des Zauberbergs zu erkennen gibt, ist die Künstlichkeit einer generellen Entgegensetzung von Autor und Erzähler, welcher Unterscheidung Thomas Mann hier denn auch, wiewohl unausdrücklich, recht deutlich entgegenzutreten scheint. 24 Möglicherweise lässt sich auch in den verschiedenen Varianten der Charakteristik der Erzählerfigur, welche die Narratologie entwickelt hat, noch immer eine Bindung an das Konzept des Autors als Subjekt der Rede bemerken, welche aus Sicht der schon vollzogenen Trennung von Autor und Erzähler nur als ein Defizit der Theoriebildung erscheinen kann, und doch am Ende insoweit berechtigt erscheint, als das Erfordernis einer Differenzierung von Autor und Erzähler selbst alles andere als gewiss ist. Worauf ich mit diesen Bemerkungen anspiele, ist die Stanzel’sche Typologie der Erzählperspektive, in der er bekanntlich zwischen einer auktorialen, einer personalen und einer Ich-Erzählsituation unterscheidet (vgl. STANZEL 1964). Gérard Genette hat dieser Typologie entgegengehalten, dass sie nicht nach einheitlichen Kriterien konstituiert sei. Während die Unterscheidung zwischen dem auktorialen und dem personalen Erzähler in der Tat die Perspektive zum differenzierenden Merkmal mache, werde die Ich-Erzählsituation nach einem grammatischen Kriterium, dem Personalpronomen, das die Sprecherinstanz bezeichnet, konstruiert (vgl. GENETTE 1972). Dieser Kritik ist als solcher zweifelsohne zuzustimmen. Genette hat daraus seinerseits die systematische Konsequenz einer strikten Trennung der Kriterien gezogen. Er unterscheidet nun zum einen – als Antwort auf die Frage qui parle? – den homodiegetischen vom heterodiegetischen Erzähler. Ersterem Typus gehört nur Stanzels Ich-Erzähler zu, letzterem der auktoriale wie der personale Erzähler. Zum anderen hat er das Phänomen der Perspektive, das der Frage qui voit? korrespondiert, mittels der Unterscheidung zwischen einer focalisation zéro, einer focalisation externe

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die Wahrheit seiner Aussagen. Doch erscheint es durchaus nicht erforderlich, diese Lizenzen in der personalen Identität einer vom Autor verschiedenen Erzählerfigur zu konkretisieren, ja, wie wir noch des Näheren sehen werden, erweist und einer focalisation interne gefasst. Diesmal fallen die personale und die Ich-Erzählsituation gemeinsam unter die Kategorie der focalisation interne, während die auktoriale Erzählsituation einer focalisation zéro entspricht. (Die focalisation externe, dies sei nur der guten Ordnung halber in Erinnerung gerufen, entspricht der bei Stanzel in seiner ursprünglichen Typologie noch nicht vorgesehenen Kameraperspektive.) Nun fällt bei Genettes Systematisierung indessen auf, dass er beide Male, bei der Definition des Status der Sprecherinstanz ebenso wie im Falle der Typologie der Perspektiven mit der räumlichen Opposition ‚innen‘ vs. ‚außen‘ operiert. Doch, wenn es um die Frage qui parle? geht, gehören auktorialer und personaler Erzähler als externe Größen zusammen. Wo stattdessen die Typologie der Perspektiven zur Debatte steht, fallen beide, Ich-Erzähler und personaler Erzähler, unter das Rubrum einer focalisation interne. Hier wie dort aber handelt es sich um die gleiche Grenzziehung, die Grenze zwischen der Sprecherposition und der erzählten Welt, wobei es im Hinblick auf den jeweiligen Aspekt gleichwohl zu unterschiedlichen Gruppenbildungen kommt. Dass indessen in beiden Fällen das Kriterium der jeweiligen Gruppenbildung durch die Position der Sprecherinstanz gebildet wird, gibt zu erkennen, dass die Opposition zwischen qui voit? und qui parle? von Genette durchaus nicht so distinkt gehandhabt wird, wie es seine Kritik an Stanzel postuliert. So bleibt die Erzählertypologie der Figures III im Grunde an die Priorität des qui parle? gebunden, die damit mitten in der Erzählercharakteristik zu erkennen gibt, dass sich von der fundierenden Sprecherinstanz, eben derjenigen des Autors, so leicht nicht abstrahieren lässt. Derselbe Autor ist es, der – ungenannt – auch die Bezugsgröße von Stanzels Typologie bildet. Im Hinblick auf diese Instanz des Autors aber erweist sich als durchaus konsistent, was Genette als inkonsequent moniert hatte. Denn der auktoriale Erzähler ist nur ein Name für den Autor selbst, ein Name, der die Fülle der Möglichkeiten kennzeichnet, die einem jeden Autor eines fiktionalen Textes zur Verfügung stehen. Personaler und Ich-Erzähler bezeichnen statt dessen jeweils bestimmte Formen der Korrelation von Autorfunktionen mit der erzählten Welt, wobei sie sich komplementär zueinander verhalten. Denn der Ich-Erzähler meint den Fall, in dem der Autor seine Sprecherfunktion an eine Figur der erzählten Welt delegiert, während beim personalen Erzähler dieser Autor seine Funktion als Wahrnehmungssubjekt an einen Akteur des erzählten Geschehens abtritt. Bei näherem Zusehen aber erweist sich diese Komplementarität im Grunde zugleich als eine Gradation, denn der Ich-Erzähler übernimmt ebenso die Sprecherfunktion, wie er als Wahrnehmungssubjekt für die Darstellung in Erscheinung tritt. Indessen gibt gerade der Typus eines personalen Erzählers zu erkennen, dass diese Typologie nur scheinbar eine vom Autor unabhängige Klassifikation unterschiedlicher Erscheinungsformen von Erzählern darstellt. Denn auch dieser personale Erzähler ist ja noch immer ein auktorialer Erzähler, insofern er sich Möglichkeiten zunutze macht, die nur dem Autor eines fiktionalen Textes zu Gebote stehen, vor allem verfügt auch er über die Möglichkeit einer Introspektion in die Gedanken eines anderen Wahrnehmungssubjekts. Durch diese mangelnde Distinktivität zwischen dem auktorialen und dem personalen Erzähler aber kommt nichts anderes als die Unhintergehbarkeit der Instanz des Autors zum Vorschein, die insofern auch innerhalb einer Erzählertypologie präsent bleibt, die doch gerade mit dem Anspruch einer Substitution der textexternen Sprecherinstanz durch eine textinterne antritt. Beide Typologien dieses Erzählers, Stanzels wie Genettes systematischer Aufriss von verschiedenen Erzählerfiguren, aber haben ihr unausdrückliches Zentrum in eben diesem Autor, dessen Verschweigen, wie gesehen, in beiden Ansätzen unbemerkt bleibende systematische Inkonsistenzen hervorruft. Man sollte den Autor nicht zuletzt deshalb in seine angestammten Rechte als das Subjekt der Rede auch für den fiktionalen Text wieder einsetzen.

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sich die grundsätzliche Gegenüberstellung beider Instanzen im Grunde als irreführend. Bekanntlich hat sich die Unterscheidung von Autor und Erzähler recht spät in der Geschichte des Nachdenkens über die Literatur konstituiert. Frühere Jahrhunderte haben mit größter Selbstverständlichkeit das Ich des Textes mit dem Namen des empirischen Autors gleichgesetzt. 25 Erst die Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts hat die Differenzierung zwischen beiden Instanzen zu einem ihrer zentralen Postulate erhoben, 26 das zu beachten gewissermaßen zu ihrer Kernkom-

25 Die hier entwickelte These versteht sich deshalb auch als ein Versuch, diesen historischen Sachverhalt mit einer theoretischen Analyse der Konzeption eines Autors fiktionaler Texte zu vermitteln. Es geht mir auch um eine Erklärung des Sachverhalts, warum denn Jahrhunderte, die durchaus eine höchst differenzierte Poetologie entwickelt haben, mit der größten Selbstverständlichkeit und ohne hier irgendwelche Defizite zu empfinden, den Autor und den Erzähler nicht unterschieden haben. 26 Es lohnt sich deshalb, noch einmal die forschungshistorischen Umstände etwas genauer zu bedenken, unter denen es zur Einführung der betreffenden Differenzierung kam. Paradigmatisch wird dies anhand der von Margarete Susman eingeführten Kategorie des lyrischen Ichs deutlich (vgl. SUSMAN 1910). Zum Desiderat der Forschung wurde eine solche Instanz der Rede dort, wo eine dominant biographische oder auch biographistische Deutung der Literatur zwischen dem Sprecher des literarischen Textes und dem empirischen Autor keinen Unterschied machte und deshalb umstandslos die im fiktionalen Text berichteten Begebenheiten als Wiedergabe faktischer Erlebnisse seines Verfassers verstand. Angesichts solcher Voraussetzungen erscheint es in der Tat sinnvoll, eine Instanz einzuführen, welche die Autonomie eines textuellen Ichs sichert und damit der bedenkenlosen Identifikation von Leben und Werk einen Riegel vorschiebt. Doch die zu dieser Funktion eingeführte Differenz hat sich längst gegenüber ihrer ursprünglichen Funktion verselbständigt. Die Unterscheidung von Autor und Erzähler gehört inzwischen zum unbefragten und fraglos vorausgesetzten Credo der Wissenschaft von der Literatur, ja erscheint gewissermaßen sogar als eine Erkennungsmarke ihrer Wissenschaftlichkeit. Doch, wie zu zeigen versucht, ist es um die Selbstverständlichkeit dieser Differenzierung nicht sonderlich gut bestellt. Zudem bringt der Verzicht auf eine strukturelle Unterscheidung zwischen dem Autor eines fiktionalen Textes und seinem Erzähler ja durchaus nicht die Notwendigkeit mit sich, alles unter den Bedingungen der Fiktionalität Gesagte auch schon für die bare Münze der Biographie des Autors zu nehmen. Denn diese Bedingungen schaffen eben die Voraussetzungen für ein im einzelnen Fall kaum zu entwirrendes Spiel mit der Wahrheit, und zu solcher Wahrheit des Erzählten kann durchaus auch Selbsterlebtes zählen. Die Feststellung einer Korrespondenz zwischen dem Dargestellten und dem Leben des empirischen Verfassers bedeutet insofern durchaus etwas anderes als eine sozusagen sekundäre, ihre originäre Separation wieder ein Stück weit aufhebende, biographistische Angleichung des Erzählers an den Autor. Vielmehr haben wir es hier mit nichts anderem als den Möglichkeiten dieses Autors zu tun, von dem zu handeln, was ihm, dem Autor selbst, in der Tat in seiner empirischen Welt begegnet ist – und das nun in fiktional-fiktiver Verfremdung wiederkehrt, statt den fiktiven Erzähler ein wenig ‚realistischer‘ zu machen. Um die veränderten historischen Umstände der Theoriebildung indessen noch einmal zu verdeutlichen: Die Einführung einer vom Autor unterschiedenen, textinternen Sprecherinstanz erwies sich forschungsstrategisch dort als fruchtbar, wo die Identifikation des Autors mit dem textimmanenten Ich zur umstandslosen Reduktion der Inhalte des fiktionalen Textes auf die biographischen Lebensverhältnisse des Autors führte. Indessen hat die kategoriale Trennung zwischen Autor und Erzähler inzwischen ein theoretisches Konstrukt hervorgebracht, dessen Fülle der fiktiven Substitute für den faktischen Autor nicht ohne Widersprüche auskommt,

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petenz gehört, ja den Unterschied zwischen einer ‚naiven‘ und einer professionellen Lektüre begründet. In gewisser Weise hat die Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte an diese Stelle den Prüfstein ihrer Professionalität verlegt. Deshalb ist die Einsicht in die Unumgänglichkeit einer Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler den mitunter widerstrebenden Eingangssemestern unbedingt schon im Grundkurs zu vermitteln, wie es auch der Unterzeichnete seit einem Vierteljahrhundert in bislang ungebrochener, inzwischen jedoch brüchig gewordener Überzeugung betrieben hat. Bezeichnenderweise aber hat es auch im Zeichen der in dieser Hinsicht aufgeklärten Literaturwissenschaft immer wieder ‚Rückfälle‘ in die vielleicht nur vermeintliche Naivität einer Nicht-Unterscheidung von Autor und Erzähler gegeben, der eben gemeinhin durchaus keine erkennbare personale Identität entwickelt. Setzt man indessen die oben entwickelte Analyse des Verhältnisses von Fiktionalität und Fiktion an, so rückt der Autor einer fiktionalen Erzählung seinerseits in eine bemerkenswerte Ambiguität. Denn als Subjekt der Rede erzählt er, und nur er, offensichtlich so, wie es ein Verfasser jeglicher Erzählung tut. Nur stehen ihm zugleich Möglichkeiten zur Verfügung, über die ein Autor eines nicht-fiktionalen Textes nicht verfügt, und diese Möglichkeiten betreffen vor allem die Lizenzen für den Wahrheitscharakter des Erzählten. 27 weil sie um eine Leerstelle herumgebaut ist, über die sich auch für den fiktionalen Text nicht einfach hinwegsehen lässt (als wäre es ihr ‚Ding an sich‘): um den empirischen Autor. 27 Indessen steht hier nicht allein die Frage des Wahrheitswertes des Erzählten zur Debatte. Ebenso geht es um die Frage der Zuverlässigkeit von Erzähleraussagen, die sich aus der Binnenstruktur der Erzählerinformationen ergeben. Von Belang ist hier zumal das Phänomen des sog. unreliable narrator. Was mit diesem Begriff besagt ist, besteht in nichts anderem als in dem Umstand, dass der Leser in einem fiktionalen Text Informationen über das dargestellte Geschehen erhält, die zu anderen Informationen nicht passen, ja im Widerspruch zu ihnen stehen können; und zur Charakteristik solcher Informationsstrukturen hat man eben die Figur des unreliable narrator entwickelt. Die Motive seiner Einführung sind offenkundig, gilt es doch ihn verantwortlich für eine Informationspolitik zu machen, die in krassem Widerspruch zu den Geboten anderweitiger, nicht-fiktionaler Kommunikation steht, um im gleichen Zug den empirischen Autor vor dem Verstoß gegen solche Regeln zu bewahren. Doch welcher Zwischeninstanz der Autor sich auch immer bedienen mag, um eine solche Regelverletzung von seiner historisch-faktischen Existenz wie Identität fernzuhalten, letztlich zeichnet niemand anderes als eben er dafür verantwortlich. Doch solche absichtsvollen Regelverstöße ereignen sich eben unter der Voraussetzung jener Sonderbedingungen, die den fiktionalen Diskurs nun einmal als sein Spezifikum kennzeichnen, Bedingungen, die zugleich die Unerheblichkeit solcher Regelverletzungen für diesen Fall markieren. Warum also soll im Schutzraum dieser konventionellen Regelungen nicht der Autor selbst – denn er tut es ja ohnehin – ein Spiel mit seinen Lesern treiben – mit Lesern, die schließlich wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie einen fiktionalen Text lesen. Der unreliable narrator wie der Erzähler schlechthin sind im Grunde allesamt Figuren, welche jenes Skandalon aus der Welt schaffen sollen, das mit den Lizenzen fiktionaler Rede unweigerlich verbunden ist. Letztlich aber stehen auch diese Figuren, welche die Fiktionstheorie der Moderne ersonnen hat, damit noch immer in der Tradition einer Theoriebildung, die einmal mit der Feststellung begonnen hat, dass alle Dichter lügen. Sie sind insoweit noch immer Entlastungszeugen. Letztlich hat bereits der in Wahrheitsfragen unverdächtige Kirchenvater Augustinus hier das Nötige gesagt, hat er doch die Dichtung von der Lüge als eine Lüge ohne Täuschungsabsicht unterschieden. Eine solche Unterscheidung wirkt terminologisch zweifelsohne noch immer unbeholfen, weil sie jene

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Wir haben oben mit dem Begriff der ‚Vergleichgültigung‘ die differentia specifica der fiktionalen gegenüber der faktualen Rede zu bestimmen versucht. Der Text kann, aber muss durchaus nicht, Aussagen über Geschehnisse und Sachverhalte machen, die keiner historischen Faktizität entsprechen. Deshalb kann der Autor eines fiktionalen Textes von ihm oder anderen Erdachtes und Erfundenes zum Gegenstand seiner Darstellung machen, aber hierzu besteht keinerlei Notwendigkeit. Er kann auch erzählen wie jeder andere Autor und Wahres berichten. Just diese Definition der Fiktionalität als einer Ermöglichungsstruktur aber scheint mir eben in der Eigenheit eines Autors angelegt zu sein, der über Möglichkeiten verfügt, die nur er besitzt, von denen er indessen keinerlei Gebrauch machen muss; und bezeichnenderweise lässt er den Leser ja weithin im Unklaren darüber, ob er diese Möglichkeiten nutzt. Zu diesen Möglichkeiten gehört es im Übrigen auch, dass er den Erzählvorgang ganz an einen fiktiven Erzähler delegiert, um seine Erzählung zur Repräsentation einer anderen Erzählung zu machen – und vielleicht tut Thomas Mann dies nicht zufällig in seinem Roman Doktor Faustus, handelt dieser Text, wie sein Titel signalisiert, doch von einer Figur, die ihrerseits bereits als literarische bestens eingeführt ist. Doch in der weit überwiegenden Zahl fiktionalen Erzählens bleibt der Autor, sehr bewusst, dürfen wir wohl hinzufügen, in jener Ambiguität einer Autorenrolle im fiktionalen Text, für die sich nur in Grenzen feststellen lässt, ob der dadurch ermächtigte Autor von seinen Lizenzen Gebrauch macht oder nicht. Die grundsätzliche Gegenüberstellung eines Autors und eines von ihm verschiedenen Erzählers überspielt durch diese klare Distinktion deshalb gerade jene Struktur der Ambivalenz, welche wir für alle Fiktionalität als charakteristisch herauszuarbeiten versucht haben und die sich eben auch in der Struktur eines Autors fiktionaler Texte spiegelt. Wenn Fiktionalität eine Marge der Übergängigkeit, der strukturellen Grenzverwischung zwischen Wahrheit und Fiktion eröffnet, in der sich zwischen beiden Kategorien schwerlich oder auch gar nicht entscheiden lässt, dann sollte man durch eine Doppelung der Sprecherinstanzen nicht eine Distinktion einführen, welche gerade auf eine klare Aufteilung zwischen dem ‚Realen‘ und dem ‚Fiktiven‘ setzt. Denn Fiktionalität ist, wie gesehen, eine Struktur der Ermächtigung im Umgang mit der Wahrheit; sie produziert, wie oben erörtert, Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit: Sie ermöglicht es dem Autor eines fiktionalen Textes, zu sagen, was den Tatsachen nicht entspricht, aber sie nötigt ihn dazu auch nicht. Abweichung von der Wahrheit, die sie vom moralischen Makel freisprechen möchte, noch immer mit einem Begriff belegt, der unvermeidlich eine moralische Verurteilung beinhaltet. Doch das Argument, dass der Leser resp. Zuschauer ja weiß, was ihn erwartet, benennt die entscheidende Differenz gegenüber allen anderweitigen Erscheinungsformen des Diskurses. Gleichwohl, die Theorie der Fiktion tut sich, wie gesehen, bis auf den heutigen Tag schwer, dem empirischen Autor jene Lizenzen zuzubilligen, die andernorts Regelverstöße mit durchaus erheblichen Konsequenzen darstellen würden. Doch diese theoretische Zurückhaltung, den Autor damit zu belasten, was im konkreten Fall nicht nur kein Vergehen, sondern vielmehr Ausweis großer Virtuosität sein kann, sind im Grunde wohl Symptome des hohen Stellenwertes, welche das Wahrheits- resp. Zuverlässigkeitsgebot – glücklicherweise – für die Rede besitzt.

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Genau diesem für alle Fiktionalität konstitutiven Spielraum aber steht die grundsätzliche Bindung des Erzählens an einen fiktiven Sprecher, eben den Erzähler, letztlich entgegen. Es ist darum an der Zeit, diese im 20. Jahrhundert definierte Unterscheidung im 21. Jahrhundert wieder abzuschaffen und eine Differenzierung, um nicht zu sagen Opposition zwischen Autor und Erzähler für jene Fälle zu reservieren, in denen der Erzähler auch de facto, angefangen bei einem eigenen Namen, eine eigenständige, vom Autor markiert verschiedene Identität ausbildet. 28 Denn jenes Maß an Differenzierung, das man im Zeichen einer forschungsgeschichtlich höchst fruchtbaren, ja wohl unverzichtbaren Unterscheidung zwischen dem Autor und dem Erzähler für die Analyse fiktionaler Texte gewonnen hat, geht mitnichten verloren, wenn man diese systematische Differenzierung wieder preisgibt. Sie aufzugeben aber empfiehlt sich, weil sie eine präzisere Charakteristik des fiktionalen Diskurses ermöglicht, insofern die Struktur der Fiktionalität im Grunde durch die Unterscheidung zweier distinkter, in ihrem Realitätsstatus verschiedener Sprecherinstanzen auch schon unterlaufen wird. 29 Denn die Ambivalenz 28 Diese Einladung zur Revision einer vertraut und wohl auch lieb gewordenen Unterscheidung bringt, wie bereits festgestellt, die Notwendigkeit weiterer Überprüfungen mit sich. Auch auf der Seite des Lesers scheint mir hier Bedarf zu bestehen. Um dem Kommunikationsmodell der Erzählung Konsistenz zu sichern, hat man folgerichtig auch für ihn eine Unterscheidung zwischen dem empirischen Leser und einer Leserrolle, die Teil des Textes ist, vorgenommen. Eine solche textimmanente Figur des Lesers wird etwa überall dort greifbar, wo der Erzähler sich ausdrücklich an den Leser wendet. Man denke nur an die kanonische Formel vom „geneigten Leser“. Sinn scheint die Differenzierung zwischen einer empirischen und einer textinternen Größe an dieser Stelle umso mehr zu machen, als wir es hier, anders als im Falle von Autor und Erzähler, ja zugleich mit einer Opposition zwischen der einen Leserrolle und den vielen empirischen Lesern zu tun haben. Ungeachtet dessen: Die Aufgabe einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler macht m.E. auch diejenige zwischen der Leserrolle im Text und dem textexternen empirischen Leser hinfällig. Apostrophiert wird auch innerhalb des Textes niemand anderes als dieser empirische Leser, wer immer er auch sein mag, der sich ja auch stets angesprochen fühlt. Gewissermaßen als Beleg dafür lassen sich jene Fälle in Anschlag bringen, bei denen nun in der Tat der im Text apostrophierte Leser eine so weitgehende Identität ausbildet, dass sich der empirische Leser mit ihm nicht mehr identifizieren kann. Ein signifikantes Beispiel in dieser Hinsicht scheint mir Italo Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore zu bilden. An seinem Beginn, aber auch nur für einen Moment, muss der Leser, der empirische wohlgemerkt, derjenige, der den Text de facto liest, davon ausgehen, dass auch er es ist, der vom Autor, wie wir fortan sagen wollen, angesprochen wird: „Stai per cominciare a leggere il nuovo romanzo Se una notte d’inverno un viaggiatore di Italo Calvino. Rilassati. Raccogliti. Allontana da te ogni altro pensiero“ (CALVINO 1979, S. 3). Doch nicht lange kann er sich in dieser Illusion wiegen. Denn mehr und mehr stellen sich Informationen über den lettore ein, die dazu zwingen, ihn als eine Figur zu begreifen, die vom ,empirischen Leser‘, der den Roman in seinen Händen hält, verschieden ist (vgl. hierzu KABLITZ 1992). Eine solche, sich im Verlauf des Textes zunehmend einstellende Einsicht aber setzt gerade voraus, dass der apostrophierte Leser zunächst auch derjenige ist, der diesen Text de facto liest. Insofern erübrigt sich gerade eine grundsätzliche Differenzierung zwischen einem ,empirischen‘ und einem textinternen Leser, weil erst die anfänglich ganz unstrittig anzunehmende Identität zwischen beiden jene Effekte ermöglicht, welche der Verlauf des Textes erzeugen wird. 29 Die ‚Logik der Forschung‘ also wäre darin zu sehen, dass hier eine Differenzierung vorgenommen wurde, die Einsichten in die Struktur fiktionaler und literarischer Texte ermöglicht

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einer fiktionalen Textstruktur, in welcher aufgrund der unhintergehbaren Struktur der Sprache die Existenz der Dinge, von denen die Rede handelt, postuliert und zugleich durch zusätzliche Regelungen als unerheblich ausgewiesen wird, entspricht nämlich sehr genau der Rolle eines Autors, der sich seinerseits diese Lizenzen im Umgang mit der Wahrheit zunutze machen kann, aber dazu keineswegs genötigt ist – der also erzählen kann, wie jeder andere Erzähler auch, und die Wahrheit sagen kann, wie jeder andere Autor auch. Aber im einen wie im andern Fall ist er es, der Autor, der sich so oder so äußert – und sonst niemand. Noch einmal werden wir hier also auf eine erkennbare Asymmetrie zwischen Drama und Erzählung hingewiesen. Während die strukturellen Voraussetzungen des Dramas keine andere Möglichkeit zulassen als diejenige, die Vermittlungsinstanz des Schauspielers als eine fiktive Rolle zu identifizieren, gilt dies für das Vermittlungssystem der Erzählung durchaus nicht. Wie zu zeigen versucht, gibt es hier vielmehr eine bemerkenswerte Ambivalenz der Autorenrolle, insofern er sich der besonderen Möglichkeiten des fiktionalen Erzählens bedienen kann, aber dies keineswegs erforderlich ist. Diese Differenz aber ist wesentlich damit zu erklären, dass das fiktionale Erzählen, anders als die schauspielerische Darstellung, eben auf ein Medium, die Erzählung, zurückgreifen kann, das nicht an die Fiktion gebunden ist. Diese Grundstruktur des Erzählens aber bleibt eben auch im Falle des fiktionalen Textes erhalten, der nur um zusätzliche Möglichkeiten ergänzt wird. Die Notwendigkeit, dem Autor seine fiktionale Doppelung als Erzähler zuzuordnen, stellt sich hier, entgegen dem Postulat der Literaturwissenschaft des vergangenen Jahrhunderts, wie mir scheint, darum aus den erörterten Gründen eben nicht. Denn genau jener Spielraum, welcher dem Autor eines fiktionalen Textes zu Gebote steht, ist es, welcher die Unterscheidung zwischen dem Fiktiven und dem Fiktionalen erforderlich macht.

hat, welche ohne die betreffende Unterscheidung vermutlich nicht gewonnen worden wären. Insofern war die entschiedene Differenzierung zwischen Autor und Erzähler alles andere als ein Irrweg der Forschung. Es belegt vielmehr einen höchst rationalen Prozess wissenschaftlicher Diskussion, wenn mithilfe dieser Unterscheidung eine Komplexität des fiktionalen Diskurses zutage getreten ist, welche am Ende die betreffende Differenzierung selbst hinfällig macht. Gleichwohl ist es auch signifikant, dass der Zugriff auf diese Komplexität zunächst durch eine Doppelung der Sprecherinstanzen erfolgte und nicht durch eine Beschreibung der unterschiedlichen Möglichkeiten, welche den Autoren fiktionaler im Unterschied zu faktualen Texten zur Verfügung stehen. Vermutlich sind es die Eigenheiten des Gegenstands literaturwissenschaftlicher Forschung, die darin zum Tragen kommen, näherhin das Illusionspotential darstellender Texte. Denn dieses Illusionspotential macht es plausibel, warum man theoretische Differenzierungen als mimetische Oppositionen definiert, sie also nach den Maßgaben des Gegenstands konzipiert, dessen adäquatere Beschreibung sie bewirken sollen. Und was lag in dieser Hinsicht näher, als einen vom Autor verschiedenen Erzähler einzuführen, wenn es doch ohnehin vorkommen kann, dass der Autor selbst sich einen Erzähler schafft, den er mit einer eigenen, von ihm selbst verschiedenen Identität ausstattet? So gehörte zur ‚Logik der Forschung‘ einer Verabschiedung der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler auch eine fortschreitende Emanzipation der Theoretisierung des Gegenstands von der Determination durch die Kategorien dieses Gegenstands – bezeichnenderweise zum Zwecke ihrer größeren Präzision.

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Legt es also der Strukturvergleich von Drama und Erzählung gerade um der zwischen ihnen zu beobachtenden Differenzen willen nahe, auf eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler zu verzichten, so bleiben noch ein paar Bemerkungen dazu zu machen, wie es sich denn im Fall der Lyrik verhält. Just diese Gattung ist ja im 20. Jahrhundert im Hinblick auf ihre Fiktionalität wie keine zweite umstritten gewesen. Während Margarete Susman gerade anhand der Lyrik das Erfordernis einer kategorialen Differenzierung zwischen dem empirischen Autor und der Sprecherinstanz im Text des Gedichts entwickelt hat,30 nimmt Käte Hamburger demgegenüber lyrische Dichtung ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der „fiktionalen Gattung“ heraus. 31 Diese Kontroversität der Bestimmungen könnte auf den Proteuscharakter der Gattung ‚Lyrik‘ zurückzuführen sein, die zwischen narrativen Mustern der Rede und solchen, die keinerlei Erzählstrukturen aufweisen, changiert. Indessen wird sich herausstellen, dass eine Erklärung hier näherliegt, welche die spezifischen Probleme des Verhältnisses eines Ichs zu seiner eigenen Fiktivität Rechnung stellt. Aber dazu später. Auch für die Lyrik gilt, dass die poetologische Tradition lange keinerlei Unterschied zwischen einer textinternen Sprecherinstanz und einem textexternen Autor gemacht hat. 32 Wo in früheren Jahrhunderten etwa von dem poeta die Rede ist, der sich im Canzoniere zu Wort meldet, ist natürlich der Autor Petrarca höchstselbst gemeint. Stattdessen ist es inzwischen fast zur Selbstverständlichkeit geworden, einen systematischen Unterschied zwischen dem Ich der 366 Gedichte der Rerum vulgarium fragmenta und der Person des historischen Francesco Petrarca zu machen – und dies unbeschadet der Tatsache, dass dieses Ich an etlichen Stellen des Canzoniere auch nicht den Hauch eines Zweifels daran aufkommen lässt, dass es niemand anderen meint als eben den Autor Petrarca selbst. Entsprechend den Maßgaben unseres Verständnisses dieses Textes, können wir diesen Sachverhalt nur in etwa wie folgt beschreiben: Das fiktive Ich der Gedichte stilisiert sich textintern, und d.h. innerhalb der fiktiven Welt, welche diese Texte errichten, zur Figur des historischen Autors. Eine solche Erklärung ist insofern recht aufschlussreich, als sie im Grunde einer recht umständlichen Negation der faktischen Verhältnisse gleichkommt. Während der Autor Petrarca sich in seinen Texten auf seine eigenen Lebensumstände bezieht, können wir aufgrund unserer generellen Prämissen für das Verständnis 30 Vgl. SUSMAN 1910. 31 HAMBURGER 1968, S. 195: „Es mag deutlich geworden sein, daß mit diesen Bestimmungen nichts anderes beabsichtigt ist, als den logischen Ort der Lyrik im System der Dichtung zu fixieren. Dieser Ort liegt, um es nochmals zusammenzufassen, im Aussagesystem der Sprache, im Unterschied von der fiktionalen Gattung, die von ihm abgetrennt ist.“ 32 Auch diese wohletablierte Terminologie, im Besonderen die Formulierung des textexternen Autors, hat etwas Künstliches. Denn natürlich ist ein Autor ‚textextern‘, insofern seine Person sich nicht in seiner Tätigkeit als Textproduzent erschöpft. Doch wenn wir vom textexternen Autor sprechen, apostrophieren wir ihn just als denjenigen, der eben den jeweiligen Text verfasst hat, der nun zur Debatte steht. Schon diese Redeweise gibt insofern etwas von der Artifizialität einer Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler zu erkennen, die ihn aus jenem Text verbannt, dessen Urheber er doch ohne Zweifel ist und in dem sich seine Präsenz nur schwerlich bestreiten lässt.

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literarischer Texte diese Entsprechung zwischen dem Text und seinem Urheber nämlich nur als eine doppelte Negation deuten. Die Differenzierung zwischen lyrischem Ich und historischem Autor negiert grundsätzlich deren Identität, doch dieser kategoriale Unterschied wird dadurch in Grenzen rückgängig gemacht, dass man für die textinterne Welt des Canzoniere eine Angleichung des fiktiven Ichs an die Vita des Francesco Petrarca ansetzt. In Grenzen, wohlgemerkt, denn es bleibt unter den Bedingungen einer solchen Beschreibung bei einer bloßen Korrespondenz zwischen der fiktiven Welt des Textes und der Realität des Autors. Nun steht zum anderen außer Frage, dass es in der Tat Informationen in den Gedichten des Canzoniere gibt, die offensichtlich nicht oder nur schwerlich mit den historischen Lebensumständen dieses Autors übereinstimmen können. Dies gilt etwa für all das, was literarisch topisch ist oder auch für das, was wir kaum mit den Gesetzen dieser Welt vereinbaren können. Sollten wir deshalb diese Fälle nicht eben zum Anlass nehmen, das Ich der Rerum vulgarium fragmenta konsequent von seinem Autor zu unterscheiden? Systematisch betrachtet, stehen sich hier im Grunde zwei Alternativen gegenüber: Zum einen lassen sich die Abweichungen zwischen historischer Faktizität und textueller Information als ein Argument für die These lesen, dass wir das Ich der Rede grundsätzlich als eine vom Autor geschiedene Instanz der Rede zu verstehen haben. Alle Entsprechungen zwischen den Gedichten und den Lebensumständen des Francesco Petrarca, für die es ja an ostentativen Markierungen nicht fehlt, 33 sind folglich nicht anders zu deuten als im beschriebenen Sinne. Sie sind zu verstehen als fiktionale Korrespondenzen zwischen Text und historischer Faktizität. Indessen lassen sich zum anderen auch umgekehrt die Übereinstimmungen zwischen der Biographie des Autors und den Informationen des Textes ernst nehmen und folglich die Identität zwischen dem Ich der Rerum vulgarium fragmenta und ihrem faktischem Urheber als solche akzeptieren. Was aber machen wir dann mit all dem, was sich schwerlich als eine Wiedergabe der Vita des Francesco Petrarca begreifen lässt? Unsere, für uns unumgänglich scheinende, Lösung habe ich skizziert. Indessen sollten wir nicht deren Prämissen verkennen, Prämissen, welche unter anderem die unhintergehbare Voraussetzung machen, dass eine Identität von Autor und lyrischem Ich die historische Zuverlässigkeit dessen erfordert, was im Text gesagt wird. Doch spielt eine solche Zuverlässigkeit aller biographischen Details in der Selbstvorstellung dieser rime am Beginn des Canzoniere durchaus keine Rolle. Im Einleitungssonett dieses Zyklus ist ihnen stattdessen folgender Status zugewiesen: Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono di quei sospiri ond’io nudriva ’l core in sul mio primo giovenile errore quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono: 34

33 Besonders deutlich sind solche Markierungen beispielsweise in der Pragmatik des Textes dort gesetzt, wo ausdrücklich Adressaten genannt werden, die zu den Korrespondenzpartnern des Autors Petrarca gehören wie etwa Colonna (vgl. etwa das Sonett Canzoniere X). 34 PETRARCA 1996, S. 5.

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Die Gedichte des Canzoniere werden als sospiri eingeführt, sie sind Seufzer und somit Ausdruck der Befindlichkeit des Ichs über einen Zeitraum von immerhin 31 Jahren hinweg, wie der Leser später erfährt. 35 Der Wahrheit dieses Ausdrucks seiner Passion aber tut es nicht den geringsten Abbruch, wenn die rime sparse der Rerum vulgarium fragmenta nicht in jedem Punkt historisch Verbürgtes zum Thema haben. Denn Petrarcas Canzoniere ist eine Selbstdarstellung seines Autors, und wenn er in diesem lyrischen Zyklus exemplarisch die Verstrickung in die Fänge Amors schildert, dann hängt eine solche Exemplarität gerade an der Autorität dessen, der sich Francesco Petrarca nennt und der darum als das Ich seiner Rede in allen Gedichten seiner rime sparse gegenwärtig ist. Referentielle Semantik und artistische Meisterschaft gehören hier unbedingt zusammen. Die Moderne scheint stattdessen dazu zu tendieren, Exemplarität eher an ein unbestimmtes Ich zu binden, dessen ausbleibende biographische Determination ein größeres Identifikationspotential für jedermann bietet. Das fiktive Ich erscheint unter solchen Voraussetzungen zugleich als ein generisches Ich. Eine vormoderne Konzeption des Exemplarischen bindet diese Leistung der Rede demgegenüber weit eher an die auctoritas dessen, der zu einer solchen Vorbildhaftigkeit berechtigt ist. Aus diesem Grund tritt der Canzoniere als eine Selbstdarstellung seines Autors in Erscheinung, und aus demselben Grund steckt in dem Ich seiner Gedichte grundsätzlich die Stimme des Francesco Petrarca – und dies auch noch dort, wo die Begebenheiten, von denen der Text berichtet, mit den faktischen Lebensumständen des Urhebers dieser Dichtung kaum übereinstimmen (können). Wie die einander gegensätzlichen Positionen von Margarete Susman und Käte Hamburger zeigen konnten, fällt es augenscheinlich besonders schwer, eine Fiktivität des Ichs zu begründen. Dort, wo der Autor sich selbst zum Thema seiner Rede macht, herrscht offenkundig eine größere Sensibilität für die Wahrheit seiner eigenen Rede als dort, wo sie von anderen handelt. Die Bedeutung einer Kategorie wie derjenigen der Authentizität für das Denken der Moderne macht derlei Empfindlichkeiten durchaus plausibel. Dabei können die daraus gezogenen Folgerungen, wie gesehen, sehr unterschiedlich ausfallen, ja gegensätzlich sein. Man kann, wie Käte Hamburger, die Rede des Ichs über sich selbst grundsätzlich dem Geltungsbereich der Fiktion entziehen und lyrische Dichtungen in der Konsequenz dieser Entscheidung schlechthin zur Wahrheitsaussage erklären. Aber man kann ebenso, wie Maragrete Susman es tut, die unbestreitbaren Abweichungen zwischen lyrischen Texten und der Vita ihrer Autoren, wie sie sich in mehr oder minder sämtlichen Gedichten werden beobachten lassen, zum Anlass nehmen, die Person des Autors und das lyrische Ich kategorial voneinander zu trennen, um dem Ich auch nicht irgendeine Last der Unaufrichtigkeit aufzubürden. Alle Gemeinsamkeiten von Leben und Werk können hinfort nur noch unter den Voraussetzungen ihrer Fiktivität, als fiktionsinterne Stilisierungen betrachtet werden. Angemessener aber scheint es mir zu sein, eine solche Opposition zu vermeiden, 35 Vgl. Canzoniere CCCLXIV, V. 1–4: „Tennemi Amor anni ventuno ardendo, / lieto nel foco, et nel duol pien di speme; / poi che madonna e ’l mio cor inseme / saliro al ciel, dieci altri piangendo“ (PETRARCA 1996, S. 1406).

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indem man auch im Falle lyrischer Dichtung so verfährt, wie wir es in den vorstehenden Überlegungen für die Erzählung vorgeschlagen haben. Auch für die Lyrik scheint es angebracht, das Ich der Rede, sofern keine anderweitigen Spezifizierungen dieses Pronomens vorliegen, als das Ich eines Autors zu begreifen, der unter den Bedingungen fiktionaler Rede selbstredend die Möglichkeit hat, Dinge zu sagen, die historischer Faktizität nicht entsprechen – und dies gilt im Hinblick auf die eigene Person nicht anders als für andere Personen resp. Figuren. Eine solche Beschreibung der Sprechsituation – lyrischer wie narrativer Literatur – bietet im Übrigen den Vorteil, mit der Präsenz der Biographie des Autors im Text ungleich entspannter umgehen zu können, als dies einer Wissenschaft von der Literatur möglich ist, die als Sprecherinstanz im Text stets nur ein fiktives Ich – sei es nun lyrisches Ich oder Erzähler genannt – akzeptieren kann und darum ständig darauf bedacht sein muss, zwischen der Welt des fiktionalen Textes und der Welt selbst eine distinktive Grenze aufrechtzuerhalten. Folgerichtig tendiert eine auf diese Prämissen gegründete Literaturwissenschaft denn auch in verständlicher Abwehr eines lange vorherrschenden Biographismus dazu, die Gemeinsamkeiten zwischen Leben und Werk herunterzuspielen. Aber warum soll Thomas Mann, und zwar er selbst, in den Buddenbrooks nicht manches berichten, was seinen Erinnerungen an das Lübeck seiner Kindheit und Jugend entspricht, um es mit etlichem zu verbinden, was er, und niemand anderes, sich ausgedacht hat – genau so, wie es die Lizenzen fiktionaler Rede ihm, dem Autor, gestatten? Denn ein Stück weit sind die Buddenbrooks doch ganz gewiss autobiographisch. Wir sollten diesem Autor deshalb nicht mehr grundsätzlich in Gestalt seines fiktiven Doubles eine zweite Sprecherinstanz beigesellen, weil sie, wie erörtert, die für sie charakteristische strukturelle Ambivalenz fiktionaler Rede im Umgang mit der Wahrheit durch klare Aufteilungen zwischen Empirie und Fiktion für die Instanz der Rede wieder rückgängig zu machen trachtet – und sei es in der besten Absicht, um den empirischen Verfasser vom Makel der Unwahrhaftigkeit seiner Aussagen zu entlasten. Doch diese Schutzmaßnahme zu seiner Ehrenrettung als honourable man erübrigt sich. Denn die konventionell etablierte Struktur der Fiktionalität selbst bewahrt den Autor eines fiktionalen Textes vor allen Konsequenzen, die unter anderen Umständen eine Behauptung von Unwahrheiten unweigerlich nach sich ziehen würde. So sollten wir in Zukunft niemand anderem als ihm, dem Autor, auch im fiktionalen Text das Wort überlassen – es sei denn, er selbst gibt uns Hinweise, dass er seine Rechte an jemand anderen abgetreten hat (wenn er den Erzähler zum Beispiel Serenus Zeitblom nennt).

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KABLITZ 2008a: Kablitz, A., „Fiktion und Bedeutung. Dantes Vita nova“, Vorlage zum Kolloquium Konzepte der Fiktionalität und die Literaturen des Mittelalters, Kloster Irsee November 2006, erscheint in den Akten der Tagung. KUTSCHERA 1975: Kutschera, F. von, Sprachphilosophie, München 21975. MACDONALD 1989: Macdonald, M., „Le langage de la fiction“, Poétique 78 (1989), S. 219–235. MÜLLER 2004: Müller, J.-D., „Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur“, Poetica 36 (2004), S. 281–311. MÜLLER 2007: Müller, J.-D., Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik um 1200, Tübingen 2007. SIEBURG 1967: Sieburg, F., Robespierre. Napoleon. Chateaubriand, Stuttgart 1967. STANZEL 1964: Stanzel, F., Typische Formen des Romans, Göttigen 1964. SUSMAN 1910: Susman, M., Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart 1910. VAIHINGER 1911: Vaihinger, H., Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Posivitismus, Berlin 1911. WEINRICH 1975: Weinrich, H., „Fiktionssignale“, in: Positionen der Negativität, hg. v. H. Weinrich, München 1975, S. 525–526.

Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob und die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätstheorie – Stationen produktiven Missverstehens ANITA TRANINGER In dem, was wir suchen, in dem, was wir finden, da mag sich wohl Irrtum mit Wahrheit verbinden. 1

1. A ghostly presence Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob ist eine gespenstische Präsenz in der Literaturwissenschaft attestiert worden, 2 und in der Tat scheint es kaum einen so wenig gelesenen und dabei so oft alludierten und gar theoriebegründend aufgegriffenen Text in der Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts zu geben. Gleichzeitig hat Vaihingers Wendung des „Als Ob“ an unterschiedlichen Systemstellen Eingang in die literaturwissenschaftliche Theoriebildung gefunden, wenngleich dies um den Preis der Obsoletsetzung von Vaihinger selbst und insbesondere den Spezifika seiner Philosophie geschah: By means of an elegant, energy-conserving act of omission – the non-citation of the author of The Philosophy of „As If“ – critics employing Vaihinger’s model of the fiction in order to accomplish crucial rhetorical and conceptual business put the awkwardness of Vaihinger’s premodern assumptive world […] at one further remove. It turns out after all to be Vaihinger’s name that „simply dissolves“ under the weight of the Zeitgeist’s disapproval, and not his sturdy and serviceable „as if.“ Thus, Vaihinger „appears“ with the spectral uncanniness of a phantom, both there and mysteriously not there, when his „as if,“ unencumbered by documentation, repeatedly proves itself to be trenchant […] for the crossing of boundaries that otherwise might prove fatally constrictive to the initiatives of contemporary scholars. 3

Der allgemeine Konsens scheint zu sein, dass der zu Lebzeiten berühmte und weit über Deutschland hinaus rezipierte Vaihinger als zweitrangiger Philosoph einzuschätzen sei „who happened upon, malgré lui, a very interesting theory which has continued to serve as a reference point“. 4 Die verschiedenen Ausprägungen, die die Reduktion von Vaihingers philosophischem System auf den Bezugspunkt des Als Ob im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeitigt hat, sind 1 2 3 4

Beginn eines Gelegenheitsgedichts, das Hans Vaihinger anlässlich von Sigmund Freuds 70. Geburtstag am 6. Mai 1926 in der österreichischen Tageszeitung Neue Freie Presse platzierte. Zit. n. TICHY/ZWETTLER-OTTE 1999, S. 130. STAMPFL 1998, S. 443. Ebd. S. 440. MOTZKIN 2000, S. 164.

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durchaus auch malgré l’auteur angelegt. Klaus W. Hempfer hat mit Nachdruck auf die grundsätzliche Fruchtbarkeit des Als Ob für die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätstheorie hingewiesen und einige wichtige Positionen einer knappen Beurteilung unterzogen. 5 Dieser Beitrag nimmt diese Überlegungen zum Ausgangspunkt für eine Rekapitulation wie auch eine Weiterführung. Die Rekapitulation meint den ausführlicheren Blick auf die Elemente von Vaihingers Theoriebildung sowie deren spezifische Transformation in einigen wegweisenden literaturwissenschaftlichen Ansätzen zur Integration und Operationalisierung des Als Ob. 6 Das Als Ob ist zum einen – zuweilen auch allein als Oberflächenphänomen des literaturwissenschaftlichen Diskurses – in zahlreichen Arbeiten präsent, gleichzeitig aber wird es mit Blick auf ganz unterschiedliche Phänomene und auch in ganz unterschiedlicher Erklärungsabsicht verwendet. Um die verschiedenen Ausdeutungen besser einordnen zu können, wird zunächst Vaihingers Ansatz in seinen Grundzügen und insbesondere in seinem Bezug zur ästhetischen Fiktionsbildung rekapituliert. Darauf folgen ein Versuch, Zugriffe auf die Philosophie des Als Ob klassifizierend zu ordnen und schließlich ein Vorschlag für eine literaturspezifische Lesart des Als Ob. Es geht also letztendlich nicht allein um die Dokumentation, sondern auch um die ansatzweise Klärung der Frage, welche Indienstnahmen des Als Ob in der literaturwissenschaftlichen Fiktionalitätstheorie insofern fruchtbar sind, als sie einer Theorie der Spezifität des Als Ob für den literarischen Diskurs zuarbeiten. Zur Grundierung der nachfolgenden Diskussion seien zunächst Vaihingers Begriff des Als Ob und die ihm zugrunde liegende Konzeption der ‚Fiktion‘ zusammengefasst. 2. Die Philosophie des Als Ob Hans Vaihinger legte den Kern seiner Überlegungen zur Bedeutung von Fiktionen in wissenschaftlichen Zusammenhängen 1877 als Habilitationsschrift an der Universität Straßburg vor. Das Projekt ruhte dann über viele Jahre, um erst 1911, nachdem Vaihinger durch ein Augenleiden fast erblindet und an einer Überarbeitung gehindert war, unverändert als erster Teil in die Philosophie des Als Ob einzugehen. Das Buch fand weite Rezeption und wurde bis 1927 zehnmal neu aufgelegt und auch früh ins Englische übersetzt. 7 Fiktionen fasst Vaihinger als Begriffe, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben, d.h. „welche in der Wirklichkeit keinen Vertreter finden“. 8 Dies sei aber nicht als Defizit zu verstehen, weil sie nicht die Welt beschreiben, sondern als Erklärungshilfen fungieren. Ihre Existenzberechtigung beziehen sie aus 5 6

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S. HEMPFER 2002, bes. S. 121–125. Ich beschränke mich hier auf die Diskussion von Arbeiten, die auf die Bestimmung von Fiktionalität im engeren Sinn abzielen. Eine Diskussion der Arbeiten von J. Hillis Miller, Barbara Johnson, Susan Stanford Friedman und Gayatri Chakravorty Spivak in Hinblick auf ihre je spezifische – und unmarkierte – Bezugnahme auf Vaihinger bietet STAMPFL 1998. Zu weiteren Details der Publikationsgeschichte s. CEYNOWA 1993, bes. S. 19–21. VAIHINGER 1922, S. 24.

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ihrer Unterordnung unter handlungspraktische Zwecke. Fiktionen sind mithin „theoretische Annahmen, deren objektive Gültigkeit nicht gerechtfertigt werden kann, die aber zur Orientierung des Handelns unentbehrlich sind“. 9 Im Rahmen dieser Definition sind Fiktionen also nicht auf die Beschreibung des lebensweltlich Erfahrbaren hin angelegt, sondern instrumentell auf die Ermöglichung der Behandlung und auch Veränderung vorfindlicher Phänomene gemünzt. Ganz klar werden nicht sämtliche Begriffe als Fiktionen kategorisiert, sondern es geht um die Beschreibung einer bestimmten Gruppe von Begriffen, denen eine spezifische Funktionalität zukommt. Zu unterscheiden sind auf einer gestuften Skala Halb- oder Semifiktionen, die in sich schlüssig sind, aber zur Wirklichkeit in Widerspruch stehen; Vollfiktionen dagegen stehen zur Wirklichkeit in Widerspruch und sind zudem in sich selbst widersprüchlich. Diese seien die höherrangigen Denkmodelle; das Denken sieht Vaihinger phylogenetisch und teleologisch als ein Fortschreiten von den Semifiktionen zu den Fiktionen: Das Denken beginnt zuerst mit leichteren Abweichungen von der Wirklichkeit (Halbfiktionen), um zuletzt, immer kühner geworden, mit solchen Vorstellungsgebilden zu operieren, welche nicht mehr bloss dem Gegebenen widersprechen, sondern auch in sich selbst widersprüchlich sind. 10

Der Übergang zwischen den beiden Kategorien ist fließend gedacht, und so wird auch in Vaihingers taxonomisch entfaltetem Panorama der Fiktionen nicht streng zwischen ihnen geschieden. Es reicht von der Semifiktion des Klassenbegriffs (z.B. das Linné’sche Klassifikationssystem der Pflanzen) über abstraktive Fiktionen (z.B. Adolphe Quételets homme moyen), schematische Darstellungen, Typusbegriffe und Modellbildungen (darin auch Utopien und Goethes Urpflanze), die in der Theologie und der Metaphysik verbreiteten symbolischen bzw. analogischen Fiktionen (Gott als Vater der Menschen), juristische Fiktionen (Subsumption von Fällen unter Gesetze), heuristische Fiktionen (Annahmen unwirklicher Ursachen) etc. sowie – als eigene Kategorien geführt – das Unendliche, das Atom, das Kant’sche Ding an sich, 11 das Absolute. Dieser breit gefächerte, gänzlich heterogene Katalog wird vom Prinzip der Funktionalität zusammengehalten: Fiktion ist in Vaihingers Sinne, was von einer praktischen Zweckmäßigkeit bestimmt ist. Fiktionen sind ‚Kunstgriffe‘, Durchgangspunkte des Denkens, die für die Bearbeitung von Welt instrumentalisiert sind. Anders als die nominalistische fictio meint die Vaihinger’sche Fiktion nicht jeden Allgemeinbegriff, sondern Prägungen, die kein Korrelat in der Wirklichkeit, nichtsdestotrotz aber heuristischen Wert haben, weil sie Phänomene benenn- und beschreibbar machen. Der Fiktionsbegriff ist klar auf den bewussten Einsatz von Falschem zur Erkenntnis von Wahrem zugeschnitten, von einem Panfiktionalismus bei Vaihinger 9

CEYNOWA 1993, S. 9f. Ceynowa bietet einen Überblick über die Genese von Vaihingers Fiktionsbegriff und eine Situierung im wissenschaftstheoretischen Instrumentalismus. 10 VAIHINGER 1922, S. 24. S. auch WILLRODT 1933. 11 S. dazu SCHAPER 1966.

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kann also nicht die Rede sein. 12 Allerdings, das sei eingeräumt, sind Bestrebungen Vaihingers zu beobachten, sein Modell für alle denkbaren Gebiete aufzuschließen, wodurch dieser Eindruck entstehen kann bzw. sogar suggeriert wird – in der Theorie angelegt ist er nicht. Beträfe das Etikett der Fiktion jegliche Begriffsbildung, wäre schließlich Vaihingers Differenzierung von Fiktion und Hypothese obsolet, wenn nicht sinnlos: Während die Hypothese auf Verifikation hin perspektiviert ist, muss die Fiktion allein als zweckmäßig legitimiert werden. Beide sind in dem Sinn Durchgangsstationen, als die Fiktion obsolet, die Hypothese aber durch Bestätigung ‚bewahrheitet‘ werden soll. Hypothesen können letztlich durch Beobachtung mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht werden. 13 „Der eigentliche Unterschied zwischen beiden also ist, dass die Fiktion blosses Hilfsgebilde ist, blosser Umweg, blosses Gerüst, welches wieder abgeschlagen werden soll, die Hypothese dagegen einer definitiven Fixierung entgegensieht.“ 14 Sowohl Fiktion als auch Hypothese unterliegen gemeinsam mit dem Dogma dem „Gesetz der Ideenverschiebung“, das – gemessen an der jeweiligen Stabilität des Begriffs – Auf- und Abstiegsbewegungen von der Fiktion zur Hypothese zum Dogma und zurück bezeichnet. Motor der primären Verfestigungstendenzen ist die „Tendenz der Seele“ zur Stabilisierung der Vorstellungen, Grund für Rückstufung von Dogmen zu Fiktionen dagegen das Erkennen von historischen Täuschungen. 15 Das Als Ob schließlich figuriert als „sprachliche Form und Ausdrucksweise der Fiktion“ 16 und verbindet Vergleich und Konditionalis: Was liegt nun in dem Wie wenn? in dem Als ob? Es muss doch wohl ausser der Unwirklichkeit und Unmöglichkeit der gemachten Annahme, welche der Konditionalsatz enthält, noch etwas darin stecken; die Partikel enthält offenbar noch den Entschluss, trotz dieser Schwierigkeiten die Annahme formal aufrecht zu erhalten. Zwischen dem Wie und dem Wenn, dem Als und dem Ob, dem comme und dem si, dem as und if, dem qua-si, liegt also ein ganzer sub-intelligierter Satz. Was heisst nun also: Die Materie muss betrachtet werden, wie wenn sie aus Atomen bestünde, als ob sie aus Atomen bestünde? – Das kann nichts anderes heissen als: die empirisch uns gegebene Materie muss so betrachtet werden, wie sie zu behandeln wäre, wenn sie aus Atomen bestehen würde. […] Damit ist also die Notwendigkeit (oder Möglichkeit oder Wirklichkeit) einer Subsumtion unter eine unmögliche oder unwirkliche Annahme klar ausgesprochen. 17

Ein eigenes Kapitel widmet Vaihinger der Differenzierung wissenschaftlicher und ästhetischer Fiktionen, wobei er nur Erstere mit dem Terminus zu belegen vorschlägt, während im Bereich des Ästhetischen von Figmenten zu reden sei: Das 12 Vgl. dagegen ISER 1991, S. 263; so auch WELS 1997 und KABLITZ 2003, S. 254: „Eine radikal subjektphilosophische Erkenntnistheorie also macht in Vaihingers Philosophie des Als Ob alle Erkenntnisse zu Fiktionen – und begibt sich gerade aufgrund dieser Radikalität in einen logischen Widerspruch, insofern sie die Fiktivität von etwas behaupten muß, dessen Realitätsstatus zu überprüfen sie selbst unmöglich macht.“ 13 S. VAIHINGER 1922, S. 143–154. 14 Ebd. S. 148. 15 S. ebd. S. 219–230. 16 Ebd. S. 154. 17 Ebd. S. 163. Hervorhebungen im Original.

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Atom sei eine Fiktion, Pegasus ein Figment. 18 Der nicht referenzialisierbare Gegenstand, der in fiktionalen Kontexten so typisch anzutreffen ist, ist in diesem System gerade nicht mit dem Begriff der Fiktion zu belegen. Beide seien aber strukturell parallel anzusiedeln und geeint durch eine Zweckorientierung, die sich im Fall der Fiktion auf das Wahre bezieht, im Fall des Figments auf das Schöne: Die ästhetische Fiktion, resp. eine Theorie derselben schliesst sich zum Teil sehr enge an die wissenschaftliche Fiktion an; und das ist ganz natürlich, wenn man bedenkt, dass in der Bildung beider dieselben elementaren, psychischen Grundprozesse mitwirken. Die ästhetische Fiktion dient dem Zwecke, gewisse erhebende oder sonst wichtige Empfindungen in uns zu wecken. Auch ist die ästhetische Fiktion wie die wissenschaftliche nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung höherer Zwecke. 19

Vertieft wird dieser Vergleich nicht, die ästhetische Fiktion steht klar nicht im Zentrum von Vaihingers Interesse. Aufschluss über die Ummünzung des Fiktionsbegriffs in eine hermeneutische Praxis mag sein Vorwort zur Neuausgabe von August Schrickers „kulturhistorischer Novelle“ Wie Kant beinahe geheiratet hätte 20 geben. Dort manifestiert sich zumindest in Spuren Vaihingers Literaturbegriff, der in der Philosophie des Als Ob so auffällig außen vor blieb. An der Novelle, die zuerst 1881 unter dem Titel Aus Immanuel Kants Leben publiziert worden war, erschien dem Neu-Kantianer Vaihinger insbesondere bemerkenswert, dass sie „auf ganz soliden biographischen und kulturhistorischen Forschungen beruht“: 21 Diesen fast wissenschaftlich klingenden Titel führte die Novelle insofern mit Recht, als die Darstellung wirklich auf wissenschaftlichen Grundlagen beruht. Der Leser kann das beruhigende Gefühl haben, daß das Bild des Zeitmilieus vorzüglich getroffen ist, insofern es wie ein Mosaik aus einzelnen sorgfältig gesammelten Stücken besteht; aber auch die von Schricker so malerisch fein ausgeführte Liebesepisode aus dem Leben des großen Philosophen ist keine müßige Erfindung, sondern beruht auf zuverlässigen biographischen Daten. 22

Was unterscheidet die Darstellung dann überhaupt von einem historischen Bericht? An einer Stelle hat der Autor mit Bewußtsein einen Anachronismus begangen, indem er den Ankauf des eigenen Wohnhauses Kants im Interesse der künstlerischen Wirkung des Ganzen um einige Jahre zurückverlegte. Diese poetische Lizenz ist ein dichterisches ‚Als Ob‘: ohne solche bewußte Abweichungen von der Wirklichkeit hat niemals ein Dichter arbeiten können. 23

Das Als Ob des Dichters betrifft für Vaihinger in Analogie zu seinem Fiktionsbegriff die Fiktivität der erzählten Sachverhalte. Dass die Novelle eine ‚Spielhandlung‘ hat, dass sie eine Diegese mit sprechenden und handelnden Figuren entwirft, kurz, dass ein Akt der Narration vorliegt, steht nicht zur Debatte. Diese 18 19 20 21 22 23

S. ebd. S. 129–143, hier S. 129. Ebd. S. 131. SCHRICKER 1924. VAIHINGER 1924, S. 20. Ebd. S. 20f. Ebd. S. 21.

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Auffassung des Als Ob wird auch die ersten Ansätze zu einer Indienstnahme für die Literaturwissenschaft prägen. 3. Das Als Ob der Gegenstände Es besteht Konsens darüber, dass die literaturwissenschaftliche Fiktionstheorie in Deutschland in Käte Hamburgers Logik der Dichtung (1957) ihren Anfang hat. Hamburger nimmt für ihre Bestimmung der Spezifität der Sprache der Dichtung Maß an Vaihinger und stellt grundsätzlich in Frage, ob Kunstwerke – und Wortkunstwerke insbesondere – überhaupt mittels der Philosophie des Als Ob zu bestimmen sind. Wichtig für ihr Argument ist zunächst die Einführung einer Unterscheidung zwischen ‚fingiert‘ und ‚fiktiv‘: ‚Fingieren‘ sei das Verb zu ‚Fiktion‘, es bedeute ‚fälschlich vorgeben‘, ‚simulieren‘. Das Substantiv ‚fictio‘ und das zugehörige Adjektiv ‚fiktiv‘ dagegen meinen ein überwiegend positiv konnotiertes, ‚schöpferisches Bilden‘. Das Fiktive, nicht die Fiktion, sei folglich konstitutiv für den literarischen Text. Vaihinger dagegen habe den Begriff der Fiktion privilegiert und mithin die von Hamburger erst eingeführte Differenzierung nicht respektiert (in der Tat natürlich nicht respektieren können) – in der Konsequenz sei sein Ansatz gescheitert. 24 Hamburgers Urteil über Vaihinger verdankt sich also allein ihrer selbst eingeführten prekären Semantisierung von ‚Fiktion‘ und ‚fictio‘; indem sie selbst den Fiktionsbegriff an eine Täuschungsabsicht koppelt, indem sie ihm aus dem gesamten aus dem Verb fingere abgeleiteten Wortfeld allein das Fingieren zugesellt, schafft sie erst die Voraussetzung für ihre Ablehnung des Als Ob. Grundlage ihrer Kritik ist mithin nicht Vaihingers Textvorlage, sondern die auf Basis eines alltagssprachlichen Gebrauchs erst konstruierte, in der lateinischen wie auch der volkssprachlichen Wort- und Theoriegeschichte aber so eindeutig nicht verankerte Differenz. 25 Um eine Alternativlösung zum Als Ob einzuführen, greift Hamburger als Beispiel Schillers Figur der Maria Stuart heraus. In terminologischer Abweichung von der heutigen Theoriebildung geht Hamburger davon aus, dass die Bühnenfigur Maria Stuart fiktiv genannt werde. Der Einwand gegen das Als Ob lautet: „Aber Schiller hat Maria Stuart nicht gestaltet, als ob sie die wirkliche wäre. Wenn wir sie, wenn wir eine jede Dramenwelt dennoch als fiktive apperzipieren, so beruht das nicht auf einer Als Ob-Struktur, sondern, wie wir sagen können, auf einer Als-Struktur.“ 26 Letztere impliziere, dass der Schein von Wirklichkeit erzeugt werde, aber eben ohne Täuschungsabsicht. Diese Setzung ist insofern zentral im Kontext von Hamburgers Ansatz, als sie Dichtung als Darstellung – und 24 S. HAMBURGER 1977, S. 53–55. 25 Es will scheinen, dass hier ein fundamentales Missverständnis auf der Grundlage einer nur partiellen Kenntnis von Vaihingers Abhandlung vorliegt. Vaihinger selbst thematisiert die fictio in klarer Abgrenzung von seinem eigenen Theoriemodell, doch unter umgekehrten Vorzeichen: Während sein Fiktionsbegriff positiv zu verstehen sei, habe die scholastische fictio eine pejorative Konnotation, s. VAIHINGER 1922, S. 254–257. 26 Ebd. S. 55.

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nicht als Nachahmung – fassen will. 27 Ist dafür aber die scharfe Absetzung von Vaihinger notwendig? Hamburger will darauf hinaus, dass die dargestellte Welt als Wirklichkeit erscheine, solange man liest oder zusieht, „doch nicht so, als ob es eine Wirklichkeit wäre“. 28 Die Unterscheidung ist subtil: Was genau macht den Unterschied zwischen ‚scheinen als‘ und ‚erscheinen als ob‘ aus? Die Illusionsbildung ist für Hamburger der wesentliche Aspekt; es geht um die Behandlung des dramatisch oder episch Vorgestellten oder Vorgetragenen im Rahmen der Aufführungs- oder Lektüresituation. Innerhalb des Fiktionsrahmens erscheint das Dargestellte real, gleichzeitig ist klar, dass es lebensweltlich nicht real ist. So wie Vaihingers Fiktion allein im Hinblick auf einen wissenschaftlichen Erkenntniszweck Geltung, ansonsten aber keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat, bezieht Hamburgers dichterische Darstellung ihre alleinige und zeitlich limitierte Validität aus ihrer Bedeutung im Rahmen der Rezeption des Kunstwerks. Die außersprachliche Referenz beider ist leer. Hamburgers Theorie wäre mithin als funktional analog zu Vaihingers Philosophie des Als Ob zu denken, hätte sie nicht selbst den Fiktionsbegriff diskreditiert. Anders als andere Elemente in der Logik der Dichtung – wie beispielsweise die Gattungseinteilung und der Ausschluss der Lyrik – konnte sich Hamburgers Vorschlag des ‚Als‘ jedoch nicht gegen das ‚Als Ob‘ als Theoriechiffre durchsetzen. Affirmativ wird Vaihingers Fiktionsbegriff zehn Jahre später in Frank Kermodes The Sense of an Ending (1967) aufgegriffen, wo versucht wird, Analogien zwischen literarischen und anderen Fiktionen zu identifizieren: „So my suggestion is that literary fictions belong to Vaihinger’s category of the ‚consciously false‘. They are not subject, like hypotheses, to proof or disconfirmation, only, if they come to lose their operational effectiveness, to neglect.“ 29 Nachdem ‚fiction‘ hier das fiktionale Narrativ meint, ist Kermodes Fiktionsbegriff auf der Ebene des Textes, nicht jener der fiktiven Elemente eines Textes angesiedelt. Dennoch geht es Kermode nicht um pragmatische oder illokutionäre Aspekte: Der Text wird nicht als Sprachhandlung theoretisiert (vgl. dagegen die unten unter 4. diskutierten Ansätze), sondern das Gesamt des literarischen Textes wird der begrifflichen Fiktion Vaihingers analog gesetzt. Der Text als gesamter sei ein Instrument der Erkundung des menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Facetten und damit heuristisch funktionalisiert. Auch der Verlust der diesbezüglichen ‚operationalen Wirksamkeit‘ ist nach Vaihingers ‚Gesetz der Ideenverschiebung‘ modelliert, wenngleich Kermode nur die ‚Degenerierung‘ der Fiktion zum Mythos diskutiert, die eintrete, wenn sie nicht mehr bewusst als Fiktion behandelt werde und damit ihres heuristischen Wertes verlustig gehe. 30 Den Mythos stilisiert Kermode zum absoluten Oppositionsbegriff der Fiktion: wo Fiktionen den Wandel beförderten, wirkten Mythen stabilisierend; wo Mythen absolute Zustimmung einforderten, beschränkten sich Fiktionen auf bedingte Akzeptanz. Und schließlich: „Myths make 27 Vgl. dazu SCHEFFEL 2003, S. 142. 28 HAMBURGER 1977, S. 55. 29 KERMODE 1967, S. 40. Zu Kermodes – und auch Vaihingers – verzerrender Indienstnahme Nietzsches in dieser Hinsicht s. PASCAL 1977, bes. S. 43f. 30 S. KERMODE 1967, S. 41.

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sense in terms of lost order of time, illud tempus […]; fictions, if successful, make sense of the here and now, hoc tempus.“ 31 Doch die zur Stützung dieses Modells angeführten Belege zeigen, dass zum einen seine Denunziation des Mythos mit der inhaltlichen Besetzung eines seiner Beispiele zu tun zu haben scheint und dass zum anderen diese Konzeption nur partiell auf Literatur bezogen ist: so sei ‚Antisemitismus‘ zu einem Mythos erstarrt, 32 während King Lear als Fiktion verstanden werde. Kermode gibt kein Beispiel für einen fiktionalen Text, der zum Mythos geworden wäre, und in der Tat scheint dieser Zuschnitt des Problems zwar zutreffend auf eine Erkenntnisfunktion der Literatur zu verweisen, darüber hinaus aber für die Bestimmung von Fiktionalität wenig zu leisten. Ebenso an einer Schlüsselstelle der Theorie firmiert das Als Ob in Wolfgang Isers Das Fiktive und das Imaginäre (1991). Iser setzt das Als Ob als Verankerungsort des Imaginären – um das es ihm in seinen Überlegungen zu einer literarischen Anthropologie recht eigentlich geht. Im Anschluss an Vaihingers oben zitierte Ausführungen, wie die Ellipse des Als Ob syntaktisch aufzufüllen sei, wird nun das Imaginäre exakt zwischen ‚als‘ und ‚ob‘ angesiedelt: Die Partikelverbindung indiziert eine Leerstelle, die sich durch eine doppelte Referenz auszeichnet: denn sie ist zum einen nur Vergleichsglied, zum anderen jedoch die Gemeinsamkeit der Glieder, die als jeweils gegeben bzw. fingiert von sehr unterschiedlicher Natur sind. Die im Als-Ob erfolgte ‚Aussparung‘ schließt nun vorhandene Realität mit einem empfindungsgesteuerten Zugriff zusammen und erweist sich dadurch als Quelle, aus der die imaginativen Einfälle in das Bewußtsein einschießen. 33

Trotz dieser zunächst prominenten Besetzung der Ellipse als Generator der Imagination mäandert die Argumentation im Folgenden in bezeichnender Weise: Vor dem Hintergrund von Nelson Goodmans Ways of Worldmaking markiert Iser Defizite von Vaihingers Theoriebildung und stuft sie schließlich gegenüber Goodman als überholt ein, um dann doch das Als Ob nicht aufzugeben, wohl weil es, wie Klaus Hempfer formuliert hat, „intuitiv so einleuchtend ist“. 34 Um Isers Argumentationsgang nachvollziehen zu können, sei kurz Goodmans Ansatz rekapituliert. Goodman geht von der Erzeugung verschiedener Welten je nach Beschreibungsperspektive aus – wobei die Beschreibung eine Konstruktions-, keine Repräsentationsleistung ist. So sei die von der Biologie gesehene und geschaffene Welt eine andere als die der Geschichtsschreibung etc. Goodman setzt dabei Fiktionen als unabdingbaren Teil der jeweiligen ‚faktischen‘ Welt. Mit Blick auf Fiktion bedeutet ‚Welterzeugung‘ gerade nicht den Entwurf alternativer oder möglicher Welten, sondern die grundlegende Involvierung der Fiktion in der lebensweltlichen Wirklichkeit: „Works of fiction in literature and their counterparts in other arts play a prominent role in worldmaking: our worlds are no more a heritage from scientists, biographers, and historians than from novelists, play-

31 Ebd. S. 39. 32 Das Beispiel ist unglücklich gewählt, weil ganz offenbar nicht ‚Antisemitismus‘ die Fiktion ist, sondern ein bestimmter ideologischer Begriff des ‚Juden‘. 33 ISER 1991, S. 251f. 34 HEMPFER 2002, S. 123.

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wrights, and painters.“ 35 Kurz: „the so-called possible worlds of fiction lie within actual worlds“. 36 Auch wenn literarischen und anderen Fiktionen ein Anteil in der Welterzeugung eingeräumt wird, bleiben sie doch als Fiktionen bestehen, ebenso wie die Naturalisierung wissenschaftlicher Begriffsbildung nichts an der Abstraktheit der Begriffe ändert (Goodman nennt Vitamine und Radioaktivität). Es geht Goodman gerade nicht darum, die Differenz zwischen Fakt und Fiktion zu schleifen, sondern ihre Relevanz für die Konstruktion von Welten herauszuarbeiten, Welten, die in dieser Hinsicht als Hybrid begriffen werden. 37 Iser deutet das Verhältnis von Fakt und Fiktion bei Goodman nun gegenteilig, indem er urteilt, dass „angesichts eines solchen Verständnisses nicht nur der Gebildecharakter der Fiktion [schwindet], sondern auch die ihr von Vaihinger noch zugeschriebene Funktion der Berechnung einer der Erkennbarkeit verschlossenen Realität. Der Zwitter des Vaihingerischen Als-Ob löst sich auf.“ 38 In der Tat teilt Goodman nicht Vaihingers Verständnis einer prinzipiellen und definitorisch notwendigen Funktionalisierung der Fiktion. Dass aber bei Goodman die Unterscheidung von Fakt und Fiktion eingeebnet würde, lässt sich aus seinem Argumentationsgang gerade nicht herleiten. Ein zweiter Kritikpunkt Isers betrifft – wie schon bei Hamburger – Reste einer Lügenhaftigkeit, die er in Vaihingers Fiktionsbegriff lokalisiert: „Denn in diesem Fiktionsverständnis schwingt noch etwas von der ehedem kritisierten Täuschungsabsicht mit, die sich jedoch dadurch rechtfertigt, daß sich die Fiktion als solche zu erkennen gibt.“ 39 Abgesehen davon, dass der Begriff der Fiktion bei Vaihinger gerade durch die offen gelegte Konstrukthaftigkeit charakterisiert ist, ist Isers Kritikpunkt in sich widersprüchlich: Wenn eingeräumt wird, dass die Fiktion transparent gemacht wird, kann nicht gleichzeitig eine Täuschung vorliegen. Von der Rezipientenseite her ließe sich freilich argumentieren – doch das tut Iser nicht –, dass die szientifische Fiktion im Kontext der disziplinären Wissenschaft und in der einschlägigen Fachdiskussion als solche ausgestellt und im Wissen um den Fiktionscharakter eingesetzt, gleichzeitig aber auch im Alltagsverständnis naturalisiert bzw. gar nicht als Fiktion erkannt werden kann. Vaihinger setzt aber gerade bei der philosophischen und wissenschaftlichen Denkbewegung und nicht bei einer komplexitätsreduzierenden Alltagsverwendung von Begriffen an. Aufrecht bleibt als Differenz zwischen den Positionen Vaihingers und Goodmans, dass Ersterer von einer beschreibungsunabhängig existenten Welt ausgeht, die durch die Volte der Fiktionsbildung in den Griff zu bekommen sei, während 35 GOODMAN 1978, S. 103. ‚Fiction‘ ist im engen Kontext dieses Zitats als ‚Literatur‘ zu verstehen, doch zielt Goodman im Weiteren auf die fiktiven Elemente des literarischen Diskurses ab: Sein Beispiel ist ‚Don Quijote‘. 36 Ebd. S. 104. 37 Vgl. dazu ZIPFEL 2001, S. 69–76. Wichtig ist die Unterscheidung, auf die jüngst Lutz Danneberg nochmals hingewiesen hat: „Fiktionale Welten sind nicht Teil der als real angesehenen Welt, nur das Wissen über sie ist Teil der realen Welt“ (DANNEBERG 2006, S. 81). 38 ISER 1991, S. 266. 39 Ebd.

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Goodman diese Vorgängigkeit verneint. Zwischen diesen beiden Ansätzen ist nicht zu vermitteln, und in Isers drittem Kapitel scheint eine klare Entscheidung für die Seite Goodmans zu fallen. Umso erstaunlicher, dass im darauf folgenden Kapitel das Als Ob wiederum als Marker des Fiktiven instituiert wird: Wenn sich der literarische Text aufgrund kontraktstabilisierter Signale zwischen Autor und Leser als inszenierter Diskurs zu erkennen gibt und damit die Textwelt unter das Vorzeichen des Als-Ob rückt, dann ist dem Rezipienten bedeutet, dass es die natürliche Einstellung zu dem ihm gebotenen Sachverhalt einzuklammern gilt. 40

Iser gibt das Als Ob also trotz seiner vorausgegangenen Demontage nicht auf, fasst es aber eng als auf die Ontologie der fiktiven Gegenstände bezogen.41 In dem Wort vom „inszenierten Diskurs“ klingt freilich eine zweite Dimension der Theoretisierung des Fiktionalen an, die mit dem Als Ob bearbeitet wurde. 4. Das Als Ob der Illokution Zu den Versuchen, Vaihingers auf die Deckung beziehungsweise Nicht-Deckung von Begriff und Gegenstand orientierten Fiktionsbegriff mit der literaturwissenschaftlichen Fiktionstheorie zu verkoppeln, tritt mit John Searles Aufsatz „The Logical Status of Fictional Discourse“ (1975) eine fundamental anders gelagerte Verwendung des Als Ob. In seinem Versuch, die Sprechakttheorie für das Verstehen des fiktionalen Diskurses fruchtbar zu machen, manifestiert sich ein zweiter Theoriestrang des Als Ob, bzw. des as if, der sich unabhängig von Vaihinger konstituiert. Vaihinger ist hier keine gespenstische Hintergrundfigur, sondern dieses Als Ob speist sich gar nicht aus seinem Theoriegebäude. Vaihinger hatte herausgestellt, dass es in fiktionalen Zusammenhängen typischerweise erfundene Entitäten gibt und diese eine zentrale Stellung einnehmen. Damit geht er konform mit einer langen Tradition, schließlich ist die Erfundenheit ihrer Gegenstände eines der ältesten Bestimmungsmerkmale von Literatur. Es macht jedoch einen Unterschied, ob das literarische Als Ob verstanden wird als ein Sprechen, als ob das Dargestellte außertextuelle Referenz hätte, als ob es existierte, oder aber als ein Sprechen, als ob man etwas ernsthaft erzählte. Searles Ansatz zielt, auch wenn dies nicht in allen Details seiner Ausführungen eingelöst wird, auf den Spielcharakter des Fiktionalen, auf die Beschreibung der Suspendierung der Gültigkeit von im fiktionalen Rahmen getätigten Aussagen. Allerdings geht Searle von einer Theorie des Sprechakts aus, die darauf hinaus läuft, dass binnenfiktionale Sprechakte die gleiche Form haben wie lebensweltliche, dass es also keinen Sprechakt gibt, der dem Fiktionalen eigen wäre. Daraus leitet sich seine Theorie vom vorgetäuschten Sprechakt seitens des Autors ab: The author pretends to perform illocutionary acts by way of actually uttering (writing) sentences. In the terminology of Speech Acts, the illocutionary act is pretended, but the utterance 40 Ebd. S. 390. 41 Klaus Hempfer hat auf die Inkongruenzen, die Isers weitere Argumentation aufweist, bereits auf Basis früherer Publikationen Isers hingewiesen, s. HEMPFER 2002, S. 123.

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act is real. In Austin’s terminology, the author pretends to perform illocutionary acts by way of actually performing phonetic and phatic acts. The utterance acts in fiction are indistinguishable from the utterance acts of serious discourse, and it is for that reason that there is no textual property that will identify a stretch of discourse as a work of fiction. 42

Searle unternimmt freilich eine Abschattung des Begriffs des Vortäuschens: In one sense of ‚pretend‘, to pretend to be or to do something that one is not doing is to engage in a form of deception, but in the second sense of ‚pretend‘, to pretend to do or to be something is to engage in a performance which is as if one were doing or being the thing and is without any intent to deceive. 43

Es kann hier nicht darum gehen, Searles von verschiedenen Seiten kritisierten Ansatz nochmals im Detail zu diskutieren. 44 In diesem Kontext ist wichtig, dass hier das Als Ob zwar in einer neuen Perspektive ins Spiel gebracht ist, dass jedoch die vorgeführte Lösung das Fiktionale erst recht nicht zu erfassen geeignet ist: Wenn nur die Möglichkeit der Feststellung eines Vortäuschens bleibt, ist das Spezifische am Fiktionalen, die Entkoppelung von lebensweltlichen Zurechnungskonventionen, verfehlt. Bei Searle fehlt der Schritt, die Differenzierung von lebensweltlicher Täuschung und fiktionaler Suspendierung auf den Text selbst abzubilden – und dies funktioniert eben nur über die Disjunktion der beiden Instanzen Autor und Erzähler: Dem Autor ist dann keine Falschaussage zuzurechnen, wenn textintern eine Zurechnungsinstanz angesetzt wird. Diese Unterscheidung ist nicht Voraussetzung, sondern Konsequenz des Erkennens der Fiktionalität eines Textes. 45 Sie ist nicht notwendig an ein auf sprachlicher Ebene beschreibbares Textmerkmal gebunden, „sondern der per Konvention stabilisierte Fiktionalitätskontrakt weist diesen ‚Erzähler‘ aus als ein ‚être de papier‘“. 46 Daher ist die Frage nach der Erzählinstanz eine strukturelle und in keiner Weise davon abhängig, ob im fiktionalen Text eine distinkte Erzählerfigur konturiert oder gar deklariert wird. 47 Dass die Disjunktion von Autor und Erzähler sozusagen subkutan schon in Searles Theorie angelegt sei, wird ihm freilich von freundlich gesonnenen Kritikern zugebilligt. So gesteht Marie-Laure Ryan Searle zu, dass er erkannt habe, dass fiktionale Kommunikation von einer zweischichtigen Struktur bestimmt sei, dass mit Autor und Erzähler zwei Senderinstanzen zwei Empfängerinstanzen 42 SEARLE 1975, S. 327. Hervorhebungen im Original. Die Behauptung, dass es keine Texteigenschaft gebe, die fiktionale Texte identifizierbar mache, wird unfreiwillig von Searles Textbeispielen konterkariert. Die Ausschnitte aus der New York Times und aus Iris Murdochs The Red and the Green, die Searle als nicht unterscheidbar ausgibt, sind intuitiv als von unterschiedlichen Diskurskonventionen gesteuert erkennbar. 43 Ebd. S. 324. Meine Hervorhebung. 44 Vgl. die Einschätzung und Zusammenfassung verschiedener kritischer Positionen bei HEMPFER 2002, S. 122. Für Searles Ansatz, aber gegen die Formulierung des „als ob“ (weil damit die fiktionale Rede ins bloß Spielerische abgedrängt werde) spricht sich PETERSEN 1995 aus. 45 Vgl. HEMPFER 2002, S. 120. 46 WARNING 1983, S. 195; vgl. auch COHN 1990, bes. S. 791, und GENETTE 1990. 47 Vgl. dagegen PENZENSTADLER 1987, S. 44 und den Beitrag von Andreas Kablitz in diesem Band.

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(erzähltem Leser und Leser) gegenüberstehen. Dies lässt sich nur argumentieren, indem Searles Schlüsselbegriff ‚to pretend‘ in seiner Bedeutung modifiziert wird: ‚Vortäuschen‘ wird von Ryan umgedeutet zu ‚eine fremde Identität annehmen‘, ein Schritt, den Searle an keiner Stelle ausweist. Die Konsequenz: „[…] truth functionality reappears on the level of the pretended speech act: in writing fiction, the author simply delegates responsibility for asserting the existence of the fictional facts to a substitute speaker.“ 48 Diese Idee eines Rollenspiels des Autors ist bezeichnenderweise in den Arbeiten, die die Autor-Erzähler-Differenz stark machen – prominent bei Cohn und Genette – nicht weiter verfolgt worden. Sobald zwei Zurechnungsinstanzen konstruiert sind, tritt das Als Ob in den Hintergrund. Sobald alle Aussagen im inneren Kommunikationssystem der Erzählstimme attribuiert werden, bleibt der Autor als lebensweltlicher Akteur im Literatursystem zurück, funktional abgeschnitten vom Text. 49 Mit der Eskamotierung des Autors geht klar eine Obsoletheit des illokutionären Als Ob einher. Aufgegriffen wurde das Konzept des Rollenspiels hingegen von Rainer Warning in seiner bekannten Formulierung des „inszenierten Diskurses“ (1983), und wie es scheint vor allem deshalb, weil ihm das Theater als Modell für die Formulierung seiner Fiktionalitätstheorie auf der Basis des Als Ob dient. Dieses lässt sich wiederum an eine allgemeine Theorie des Spiels zurückbinden, die von der Rahmung des Spielgeschehens in der Hinsicht ausgeht, dass Handlungen innerhalb des Rahmens einem anderen logischen Typ zuzuschlagen sind: 50 Es liegt nahe, den fiktionalen Diskurs über den illokutionären Modus eines Als-Ob-Handelns zu beschreiben. Solches Als-Ob-Handeln ist spielerisches Handeln. Es liegt im Wesen der Spielsituation, daß sie aus der umgebenden Handlungswelt, d.h. aus der Kontinuität von Handlungssequenzen, die diese Handlungswelt ausmachen, in spezifischer Weise ausgegrenzt ist. Man hat im Blick auf diese Ausgrenzung von der pragmatischen Leere, von der Situationsabstraktheit, ja Situationslosigkeit und entsprechend auch von der Konsequenzlosigkeit fiktionaler Rede gesprochen. 51

Das Als Ob lässt Warning nun allerdings an zwei Systemstellen auftreten, indem er argumentiert, „daß der fiktiven Sprechsituation […] eine fiktive Referenz, eine Als-ob-Referenz entspricht. Der Rollenträger des fiktionalen Diskurses behauptet nicht, was er sagt, sondern er tut nur so, als ob er es behauptete“. 52 Das ist nicht weniger als eine Verabsolutierung der Fiktion in dem Sinn, dass in dieser Konfiguration nicht nur der Sprechakt ‚als ob‘ erfolgt, sondern auch alle behandelten Gegenstände fiktiv sind.

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RYAN 1984, S. 135. Revisionistisch argumentieren dem gegenüber JANNIDIS u.a. 1999. Vgl. BATESON 2000, S. 182. WARNING 1983, S. 191. Ebd. S. 198. Genauso schon GABRIEL 1979, S. 247: „In fictional discourse the speaker does not claim that his referring expressions have referents. He only speaks as if the referring expressions had referents. Consequently, auditors or readers cannot object that there are no referents for the referring expression.“

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Zwei Schwierigkeiten schließen sich hier an: Zunächst ist nicht alles, was in einer fiktiven Sprechsituation, also in narrativen Texten vom Erzähler, gesagt wird, ohne außertextuelle Referenz. Zwar ist das Überblenden der Fiktivität der Gegenstände und der Fiktionalität der Aussage nicht nur hier anzutreffen, denn das fiktionale Als Ob ist mit dem semantischen Fiktionsbegriff in der Theoriegeschichte insofern eng verbunden, als die Scheidung von Autor und Erzähler nicht zuletzt an der Fiktivität des Erzählten festgemacht wurde. So hängt MartínezBonati seine logische Begründung des disjunktiven Modells explizit an diesem Punkt auf: „The author, a real being, is not and cannot be part of an imaginary situation. Author and work are separated by the abyss that separates the real from the imaginary. Consequently, the author of works of narrative is not the narrator of these works.“ 53 Die Natur dieser „imaginären Situation“ muss freilich näher bestimmt werden, ist sie doch in den allermeisten Fällen nicht strikt von der Lebenswirklichkeit entkoppelt, sondern als Hybrid konstruiert: Emma Bovarys Ausflüge nach Rouen evozieren – im Gegensatz zum fiktiven Yonville – das wirkliche Rouen. Die Situation ist also eine gemischte: Die fiktionale Aussage ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie Reales und Erfundenes, die Stadt Rouen und Madame Bovary, in einen gemeinsamen Rahmen einpasst. Benjamin Harshav hat für diese Konstruktion den Begriff des „internen Referenzfeldes“ vorgeschlagen, das sich aus den Elementen des Textes konstituiert und das als Verknüpfung verschiedener Elemente zu verstehen ist: Figuren, Ereignisse, Situationen, Ideen, Dialoge. Zumindest einige der Referenten oder ‚Referenzrahmen‘ 54 gibt es nur im Text, sie erheben keinen Anspruch auf Existenz außerhalb des Textes. Andere entstammen der außertextuellen Wirklichkeit und werden selektiv integriert. Der Wahrheitswert von Propositionen im Text kann nur an den Parametern, die der Text bereitstellt, gemessen werden. Fiktionale Texte – und in wesentlichen Hinsichten nur diese – konstruieren damit ein internes Referenzfeld, auf das sie sich gleichzeitig als gegeben beziehen. 55 „Hence, fictionality is not a matter of invention. ‚Fiction‘ [im Sinne von ‚Literatur‘] is not opposed to ‚fact‘.“ 56 Der Fiktionalitätsbegriff ist damit kategorial vom Fiktivitätsbegriff geschieden, wenngleich damit selbstredend deren traditionelle Verquickung in der Literatur nicht verunmöglicht ist, im Gegenteil. Wenn man dieser Definition folgt, dann wird deutlich, dass das Referenzproblem nicht die Hauptfront in der Diskussion des Fiktionalitätsbegriffs sein kann: 57 Fiktionalität impliziert nach Harshav, dass der fiktionale Text ein spezifisches Referenzfeld konstituiert, in das lebensweltlich Existentes und Fiktives gleichermaßen eingepasst 53 MARTÍNEZ-BONATI 1981, S. 85. 54 Ein Referenzrahmen ist in Harshavs Modell ein beliebiges semantisches Kontinuum von zwei oder mehr Referenten, über das gesprochen werden kann, vgl. HARSHAV 1984, S. 230. 55 S. ebd. S. 232. 56 Ebd. S. 237. 57 Die Unterscheidung von Semantik und Pragmatik verfolgt auch der philosophische Fiktionalismus, dort allerdings unter den Etiketten der ‚ontologischen‘ vs. der ‚linguistischen‘ These, und es lässt sich wohl zeigen, dass das pragmatische Als Ob bereits in der unmittelbaren Vaihinger-Schule in Ansätzen diskutiert wurde. Vgl. die Diskussion bei EKLUND 2007 sowie als historischen Beleg NYMAN 1986.

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werden kann. Dass die ontologische Differenz in den Hintergrund tritt, ja sogar belanglos wird, liegt am spezifischen Status des fiktionalen Gefüges, das nicht den Parametern von Wahrheit und Lüge verpflichtet ist, sondern einen diskursiven Modus eigenen Rechts darstellt, dessen lebensweltliche Geltung suspendiert ist. Es muss mithin darum zu tun sein, eben diesen diskursiven Modus näher zu bestimmen. Das Als Ob der Aussage ist anderer Natur als das Als Ob der Gegenstände: Ersteres ist unabhängig vom ontologischen Status der Gegenstände, über die gesprochen wird. Es wäre als Extremfall ein fiktionaler Text denkbar, der ausschließlich von Existentem handelt und der sich etwa nur dadurch als fiktional erweist, dass Urteile des Erzählers, seine Einschätzungen und Kommentare nicht mit der lebensweltlichen Haltung des Autors übereinstimmen. 58 Das zweite Problem, das Warnings Definition aufgeworfen hat, lässt sich vor diesem Hintergrund ebenfalls bearbeiten: Die Disjunktion von Autor und binnenfiktionalem Rollenträger bedingt, dass die textinterne Zurechnungsinstanz gerade nicht so tut, als ob. Der Wahrheitswert der Aussagen der Erzählinstanz bemisst sich am internen Referenzfeld, das, wie oben beschrieben, hybrid konstituiert ist. Ein Als Ob ist auf der inneren Kommunikationsebene damit nicht zu veranschlagen. Ein Ansatz, der den über das Als Ob gesteuerten Theorieansätzen zu gleichen scheint, aber weder aus Vaihinger hergeleitet noch strukturell äquivalent ist, ist Kendall Waltons Konzept des make-believe (1993). ‚Make-believe‘ bedeutet eigentlich ‚glauben machen‘, ‚jemanden dazu bringen, etwas zu glauben‘; in der jüngeren Diskussion wurde Walton durch die Übersetzung ‚so tun als ob‘ in nicht gerechtfertigte – freilich auch nicht beabsichtigte – Nähe zu Vaihinger gerückt.59 Die Einladung, etwas zu glauben, sich etwas vorzustellen, wurde schon 1954 von Margaret Macdonald als fiktionalitätstypisch ausgewiesen: „Now, a storyteller does invite his audience to ‚Imagine that …‘, ‚Pretend that …‘, and even ‚Suppose that …‘ or ‚Let it be granted that‘. He does not often preface his story with just these remarks, but he issues a general invitation to exercise imagination.“60 Walton modelliert seinen Begriff der Fiktion auf der Basis des Kinderspiels als kollaborativer Aktivität, doch bezieht er ihn auf Kunst im Allgemeinen und bietet nur wenige spezifische Bezüge zur Literaturwissenschaft. 61 Problematisch erscheint an dem Ansatz in erster Linie der wiederum sehr weite Fiktionsbegriff, der alle Phänomene zu usurpieren scheint, die in der klassischen Rhetorik unter dem Stichwort der enargeia verhandelt wurden: das plastische und drastische VorAugen-Stellen sei es erfundener, sei es historischer Situationen und Gegebenheiten. Unterschiedslos siedelt Walton das make-believe in faktualen Diskursen wie dem Journalismus ebenso an wie in den darstellenden Künsten. Deren Spezifität 58 Zum wenig in Betracht gezogenen, deswegen nicht weniger zu berücksichtigenden Meinungswissen im fiktionalen Text s. PETERSEN 1995, S. 162. 59 Vgl. BÜHLER 1999, S. 67 und passim. 60 MACDONALD 1968, S. 60. 61 S. WALTON 1993. Für einen Ansatz zur Einbindung Waltons in die Fiktions- bzw. Erzähltheorie s. BAREIS 2006.

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wird dadurch im Wesentlichen marginalisiert. Denn zentral ist in Waltons Theorie die Unabhängigkeit des make-believe von der Fiktivität oder Faktizität der Gegenstände; insofern schließt sich dies an die Fiktionalitätsdefinition an, die ich hier im Anschluss an Harshav vorgeschlagen habe, hat allerdings mit dem Als Ob im hier verhandelten Sinn nur mittelbar zu tun. 5. Das Als Ob des Diskurses Um Vaihingers Philosophie des Als Ob für die Literaturwissenschaft produktiv setzen zu können, muss ohne Zweifel die énonciation in die Betrachtung mit einbezogen werden, muss zu den bereits von Vaihinger identifizierten semantischen Fiktionen die pragmatische Ebene hinzutreten. Mit der Fassung des literarischen Als Ob als ein so Tun, als ob die behandelten Gegenstände Referenz hätten, ist keine differentia specifica gegenüber den von Vaihinger benannten Fiktionen in den verschiedenen Disziplinen gewonnen. Während die Begriffsfiktion, wie sie Vaihinger verstand, auch in der Philosophie, den Rechts- und den Naturwissenschaften ihren Ort hat, ist die Konstruktion einer ‚uneigentlichen‘ Aussageebene ein Spezifikum des fiktionalen Texts. Im Anschluss an Harshav wurde aber deutlich, dass das Fiktionale gerade nicht vom Fiktiven abhängt, dass es vielmehr als Problem von diesem zu isolieren ist. Am Beispiel von Warnings Ansiedelung des Als Ob sowohl auf der Ebene der Semantik als auch auf jener der Pragmatik zeigte sich, dass die beiden Ansetzungsformen konfligieren, sobald sie zugleich in Anschlag gebracht werden. Damit ist nicht gemeint, dass das pragmatische Als Ob die Fiktivität der Figuren aushebelt, sondern allein, dass deren Fiktivität unter dieser Perspektive nicht mehr mit Vaihingers Fiktionsbegriff zu erfassen ist. Die Beschreibung der Erzählstimme als ein Rollenspiel des Autors schließlich wurde mit Blick auf die Komplexität der Textfunktion der Erzählstimme bereits als problematisch ausgewiesen. Was bleibt also vom Als Ob für die Fiktionalitätstheorie? Der Lösungsvorschlag Hempfers sieht vor, dass das Als Ob auf die Ebene des Diskurses ‚hinaufgestuft‘ wird: Wenn das Als-ob fiktionale Texte charakterisieren soll, dann muß es an den Konstitutionsprinzipien des Diskurses selbst dingfest gemacht werden […]. Ein Text realisiert jedoch dann über die Verfahren der Diskurskonstitution selbst eine Als-ob-Struktur, wenn er so strukturiert ist, daß er als Manifestation eines bestimmten Diskurstyps ausgewiesen wird und zugleich signalisiert wird, daß er dies doch nicht ist. Mir schiene es also möglich, Fiktionalität als eine Als-ob-Struktur dergestalt zu definieren, daß sich fiktionale Texte über eine bestimmte Menge von Strukturen konstituieren, die sie hinsichtlich dieser Strukturen isomorph zu bestimmten Typen nichtfiktionaler Diskurse erscheinen lassen, daß sie aber gleichzeitig über Strukturen verfügen, die diese Isomorphie als eine nur scheinbare ausweisen. 62

Das Als Ob betrifft nun nicht mehr die einzelnen Propositionen des fiktionalen Texts, sondern wird auf die Differenz von fiktionalen und faktualen Diskursen bezogen. Für Letztere wird eine Unterscheidbarkeit postuliert, die allerdings auf 62 HEMPFER 2002, S. 124.

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kein einzelnes Differenzkriterium zu reduzieren ist; jedenfalls ist von Konventionen auszugehen, die die jeweilige Einordnung beeinflussen und steuern. 63 Fiktionale Texte werden so als in einem Als Ob-Verhältnis zu anderen, ihrerseits von teilweise elaborierten Konventionen und Normen gesteuerten Diskursen – wie beispielsweise der Historiographie oder der Biographik – stehend aufgefasst. Auf einer basaleren Ebene impliziert dies aber auch, wie Klaus Hempfer explizit angibt, eine bestimmte Beziehung zu alltäglichen lebensweltlichen Sprachhandlungen wie dem Erzählen von selbst erlebten oder miterlebten Geschichten. In der Tat konstituieren fiktionale Texte keine unerhörte Partikularstruktur, sondern partizipieren an etablierten Kommunikationsschemata, nicht ohne diese freilich fundamental zu transformieren. So ist das von der ursprünglichen Interaktionssituation entkoppelte Erzählen nur auf der allgemeinsten Ebene dem ‚natürlichen‘, interaktiven Erzählakt verwandt, insofern, als dieser der Fluchtpunkt der textuell evozierten Tätigkeit ist. In der Tat aber sind die Konventionen des fiktionalen Diskurses so ausdifferenziert, dass die konkrete, persönliche Erzählsituation wie ein fernes Echo nur noch latent präsent ist. Durch die Verlagerung auf die Diskursebene wurde ein bestimmtes Verhältnis fiktionaler und faktualer Diskurse zueinander ausgewiesen, doch wem, welchem Akteur obliegt die Operation des Als Ob? Wer tut als ob? Wer verhält sich zu Strukturisomorphien und -differenzen von Diskursen? Es sei nochmals in Erinnerung gerufen, dass Vaihinger das Als Ob als Operation konzeptualisiert hatte, als eine Aktivität, die von bestimmten Akteuren in Hinblick auf die Fiktion unternommen wird. Betrachtet man Vaihingers Fassung des Als Ob nochmals in diesem Zusammenhang, wird auch deutlich, dass er darüber hinaus dem Verfertigen der Fiktion kaum, dem Umgang mit ihr dagegen zentrale Bedeutung beimisst: Das Als Ob ist auf eine bestimmte Handhabung der Fiktion im Wissen um ihre Konstrukthaftigkeit wie um ihre Nützlichkeit gepolt. Auf das Theorierepertoire der Literaturwissenschaft projiziert, kommt damit neben der Autor- auch die Rezipientenseite in den Blick, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde, nicht zuletzt deshalb, weil sie in allen bisherigen Aneignungen des Als Ob drastisch unterrepräsentiert erscheint.64 Nimmt man Klaus Hempfers Inklusion oraler faktualer Erzählakte zum Ausgangspunkt, so erscheint es als ein Charakteristikum des Aktes des Lesens, dass hoch komplexe 63 Zu denken ist dabei an Fiktionssignale bzw. -merkmale, wie sie in einer Reihe von Arbeiten aufgelistet werden, u.a. PENZENSTADLER 1987 S. 44–51 (Einführung einer fiktiven Sprecherinstanz, fiktiver Referenzbereich, Gattungsbezeichnungen, expliziter Verzicht auf Wahrheitsanspruch); RIFFATERRE 1990, S. 29f. („mimetische Exzesse“ wie scheinbar überflüssige Beschreibungen und Erzählung ‚insignifikanter‘ Details – was PRATT 1977, S. 215, unter dem Schlagwort des „hyper-protected cooperative principle“ verhandelt); FLUDERNIK 2001 (unzuverlässiges Erzählen); GORMAN 2005, S. 167 (Synthese vor allem der von COHN 1990 – histoire/discours-Unterscheidung, Vermittlung von Bewusstseinsinhalten, Disjunktion von Autor und Erzähler – und GENETTE 1990 ins Treffen geführten Aspekte). Für eine NichtErkennbarkeit des fiktionalen Status von Darstellungen argumentiert hingegen jüngst DANNEBERG 2006, bes. S. 39–43. 64 Auch Wolfgang Iser, der das Imaginäre über das Als Ob zu erschließen suchte (s. oben), hat im Akt des Lesens keinen Platz dafür vorgesehen, vgl. ISER 1994.

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Textphänomene des fiktionalen Diskurses problemlos an die alltagspragmatische Situation des Erzählens rückgebunden werden; dass die Textfunktion der Stimme mühelos behandelt wird, als ob es sich um eine Person handle, die etwas erzählt. Der Leser verhält sich, als ob das Paradox der Erzählstimme – die die Erzählung hervorbringt, gleichzeitig aber erst im Gang des Erzählens konstituiert wird – keines wäre, als ob ihm ein anthropomorph zu denkender Erzähler gegenüber stünde, 65 gleichgültig, in welchem Ausmaß der Text auf die Figuration dieser Gestalt schließen lässt. Das im ‚Laienpublikum‘ weit verbreitete und auch in der Literaturwissenschaft bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hinein durchaus vorherrschende Ausfüllen dieser Sprecherinstanz mit der lebensweltlichen Person des Autors ist dann nur ein Weitertreiben dieser Naturalisierung einer Textfunktion. Die Symmetrie der beiden Kommunikationsebenen – Autor und Erzähler auf der einen, erzählter Leser und Leser auf der anderen – ist so betrachtet eine Asymmetrie, sind doch drei der vier Positionen entweder abwesend oder aber ‚papiern‘. Der Leser ist als einziger gegenüber einem vorliegenden Text in einer Akteursposition, und er ist damit derjenige, dem in dieser Situation das Als Ob überantwortet ist. Wie Rainer Warning betont hat, setzt der inszenierte Diskurs des Fiktionalen schließlich ein Rollenspiel seitens des Autors und des Rezipienten voraus. 66 In demselben Sinn hat Walter Ong formuliert, dass es der Leser sei, der sich ‚fiktionalisiere‘. In seinem Aufsatz „The Writer’s Audience Is Always a Fiction“ wird keineswegs nur auf die evidente Tatsache abgezielt, dass in Zeiten des Buchdrucks die Kommunikation zwischen Autor und Leser einer Zerdehnung und Anonymisierung unterliegt. Der Leser muss auch eine Rolle einnehmen, die ihm durch gewisse Textstrategien zugewiesen wird und die fundamental von seiner lebensweltlichen Rolle abweicht: An office worker on a bus reading a novel of Thomas Hardy is listening to a voice which is not that of any real person in the real setting around him. He is playing the role demanded of him by this person speaking in a quite special way from the book […]. Readers over the ages have had to learn this game of literacy, how to conform themselves to the projections of the writers they read, or at least how to operate in terms of these projections. They have to know how to play the game of being a member of an audience that ‚really‘ does not exist. 67

In dieser Fassung betrifft das Als Ob die Ummünzung eines situationsentkoppelten Textphänomens in einen Kommunikationsakt. Das rein textuell vorliegende Konstrukt der Erzählstimme wird imaginär zu einer Sprecherinstanz ausgebaut, deren Ausführungen mit ernsthaftem Interesse gefolgt wird. Der fiktionale Text wird, auch wenn er – ganz im Sinne der Vaihinger’schen in sich selbst widersprüchlichen Vollfiktion – sein Referenzfeld erst im Moment der Äußerung generiert, mit mindestens so viel Engagement gelesen wie ein faktualer. Hier manifestiert sich, was Hamburger unter den Begriff des ‚Als‘ gebracht hatte: Das Als Ob der Rezeption des fiktionalen Textes betrifft das Ernstnehmen eines Diskurses 65 Vgl. hierzu die ‚Prolegomena‘ zu einer Mimesis des Erzählens in NÜNNING 2001. 66 WARNING 1983, S. 193. Zur Problematik des auktorialen Rollenspiels s. oben. 67 ONG 1975, S. 12.

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suspendierter Geltung für die Dauer der Rezeption. Das Sprachkunstwerk, sei es ein Drama, sei es eine Erzählung, wird so behandelt, als ob es sich um eine (lebensweltlich) ernsthafte Mitteilung handle, wobei gleichzeitig stets die suspendierte Geltung gewahrt bleibt. Dieses Als Ob ermöglicht die Lektüre fiktionaler Texte zu allererst. Vor diesem Hintergrund zeigt sich einmal mehr die performative Kraft der glücklichen Wendung. Denn während Vaihingers Philosophie des Als Ob schlechterdings nichts mit dem fiktionalen Diskurs zu tun hat, ist doch seine Formulierung prägend für ein Jahrhundert Fiktionalitätsdebatte – und letztendlich auf völlig andere Weise anschlussfähig, als Vaihinger dies wohl je für möglich gehalten hätte.

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Indexikalität und Indexikalisierung Überlegungen zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines sprachphilosophischen Konzepts BERND HÄSNER Der in der neueren Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie sowie in den methodologischen Reflexionen sozialwissenschaftlicher Disziplinen wie der Ethnologie recht prominente Begriff der Indexikalität hat in der Literaturwissenschaft so gut wie keine Resonanz gefunden. Immerhin nehmen die Theorien, in deren Zentrum dieser Begriff steht, grundlegende Einsichten in die Interaktion von Sprache und Welt, insbesondere hinsichtlich der Wahrheitsbedingungen von Äußerungen, für sich in Anspruch; grundsätzlich sollten sie damit auch von literaturwissenschaftlichem Interesse sein. Tatsächlich hat der indexikalitätstheoretische Ansatz sowohl Implikationen für den Literaturbegriff im Allgemeinen als auch für einzelne literaturtheoretische Fragen, wie etwa die nach dem Verhältnis von Autor und fiktionalem Text. Ich will in der Folge zunächst den indexikalitätstheoretischen Ansatz kurz skizzieren und versuchen, Defizite dieses Ansatzes zu benennen, die für die Zurückhaltung seitens der Literaturwissenschaft verantwortlich sein dürften; anschließend werde ich einige Überlegungen zu einem erweiterten Konzept von Indexikalität vortragen, das auch als literaturwissenschaftliche Analysekategorie relevant sein könnte. Diese Überlegungen verstehen sich als erste Sondierungen der angedeuteten Fragestellungen und sind von eher thesenhaftem Zuschnitt. 1 1. Unter dem Terminus ‚Deixis‘ und neuerdings zunehmend auch unter dem der ‚Indexikalität‘ behandeln die sprachwissenschaftliche Semantik und Pragmatik bekanntlich bestimmte Pronominalisierungen, Demonstrativpronomen, Zeit- und Ortsadverbien sowie Tempusmorpheme, durch die Aspekte des Äußerungskontextes oder des Sprechereignisses innerhalb der Äußerung selbst encodiert oder 1

Meine Überlegungen gehen unmittelbar aus Diskussionen über das Indexikalitätskonzept hervor, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ in einem von Klaus W. Hempfer geleiteten Arbeitskreis über Wissenschaftsdynamiken geführt wurden und sich bereits in zwei Publikationen (HEMPFER/HÄSNER/RAJEWSKY 2004 und HEMPFER/ TRANINGER [Hgg.] 2007) niedergeschlagen haben. Wenngleich das Indexikalitätskonzept in diesem Zusammenhang auch bereits auf literarische Texte angewandt wurde, ist die Frage nach einer spezifisch literaturwissenschaftlichen Relevanz dieses Konzepts zwar schon aufgeworfen, aber bisher noch nicht, jedenfalls nicht systematisch, behandelt worden.

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grammatikalisiert werden. Bei der Deixis geht es letztlich also auch darum, „wie die Interpretation von Äußerungen von der Analyse jenes Äußerungskontextes abhängt“. 2 In neueren sprachwissenschaftlichen Untersuchungen wird Indexikalität zunehmend als eine fundamentale semiotische Dimension von Sprache reflektiert, die nicht nur eine bestimmte Klasse sprachlicher Ausdrücke charakterisieren, sondern vielmehr „eine grundlegende Eigenschaft von Sprachsystem und Sprachgebrauch“ darstellen soll. 3 Ein derartiges sprachwissenschaftliches Konzept von Deixis scheint mit sprachphilosophischen Indexikalitätstheorien zu konvergieren, die, ohne sich freilich auf Details linguistischer Untersuchungen näher einzulassen, seit Längerem einen analogen Befund erheben, indem sie eine „Irreduzibilität des Indexikalischen“ postulieren: 4 Jede sprachliche Äußerung sei in einem durch lokale, temporale und personale Parameter definierten außersprachlichen Äußerungskontext verankert und trage die Indices dieses Kontextes unweigerlich an sich. 5 Diese unhintergehbare Indexikalität von Sprache sei einerseits eine Gewähr für die „Anwesenheit der Welt in der Sprache“ 6 – sie garantiere, dass überhaupt ein Kontakt zwischen Sprache und Welt sich herstelle und Äußerungen über letztere kommunikabel seien und für wahr oder auch für unwahr gehalten werden könnten. Wenn dies sozusagen die gute Nachricht ist, lautet die schlechte, dass jede Äußerung wegen ihrer irreduziblen Indexikalität gleichsam imprägniert sei von der Partikularität und Kontingenz der Äußerungssituation, was ihren Geltungsradius unweigerlich begrenze. Es sei fraglich, so Helmut Pape, „ob Menschen je über Wissen verfügen, das von bedeutungsrelevanten Bezugnahmen auf die Personen und Kontexte der Darstellung vollständig befreit ist“. 7 Damit haben Indexikalitätstheorien nicht zuletzt eine wissenschaftskritische Pointe; sie beanspruchen „die indexikalische Beschränktheit jedes auch nur denkbaren, objektiven Wissens“ nachzuweisen. 8 Da auch wissenschaftliche Bezugnahmen auf die Welt der Indexikalität nicht entgehen, seien die von ihnen erhobenen Ansprüche auf universelle Wahrheit oder Gültigkeit und kontextunabhängige Objektivität nicht aufrechtzuerhalten.

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LEVINSON 1990, S. 55. Es sei betont, dass es hier und im Folgenden nicht um die so genannte Text- oder Diskursdeixis geht, d.h. um textimmanente deiktische Bezüge auf vorangegangene Textteile (vgl. ebd. S. 87ff.), sondern ausschließlich um deiktische Text-Welt-Relationen. Ich entnehme diese pointierte Formulierung einem call for papers für ein Arbeitstreffen unter dem Titel „Sprachliche Indexikalität“ an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg (Februar 2008). Als neuere sprachwissenschaftliche Untersuchungen zur Deixis seien genannt: DIEWALD 1999, SILVERSTEIN 2003, DIEDRICHSEN 2006, FRICKE 2007. PAPE 1999, S. 3. Neben PAPE 1999 beziehe ich mich hier vor allem auf die in KETTNER/PAPE (Hgg.) 2002 versammelten Aufsätze; ferner BAR-HILLEL 1970, KIENZLE 1999, ØFSTI/ULRICH/WYLLER (Hgg.) 2000. Zum Begriff der Indexikalität in der Ethnomethodologie siehe GARFINKEL 1967. So der Titel eines programmatischen Aufsatzes von Helmut Pape (PAPE 2002). PAPE 1999, S. 3. WYLLER 2003, S. 87.

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2. Nicht nur in Hinblick auf eine literaturwissenschaftliche Applikation des Indexikalitätskonzepts ergeben sich einige grundlegende Einwände: a) Die ganze Beweislast für die These von einer Unhintergehbarkeit oder Irreduzibilität des Indexikalischen wird den „indexical expressions“ aufgebürdet, ohne dass andere äußerungsimmanente Manifestationsformen von Indexikalität benannt werden. Nun gibt es offensichtlich Sätze, etwa naturwissenschaftliche Gesetzesaussagen oder Tatsachenbefunde, die frei sind von indexikalischen Ausdrücken („Eis schwimmt auf dem Wasser“). Ebenso sind ganze Texte als Aggregationen indexfreier Sätze vorstellbar. Tatsächlich kommen auch die einschlägigen Aufsätze Papes, in denen die „Irreduzibilität des Indexikalischen“ postuliert wird, weitgehend ohne indexikalische Ausdrücke aus bzw. wären die wenigen Stellen, wo ihr Verfasser in der ersten Person Singular spricht, anders pronominalisierbar, ohne dass dadurch die Gültigkeit der Pape’schen Thesen erkennbar affiziert wäre. Man könnte also den Eindruck gewinnen, dass der indexikalitätstheoretische Ansatz, zumindest auf der Basis seiner eigenen Distinktionen, auf sich selbst nicht anwendbar ist. Damit wäre aber überhaupt fraglich, ob das Indexikalitätspostulat auch für größere Äußerungsformate aufrechtzuerhalten ist. Zwar fasst schon einer der Protagonisten indexikalitätstheoretischer Überlegungen, Yehoshua Bar-Hillel, einen „indexical discourse“ ins Auge, bleibt aber nähere Erläuterungen und Begründungen schuldig. 9 Auch jüngere indexikalitätstheoretische Untersuchungen beschränken sich auf Äußerungen im Satzformat. Ein Textbegriff, der es erlaubte, auch eine transphrastische Manifestation von Indexikalität zu konzipieren, die nicht oder nicht ausschließlich mit einer bestimmten Klasse sprachlicher Ausdrücke zu identifizieren wäre, ist in diesem Umfeld nicht auszumachen. Es könnte sein, dass der indexikalitätstheoretische Ansatz sich gerade damit der Möglichkeit begibt, auch auf indexfreie Äußerungen wie „Eis schwimmt auf dem Wasser“ anwendbar zu sein. Eine solche Äußerung mag nämlich unter allen Äußerungsbedingungen wahr sein; sie bedarf allerdings einer kontextuellen Einbettung oder Rahmung, der Indexikalisierung durch einen sprachlichen oder jedenfalls zeichenhaften Kontext, um in der gegebenen Äußerungssituation auch eine relevante Wahrheit zu sein. Dies hieße freilich nicht nur, die Möglichkeit indexikalischer Texte zu konzipieren (und nicht nur zu postulieren), sondern auch einzuräumen, dass es generell bei der Indexikalität weniger um Wahrheitsbedingungen als um Relevanzbedingungen von Äußerungen geht. b) In der Konsequenz ist der indexikalitätstheoretische Ansatz, der auf eine in den Sprachstrukturen selber gründende Kontextualität und Historizität auch wissenschaftlicher und namentlich naturwissenschaftlicher Diskurse zielt, selber universalistisch und ahistorisch, insofern er ausschließlich Konstanten der Sprachverwendung in isolierten Syntagmen untersucht und weder deren Einbettung in

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BAR-HILLEL 1970, S. 84.

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größere Äußerungsformate noch historisch variable Diskursmaximen und Normierungen von Redegattungen und Äußerungstypen berücksichtigt. 3. Wenn das sprachphilosophische und wissenschaftskritische Konzept der Indexikalität in der Literaturwissenschaft so gut wie kein Echo gefunden hat, wird dies zum einen mit seiner Fixierung auf Satzformate zusammenhängen; zum anderen scheint der kritische Impuls indexikalitätstheoretischer Ansätze, der auf die Kontextualität auch wissenschaftlicher Diskurse als deren in der Sprache selbst gründende konstitutive Bedingung zielt, gegenüber dem Objekt von Literaturwissenschaft ins Leere zu laufen: Es gehört zur Definition von Literatur, jedenfalls soweit sie mit Fiktionalität identifiziert wird, dass ihr Gegenstand eben das Partikuläre und Individuelle ist, und dass jede dieses Partikuläre transzendierende ‚Wahrheit‘ äußerstenfalls auf seiner Symbolizität oder Exemplarität beruht, ohne dass ihm damit ein Prädikat universeller Gültigkeit zukäme, das naturwissenschaftliche Aussagen für sich beanspruchen. Die Indexikalität fiktionaler Texte affiziert nicht deren ‚Wahrheit‘, sondern die Referentialisierungsspielräume dieser Texte und ihren Bedeutungsumfang. Das indexikalitätstheoretische Postulat schließlich, dass die Gültigkeit von Äußerungen an deren situativen Äußerungskontext rückzubinden und durch diesen begrenzt sei, könnte hinsichtlich literarischer Texte als bloße Trivialität erscheinen, die höchstens noch die Position einer strikt immanenten Literaturinterpretation herauszufordern vermag, wie sie derzeit kaum vertreten wird und wohl niemals mit derselben Konsequenz vertreten und vor allem interpretationspraktisch umgesetzt wurde, mit der die kontextunabhängige Geltung naturwissenschaftlicher Aussagen beansprucht wird. 4. Wenngleich also der indexikalitätstheoretische Ansatz für die Literaturwissenschaft auf den ersten Blick nicht sehr attraktiv zu sein scheint, möchte ich hier dennoch, unter der Voraussetzung einer entsprechenden Erweiterung und Reformulierung dieses Ansatzes, für eine Relevanz von ‚Indexikalität‘ als literaturwissenschaftlicher Analysekategorie plädieren und dafür vor allem zwei Gründe anführen: a) Ein erster Grund ergibt sich aus der Umkehrung des gerade angeführten Arguments, das scheinbar gegen eine solche Relevanz spricht: Wenn unter indexikalitätstheoretischer Perspektive auch wissenschaftlichen Texten Attribute zugeschrieben werden können, die als genuin literarisch gelten, läuft dies darauf hinaus, den Gegensatz von ‚wissenschaftlichen‘ und ‚literarischen‘ Äußerungs- oder Texttypen zumindest als einen kategorialen preiszugeben. Anders gesagt: Der indexikalitätstheoretische Ansatz liefert eine systematische Begründung für etwas, was Literaturwissenschaftler ohnehin seit jeher gelegentlich getan haben und in jüngerer Zeit zunehmend tun, nämlich sich auch für Analyse und Interpretation

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wissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Prosa zuständig zu fühlen und diese in Hinblick auf ihre mehr oder weniger diskrete Literarizität zu untersuchen: hinsichtlich ihres Stils, ihrer Rhetorik, ihrer Ästhetisierungen und Fiktionalisierungen, die etwa als Strategien eines self- oder community-fashioning verstanden werden können. 10 b) Ein erweitertes, gleichwohl an zentralen Bestimmungen des originären sprachwissenschaftlichen Paradigmas festhaltendes Konzept von Deixis oder Indexikalität erlaubte eine Spezifizierung des ebenso unentbehrlichen wie vagen Begriffs des ‚Kontextes‘, dessen notorische Unbestimmtheit Levinson in seiner Pragmatik, am Ende eines Kapitels über einschlägige Definitionsversuche, als „etwas peinlich“ charakterisiert. 11 Dieses Urteil gilt entsprechend auch für den abgeleiteten Begriff der ‚Kontextualität‘, der, im Unterschied zu ‚Indexikalität‘, nicht auf spezifische Textmerkmale fokussiert, sondern auf die generelle Relation eines Textes zur Gesamtheit seines Umfeldes, eben seinen Kontext, insofern dieser die Bedeutung des Textes in irgendeiner Weise mitbestimmt. Insbesondere könnte das Konzept der Indexikalität zu der gegenwärtig vermehrt eingeforderten Rehabilitierung der empirischen Umstände der Textproduktion und vor allem der Instanz des empirischen Autors als literaturwissenschaftlicher Analysekategorie beitragen, ohne willkürlichen biographischen Extrapolationen Vorschub zu leisten. Grundsätzlich wäre in diesem Zusammenhang die Frage aufzuwerfen, ob nicht der indexikalitätstheoretische Ansatz auch eine Herausforderung literaturwissenschaftlicher, vor allem narratologischer Texttheorien beinhaltet, die mehr oder weniger rigoros den Autor aus ihren Modellen verbannen wollen. 12 Zwischen diesen Textmodellen und der normativen Idealtypik wissenschaftlicher Äußerungsformen gibt es nämlich insofern eine strukturelle Ähnlichkeit, als beide glauben, das textexterne Subjekt als eine nur akzessorische Größe aus dem Prozess der Bedeutungskonstitution heraushalten zu können. Während narratologische Konzeptionen die Textbedeutung ausschließlich textinternen Instanzen und Relationen zurechnen wollen, soll der wissenschaftliche Text zumindest idealiter als quasi subjektlose, ausschließlich der objektiven Logik der Argumententfaltung folgende Selbstevidentialisierung eines propositionalen Gehalts verstanden werden können. Aus indexikalitätstheoretischer Perspektive handelt es sich dabei um eine Selbsttäuschung der Wissenschaft. Auffällig ist dabei, dass es epistemisch disparate Größen sind, die die Annullierung des Subjekts im einen wie im anderen Fall rechtfertigen bzw. erforderlich machen sollen: einerseits die Fiktionalität des Diskurses, also der Anspruch einer von Wahrheitsansprüchen suspendierten Rede im Modus des Als-Ob, andererseits gerade ihr auf Objektivität gründender Wahrheitsanspruch. Den Vorstellungen einer subjektlosen Textfunktion oder der Substituierung des Textsubjekts durch den Text selber, die narratologische und auf den wissenschaftlichen Diskurs bezogene Textmodelle teilen, könnte eine Sprachauffassung 10 Siehe hierzu etwa GROSS 1990. 11 LEVINSON 1990, S. 24. 12 Siehe hierzu den Beitrag von Anita Traninger im vorliegenden Band.

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zugrunde liegen, die Urheber und Anwender dieser Modelle zumeist wohl eher als metaphysisch zurückweisen würden, und die in dem ebenso bekannten wie namentlich bei Sprachwissenschaftlern berüchtigten Diktum Heideggers, dass es die Sprache sei, die spricht, und nicht der Autor, eine prägnante Formel gefunden hat. 13 Dieser Sprachauffassung stünde aber die Indexikalität oder Deixis entgegen, wenn sie denn nicht nur eine bestimmte Klasse sprachlicher Ausdrücke umfassen, sondern als eine grundlegende und irreduzible Eigenschaft von Sprachsystem und Sprachgebrauch gelten soll. Denn wenn indexikalische Textkomponenten eine direkte Interaktionsbeziehung zwischen Sprache und Welt herstellen und „die Anwesenheit der Welt in der Sprache“ (Helmut Pape) gewährleisten, können sie nur auf ein konkretes und individuierbares Äußerungssubjekt und einen ebenso konkreten Äußerungskontext verweisen, und nicht auf eine abstrakte Rede- oder Textfunktion oder auf einen Autor, der nur noch als bloßes Relais einer potentiell unendlichen Anzahl von Texten gedacht ist. 5. Ein gegenüber dem sprachwissenschaftlichen Paradigma erweitertes Konzept von Indexikalität, das nicht auf die indexikalischen Ausdrücke beschränkt und auch auf größere Äußerungsformate anwendbar sein soll, wird kaum die relativ scharfen definitorischen Konturen des Originals bewahren können. Auch ein solches erweitertes Konzept müsste jedoch, um nicht mit dem unspezifischen Begriff der ‚Kontextualität‘ zusammenzufallen, m.E. an zwei wesentlichen Bestimmungen des Paradigmas festhalten: a) Indexikalisch wären demnach ausschließlich solche Textelemente oder Organisationsebenen des Textes, die auf Aspekte des Äußerungskontextes oder der Äußerungssituation verweisen und deren spezifische Bedeutung oder bedeutungskonstitutive Funktion nur dann aktualisierbar ist, wenn eben diese Referenz adäquat erkannt wird. b) Äußerungskontext meint dabei nicht einen Kontext, der von vornherein auf dem Abstraktionsniveau eines Literatursystems, einer historischen Epoche oder einer epistemologischen Konfiguration konzipiert ist, sondern tatsächlich die personalen, zeitlichen und räumlichen Parameter der Textgenerierung – also deren unmittelbare lebensweltliche Voraussetzungen; es geht, anders gesagt, um den empirischen Autor in der Situation und im Moment oder während der Zeitspanne der Textproduktion und um deren empirische – mediale, soziale, ökonomische, psychologische, mentale etc. – Konditionen, und zwar insoweit diese im Text selber indiziert werden.

13 Vgl. HEIDEGGER 1975, S. 12.

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6. Gerade die Referentialisierbarkeit indexikalischer Textelemente setzt eine weitgehende Kongruenz empirischen Weltwissens auf der Seite des Autors und der seiner Leser voraus. Die indexikalisch konstituierte Bedeutung oder Bedeutungsschicht eines Textes wird deshalb in der Regel seine flüchtigste sein, d.h. diejenige, die sowohl in der räumlichen wie auch der zeitlichen Distanz von Ort und Zeitpunkt der Textproduktion am ehesten davon bedroht ist, verloren zu gehen. 14 Indexikalität ist also nicht nur Konstituente eines die propositionalen Gehalte eines Textes überschießenden semantischen Mehrwerts, sondern benennt auch eine prinzipielle Grenze der Verstehbarkeit von Texten. 7. Indessen können Autoren versuchen, diesem Bedeutungsverlust vorzubauen, und zwar auf zwei Wegen. Entweder machen sie Referenzen auf das Äußerungssubjekt und seinen unmittelbaren Kontext im Text selbst explizit und halten dessen Konstitutionsbedingungen dem Leser eben dadurch präsent, oder aber sie tilgen diese Referenzen beziehungsweise – da eine vollständige Tilgung aus indexikalitätstheoretischer Sicht ja nicht gelingen kann – minimieren sie systematisch. Damit ist eine Unterscheidung von Indexikalität einerseits, Indexikalisierung bzw. Deindexikalisierung andererseits nahegelegt, die für eine literaturwissenschaftliche Applikation des indexikalitätstheoretischen Ansatzes grundlegend wäre. Denn während sich sprachphilosophische Indexikalitätstheorien ausschließlich mit Indexikalität als inhärenter, mehr oder weniger diskreter Eigenschaft von Sätzen befassen, müsste ein erweiterter literaturwissenschaftlicher Ansatz komplexere diskursive Strategien einbeziehen, über die das Textsubjekt und die Bedingungen, unter denen es sich äußert, im Text selbst exponiert und expliziert oder aber die Spuren dieses Subjekts und seines Äußerungskontextes weitgehend ausgelöscht werden. Indexikalisierung bzw. Deindexikalisierung sind prinzipielle Optionen sowohl fiktionaler wie nichtfiktionaler, also etwa wissenschaftlicher oder generell argumentativer Texte, wobei die jeweiligen Mittel und Möglichkeiten in Abhängigkeit von Textsorten, Gattungen und Schreibweisen natürlich differieren. Darüber hinaus wird man diesen entgegengesetzten Optionen auch unterschiedliche epistemologische Dispositionen zuordnen können; vermutlich korrespondieren Strategien der Indexikalisierung, die immer auch solche der Perspektivierung sind, in der Regel eher einer erkenntnisskeptischen Einstellung – Montaignes Essais mö14 Zu bedenken wäre in diesem Zusammenhang auch ein Ereignis wie der Buchdruck, in dessen Folge es bekanntlich zu einer Zerdehnung und Anonymisierung literarischer Kommunikationszyklen kommt und zu einer entsprechenden Dissoziierung von empirischem Kontextwissen auf Seiten des Autors und des Lesers. Damit ändern sich aber auch die Bedingungen der Referentialisierbarkeit indexikalischer Textelemente. Siehe hierzu HÄSNER 2006, bes. S. 190– 196, sowie HÄSNER 2007.

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gen hier als Paradebeispiel dienen –, während aus einer Position der Wahrheitsgewissheit häufiger deindexikalisierende Verfahren zum Einsatz kommen dürften. Dies ist natürlich kein Bedingungsverhältnis; tatsächlich können Indexikalisierungen Wahrheitsansprüche auch unterstreichen, indem das Äußerungssubjekt als ein besonders glaubwürdiges, autoritatives etc. herausgestellt und dadurch der Geltungsanspruch seines Diskurses bekräftigt wird. 15 Im Folgenden mache ich zunächst einige Anmerkungen zu typischen Verfahren der Deindexikalisierung in wissenschaftlichen Texttypen, die grundsätzlich aber auch in literarischen und fiktionalen Texten zum Einsatz kommen können und auch tatsächlich kommen. In diesem Zusammenhang greife ich den Begriff des ‚Stils‘ auf, der in linguistischen Untersuchungen zum ‚Wissenschaftsstil‘ zur Anwendung kommt, und schlage vor, den Stil von Texten als eine in der Tat irreduzible transphrastische Manifestationsebene von Indexikalität in Betracht zu ziehen. Anschließend gehe ich auf Verfahren der Indexikalisierung ein, die ihrerseits stilkonstitutiv sein können. 16 8. In jüngerer Zeit haben Disziplinen wie die Wissenschafts- oder Fachsprachenlinguistik, aber gelegentlich auch schon die Wissenschaftsgeschichte sich vermehrt mit den wissenschaftliche Texttypen reglementierenden Normen, Konventionen und Obligationen befasst und diese, wohlgemerkt ohne Bezug auf den indexikalitätstheoretischen Ansatz und dessen zentralen Terminus, eben als Textstrategien der Deindexikalisierung beschrieben. 17 Charakteristisch für diese Strategien ist 15 So soll in frühneuzeitlichen Experimentberichten gerade durch die Exponierung des AutorIchs und durch narrative Vergegenwärtigung des Experimentverlaufs, d.h. durch indexikalisierende Textstrategien, Glaubwürdigkeit erzeugt und dem Leser Teilhabe am dargestellten Vorgang ermöglicht werden (vgl. NATE 1996, S. 117). 16 Die folgenden Ausführungen zum Zusammenhang von Wissenschaftssprache, Indexikalität und Stil greifen Überlegungen aus HEMPFER/HÄSNER/RAJEWSKY 2004 auf und versuchen sie fortzuführen. 17 Vgl. etwa WEINRICH 1989, GROSS 1990, KRETZENBACHER/WEINRICH (Hgg.) 1995, SCHRÖDER 1995, NATE 1996. Prägnant, wenn auch etwas schematisch, werden die Vertextungsnormen wissenschaftlicher Texttypen von Kretzenbacher zu drei „Tabus“ zusammengefasst: „Ich-Tabu“, „Metaphern-Tabu“ und „Erzähl-Tabu“. Das Ich-Tabu und ihm entsprechende sprachliche Verfahren wie der deagentivierende Einsatz von Verben dienten dazu, so Kretzenbacher, „die in der Forschung und der Kommunikation handelnde menschliche Instanz auszublenden“ (KRETZENBACHER 1995, S. 28). Suggeriert werde, „daß Wissen unabhängig von einem menschlichen Subjekt existiere und daß eine wissenschaftliche Äußerung unabhängig von den spezifischen Kommunikationspartnern übermittelt werden könne“ (ebd. S. 34). Das Metaphern-Tabu, das nur solche metaphorisch gebildeten Fachwörter zulässt, die durch standardisierte Definitionen konventionalisiert wurden, „suggeriert, daß ein wissenschaftliches Faktum nur in einer ganz bestimmten Weise dargestellt werden könne, weil es nur in ein und derselben Art wahrgenommen werden könne“ (ebd.). Das Erzähl-Tabu schließlich beinhalte, dass die zeitliche, narrativ rekonstruierbare Ordnung des Forschungsprozesses „in eine hierarchische, argumentative Sequenzierung gemäß den Konventionen der wissen-

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vor allem die Ersetzung eines konkreten und personalen Textsubjekts durch eine abstrakte Äußerungsinstanz, die sich grammatikalisch vor allem in der das menschliche Agens ausblendenden Dominanz von Passiv-, Reflexiv oder Infinitivfügungen manifestiert. Der Äußerungskontext dieser Instanz soll nicht durch raum-zeitliche Koordinaten ihres Diskurses konditioniert sein, sondern mit dem abstrakten ‚Raum‘ oder der systematischen Ordnung epistemologischer, logischer und methodologischer ‚Koordinaten‘ zusammenfallen, innerhalb derer sich dieser Diskurs bewegt. Die Strategien der Deindexikalisierung, die für den wissenschaftlichen und namentlich für den naturwissenschaftlichen Diskurs mehr oder weniger verpflichtend sind, werden von der Wissenschaftslinguistik als Konstituenten eines spezifischen ‚Stils‘ wissenschaftlicher Rede beschrieben. Tatsächlich drängt sich der Stilbegriff im Zusammenhang einer literaturwissenschaftlichen Reformulierung des indexikalitätstheoretischen Ansatzes, die auch transphrastische Manifestationen von Indexikalität vorsieht, auf, zielt er doch seit jeher auf einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen Äußerungsinhalt, Äußerungsform sowie dem Äußerungssubjekt und dem Äußerungsakt. Bereits die Begriffsgeschichte ist hier instruktiv. Zwar wird ‚Stil‘ in der Rhetorik zumeist synonym zu elocutio gebraucht, doch hat sich der Begriff wahrscheinlich schon in der Rhetorik selbst von dem der elocutio gelöst, insofern er von Beginn an „mit dem Übergang von mündlicher zu schriftlicher Performanz assoziiert wurde“. 18 ‚Stil‘ geht bekanntlich auf lat. stilus zurück, die Bezeichnung des Griffels, mit dem eine Zeichenfolge in eine Wachstafel eingeritzt wird. In der Regel wurde der Text einem Schreiber diktiert. Freilich ist der Griffel nicht einfach Mittel der Fixierung einer Zeichenfolge, sondern zugleich Werkzeug von deren weiterer Bearbeitung. Er hat zwei Seiten, eine spitze und eine abgeflachte. Mit der Spitze wird geschrieben, mit der anderen, abgeflachten Seite wird der in das Wachs geschriebene Text wieder ausgelöscht bzw. korrigiert, gekürzt, verändert usw. – ihm wird mithin seine endgültige Gestalt gegeben. Der Stilus ist also ein Instrument der Fixierung und der Bearbeitung gesprochener Rede, der Transposition mündlicher in schriftliche Texte. Wenn nun stilus zum Synonym für elocutio wird, heißt dies, dass die Bezeichnung des Werkzeugs der Textherstellung und Textbearbeitung zur Bezeichnung bestimmter Eigenschaften des ‚stilistisch‘, also mittels des stilus überarbeiteten Textes wird, Eigenschaften, die das Resultat jenes Herstellungs- und Bearbeitungsprozesses mit dem stilus sein sollen. Gerade der erweiterte, über die Bedeuschaftlichen Disziplin und der Textsorte“ (ebd. S. 31) umzustrukturieren sei; es „suggeriert, daß in wissenschaftlichen Texten die Fakten selbst sprächen, ohne ein menschliches Subjekt als Übermittlungsinstanz“ (ebd. S. 34). Diese Trias von Verboten kooperiere darin, dass sie den wissenschaftlichen Text transparent mache und als bloße „Fensterscheibe“ (ebd. S. 19) zwischen ein erkennendes Kollektivsubjekt und den zu erkennenden Gegenstand stellen möchte, um damit jede ‚Reflexion‘ auf die sprachliche Verfasstheit und damit Kontextabhängigkeit wissenschaftlicher Theoriebildung und Kommunikation zu unterbinden. 18 GUMBRECHT 1986, S. 731. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch PFEIFFER 1986 sowie TRABANT 1986.

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tung von elocutio hinausgehende Stilbegriff, wie er nicht nur in den Textwissenschaften, sondern auch in Disziplinen wie der Kunstwissenschaft und der Archäologie selbstverständliche Anwendung findet, scheint diese originäre Bedeutungsübertragung vom Produktionsmittel (dem Schreib- und Korrekturwerkzeug) bzw. dem Produktionsprozess auf das Produktionsziel (die endgültige ‚stilistische‘ Gestalt) zu bewahren. Bekanntlich war der Stilbegriff für Archäologie und Kunstgeschichte, aber auch für die Philologie lange Zeit eines der wichtigsten und manchmal sogar einziges Instrumentarium der Datierung sowie der Provenienz- und Urheberzuweisung in Fällen von Monumenten, Kunstwerken oder Texten, über die durch andere Quellen kein entsprechender Aufschluss zu gewinnen ist. Der Stil eines Objektes gilt in diesem Verständnis also immer auch als Spur oder als eine Art Abdruck des Moments, des Subjekts, des Prozesses oder generell der näheren empirischen Umstände der Hervorbringung dieses Objekts. Anders gesagt: Im Stil eines Objekts sollen Informationen über seinen Ursprungskontext enkodiert sein, gegenüber dem andere Aspekte dieses Objekts indifferent oder stumm bleiben. Wann immer von ‚Stil‘ die Rede ist, impliziert dies eine Abstraktion von den einzelnen Elementen, aus denen sich das Objekt, dem eine bestimmte charakteristische Stilqualität zugesprochen werden soll, zusammensetzt. Offensichtlich geht es beim ‚Stil‘ gerade um die Kombination von Einzelelementen nach bestimmten Regeln. Stilkonstitutiv ist aber nicht das manifeste Arrangement von Einzelelementen als solches, sondern der darin wirksam gewordene oder sich aktualisierende modus operandi. Die Stilkategorie zielt damit stets nicht nur auf einen indexikalischen, sondern zugleich auf einen performativen Aspekt des Textes, Kunstwerks etc. Sie verweist auf den in ihm geronnenen Akt, den Prozess der Hervorbringung des Objekts und auf das Subjekt dieses Prozesses. Diese indexikalische und zugleich performative Dimension des Stils ist bereits in der Rhetorik selbst bedacht worden, nämlich in der Relation von Stil und Habitus. 19 Während die rhetorische Lehre der elocutio Stilarten und Stilqualitäten unterscheidet, die den veschiedenen Diskursen, Redegattungen sowie Argumentationszielen adäquat sind, ist habitus ein Aspekt der actio, des Redevortrags, und meint das Erscheinungsbild und Auftreten des Redners sowie seine gestischen und mimischen Mittel. Stil und Habitus müssen einander und beide zusammen dem Redegegenstand kongruent sein, um dem Argumentationsziel des Diskurses bzw. seiner persuasiven Zwecksetzung gerecht zu werden. Über diese technische Bedeutung hinaus zielt die Kategorie des Habitus aber immer schon auf ein ethisches Ideal, das des vir bonus dicendi peritus, in dem Eloquenz, Wissen, Sittlichkeit und eine würdige Erscheinung zur Übereinstimmung kommen. In der Geschichte der Rhetorik scheint dieses Verhältnis von Stil und Habitus über eine bloße Adäquatheitsrelation hinaus zunehmend dynamisiert zu werden, insofern der Stil als Signatur des Habitus in diesem nicht nur seine Möglichkeiten und Grenzen findet,

19 Vgl. dazu das Lemma „Habitus“ in UEDING (Hg.) 1996, S. 1272–1277.

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sondern zugleich Mittel seiner Erzeugung und Modellierung ist. 20 Buffons berühmtes Diktum „Le style est l’homme même“ scheint diesen Zusammenhang in epigrammatischer Kürze zu bezeugen. 21 Die weiter oben zitierten Untersuchungen zur Wissenschaftssprache machen nun deutlich, dass auch noch die Strategien der Deindexikalisierung, gerade in ihrer forcierten Abweichung vom ‚normalen‘ Sprachgebrauch, einen Stil konstituieren, der auf das verweist, was er ausspart: Vor allem verweist dieser Stil, gerade indem er das Profil des konkreten Textsubjekts konturschwach hält und die konkreten Bedingungen der Textproduktion ausblendet, auf einen spezifischen Habitus, der mentale und ethische Dispositionen umfasst, die, ohne selbst Teil des wissenschaftlichen Diskurses zu sein, doch grundlegende Bedingungen seiner Gültigkeit darstellen. Tatsächlich ist der depersonalisierte Stil der Wissenschaftssprache nicht nur Index oder Signatur eines im Forscherkollektiv aufgehenden Subjekts. Er fungiert vielmehr auch als Modus eines wissenschaftlichen self-fashioning, nämlich der Selbsterzeugung und textuellen Inszenierung eines Subjekts, das durch Attribute wie Demut, Disziplin, Gewissenhaftigkeit, Affektbeherrschung usw. ausgezeichnet ist und sich erst so als würdiges Mitglied einer Forschergemeinschaft beglaubigt. Mit dem Begriff des Stils, wie er zuvor skizziert wurde, wäre m.E. eine – weder zu abstrakte noch zu konkrete – Kategorie gewonnen, die eine textkonstitutive Manifestationsebene von Indexikalität in größeren und komplexeren Äußerungsformaten benennt, die in der Tat unhintergehbar und einer literaturwissenschaftlichen Textanalyse unmittelbar zugänglich ist. Allen komplexeren Äußerungen ist ein Stil zuzuordnen, d.h. eine bestimmte Modalisierung der Rede, die Informationen über deren Subjekt und Kontext transportiert. Wenn auch jeder Stil in diesem Sinne indexikalisch ist, sind gleichwohl Stile der Deindexikalisierung von solchen der Indexikalisierung zu unterscheiden. In den folgenden Absätzen benenne ich einige Verfahren und Möglichkeiten der Indexikalisierung, die ihrerseits stilkonstitutiv sein können. Diese Ausführungen sind, wie schon zuvor die zur Deindexikalisierung und zum Stil, sehr allgemein gehalten und bedürften der Präzisierung und der Konkretisierung durch weitere Textbeispiele. 9. Die weitgehende Tilgung von Subjekt- und Kontextindices, die den Wissenschaftsstil auszeichnet, findet ihr Gegenstück in den Verfahren eines autoreflexiven Diskurses, der in seinem Vollzug beständig auf sich selbst und seine Äußerungssituation referiert. Vor allem ist das Subjekt dieses Diskurses nicht auf eine 20 Zur ‚topischen‘ Gleichung von Stil und Mensch vgl. MÜLLER 1981, passim, sowie MÜLLER 1996, S. 168ff. 21 Vgl. aber hierzu und zu dem selbst symptomatischen Missverstehen dieses Diktums GUMBRECHT 1986, S. 754ff.

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grammatische Funktion reduziert, sondern exponiert sich gerade, oft emphatisch, als dessen Urheber und zentraler Perspektiventräger. Innerhalb der Genera des argumentativen Diskurses sind autoreflexive Strategien der Indexikalisierung paradigmatisch im Essay Montaignes realisiert. Die für Montaigne charakteristische Verschränkung von Subjekt-, Text- und Argumentkonstitution hat Hugo Friedrich auf die eindringliche Formel einer „graphische[n] Kurve der fließenden Subjektivität“ gebracht und damit in der Tat eine genuin indexikalische Relation von Subjekt, Äußerungsakt (der hier als Schreibakt spezifiziert ist) und Äußerungsinhalt benannt. 22 Die subjektivierende Indexikalisierung des theoretischen Diskurses in den Essais findet im Bereich fiktionaler Literatur eine strukturelle Entsprechung in der „potentiellen Autoreflexivität“, die Klaus W. Hempfer dem narrativen Diskurs attestiert, um damit dessen differentia specifica zum dramatischen Diskurs herauszustellen. 23 Jegliches Erzählen, das sich selbst, d.h. seine Verfahren, sein Subjekt und dessen Äußerungsbedingungen und Intentionen zum Gegenstand macht, verfolgt eine Strategie der Indexikalisierung. Von Autoreflexivität als einem Verfahren der Indexikalisierung zu unterscheiden sind metatextuelle Strukturen, die gleichfalls Funktionen der Indexikalisierung erfüllen können. Mit metatextuellen Strukturen meine ich hier die ‚Rahmung‘ eines Textes durch eine pragmatisch vor- oder übergeordnete Textebene, die über das Subjekt und die Entstehungsvoraussetzungen und Zielsetzungen des ‚gerahmten‘ Textes, also über seinen Äußerungs- und Verwendungskontext, entweder explizit Auskunft gibt oder diesen Kontext mimetisch zur Darstellung bringt. Letzteres dürfte weitgehend auf fiktionale Texte beschränkt sein. Als Rahmungen im erstgenannten Sinne können Paratexte, etwa Prologe oder Epiloge, fungieren. Im Gegensatz zum autoreflexiven Essay, in dem die Indexikalisierung eine permanente Funktion des sich entfaltenden Diskurses ist, kann gerade bei Texten mit wissenschaftlichem Geltungsanspruch die Lizenz, personale und raum-zeitliche Konditionen dieser Diskurse explizit thematisch werden zu lassen, auf die paratextuelle Exklave einer Widmung, Danksagung, Vorrede etc. beschränkt sein. Fiktionale Texte haben zusätzliche Möglichkeiten der metatextuellen Rahmenbildung und damit der Indexikalisierung, indem sie die indexikalische Interaktion von Text und Welt innerhalb des Textes selbst mimetisch abbilden können: Rahmenerzählungen, Text-im-Text- oder Spiel-im-Spiel-Strukturen sowie bestimmte Varianten der mise en abyme sind immer auch Vergegenwärtigungen eines Äußerungskontextes und seiner Subjekte. Freilich handelt es sich dabei zunächst um textinterne und fiktive Äußerungskontexte und -subjekte. Es stellt sich also die Frage, ob und in welcher Weise auch über fiktionale Indexikalisierungen textexterne Äußerungskontexte und -subjekte indiziert sein können.

22 FRIEDRICH 1967, S. 307. Siehe hierzu auch HÄSNER 2006. 23 HEMPFER 2002. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Irina Rajewsky in diesem Band.

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10. Grundsätzlich stehen fiktionalen Texten dieselben Möglichkeiten der Indexikalisierung zur Verfügung wie nicht-fiktionalen Texten. Allerdings unterscheiden sich Indexikalisierungen fiktionaler von Indexikalisierungen nicht-fiktionaler Texte durch ihre doppelte oder mehrfache Referentialisierbarkeit. Wenn für fiktionale Texte generell gelten soll, dass sie über eine Welt, die sie allererst konstituieren, so reden, als gäbe es sie schon, 24 gilt dies auch für ihre Indexikalisierungen, die sich also unmittelbar immer auf einen durch sie erst konstituierten fiktiven Äußerungskontext beziehen. 25 Dieser fiktive Kontext kann indessen selbst als Index fungieren, wenn er auf den empirischen Kontext abbildbar, mit diesem strukturähnlich oder in einzelnen bzw. sogar in allen seinen Elementen identisch ist. In diesem letzten Fall fielen fiktionale und faktuale Indexikalisierung zusammen; die Pseudoreferentialität fiktionaler Rede wird zur Koreferentialität, d.h. zum Bezug auf eine fiktive Welt, die mit der realen Welt referenzidentisch ist. Während eine solche Konvergenz von fiktionaler und faktualer Indexikalisierung ein Grenzfall ist, gibt es doch prägnante Beispiele asymptotischer Annäherung an diesen Grenzfall. Das wichtigste und zugleich ökonomischste Verfahren, um diesen Effekt zu erzielen, dürfte die Stiftung nomineller oder signifikanter biographischer Identitätsrelationen zwischen dem Personal des fiktiven und des faktischen Äußerungskontextes sein. Ich nenne dafür zwei Beispiele: Zunächst den Dialog als fiktionale Gattung des theoretischen Diskurses. Für den Dialog bestand seit jeher, d.h. seit Platon, die auch häufig genutzte Möglichkeit, seine Gesprächsfiktion mit Personen auszustatten, die mit dem Personenkreis namensidentisch sind, innerhalb dessen sich der empirische Autor bewegt und seine primären Adressaten sucht. Im Idealfall, der indessen in vielen humanistischen und höfischen Dialogen der Renaissance realisiert ist, sind der Autor des Textes und seine primären Leser, die in der Regel demselben lebensweltlichen Sozium angehören, bereits innerhalb der Gesprächsfiktion als deren personae unmittelbar zusammengeführt, bevor sie durch den schriftlichen Dialogtext in eine zwar mittelbarere, aber reale Kommunikationsbeziehung treten können. Textinterne und textexterne Pragmatik werden gewissermaßen kurzgeschlossen und der fiktive (Gesprächs-) Kontext indiziert zugleich den empirischen Äußerungs- und Verwendungskontext des Dialogtextes. 26 Als ein zweites und ähnlich gelagertes Beispiel möchte ich den Erzählerdiskurs im Orlando Furioso anführen. Zwar trägt der Erzähler in Ariosts Romanzo keinen Namen, der ihn als identisch mit dem Autor auswiese, doch stellt er immer wieder Referenzen auf Personen, Ereignisse und Konstellationen der Lebenswelt des empirischen Autors her, die ihn eben als dessen extradiegetische persona ‚identifizieren‘. Ausschlaggebend und gewissermaßen beweiskräftig ist in dieser 24 Vgl. HEMPFER 2002a, S. 129. 25 Siehe hierzu auch FRIEDLEIN 2007, S. 188, wo diesem Sachverhalt durch die Unterscheidung von „Binnen- vs. Außenindexikalität“ Rechnung getragen wird. 26 Siehe hierzu HÄSNER 2002.

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Hinsicht vor allem die Figur des Ippolito d’Este, des Dienstherrn Ariosts, der sowohl im Paratext, also mit auktorialer Verbindlichkeit, als primärer Adressat und Widmungsträger des Textes benannt wie auch diskursimmanent in beständiger Apostrophe als ein solcher präsent gehalten wird. Der textintern vom Erzähler für sein Erzählen in Anspruch genommene Äußerungskontext fungiert also auch hier ganz eindeutig als Index des empirischen Äußerungskontextes. Nun sind die Relationen von fiktiver und faktualer Indexikalisierung gewiss nur selten so relativ transparent wie in diesen Beispielen, sondern können sich auch über diskretere Korrespondenzen herstellen. Ein Beispiel hierfür sei mit Calvinos Cavaliere inesistente gegeben, ein Text, der in vieler Hinsicht Motive und Erzählweisen des italienischen Romanzo aufnimmt, sich aber gerade in der Ausgestaltung der Erzählerrolle von diesem unterscheidet. Zwar gibt es wie im Orlando Furioso auch bei Calvino eine personalisierte Erzählinstanz, die sowohl ihr eigenes Erzählen wie auch ihre existentielle Situation beständig thematisiert und reflektiert. Im Unterschied zu Ariost scheint diese Erzählinstanz, eine Nonne namens Teodora in einem nicht näher spezifizierten mittelalterlichen Kontext, jedoch keine signifikanten biographischen Attribute mit dem empirischen Autor zu teilen und schon ihre historische Situierung scheint von vornherein jede Möglichkeit indexikalischer Rückbindung an den realen Textproduzenten auszuschließen. Gleichwohl besteht diese Möglichkeit, wenn auch nicht auf der Basis nomineller Identitätsrelationen. Indexikalisch signifikant sind hier vielmehr bestimmte Elemente und Motive der Selbstreflexion der Erzählerin. Während sie in ihrer Zelle ihren Pflichten als Chronistin, die ihr von der Äbtissin als Buße auferlegt wurden, nachkommt, ist ihr Schreiben beständig lebensweltlichen Irritationen ausgesetzt und entfaltet sich in ‚indexikalischem‘ Bezug auf diese: Das Klappern der Zinnteller im benachbarten Refektorium stimuliert detailreiche Schlachtenschilderungen, Küchengerüche evozieren das minutiöse Bild der fränkischen Heereskantine. Freilich kann die Erzählerin diese Manifestationen gelebten Lebens nur im Modus ihrer klausuralen Abgeschiedenheit wahrnehmen, also selektiv und rein rezeptiv: Angesichts der unbefangenen erotischen Spiele von Mägden und Bauernburschen vor den Mauern des Klosters, die sie durch ihr Zellenfenster neidvoll beobachtet, erscheint ihr die erzählerische Evokation vergangener Welten, die ihr aufgetragen ist, als defizitär, vom Scheitern bedroht und als überaus harte Buße und fragwürdige Kompensation klösterlicher Askese. Schließlich sollen ihr die solide Materialität des Schreibpapiers oder Pergaments und des Gänsekiels, also der Werkzeuge narrativer Weltdarstellung oder Welterzeugung, zu Garanten der Wirklichkeitskongruenz der erzählten Welt werden: Die Identität von Zeichen und bezeichneter Sache beschwörend, möchte Teodora es für möglich halten, die zu erzählende Geschichte als eine Art piktographische Animation auf dem Pergament entstehen zu lassen und sogar als ein Relief in dessen nachgiebige Oberfläche einzukerben und zu modellieren und so als eine dreidimensionale Realität von palpabler Konsistenz, gleichsam als eine Skulptur, zu verifizieren. Zuletzt, in einer finalen Metalepse, wird die erzählte Welt zur erlebten Welt; einer der Protagonisten der von Teodora erzählten Ge-

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schichte, der Ritter Rambaldo, erscheint vor den Toren des Klosters, Teodora steigt zu ihm aufs Pferd und reitet mit ihm davon. 27 Als indexikalisch können die komplexen, hier nur angedeuteten Reflexionen der Erzählerin über den Gegensatz von Literatur und Leben, von Kontemplation und Partizipation (oder Engagement) insofern gelten, als sie auf Motive einer zur Zeit der Abfassung des Cavaliere (1959) virulenten metaliterarischen Debatte über die Funktion von Literatur verweisen (Stichwort: littérature engagée), eine Debatte von existentiellem Gewicht, mit der auch Calvino, der bekanntlich als Neorealist und Kommunist begann, sich auseinanderzusetzen hatte und von deren seinerzeit dominanten Positionen er sich zunehmend distanzierte. Die Aktualisierung dieser indexikalischen Referenz setzt natürlich, wie weiter oben bereits betont wurde, ein sehr spezifisches und mit zunehmender Entfernung vom Ursprungskontext des Romans instabil werdendes Weltwissen des Lesers voraus, das auch biographisches Wissen über den Autor einschließt. 28 Mit diesen drei Beispielen sollte angedeutet werden, in welcher Weise fiktionale Indexikalisierungen lebensweltlich, d.h. auf den empirischen Autor und dessen Äußerungssituation referentialisiert werden können. Das Spektrum an Möglichkeiten ist damit natürlich nicht annähernd abgedeckt. Es soll hier auch nicht behauptet werden, dass sich fiktionale Indexikalisierungen stets auf textexternen Äußerungskontexten zur Abbildung bringen lassen. Nicht zuletzt können auch fiktionale Texte Strategien der Deindexikalisierung verfolgen, beispielhaft etwa durch strikte Entpersonalisierung der Erzählinstanz und damit durch ein Verfahren, das, wie gesehen, in wissenschaftlichen Texten seine Entsprechung findet. Doch resultiert, wie eben an diesem Beispiel plausibel gemacht werden sollte, noch die rigorose Minimierung jeglicher Indices des Äußerungssubjekts und kontextes in einem spezifischen Stil, der seinerseits indikativ ist für personale und raum-zeitliche Parameter des Diskurses. Zumindest verweist dieser Stil auf einen auktorialen Habitus, auf ein Ensemble von Dispositionen, das im Text unexpliziert bleiben mag, aber gleichwohl für seine Bedeutung konstitutiv ist.

27 Zu einer ausführlicheren Darlegung der hier nur skizzierten Interpretation von Il Cavaliere inesistente siehe HÄSNER 2005. 28 In einem Nachwort und in einer seinerzeit (1960) unveröffentlicht gebliebenen Einleitung zu seiner Romantrilogie I nostri antenati, deren letzter Teil Il Cavaliere inesistente darstellt, hat Calvino selbst auf diese Zusammenhänge hingewiesen (vgl. CALVINO 1991, S. 1208–1219 und S. 1220–1224).

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Das Kunstwerk als Medium der Liebe: Tristran im Statuensaal Zum Verhältnis von Fiktionalität und Autoreferentialität in der Erzählliteratur des Mittelalters RICARDA BAUSCHKE 1. Der Tristran des Thomas von England Der Tristran des Thomas von England, vermutlich am anglonormannischen Hof entstanden und auf ca. 1155–1170/80 datierbar, 1 ist nur fragmentarisch überliefert, aber dennoch lässt sich für diese Redaktion des in Mittelalter und Renaissance europaweit verbreiteten Tristanstoffes konstatieren, dass Thomas’ höfisierende Bearbeitung sich in wesentlichen Punkten von der vermutlich zeitgleich entstandenen, sogenannten spielmännischen Version eines Béroul 2 (die Datierungsversuche reichen von 1160 bis 1200) unterscheidet. 3 Die außerhalb aller Normen stehende Verbindung zwischen dem vorbildlichen Ritter Tristran und der Ehefrau seines Onkels König Marque, der Blonden Ysolt, erzählt Thomas ohne moralisierende Verurteilung des heimlichen Paares. Vielmehr erhebt er die ehebrecherische Liebe von Tristran und Ysolt zu einem Wert an sich, wobei für diese spezifische Art von amur ganz eigene Normkriterien etabliert werden. In jedem Fall drängt Thomas die magische Dimension des Trankes als Zaubermittel, welche sie bei Béroul besitzt, deutlich zurück, wenn er – anders als die bis dahin maßgebliche Stofftradition – die lebenslange Bindung der Liebenden behauptet. 4 Die Protagonisten erscheinen mithin nicht mehr als Sklaven eines zeitlich begrenzt wirksamen Giftes, 5 sondern Thomas würdigt den Liebesaffekt als dauerhafte Emotion zwischen den Geschlechtern. Handschriftlich erhalten vom Tristran des Thomas sind

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Einen umfassenden Überblick der zahlreichen Aktualisierungen des Tristanthemas bietet STEIN 1984. Tristan und Isolde, übers. MÖLK 1962. Die Differenzierung von ,spielmännisch‘ und ,höfisch‘ wird zwar – zu Recht – immer wieder problematisiert (zuletzt von SCHAUSTEN 1999, S. 15), doch macht die Kategorisierung, wird sie ohne wertende Implikationen benutzt, den Umgang mit der Stofftradition leichter operationalisierbar, vgl. z.B. HUBER 2001. Darüber zusammenfassend KECK 1998, hier bes. S. 138–141. Die traditionelle Wahrnehmung der Tristanliebe vermittelt z.B. der mhd. Erzähler und Lyriker Heinrich von Veldeke (vor 1150–1190/1200) in einer Minnestrophe, MF 58, 35–38: Tristran muose sunder sînen danc / staete sîn der küneginne, / wan in daz poisûn dar zuo twanc / mêre danne diu kraft der minne (Tristan musste, ohne selbst Verantwortung dafür zu tragen, der Königin treu bleiben, weil ihn das Gift dazu zwang, und zwar mehr als die Kraft der Liebe selbst).

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vor allem einzelne Passagen aus dem zweiten Teil der Handlung: 6 Tristrans Abschied vom Hof Marques, weil der König den Ehebruch in flagranti entdeckt und Tristran sich der drohenden Hinrichtung durch Verbrennung nur durch Flucht entziehen kann; die Ehe mit Ysolt Weißhand, der Schwester von Tristrans Freund und Kampfgefährten Kaherdin; Rückkehrepisoden an Marques Hof, wo Tristran sich heimlich mit Ysolt trifft und Kaherdin um die den Liebenden stets hilfreiche Zofe Ysolts, Brengvein, wirbt; schließlich der Liebestod, wenn die heilkundige Ysolt den tödlich verwundeten Tristran nicht mehr rechtzeitig erreichen kann, da die eifersüchtige Ysolt Weißhand falsche Auskunft über die Segelfarbe des ankommenden Schiffes gibt, und die Blonde Ysolt am Ende neben der Leiche des geliebten Tristran dahinscheidet. Vom Beginn der Dichtung ist lediglich das Carlisle-Bruchstück erhalten, 7 das allerdings genau die Szene enthält, in der Tristran und Ysolt sich über das Wortspiel von lameir gegenseitig ihre Liebe gestehen. 8 Einige der anderen Manuskripte überschneiden sich inhaltlich zum Ende der Handlung hin und bestätigen damit untereinander den Wortlaut, für die ersten Episoden jedoch (Baumgarten, Hochzeit, Statuensaal, Reisezug) schließen die Fragmente nicht direkt aneinander an und setzen zum Teil mitten in einer Szene ein bzw. brechen in dieser ab. Einen Eindruck der Gesamthandlung bietet zwar ein frühes Rezeptionszeugnis, die Tristrams Saga ok Ísondar, die ein gewisser Bruder Robert im Jahr 1226 für den norwegischen König Haakon Haakonson (1217– 1263) als altnordische Prosaversion des Thomas-Textes angefertigt hat. 9 Da aber im Vergleich von Saga-Text und erhaltenen Fragmenten deutlich wird, dass Robert gerade die Liebesszenen und ebenso die für den Tristanstoff üblichen Listund Betrugsepisoden kürzt, also die altnordische Bearbeitung eine moralisch neutralisierte Version bietet, liefert die Prosafassung primär Hinweise auf die histoire. Für die Rekonstruktion der spezifischen Darstellungsintention und des poetologischen Programms von Thomas bleiben allein die wenigen Erzählerkommentare in den Fragmenten und vor allem der überlieferte Epilog. Dennoch sprechen bereits diese Passagen eindeutig dafür, dass Thomas die Liebe in der oben skizzierten neuartigen Weise bewertet und dies darstellerisch pointiert umsetzt, wobei genau den Aspekt auch die aus dem Torso des Carlisle-Manuskriptes rekonstruierbare lameir-Episode bestätigt. 10 Zugleich machen – wie im Folgenden gezeigt werden soll – die Erzählereinlassungen deutlich, dass Thomas eine besondere Auffassung vom Kunstwerk als Vermittlungsinstanz vertritt, und hierfür spielt das Spannungsverhältnis von Authentisierungsstrategien und Fiktionsdeixis eine zentrale Rolle.

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Eine Zusammenschau der Überlieferung bietet die Textausgabe Tristan, hg. BONATH 1985, S. 9–16. Das im Sommer 1994 aufgefundene und daher bei Bonath noch nicht vermerkte Carslisle-Bruchstück edieren BENSKIN/HUNT/SHORT 1992–95. 7 Ebd. 8 Darüber handelt umfassend ZOTZ 2000. 9 Tristrams saga, hg. KÖLBING 1878. 10 Vgl. dazu die Interpretation der Episode und die sich daraus ergebende Beurteilung der Tristanminne in den Romanen von Thomas und Gottfried durch BAUSCHKE 2007.

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2. Fiktionalitätsbewusstsein und poetologisches ,Programm‘ Über die Frage nach der Fiktionalität mittelalterlicher Erzähldichtung ist viel, kontrovers und auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert worden. Während z.B. Burrichter (1996) 11 u.a. den Grad der Fiktionalität afrz. Artusdichtung daran misst, in welchem Ausmaß Artus vom aktiven Protagonisten zur passiv-statischen Figur mutiert, bezieht Grünkorn (1994) sich auf lateinische Poetiken, in denen das Verhältnis von fictum und factum beleuchtet wird, um die dort entwickelten Kategorien auf die volkssprachige Erzählliteratur zu übertragen. Wenn Knapp (1980) das Spannungsfeld von historia, argumentum und fabula aufarbeitet und von Moos (1976) den poeta et historicus einem poeta fictor gegenüberstellt, scheint es möglich, mittelalterliche fiktionale Dichtung über das Exemplarische aufzuwerten. Gerade diese vermeintliche Beispielhaftigkeit problematisiert andererseits Haug (2002); vielmehr koppelt Haug (1985) Fiktionalität genuin an eine Sinnstruktur, die allererst Chrétien mit dem Aufbaukonstrukt seiner Artusromane etabliert haben soll. 12 Worstbrock (1985 bzw. 1999) geht das Problem von der anderen Seite an, indem er auch die volkssprachigen Dichter in der Tradition lateinischer Rhetorik verortet und ihre Textherstellung weniger im Hinblick auf fictum und factum betrachtet, sondern die Phänomene des Übersetzens und Wiedererzählens unter den Vorzeichen der aemulatio bewertet. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Perspektiven und die Divergenz der Lösungsvorschläge indizieren dabei letztlich nur die Größe des Problems, ohne es jeweils gänzlich zu klären. Es scheint daher, vor allem nach dem grundlegenden Aufsatz von Müller (2004), weder sinnvoll, die bekannten Positionen nochmals durchzusprechen, noch das Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur prinzipiell lösen zu wollen. Stattdessen soll am Beispiel des Thomas von England deutlich gemacht werden, dass sich im Selbstverständnis bestimmter Autoren Fiktionalität primär über ein Bewusstsein für die Gemachtheit der Texte konstituiert, es im autoreferentiellen Selbstentwurf den Dichtern also weniger um das Spiel des Fingierens geht als vielmehr um eine Poetik der Gemachtheit von Kunst, 13 die als solche einen Wert an sich in der Welt beansprucht. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die metatextuelle Einlassung, in der Thomas sich von der konkurrierenden Stofftradition distanziert und stattdessen auf die Autorität eines gewissen Breri verweist. Der Erzähler greift dabei den noch zu berichtenden Ereignissen, nämlich der Vorgeschichte zu Tristrans Liebestod (tödliche Verwundung und Heilungsbitte an die Blonde Ysolt)

11 Siehe dazu die Rezension von BAUSCHKE 2000. 12 Gemeint ist die conjointure, die Chrétien im Prolog zu seinem Artusroman Erec et Enide, V. 14, als neue Leistung hervorhebt – siehe HAUG 1985, S. 102. Vgl. zur Idee von der Entdeckung der Fiktionalität im Mittelalter die Diskussion zwischen HEINZLE 1990 und HAUG 2003. 13 Dazu grundsätzlich RÜHLING 1996.

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voraus, um seine nachfolgende Darstellung als Abweichung vom bisher Bekannten auszuweisen: 14 Seignurs, cest cunte est mult divers, E pur ço l’uni par mes vers E di en tant cum est mester E le surplus voil relesser. Ne vol pas trop en uni dire: Ici diverse la matyre. Entre ceus qui solent cunter E del cunte Tristran parler, Il en cuntent diversement: Oï en ai de plusur gent. Asez ai que chescun en dit E ço qu’il unt mis en escrit, Mès sulun ço que j’ai oï, Nel dient pas sulun Breri Ky solt les gestes e les cuntes De tuz les reis, de tuz les cuntes Ki orent esté en Bretaingne. (V. 2107–2123) Ihr Herren, diese Geschichte hat sehr viele Varianten, und deshalb füge ich sie durch meine Verse zu einer Einheit zusammen und sage davon so viel, wie nötig ist, und das Überflüssige will ich beiseite lassen. Ich will [jedoch] nicht zu viel in nur einer Weise bringen: Hier gehen die Fassungen auseinander. Diejenigen, die zu erzählen und von der Geschichte Tristrans zu sprechen pflegen, erzählen dies auf verschiedene Weise; gehört habe ich es von mehreren Leuten. Zur Genüge kenne ich, was sie alle davon sagen, und das, was sie schriftlich abgefasst haben; aber nach dem, was ich gehört habe, erzählen sie es nicht Breri entsprechend, der die Taten und Erzählungen von allen Königen, von allen Grafen wusste, die in der Bretagne gelebt haben.

Thomas spielt auf die Existenz verschiedener Fassungen ein und desselben Stoffes an (V. 2107: cest cunte est mult divers), wobei die unterschiedlichen Versionen offenbar einander sogar widersprechen (V. 2112: Ici diverse la matyre). Damit beschreibt er aber wohl weniger die bestehende Situation, sondern schafft sich allererst den notwendigen Freiraum für seinen eigenen Sonderweg. Denn all die vielen Positionen, von denen Thomas – sogar durch unterschiedliche Quellen bestätigt – angeblich gehört haben will (V. 2115f.: Il en cuntent diversement: / Oï en ai de plusur gent), gehen in dem einen wesentlichen Punkt doch zusammen: Sie alle entsprechen nicht dem von Breri vermittelten Stoff (V. 2120: Nel dient pas sulun Breri), an dem Thomas sich zu orientieren vorgibt. Die Autoritätsberufung bleibt rein formal betrachtet im Rahmen rhetorischer Lizenzen, vor allem wenn Thomas ganz konventionell ankündigt, Vorhandenes zu vereinheitlichen (V. 2108: E pur ço l’uni par mes vers) und Überflüssiges zu tilgen (V. 2110: E le surplus voil relesser). In ihrer spezifischen inhaltlichen Ausgestaltung zeigt die Nennung des Gewährsmannes jedoch signifikante Eigenarten. Einerseits wird Breri als histori14 Alle Zitate des afrz. Textes sowie die entsprechenden Übersetzungen ins Nhd. nach Tristan, hg. BONATH 1985. — Die nachfolgend interpretierte Autoritätsberufung bespricht mit etwas anderer Tendenz auch KECK 1998, S. 138–141.

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cus vorgestellt (V. 2120f.: Nel dient pas sulun Breri / Ky solt les gestes e les cuntes), der sich insbesondere in der bretonischen Fürstengeschichte auskennt (V. 2122f.: De tuz les reis, de tuz les cuntes / Ki orent esté en Bretaingne). Nicht also ein poeta-Kollege, der bereits einen Tristantext hergestellt hat, wird bemüht, sondern ein vermeintlicher Historiograph. Dadurch erhält Thomas’ Handlungsbericht faktische Dignität, und die angebliche historische Authentizität soll gegen potentielle Publikumskritik immunisieren. Zugleich aber implizieren die Distanzierung von der literarischen Tradition und die historiographisch dimensionierte Quellenberufung in ihrer gegenseitigen argumentativen Verknüpfung eine gewisse ,Originalität‘ des vorgelegten Tristanentwurfes: Thomas allein verantwortet die Literarisierung der ,wahren‘ Fakten (V. 2108: par mes vers). Autoritätsberufung und Selbststilisierung oszillieren damit zwischen Traditionskonformität und dichterischem Sonderweg. Andererseits, und dies macht den Erzählerkommentar komplex, ist ein historischer Breri in mittelalterlicher Geschichtsschreibung oder Geschichtsdichtung nicht fassbar. Es handelt sich bei dem von Thomas ins Spiel gebrachten Gewährsmann also wohl um eine reine Quellenfiktion, wie sie später im deutschen Sprachraum etwa Wolfram von Eschenbach (1168/80–um/nach 1220) mit der Kyot-Autorität im Parzival (entstanden im 1. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts) gestaltet; 15 und Thomas’ Breri-Fiktion dürfte als solche dem zeitgenössischen Publikum vermutlich sogar durchschaubar gewesen sein, weil nämlich Breri (V. 2120), und nicht der am anglonormannischen Hof tatsächlich nachweisbare Kenner bretonischer Historie, der Geschichtsdichter Wace (um 1110–nach 1174), 16 genannt wird. Wenn nun die Autorität als Scheinautorität entlarvbar ist und offenbar auch entlarvbar sein soll, dient dies dem Zweck, die literarische Konstruiertheit von Thomas’ Tristranroman zu profilieren, und zwar um autoreferentiell den Texthersteller selbst ins rechte Licht zu rücken. Gottfried von Straßburg († um 1215) wird in seinem Tristan genau diese Idee übernehmen und deren Ausgestaltung noch verfeinern. 17 Der sich aus der offenkundigen Pseudo-Autorität des Breri fast automatisch ergebenden Gefahr, das Werk könnte als fiktiv bzw. dem Bereich der fabula angehörend verstanden und aufgrund dessen gering geschätzt werden, baut Thomas sogleich vor:

15 Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zum Kyot-Problem bietet BUMKE 1991, S. 164–167, Literaturhinweise S. 202f. 16 Nähere Informationen bietet der Band HASENOHR/ZINK (Hgg.) 1964, hier S. 1498f. 17 Die Abgrenzung von der durch Eilhart vertretenen spielmännischen Stofftradition (sein Tristrant entsteht um 1170) thematisiert Gottfried an dem Punkt, wo es um das Movens der Werbung Markes um Isolde mit Tristan als Brautwerber geht. Das Motiv vom Schwalbenhaar verwirft Gottfried unter Verwendung des bereits durch Thomas vorgebildeten Vorwurfes der Unplausibilität, V. 8614–23: weiz got, hie spellet sich der leich, / hie lispet daz mære. / ouch ist ez alwaere, / swer saget, daz […] / waz rach er an den buochen, / der diz hiez schrîben unde lesen? (Übersetzung nach KROHN 1995: „Bei Gott, hier gerät die Erzählung zu Geschwätz, hier redet die Geschichte wirres Zeug. Zudem wäre es unsinnig zu sagen, dass […]. Was hat der sich bloß aus den Büchern zusammengesucht, der das alles aufschreiben und berichten ließ?“).

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Ricarda Bauschke THOMAS iço granter ne volt, E si volt par raisun mustrer Que iço ne put pas ester. (V. 2134–2136) Thomas will dem nicht beipflichten, und er will mit vernünftigen Gründen zeigen, dass das nicht aufrecht erhalten werden kann.

Welch zentrale Bedeutung der Passage innewohnt, signalisiert allem voran die Selbstnennung V. 2134, die im Manuskript auch graphisch hervorgehoben erscheint. Sie verknüpft den vorgestellten Tristranentwurf mit einem die Ausgestaltung verantwortenden Autornamen, der dadurch die Urheberschaft unmissverständlich klarlegt – und dem Autorschaftsprinzip als Funktionszusammenhang an sich Bedeutung zollt – sowie das Erzählprogramm als individuelle Gestaltungsabsicht profiliert. Die Abweichung von den bisher bekannten Stoffaktualisierungen begründet Thomas signifikanterweiser mit raisun (V. 2135), also mit Handlungslogik, Plausibilität und damit einer Kategorie, die letztlich auf das Mimesis-Konzept zielt. 18 Auch Thomas entwirft für seinen Tristranroman eine Welt, dies macht die als Pseudo-Autorität entlarvbare Breri-Fiktion deutlich; doch diese Welt soll eine mögliche sein, 19 und zwar ,möglich‘ im Sinne logischer Nachvollziehbarkeit. Sie soll den geltenden Gesetzen von Vernunft und gesundem Menschenverstand nicht zuwiderlaufen. Damit aber dreht Thomas den Spieß genau um: Obwohl er derjenige ist, der einen Sonderweg einschlägt und sich von tradierten Erzählinhalten löst, verortet er die stoffliche Konkurrenz im Bereich des Unwahrscheinlichen. Für sich selbst reklamiert er mindestens ein verisimile bzw., wie der weitere Erzählerkommentar zugibt, sogar noch mehr: Il sunt del cunte forsveié E de la verur esluingné, E se ço ne volent granter, Ne voil jo vers eus estriver; Tengent le lur e jo le men: La raisun s’i provera ben! (V. 2151–2156) Sie sind von der Geschichte abgeirrt und haben sich von der Wahrheit entfernt; und wenn sie das nicht zugeben wollen, will ich nicht gegen sie streiten; sollen sie sich an das Ihre halten, und ich [halte] mich an das Meine: Die Vernunft wird sich darin wohl erweisen.

Raisun (V. 2135, V. 2156) und verur (V. 2152) erscheinen als genuin miteinander verknüpft, und auf der Basis der zuvor von Thomas geführten Diskussion darf verur hier nicht nur als innere ,Wahrheit‘, die unter den Vorzeichen der integumentum-Lehre fingierend verhüllt ist, 20 gedeutet werden, sondern muss als mit historischer Faktizität korrelierbar aufzufassen sein. Es sind die Gesetze außerliterarisch-lebensweltlicher Logik und Plausibilität, denen Thomas auch die in seinem Tristran vorgestellten Handlungsabläufe folgen lassen will. Konsequenter18 Vgl. AUERBACH 1946. 19 Vgl. für diese Kategorie in Bezug auf den Tristanstoff (vorgelegt allerdings am Beispiel von Gottfrieds mhd. Tristanroman) CHINCA 2003. 20 Zur integumentum-Lehre nach Bernardus Silvestris und deren Übertragungsmöglichkeiten auf die volkssprachige Literatur des Mittelalters BRINKMANN 1974.

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weise wird dann im Umkehrschluss die übrige Stofftradition in das Reich fabulierender Fiktion verwiesen. Mit einer Beschränkung auf die reine Implikation dieser Behauptung gibt sich Thomas allerdings keineswegs zufrieden. Ganz explizit charakterisiert er die anderen Tristanentwürfe als Irrmeinungen, und zwar gleich auf zwei Ebenen: Der Vorwurf de la verur esluingné (V. 2152) korrespondiert mit den von Thomas bereits zusammengetragenen Argumenten und führt diese noch fort; die vermeintliche Abkehr von der ,Wahrheit‘, welche er den alternativen Stoffversionen ankreidet, ist ein Abwertungskriterium, für das er sich der Zustimmung seines Publikums sicher sein kann. Wenn er aber darüber hinaus auch noch behauptet, andere Erzähler hätten sich del cunte forsveié (V. 2151), unterstellt er ihnen poetologische Ignoranz, nämlich indem sie das Gebot des ,Wiedererzählens‘ missachteten. 21 Es sind die anderen, die sich von der Tradition entfernt haben und nun die Geschichte von Tristan falsch vermitteln. Damit zielt Thomas’ Kritik sowohl auf die Dimension der histoire als auch auf die des discours, wobei gerade die Idee von der erzählerischen Leistung, die hier anklingt, den Bogen zurück zu der eingangs präsentierten Selbststilisierung schlägt. Eine weitere wesentliche Maxime, die sich aus Thomas’ Positionierung für sein poetologisches Programm ableiten lässt, ergibt sich aus dem vermeintlichen Toleranzpostulat: Tengent le lur e jo le men (V. 2155). Nach dem Motto ,Jedem das Seine‘ erhalten die von Thomas aufgrund ihres mangelnden Wahrheitsgehaltes oder ihrer defizitären diskursiven Ausgestaltung verworfenen Stoffaktualisierungen trotzdem ihre eigene Existenzberechtigung. Von der Prädominanz seines Tristran rückt Thomas zwar nicht ab, und hierfür hat er wiederum die Vernunft auf seiner Seite (V. 2156: La raisun s’i provera ben!). Die Kategorie der ,Wahrheit‘ bleibt Dreh- und Angelpunkt seiner Authentisierungs- und Selbstaufwertungsstrategie. Dennoch lässt er, und dies sagt er ausdrücklich, auch die Gegenmeinungen gelten (V. 2154: Ne voil jo vers eus estriver). Wird diese Ansicht weitergetrieben, so wird allerdings auch das, was sich von faktisch-logischer Wahrheit entfernt (V. 2152: de la verur esluingné) als in der Literatur Darstellbares denkbar. Die in der Dichtkunst entworfenen ,möglichen Welten‘ messen sich damit in ihrem Möglichsein nicht an den Gesetzen des Real-Faktischen, sondern des literarisch Sagbaren. Was erzählbar ist, besitzt eine Existenzberechtigung. Jenseits von Faktizität und Logik beansprucht damit das Erzählen einen Wert an sich. Selbst wenn Thomas also sein Werk dem Signum der fabula unmissverständlich entziehen will, umkreist er gedanklich doch die Option, dass auch der raisun Widersprechendes denkbar und rezipierbar ist – und sogar, etwa durch eine korrigierende Leistung wie der von ihm selbst im Tristran erbrachten, mit neuer ,Wahrheit‘ gefüllt werden kann. Diese ,Wahrheit‘ wäre dann allerdings immer eine sich primär in der Poetik konstituierende. Auch diesen Gedanken nimmt Gottfried in seinem Tristan auf, um die vorgefundene Quellensituation zu

21 Dazu WORSTBROCK 1985 und 1999.

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skizzieren und die spielmännische Version Eilharts gegen die von ihm favorisierte Thomas-Fassung auszuspielen. 22 Von dieser Auffassung ist es nur ein kleiner Schritt zu der Überlegung, dass allererst die spezielle Aufarbeitung eines Sujets den Stoff mit Sinn bekleidet. Die Kunst qua Kunst macht aus dem rohen Material ein sinnbehaftetes Ganzes, und dies entspricht zu einem großen Teil der von Haug vertretenen Vorstellung einer sich über den spezifischen Aufbau konstituierenden Sinnstruktur fiktionaler Texte. 23 Die vehement geführte Diskussion über das Zutreffen dieser These 24 soll hier nicht wieder aufgenommen werden, zumal ein anderer Aspekt der Positionierung von Thomas m.E. noch deutlicher hervortritt, bisher aber nicht beachtet worden ist. Mehr noch als die Frage nach dem Sinn (denn über einen sensus im Sinne Chrétiens wird an dieser Stelle gar nicht geredet 25 ) scheint Thomas nämlich das Spiel des Textherstellers mit den Spielräumen der Werkproduktion auszuloten. Über Tristran lässt sich in vielfacher Weise sprechen (V. 2115: Il en cuntent diversement), und alle Variationen führen ein berechtigtes Dasein (V. 2155: Tengent le lur e jo le men). Im Vordergrund der Selbstaussage steht dann aber weniger die poetologische Diskussion der Fiktionalität (hier geführt im Spannungsfeld von raisun und verur) als vielmehr eine Diskussion der Gemachtheit von Literatur und ihres poetischen Mehrwerts. Nicht die Poetik des Fingierens scheint das Hauptthema zu sein, sondern eine Poetik der Autoreferentialität, die sich gleichwohl im Raum fiktiver Erzählstoffe allererst optimal entfalten kann, und zwar vor allem dadurch, dass sie sich zur Fiktivität des Erzählten in Beziehung setzt. ,Fiktion‘ und ,Fiktionalität‘ sind damit Voraussetzung und Nährboden dieses Spiels, jedoch immer nur Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Nicht allein auf der Kommentarebene, sondern auch auf der Ebene des Dargestellten macht Thomas dies thematisch. Die von Thomas hochgelobte raisun wird als Maßstab des Handelns von Tristran immer wieder selbst bemüht, bleibt aber 22 V. 131–145: Ich weiz wol, ir ist vil gewesen, / die von Tristande hânt gelesen; / und ist ir doch niht vil gewesen, / die von im rehte haben gelesen. / Tuon aber ich diu gelîche nuo/ und schepfe mîniu wort dar zuo, / daz mir ir iegelîches sage / von disem maere missehage, / so wirbe ich anders, danne ich sol. / ich entuon es niht: sî sprâchen wol / und niwan ûz edelem muote / mir unde der werlt ze guote. / binamen si tâten ez in guot. / und swaz der man in guot getuot, / daz ist ouch guot und wol getân. (Übersetzung KROHN 1995: „Ich weiß wohl, dass es viele gab, die schon von Tristan erzählt haben. Es gab jedoch nicht viele, die richtig von ihm erzählt haben mögen. Wenn ich jetzt aber so täte und meine Worte so setzte, als ob mir ihrer aller Deutung dieser Geschichte missfiele, dann handelte ich anders als ich sollte. Ich tue es nicht. Sie haben gut erzählt, aus durchaus edler Gesinnung, mir und der Welt zum Besten. Sie taten es wahrlich in guter Absicht, und was man in guter Absicht tut, das ist auch gut und gelungen.“) 23 Vgl. HAUG 1971; vgl. auch oben. 24 Kritik von HAUG 1971 und 1985 durch HEINZLE 1990, Kritik der Kritik wiederum durch HAUG 2003. 25 Vgl. Erec et Enide, übers. KASTEN 1979, V. 5: Atorne a san. Das Fehlen des sensus-Motives bei Thomas gerade in dieser Passage fällt umso mehr auf, als sich in Thomas’ raisun-Diskussion durchaus Anklänge an den bei Chrétien formulierten Vernunftgedanken finden lassen, vgl. ebd. V. 10–12: Que reisons est que totes voies / Doit chascuns panser et antandre / A bien dire et a bien aprandre.

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als Verhaltensmaxime im Ergebnis letztlich ambivalent, weil eben der Liebesaffekt nicht nach den Regeln von Vernunft und Verstand funktioniert. Auch in den Fällen, wo Tristran heiklen Situationen mit raisun beizukommen versucht, dominiert die Irrationalität des Liebesempfindens: Es provoziert die Konflikte bzw. geht ihnen ursächlich voran, und zum großen Teil werden die anstehenden Probleme mit vermeintlicher Vernunft gelöst, um eben die Hingabe an den sich der raisun entziehenden amur erneut zu ermöglichen oder sogar pures Begehren (desir) zu rechtfertigen. Deutlich wird die ambivalente Funktionalisierung von raisun, wenn Tristran mit dieser Kategorie einerseits seine Heirat mit Ysolt Weißhand motiviert, 26 andererseits dieselbe Kategorie ihn aber daran hindert, die Ehe zu vollziehen. 27 Die Priorisierung der raisun auf der Erzählerebene läuft damit einer Plausibilisierung der Wirkungsmacht von raisun in der erzählten Handlung zuwider, und diese offenkundige Diskrepanz indiziert ihrerseits die Gemachtheit der Dichtung sowie die besondere Rolle von Kunst. 3. Inszenierung von Kunst(-werk) in der Statuensaal-Episode Thomas nennt, wie gezeigt, veritas und ratio in einem Atemzug. In der Episode vom Statuensaal allerdings führt er vor, wie sich gerade Kunst diesem Postulat entziehen und diesem sogar diametral entgegengestellt sein kann. Die Szene hat eine entsprechend signifikante Vorgeschichte, die in den Fragmenten zwar nicht tradiert wird, in der altnordischen Saga aber breiten Raum einnimmt: 28 Kaherdin informiert seinen Freund und Schwager Tristran über die Grenzen des Reiches und zeigt ihm dabei auch den gefährlichen Grenzfluss, der sein Land von dem Machtbereich eines feindseligen Riesen trennt; ein Friedensabkommen mit dem Giganten hatte Kaherdin zu einem früheren Zeitpunkt nur mühsam aushandeln können. Obwohl Kaherdin Tristran verbietet, die Grenze zu überschreiten, weil ihm das einen schändlichen Tod einbringen würde, macht Tristran sich eines Tages, als er allein ist, auf den Weg, überquert unter Lebensgefahr den gewaltigen Strom, siegt im Zweikampf über den Riesen und sichert sich vertraglich dessen Dienstbereitschaft. Die Konnotationen des fremden Reiches, das Tristran sich aneignet, sind evident: Das Land trägt eindeutig anderweltliche Züge, wenn es von einem Riesen beherrscht wird und der Zugang nur über einen lebensbedrohlichen Fluss möglich ist; damit impliziert die Grenzüberschreitung eine liminale Erfahrung des Protagonisten, 29 die ihn aus dem Alltagsleben mit Ysolt Weißhand und 26 V. 245–248: Pur iço volt femme espuser / Que Isolt nel puisse blamer / Qu’encontre raisun delit quierge, / Que sa proeise nen afierge. 27 V. 647–650: La nature proveir se volt, / La raison se tient a Ysolt. / Le desir qu’ad vers la reïne / Tolt le voleir vers la meschine. 28 Referat bei BONATH 1985, S. 134–143. 29 Die Übersetzung der Saga von KÖLBING 1878 zitiert nach BONATH 1985, S. 136: „er gab dem pferde die sporen und sprengte in den fluss, das wasser aber schlug ihnen sofort beiden über dem kopfe zusammen, und er kam da so schroff auf den grund, dass er nimmer glaubte mit dem leben davon zu kommen“.

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Kaherdin herausführt. Der weitere dieser Episode innewohnende Aspekt ist Heimlichkeit; denn Tristran erschließt sich seine neue Welt nicht nur ohne Kaherdins Wissen, sondern sogar entgegen dessen ausdrücklicher Anweisung. Alle Aktivitäten in dem Riesenreich bleiben dem Freund Kaherdin verborgen. Der erweiterte Aktionsspielraum, der sich dadurch Tristran bietet, eröffnet sich auf gleiche Weise dem Erzähler als optionales Reflexionsforum. Schon auf der Handlungsebene wird die metapoetische Dimension der Sequenz überdeutlich. Zu dem neu erworbenen Land des Giganten gehört ein Wald, an dessen dichtester Stelle sich eine Felsenhöhle befindet. Sie ist nur bei Ebbe zugänglich und wurde von einem afrikanischen Riesen gebaut, dessen Lebensgeschichte mit einer unglücklichen Liebe verbunden ist: Der Riese hatte eine Frau entführt und sie bei dem Versuch der Vergewaltigung unter seinem gigantischen Körper erstickt und zerquetscht. König Artus ahndete den Rechtsbruch, indem er den Riesen in einem erbitterten Zweikampf tötete. Tristran nun eignet sich die Höhle an und lässt sie in kostbarer Weise durch Holzvertäfelungen und Goldauflagen auskleiden. In einer eigens hergerichteten Werkstatt beschäftigt er Künstler, Zimmerleute und Goldschmiede, die ihm Teile von Figuren herstellen, welche er dann mit dem Giganten heimlich zusammensetzt. Mittelpunkt des Ensembles ist eine lebensgroße, prächtig gekleidete und geschmückte Statue der Blonden Ysolt, die aufgrund einer im Inneren der Plastik angebrachten Kräuterbüchse lieblich duftet. Ist der Wunsch Tristrans nach einem Abbild seiner Geliebten unmittelbar plausibel, so irritiert im ersten Moment, dass Tristran zum einen in der Skulptur genau den Moment des Abschiednehmens im Baumgarten festhält und dass er zum anderen auch den bösen Zwerg plastisch nachbilden lässt; die Isolde-Figur steht auf der Brust des Gnoms und hat ihn sich unterworfen. Eine seitlich positionierte kleinere Skulptur Brengveins/Bringvets, die den Liebestrank in den Händen hält, macht dann die umfassendere Bedeutung der Figurenzusammenstellung deutlich. Beginn und Ende der engen Liebesgemeinschaft Tristrans und Ysolts sind in dem Ensemble eingefangen. Die Fokussierung der Trennungssituation exponiert die Unerfüllbarkeit eines lebenslangen Zusammenseins und erneuert Tristrans Trauer. Dabei steht der Zwerg für die Neider an Marques Hof, welche die Liebenden zwar immer wieder überlisten konnten, die aber durch ihre pure Existenz auf die der Tristanliebe stets eingeschriebene Bitterkeit verweisen. Gleiches trifft auf die vom Hauptkunstwerk räumlich etwas abgerückte Figur eines Löwen zu, der die Nachbildung des verleumdnerischen Hofmannes mit seinem Schweif umschließt; auch mit dieser von Tristran aufgestellten Plastik werden unschöne Erinnerungen an die Zeit bei König Marque aufgerufen und durch deren Überwältigung in der spezifischen Skulpturenanordnung gebannt. Wenn schließlich der von Tristran dienstbar gemachte Riese selbst in einer Statue repräsentiert wird und dabei in der Rolle des Beschützers von Ysolt auftritt, besitzt dies einen Verweischarakter auf die äußere Situation: So wie der Riese im artifiziellen Figurenensemble als Verteidiger Ysolts dargestellt ist, fungiert er in der innerliterarischen ,realen‘ Welt als Wachmann für Tristrans geheime Höhle, in der die YsoltStatue platziert ist. Wie sehr die gesamte Episode des Statuensaals eine mise en abyme ist, und zwar nicht allein eine Analogisierung von präsentierter Skulpturkunst und literari-

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schem Geschehen, sondern darüber hinaus eine Selbstreferenz des dargestellten Artefaktes (Plastik) und hergestellten Kunstwerkes (Text) auf die im Erzählvorgang entworfene Poetik, zeigt der Umgang Tristrans mit seinem Skulpturwerk. Schon die Geschichte der Figurenherstellung setzt entsprechende Signale, weil die von Tristran beauftragten Künstler lediglich Einzelteile produzieren, ohne deren Verwendungszweck oder konkreten Platz in der Gesamtkomposition zu kennen. Es ist mithin Tristran, der die Versatzstücke in seinem Sinne kombiniert und damit allererst zu einem Kunstwerk zusammenstellt, das dann eine spezielle, von ihm verantwortete Bedeutung erhält. So wie Tristran seine eigene Perspektive auf die Liebesgeschichte bildkünstlerisch festhält, setzt aber auch Thomas – durch seine Wortkunst – Einzelelemente der histoire neu zusammen, um seinen Tristran-Entwurf vorzulegen. Der Statuensaal Tristrans als artifizieller Gedächtnisraum des Liebenden erhält damit textimmanent eine vergleichbare Funktion wie der Tristranroman als Ganzes für die implizierten Rezipienten. Im Zusammenhang der Epilog-Interpretation wird darauf noch zurück zu kommen sein (s.u.). Durch die Art, in der Tristran seine geheime Figurenhöhle benutzt bzw. in ihr agiert, wird zudem eine weitere Ebene aufgerufen; es kommt zu einer signifikanten Verbindung des memoria-Gedankens mit der Wahrheitsproblematik. Der Beginn der Szene, nämlich wie Tristran die Ysolt-Figur küsst, sie zärtlich umfängt und ihr Liebesworte zuflüstert, vermittelt nur indirekt die Übersetzung der Saga, doch der zweite, für den hier diskutierten Zusammenhang zentrale Teil ist im Turiner Fragment tradiert: 30 E les deliz des granz amors E lor travaus et lor dolors E lor paignes et lor ahans Recorde a l’himage Tristrans. Molt la baise quant est haitez, Corrusce soi, quant est irez, Que par penser ou que par songes, Que par craire en son cuer mençonges, Qu’ele mette lui en obli Ou qu’ele ait acun autre ami (V. 941–950) Und an die Wonnen der großen Liebe und an ihre Mühsal und ihre Schmerzen und an ihre Leiden und ihre Qualen erinnert Tristran das Bildnis. Häufig küsst er es, wenn er glücklich ist. Er wird zornig auf es, wenn er, teils aufgrund von Gedanken oder aufgrund von Träumen, teils, weil er in seinem Herzen Lügen glaubt, erbittert ist [darüber], dass sie ihn der Vergessenheit anheim fallen lassen könnte oder dass sie einen anderen Freund haben könnte […].

Tristrans Verhalten zeigt, dass die Statue Ysolts ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt. Zum einen ist sie Dreh- und Angelpunkt einer Gedächtniskultur, in der Tristran bereits durchlebte Emotionen wieder aufrufen möchte. Schlüsselbegriff ist das ,Erinnern‘ (V. 944: recorde), das ihm eine Gemeinschaft mit der abwesenden Geliebten zu ermöglichen scheint. Die Statue ist in diesem speziellen Aspekt 30 Das verschollene Manuskript stammte aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts, vgl. BONATH 1985, S. 10.

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insofern nur Mittel zum Zweck, als sie die Erinnerung auslöst, die sich dann auch vom Bild weg frei entfalten kann. Symptomatisch für die vorgeführte Qualität der Tristranliebe ist, dass dabei die Liebesfreude (V. 941: deliz) von dem in zahlreiche Facetten aufgefächerten Liebesleid dominiert wird (V. 942: travaus, dolors; V. 943: paignes, ahans). Zum anderen jedoch repräsentiert die Figur von Ysolt die ,echte‘ Ysolt in einer Weise, dass die Grenzen zwischen Person und Abbild zu verschwimmen drohen. Die Statue wird zum Objekt von Tristrans Zärtlichkeiten, wenn er sie küsst (V. 945: Molt la baise), und sie kann sogar Adressatin seiner verbalen Zornausbrüche sein (V. 946: Corrusce soi, quant est irez), also eine Rolle einnehmen, von der die ,echte‘ Ysolt dispensiert ist. Thomas zeigt damit in der erzählten Handlung das plastische Kunstwerk in (s)einer Stellvertreterfunktion – Statue für Person. Darüber hinaus macht Thomas das Artefakt der abgebildeten Person in bestimmter Hinsicht überlegen, wenn nämlich Tristran sich im Ausleben negativ besetzter Affekte der Skulptur gegenüber nicht beherrschen muss. So wie die Figur Ysolts als Repräsentation der Person Ysolt zum Objekt von Tristrans libido wird, kann sie nämlich auch seinen Hass auf sich ziehen und – als Strafe – ignoriert werden. Das figürliche Kunstwerk eröffnet für Tristran einen erweiterten Handlungsrahmen, weil die Illusion einer Anwesenheit Ysolts, welche die Statue ermöglicht, bei gleichzeitigem Wissen um die körperliche Abwesenheit der ,echten‘ Ysolt dem leidenden Liebenden einen Freiraum für Lebensäußerungen bietet, die er im tatsächlichen Umgang mit der Blonden Ysolt vermeiden würde. Allererst und ausschließlich findet sich in der fiktiven Nebenwelt, die Tristran sich in der Felsenhöhle erschaffen hat, das Experimentierfeld, wo die divergierenden Empfindungen eines einsam Liebenden zum Ausdruck gebracht werden können. – Genau dies aber ist Bestandteil des von Thomas implizierten poetologischen Programms: So wie Tristran Schöpfer seiner Scheinwelt des Statuensaals ist, in welcher er der Pseudo-Ysolt all das mitteilen kann, was sein Herz bewegt, erschafft Thomas mit dem Tristranroman eine fiktive Erzählwelt, in der alles sagbar ist, sofern es den selbst aufgestellten Regeln von Wahrscheinlichkeit und Sinnhaftigkeit folgt. Gerade in der Episode von der Skulpturenhöhle als mise en abyme des Gesamtkunstwerks Tristran inszeniert Thomas somit den Text in seiner Gemachtheit. In dieses Gedankenmodell fügen sich die Anspielungen auf das ,NichtWahre‘ nahtlos ein. Werden die zuneigenden und begehrenden Äußerungen Tristrans gegenüber der Ysolt-Statue nicht weiter kommentiert, so begründet der Erzähler explizit die negativen Gefühle. Stärker noch als die üblichen Grübeleien des Verliebten (V. 947: par penser) verantworten Träume (V. 947: par songes) und Trugbilder, die Tristran selbst imaginiert (V. 948: en son cuer mençonges), einen Zorn auf Ysolt. Nicht also vermeintlich Faktisches provoziert das Verhalten, etwa Fehlinformationen durch Boten, doppeldeutig auslegbare Briefe, HörenSagen, das Tristran verstellt zu Ohren kommt, usw., sondern seine eigene Einbildungskraft motiviert ihn zu der Aggression, die er allerdings sogleich bereut: Quant il pense de tel irur, Donc mustre a l’image haiur, Nient ne la volt esgarder, Ne la volt veoir n’emparler:

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Hidonc emparole Brigvain, E dit donc: „Bele, a vos me plain Del change e de la trischerie Qu’envers moi fait Ysolt m’amie.“ Quanqu’il pense a l’image dit; Puis s’en desseüre un petit, Si regarde en la main Ysolt, Qui l’anel d’or doner li volt, Si vait la chere e le senblant Qu’au departir fait son amant; Menbre lui de la covenance Que il ot a la desevrance; Hidonc plure e merci li crie De ce que unc pensa folie, E siet bien qu’il est deceü De la fole irur qu’a eü. (V. 965–984) Wenn er über einen solchen Groll nachdenkt, dann zeigt er dem Bildnis [seinen] Hass. Er will es nicht anschauen, will es weder sehen, noch mit ihm sprechen. Also redet er Brigvain an und sagt: „Schöne, Euch gegenüber beklage ich mich über den Sinneswandel und die Täuschung, die Ysolt, meine Freundin, mir antut!“ Alles, was er denkt, sagt er dem Bildnis; dann wird er deswegen ein wenig unsicher und blickt auf Ysolts Hand, die ihm den Ring aus Gold geben will, und er sieht das Gesicht und die Miene, die sie beim Abschied ihrem Liebsten zeigt. Er erinnert sich an das Versprechen, das er bei der Trennung gab. Daraufhin weint er und fleht sie an um Gnade, deshalb, weil er jemals solche Torheiten dachte, und er weiß wohl, dass er getäuscht worden ist durch den törichten Groll, den er gehabt hat.

Wenn Tristran die Ysolt-Figur ignoriert und seine Vorwürfe nicht direkt an sie, sondern an Brigvain richtet, drückt dies auf der Ebene der erzählten Handlung den Respekt des Liebenden vor der Minneherrin Ysolt aus. Poetologisch betrachtet aber hat das Motiv eine weiterreichende Bedeutung: Indem Thomas die Stellvertreterfunktion der Statue doppelt – mit der Brigvain-Figur ist die Ysolt-Figur, mit der Ysolt-Figur wiederum die ,echte‘ Ysolt gemeint –, spielt er autoreferentiell auf die Abbildhaftigkeit von Kunst an, und zwar eine Abbildhaftigkeit, die in sich selbst eine neue Wahrheit entstehen lässt. Anders formuliert: Die Skulptur der Blonden Ysolt als wirklichkeitstreue Nachahmung der Geliebten erhält in der Wahrnehmung Tristrans einen ‚realen‘ Status: 31 […] und so oft er zu der figur der Isond kam, küsste er sie regelmässig und nahm sie in seine arme und umhalste sie, als ob sie lebte, und flüsterte ihr manches zärtliche wort zu [...].

Für Tristran ist es, als ob sie lebte. Konsequenterweise will er seine Irritationen daher nicht der Ysolt-Skulptur vortragen, denn sie ist für ihn Ysolt. Auf der anderen Seite aber nutzt er den sich mit der Scheinwelt der Felsenhöhle eröffnenden neuen Aktionsspielraum, indem er Brigvain seine Klage vorträgt. Dem Rezipienten aber sind sowohl Stellvertretercharakter der Statuen als auch deren repraesentatio-Funktionen bewusst, so dass ihm die autoreferentielle Dimension der verschachtelten Kommunikationssituation transparent wird. 31 Zitat der entsprechenden Passage der Saga nach BONATH 1985, S. 145, da das Turiner Fragment erst einige Verse später einsetzt (s.o.).

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Mit dem Traumhaften (V. 947: songes) und dem Trugbildhaften (V. 948: mençonges) hat Thomas bereits auf zwei Kategorien angespielt, die in der zeitgenössischen, besonders von Alanus ab Insulis (um 1120–1202) geführten Diskussion über die Bedeutung der vis imaginativa für die poetische inventio eine zentrale Rolle spielen. 32 Am Beginn der erhaltenen Statuenszene sind sie der Beweggrund für Tristrans fehlgeleitete Gefühle und die daraus resultierenden Handlungen. Im Kontext der Brigvain-Passage, in der Tristran seine Haltung gegenüber der Ysolt-Figur revidiert, werden songes und mençonges dann deutlich negativ konnotiert sowie auf ihre problematische Seite hin ausgelegt und festgeschrieben: folie (V. 982), fole (V. 984). Zugrunde liegt wiederum eine doppelte Brechung: Ebenso wie die Statue zwar für Ysolt steht, faktisch aber nicht identisch mit der Person Ysolt ist, weil nämlich Tristran die Skulptur künstlich erschaffen hat, produziert Tristran selbst die Trugbilder, die ihn dann irreleiten. Die Beweggründe seines Hasses entspringen der Imagination 33 und richten sich auf einen Gegenstand (Statue), der seinerseits nur Abbild einer ‚realen‘ Person ist. Mithin agiert Tristran, wenn er sich in der Felsenhöhle befindet, in einer fiktiven Nebenwelt, in der sich seine Vorstellungskraft materialisiert hat, wobei diese fiktive Nebenwelt aber zugleich auch Tristrans ‚reale‘ Außenwelt repräsentiert (s.o.). Zentral dabei ist, dass es sich bei dem Statuensaal eindeutig nicht um eine paradiesische Wunschwelt handelt, denn auch negative Gefühle werden zugelassen, und die Trennungssituation der Liebenden ist sogar plastisch eingefangen. Tristrans Utopie, die er in der Felsenhöhle abbildet, ist keine idealisierende Fantasie, sondern vielmehr die Nachahmung der ‚Realität‘, die Tristran selbst aus äußeren Gründen nicht leben kann, die aber rein theoretisch in den Grenzen des Pseudo-Faktischen lebbar wäre. Im Sinne der von Thomas programmatisch postulierten Plausibilität erhöht dies den Status des Statuensaals als mimetisches Abbild einer möglichen ‚realen Welt‘ und artikuliert damit einen eigenen Wahrheitsanspruch. ‚Real‘ allerdings sind Ysolt und der Rahmen, in dem sie existiert, ohnehin nur in der von Thomas entworfenen fiktiven Erzählwelt. Genau genommen entspringt die Protagonistin Ysolt in ihrer spezifischen Ausgestaltung, also den Aktualisierungen und Aussparungen ihrer stoffgeschichtlich konventionalisierten Figurenzeichnung, der Imagination des diese Figur Entwerfenden. Neben die Parallelisierungsmöglichkeit von Tristrans Statuensaal und Tristranroman des Thomas tritt damit eine Antipodie in der Bewertung des Imaginären: Werden für die Beurteilung von Tristrans songes und mençonges Katogerien der Täuschung (V. 983: il est deceü) und des Wahnsinns (s.o.) reklamiert, speist sich die qua Text imaginierte Erzählwelt des Tristranromans aus einer Imagination, die sich aus raisun rekrutiert (V. 2156: La raisun s’i provera ben!) bzw. diesen hervorbringen soll (V. 2135: par raisun mustrer). In poetologischer Hinsicht wird hier mit zweierlei Maß gemessen, und das Phänomen besitzt ein signifikantes Pendant auf der histoire-

32 Vgl. zu der Position des Alanus ab Insulis die Überlegungen von JAUß 1983 und die grundlegende Abhandlung von HUBER 1988. 33 Zur Kategorie des Imaginären ISER 1976. Vgl. dazu JAUß 1983a.

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Ebene, wenn nämlich die ehebrecherische Liebe Tristrans und Ysolts trotz der gesellschaftlichen Problematik als positiver Wert gewürdigt wird. 34 Die Liebesthematik macht das poetologische Konstrukt, das sich um die mise en abyme-Funktion des Statuensaals rankt, nochmal komplexer: Por iço fist il ceste image Que dire li volt son corage, Son bon penser, sa fole error, Sa paigne, sa joie d’amor, Car ne sot vers cui descovrir Ne son voler, ne son desir. Tristran d’amor si se contient, Sovent s’en vait, sovent revient, Sovent li mostre bel semblant, E sovent lait, com diz devant. Hice li fait faire l’amor, Qui met son corage en error. (V. 985–996) Deshalb machte er dieses Bildnis, weil er ihm sagen will, wie ihm zu Mute ist, seine guten Gedanken, seine törichte Verwirrung, seine Qual, seine Liebesfreude, denn er wusste nicht, wem er sein Wollen und sein Verlangen hätte offenbaren können. – Tristran verhält sich so aus Liebe. Häufig geht er fort, häufig kehrt er zurück, häufig zeigt er ihr freundliche Miene und häufig eine böse, wie ich es zuvor berichtet habe. Dieses lässt ihn die Liebe tun, die seinen Sinn in Verwirrung bringt.

Explizit benennt Thomas den Status der Ysolt-Figur in der Felsenhöhle: image (V. 985) – sie ist das (Ab)Bild, das Tristran sich von seiner Geliebten entworfen hat; Tristran selbst ist der Künstler (V. 985: fist il). In einer psychologisierend anmutenden Erklärung erfährt der Leser im selben Atemzug auch den Beweggrund (V. 985: Por iço) für Tristrans Aktivitäten in der Skulpturkunst. Der Wunsch nach Mitteilung hat ihn motiviert (V. 986: Que dire li volt son corage), mithin fungiert die Skulptur als Ansprechpartner und Ausdrucksraum, weil Tristran eine Kommunikation über die Liebe zur Blonden Ysolt mit den Personen seiner Umgebung, Kaherdin oder Ysolt Weißhand, nicht führen kann (V. 989f.: Car ne sot vers cui descovrir / Ne son voler, ne son desir). Neuerlich wird dem Kunstwerk damit eine Stellvertreterrolle zugesprochen, die sich hier allerdings noch profilierter nicht allein auf die Handlungsebene der Protagonisten beschränkt, sondern auch auf das Verhältnis zwischen Thomas’ Tristranroman und dem von ihm anvisierten Publikum projiziert werden muss (s.u.). Wesentlich in diesem Zusammenhang ist der gemeinsame Fluchtpunkt des textinternen Skulpturartefaktes von Tristran und dem dichterischen Kunstwerk des Thomas: amor (V. 995). Die Liebe bringt Tristran in Verwirrung (V. 995f.: Hice li fait faire l’amor, / Qui met son corage en error), so dass es für ihn existentiell notwendig wird, seine Gefühle gegenüber der Ysolt-Statue zu artikulieren. Der planvollen, der raisun geschuldeten Vorgehensweise beim Ausbau der Felsenhöhle steht die Liebestorheit (V. 996: error) signifikant gegenüber. Es ist – so zumindest nach der hier ganz gradlinigen Argumentation von Thomas – die Irratio34 Vgl. KECK 1998, BAUSCHKE 2007.

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nalität des Liebesempfindens zwischen Euphorie, Zweifel und Hoffnungslosigkeit, welche sich ihr Ventil sucht. Primär diesen Zweck erfüllt das Kunstwerk der Ysolt-Statue. Die Skulptur wird zum Medium von Tristrans amor, und letztlich ist das die Aufgabe, die Thomas auch für sein poetisches Werk beansprucht. 4. Kunst als Medium der Liebe im Spannungsfeld von Fiktion und Poetizität Wie es für erzählende Dichtungen des französischen und – mit einigen Abweichungen – des deutschen Mittelalters üblich ist, schließt Thomas seinen Tristranroman mit einem Epilog, in dem er die Erzählerfigur über die Autorrolle identifiziert und den Namen der historischen Dichterperson in der dritten Person einbringt. Den Überlieferungsverlust des Prologes können die poetologischen Positionen, die Thomas im Schlusswort formuliert, wohl (zumindest zu einem Teil) ausgleichen. Immerhin korrespondiert das am Romanende artikulierte Programm mit der autoreferentiellen Lesart, die sich bereits im Kontext der StatuensaalEpisode ergeben hat: Tumas fine ci sun escrit: A tuz amanz saluz i dit, As pensis e as amerus, As emvius, as desirus, As enveisiez e as purvers, [A tuz cels] ki orunt ces vers. [S]i dit n’ai a tuz lor voleir, [Le] milz ai dit a mun poeir, [E dit ai] tute la verur, [Si cum] jo pramis al primur. E diz e vers i ai retrait: Pur essemple l’ai issi fait E pur l’estorie embelir, Que as amanz deive plaisir, E que par lieus poissent trover Chose u se puissent recorder: Aveir em poissent grant confort, Encuntre change, encontre tort, Encuntre paine, encuntre plur, Encuntre tuiz engins d’amur! (V. 3125–3144) Tumas beendet hier seine Schrift. Allen Liebenden sagt er darin Grüße, den Melancholischen und den zärtlich Verliebten, den Begehrlichen und den Verlangenden, den Genießenden und den Perversen, all denen, die diese Verse hören werden. Wenn ich es nicht allen nach Wunsch erzählte, so habe ich doch nach meinem Vermögen das Beste gesagt, und ich habe die ganze Wahrheit gesagt, so wie ich es am Anfang versprach. Den Stoff der Geschichte wie auch Verse habe ich hier gebracht: um des Beispiels willen habe ich das getan und um die Geschichte zu schmücken, damit sie den Liebenden gefallen soll und damit sie hier und da darin etwas finden können, bei dem sie sich erinnern können: Sie können dadurch großen Trost haben gegen Unbeständigkeit, gegen Unrecht, gegen Leid, gegen Tränen, gegen alle Tücken der Liebe!

Ziel und Zweck der Erzählung ist der grant confort (V. 3141), die Bereitstellung von Trost für alle Liebenden. Die Liebenden sind die implizierten Rezipienten;

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ihnen zu gefallen und durch die Tristrangeschichte das Liebesleid zu lindern, gibt Thomas als eigentliches Anliegen an (V. 3138: as amanz deive plaisir). Dabei wird amur einerseits als Hort primär problematischer Folgeerscheinungen begriffen: change, tort, paine, plur, engins (V. 3142ff.), so dass die an den Liebesaffekt gekoppelten Aspekte mitnichten positiv besetzt sind. Andererseits liefert Thomas mit seinem Trostangebot zugleich einen Ausweg aus der Gefühlssituation, deren übersteigerte Skizze damit im logischen Umkehrschluss sein Werk aufwertet, eben weil es sogar für desolate Fälle confort bietet. Wenn also das Erzählen der vorgelegten Tristrangeschichte als Heilmittel gegen tuiz engins d’amur (V. 3144) dienen kann, steigert dies seine Qualität. Gemeint ist damit jedoch kaum der Stoff allein, sondern vor allem dessen spezifische Aufbereitung durch Thomas, der auf seine gestalterische Kompetenz explizit verweist: E diz e vers i ai retrait (V. 3135). Wiederum ist die autoreferentielle Inszenierung des Erzählvorgangs konstitutiver Bestandteil der im Tristran entfalteten Poetik. Die Leistung, die Thomas vollbringt, besteht laut Selbstaussage im Epilog in der Ermöglichung von Erinnerung: se puissent recorder (V. 3140). Thomas vertritt damit die Position, dass die erzählte Geschichte – oder auch nur Teile von ihr (V. 3139f.: par lieus poissent trover / Chose) – die Imagination des Gewesenen oder dessen, was hätte sein können, bei den Liebenden provozieren soll, wobei offenbar der Nachvollzug qua Vorstellungskraft der Verarbeitung und Bannung des Erlebten bzw. des im Leben Möglichen dient. Die Empathie mit den Liebenden soll also, wird diese Idee weitergedacht, eine Chance zur Steuerung der eigenen Affekte eröffnen. Dennoch steckt im recorder-Motiv weit mehr als ein heimlicher Aufruf zur identifikatorischen Lektüre. Der Gedanke knüpft nämlich wörtlich an die Funktionsbeschreibung der Ysolt-Skulptur im Statuensaal an (V. 944: Recorde a l’himage Tristrans), und bezeichnenderweise tritt dort das Erinnerungsmotiv ebenso wie im Epilog in Verbindung mit den Liebesqualen auf: travaus, dolors, paignes, ahans (V. 942f.). Deutlicher als mit diesen motivlichen Parallelen kann Thomas die mise en abyme-Funktion der Felsenhöhle für sein Erzählprogramm kaum machen. Stellt allerdings Tristran die Ysolt-Statue auch her, um sein Leid immer wieder aufleben zu lassen, so will Thomas mit dem Erzählen seiner Tristrangeschichte eine Art Medizin gegen den Kummer schaffen. Die Imagination des Leides lindert die Qual und heilt den Liebesschmerz. Insofern geht dann Thomas’ Tristran als Gesamtwerk weit über die einzelkünstlerische Leistung von Tristrans Ysolt-Statue hinaus: Erfährt der Protagonist mit der Skulptur sein Liebesleid stets neu und kann es extensiv ausleben, so wohnt dem literarischen Text – zumindest nach dem im Epilog artikulierten Selbstanspruch – eine heilsame und korrigierende Kraft inne. Der Erzählvorgang selbst bleibt seiner eigenen mise en abyme, der Statuensaal-Episode, letztlich doch überlegen. Für diesen poetologischen Entwurf knüpft Thomas an bestimmte Gedanken an, die er bereits in der Breri-Passage (s.o.) ins Spiel gebracht hat. In der Gegenüberstellung von Stoff und Präsentationsmodus, e diz e vers (V. 3135), profiliert er, wie bereits angedeutet, den eigenen Erzählvorgang, und er verbindet diesen wiederum genuin mit seinem Wahrheitspostulat (V. 3133: tute la verur). Den Anspruch, die ,ganze Wahrheit‘ zu berichten, relativieren weder die zugegebene Exemplarität des Vorgetragenen (V. 3136: Pur essemple l’ai issi fait) noch die

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Ausschmückung der Fakten (V. 3137: E pur l’estoire embelir), durch die tendenziell die Gefahr bestehen könnte, den wahren Kern zu verschleiern. Thomas aber geht es gerade nicht um eine integumentum-Lehre, 35 sondern – wie bereits gezeigt – um eine sich im Erzählvorgang selbst allererst entfaltende Wahrheit des Erzählbaren, das den Gesetzen von Plausibilität und logischer Nachvollziehbarkeit folgt. In diesem Sinne ist die von Thomas aufgerufene Kategorie des Imaginären daher kein Freibrief für realitätsferne Fantastereien, sondern er reklamiert die Vorstellungskraft für eine Imagination faktisch verankerter Möglichkeiten. Die ,Erzählbarkeit‘ wiederum ist als solche bezeichnenderweise an die individuellen Kompetenzen des Textherstellers geknüpft: [Le] milz ai dit a mun poeir (V. 3132), so dass Thomas, wenn er im selben Atemzug tute la verur (V. 3333) zu erzählen behauptet, die Wahrheit wie in der Breri-Passage nun auch im Epilog als erzählbare Wahrheit definiert. Beweggrund für diese perfide Konstruktion ist offenbar eine Immunisierung gegen potentielle Kritik für seinen neuartigen Entwurf der Tristranliebe, zumal sich Thomas im Beharren darauf, sein eigenes Versprechen der Wahrheitswiedergabe gehalten zu haben (V. 3133f.: [E dit ai] tute la verur, / [Si cum] jo pramis al primur), am Ende als jemand entlarvt, der wissentlich eigene Akzente setzt. Beteuerungen von Quellentreue und ,Wahrheit‘ sind traditionell Indikatoren für dichterische Sonderwege ohne Absicherung durch eine Vorlage. 36 Aufgefangen wird dieser Widerspruch in der entworfenen Poetik, wo es Thomas eben nicht um den Verbleib bei der Wahrheit stofflicher Tradition geht, sondern um die Verankerung seiner Geschichte in den Gesetzen von Handlungslogik und Plausibilisierung des Figurenverhaltens. – Eine zentrale Rolle spielt dabei in jedem Fall die Schriftlichkeit des Tristran, mit dessen Erwähnung Thomas seinen Epilog beginnt: Tumas fine ci sun escrit (V. 3125). Die Dignität des gewählten Ursprungsmediums suggeriert eine Wahrheit des Erzählten auch dann, wenn die Vermittlung an den Rezipienten mündlich erfolgt (V. 3130: ki orunt ces vers). Auffällig und im ersten Moment irritierend ist das breite Spektrum der Liebenden, die Thomas anspricht. Er redet erst allgemein von allen (V. 3126: tuz amans), um sie dann im Detail aufzufächern: pensis, amerus, emvius, desirus, enveisiez, purvers (V. 3127ff.). Angesprochen sind damit nicht allein die Liebenden, deren eigene Situation Anklänge an die Lage der Ehebrecher Tristran und Ysolt finden würden, sondern Thomas bietet ein ganzes Panorama, das auch Kategorien einschließt, in denen Tristran und Ysolt nicht unbedingt zu verorten sind. Soziale, geschlechtliche oder lebensalterliche Konstellationen werden ausgeblendet, vielmehr geht es um die Bandbreite verschiedener Arten des Liebens und des Liebesempfindens unabhängig von den konkreten Personen: Erotik und Leidenschaft stehen auf einer Ebene mit Zärtlichkeit, Verliebtsein und Melancholie, selbst Genuss und Perversion sind integriert. Sinn macht diese nur scheinbar bunte Reihe dennoch. Vor dem Horizont zahlreicher möglicher Besonderheiten lässt sich die spezielle Art der Tristranminne, wie Thomas sie entwirft, in ihrer Exzep35 Vgl. KNAPP 1980. Siehe auch oben, Abschn. 2. 36 Siehe BLUMENRÖDER 1922.

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tionalität nicht mehr problematisieren oder gar ausgrenzen. Da es offenbar zahlreiche Spielarten gibt, erhält mithin auch die Liebe zwischen Tristran und Ysolt ihre Daseinsberechtigung. Das Charakteristikum dieser Liebe aber sind – im Vergleich mit den anderen von Thomas erwähnten Arten des Liebesempfindens – ihre existentielle Dimension sowie das ihr innewohnende Leid. Nicht der gesellschaftlich bedenkliche Aspekt des Ehebruches wird exponiert, sondern die Tristranminne profiliert sich bei Thomas primär in ihrer Totalität und als Leid-Liebe. Dies ist in der die Verbindung initiierenden lameir-Episode angelegt, 37 wo Liebe und Bitterkeit/Leid als aufeinander bezogen erscheinen; und in der weiteren Geschichte wird die Ambivalenz von Freude und Kummer immer wieder thematisch – signifikant nicht zuletzt in der analysierten Statuensaal-Episode. In der Konzentration und positiven Perspektivierung des Liebe-Leid-Aspektes aber liegt zum großen Teil die Eigenleistung, die Thomas in seinem Tristranroman vollbringt und mit der er sich von der konkurrierenden Stofftradition abgrenzt. Wenn Thomas also sein Erzählprogramm genuin an die besondere Liebesthematik koppelt und sein Werk als emotionales Heilmittel in Liebesdingen stilisiert, schafft er sich einen ganz neuartigen poetischen Freiraum. So wie die Ysolt-Skulptur für Tristran als Medium des Liebesausdruckes fungiert, ist der Thomas-Text insgesamt ein Medium der Liebe, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen scheint es mit Hilfe des Tristran möglich, sich dem Wesen der Liebe logisch anzunähern – hierfür stehen die Plausibilisierungsstrategien und die auf eine vermeintliche ,Wahrheit‘ hin ausgerichteten Faktualisierungstendenzen. Zum anderen geriert sich der Text gerade im Epilog als praktischer Beistand in Liebesdingen, weil durch den Nachvollzug der Geschichte die von Liebesanfechtungen betroffenen Rezipienten confort erfahren können. Damit beschwört Thomas eine in sich geschlossene Rezipientengemeinschaft herauf, 38 deren implizierte Lebenssituation um dasselbe Phänomen kreist wie das Sujet des Tristranromans: amur und paine. Die mediale Funktion des Erzählwerks besteht daher auch in einer Vermittlungsleistung zwischen dem implizierten Adressaten und seiner postulierten inneren Disposition. Auf einer anderen übergeordneten Ebene zeigen sich weitere Parallelen zwischen Textgegenstand und Art der Präsentation. In seiner spezifischen Ausformulierung propagiert Thomas im Tristranroman den Wert der Liebe als solcher; das besondere Empfinden zweier Menschen zueinander kann nicht an vergleichsweise ‚profanen‘ Koordinaten wie gesellschaftlicher Akzeptanz u.ä. gemessen werden. 37 Zur lameir-Episode ZOTZ 2000 und BAUSCHKE 2007. Die Liebe im Tristranroman des Thomas entsteht – wie später bei Gottfried – mit der Einnahme des Minnetrankes, der den sich rationalen Kategorien verschließenden Vorgang des Verliebens symbolisieren soll. Das Paar Tristran und Ysolt als Liebespaar konstituiert sich allerdings erst mit dem gegenseitigen Eingeständnis der Zuneigung, und in dieser Hinsicht markiert die lameir-Episode den Anfang der Liebesbindung. 38 Gottfried (Tristan, übers. KROHN 1995) wird dies mit den edelen herzen, denen er seinen Tristan anempfiehlt, aufnehmen und noch weiter vorantreiben: Ich hân mir eine unmüezekeit / der werlt ze liebe vür geleit / und edelen herzen z’einer hage, / den herzen, den ich herze trage, / der werlde, in die mîn herze siht (V. 45–49).

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Diesen Anspruch nun reklamiert Thomas – wie an Breri-Passage und Epilog gezeigt – ebenso für seine Art des Erzählens. Kunst an sich wird in Geltung gesetzt und als ganz eigene Qualität in den Vordergrund gerückt. Denn es ist die Schönheit von Kunst, sei es die Vollkommenheit von Tristrans Ysolt-Skultpur, 39 sei es die Attraktivität des Erzähltextes, 40 welche die empathische Einlassung des Betrachters bzw. Lesers allererst provoziert: l’estoire embelir, / Que as amanz deive plaisir (V. 3137f.). Dahinter versteckt sich mehr als ein delectare-Plädoyer. Vielmehr ist ‚schön‘ für Thomas nicht erst das Endergebnis, der Tristranroman, sondern bereits der Akt des Erzählens, durch den sich die Berichtsinstanz autoreferentiell konstituiert. Selbst wenn sich ein solches Programm vorzugsweise in fiktionaler Dichtung umsetzen bzw. an dieser entfalten lässt, ist die Fiktionalität nicht wirklich das Thema in den Erzählereinlassungen. Thomas geht letztlich mit seinen zahlreichen Wahrheitsbeteuerungen sogar explizit gegen diese Kategorie an. Sein Impetus zielt weiter: Thomas pointiert die Gemachtheit seines Tristran sowie dessen poetischen Mehrwert, und damit setzt er sich selbst in Szene. Die in ihrer Konstruiertheit dadurch immer transparent bleibende Tristrangeschichte – und zwar als Produkt eines sie verantwortenden Erzählers in der Thomas-Rolle – vermittelt darüber hinaus die Idee einer dem Wesen nach immer positiven Wirkungsmacht von Liebe, die alle noch so vielfältig gearteten Ausdrucks- und Spielformen überspannt. Bleiben die textimmanent betroffenen Figuren Tristran und Ysolt zwar in erster Linie ihrem Leid verhaftet, indem nämlich Episoden wie die vom Statuensaal nur temporäre und ganz partielle Auswege bieten, so kann das dichterische Kunstwerk eine weiterreichende Leistung vollbringen: Die als Liebende angesprochenen implizierten Adressaten gewinnen durch den erzählten Text und den mit diesem vermittelten confort einen neuen Blick auf die Liebe als konstruktive Kraft. Das destruktive Potential, dass sich auf der Ebene der erzählten Handlung im Liebestod der Protagonisten manifestiert, wird überführt und aufgehoben in einer Poetik, welche die positive Wirkung von Dichtung propagiert. Insofern tritt die erzählende Kunst als ihr eigenes Medium autoreferentiell hervor und bleibt – gerade und vor allem als Kunst, die Mögliches fingiert – dem factum überlegen. Je mehr sie sich, den Gesetzen der Plausibilität weiterhin folgend, der Fiktionalität bedient, konstituiert sie ihre eigene ,Wahrheit‘.

39 Übersetzung der Saga: „In der mitte des gewölbes stellten sie eine figur auf, so kunstreich gefertigt in bezug auf gliederbau und gesicht, dass niemand, der sie ansah, anders glauben konnte, als dass in all ihren gliedern leben sei, und so schön und wolgethan, dass man auf der ganzen welt keine schönere figur finden könnte“ (Tristan, übers. BONATH 1985, S. 141). 40 V. 3137: embelir < en-bel-ir.

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‚Favola fui‘ Petrarca und die Gefahren des Fabulösen MARC FÖCKING 1. Petrarca in Aachen, oder: Wie man eine Legende demontiert Als Francesco Petrarca im Sommer 1333 nach Stationen in Paris, Gent und Lüttich auch Aachen besuchte, um den Dom und das Grabmal Karls des Großen zu besichtigen, erzählte ihm – so heißt es in Familiares I, 4 – ein „gewisser Domgeistlicher“ folgende Geschichte: Karl habe in maßloser Leidenschaft zu einem „Weibchen“ seine Regierungspflichten derart verletzt, dass sein bis dahin makelloser Ruf als Herrscher in Gefahr und sein Hof, dessen Ratschläge und Heilungsversuche vergebens waren, völlig verzweifelt war. Karls Leidenschaft ließ zu aller Erstaunen auch nicht nach, als die Frau starb: Er ließ den Leichnam einbalsamieren, fuhr fort, die tote Geliebte Tag und Nacht zu umarmen und verschloss sich noch mehr vor den dringenden Regierungsgeschäften. In dieser verzweifelten Lage bat der Bischof von Köln Gott um ein Wunder, das dann auch nicht ausblieb: Eines Tages, während der Bischof die Messe las, ertönten vom Himmel die Worte, unter der Zunge der Toten sei der Grund für den Wahnsinn Karls versteckt. Kaum hatte der Bischof im Mund der Toten tatsächlich einen Ring mit einem kostbaren Edelstein gefunden, ließ Karl vom Leichnam ab, ließ ihn schleunigst begraben und warf nun seine ganze Zuneigung auf den neuen Besitzer des Rings, den Bischof. Da dieser den magischen Stein verschwinden lassen musste, um sich selbst von Karls unschicklicher Leidenschaft und den Kaiser von der magischen Sklaverei zu befreien, warf er den Ring in ein Gewässer in der Nähe des Ortes, an dem sich der Hof gerade befand: Aachen, das Karl fürderhin zu seiner Residenz erkor und von dessen übel riechendem Wasser seiner Quellen er nicht mehr lassen konnte. 1 Warum Petrarca seinem Dienstherren Giovanni Colonna über seinen Besuch in Aachen kaum mehr als diese überdies in Gegensatz zu „etwas Ernsthaftem“ gebrachte „fabella[m] […] non inamena[m]“ 2 erzählt, ist durchsichtig: Nachdem er den Brief aus der Fremde mit dem Beharren auf der überlegenen Würde des Heimatlandes Italien begonnen hat, kann er nun, ohne sich auf eine aufwändige Demontierung der Meriten des deutschen Kaisers, dem Petrarca den Beinamen „der Große“ und die Ebenbürtigkeit mit Pompeius und Alexander verweigert, einlassen zu müssen, durch die Mitteilung dieser schlüpfrigen, aus Nekrophilie, Homosexualität und Wahnsinn gewobenen Geschichte insinuieren, der deutsche Kaiser Karl 1 2

Vgl. PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 24–27; dt. PETRARCA 2005, S. 25–27. PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 27, 25; dt. PETRARCA 2005, S. 27, 25.

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sei nichts weiter als ein pflichtvergessener und perverser Greis und die Wahl Aachens als Ort der Kaiserkrönung lediglich die Konsequenz dieser ebenso anrüchigen wie historisch falschen Legende gewesen. Da er sie als bloße „fabella“ ohne eigenen Glaubwürdigkeitsanspruch („freilich unter der Bedingung, daß man Glaubwürdigkeit nicht etwa von mir verlangt“) 3 wiedergibt, kann er trotz dieser Polemik auf der Position dessen beharren, der die Reise nach Paris und Aachen als Suche nach dem, „was man als Wahrheit und was man als Fabel betrachten muß“, angetreten hat. 4 Dass Petrarca in diesem Brief die mittelalterliche translatio studii et imperii von Rom nach Paris und Aachen und deren Gründungsmythen ebenso elegant wie effizient als bloße Prätention 5 lächerlich machen kann, liegt also auch daran, dass er die Karlsepisode entgegen ihrem historischen Personal und der ihr im Mittelalter folglich zugesprochenen Historizität 6 als Fiktion ausweist. Aus Familiares I, 4, geschrieben um 1333 und überarbeitet 1350/1351, 7 lassen sich mithin Petrarcas Kriterien für die fabula und damit ex negativo auch für historia ableiten, die sich erwartungsgemäß an die terminologischen Angebote der im Mittelalter am weitesten verbreiteten Rhetorik, der Rhetorica ad Herennium anschließen: Wenn Petrarca die Aachener Karlsgeschichte „fabella“ oder „fabula“ 8 nennt, dann bezieht er sich auf die dort formulierte Trias fabula („quae nec veras neque verisimiles continet res“), argumentum („est ficta res, quae tamen fieri potuit“) und historia („est res gesta, sed ab aetatis nostrae memoria remota“). 9 Dabei hat die fabula für Petrarca offensichtlich keinen eigenständigen Wert eines ästhetisch gerechtfertigten Als-ob, fällt doch die Karlsgeschichte in eine Kategorie mit einer anderen Gründungslegende, die Petrarca zu Beginn des Briefes zu falsifizieren sucht – die der Gründung von Paris durch Julius Caesar: Ita enim solicito stupore suspensus et cuncta circumspiciens, videndi cupidus explorandique vera ne an ficta essent que de illa civitate audieram, non parvum in ea tempus absumpsi, et quotiens operi lux defuit, noctem superaddidi. Demum ambiendo et inhiando, magna ex parte dedicisse videor quis in eadem veritati, quis fabulis locus sit. 10 Indem ich vor Erregung und Spannung ganz außer mir war und mich überall umsah, habe ich im Begehren, zu sehen und zu erforschen, ob wahr oder erfunden sei, was ich über diese Stadt [Paris] vernommen habe, recht viel Zeit aufgewendet. […] Schließlich glaube ich, dank meinem unentwegten lernbegierigen Herumgehen zu einem guten Teil erkannt zu haben, was man als Wahrheit und was man als Fabel betrachten muß. 3 4 5 6

PETRARCA 2005, S. 25, vgl. PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 25. Ebd. Dazu s. STIERLE 2003, S. 272f. Vgl. PARIS 1905, S. 379. Gaston Paris führt mehrere Varianten dieser „amours […] de Charlemagne“ an, die sich aber allesamt nicht in den französischen chansons de geste und Karlsviten finden, sondern lediglich in „divers textes à Aix-la Chapelle où il subsiste encore dans la tradition vivante“ (ebd. S. 383). Zum Historizitätsbonus des Karlsstoffes im Mittelalter siehe KNAPP 1997, S. 27f. 7 Zur Datierung s. WILKINS 1960, S. 49. 8 PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 25; dt. PETRARCA 2005, S. 25f. 9 Rhétorique à Herennius, hg. ACHARD 1989, S. 12 (1, 8, 13). 10 PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 25; dt. PETRARCA 2005, S. 25.

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„Fabula“ steht hier in Opposition zu „veritas“, das der „fabula“ korrelierte Adjektiv ist im Zitat „fictus“, so dass „fabula“/„fictus“ in die Nähe der Lüge gerückt wird. Das sagt Petrarca explizit in De Remediis II, 6, wo er die Historizität König Artus’ bezweifelt und den entsprechenden Quellen vorwirft, „historiis miscere fabulas, nihil aliud quam mendacio veri fidem iminuere“, 11 was nicht nur die Trennung von „fabula“ und „historia“ fordert, sondern auch Petrarcas Geringschätzung der „fabula“ selbst als „mendax“, 12 als gefährlich oder zumindest wertlos unterstreicht. In diese Richtung geht auch Petrarcas Abqualifizierung der Artusliteratur in den Trionfi: Ecco quei che le carte empion di sogni: Lancilotto, Tristano, e gli altri erranti, ove conven che ‛l vulgo errante agogni. 13

Lanzelot und Tristan sind nichts als zu Papier gebrachte Ausgeburten von „Erträumtem“, also – volkssprachliche – Worte ohne Realitätsreferenz – mit anderen Worten „fola di romanzi“, die Petrarca in Triumphus Cupidinis IV, 66 unmittelbar an den „sogno d’infermi“ 14 bindet und die allein für das Unterhaltungsbedürfnis des einfachen, des Lateinischen nicht mächtigen Volkes bestimmt sind. Bei Petrarca findet sich so keine Spur der hohen Achtung, die die matière de Bretagne des roman courtois bei Dante erfährt, 15 und auch keinerlei Rückgriff auf die mittelalterlichen integumentum-Verfahren, unter der Oberfläche ihres Litteralsinnes eine tiefere, moralische veritas aufzusuchen. 16 In dieser Abqualifizierung der allein der „carte“ zughörigen fabula zugunsten der historia scheint Petrarca ganz auf der von Isidor von Sevilla ausgehenden Linie einer absteigenden Hierarchie von historia, argumentum und fabula zu liegen, die sich im Mittelalter vor allem metaphysisch rechtfertigte: Da Gott als Lenker der Geschichte der Autor der res gesta ist, geht auf die menschlichen Versuche der Geschichtsschreibung – so unvollkommen sie auch sind – die beglaubigende Wirkung des göttlichen Wirkens in den res gesta über. Dass dieser moralisch akzentuierte Wahrheitsbegriff der historia Lizenzräume des Fingierens eröffnete, war das ganze Mittelalter hindurch gängige Praxis.17 Fabulae ohne Basis fakti-

11 PETRARCA 1554/1965, S. 131. 12 In Epystole I, 5 spricht Petrarca von der „fabula mendax“ der Artusgeschichte, PETRARCA 1829–34, S. 72–75. 13 PETRARCA 1996a, S. 148 (Trionfi, TC III, 79–81). 14 Ebd. S. 198. 15 Dazu s. etwa STIERLE 2007, S. 305–333. 16 Vgl. hierzu und zu Dantes Rückgriff auf diese Technik PICONE 1982, S. 4f. 17 Vgl. dazu etwa KNAPP 1997 und die Beiträge in KNAPP/NIESNER (Hgg.) 2002, besonders JOHANNEK 2002 und VOLLMANN 2002. Fundamental hierzu auch der hochdifferenzierte Beitrag von MÜLLER 2004.

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scher res hingegen sind bloße Worte („tantum loquendo fictae“) 18 des von der Erbsünde belasteten und verwirrten Menschen. 19 Petrarca aber legitimiert die historia (bzw. delegitimiert die fabula) anders, und zwar nicht-metaphysisch: Karl und die Geschichte seiner mysteriösen Liebe ist für ihn nicht deshalb schon „historisch“, weil der Kaiser eine prominente Figur der res gesta ist, für deren reibungsloses Funktionieren im göttlichen Heilsplan Gott selbst durch sein wunderbares Eingreifen sorgt – was der Geschichte in mittelalterlichem Verständnis Glaubwürdigkeit sichern kann. Petrarca hingegen bindet die Glaubwürdigkeit an autoritative Überlieferung und nachprüfende Erfahrung. In Familiares XXIV, 1 formuliert Petrarca das so: „doctis viris […] et michi et experientiam fidem do“. 20 Er macht damit am Ende der Familiares noch einmal explizit, was er im vierten Brief des ersten Buches als Movens und Instrumentarium seiner Suche nach der Historizität der Gründungsmythen von Paris und Aachen beschreibt, nämlich zum einen „zu sehen und zu erforschen, ob wahr oder erfunden sei, was ich über diese Stadt [Paris] vernommen hatte“21 – also die experientia. Und zum anderen die Kontrolle des Erforschten durch Vergleich mit Schriftquellen. Wenn Petrarca auch nicht schreibt, warum der Mythos der Gründung Paris’ durch Caesar seiner experientia nicht standgehalten hat, so wird doch recht deutlich, warum er der Karls-Erzählung keinen Glauben schenken wollte: Nicht „doctis viris“ konnte er hier vertrauen, er war vielmehr auf einen eher abschätzig als „quibusdam templi sacerdotis“ bezeichneten anonymen Domgeistlichen angewiesen, dessen Erzählung Petrarca dann später in einer – nichts beweisenden schriftlichen Fassung („scriptam“) gesehen und dann später „bei modernen Schriftstellern“ („apud modernos scriptores“) davon noch eine genauere Fassung gelesen haben will. 22 Da Gaston Paris diese Legende nur in einigen lokalen Aachener Kompilationen und abgelegeneren mittelhochdeutschen Karlsepen, aber in keinem der französischen chansons oder lateinischen Chroniken, die Petrarca hätte lesen können, nachweist, 23 fragt man sich, welche „modernen Schriftsteller“ Petrarca hier gemeint haben kann. Vermutlich aber erwähnt er diese nur, um die Glaubwürdigkeit der Erzählung zu dementieren. „Moderno“ impliziert im Canzoniere 40, 7 („un mio lavor sì doppio / tra lo stil de’ moderni e ‛l sermon prisco“) den Modus allegorisch-enzyklopädischen Dichtens, der für Petrarca die zeitgenössische „produ18 So ISIDOR VON SEVILLA 1911, 1, 40, 1. 19 Dazu s. KNAPP 1997, S. 23. Zur Hierarchie von historicus und poeta im Mittelalter s. besonders VON MOOS 1976. 20 PETRARCA 1999, S. 29 („daß ich damals, wie erwähnt, den Gelehrten, jetzt ihnen und mir und der Erfahrung Glauben schenke“). Vgl. PETRARCA 1999a, S. 190: „Que quidem vel magna ex parte falsa sunt […] vel certe ipsis auctoribus incomperta, sed propter absentiam vel credita promptius vel ficta licentius“. „Fictus“ steht hier wieder für „lügenhafte Erfindung“, die angesichts von Anschauung und experientia in sich zusammenfällt. 21 PETRARCA 2005, S. 25; lat. PETRARCA 1955, Bd. I, S. 25. 22 PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 25.; dt. PETRARCA 2005, S. 25. 23 Vgl. PARIS 1905, S. 383.

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zione epico-romanzesca“ kennzeichnet. 24 Und da er im Triumphus Cupidinis II, 154f. („ove raffigurai alcun de’ moderni / ch’a nominar perduta opra sarebbe“) sogar eine Abwertung des Zeitgenössischen andeutet, 25 scheint Petrarca die „modernen“ Autoren den vertrauenswürdigen „doctis viris“ der Antike (oder die sich mit dieser beschäftigen) unterzuordnen und ihnen ein bestimmtes, auf die zeitgenössischen romanzi und die allegorisch-enzyklopädische Dichtung zugeschnittenes Betätigungsfeld zuzuweisen. Mit anderen Worten: Die „modernes scriptores“ sind für Petrarca für chronisch fabulöse Texte wie die der matière de Bretagne und des Roman de la rose 26 verantwortlich, so dass mit „modernus“ eine implizite Minderung der Glaubwürdigkeit verbunden ist und ein Hinweis darauf, dass Petrarca die Ingredienzien der Erzählung als typische Gattungsmotive der matière de Bretagne erkannt hat. Tatsächlich sind Zauberringe übliche Elemente der arturianischen Literatur, Chrétien de Troyes etwa stattet Yvain mit einem unsichtbar machenden, Lancelot mit einem Ring gegen Verzauberung aus, wie man ihm später u.a. an der Hand Ruggieros auf der Zauberinsel Alcinas in Ariosts Orlando furioso wiederbegegnen wird (VII, 65). Für den Ring unter der Zunge der toten Buhlschaft Karls ist am einschlägigsten der französische Tristan en prose aus dem frühen 13. Jahrhundert und seine italienische Version, der Tristano riccardiano von der Wende zum 14. Jahrhundert: Hier erzählt König Artus, wie ihn eine Hexe durch einen Ring so verzauberte, dass er alle Pflichten, seine Frau, seine Ritter vergaß: Ed ella sì mi prese per la mana e menomi inn-una sala molto bella e quivi sì mi fece disarmare ed appresso sì mi vestío di molto begli drappi e donami uno anello molto bello ed avenante e io il mi misi in dito. E quando il m’ebi messo in dito, incontamente fui sì forte incantato ch’io no mi ricordava de la reina Ginevra né de lo mio reame né di uno cavaliere, se nnoe di quella ch’io vedeva davanti a mee; e in tutto avea obriato altro pensiero. 27

Für Petrarcas text- und gattungsphilologisches Gespür muss also die Kontamination der historischen Karls-Figur mit diesen Motiven der arturianischen Literatur, leicht erkennbar am Märchenmotiv des Zauberrings und am gattungstypischen Verligen des Protagonisten, die in Aachen erzählte Geschichte als unzulässige Mischung aus historia und fabula desavouieren. Folge dieser Unglaubwürdigkeit ist, dass Petrarca sie als „nichts Ernsthaftes“ („seriis non valens“) abtun kann – und damit den Kaiser seines prätendierten Beinamens „der Große“ und die Kaiserstadt Aachen ihres Gründungsmythos’ beraubt. 28 24 So der Kommentar zu Canz. 40, 7 von M. Santagata in PETRARCA 1996, S. 222. 25 S. Kommentar zu TC II, 155f. in PETRARCA 1996a, S. 124. 26 PETRARCA 1996a, S. 148. (Trionfi, TC III, 79–81), gegen den Roman de la rose s. Epystolae III, 30, 6 („scilicet hic vulgo recitat suo somnium Gallus“), PETRARCA 1829–34, III, 30, 6. Zu Petrarcas Verdikten siehe den Kommentar in PETRARCA 1996a, S. 149–151. 27 Il romanzo di Tristano, hg. SCOLARI 1990, cap. 199. 28 PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 25; dt. PETRARCA 2005, S. 25. Unabhängig von der Relevanz für Petrarcas Verständnis von „fabula“ ist die von ihm berichtete Karls-Geschichte auch ein zur Lokallegende geronnener Reflex einer mindestens im frühen 14. Jahrhundert vollzogenen Vermischung von Karlsgeste und Elementen der matière de Bretagne, die sich nicht nur in thematischen Randbereichen, sondern im Kern der Vita Karls des Großen niedergeschlagen hat. Wenn in Petrarcas Brief Karl als verweichlichter Liebhaber, der seinen Ruf als keuscher

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2. Die Gefahren des Fabulösen Der Nachweis des Fabulösen hat natürlich nicht nur die strategische Funktion, missliebige Wahrheitsansprüche mittelalterlicher Traditionen zu zerstören. Er kann zwangsläufig auch auf zeitgenössische Texte des humanistischen Umfeldes Petrarcas zurückfallen. Dass auch hier Petrarca mit dem Vorwurf des Fabulösen nicht spart, zeigen seine berühmte Bearbeitung von Boccaccios Griselda-Novelle (Decameron X, 10) und der kommentierende Brief an den Freund, die den Abschluss der Seniles bilden (XVII, 3f.). Dass er nicht einfach „Historiam tuam meis verbis explicui“, 29 sondern eine tief greifende ré-écriture der Novelle unternimmt, liegt wiederum an ihrem für Petrarca zu durchsichtigen Status als fabula. Im der Übersetzung folgenden Brief an Boccaccio schreibt Petrarca, er habe den ursprünglichen Text zwei gemeinsamen Freunden zu lesen gegeben. Der erste, ein Paduaner, sei bereits nach der Hälfte in Tränen ausgebrochen. Der zweite aus Verona habe die Geschichte ohne jede Regung der Stimme bis zum Ende verlesen und gesagt: Ego etiam [...] flessem [...], nisi quod ficta omnia credidi et credo. Nam, si vera essent, que usquam mulier vel Romana vel cuiuslibet gentis hanc Griseldim equatura sit? Ubi, queso, tantum amor coniugalis? Ubi par fides? Ubi tam insignis patientia atque constantia? Ich hätte auch geweint, wenn ich nicht gewußt hätte, daß es sich um reine Fiktion handelt. Denn wenn sie wahr wäre, welche Frau, wäre sie Römerin oder aus irgendeinem beliebigen anderen Volk, hätte jemals Griselda gleichtun können? Wo würde man eine solche eheliche Liebe finden? Eine solche Treue? Eine solche edle Geduld und Standhaftigkeit. 30

Gleichgültig, ob Petrarca dieses rezeptionsästhetische Experiment tatsächlich unternommen hat – wichtig ist hier, dass er entgegen Boccaccios nonchalanter Indifferenz gegenüber dem Wirklichkeits-Status in den „cento novelle, o favole o parabole o istorie“ 31 Klarheit verlangt und in der Griselda-Novelle eben weder eine „istoria“, noch eine „parabola“, sondern allein eine (wirkungslose) „favola“ sehen kann. Anders als in der Karls-Geschichte in Familiares I, 4 greift das Fabulöse hier nicht die res gesta des historischen Personals an. Nicht Historizität fordert der Veroneser, um über den erzählten Fall weinen zu können, sondern Wahrscheinlichkeit. Eben weil die extreme, ungerührte und unrührbare Duldsamkeit Griseldas für Petrarca in der reinen Singularität verbleibt, aus allem in Geschichtsschreibung („mulier vel romana“) gespeicherten und durch Erfahrung („vel cuiuslibet gentis“) nachprüfbaren Wissen über das Mögliche menschlichen Verhaltens herausfällt, und pflichtbewusster Herrscher demontiert („blanditiis enervatum, neglecta fama, cui plurimum inservire consueverat, et posthabiti regni curis“, ebd. S. 25f.), beschrieben wird, dann kommen hier eben die Komödienelemente zum Tragen, die HARTUNG 1991 im Innamoramento di Carlo Magno (1481) nachgewiesen hat, um die gängige These einer erst durch Boiardo vorgenommenen Fusion der divergierenden Epentraditionen zu korrigieren. Texte wie der Innamoramento di Carlo Magno konnten sich also auf noch sehr viel ältere (mündliche wie schriftliche) Traditionen einer Denigration Karls stützen. 29 Petrarcas Brief wird zitiert nach ROSSI (Hg.) 1991, S. 76. 30 Ebd. S. 78. 31 BOCCACCIO 1974, S. 3.

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muss sie „ficta“ sein. Ihr mangelt, mit anderen Worten, eben die Eigenschaft des argumentum, das eine „ficta res“ auf der Basis der Erfahrung als wahrscheinlich gestaltet. Da sie so außerhalb jeden Vergleichs mit dem der Erfahrung zugänglichen Handeln liegt, kann sie auch keinen Wert für eine moralische Orientierung des Lesers haben – was die Ungerührtheit des Veroneser Lesers zeigt. Zum exemplum, zur von Petrarca in ihrer Wichtigkeit immer wieder hervorgekehrten Lebensgeschichte mit individueller Orientierungsfunktion, 32 kann Boccaccios Griselda-Novelle so für ihn nicht werden. Wäre sie aber experientia-konform – und eben darauf zielt Petrarcas ré-écriture 33 – dann könnte sie trotz ihrer Fingiertheit zu einem Instrument werden, das, wie Cicero in den Tusculanae disputationes schreibt, der „ratio veri reperiendi“ dient: Duplex est igitur ratio veri reperiendi non in is solum, quae mala, sed in is etiam, quae bona videntur. Nam aut ipsius rei natura qualis et quanta sit, quaerimus [...] aut a disputandi subtilitate orationem ad exempla traducimus. Hic Socrates commemoratur, hic Diogenes, hic Caecilianum [...]. Huic igitur alteri generi similis est ea ratio consolandi, quae docet humana esse quae acciderint. Doppelt ist darum die Weise, die Wahrheit zu finden, nicht nur bei dem, was schlecht, sondern auch bei dem, was gut scheint; denn entweder fragen wir, wie das Wesen der Sache selbst ist und von welcher Bedeutung [...], oder wir lenken die Rede von scharfsichtiger Erörterung hinüber zu Vorbildern. Da wird Sokrates erwähnt, da Diogenes, da das Wort des Caecilius. […] Dieser anderen Art nun ähnlich ist das Verfahren des Trostes, das lehrt, menschlich sei, was einem begegnet ist. 34

Die Möglichkeit der Umformung von Boccaccios Griselda in eine exemplumfähige lateinische Griseldis bedeutet, dass sich für Petrarca die „Wahrheit“ eines Textes nicht durch empirisch nachweisbare Referenten konstituiert, sondern durch ihre Funktion für die Wahrheitssuche durch den Rezipienten – die Suche nach einer Wahrheit, die nicht die eines abstrakten An-sich ist, wie sie Petrarca der zeitgenössischen Scholastik vorwirft, 35 sondern die lebenspraktischer und moralphilosophischer Richtigkeit in einer Welt der varietas. 36 Die res ficta eines exemplarischen argumentum haben einen ebenso zirkulären wie metonymischen Charakter, insofern sie auf horizontale Vergleichbarkeit und Ähnlichkeit mit Verhältnissen in der außertextlichen Welt angewiesen sind, durch diese Vergleichbarkeit aber auch wieder pragmatisch für das Handeln in dieser Welt orientierende Funktion übernehmen sollen. Zwischen einem von der historia als magistra vitae bereitgestellten exemplum und einem exemplarischen argumentum besteht also kein kategorieller Unterschied, was Petrarca auch dadurch deutlich macht, dass er die Figuren antiker exempla-Sammlungen wie der Facta et dicta memorabilia des Valerius 32 Vgl. hierzu BREMOND/LE GOFF/SCHMITT (Hgg.) 1982, S. 37f.; zum sich von mittelalterlicher exempla-Funktion unterscheidenden Status des exemplum bei Petrarca vgl. FÖCKING 2002, S. 106f.; zu Petrarcas Secretum vgl. auch STIERLE 2003, S. 182–184. 33 Vgl. OLSEN 1988, S. 21–34; MARTELLOTTI 1983, S. 178–206; ROSSI (Hg.) 1991, S. 9–21, und FÖCKING/JOHNSTON 2002, S. 28–37. 34 CICERO 1984, S. 244f. (III, 23, 56). 35 Dazu s. etwa PETRARCA 1992, S. 124 und den Kommentar von Fenzi, ebd. S. 304. 36 Zur „Entdeckung der Vielheit“ s. STIERLE 2003, S. 156ff.

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Maximus in Seniles XVII, 4 in unmittelbaren Zusammenhang zu Griseldis bringt. 37 In dieser Umformung der Trias historia/argumentum/fabula zur weitgehenden Amalgamierung von historia und argumentum konnte sich Petrarca bestätigt sehen durch eine Glosse des Servius in seinem geliebten Vergil-Codex, die lautet: Et sciendum est, inter fabulam et argumentum, hoc est historiam, hoc interesse, quid est fabula est dicta res contra naturam, sive facta sive non facta, ut de Pasiphae, historia est quicquid secundum naturam dicitur, sive factum, sive non factum, ut de Phaedra. Man muss wissen, dass zwischen fabula und argumentum (das ist die historia), der Unterschied besteht, dass die fabula eine gesagte Sache gegen die Wahrscheinlichkeit [„natura“] ist, ob geschehen oder nicht geschehen, so etwa Pasiphae; historia aber das ist, was gemäß der Wahrscheinlichkeit gesagt wird, ob geschehen oder nicht geschehen, so wie Phaedra. 38

Und da so nicht mehr die Alternative „factum“ oder „non factum“ die Differenz von historia und fabula bestimmt, muss diese Differenzierung durch Textverfahren geleistet werden, wie sie etwa die rhetorische exemplum-Lehre der HerenniusRhetorik bereitstellt 39 und wie sie Petrarca in seiner lateinischen Fassung der Griseldis einsetzt. 40 3. Laurea manufacta? Wenn Petrarca mit der Kritik an der Karls-Legende zu Beginn und der ré-écriture der Griselda-Novelle zum Ende seiner schriftstellerischen Karriere ein konstantes Verdikt gegen das Fabulöse formuliert, dann kann ihm der Vorwurf, in seinen Gedichten selbst nur „ficta carmina, simulata suspiria“ und vor allem eine „Laurea […] manufacta“ zu bieten, nicht gleichgültig bleiben. Um eben diesen Vorwurf kreist der berühmte Brief an Giacomo Colonna (Familiares II, 9), datiert auf den 21.12.1336 (aber mit größter Wahrscheinlichkeit später geschrieben oder überarbeitet), in dem Petrarca auf die scherzhaften Vorhaltungen des Bischofs anwortet: Quid ergo ais? Finxisse me michi speciosum Lauree nomen, ut esset et de qua ego loquerer et propter quam de multi loquerentur; re autem vera in animo meo Lauream nichil esse, nisi illam forte poeticam, ad quam aspirare me longum et indefessum studium testatur; de hac autem spirante Laurea, cuius forma captus videor, manufacta esse omnia, ficta carmina, simulata suspiria. In hoc uno vere utinam iocareris; simulatio esset utinam et non furor! Sed, crede michi, nemo sine magno labore diu simulat. Was also sagst Du? Erdichtet hätte ich für mich den wohlklingenden Namen Laura, um etwas zu haben, worüber ich selber zu reden hätte und deswegen die Menge von mir reden würde; in Wahrheit jedoch sei diese Laura meines Herzens ein Nichts, ausser sie meine vielleicht 37 Vgl. ROSSI (Hg.) 1984, S. 204. Zur Dominanz von Exemplarität in der Ars historica des Humanismus siehe insgesamt KESSLER 1978 und KELLEY 1988. — Dass die „Dominanz der Funktion von Literatur […] die Frage nach Fiktion oder faktischer Wahrheit obsolet werden läßt“, streicht für Petrarca auch PENZENSTADLER 2006, S. 145, heraus. 38 SERVIUS 1881–1902, Aen., 1, 2, 35 [Übers. M.F.]. 39 Vgl. Rhétorique à Herennius, hg. ACHARD 1989, S. 127ff. 40 Vgl. MARTELLOTTI 1984, S. 188–195f.; FÖCKING/JOHNSTON 2002, S. 35–37.

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jenen Dichterlorbeer, nach dem ich lechze, wie eine andauernde, unermüdliche Gier es bezeuge. Und nur dieses fächelnden Lorbeers wegen, durch dessen Schönheit ich wie gebannt dastünde, sei all das andere zurechtgemacht, seien die Lieder erdichtet, die Seufzer erheuchelt. Oh wenn Deine Rede wenigstens in diesem Punkt wahrhaftig ein Scherz wäre! Dass sie wirklich Verstellung beträfe und nicht Tollheit! Doch glaube mir, niemand kann sich ohne grosse Mühe auf Dauer verstellen. 41

Ob dieser Brief (und der briefliche Vorwurf Colonnas) eine „geistreiche nachträgliche Fiktion ist, in der Petrarca unter dem Vorzeichen einer Lizenz zum Scherz mit dem Vorwurf der Fiktion spielt“, 42 oder nicht, entscheidend ist das Problem, das Petrarca hier formuliert – oder genau genommen, dass er in der Vermutung Giovanni Colonnas, unter den „ficta carmina, simulata suspiria“ verberge sich nichts weiter als die „Lauream […] poeticam, ad quam aspirare me longum et indefessum studium testatur“, 43 ein Problem sieht. Denn dass Dichtung eben in diesem Sinne „sub velamine figmentorum“ Fragen der „physica, nunc moralia, nunc historias“ 44 behandelt, ist Dreh- und Angelpunkt der eigenen Argumentation in der Collatio Laureationis: Dichter, Philosophen und Historiker verbinde die eine „quesita veritas“, der Dichter biete diese lediglich auf andere Weise, durch einen nicht auf Faktizität, Historizität und Wahrheit Anspruch erhebenden Litteralsinn einer metaphorischen fictio, der durch Deutung auf den verbildlichten, tieferen, wahren Sinn durchsichtig gemacht werden kann und muss. 45 Was Petrarca in seiner Rede zur Dichterkrönung 1341 formuliert, haben die Zeitgenossen in den 1330er und 1340er Jahren offensichtlich auch als bevorzugte Deutungsmöglichkeit für seine volkssprachliche Liebeslyrik angesetzt. 46 Dafür spricht nicht nur Colonnas (wirkliche oder fingierte) Lektüre der Laura-Dichtung, sondern auch Boccaccios Entlastung Petrarcas vom Vorwurf der „libidine“ durch Allegorisierung in De vita et moribus Domini Francisci Petracchi (1341/42, rev. 1347/48): Et quamvis in suis quampluribus vulgaribus poematibus, in quibus perlucide decantavit, se Laurettam quandam ardentissime demonstrarit amasse, non obstat nam prout ipsemet bene puto, Laurettam illam allegorice pro laurea corona quam postmodem est adeptus, accipiendam existimo. E per quanto nelle sue numerose poesie volgari, nelle quali cantò splendidamente, abbia fatto mostra di amare con grande ardore una certa Lauretta, ciò non fa difficoltà, a mio parere, per-

41 PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 94f.; dt. PETRARCA 2005, S. 102f. 42 STIERLE 2003, S. 508. — Anders PENZENSTADLER 2006, S.142–148, der den Brief unter der Maßgabe des exemplum liest und auf dieser Basis das Problem Fiktion vs. faktische Wahrheit depotenzieren kann. 43 PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 94. 44 PETRARCA 1975, Bd. I, S. 1270. 45 Hierzu und zu den Differenzen zu Integumentum-Techniken des Mittelalters vgl. KÜPPER 2007, S. 63f. Zur die Fortführung einer die traditionelle theologische Poetik betonenden Sicht auf Petrarca und Boccaccio vgl. BUCK 1952, S. 76–82. 46 Vgl. SANTAGATA 1992, S. 94.

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Würde Petrarca diese Auffassung einer allegorischen Tiefe unter einer Schicht aus Oberflächenfiktion für seine volkssprachliche Lyrik teilen, dann hätte er sich gegen den Verdacht der fictio im Brief an Giovanni Colonna nicht zu wehren brauchen – wie scherzhaft auch immer. 48 Allerdings ist auch Petrarcas Abwehr des fictio-Verdachts höchst evasiv, denn er sagt ja gerade nicht, dass es „Laura“ als empirische Person tatsächlich gegeben habe, sondern lediglich, dass doch die körperlichen Symptome seines Leidens unverkennbar seien und mit Cicero („Dies vulnerat, dies medetur“) der heilenden Kraft der Zeit anvertraut werden.49 Diese Rück- und Einbindung des eigenen Schicksals in eine gnomische Lebensweisheit verlässt den Kontext des metaphorischen Fiktionsverständnisses allegorischer Dichtung und eröffnet den des exemplum, und zwar auch intertextuell: Petrarca hat das „Dies vulnerat, dies medetur“ nämlich (ungenau) aus eben der Stelle der Tusculanae disputationes zitiert, die von der Macht und Wirkung der exempla für die Bewältigung des Schmerzes handelt: Luctus aliorum exemplis leniuntur. […] hi enim omnes diu cogitantes de rebus humanis intellegebant eas nequaquam pro opinione volgi esse extimescendas. et mihi quidem videtur idem fere accidere is qui ante meditantur, quod is quibus medetur dies, nisi quod ratio quaedam sanat illos, hos ipsa natura intellecto eo quod rem continet, illud malum, quod opinatum sit esse maxumum, nequaquam esse tantum, ut vitam beatam possit evertere. Die Trauer derjenigen, die es zu schwer nehmen, wird durch Beispiele gelindert. […] Sie alle nämlich haben lange über die menschlichen Dinge nachgedacht und erkannten, daß sie keineswegs der Vorstellung des großen Haufens entsprechend gefürchtet werden müßten. Und mir scheint denen, die vorher nachdenken, fast dasselbe zu begegnen wie denen, welche die Zeit heilt, außer daß erstere eine bestimmte Überlegung gesund macht, die letzteren die Natur selbst, dadurch nämlich, daß man das einsieht, worauf alles ankommt: jenes Übel, was man sich als das größte vorstellt, ist keineswegs so groß, daß es ein glückliches Leben zerstören könnte. 50

Bei Cicero ist die heilende Kraft der Zeit, auf die Petrarca in Familiares I, 9 abhebt, nur eine Alternative der Verarbeitung schmerzlicher Erfahrungen, die andere, rationale („quod ratio quedam sanat illos“) und folglich höher stehende ist die des reflektierenden Rekurses auf exempla als Speicher vergangener Erfahrung. Wenn Petrarca in seinem auf 1336 datierten Brief intertextuell dieses ciceronianische Verständnis des exemplum aufruft und mit seiner eigenen Liebesdich47 BOCCACCIO 1928, S. 243. Petrarca legt diese Auffassung auch „Augustinus“ im Secretum in den Mund: „Quam ob causam tanto opere sive cesaream sive poeticam lauream, quod illa hoc nomine vocaretur, adamasti; ex eoque tempore sine lauri mentione vix ullum tibi carmen affluxit“ („Tu hai tanto amato la laurea sia militare che poetica, solo perché lei si chiamava così. E da allora non ti è uscito quasi nessun verso in cui non si nominasse l’alloro“), PETRARCA 1992, S. 226f. (Secretum III, 158). 48 STIERLE 2003, S. 506f., liest diesen Brief hingegen als mystifizierende Bestätigung einer durchgängigen Laur(e)a-Allegorie. 49 PETRARCA 1955ff. Bd. I, S. 95. 50 CICERO 1984, S. 246f. Auf diese Tusculanae-Stelle verweisen die Kommentare in PETRARCA 1955ff., Bd. I, S. 95, und PETRARCA 2005, S. 105.

‚Favola fui‘. Petrarca und die Gefahren des Fabulösen

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tung in Zusammenhang bringt, dann setzt er sich von der allegorischen Interpretation Boccaccios und Colonnas deutlich ab. Es spricht also viel für Marco Santagatas Vermutung, Petrarca habe den Brief erst geschrieben (oder radikal überarbeitet), nachdem sich gegen Ende der 1340er Jahre der allegorische „mito poetico di Laura“ erschöpft hatte (und nach der vollzogenen Dichterkrönung 1341 auch nicht mehr aktuell war). Dem neuen Projekt einer exemplarischen, im Sinne einer mutatio vitae stilisierten Autobiographie eines „per dar di me forse non bassi exempi“ (RVF 365, 4) ab den frühen 1350er Jahren kann der Verdacht der metaphorischen Fiktion einer „Laura“, die nichts anderes als „laurea“ meint, nur schaden und wird daher rückdatierend zurückgewiesen. 51 Dass das alternative Projekt der Rerum vulgarium fragmenta als „autobiografia morale ed esemplare“ daran arbeiten muss, die metaphorische Fiktion „Lauras“ als „laurea“ zugunsten einer metonymischen Fiktion des exemplum zurückzunehmen, 52 ist trotz vereinzelter romantisierend-referentialisierender Lektüren 53 zu breit belegt, als dass darauf hier zurückzukommen ist. 54 Interessieren soll abschließend aber eine Anspielung auf den Wechsel des Fiktionstyps, die Petrarca in RVF I untergebracht hat. Bekanntlich hat das Sonett „Voi ch’ascoltate“ seit der ersten, der CoreggioFassung des Canzoniere (1356–58) das die erste Sammlung (‚prima silloge‘) eröffnende Gedicht „Apollo, s’anchor vive il bel desio“ (später RVF 34) als Proömial-Sonett ersetzt. 55 Da das Apollo-Gedicht gänzlich auf dem Daphne/Lauro/ (Laura)-Mythos basiert („difendi or l’onorata fronde / ove tu prima, et poi fu’ invescato io“, V.7f.), ist dessen Ersetzung durch den ganz anders gearteten, die Reue über den „giovenile errore“ und die mutatio vitae des „ben veggio or“ thematisierenden Text ein deutlicher Hinweis auf das neue Projekt der exemplarischen Autobiographie. Aber auch im Sonett selbst scheint mir dieser Projektwechsel präsent zu sein: Auffällig ist, dass Petrarca auf der einen Seite auf die jedem exemplum notwendige Stütze durch experientia anspielt, die die Glaubwürdigkeit des berichteten Kasus garantiert: „ove sia chi per prova intenda amore, / spero trovar pietà, nonché perdono“ (Hervorh. M.F.). Wie der (rückdatierte) Colonna-Brief Familiares II, 9 kreist das Sonett nicht um die Konstatierung der Faktizität des Liebes-Anlasses – Laura wird überhaupt nicht genannt –, sondern um Text gewordene Schmerzensäußerungen und Reaktionen, die durch die „prova“ eines in der Liebe erfahrenen Publikums wahrscheinlich und erst so exemplarisch werden können. Wenn in den Quartetten dieser (im Vergleich zur ‚prima silloge‘) neue Aspekt von experientia und Exemplarität ganz ähnlich wie in Familiares II, 9 hervorge51 Vgl. SANTAGATA 1992, S. 97, zur partiellen De-Allegorisierung vgl. ebd. S. 94. 52 Vgl. ebd. S. 27. 53 So etwa FEDI 2002, S. 28 („Certamente, sull’esistenza di Laura non possono essere, oggi, sussistere dubbi“) oder DOTTI 2001, S. 12 („Donna reale e amore reale“). Zur Aktualität solcher Positionen kritisch FISCHER 2007, S. 172–175. 54 Vgl. vor allem SANTAGATA 1992, S. 105–343, oder jüngst PICONE (Hg.) 2007. 55 Vgl. NOYER-WEIDNER 1984, S. 332; PETRARCA 1996, S. CXCI. Als Entstehungszeit für RVF I hat sich mittlerweile 1349/1350 etabliert, vgl. PETRARCA 1996, S. 5f.

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kehrt wird, dann könnte das „come al popol tutto / favola fui“ (V.9f.) noch eine andere Bedeutung als die in den Kommentaren mit Bezug auf die Bibel, Ovid und Horaz hervorgekehrte des „Geredes über den schlechten Lebenswandel“ 56 gewinnen. „Favola fui“ könnte sich als lectio difficilior auch lesen lassen als Rekurs auf ein ganz anderes „Gerede“: das des von Giovanni Colonna und Giovanni Boccaccio hervorgekehrten „favola“-Charakters der Liebesgeschichte als fiktionale Oberfläche für die Tiefenbedeutung des Strebens nach laurea und dichterischer gloria. In Familiares II, 9 referiert (oder konstruiert) Petrarca Colonnas Vorwurf entsprechend, er habe die metaphorische „Laura“ nur geschaffen, damit die Menge über ihn rede („propter quam de multi loqueretur“). Da sich aber eben diese Tiefenbedeutung der gloria in diametralem Gegensatz zur moralischen mutatio vitae des neuen Projekts und zum vanitas-Konzept des „che quanto piace al mondo è breve sogno“ (RVF I, V.14) befindet, kann die Konsequenz dieses „favola“-Verdachts nur „vergogna“, „pentérsi“ und eine noch entschiedenere Distanzierung von der Suche nach literarischer gloria sein. Und noch etwas unterstreicht den sachlichen (wenn nicht gar zeitlichen) Zusammenhang zwischen der Bearbeitung respektive der Abfassung von Familiares II, 9 und RVF 1: So wie der auf 1336 datierte Brief entgegen der tatsächlichen Dominanz des „Laur(e)a“-Mythos in Petrarcas früher Produktion deren Relevanz herunterzuspielen sucht, so suggeriert auch in RVF I das lyrische Ich sein Bedauern und seine Scham darüber, dass die bis in die Jugendzeit des „giovenil errore“ zurückreichende „Autobiographie“ missverstanden worden ist als „favola“, als Oberflächenfiktion, unter der nichts anderes als die Suche nach (weltlicher) gloria steckt: „Ma ben veggio or sì come al popolo tutto / favola fui gran tempo“. Die „vergogna“ wäre dann mindestens so sehr eine über die Provokation dieses Missverständnisses wie über die „vane speranze“ der Liebe selbst. Dass Petrarca nach diesem reuevollen Auftakt zum Canzoniere dennoch das Abschwören von der gloria zum Mittel ihrer Erringung macht, 57 gehört zu den Volten, an denen sein großartiges Werk so reich ist.

56 S. etwa PETRARCA 1996, S. 10f. Zur Interpretation der „favola“ als „motivo cristiano di vergogna“ s. NOYER-WEIDNER 1984, S. 347f.; PICONE 2007, S. 28, deutet „favola“ in Son. I zusätzlich zur Bedeutungsschicht „Gerede, schlechte Nachrede“ auch im Licht der „fabula inexpleta“, der für Petrarca nur unvollständig zu leistenden Literarisierung „seiner“ Lebensgeschichte, für die sich das lyrische Ich nur schämen kann. 57 Cfr. dazu besonders REGN 2007, bes. S. 591f.

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Die Wirkungsmacht der Fiktion Zur metatextuellen Dimension des Traumes in Giovanni Boccaccios Corbaccio ULRIKE SCHNEIDER Aus historischer Perspektive hat die Fiktionsforschung seit den achtziger Jahren unter anderem zu der Erkenntnis geführt, dass die (Wieder-)Entdeckung von Fiktionalität im Mittelalter ebenso wenig als Ergebnis eines teleologischen Prozesses anzusehen ist, wie grundsätzlich von einer linearen, kontinuierlichen Entwicklung gesprochen werden kann. 1 Ergebnis der Forschung ist ferner, dass im Mittelalter kein einheitliches, autorenübergreifendes Verständnis von Fiktion angesetzt werden kann, mithin einzelne Textbelege genau zu analysieren sind, und dass zudem je nach Kontext – etwa der gewählten Gattung und/oder der jeweiligen strategischen Funktion – auch divergierende Äußerungen ein und desselben Autors zu verzeichnen sein können. 2 Während die französische und auch die deutsche Literatur des Mittelalters zentraler Untersuchungsgegenstand der Forschung aus historischer Perspektive waren und weiterhin sind, 3 ist die italienische Literatur in diesem Zusammenhang bislang relativ wenig untersucht worden. Eine Ausnahme bildet selbstredend Dante und seine an Augustinus anschließende Unterscheidung zwischen dem senso litterale und dem senso allegorico. 4 Spezifisch für Dante ist mithin, dass die allegorische Struktur das fiktionale Moment der Dichtung begründet, indem sie dieses zum Vehikel einer ihr zugrunde liegenden, allegorisch eingekleideten Wahrheit erklärt. 1

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Der Boom der 1980er Jahre führte nicht nur zu grundlegenden Ergebnissen mit Blick auf die Fundierung einer theoretischen Bestimmung von Fiktionalität, sondern erarbeitete auch und gerade verschiedene historische Phasen innerhalb des Prozesses der Entdeckung der Fiktionalität in Antike und Mittelalter. Vgl. zu dieser Diskussion HENRICH/ISER (Hgg.) 1983; RÖSLER 1980; HAUG 1985. Vgl. hierzu auch BAUSCHKE 2000. Die zentrale Referenz bildet dabei nach wie vor der höfische Roman, insbesondere die Artusromane von Chrétien de Troyes. Stellvertretend für eine maßgebliche Sichtweise der Forschung sei hier Walter Haug zitiert, demzufolge das „Revolutionierende der neuen Fiktionalität im 12. Jahrhundert“ darin besteht, „daß man nicht mehr fiktive Mittel einsetzt, um eine gültige Wahrheit sichtbar zu machen, daß sie vielmehr von jedem vorgegebenen sinnvermittelnden Muster absieht, um ihr eigenes Muster im fiktionalen Prozeß, im Akt des Erzählens erst zu entwerfen. Der Sinn liegt damit ganz in der Fiktion selbst, er wird also nicht im Bezug auf eine präexistente Wahrheit, sei diese nun heilsgeschichtlich, weltgeschichtlich oder exemplarisch-moralisch, anvisiert“ (HAUG 2003, S. 138). — Zur Diskussion um die (Wieder-)Entdeckung der Fiktionalität bei Chrétien vgl. HAUG 1985, 2003 und MÜLLER 2004 sowie kritisch HEINZLE 1990 und WORSTBROCK 1999. Vgl. Convivio II, XII, 1 (DANTE 1993). S. hierzu genauer KABLITZ 1989.

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Fragt man nach der Position Giovanni Boccaccios, so wird an erster Stelle zumeist auf die Genealogie deorum gentilium aus der Mitte der 1360er Jahre verwiesen. Sie enthalten im 14. Buch eine theoretisch fundierte Apologie der heidnischen Dichtung und generell der Fiktion, in der diese jedoch, im Anschluss an Dante, nach wie vor primär als Instrument der Wahrheit legitimiert wird. 5 Insofern beinhalten die Genealogie vor allem eine neuerliche und nachdrückliche Aufwertung einer primär funktional verstandenen Fiktion. Boccaccios Werk führt jedoch beispielhaft vor Augen, dass das Konzept der Fiktion eben auch bei einem einzelnen Autor von Werk zu Werk durchaus differieren kann. Während etwa auch das erzählerische Frühwerk gemeinhin, analog zu Dante, im Kontext einer allegorischen Fundierung der Fiktion situiert wird, 6 proklamiert Boccaccios letztes Erzählwerk, der Corbaccio, hingegen – so meine These – den Geltungsanspruch autonomer Fiktion, und zwar insbesondere hinsichtlich der ihr zukommenden Wirkungsmacht auf der Basis einer Rezeptionshaltung, die sich des fiktionalen Status bewusst ist, dieses Wissen jedoch im Akt der Lektüre suspendiert. 1. Der Corbaccio aus Sicht der Forschung Neben dem Hauptwerk, dem Decameron (1351–53), war der Corbaccio zeitgenössisch das am weitesten verbreitete Werk aus der Feder Boccaccios. 7 Datiert wurde der Corbaccio lange Zeit im Kontext einer autobiographischen Lesart auf etwa 1354/55; 8 inzwischen tendiert die Forschung eher zu einer Datierung auf

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So rechtfertigt Boccaccio im ersten Buch der Genealogie unter Rekurs auf Macrobius die Funktion der cortex fictionis und erläutert in der Folge den vierfachen Schriftsinn und näherhin die Zweiteilung von ‚sensus licteralis‘ und mehreren ‚sensus allegorici‘, womit er Dante folgt, ohne jedoch dessen Namen zu erwähnen (vgl. BOCCACCIO 1998, S. 82ff.). — Ob die Fiktion in den Genealogie, vor allem im 14. Buch, tatsächlich „nur als Instrument der Wahrheit“ (KABLITZ 1989, S. 90; m. Hervorh.) legitimiert wird, bliebe noch näher zu untersuchen. In einer genaueren Analyse der Genealogie wäre etwa konkret der Frage nachzugehen, ob und inwiefern Boccaccio auch hier über Bekanntes hinausgeht, ob mithin die Genealogie nicht nur in der Vehemenz der Verteidigung der Dichtung neue Impulse bieten, sondern auch einen Fiktionsbegriff (vor-)formulieren, der über das gängige mittelalterliche Verständnis hinausweist. So hebt etwa Stierle hervor, erst in den Genealogie erhalte „der Fiktionsbegriff selbst wieder seine Funktion und Bedeutung“, führt diesen Punkt allerdings nicht näher aus (STIERLE 2001, S. 397). — Vgl. einführend zum 14. Buch der Genealogie HEGE 1997. So urteilt etwa Stierle, das erzählerische Frühwerk stehe noch „in der Tradition des altfranzösischen Romans, der Liebesallegorie und Dantes“, entwickle allerdings zugleich eine neue Fiktionsvorstellung, die an die Antike und näherhin an Ovid anschließe (STIERLE 2001, S. 397). Aus dem 15. Jahrhundert stammt zudem eine lateinische Übersetzung von Antonio Beccaria, die darauf hindeutet, dass das Werk in den humanistischen Kanon integriert war, wenngleich mit signifikanten Abweichungen gegenüber dem Original (vgl. hierzu VEGLIA 1998, S. 68f.). Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. auch DONAGGIO 1993. Dies geschah in erster Linie aufgrund textinterner Indizien wie dem Alter und den Studien des Protagonisten, die eine Referenz auf den Autor Boccaccio nahezulegen scheinen; diese

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etwa 1365 9 – in jedem Fall aber kommt ihm eine Scharnierstellung zwischen dem vorausgehenden erzählenden Werk Boccaccios einerseits und dessen späteren Schriften in gelehrt-humanistischer Tradition andererseits zu. Während jedoch die Forschung zum Decameron weiterhin boomt, ist die Literatur zum Corbaccio nach wie vor überschaubar, und das in den 1970er Jahren vorsichtig erwachte Interesse für diesen Text blieb weitestgehend auf die italienische und die anglophone Forschung beschränkt. Die deutsche Forschung hat sich bislang kaum mit dem Corbaccio befasst; in Überblicksdarstellungen wird er immer noch gern in die Tradition misogyner Schriften des Spätmittelalters eingereiht. 10 Gemeinhin gilt der Corbaccio als enigmatisches Werk, das bis heute zu stark differierenden, bisweilen auch widersprüchlichen Lesarten Anlass bietet. Dabei lassen sich innerhalb des Spektrums der existierenden Forschung grundsätzlich vor allem drei verschiedene Ansätze identifizieren: eine autobiographische, eine moralisch-didaktische und eine parodistische Lesart. Die Tatsache, dass der Corbaccio sehr drastisch formulierte frauenfeindliche Attacken enthält, die der Feder des oft als ‚Frauenfreund‘ titulierten Verfassers der Fiammetta und des Decameron, aber auch des ersten Frauenkatalogs De claris mulieribus entstammen, vermochte die Forschung lange Zeit nur durch eine tiefe Kränkung des Autors zu erklären. Diese schlichte Reduzierung auf ein autobiographisches Substrat, die sich allein auf pseudoreferentielle Verweise zu stützen vermag, wurde seit den 70er Jahren zwar korrigiert; 11 die These, dass die Vehemenz der nicht nur gegen eine einzelne Frau, sondern gegen das weibliche Geschlecht insgesamt gerichteten Invektive nur durch eine persönliche Enttäuschung Boccaccios provoziert sein könnte, hält sich jedoch weiterhin in nur leicht verändertem Gewand, wenn noch in neueren Arbeiten auf eine Krise des Autors als Hintergrund verwiesen und allein daraus zugleich ein moralisch-didaktischer Anspruch des Werkes abgeleitet wird. 12 (pseudo-)referentiellen Signale rechtfertigen jedoch noch keine Gleichsetzung von realem Autor und Ich-Erzähler. 9 Und zwar aufgrund einer erkennbaren sprachlichen wie auch ideologischen Nähe zum Spätwerk (vgl. PADOAN 1994). MARTI (1976) korrigiert diese späte Datierung auf etwa 1363, mit Verweis auf einen Briefwechsel zwischen Boccaccio und Petrarca, genauer mit Verweis auf einen Brief Petrarcas aus den Seniles vom 28.5.1362. Natali optiert ebenfalls für eine Datierung auf die 60er Jahre, aufgrund einer Parallele zwischen dem Corbaccio und De claris mulieribus, mit ‚fast wörtlicher Übersetzung‘ (vgl. NATALI 1992, S. VIII). Einzelne Kritiker halten allerdings an der früheren Datierung fest – nunmehr etwa mit dem Argument einer engen Verwandtschaft des Corbaccio mit dem Decameron (vgl. HOLLANDER 1988, S. 1 et passim) oder mit Verweis auf Bezüge auf die Amorosa Visione, deren Revision durch Boccaccio auf etwa 1355 angesetzt wird (vgl. SMARR 1986, S. 149). 10 Differenzierter argumentiert Zimmermann: Der Corbaccio, eine „spätmittelalterliche Witwenschelte“ (ZIMMERMANN 1999, S. 81), weise eine Reihe von Bezügen zu anderen Werken Boccaccios auf und sei damit „Teil einer umfassenden Reflexion über Geschlechterverhältnisse, deren Schwerpunkte und Akzentuierungen sich allerdings im Laufe der Zeit wandeln“ (ebd. S. 89). Doch auch diese Deutung des Corbaccio als eines misogynen und misogamen ‚Traktats‘ vermag die Inkohärenzen und Widersprüche im Text nicht zu klären; das Moment der Fiktion bleibt zudem ausgeblendet. 11 Bereits mit Arbeiten von Billanovich und Branca, vor allem aber von Marti und Hollander. 12 Vgl. hierzu beispielhaft VEGLIA 1998.

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Es ist wohl das Verdienst Gian Piero Barricellis, in einem Aufsatz von 1975 erstmals auf den selbstreferentiellen Charakter des satirischen Moments im Corbaccio hingewiesen zu haben. 13 Wurde zuvor vereinzelt auf das satirische Potential der die Frauen abwertenden Invektive hingewiesen, so argumentiert Barricelli nun unter Verweis auf „self-critical aspects of the story“, 14 die Satire richte sich ebenso gegen sich selbst bzw. gegen die in ihr agierenden männlichen Figuren wie generell gegen misogyne Schriften. Ähnliches gelte zudem für die Rekurse auf Dantes Divina Commedia und den allegorischen Diskurs. So überzeugend Barricelli seine – allerdings wenig belegte – These vertritt, so wenig wurde sie in der Forschung vernommen. Nur vereinzelt wurde in der Folge das ludische Moment im Corbaccio fokussiert; 15 genannt sei hier beispielhaft der Boccaccio-Experte Robert Hollander, der in der ersten Monographie zum Corbaccio von 1988 mit seiner These, beim Corbaccio handele es sich um einen „literary joke“, direkt an Barricelli anschließt. 16 Auffällig ist, dass sich die Forschung – egal welcher Lesart sie folgt – immer wieder an den Widersprüchen reibt, die der Text aufweist, und sich stets die Frage stellt, ob und in welcher Weise sich die verschiedenen Textebenen wie auch die verschiedenen Diskurse, die der Text aufruft, plausibel in einer Deutung zusammenführen lassen. Die Bewertung des literarischen Ranges bereitet dabei auch den Vertretern einer parodistischen Lesart offenkundig Probleme: So spricht auch Barricelli noch davon, der Corbaccio sei „indeed a delirious labyrinth“, 17 und man ordnet ihn gemeinhin eher unter den opere minori ein. 18 Demgegenüber vertritt Hollander die These, nicht das Werk sei ‚außer Kontrolle‘ geraten, wie so viele meinten; es sei vielmehr ein klar strukturiertes und symmetrisch gegliedertes Werk über einen Mann, der außer Kontrolle geraten sei: den Erzähler-Protagonisten. 19 An diese – parodistische – Lesart möchte ich in meinem Beitrag anschließen und zugleich eine neuartige Antwort auf die Frage der ‚Lesbarkeit‘ des Corbaccio formulieren. Kaum beachtet wurde bislang nämlich die Thematisierung von Fiktion bzw. Fiktionalität im Corbaccio und die Tatsache, dass dem Werk ein anders geartetes Fiktionskonzept unterliegt, als es sich in anderen Werken Boccaccios findet. Am Beispiel dieses Textes, der im Spannungsfeld zwischen mittelalterlichen Traumvorstellungen, klassischer Rhetorik und dichterischer Fiktion zu situieren ist, wird dabei zudem deutlich, dass es zur Wahrnehmung von Fiktion 13 Barricelli geht von der Beobachtung aus, dass eine biographische ebenso wie eine misogyne, eine allegorische oder aber auch eine rein satirische Lektüre des Werkes stets ein gewisses Unbehagen hinterließen. Er verweist insbesondere auf das groteske Missverhältnis zwischen der ‚Höhe‘ der Vorlage – Dantes Divina Commedia – und dem niederen Setting im Corbaccio (vgl. BARRICELLI 1975, S. 105ff.). 14 Ebd. S. 103. 15 So etwa bei NYKROG (1984), der auf die humoristischen Effekte im Aufrufen des misogynen Diskurses abhebt, für die auch die auffälligen Dante-Referenzen funktionalisiert würden. 16 HOLLANDER 1988, S. 2. 17 BARRICELLI 1975, S. 103. 18 So urteilt etwa Nykrog, der Corbaccio sei „not one of the author’s major achievements“ (NYKROG 1984, S. 436). 19 Vgl. HOLLANDER 1988, S. 19.

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als Fiktion ganz generell einer Rahmung bedarf, die Signale für eine ihr angemessene Lesart aufweist. Die spezifische Besonderheit dieses Werkes liegt, so meine erweiterte These, darüber hinaus darin, dass nicht nur sein Fiktionscharakter selbstreflexiv thematisiert wird, sondern dass vielmehr zugleich die Wirkungsmacht der Fiktion performativ vorgeführt wird, und zwar hier konkret – analog zu Aristoteles’ Tragödiensatz – mit einem kathartischen Effekt, der seinerseits weit weniger auf die ethisch-moralische als vielmehr auf die medizinisch-therapeutische Deutungstradition der Kategorie der Katharsis verweist.

2. Vom laberinto d’Amore zum labirinto testuale Um diese These auszuführen und zu belegen, muss ein wenig ausgeholt werden. Hierzu sei im Folgenden zunächst das Werk in Plot und Struktur kurz vorgestellt: Der Corbaccio wird deklariert als die Geschichte der ‚Heilung‘ eines Ich-Erzählers, der sich – von derjenigen Frau, einer Witwe, die er sich zu seiner donna erkoren hat, ohne eigenes Verschulden schlecht behandelt – ob der „accidenti del carnale amore“ [6] grämt. 20 Seine Heilung verläuft in drei Schritten und ist jeweils verbunden mit einer Diskussion der Schuldfrage. In einem Selbstgespräch argumentiert ein personifizierter ‚Gedanke‘, ein pensiero „da celeste lume mandato“ [12], der Erzähler trage selbst die Schuld für den Zustand, in dem er sich befinde, da er sich ohne Anzeichen einer Erwiderung seiner Gefühle in diese hineingesteigert habe. Der pensiero fügt zum Trost des Erzählers jedoch hinzu, er solle von seinen Todesgedanken Abstand nehmen, denn sein Tod schade nur ihm, nicht aber der Witwe. Bereits auf dem Wege der Besserung, verbringt der Erzähler den Abend unter Freunden, die ihrerseits fortuna für sein Unglück verantwortlich machen und ihn in Gesprächen auf andere Gedanken bringen. Wieder zu Hause und schon weitestgehend von seinem Kummer geheilt, denkt der Erzähler-Protagonist noch lange über die Gespräche nach, bevor er endlich einschläft. Im Traum, dessen Schilderung fast die gesamte Erzählung einnimmt, verirrt er sich in einem zunächst lieblich anmutenden Tal, das sich jedoch schon bald vom klassischen locus amoenus in einen locus horridus wandelt, ein laberinto d’Amore mit infernalischen Zügen. Dort begegnet er einem spirito, der sich als Geist des verstorbenen Ehemannes eben jener Witwe erweist, in die sich der Erzähler unglücklich verliebt hatte. Zwischen beiden entspinnt sich ein Gespräch, innerhalb dessen einzelne Teile unterschieden werden können: Zunächst schildert der Ich-Erzähler dem Geist, wie er sich – letztlich auf bloßes Hörensagen – in die Witwe verliebt und wie ein kurzer Briefwechsel mit ihr falsche Hoffnungen in ihm geweckt habe. Sodann setzt der Geist zu einer rhetorisch klar gegliederten und ebenso argumentierenden Rede an, in der er erstens auf die Fehler des Erzählers eingeht – dieser habe sich weder seinem Alter noch seinen Studien angemessen verhalten –, zwei20 Zitiert wird hier und im Folgenden der Text des Corbaccio nach BOCCACCIO 1992; die Nummerierung der Paragraphen, die im Haupttext angeführt werden, folgt der kritischen Ausgabe von T. Nurmela, Helsinki 1968.

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tens zu einer Invektive gegen das weibliche Geschlecht insgesamt ansetzt, drittens für die Überlegenheit des männlichen Geschlechts argumentiert und in einem vierten Schritt noch einmal auf die Vergehen des Erzählers zurückkommt, zu denen auch gehört, sich von den Musen abgewandt zu haben. Von seiner ursprünglichen Ankündigung abweichend, schließt er an diese Rede eine Erzählung an, in der er die, d.h. seine, Witwe aus seiner persönlichen Sicht und Erfahrung schildert. Im Anschluss an die detailliert-drastische Darstellung ihrer Laster und körperlichen Mängel erzählt der Geist, wie die Witwe den Erzähler-Protagonisten in ihrer Antwort auf seine werbenden Briefe förmlich verschaukelt und zum Gespött der Leute gemacht habe. Schließlich erklärt sich der Ich-Erzähler für von seiner Liebe geheilt, und der Geist rät ihm, als Sühne für sein Vergehen seine Liebe in ihr Gegenteil, nämlich in Hass zu verwandeln und diesem die Form eines Buches zu geben, in dem er ‚die Wahrheit‘ über die Witwe kundtun und sich derart an ihr rächen solle. In einer Szenerie, die deutlich auf Dantes Purgatorio anspielt, steigen Geist und Ich-Erzähler gemeinsam aus dem labyrinthischen Tal heraus, der aufgehenden Sonne entgegen. Und ganz im Einklang mit diesem Sonnenaufgang erwacht denn auch der Ich-Erzähler aus seinem Traum. Er sucht erneut die Gesellschaft seiner Freunde auf, die ihm die Richtigkeit der Worte des Geistes bestätigen und nimmt sich vor, sich, so ihm Zeit bleibe, mit Worten an derjenigen zu rächen, die ihm so zugesetzt hat: der Witwe. Gerahmt wird die Erzählung insgesamt durch einen proömialen Vorspann und einen Epilog, worin der Ich-Erzähler in der Rolle des Autors über seine Motivation spricht, die Geschichte seiner Heilung niederzuschreiben: Er tue dies einerseits, um seine Dankbarkeit für die ihm erteilte Gnade („i benefici ricevuti“ [1]) zu erweisen und also Gott zu rühmen, und andererseits, um anderen in ähnlicher Lage von Nutzen zu sein und Trost zu spenden: „utilità e consolazione dell’anime di coloro li quali per avventura ciò leggeranno, e altro no“ [5]. Mit diesen Worten endet der Prolog. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Poetik wie auch der anderen erzählenden Werke Boccaccios wird dem Moment des diletto offenbar eine deutliche Absage erteilt; auch der Epilog wird nur die Stichworte ‚Nutzen‘ und ‚Trost‘ aufgreifen. Die Formulierung ‚utilità e consolazione […] e altro no‘ hebt allerdings, ex negativo, eben diese Kategorie des diletto nachdrücklich ins Bewusstsein der Leser. Auffallend ist hier zunächst die bemerkenswert komplexe kompositorische Anlage des Werkes. Robert Hollander hat den chiastischen Aufbau des Werkes, in den die verschiedenen Textebenen und -teile integriert sind, in folgendem Schema abgebildet: 21

21 HOLLANDER 1988, S. 3.

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(1) narrator in propria persona (2) narrative: his situation (3) dream vision (Hell) (4) lover’s autobiography (5) guide’s oration (6) guide’s biography of wife (7) dream vision (Purgatory) (8) narrative: his situation (9) narrator in propria persona

Das Werk ist demnach in neun klar voneinander abgrenzbare Abschnitte unterteilt. Dabei dient der fünfte Abschnitt, die rhetorische Invektive des Geistes gegen das weibliche Geschlecht, als Mittelachse, an der die übrigen acht Abschnitte jeweils paarweise gespiegelt werden, woraus sich eine komplex verschachtelte Rahmenstruktur ergibt. Den äußeren Rahmen bildet die Rede des Erzählers qua ‚Autor‘ des Buches, mithin Proöm und Epilog (Abschnitt 1 und 9). 22 Die Diegese beginnt mit einem einführenden Abschnitt (Abschnitt 2), der Schilderung des Wachzustandes, mit der die Erzählung auch endet (Abschnitt 8). Darin eingebettet findet sich die Traumvision, die mit Abstand den Hauptteil der Erzählung ausmacht (Abschnitte 3–7). Diese wird, laut Hollander, ihrerseits gerahmt durch eine deutliche Referenz auf Dantes Inferno zu Beginn (Abschnitt 3) und auf sein Purgatorio am Ende (Abschnitt 7). 23 Hierein fügt sich schließlich die Schilderung der verhinderten Liebesgeschichte, und zwar zunächst aus Sicht des Erzählers (Abschnitt 4); später wird dies inhaltlich gespiegelt in der Schilderung der Witwe durch den Geist ihres verstorbenen Gatten (Abschnitt 6). Den ungespiegelten ‚Kern‘ des Werkes bildet in dieser Gliederung, wie schon erwähnt, also die Schmährede des Geistes gegen das weibliche Geschlecht generell (Abschnitt 5). Bereits aus dieser Zusammenfassung des Plots und seiner groben Strukturierung wird zumindest ansatzweise erkennbar, dass der Text zahlreiche intertextuelle Referenzen aufweist, darunter auf Juvenals Satiren, auf Boethius’ Consolatio philosophiae, 24 auf den Roman de la rose, auf die lange Tradition der Remedia amoris von Ovid bis zu Andreas Capellanus, und besonders deutlich auf Dantes Divina Commedia. Auf histoire-Ebene finden sich zudem Verweise auf den höfischen Roman, die bevorzugte Lektüre der Witwe. 25 Aber auch auf eigene Werke rekurriert Boccaccio: so etwa auf die Elegia di Madonna Fiammetta (1343–44) 26 und auf die siebte Novelle des achten Tages im Decameron. 27 Ein 22 Statt bloß vom „narrator“ zu sprechen, wie Hollander dies tut, ist aus meiner Sicht eher vom ‚(Autor-)Erzähler‘ zu reden, insofern die auktoriale Funktion des Erzählers auf der ersten Rahmenebene im Kontext der hier zu vertretenden These relevant ist. 23 Allerdings stellen sich, wie noch auszuführen sein wird, sowohl Inferno als auch Purgatorio bei Boccaccio als eine Kontamination der bei Dante getrennten Bezirke dar. 24 Zur Kenntnis Boccaccios von Boethius vgl. ALBESANO 2006. 25 Vgl. zu diesen Referenzen MAZZONI PERUZZI 2001. 26 Vgl. beispielsweise einige nahezu identische Formulierungen in den Apostrophen an das vorliegende Buch in den Epilogen der Fiammetta und des Corbaccio, wenngleich die Adressatenschaft themenbedingt eine je andere ist. 27 Vgl. zu dieser Novelle SÖFFNER 2005.

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solcher Rekurs auf Prätexte anderer und eigene Werke ist ebenso durchaus typisch für Boccaccio wie eine komplexe Rahmenstruktur. Und auch Traumerzählungen finden sich wiederholt in Boccaccios Werk;28 eine Besonderheit ist hier jedoch die Tatsache, dass die Traumfigur des spirito als intradiegetischer Erzähler fast die gesamte Erzählung generiert. Eingebettet in einen autoreflexiv fundierten Erzählrahmen und durch die Verschränkung verschiedener Erzählebenen an diesen rückgebunden, wird die Traumsequenz hier gewissermaßen als eine Lizenz zur poetischen Fiktion fassbar, die auf das Werk insgesamt ausgreift. 3. Der Geist des Corbaccio Ich möchte im Folgenden zunächst die Figur des spirito fokussieren, die bislang seitens der Forschung kaum näher betrachtet worden ist, an deren diskursiver Charakterisierung jedoch paradigmatisch die Offenlegung der Mechanismen verschiedener Diskurstypen und ihre gleichzeitige Instrumentalisierung zum Aufbau der Fiktion verdeutlicht werden kann. 29 Der spirito übernimmt, wie bereits deutlich wurde, in der (Traum-)Erzählung die Funktion, den Ich-Erzähler in der Rolle eines guida, formal analog zur Rolle Vergils in Dantes Divina Commedia, aus dem zwischenweltlichen inferno des laberinto d’Amore herauszuführen. Die Schmährede gegen das weibliche Geschlecht wie auch gegen die konkrete Gestalt der Witwe wird von ihm formuliert, und seine Worte sind in direkter Rede wiedergegeben. 30 In Arbeiten, die den Corbaccio parodistisch lesen, wurde bereits die mangelnde Glaubwürdigkeit des spirito als ‚Retter‘ des Protagonisten betont: So entstamme er als ‚betrogener Ehemann‘ eher dem Figurenarsenal der fabliauxTradition und sei, verglichen mit der Figur Vergils bei Dante, ein ‚unwürdiger‘ guida für den Protagonisten. 31 Als unmittelbar Betroffener sei zudem seine Neu28 So unterliegt eine allegorische Traumkonstellation etwa der Amorosa visione. Zu unterschiedlichen Formen und Funktionen von Traumerzählungen mit besonderer Berücksichtigung von Boccaccio vgl. CAZALÉ BÉRARD 2003. 29 Dabei wird ersichtlich, dass die Referenz auf zeitgenössisch gültige, ganz unterschiedlich gelagerte Diskurskonventionen – etwa auf den misogynen und misogamen oder den allegorischen Diskurs – nur eine Teilaktualisierung dieser Diskurse impliziert. Ihre jeweilige Einbindung in die spezifische Textstruktur des Corbaccio unterminiert aufgrund der sich ergebenden Inkohärenzen und Brechungen weitgehend ihre Gültigkeit im Rahmen dieser Erzählung, legt dabei aber zugleich ihre Mechanismen offen und weist ihnen zudem eine gegenüber den anzitierten Diskurskonventionen und Prätexten andersgeartetete Funktion zu. 30 Dass die Invektive damit zumindest primär nicht mit der Sicht des Erzähler-Protagonisten zu identifizieren ist, wurde bereits verschiedentlich vermerkt (vgl. etwa HOLLANDER 1988). 31 Es finden sich jedoch auch andere Einschätzungen: Beispielhaft kann hier auf Smarr verwiesen werden, die in dem spirito „the voice of reason“ ausmacht (SMARR 1986, S. 156) und in Bezug auf Boccaccios Haltung zur Dichtung von „his growing uneasiness with fiction“ spricht (ebd. S. 161) – eine Position, die der hier verfolgten These des Corbaccio als eines Plädoyers für die Wirkungsmacht der Fiktion diametral entgegensteht. Wenn für Smarr der Corbaccio unter dem Signum des „conflict between reason and appetite“ (ebd. S. 149) steht, dann ist einzuwenden, dass ein solcher Konflikt zwar durchaus verhandelt wird, es aber nur

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tralität und damit der Geltungsanspruch seiner Rede in Zweifel zu ziehen; dies belegt bereits die Tatsache, dass er, als von Gott gesandter Geist, Hass und Rache predigt. 32 Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen der histoire-immanent proklamierten Funktion der Figur des Geistes einerseits und ihrer Anlage andererseits führt nun aber zu der Frage, welche Funktion ihr und ihrer Ausgestaltung im Corbaccio zukommt. Denn dem Hinweis auf seine mangelnde Konsistenz als ernstzunehmender Trostspender und guida steht die offenkundige Tatsache gegenüber, dass sein Redeanteil, eingebettet in die Traumerzählung, den bei weitem größten Teil des Textes einnimmt, ihm mithin offenkundig eine zentrale sinnstiftende Funktion beizumessen ist. Bereits in der Schilderung des später vom spirito so benannten laberinto d’Amore rekurriert Boccaccio auf Dantes Divina Commedia, indem er Motive aus Inferno und Purgatorio aufgreift und dabei Verse unterschiedlicher Provenienz kontaminiert. 33 Als der Geist auftritt, wird sein Äußeres detailliert beschrieben und mit dem Zusatz versehen, er sei „di non molto piacevole aspetto“ [67]. Sein Auftritt selbst vollzieht sich „con lento passo“ [66] – dass dies nicht zufällig vermerkt ist, legt die Tatsache nahe, dass es wiederholt wird: „con lenti passi“ [68], heißt es kurz darauf noch einmal, kommentiert mit „come detto è“ [68]. Dieser selbstreferentielle Hinweis auf die Tatsache der Wiederholung deutet auf deren Signalcharakter hin; und tatsächlich zeigt sich hier ein deutlicher Verweis auf Dante: Im 23. Gesang des Inferno werden nämlich eben „con lenti passi“ die Heuchler eingeführt (Inf. XXIII, 59), die dort lange schwere Mäntel tragen, außen gülden, innen mit Blei ausgekleidet – eine typische Bestrafung nach dem Dante’schen Gesetz des contrappasso per analogia. 34 Einen Mantel trägt nun auch der spirito: „il suo vestimento era lunghissimo e largo e di colore vermiglio“ [67], heißt es. Und er wird bald darauf selbst präzisieren: „non è panno manualmente tessuto, anzi è un fuoco dalla divina arte composto“ [104]. Mit dem Tragen des Mantels verbindet sich eine Strafe, die darin besteht, unerträgliche Hitze aushalten zu müssen und den dadurch bedingten Durst, „la mia sete“ [105], nie stillen zu können. Den Grund für diese Strafe führt der spirito ebenfalls selbst an: „[…] di ciò due cose mi sono cagione: l’una è lo ‘nsaziabile ardore il quale io ebbi di denari mentre ch’io vissi, e l’altra è la sconvenevole pazienzia colla quale io comportai le scellerate e disoneste maniere di colei la quale tu vorresti d’aver veduta esser digiuno“ [106; m. Hervorh.]. Geldgier – als Ausprägung der avaritia – und eine unangemessene Geduld, mit der er seine Frau ertrug, waren seine Sünde und sein Laster zu Lebzeiten, für die er nunmehr im Fegefeuer büßen muss. Vor dem unter Absehung einer Fülle von Unstimmigkeiten und internen Widersprüchen möglich ist, ihn als für die Gesamtbedeutung des Textes maßgeblich anzusetzen. 32 Vgl. CASSELL 1974; NYKROG 1984; HOLLANDER 1988. 33 Vgl. für einzelne Belege maßgeblich HOLLANDER 1988. Nykrog sieht den Traum irgendwo zwischen dem 4. und 5. Kreis in Dantes Topographie angesiedelt, „between the end of Canto 18 of the Purgatorio (passivity) and the body of Canto 19 (greed)“ (NYKROG 1984, S. 439). 34 „Egli avean cappe con cappucci bassi […]. / Di fuor dorate son, sì ch’egli abbaglia; / ma dentro tutte piombo, e gravi tanto, / che Federigo le mettea di paglia. / Oh in eterno faticoso manto!“ (Inf. XXIII, 61/64–67).

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Hintergrund der vielfachen Verweise auf Dantes Divina Commedia wird hier in den konkreten Formulierungen ganz deutlich das Strafsystem Dantes, mithin das Gesetz des contrappasso aufgerufen. Bisweilen wird diese Stelle derart gedeutet, dass die Geldgier des Geistes, „ardore […] di denari“, durch Durst, „sete“, bestraft werde, die übermäßige Geduld seiner Frau gegenüber, „la pazienza“, als eine Form der Lauheit, der tiepidezza, hingegen im Tragen des brennenden Mantels ihre Bestrafung finde. 35 Die Bestrafung des spirito würde mithin ihrerseits den contrappasso per contrasto realisieren. Hierfür spricht, dass der Geist an späterer Stelle der Traumerzählung noch einmal auf dieses zweite Laster zurückkommt und es explizit mit der Sünde der Lauheit in Verbindung bringt: E io, misero e in ciò male avveduto, credendomi, sofferendo, minuire l’angoscia e l’affanno, più tiepido che l’usato divenuto, seguiva il suo [i.e. la vedova] volere; la qual tiepidezza il vestimento, che vermiglio mi vedi, come già dissi, ora con mia gravissima pena riscalda. [304]

Mir scheint jedoch, dass nachdrücklich zwischen der Selbstcharakterisierung des spirito einerseits und seiner vom Text insgesamt nahegelegten Charakterisierung andererseits unterschieden werden muss. So erfährt der spirito etwa immer wieder eine Rückbindung an das lebensweltliche Ich des verstorbenen Gatten der Witwe, was die von ihm beanspruchte Rolle als von Gott gesandter, selbstlos handelnder guida nachhaltig unterminiert. Gleich zu Beginn ihrer Begegnung äußert sich der spirito hierzu, indem er deutlich macht, dass er, wäre er noch derjenige, der er einmal war, dem Protagonisten ganz sicher nicht helfen, sondern ihm „confusione e danno“ [81] beibringen würde, hat sich der Protagonist mit seiner Liebe zur Witwe des spirito doch in einen Bereich begeben, der eigentlich ihm, dem spirito, zusteht. 36 Auffällig ist ferner, dass der spirito zwar vorgibt, er habe seinen Zorn in Wohlwollen verwandelt – „ho la mia ira in carità trasmutata“ [82] – und werde dem Protagonisten daher helfen. Der wiederholte Hinweis auf den Nebel, „la nebbia“ [58 und 61], der die Szenerie beim Auftritt des spirito beherrscht, ruft demgegenüber jedoch ganz klar den dritten Ring des Purgatorio bei Dante auf, wo sich just die Zornigen aufhalten. 37 Und auch der spätere Ratschlag des spirito an den Protagonisten, dieser möge seine Liebe in Hass verwandeln und sich an der Witwe rächen, 38 steht dem Hinweis des Geistes auf seine in dieser Hinsicht angeblich bereits erfolgte eigene Läuterung inhaltlich diametral entgegen. Die inhaltlichen Widersprüche sind hier offensichtlich, und der spirito erwiese sich dem-

35 Vgl. resümierend den Kommentar in BOCCACCIO 1992, S. 26, Anm. 223. 36 Als Anspielung hierauf ließe sich auch der Hinweis des Protagonisten deuten, beim Anblick des spirito habe ihn zunächst Angst erfüllt: „Paura mi porse per ciò che io cominciai a temere non quello luogo a lui forse per propria possessione assegnato fosse e, recandosi a ingiuria di vedervi alcuno altro, le fiere del luogo, siccome a lui familiari, a vendicare la sua ingiuria sopra me incitasse, e a quelle mi facesse dilacerare“ [69]. 37 Vgl. DANTE, Purg. XV und XVI. 38 „A voler de’ falli commessi satisfare interamente, si conviene a quel che fatto hai operare il contrario; ma questo si vuole intendere sanamente. Ciò che tu hai amato ti conviene avere in odio; e ciò che tu, per l’altrui amore acquistare, t’eri a dover far disposto, a fare il contrario“ [522–523].

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nach tatsächlich eher als Heuchler denn als vertrauenswürdiger, selbstloser Begleiter des Protagonisten im Traum-Labyrinth. Die hierzu bislang vorliegenden Lesarten vermögen nicht zu überzeugen, insofern sie entweder die eklatanten Widersprüche im Text schlicht übersehen bzw. bewusst übergehen oder aber keine weiterführenden Deutungen bieten. Ich schlage demgegenüber eine modifizierte Lesart vor, die in der Lage ist, die Widersprüche im Text einzubeziehen, und zugleich eine neue Dimension des Textverständnisses eröffnet. Nimmt man nämlich das Setting der angeführten Textpassage sowie die vielfältigen indirekten Referenzen auf Dante und das Strafsystem der Divina Commedia ernst, so lässt sich nunmehr die Bestrafung der Laster, derer sich der spirito zu Lebzeiten schuldig machte, entgegen den bislang vorliegenden Lesarten auch anders deuten, wodurch sich eine neue Sicht auf den Corbaccio insgesamt ergibt. 39 Das Ertragen von Feuer und Durst wird derart lesbar als Bestrafung der Geldgier: „lo ‘nsaziabile ardore […] di denari“ [106; m. Hervorh.] wird durch Feuer und Durst, „fuoco“ [104; m. Hervorh.] und „sete“ [105; m. Hervorh.], im Jenseits abgegolten – es findet hier demnach, zusätzlich markiert durch die chiastische Anordnung der entsprechenden Lexeme, also zunächst einmal der contrappasso per analogia Anwendung. In dieser Lesart würde mithin auf der Handlungsebene eine eigene Bestrafung des zweiten Lasters, der „sconvenevole pazienzia“ [106], mit der der spirito die schlechten Manieren seiner Frau geduldet hatte, fehlen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass mit der Sünde der avaritia und ihrer Bestrafung das Gesetz des contrappasso aktualisiert wird, lässt sich diese Leerstelle im Text – d.h. die auf histoire-Ebene ausbleibende angemessene Bestrafung – nun allerdings im Rekurs auf die discours-Ebene füllen: „la sconvenevole pazienzia“, die unmäßige Geduld gegenüber der Frau zu Lebzeiten, wird offenbar durch Aktualisierung der zweiten Form des contrappasso, des contrappasso per contrasto, im Jenseits durch eine unmäßige, d.h. übertrieben harte Haltung gegenüber eben jener Witwe ‚abgegolten‘. Das Strafsystem der Divina Commedia wird hier also in zweifacher Hinsicht aktualisiert: zum einen auf histoire-Ebene im Motiv des Feuermantels; zum anderen auf discours-Ebene in der misogynen Invektive. Zur Stützung dieser These ist darauf hinzuweisen, dass das Attribut sconvenevole ex negativo die rhetorische wie auch ethische Kategorie des aptum, der Angemessenheit aufruft, mit der das Ideal des rechten (Mittel-) Maßes im Leben wie in der Rede formuliert ist. Die Vergeltungsstrafe durch das Gegenteil dessen, was hier als Vergehen zu Lebzeiten deklariert ist, wird nun 39 Dieses Vorgehen wird zusätzlich dadurch gestützt, dass eine konkrete, konsistente Korrespondenz mit einer Dante’schen Strafe fehlt (vgl. hierzu auch den Kommentar in BOCCACCIO 1992, S. 26, Anm. 223). So werden bei Dante die Lauen dadurch bestraft, dass sie von Inbrunst gehetzt agieren (vgl. DANTE, Purg. XVIII) – Inbrunst kennzeichnet nun wiederum auch die verbalen Attacken des spirito gegen die Witwe und das weibliche Geschlecht. Feuerstrafen finden sich bei Dante hingegen im Kontext der Sünde der Häresie, wohingegen die Geizigen dadurch bestraft sind, dass sie, die Augen nahezu in der Erde vergraben, am Boden kriechen (vgl. DANTE, Purg. XIX). Der Corbaccio ist also in jedem Fall durch eine Kontamination unterschiedlicher Laster und Strafen, wie sie in der Divina Commedia vorfindlich sind, geprägt, was ein Spektrum unterschiedlicher Deutungen eröffnet.

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naheliegenderweise auf der Darstellungsebene des Textes realisiert, insofern die Kategorie des aptum als rhetorisches Prinzip auf eben jene zielt. Folgt man dieser Sicht, so erklärt sich derart die Vehemenz und Drastik der Schmähreden des Geistes: Wie schon zu Lebzeiten, so wird das aptum-Prinzip auch jetzt – freilich in entgegengesetzter Weise – missachtet; signalisiert ist damit von vornherein das Übermaß, die Unangemessenheit der Invektiven gegen die Frau(en) durch den spirito. Signifikanterweise gestaltet dieser seine Rede gegen das weibliche Geschlecht tatsächlich streng nach den Regeln der Rhetorik. 40 Das hohe Ausmaß an Rhetorizität des zeitgenössischen misogynen Diskurses dient hier als Vorlage, 41 seine Mechanismen werden durch die markierte Gliederung der Rede nach den Vorgaben der Rhetorik zugleich bloßgelegt. Entscheidend ist hierbei nun, dass über die Verlagerung des Dantesken Strafsystems auf die Darstellungsebene des Textes eine ‚zweite Motivation‘ für die misogyne Invektive des spirito aufgerufen wird, die von weitaus größerer Relevanz ist als die histoire-immanente Motivation aufgrund der Figurenkonzeption als betrogener, unversöhnter Ehemann. Dies hat zumindest zwei Effekte: Boccaccio wird es nämlich zunächst einmal auf diese Weise möglich, die rhetorischen Mechanismen des misogynen Diskurses und seine perspektivisch bedingte Indienstnahme zu ‚persönlich‘ motivierten Zwecken zu veranschaulichen. Darüber hinaus aber wird in der Referenz auf die allegorische Dichtung Dantes und der Aktualisierung des contrappasso auf der Darstellungsebene zu bloß funktionalen Zwecken – nämlich letztlich zur Demontage des spirito – ein umfassender Geltungsanspruch einer allegorischen Lesart für den Corbaccio gerade unterlaufen. 42 Wenn sich der Geist, bevor er in kaum zu überbietender Drastik die körperlichen wie moralischen Mängel der Witwe schildert, damit rechtfertigt, er müsse so scharfe Geschütze auffahren, damit der Ich-Erzähler auch wirklich von seiner blinden Liebe genese, wenn die rhetorische Schärfe gar ausdrücklich als Medizin im Heilungsprozess in Dienst genommen wird, 43 so ist diese Aussage vor dem 40 Vgl. etwa die Redeankündigung des spirito: „[…] io teco mi distendo a ragionare, primieramente da te incominciando […]; e da questo verremo a dire […]; e ultimamente […]“ [178; m. Hervorh.] sowie das häufige Auftreten der Lexeme convenevole und sconvenevole, vgl. [183–185] et passim. — Vgl. auch in Hollanders Schema die Bezeichnung von Abschnitt (5) als „guide’s oration“ (HOLLANDER 1988, S. 3; m. Hervorh.). 41 Vgl. hierzu generell SCHNELL (1998), der darauf verweist, dass lateinische Diatriben auch als rhetorisches Spiel betrieben wurden, bei der Transposition in die Volkssprache allerdings i.d.R. eine Abmilderung erfuhren. 42 Einzelne Passagen des Textes, wie etwa die Beschreibung des laberinto d’Amore zu Beginn des Traumes, bleiben dessen ungeachtet allegorisch deutbar, was im Text selbst bereits anklingt, wenn vom „porcile di Venere“ die Rede ist [93] und die brüllenden Tiere mit Fleischessündern identifiziert werden [124]: Es geht hier also – auch – um eine Abwertung der irdischen Liebe, genauer des amore carnale. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es der spirito selbst ist, der diese allegorische Deutung der labyrinthischen Landschaft vornimmt: Er ist mithin sowohl eine Figur im Traum wie gleichzeitig Deuter des Traumes – eine Ebenenverschränkung, welche letztlich auch die Gültigkeit seiner Deutung des Traumes in Frage stellt, zumindest aber in ihrer Relevanz für das Textverständnis insgesamt relativiert. 43 Interessanterweise thematisiert der Geist selbst seinen Verstoß gegen das aptum-Prinzip (das als solches ungenannt bleibt) und reagiert auf mögliche Vorwürfe gegen seine Drastik mit

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Hintergrund der andersgearteten Motivation der rhetorischen Härte durch ‚Strafvollzug im Jenseits‘ deutlich ambiguisiert. 44 Der Geist jedoch beharrt nachdrücklich darauf, der Erzähler-Protagonist müsse seinen Worten schon gänzlich Glauben schenken, wenn er dem Labyrinth wieder entkommen wolle: „[…] per certo io non sono venuto per nuocerti, ma per trarti di questo luogo, se fede intera presterai alle mie parole“ [87; m. Hervorh.]. Wenn man die – qua Vergeltungsstrafe durch das Gegenteil – per definitionem übertriebene Härte der Invektiven gegen die Frau(en) durch den Geist ansetzt, so müsste dessen Rede in der Rezeption eigentlich auf ein rechtes Maß hinuntergestutzt werden – gerade dies soll offenkundig aber nicht geschehen. Festzuhalten ist an dieser Stelle also zunächst, dass der, nach eigener Aussage von Gott gesandte, Geist als solcher nicht konsistent ist, sondern vielmehr als letztlich weltliche Figur gezeichnet wird und sich zudem als unzuverlässiger Erzähler erweist, dem es hinsichtlich des Wahrheitsanspruchs seiner Rede klar zu misstrauen gilt. 45 Wenn nun aber weder die Traumerzählung insgesamt allegorisch dem Argument der Medizin: „Dei adunque sapere né ogni infermità né ogni infermo potere esser sempre dal discreto medico con odoriferi unguenti medicato, per ciò che assai sono di quelle e di quelli che nol patiscono, e che richeggiono cose fetide, se a salute si vorranno conducere. […] per ciò che più una fetida parola nello ‘ntelletto sdegnoso adopera in una piccola ora che mille piacevoli e oneste persuasioni, per gli orecchi versate nel sordo cuore, non faranno in un gran tempo“ [389–390]. Zu den Implikationen des medizinischen Diskurses s. unten. 44 Und ebenso ambig bleiben folglich sowohl die Läuterung des Geistes, die im Text ausgeblendet bleibt, wie auch die Art der Heilung des Protagonisten: Denn wie kann der Wunsch nach Rache tatsächlich eine Heilung nach christlicher Vorstellung – die ja im Rekurs auf Dante aufgerufen wird – bedeuten? Die Umkehrung von Liebe in Hass, die der spirito vom Erzähler-Protagonisten einfordert, ruft aus dieser Sicht vielmehr ihrerseits nachdrücklich das Gesetz des contrappasso per contrasto auf: „operare il contrario“ [522] und „fare il contrario“ [523], lauten die Formulierungen in diesem Zusammenhang. 45 Seine Darstellung erfolgt auf histoire- wie auch auf discours-Ebene über den Rekurs auf Dantes Divina Commedia und auf weitere zeitgenössisch gültige Jenseitsvorstellungen, die aber in signifikanter Weise abgewandelt werden – wodurch ihre Gültigkeit als sinnstiftende Referenz unterminiert, ja in der Substanz ausgehöhlt wird. Denn der Plot als solcher baut gerade auf mit einzelnen Prätexten wie auch zeitgenössisch geläufigen Diskursen inkompatiblen Abweichungen auf. So steht etwa die Tatsache, dass der Geist dem Erzähler-Protagonisten im Traum erscheint, durchaus in Einklang mit zeitgenössischen Jenseitsvorstellungen, denen gemäß die Seelen von Toten tatsächlich unter bestimmten Auflagen ihren Aufenthaltsort verlassen konnten. Auch Thomas von Aquin äußert sich zu dieser Frage: Ihm zufolge können „[e]rwählte, verdammte und im Fegefeuer büßende Seelen“ den Lebenden erscheinen, um sie, wie Jacques Le Goff resümiert, „zu belehren oder um sie durch die Verdammten und in geringerem Maße auch durch die Seelen aus dem Fegefeuer abzuschrecken (ad terrorem). Die Erwählten können erscheinen, sooft es ihnen beliebt, die übrigen Seelen nur mit Gottes spezieller Erlaubnis“ (LE GOFF 1984, S. 326). Der spirito wäre demnach von Gott geschickt, um den Ich-Erzähler mit seinem eigenen Schicksal, viel mehr aber noch mit seiner Rede und seinem Erfahrungsbericht abzuschrecken und auf den rechten Pfad zurückzuführen. Diese Aufgabe wird jedoch durch die persönliche Befangenheit des spirito und seine eigenen Rachegelüste konterkariert. — Der Geist schildert noch einen weiteren ‚Ausflug‘ aus dem Fegefeuer: So habe er sich in das Haus seiner Witwe begeben und sei dort Zeuge gewesen, wie sich die Witwe gemeinsam mit ihrem Geliebten über den Protagonisten und dessen wer-

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deutbar noch die misogyne Invektive für bare Münze zu nehmen und auch die affichierte Moral problematisch ist, stellt sich die Frage, wie der Text stattdessen zu lesen ist. Auch auf einen puren Perspektivismus scheint er nicht hinauszulaufen, und eine schlichte Parodierung vorgängiger Diskurse und Prätexte hätte wohl keines solchen kompositorischen Aufwandes bedurft. Die bislang vorliegenden Lesarten des Textes vermögen insofern nicht zu überzeugen; selbst die in sich stimmigen Lektüren des Corbaccio als Satire lassen diesbezüglich Fragen offen. 4. Der reinigende Effekt der Fiktion Wie also ließe sich der Corbaccio insgesamt lesen? Zur Beantwortung dieser Frage seien im Folgenden zwei Aspekte fokussiert, die beide im Text auch thematisiert sind: zum einen Lektüreanweisungen, zum anderen wirkungsästhetische Überlegungen. Signifikanterweise wird nämlich das Problem von Fehllektüren im Text selbst explizit zum Thema. Ein besonders sinnfälliges Beispiel ist die Reaktion des Erzähler-Protagonisten auf den einzigen Brief, den er von der Witwe erhielt. Er las ihn als seinem Liebeswerben entsprechend, also in dem von ihm gewünscht-erwarteten Sinne, obwohl eigentlich, wie er selbst anmerkt, alles dagegen sprach – „quantunque ella [i.e. la sua piccola letteretta] con aperte parole niuna cosa al mio amore rispondesse“ – und obwohl der Brief „con parole assai zoticamente composte“ [159] geschrieben und schlecht gereimt war, er also eine aptum-Verletzung seitens der Witwe darstellte und stilistische Brüche enthielt. Der Ich-Erzähler, der die Witwe im Grunde nur vom Hörensagen und aus der Ferne ‚kannte‘, missverstand somit die einzige Botschaft, die ihm direkt von ihr zukam, eben weil er sie für bare Münze nahm. Insofern aber kann die Briefszene aus dieser Sicht als eine mise en abyme des Werkes insgesamt verstanden werden, „[la] sua piccola letteretta“ als Äquivalent zur „[p]iccola mia operetta“ [560], zu seinem eigenen Werk, an das sich der Autor-Erzähler im Epilog direkt wendet. Der Leser, der sich in seiner Lektüre des Corbaccio unter Missachtung von Stil und kompositorischer Anlage nur von seiner durch die ja durchaus aufgerufenen Diskurstraditionen und -konventionen geprägten Erwartungshaltung leiten lässt, wird sich im labirinto testuale verirren. Das Werk ist ihm aus dieser Sicht gerade bende Briefe lustig gemacht habe. Auch dies ist unter bestimmten Voraussetzungen durchaus denkbar: So können etwa nach Augustinus Gespenster – d.h. Verstorbene, um die sich die Angehörigen nach deren Tod nicht genug durch Messen, Gebete oder Almosen sorgten – das Fegefeuer „für kurze Zeit verlassen […], um jenen Lebenden zu erscheinen, die nicht eifrig genug Fürbitte für sie einlegten“ (LE GOFF 1984, S. 103, mit Verweis auf Augustinus, De cura pro mortuis gerenda). Nun ereifert sich der spirito zwar tatsächlich darüber, dass seine Witwe sich nach seinem Tode mehr als nachlässig um sein Seelenheil gekümmert habe (vgl. [431] et passim); in ihr Haus aber begibt er sich aus purer Neugierde und um sie zu belauschen (vgl. [455ff.]). Ganz am Ende, bevor sich die Wege des spirito und des Protagonisten trennen – mit anderen Worten: bevor der Ich-Erzähler aus dem Traum erwacht – bittet der spirito vielmehr diesen darum, für sein Seelenheil zu beten. Hinzu kommt, dass der spirito sich in Widersprüche verstrickt, wenn er einmal sagt, er wisse nicht, wie seine Witwe jetzt aussehe (vgl. [315]), dann aber von seinem ‚Besuch‘ bei ihr berichtet.

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in moralisch-didaktischer Hinsicht ein ebenso unverlässlicher guida wie der Geist dem Ich-Erzähler. 46 Allerdings gilt es zu bedenken, dass der Brief der Witwe innerhalb des fiktionalen Universums als faktualer Text zu fassen ist: Der Protagonist unterliegt mithin in seiner Lektüre einer Täuschung mit Täuschungsabsicht. Demgegenüber ist der Corbaccio als Werk ein fiktionaler Text, liegt in seinem Fall demgemäß eine Täuschung ohne Täuschungsabsicht vor. Von zentraler Bedeutung ist interessanterweise jedoch in beiden Fällen, im Falle des fiktionsinternen Briefes wie auch im Falle des fiktionalen Werkes, dass sie beide ihre Wirkung – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – gerade und nur bzw. allererst dann entfalten, wenn sie ‚beim Wort genommen‘ werden: Das Misstrauen bzw. der ‚Unglaube‘ muss hierfür suspendiert sein, auch wider besseres Wissen – in einem Falle, damit fiktionsintern die Täuschung der Witwe reüssieren kann, und im anderen Falle, damit die (Traum-)Fiktion zur Wirkung gelangen kann. Vorgaben für eine Wirkungsabsicht des Textes finden sich, wie erwähnt, in dem proömialen Vorspann und dem epilogartigen Nachspann, also in den paratextuellen Passagen. So erhebt der Autor-Erzähler bezüglich der Wirkungsabsicht des Werkes in toto im Prolog ja gerade explizit Anspruch auf utilità und gibt vor, Zeugnis ablegen zu wollen von den „benefici ricevuti“ [1]. 47 Von entscheidender Bedeutung ist nun aber, dass das vorliegende Buch, die „piccola mia operetta“, offenkundig nicht identisch ist mit dem Buch, das der Erzähler-Protagonist auf Geheiß des spirito als Rache an der Witwe schreiben soll: Auf jenes wird nämlich ausgangs der Erzählung und damit bereits im Wachzustand als auf ein – möglicherweise – noch zu schreibendes Werk verwiesen. 48 Markiert ist dies durch den unvermittelten Schwenk ins präsentische Erzählen: „E senza fallo, se tempo mi fia conceduto, io spero sì con parole gastigare colei […], che della mia e del mio nome con dolore e con vergogna non si ricordi“ [559]. Nun handelt es sich hier zwar immer noch um einen – abschließenden – Teil der Diegese, aber auch auf der Ebene des äußeren Rahmens, im Epilog nämlich, heißt es entsprechend, die Witwe sei „da pugnere con più aguto stimolo“ [561] als das vorliegende Buch enthalte, an das sich der Autor-Erzähler hier in einer Apostrophe wendet. Nimmt man den vorausgehenden Schwenk ins präsentische Erzählen und diese letzte Aussage im Epilog ernst, so ergibt sich daraus also, dass das vorliegende Buch, Il Corbaccio, fiktionsintern nicht eine in Schriftform gefasste Rache des Erzähler-Protagonisten an der Witwe ist, sondern die Geschichte von ihm erwiesenen ‚Wohltaten‘, mithin die Geschichte einer ‚Heilung‘. Sie umfasst nicht zufällig verschiedene Stationen, im Wach- und im Traumzustand; das rationale Argumentieren allein – sei es unter Berufung auf philosophische Erkenntnisse, sei es im Verweis auf die Rolle fortunas – erzielt offenbar noch nicht die gewünschte Wirkung: Die Gedankengänge im Wachzustand fungieren vielmehr ihrerseits als 46 Ein anderes fiktionsinternes Beispiel für ‚Fehllektüren‘ bieten die identifikatorischen und pornographischen Lektüren der Witwe von höfischen Romanen. Vgl. hierzu USHER 2003. 47 Im Epilog ist entsprechend vom „beneficio da me ricevuto“ [560] die Rede. 48 Auch innerhalb der Traumerzählung wird verschiedentlich eine mögliche ‚Rache‘ an der Witwe durch eine Schrift in Vers- oder Prosaform (vgl. [532] und [535]) durch den ErzählerProtagonisten thematisch.

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Auslöser für den dann folgenden Traum, in dem, laut Aussage des Erzähler-Protagonisten, die „virtù fantastica“ [54] regiert. Auffällig ist, dass der spirito wiederholt auf ein Vokabular aus dem medizinischen Bereich rekurriert, ja, es lässt sich nachgerade eine Isotopie ‚Krankheit und Heilungsprozess‘ identifizieren, dem etwa folgende Lexeme, die alle der Rede des Geistes entnommen sind, zugeordnet werden können: infermità, infermo, medico, medicare, medicina, patire, salute, curare, purgare, guarire. 49 Richtet man das Augenmerk genauer auf die Frage, wie der Erzähler-Protagonist geheilt wird, so verlagert sich der Fokus auf wirkungsästhetische Aspekte. Und eben diese werden auch textimmanent wiederholt thematisiert, so etwa, wenn der spirito die Härte seines Tones respektive die Verwendung des misogynen Diskurses damit begründet, gemessen an der ihm zur Verfügung stehenden Zeit sei dieser Ton schlicht effektvoller: E se alcuna [infermità] n’è che con vocaboli, con argomenti, con demostrazioni puzzolenti purgare e guarire si voglia, il mal concetto amore dall’uomo è una di quelle; per ciò che più una fetida parola nello ‘ntelletto sdegnoso adopera in una piccola ora che mille piacevoli e oneste persuasioni, per gli orecchi versate nel sordo cuore, non faranno in un gran tempo. [390]

Der noch mehrfach wiederholte Hinweis des spirito auf die Begrenzung der ihm zur Verfügung stehenden Redezeit 50 impliziert auf einer metatextuellen Ebene den der Erzählung faktisch zur Verfügung stehenden, begrenzten bzw. gerahmten Erzählraum, nämlich die konkrete Länge der in den Corbaccio als Textganzes eingebetteten Traumerzählung. Hier findet eine deutliche Verschränkung der Ebenen von histoire und discours, mithin von Geschichte und Geschichten-Erzählen statt. Das Faktum begrenzter Redezeit ist auf histoire-Ebene nämlich ganz konkret dem Umstand geschuldet, dass es sich hier um eine Traumsituation handelt, umrahmt durch den Vorgang des Einschlafens und Erwachens des Protagonisten. Verweise auf den nahenden Morgen signalisieren somit nicht nur das nahe Erwachen, sondern auch das nahe Ende der (Traum-)Erzählung. 51 Ganz deutlich wird diese Verschränkung und die damit einhergehende Thematisierung der textuellen Rahmung in einer Szene gegen Ende der Traumerzählung, die einen deutlich selbstreflexiv-humoristischen Nebeneffekt hat: In dieser, bereits angesprochenen, 49 „Dei adunque sapere né ogni infermità né ogni infermo potere esser sempre dal discreto medico con odoriferi unguenti medicato, per ciò che assai sono di quelle e di quelli che nol patiscono, e che richeggiono cose fetide, se a salute si vorranno conducere“ [389]; „[…] per ciò che contraria medicina sarebbe alla infermità la quale io son venuto a curare“ [348]; „[…] a dover venire a medicarti di quel male al quale radissime medicine trovar si sogliono“ [541] et passim. — Vgl. auch Smarr, die vom liebeskranken Erzähler spricht und auf Bezüge zu Ovids Remedia amoris verweist (SMARR 1986, S. 156 et passim). 50 Ein Umstand, dem er seine Ausführungen durch Raffung, Selektion und Stil anzupassen sucht; vgl. die Häufung entsprechender Formulierungen: „se tempo ne fia prestato“ [178]; „Se ‘l tempo nel concedesse […]“ [239]; „Se io volessi ogni cosa contare, oppure le più notabili de’ suoi fatti, e’ non ci basterebbe il tempo“ [384]. 51 Auf eben diesen situativen Kontext rekurriert der Geist auch in der Rechtfertigung der Drastik seiner Wortwahl (vgl. Zitat oben im Fließtext [390]).

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Szene, die in Anlehnung an Dantes Purgatorio gestaltet ist, gehen Geist und Protagonist dem Licht entgegen, ein lichtdurchfluteter Pfad weist ihnen den Weg aus dem dunklen Labyrinth hin zur göttlichen Gnade, zu einem Berg, von dem aus der Protagonist den offenen Himmel zu sehen vermeint. In dem Augenblick aber, als er sich voller Dankbarkeit auf die Knie werfen will, verschwindet alles – er wacht auf, und das Traumbild fällt in sich zusammen: „esso [= lo spirito] e il mio sonno ad un’ora si dipartiro“ [554]. Die „nuova luce che par levarsi [nell’oriente]“ [544], auf die der Geist zuvor hingewiesen hatte, fällt hier also zusammen mit der aufgehenden Sonne, die den Erzähler-Protagonisten weckt – und wenn die Stunde seiner Befreiung naht, 52 so ist dies zugleich als Verweis auf das Traumende zu lesen. 53 Das göttliche Licht in der Traumerzählung ist somit auch die aufgehende Sonne in der den Traum einrahmenden Erzählung; der Aufstieg ins Purgatorio ist auch der Ausstieg aus dem Traum durch Erwachen. Diese Verschränkung zweier Erzählschichten hat einen doppelten Effekt: Auf histoire-Ebene stellt sich die (Er-)Lösung als dem Zufall unterworfen dar, insofern sie mit dem Erwachen koinzidiert – dass solch kontingente Lösungen den Blick auf die poetische Konstruktion des jeweiligen Textes lenken, hat Walter Haug bereits am Beispiel Chrétien de Troyes verdeutlicht; 54 und auf genau dieser Ebene der Komposition des Corbaccio als einer schriftlich verfassten Erzählung markiert die Koinzidenz nachdrücklich die Verschachtelung der verschiedenen Erzählebenen innerhalb des Corbaccio. Der Zeitfaktor wirkt hier demnach als strukturierendes Prinzip, die Verfasstheit von Rede und Erzählung des Geistes wird mithin als unmittelbar von der Traumkonstellation und damit zugleich von der mehrfachen Ebenengliederung des Textes selbst abhängig markiert. Über diese metatextuellen Signale wird letztlich konkret auf die Verfasstheit des Corbaccio insgesamt als Produkt eines Autors, als Werk aus der Feder Boccaccios verwiesen. 55 Dieses Verfahren lässt sich nun aber auch als Signal verstehen, die Frage nach der Glaubwürdigkeit, dem Wahrheitsanspruch und dem ‚Nutzen‘ der Erzählung nur unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Struktur und textuellen Rahmung zu beantworten. Vor diesem Hintergrund erscheint schließlich auch das bereits zitierte Beharren des spirito darauf, der Erzähler-Protagonist müsse seinen Worten schon gänzlich Glauben 52 „Ma s’io non erro, l’ora della tua diliberazione s’avvicina“ [544; m. Hervorh.], waren die Worte des Geistes. 53 Vgl. verschiedentliche Anspielungen auf diese Ambivalenz des aufgehenden Lichtes mit Ironieverdacht: „parvemi veder surgere a poco a poco di sopra alle montagne un lume, non altrimenti che avanti la venuta del sole si leva nell’oriente l’aurora“ [545; m. Hervorh.]; und während des Aufstiegs erscheint im Rückblick das Tal wie die – nächtliche – Hölle, „una cosa profonda infino in inferno, oscura e piena di notte e di dolorosi rammarichii“ [553; m. Hervorh.]. 54 Vgl. HAUG 2003. 55 Vgl. auch die intratextuellen Verweise auf vorausgegangene Werke Boccaccios sowie eine Anspielung auf den Frauenkatalog De claris mulieribus von Anfang der 1360er Jahre: „[…] in sul ragionare delle valorose donne venimmo; e prima avendo molte cose dette delle antiche, quale in castità, quale in magnanimità, quale in corporal fortezza lodando, condiscendemmo alle moderne“ [134; m. Hervorh.].

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schenken, wenn er dem Labyrinth wieder entkommen wolle – „[…] per certo io non sono venuto per nuocerti, ma per trarti di questo luogo, se fede intera presterai alle mie parole“ [87], hieß es – in einem anderen Licht: Der Erzähler-Protagonist ist sich nämlich im Grunde sehr wohl bewusst, dass üble Nachrede auf den Redner selbst zurückfällt, hatte er sich doch – wie er dem spirito, d.h. im Traum, berichtet – seinerseits dagegen entschieden, schlecht über die Witwe zu reden, auch wenn ihm dies Genugtuung bereitet hätte: „[…] pure alcuna scintilletta di ragione, dimostrandomi che molto maggiore vergogna a me, ciò faccendo, acquisterei che a lei, da tale impresa, non poco ma molto turbato, mi ritenne, e a quella ira e disordinato appetito, di che tu mi domandi, m’indusse“ [175]. 56 Die Konsequenz seiner Entscheidung, die aptum-Regeln zu befolgen, ist hier gleich mitformuliert: „ira e disordinato appetito“ – die ‚Heilung‘ steht demnach zu diesem Zeitpunkt noch aus. Trotz dieses Wissens schenkt er also später dem spirito Glauben, und zwar „fede intera“, insofern er glaubt, der Geist mache mit seinen misogynen Ausfällen eine Aussage über die Witwe, nicht aber über sich selbst. In diesem ‚Glauben wider besseres Wissen‘ als Voraussetzung für die Entfaltung der heilenden Wirkung der Erzählung des spirito auf den Erzähler-Protagonisten in seiner Rolle als Rezipient eben dieser Erzählung wird hier eine vormoderne Form von suspension of disbelief textintern vorgeführt, wobei die Traumsituation gewissermaßen die Lizenz zur Fiktion liefert. Eine willing suspension of disbelief kann hingegen wohl erst der reale, wache Leser des Corbaccio vollziehen, wenn er sich gerade im Wissen um die Gemachtheit des Textes und um den auf den fiktionalen Erzählrahmen begrenzten Geltungsanspruch seiner Aussagen auf die Erzählung einlässt. 57 An welche Leser aber ist hier gedacht? Hören wir ein letztes Mal die Stimme des Autor-Erzählers im Epilog: Piccola mia operetta, venuto è il tuo fine e da dare è omai riposo alla mano; e perciò ingegnera’ ti d’essere utile a coloro, e massimamente a’ giovani, li quali con gli occhi chiusi, per li non sicuri luoghi, troppo di sé fidandosi, sanza guida si mettono; e del beneficio da me ricevuto dalla Genitrice della nostra salute sarai testimonio. [560]

Sind es – auf Plot-Ebene – die jungen Leute, die noch nicht um die Gefahren und Fehler der irdischen Liebe wissen („con gli occhi chiusi“), sich im Liebeslabyrinth verirren („per li non sicuri luoghi“), naiv („troppo di sé fidandosi“) und ohne einen guten Geist als guida („sanza guida si mettono“)? Oder sind es nicht (auch) – auf einer Metaebene – die Schlafenden („con gli occhi chiusi“), die träumen („per li non sicuri luoghi“) und dem Traum resp. der Traumerzählung Glauben schenken („troppo di sé fidandosi“), ohne ein Buch („sanza guida“), das die 56 Die Stelle in Gänze: „Io dirò il vero: questo m’indusse a tanta indegnazione d’animo, che io fui alcuna volta assai vicino ad usare parole che poco onore di lei sarieno state; ma pure alcuna scintilletta di ragione, dimostrandomi che molto maggiore vergogna a me, ciò faccendo, acquisterei che a lei, da tale impresa, non poco ma molto turbato, mi ritenne, e a quella ira e disordinato appetito, di che tu mi domandi, m’indusse — “ [175]. 57 Zu Vorformulierungen eines Fiktionskontrakts im Cinquecento vgl. HEMPFER 1987, S. 177ff. u. bes. S. 183.

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Doppeldeutigkeit von Aussagen und die Mechanismen von Diskursen, mithin den fiktionalen Charakter von (Traum-)Erzählungen offenlegt und dem sie dennoch Glauben schenken (müssen), damit es seine Wirkung nicht verfehlt? In dieser Passage werden demnach unterschiedliche Lesarten enggeführt: Die wörtliche Bedeutung verweist auf einen ihr unterliegenden moralisch-allegorischen Sinn, dem hier eine zusätzliche metanarrative Deutungsebene beigeordnet ist. In gewisser Hinsicht ließe sich also der fiktiven Gestalt des spirito, die sich dadurch auszeichnet, dass sie fiktionsintern zugleich Traumfigur und Traumdeuter ist, 58 die Gestalt eines Lesers gegenüberstellen, dem die Aufgabe obliegt, sowohl das Traumgeschehen als auch die Erzählstruktur zu deuten. Zugleich wird hier im Epilog ganz deutlich der Bogen zurück zum Proöm geschlagen: Erneut wird auf den Nutzen, die utilità, des Werkes verwiesen, erneut werden auch die „benefici ricevuti“ aus dem Proöm aufgegriffen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zu Gehalt und Struktur des Werkes dient der Rekurs auf die Mutter Gottes an dieser Stelle wohl eher dazu, paratextuellen Konventionen Genüge zu leisten: Von christlicher Heilslehre kündete der spirito jedenfalls nicht. Die eigentliche Wohltäterin ist vielmehr ganz offensichtlich die Fiktion selbst. Von Liebe und Liebesleid ist im Epilog keine Rede mehr, und so ließe sich der „beneficio […] ricevuto“ dergestalt als Wirkung der Fiktion qua Fiktion verstehen, wobei – und dies ist von zentraler Bedeutung für die hier vorgestellte Lektüre – das affichierte Nach-Erzählen einer Begebenheit und der Erzählakt als solcher hier deutlich ineinandergreifen. Diese performativ vollzogene heilende Wirkung der Fiktion ruft nun den Tragödiensatz des Aristoteles auf, der Boccaccio in der frühen lateinischen Übersetzung der Poetik zugänglich gewesen sein kann; 59 erkennbar wird hier ein Verständnis der Katharsis im Sinne der medizinisch-therapeutischen Deutungstradition. 60 Aristoteles postuliert in seiner Poetik bekanntermaßen den kathartischen Wirkungseffekt im Sinne „emotionale[r] Erregungs- und Entladungsprozesse“ als Zweck der Dichtung. 61 Die Tragödie, bzw. analog die Prosa-Fiktion, ermöglicht es dem Menschen, wie Joachim Küpper formuliert hat, „Lust [zu] empfinden im Erleben von Emotionen, die uns ansonsten nur im Kontext des Schmerzhaft-Unlustvollen begegnen und die wir aufgrund ihrer Heftigkeit ansonsten als zivilisierte Menschen mehr oder weniger

58 Vgl. hierzu oben, Anmerkung 42. 59 Aristoteles’ Poetik lag bereits 1278 in einer lateinischen Übersetzung (aus dem griechischen Original) von Wilhelm von Moerbeke vor. Zur Kenntnis Boccaccios der Poetik (über Petrarcas Invective contra medicum) vgl. CAZALÉ BÉRARD 1998. 60 Hierauf verweist auch die oben herausgearbeitete Isotopie ‚Krankheit und Heilungsprozess‘ in der Rede des spirito. Zur medizinischen Deutungstradition des Katharsis-Konzepts vgl. FLASHAR 1991 und WAGNER 1991. — Gewiss steht die genannte Isotopie dabei im Einklang mit den Remedia amoris des Ovid, und auch bezüglich der Rede des spirito ließen sich leicht Bezüge zu diesen herausarbeiten (vgl. hierzu SMARR 1986, S. 163). Für die metanarrative Reflexionsebene aber ist nun gerade das Katharsis-Verständnis relevant. 61 FUHRMANN 2003, S. 110.

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nachhaltig zu kontrollieren, wenn nicht komplett zu unterdrücken pflegen“. 62 Diese Charakterisierung des Konnexes von Affekt und Katharsis im aristotelischen Tragödienkonzept mutet wie eine Beschreibung dessen an, was der Erzähler-Protagonist im Corbaccio durchlebt: Sein anfänglicher Verzicht, sich an der Witwe durch üble Nachrede zu rächen, hatte dem Aufkeimen von Zorn und heftiger Erregung, „ira e disordinato appetito“ [175], in ihm Raum geboten – durch das (Mit-)Erleben der betont heftigen, gegen aptum-Regeln verstoßenden und als Heilmittel deklarierten misogynen Schmähreden des spirito schwinden diese negativen Affekte gemeinsam mit dem Traum bzw. mit dem Ende der Traumerzählung, denn beides greift ja ineinander. 63 Der Erzähler-Protagonist erwacht „tutto di sudore bagnato“ aus dem Traum und fühlt sich, als habe er „col vero corpo“ [555] den Berg bestiegen; seinem physischen und psychischen Befinden nach handelte es sich also bei seinem Traumerlebnis um eine ‚reale‘ Erfahrung, war die Täuschung mithin perfekt. Innerhalb der Traumerzählung qua Fiktion ist mithin weit mehr convenevole als außerhalb dieses Erzählrahmens und zumal wirkungsästhetischen Überlegungen untergeordnet. 64 Aus dieser Sicht ist signifikant, wie der Erzähler-Protagonist selbst den Wahrheitsgehalt seines Traumes bewertet; als Beleg für eben diesen verweist er nämlich unmittelbar auf dessen Wirkung: So habe ihn der Traum in die Lage versetzt, aus dem ‚armseligen Tal‘ herauszufinden, 65 und auch die Freunde, die er im Nachhinein befragt, stimmen ihm darin zu und ergänzen, der Traum habe ihn dazu befähigt, der frevelhaften Liebe zur Witwe zu entkommen. 66 Insistiert wird hier darauf, in welche Lage der ErzählerProtagonist durch den Traum – und d.h. eben maßgeblich durch die in sich durchaus unstimmige Rede und Erzählung des spirito – versetzt wurde, und die Konsequenz daraus ist, dass er binnen weniger Tage seine „perduta libertà“ wieder-

62 KÜPPER 2006, S. 29. — In diesem Zusammenhang erhält der wiederholte Verweis auf das Lachen – seitens des spirito (vgl. [79; 123]) wie auch seitens des Erzähler-Protagonisten (vgl. [316]) – im Traum seine spezifische Relevanz. 63 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im 19. Kapitel der Poetik des Aristoteles, dem Kapitel zur Gedankenführung, u.a. „das Hervorrufen von Erregungszuständen, wie von Jammer oder Schaudern oder Zorn und dergleichen mehr“ angeführt ist (ARISTOTELES 1982, S. 61; m. Hervorh.); neben eleos und phobos wird hier also auch orgäs, der Zorn, explizit genannt. 64 Aus psychoanalytischer Sicht wäre der Traum wohl auch als Wunscherfüllung deutbar; als Teil der Fiktion erfüllt die verschriftlichte Traumerzählung also insgesamt eine affektreinigende Funktion: Der Erzähler-Protagonist erscheint am Ende auf der Ebene des Epilogs, mithin auf der Schwelle zur außerliterarischen Wirklichkeit, als sowohl von seiner fehlgeleiteten Liebe als auch – und das zielt weit stärker auf die Katharsis im aristotelischen Verständnis – von seiner Wut und Erregung geheilt, und zwar eben durch die erregte, nach aptum-Regeln unangemessen harte Rede des spirito. — Dieses Katharsis-Konzept steht somit weit eher in der medizinisch-therapeutischen Tradition der Begriffsauslegung denn in der ethischen, die auf der Bestimmung der Tugend als Mitte von Extremen basiert, wie Aristoteles dies in der Nikomachischen Ethik entwickelt. 65 „Per la qual cosa, non altrimenti che spirato da Dio, a dovere con effetto della misera valle uscire mi dispuosi“ [556]. 66 „[…] del tutto a dipartirmi dal nefario amore della scellerata femmina mi dispuosi“ [557].

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erlangt. Es geht also um eine veränderte ‚Disposition‘, und diese Wirkung hält offenbar an. 67 Vor dem Hintergrund dessen, dass die misera valle, das laberinto d’amore fiktionsintern auch als Allegorie für die falsche, dem Irdischen allzu verhaftete Liebe des Protagonisten steht, ließe sich aus diesen Aussagen zunächst schlussfolgern, hier stehe seine moralische Errettung im Vordergrund. Berücksichtigt man jedoch, dass der Protagonist von seinen Rachegedanken keineswegs vollständig geheilt ist, so lassen sich die angeführten Argumente auch anders deuten: Der Traum bzw. die fiktionale Traumerzählung als autonom gesetzter Erfahrungsraum eigenen Wertes erhebt einen Wahrheitsanspruch eigenen Rechts, der sich zentral über die erzielte Wirkung bemisst. Eben diese Wirkung ist hier eine „wohltuende Reinigung und Erleichterung“, 68 die den Protagonisten in die Lage versetzt, seine unglückliche, falsche Liebe hinter sich zu lassen. Sein Liebesleid flammte im Traum noch einmal auf, und er erfuhr die Schrecken des Liebeslabyrinths – und er erwacht von eben jenem Jammer und Schrecken gereinigt, mit einem „Gefühl der Erleichterung und Befreiung“. 69 Und auch wenn seine Rachegedanken noch präsent gehalten werden, so ist zum einen das Affektpotential auch diesbezüglich gedämpft, und zum anderen ist die Umsetzung keine dringliche Angelegenheit mehr; sie wird vielmehr in eine ungewisse Zukunft verschoben. 70 67 Zu verweisen ist hier auf die wiederholte Formulierung „ […] mi dispuosi“ (vgl. Anm. 64 und 65) sowie deren Wiederaufnahme in „[la] qual disposizione“ [558]. Diese Disposition impliziert, dass der Protagonist von seiner falschen Liebe genesen ist – und um eben diese Wirkung zu erzielen, sind in der Fiktion offenbar alle Mittel recht. — Hinzuweisen ist schließlich noch darauf, dass an einer Stelle innerhalb der Traumerzählung die generelle Wirkungsmacht dichterischer Fiktion thematisch wird: So argumentiert der spirito, auch unabhängig vom Wahrheitsgehalt erziele Dichtung große Wirkung (vgl. [527 f.]), und der Erzähler-Protagonist bestimmt in seiner Reaktion darauf Dichtung als „le parole artificialmente dette“, denen „forza o virtù“ eigne [532]. 68 ARISTOTELES 1981, S. 298 (Politik, 8. Buch, 7. Kap., 1342 a). 69 Mit diesen Worten resümiert Wagner die Deutung der Katharsis bei Aristoteles durch Bernay (WAGNER 1991, S. 424). — In dieser Lesart sind die aristotelischen Begriffe ‚phobos‘ und ‚eleos‘ also mit Schadewaldt als ‚Jammer‘ und ‚Schrecken‘, nicht aber, wie in der Traditionslinie Lessings mit moralischem Impetus, als ‚Furcht‘ und ‚Mitleid‘ zu übersetzen. Vgl. die Zusammenschau der unterschiedlichen Traditionslinien in WAGNER 1991. 70 Zwei Anmerkungen sind hierzu zu machen: Zum einen ließe sich das – wenngleich gemäßigte – Aufrechterhalten der Rachegedanken damit erklären, dass schlicht ein soziales Gleichgewicht wiederherzustellen ist. Bedenkt man, dass der Witwe aus dieser Sicht eine Kränkung des Protagonisten gar nicht ‚zukam‘, so steht dieser gewissermaßen in der Pflicht. Verwiesen sei diesbezüglich auch auf die Definition des Zornes in der Rhetorik des Aristoteles: „Es sei also Zorn ein mit Schmerz verbundenes Trachten nach dem, was uns als Rache für das erscheint, worin wir eine Kränkung unserer selbst oder eines der unsrigen erblicken von jemandem, dem das Kränken nicht zukommt“ (ARISTOTELES 1987, S. 85 [1378a]). Dass der Protagonist also zwar von seiner Liebe zur Witwe genesen ist, nicht aber von jeglichem Gedanken an Rache, steht in keinem Widerspruch zueinander; entscheidend ist vielmehr die ‚Heilung‘ seiner Affekte, die sich nicht zuletzt eben auch in einer deutlichen Mäßigung seiner Rachegedanken äußert. — Zum anderen aber liegt der Clou des Corbaccio nun gerade darin, dass die in ihm enthaltenen misogynen und misogamen Invektiven zwar an die fiktive Traumkonstellation gekoppelt und an wirkungsästhetische Kriterien rückzubinden sind – ihrer

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Festzuhalten ist abschließend zweierlei: Die metanarrative Dimension der Traumerzählung im Corbaccio, wie sie hier herausgearbeitet wurde, belegt einmal mehr die These von Klaus W. Hempfer, dass narrativen Texten, im Unterschied zu dramatischen, „ein potentielles Reflexionsmoment in die Kommunikationsstruktur […] eingeschrieben“ ist. 71 Der Corbaccio ist insofern ein recht frühes Beispiel dafür, dass der narrative Diskurs „den Vermittlungsprozeß selbst zu seinem Gegenstand“ macht, 72 und zwar in diesem Falle implizit. Dieses autoreflexive Moment fungiert dabei als Indikator für eine spezifische Sicht auf Struktur und Funktion der Fiktion. Und eben damit geht Boccaccio zugleich über die von ihm in den Genealogie zur Verteidigung der Dichtung explizit formulierte These hinaus: Die dichterische Fiktion ist hier, im Corbaccio, nicht länger nur funktional legitimiert als Vehikel einer Wahrheit, die unter ihrer Erzählrinde verborgen wäre, oder als Vehikel eines moralischen Anspruchs im engeren Sinne; sie ist vielmehr autonom gesetzt. Den Zweck, der hier als zentral für die Fiktion herausgestellt ist – die „mit Lust verbundene Katharsis“, 73 eine Entladung der Affekte, die sich nach aristotelischem Verständnis auf Intellekt und Gefühle bezieht –, kann die Dichtung nun jedoch nur auf der Basis eines – hier vorformulierten und im Ergebnis zugleich performativ vorgeführten – Fiktionskontraktes erfüllen, wenn sich der Hörer bzw. der Leser nämlich wider besseres Wissen ganz auf sie einlässt. In den Worten des spirito, der damit als Sinnbild der Fiktion angesehen werden könnte: … se fede intera presterai alle mie parole. Auch die Absage an den diletto, wie sie im Prolog über die explizite Ellipse markiert war („utilità e consolazione […] e altro no“ [5]), erweist sich vor diesem Hintergrund im Rückblick mithin als nur vorgeblich.

Vehemenz tut das jedoch keinen Abbruch: Die Invektiven verlieren de facto auch für den ‚realen‘ Leser nichts von ihrer Drastik und Härte. Damit aber wäre der Corbaccio also letztlich auch durchaus als anonyme ‚Rache‘ verwertbar, und zwar gerade im Widerspruch zu den expliziten Äußerungen im Text. — Ganz Ähnliches gilt im Grunde auch für die moralischallegorische Lesart mancher Passagen und die Diskussion um das richtige Liebeskonzept: Beides ist in Teilen ansetzbar, obwohl der Text insgesamt ihre Relevanz für die Stoßrichtung des Werkes erzähltechnisch ‚aushebelt‘. 71 HEMPFER 2002, S. 87. Vgl. zu diesem Punkt auch die theoretische Diskussion im Beitrag von Irina Rajewsky in diesem Band. 72 HEMPFER 2002, ebd. 73 FUHRMANN 2003, S. 101.

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‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘ als Probleme der Programmatik in der spanischen Renaissance-Epik ROGER FRIEDLEIN 0. Die zeithistorische Epik in der Iberoromania Nimmt man die Resultate des Kanonisierungsprozesses zum Maßstab, so hat sich in der Renaissance-Epik der Iberoromania in auffälliger Weise ein episches Modell durchgesetzt, das sich vom italienischen romanzo in seiner Programmatik wie auch in deren Umsetzung distanziert. Die Grundlage dieser Distanzierungsanstrengung in der Iberoromania bildet mit den Begriffspaaren verdad vs. fábula oder auch verdad vs. poéticas ficciones eine Opposition, die in der zeitgenössischen Poetik, deren Beispiele in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ganz überwiegend aus Italien stammen, nicht in derselben Ausschließlichkeit auftritt. Die theoretische Debatte um das Epos in Italien ist am Paradigma des Orlando furioso seit den Diskrepanten Lektüren umfassend aufgearbeitet und zur Renaissancepoetik liegen, auch im Hinblick auf den Fiktionsbegriff, bereits einige einschlägige Beiträge vor. 1 Demgegenüber ist die entsprechende Aufarbeitung für den iberoromanischen Raum noch weniger weit fortgeschritten, was die Kenntnis sowohl der Epik 2 und ihrer Programmatik als auch die Kenntnis der zeitgenössischen Poetologie 3 betrifft. Tatsache ist jedoch, dass in den kanonisch gewordenen Beispielen der iberoromanischen Epik das Ariost’sche Modell programmatisch der Erfundenheit seines Stoffes wegen abgewertet wird und dem Vorhaben einer ‚wahren‘ Epik Platz machen muss, die es sich zum Ziel setzt, durch die Episierung zeitaktueller Ereignisse das italienische Modell zu nationalisieren und es durch die überlegene Heroik ihrer wahren Ereignissubstrate gelegentlich zu übertreffen. Es stellt sich daher die Frage, wie der Gegensatz zwischen Wahrheit und Fiktion in diesen Beispielen im Einzelnen verstanden wird und vor allem, wie diese prokla-

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Zur Theoriedebatte am Beispiel der Rezeption des Orlando furioso vgl. HEMPFER 1987 sowie zum Fiktionsbegriff in der Renaissancepoetik KABLITZ 1989. Eine umfassende thematische Aufarbeitung der zeitgenössischen Poetik in Italien leistet KAPPL 2006 (insbes. S. 71–169 zum Fiktionsbegriff). An die Arbeiten zum iberoromanischen Renaissance-Epos von FIGUEIREDO (1950), PIERCE (1961) und CHEVALIER (1966) schließen heute an: Hélio ALVES (Évora), José LARA GARRIDO (Málaga) und Lara VILÀ (Barcelona); vgl. Literaturverzeichnis. Nach den Beiträgen von Alberto PORQUERAS MAYO und Karl KOHUT zur spanischen Renaissancepoetik vgl. nunmehr auch das Projekt ‚Mimesi‘ unter der Leitung von Josep Solervicens (Barcelona); http://stel.ub.edu/mimesi/index.php.

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mierte ‚wahre‘ Epik mit den Problemen umgeht, vor die sie sich als ‚Dichtung ohne Fiktion‘ selber stellt. Voranzustellen ist hier die Präzisierung, dass das iberoromanische Epos keineswegs allein aus der Ablehnung des Orlando furioso entsteht – vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Die ersten Renaissance-Epen, die auf der Iberischen Halbinsel seit den 1550er Jahren entstehen, lehnen sich eng an die italienische Orlando-Epik an. Sie präsentieren sich ausdrücklich als Fortsetzungen des Orlando furioso, in denen das Spektrum der Protagonisten um spanische Figuren erweitert wird, der Handlungsschwerpunkt auf die Iberische Halbinsel verlegt wird (was durch Karls des Großen Spanienfeldzug und die Roncesvalles-Schlacht leicht zu motivieren war) und die Handlungskonstellationen der aktuellen politischen Lage angepasst werden, die eine prononcierte Stellungnahme gegen die französische Monarchie notwendig machte: Nicolás Espinosas La segunda parte de Orlando und Francisco Garrido de Villenas El verdadero suceso de Roncesvalles (beide 1555) 4 enden jeweils mit dem Sieg des als ‚neuen‘ spanischen Zentralheros lancierten Bernardo del Carpio, der den als ‚französisch‘ wahrgenommenen Karl den Großen bei Roncesvalles in die Flucht schlägt. Der bloßen Nationalisierung der Stoffe in dieser Anfangsphase iberoromanischer Renaissance-Epik wurde jedoch bald das erwähnte eigene Eposmodell an die Seite gestellt. Für dieses Modell stehen mit Alonso Ercilla y Zúñigas La Araucana und Luís de Camões’ Os Lusíadas zwei Texte, die schon in der zeitgenössischen Rezeption sowohl stofflich als auch konzeptionell und auflagenökonomisch umgehend als ‚Nationalepen‘ akzeptiert wurden und sich diesen Status in der anschließenden Kanonbildung auch erhalten konnten. Von diesen Epen der ultramarinen Expansion Spaniens in Westindien bzw. Portugals in Ostindien und dem Ausgangspunkt ihrer Programmatik sowie dem Problem, das diese aufwirft, soll daher hier die Rede sein. Die ÜberseeExpansion ist allerdings keineswegs das einzige und nicht einmal das zunächst vorherrschende Thema spanischer Epik auf zeithistorischer Basis. Vielmehr wurden in den ‚Caroleen‘, wie sie Friedrich Bouterwek 1804 nannte, 5 also in Jeroni Semperes La Carolea (1560) oder Luis Zapatas Carlo famoso (1566) sowie in verwandten Texten zunächst die Herrschaft von Karl V. und seinem Sohn Philipp II. sowie insbesondere die militärischen Auseinandersetzungen mit den Osmanen – die Stichworte lauten Rhodos, Malta, La Golette und Lepanto – als episierbare Stoffe erkannt: Spanische Epen, die in irgendeiner Derivationsform ‚Carolus‘ im Titel führen, beziehen sich daher immer auf den Habsburgerkaiser Karl V. und niemals auf Karl den Großen, auch wenn sie, wie Zapatas Carlo famoso, mit die-

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Ich verwende orthographisch normalisierte Kurztitel; für ausf. Titelangaben vgl. die Primärbibliographie am Ende des Beitrags. Als Zitiergrundlage dienen überall dort die frühneuzeitlichen Drucke, wo keine modernen Ausgaben vorhanden sind. Letztere sind in der Primärbibliographie als eigene Einträge aufgeführt. Zitatübersetzungen stammen alle von mir. Vgl. BOUTERWEK 1804, S. 264.

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ser Assoziation spielen mögen. Amerika-Epen 6 wie Ercillas letztlich dominant gewordene La Araucana bilden in diesem Zusammenhang einen besonderen, thematisch etwas entfernten Zweig dieser Epik, die um den spanischen Habsburgerhof entsteht. Beispiele hierfür kommen im Übrigen mit der Einverleibung Portugals in Philipps II. gesamtiberische Monarchie seit 1580 auch von portugiesischen Dichtern: 7 Seien diese eindeutig auf Seiten der philippistischen Partei in Portugal situiert, wie im Falle von Jerónimo Corte-Real und seiner spanischsprachigen Felicísima victoria de Lepanto, sei es seitens eines Autors wie Duarte Dias: Ihm gelingt in La Conquista de Granada die Zusammenführung der Eroberung Granadas durch die spanischen Katholischen Könige mit den Taten der portugiesischen Indienhelden in einem spanischsprachigen Epos mit Hilfe der etwas prekären Lösung eines Traums des Erzählers. 8 Es wird aber auch die muttersprachliche Epentradition in Portugal aufrechterhalten: So gelingt es Luís Pereira Brandão, im Jahre 1588 in portugiesischer Sprache ein Epos auf Dom Sebastião unter dem Titel Elegíada mit einer Widmung an den habsburgischen Gouverneur Portugals zu veröffentlichen. Für Portugal ist dabei viel eindeutiger noch als für Spanien, dass mit dem Erscheinen von Os Lusíadas 1571 die Epen bis in das 17. Jahrhundert hinein durch das Modell des zeithistorischen Epos bestimmt sind. Im Übrigen deutet sich die Maxime der Zeithistorie im Epos auch für den katalanischen Sprachraum an, dessen Autoren keine muttersprachliche Epostradition gebildet haben: Das einzige Beispiel in katalanischer Sprache, Joan Pujols unter dem Titel Lepant bekanntes Epyllion La singular i admirable victòria (Barcelona 1573), bleibt jedoch immerhin deshalb bemerkenswert, weil es die früheste epische Bearbeitung des Lepantostoffs darstellt, der in der Folge so zentral werden sollte. Die Renaissance-Epik aus dem katalanischen Sprachraum, als deren herausragendes Beispiel das Montserrat-Epos von Cristóbal de Virués gelten muss, entsteht dagegen in spanischer Sprache, und zwar insbesondere im Raum von València. 9 Neben den Bearbeitungen aus dem Orlandokreis sowie der zeitgeschichtlichen Epik sind in der Konstitutionsphase der iberoromanischen Epik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weniger zahlreich auch solche Epen vorhanden, die auf ältere Stoffe aus dem iberischen Mittelalter der Reconquista oder dem iberisch-römischen Altertum zurückgreifen. Dazu kommt schließlich eine beträchtli6 7 8

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SIMSON 2003 situiert vor einem breiten Theoriehintergrund die Amerika-Epen als eigene Gattung in einer Skala zwischen Historiographie und Fiktion. Vgl. CIDADE 1956. Alonso de Ercilla y Zúñiga, dem die Begutachtung des Textes zum Druck oblag, ist der Konflikt keineswegs entgangen, was aus seiner Formulierung spricht, „Duarte Dias autor merece bien la merced que pide, pues siendo Portugues se ha podido vencer assi mismo, poniendo su cuydado y trabajo en alabança de los Castellanos“ (Duarte Dias, Conquista de Granada, aprovacion). Die unterschiedlichen ideologischen Optionen, die in der Epik aus den peripheren Gebieten des Habsburgerimperiums auf der Iberischen Halbinsel – Navarra, Portugal, Katalonien und València – sowie außerhalb von ihr gewählt wurden, wurden meines Wissens bislang nicht systematisch vergleichend in den Blick genommen.

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che Anzahl sakraler Langgedichte. Sie decken eine Spannbreite ab, die von starker Anlehnung an das Modell der historischen Epik bis hin zu Gedichten reicht, die mit diesen Modellen nur noch ihren Umfang gemeinsam haben. Gleichermaßen reicht auch bei den sakralen Epen die Palette vom alttestamentlichen Bibelepos bis hin zur zeitgenössischen hagiographischen Epik. Der Status vieler sakralepischer Gedichte als ‚Epos‘ wäre allerdings in einigen Fällen zu problematisieren, so dass sie hier ausgeklammert bleiben. 1. Proömiale Programmatiken in iberischen Renaissance-Epen Eine beachtliche Anzahl der hispanischen Epen weist Aussagen zur poetischen Programmatik der Gedichte auf, 10 sei es in paratextuellen Leserprologen oder in den epischen Proömien, 11 die bereits zum Haupttext gehören – in diesem Falle sind zumeist gleich die Eingangsstrophe mit der epischen Propositio sowie die unmittelbar anschließenden Strophen der Ort für solche Aussagen. Hier wie auch in der Prosa der Prologe sind diese Äußerungen nur in den wenigsten Fällen besonders eingehend. Bemerkenswert ist allerdings eine bis in die letzten Jahre des 16. Jahrhunderts durchgängig vorfindliche theoretische Grundannahme, auf die im Folgenden genauer eingegangen werden soll. In einem der ersten Orlando-Poeme, Nicolás Espinosas La segunda parte de Orlando (Saragossa 1555), hebt der Erzähler an: D’Españoles yo canto la gran gloria, La Perdición de Carlos y su gente, Cantará la verdad aquesta historia, Y no segun Turpin Frances lo siente Den großen Ruhm von Spaniern besinge ich, die Niederlage Karls und seiner Leute; Die Wahrheit wird diese Geschichte besingen und nicht was Turpin, der Franzose, vermeint. (N. Espinosa, La segunda parte de Orlando, fol. 1r)

In klaren Worten einander gegenüber gestellt werden hier die historische ‚Wahrheit‘ des vorliegenden Poems und ihr Gegenteil, für das Turpin, die Quelle der italienischen Romanzo-Epik, steht. Nun stellt sich in der Lektüre dieser Fortsetzung

10 Das Korpus der spanischen Renaissance-Epik wurde bei PIERCE 1968 zusammengestellt; vgl. auch VILÀ 2001 (Anhang). Pierce stellt im zweiten Teil seiner Korpusuntersuchung auch die Selbstaussagen in den Gedichten zusammen und vermerkt, dass die Problematik von Wahrheit und Fiktion zu den zentralen behandelten Fragen gehört (S. 234). Ebenfalls grundlegend zum spanischen Epos ist CHEVALIER 1966, dessen Untersuchung weit über die direkt an das Ariost’sche Modell angelehnten Gedichte hinausreicht. Vgl. auch LARA GARRIDO 1999 sowie allgemein zum spanischen Epos PRIETO 1987 und VILÀ 2003. 11 Zum epischen Proöm PRIETO 1975.

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des Orlando furioso heraus, dass diese Programmaussage sich ganz offensichtlich auf den von den traditionellen Versionen abweichenden Ereignisverlauf bezieht, mit dem hier die Rolandsschlacht bei Roncesvalles (Roncevaux) geschildert wird. Darauf wird auch schon in der paratextuellen información vor dem ersten Gesang hingewiesen: „[…] el poder Frances y sus Pares rompidos, muertos, y destroçados. Carlos buelue huyendo no parando hasta Alemaña, ado del gran pesar y quebrantamiento fenecio sus dias“ – ‚Als die französische Macht und die Pairs gebrochen, getötet und zerfetzt sind, flieht Karl ohne Rast zurück nach Deutschland, wo er in großem Leid und Gebrochenheit seine Tage beendete‘. Die hier postulierte ‚Wahrheit‘ der Diegese hat noch keine größeren poetologischen Implikationen im Sinne einer antiariostischen Ästhetik; vielmehr bezeichnet sie allein die von der Tradition abweichende Handlungsvariante eines Sieges hispanischer Christen gegen die Streitmacht Karls des Großen. 12 Die ‚Wahrheit‘ lässt sich in diesem Fall erzählen, ohne den Kreis des Orlando- bzw. Rolandsstoffs zu verlassen. Auch in der Folge sollte sich die Wahrheit, nun allerdings mit einer anderen Stoßrichtung, als die Hauptkategorie der Proömialprogrammatik der hispanischen Epen erweisen. Wenig mag dies in denjenigen Texten überraschen, die sich ihrer Reimform zum Trotz dem historiographischen Diskurs annähern und sich diesseits oder jenseits der Grenze zur Reimchronik bewegen. So beginnt der 8. Gesang von Gaspar García de Alarcóns Gedicht La victoriosa conquista en las islas de los Azores (València 1585) über die Eroberung der in portugiesischer Herrschaft befindlichen Azoren für Philipp II. im Jahr 1583 folgendermaßen: Yo no escribo en mi historia vanidades, Ni ficciones de hechos encantados, Ni fabulosos cuentos, ni maldades, Para traer lectores desvelados; Mas pintadas al vivo las verdades, Diciendo cómo el Duque y sus soldados Hicieron la jornada y rica empresa Do se arruinó el poder de la francesa. Diese Geschichte geht nicht über eitle Dinge, und auch nicht Fiktion von Zaubereien, nicht fabulöse Erzählungen noch Übeltaten, die schlaflose Leser anziehen sollen; dagegen sind nach dem Leben die Wahrheiten gemalt, indem berichtet wird, wie der Herzog und seine Soldaten die Schlacht und die edle Leistung vollbrachten, durch welche die Macht der Franzosen gebrochen wurde. (G. García de Alarcón, La victoriosa conquista en las islas de los Azores, VIII, 1)

12 Vergleichbar gilt dies auch für das eng mit Espinosas Orlando-Fortsetzung verwandte Epos von Francisco Garrido de Villena, wo nicht nur bereits im Titel, sondern auch hier nochmals in der Proömialstrophe auf die zu erzählenden „wahren Ereignisse“ (succession de verdadera historia) hingewiesen wird.

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Das epische Gedicht von García de Alarcón weist nur vereinzelte Elemente auf, die es von der Vershistoriographie unterscheiden; dazu gehört ein Gebet von Alvaro de Bazán, eingeleitet mit einer Invokation des Erzählers von Mars und Bellona, sowie die epentypische Heeresschau. Schon der Gebrauch von escribir und historia statt cantar bzw. canto weist allerdings darauf hin, dass bei García de Alarcón das Epos zwar noch als Folie zur Distanzierung gilt, der Text selbst sich aber schon weit vom Kernbereich der Gattung entfernt hat. Im Allgemeinen sind es Beispiele wie dieses, auf die Bouterweks hartes Urteil zuzutreffen scheint: Die epische Poesie wollte noch immer keinem Spanier gelingen. Die verderbliche Verwechslung des wahren Epos mit Erzählungen wirklicher Begebenheiten in einer poetischen Sprache bestach das poetische Talent. […] Es schien, als ob der Phantasie, die auf dem Theater zügellos herrschte, in den erzählenden Gedichten nur das allernothdürftigste Recht der Erfindung des poetischen Schmucks gegönnt seyn sollte. 13

Festzuhalten bleibt jedoch die programmatische Ausformulierung des Oppositionspaares der ‚Fiktion‘ von Zauberepisoden vs. der (vom Erzähler selbst erlebten) ‚wahren‘ Ereignisse, die sich alsbald zum Proömialtopos auswächst. Wie García de Alarcón hebt auch Baltasar de Vargas auf die Nutzlosigkeit eitler Fabeln ab, von denen er sich in einer Proömialstrophe seiner Breve relación de la jornada desde España hasta los estados de Flandes (Antwerpen 1568) über die Taten des Herzogs von Alba in Flandern absetzt. Der Herzog wird hier selbst angesprochen. In dieser Apostrophe erheben sich gegen den sinnlosen Wahn von fabulösen Zaubererzählungen und Liebesleidenschaft die Nützlichkeit der Taten und die Wahrheit ihres Berichts: No os presento batallas fabulosas ni encantamentos vanos que es locura ni de amor las pasiones congoxosas con que se suele hazer larga escritura parte de vuestras obras valerosas es Señor lo que ofresco y verdad pura deste largo camino que hezistes y en el quan bien a Dios y al Rey servistes. Ich reiche Euch nicht fabelhafte Schlachten dar, noch den Wahn eitler Zaubereien, noch die Drangsal von Liebesleidenschaften, aus denen man zumeist lange Schriften verfasst. Was ich biete, Herr, ist ein Bericht über Eure tapferen Taten, und die reine Wahrheit

13 BOUTERWEK 1804, S. 408. — Nach zahlreichen Angriffen auf die spanische wie auch die romanische Epik außerhalb Italiens im Allgemeinen hat es in jüngerer Zeit nicht an Vorstößen zur Rehabilitation des spanischen Epos gemangelt, und sei es nur aus Gründen der historischen Bedeutung des Genres, vgl. PIERCE 1975, CHEVALIER 1976 sowie jüngst DAVIS 2006.

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des von Euch zurückgelegten langen Wegs und welch guten Dienst Ihr Gott und dem König damit erwieset. (B. de Vargas, Breve relación de la jornada desde España hasta los estados de Flandes, I, 3) 14

Bemerkenswert an den beiden Gedichten bleibt, wie sich ein Diskurs auf der Grenze zwischen Historiographie und Epos wie selbstverständlich von der Romanzo-Epik, nicht aber etwa von konkurrierenden historiographischen Diskursen zu distanzieren sucht. Die Umsetzung ihrer Programmatik bürdet García de Alarcón und Vargas keine großen Schwierigkeiten auf. In beiden Gedichten wird auf das epische Wunderbare verzichtet, so dass sie über die Proömialstrophen hinaus wenig mehr epentypische Elemente aufweisen als die Form der für hispanische Epen typischen Oktave und den zumeist hohen heroischen Ton. Ein aus verschiedenen Gründen bemerkenswertes Beispiel dieser Gruppe stellt das bislang nicht edierte Poem El victorioso Carlos Quinto aus der Feder des ersten Übersetzers des Orlando furioso ins Spanische, Jerónimo Urrea, dar. Die ersten vier Bücher dieser von Maurice Chevalier 15 an das Ende der 1560er Jahre datierten Reimchronik über Karl V. und die Schmalkaldischen Kriege ist in einer süddeutschen Topographie um die Städte Regensburg, Augsburg und Ingolstadt angesiedelt, während sich der Held im unvollendeten fünften Buch in die Elblande und nach Brandenburg begibt. Urrea schmückt zwar das Gedicht mit einem epischen Eingang, ohne jedoch das poetologische Verhältnis zu seinem zweiten Gedicht, der Orlando-Übersetzung, zu thematisieren. Der Prologbrief Al Libro hebt insbesondere auf den niedrigen, schmucklosen Stil des Textes ab, lässt die Wahrheitsfrage in der Apostrophe an das personifizierte Buch aber nicht unerwähnt: no a todos les daras mucho contento que no a todos les plazen las verdades […] No miran quanto mas herror te fuera Los hechos encubrir de hombres famosos q~ tan bien han corrido su carrera que fingir vanos cuentos fabulosos para loar aquellos q~ ni en obra ni palabra los vieron valerosos Nicht allen wirst du Genügen bereiten, denn nicht alle hören die Wahrheiten gern, […] [Die Neider] verkennen, dass größerer Irrtum für dich es wäre, die Taten berühmter Männer zu verschweigen, die ihren Weg so vorbildlich gingen,

14 Als weiteres Beispiel kann der metapoetische erste Gesang der Elegías de varones ilustres de Indias von Juan de Castellanos (1589) gelten, der ebenfalls auf den Wahrheitscharakter des Textes, hier in Opposition zu den im Wesentlichen mythologisch verstandenen invenciones, abhebt. 15 Vgl. CHEVALIER 1966, S. 143.

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Roger Friedlein als denn eitle, fabulöse Geschichten zu erfinden, um jene zu loben, die man weder in der Tat noch im Wort als kühn erkennen konnte. (J. Urrea, El victorioso Carlos V) 16

Als problematischer denn in den bislang genannten Fällen erweist sich die entsprechende Programmatik in solchen Gedichten, in denen die Umsetzung deutlich macht, dass es sehr wohl darauf ankam, die epische Gattung nicht in Richtung der Historiographie zu verlassen. Als Erster stellt sich der Valencianer Jeroni Sempere in La Carolea (València 1560) dieser Herausforderung. Im vorangestellten argumento de la obra wird angekündigt, in La Carolea stehe die ‚Wahrheit der Geschichte‘ über dem ‚poetischen Stil‘, 17 und im epischen Proöm heißt es: En este su Poema que descriuo No lleuo cuenta alguna con el Marte, Con Iupiter Tritonia y ficto Diuo, Poetico sera solo en el arte In diesem Gedicht, das ich verfasse, beachte ich Mars nicht im Geringsten, noch Jupiter, Tritonia und fiktive Götter; poetisch ist es allein in der künstlerischen Technik. (J. Sempere, La Carolea, fol. 1v)

In der Formulierung aus dem argumento de la obra scheint es noch, es gehe um einen Hierarchiekonflikt von Stoff und dichterischer Form; im Zitat aus dem Proöm dagegen macht ficto deutlich, dass mit dem ‚poetischen Stil‘ der mythologische Ornat als fiktiver (mit-)gemeint ist, so dass durch dessen Ausklammerung aus dem Reservoir dichterischer Elemente allein die Versform und die rhetorischen Colores verbleiben. Auf dem Umweg über den dichterischen Ornat, unter den die Fiktion hier fällt, stellt sich damit auch bei Jeroni Sempere die Opposition von Wahrheit und erfundener fabula. Das argumento vor dem zweiten Teil des Epos insistiert auf genau dieser Programmatik, wenn nunmehr auch Ausnahmen für Digressionen geltend gemacht werden: „[…] procediendo siempre con la verdad de la Historia: aunque se hazen algunos digressos, que conuienen al ornato della“ – ‚[…] wird die Wahrheit der Geschichte immer fortgeführt, wenngleich einige Digressionen gemacht werden, die dem Ornat der Geschichte zustehen‘. Neben einer Ekphrase des Zeltes von Karl V. bei Wien fallen als solche Digressionen insbesondere zwei Episoden auf. Es handelt sich um zwei miteinander kor-

16 Jerónimo Urrea, El victorioso Carlos V, Biblioteca Nacional de Madrid, ms. 1469, fol. 1r bzw. 2r. 17 „[…] donde se lleua cuenta mas cõ la verdad de la Historia, que con el Poetico estylo, y en mostrar el gran valor destas dos bellicosas Naciones Francesa y Española“ – ‚[…] in dem mehr Wert auf die Wahrheit der Geschichte gelegt wird als auf den dichterischen Stil, sowie darauf, die große Kühnheit der beiden kriegführenden Nationen Frankreich und Spanien zu zeigen‘ (J. Sempere, La Carolea, Argumento de la obra).

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respondierende Träume Karls V. und seines Widersachers François I. Während François im 7. Gesang einen ausführlich mit historischem und mythologischem Personal ausgestalteten Unterweltstraum erfährt, träumt Karl im 12. Gesang vom Glanz des Himmlischen Jerusalem und von den seligen Patriarchen und hispanischen Königen, die dort wohnen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass im 6. Gesang die personifizierten Discordia und Concordia auftauchen. Angesichts der christlichen Prägung der antagonistischen Fiktionen und ihrer Einbettung in Träume kann die Vorgabe der ‚Mythologielosigkeit‘ für dieses Epos noch als erfolgreich umgesetzt gelten, zumal das argumento des zweiten Teils ja Einschränkungen bezüglich der Digressionen macht. Im Fall der Personifikationen ist darüber hinaus möglich – soll die Programmatik weiterhin als erfüllt gelten –, diese Figuren nicht als den Göttern gleichgestellte Fiktionen zu verstehen, sondern als Prosopopöien allein zum rhetorischen Ornat zu zählen. Eine ähnliche Enthaltsamkeit erlegt sich Juan Rufo Gutiérrez auf, dessen La Austriada (Madrid 1584) auf thematischer Ebene die Niederwerfung des Maurenaufstandes in den andalusischen Alpujarras durch Philipp II. und den Kampf gegen den osmanischen Sultan verbindet. Rufo kommt dabei, wie Tasso in der Gerusalemme liberata, ohne mythologisches und auch fast gänzlich ohne christliches Wunderbares aus, mit der Ausnahme eines Auftritts des Teufels vor der Schlacht Philipps II. gegen die Türken. Die Absage an Homer, Petrarca und Vergil, die sich nach der Aussage des Erzählers nie um die von ihnen bearbeiteten Stoffe geschert hätten, wenn sie den hier bearbeiteten Stoff hätten kennen können, kleidet sich daher in die bekannte Distanzierung von der Fiktion, derer die Größe der Habsburgischen Taten nicht bedarf: Los cuales [d.h. die Ependichter], y otros muchos que no digo, Por fama singular eternizados, Si alcanzaran la historia que yo sigo, Nunca en otra pusieron sus cuidados, Pues della la verdad tiene consigo Casos tan admirables y extremados, Tan varias y ejemplares ocasiones, Que no hay necesidad de otras ficciones Es hätten diese Dichter und viele andere, die ich nicht erwähne und die durch einzigartigen Ruhm verewigt sind, wäre ihnen die Geschichte bekannt gewesen, der ich folge, niemals ihr Interesse auf andere Geschichten gerichtet, denn die Wahrheit dieser Geschichte birgt in sich so erstaunliche und extreme Geschehnisse, so verschiedene, beispielhafte Begebenheiten, dass andere Fiktionen nicht notwendig sind. (J. Rufo Gutiérrez, La Austriada, XXI, 4)

Eine ähnlich brüske Absage an den ‚eitlen Pomp‘ und die mit der Fiktion vertane Zeit (la vana pompa del hablar fingido) findet sich schon an erster Stelle des epischen Proöms, in dem folgerichtig auch auf die Museninvokation verzichtet wird. Neu ist allerdings bei Rufo, dass in seinem Prolog an den Leser erstmals in der metapoetischen Reflexion der spanischen Epen das Konzept der Wahrscheinlich-

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keit auftaucht. Damit scheint die Übernahme von Tassos Lösung im Hinblick auf das Wunderbare bei Rufo zunächst auch in der Poetologie ihre Entsprechung zu finden. Rufo geht hierbei von einer Problematisierung des Wahrheitskonzepts dahingehend aus, dass es über die Wahrheit einer Begebenheit immer dann unterschiedliche Ansichten geben wird, sobald sich mehrere Stimmen dazu äußern. Für sein Gedicht nimmt Rufo daher in Anspruch, die unumstrittenen Sachverhalte entsprechend darzustellen und sich nur bei Zweifelsfällen an die Wahrscheinlichkeit (lo verisímil) zu halten. Die Wahrheit wird mithin als umstritten problematisiert, bleibt aber das programmatische Ziel. Die Wahrscheinlichkeit ist dagegen als Notlösung für den Zweifelsfall vorgesehen, in dem Sinne, dass diejenige Version der Sachverhalte gewählt wird, bei der die größte Möglichkeit einer Übereinstimmung mit der Wahrheit zu vermuten ist: En cuanto al hecho de la verdad de las cosas que trato, forzosamente habrá diferentes opiniones, como las hay en todos los casos de que muchos deponen; lo que yo pude hacer fué en las evidencias estar á lo cierto, y en las dudas atenerme á lo verisímil, porque si esta no fuera mi intencion, mas espacioso campo hallara para escribir, y mas oportunidad para explicarme, en otros sugetos de invencion, que en el de historia, y tan moderna. Was den Wahrheitsstatus der Dinge betrifft, die ich behandle, so wird es zwangsläufig unterschiedliche Meinungen geben, wie dies in allen Fällen auftritt, über die sich eine Mehrzahl von Stimmen äußert. In meiner Macht lag es, bei den offensichtlichen Dingen Gewissheit zu haben und mich bei den zweifelhaften an das Wahrscheinliche zu halten. Wenn dies nicht meine Absicht wäre, würde ich sicher ein weiteres Feld zum Schreiben sowie mehr Gelegenheit mich zu verbreiten in anderen Themen der Invention finden als in der Historie, zumal der modernen. (J. Rufo Gutiérrez, La Austriada, Prolog)

Wahrscheinlichkeit im Sinne einer verisimilitudo, wie sie in der Aristotelischen Tradition verstanden wird, ist hier also keineswegs als solche angestrebt. Vielmehr ist die Wahrheit das Ziel, und die Wahrscheinlichkeit als das, was mit der höchsten Probabilität der Wahrheit entspricht, wird dort ihr bestmöglicher Ersatz, wo die Wahrheit selbst nicht habbar ist. Tassos Discorsi scheinen hier, wie es die von Rufo verwendete Begrifflichkeit indiziert, bereits den Hintergrund der Argumentation zu bilden. Es wird jedoch versucht die Schlussfolgerungen, die sich aus ihnen ergeben, dass nämlich ein Epos über allzu zeitnahe Gegenstände problematisch sei, durch die Umdeutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs und seine Anpassung an den weiterhin gültigen Leitgedanken einer Opposition von Wahrheit und Fiktion zu umgehen. Zu fragen ist im Anschluss an diese Beobachtungen, wie mit der poetologischen Problematik in solchen Epen umgegangen wird, die das Wunderbare weniger streng ausgrenzen als dies bei Jeroni Sempere und Juan Rufo geschieht. Zunächst ist am Beispiel von Luís Pereira Brandão in den Programmstrophen der Elegíada (Lissabon 1588) festzustellen, dass epentypische Elemente der Elegíada wie Traum, Ekphrase, Heeresschau, Prunkrede oder eine Klagerede des sterbenden Dom Sebastião nicht mit der programmatischen Absage an die Fiktion zu konfligieren scheinen, denn diese findet sich geradezu modellhaft am Gedichteingang:

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Verdades canto dinas de memoria, castigos justamente merecidos, Não fabulosa, ou conhecida estoria Que engana peitos, & embaraça ouuidos Não de Alcides a fingida gloria, Nem casos que não fossem acontecidos: Nam de Busiris altares indinos, Nem Iassão, & Teseo peregrinos. Cante Omero o que chorou Dardania, Cante de poois Virgilio o amor de Dido: Inuenta danos da fatal insania, Por ser seu nome mais engrandecido: Que eu choro o Rey da triste Lusitania Sentido, ate das pedras sem sentido, Cuja estoria certa & dolorosa Excede toda a outra fabulosa Der Erinnerung würdige Wahrheit besinge ich und Strafen, die man verdiente zu Recht; keine erfundenen oder bereits bekannten Geschichten, die die Herzen betrügen und Pein bereiten dem Ohr. Nicht den erfundenen Ruhm des Alcides und kein Ereignis, das niemals geschah; nicht die unwürdigen Altäre von Busiris, und nicht die Fremden Jason und Teseus. Homer mag besingen, was Dardania beweinte, Vergil mag dann preisen die Liebe der Dido. Er erfindet den Schmerz eines tödlichen Wahns, um ihren Namen größer werden zu lassen. Ich aber beweine des traurigen Lusitanien König, den selbst die gefühllosen Steine bedauern, und dessen wahre Geschichte voll Schmerzen all die erfundenen anderen übertrifft. (L. Pereira Brandão, Elegíada, fol. 2r)

Geht man davon aus, dass das Gedicht eine tatsächliche Umsetzung dieses Programms sei, muss die Schlussfolgerung lauten, dass die Ablehnung der Fiktion sich offenbar auf die mythologische Fiktion im engen Sinne zu beschränken scheint, während die genannten typischen Epenbausteine offenbar von Pereira Brandão als unproblematisch für den Wahrheitsstatus gesehen werden. Dass auch ‚mythologiefreie‘ Epen keine im Sinne der heutigen Debatte um die Fiktion in der Geschichtsschreibung ‚wahrheitliche‘ Darstellung bedeuten können, wird hier ausgeblendet. Eine etwas stärkere Problematisierung weist Joan Pujols katalanisches Epyllion La singular i admirable victòria (Barcelona 1573) zum Lepantostoff auf, in dessen Prolog die Wahrheit des Dargestellten auf der Basis von Augenzeugen-

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berichten zunächst als oberste Maxime für den Text ausgewiesen wird. 18 Pujol beruft sich hierbei auf Interviews mit Teilnehmern an der Schlacht und weist die fiktionalen Episoden als Schmuck aus – zu diesen gehört die Beschreibung des Aufstiegs des Dichters auf den Helikon, eine Episode um die Casa de la Fama sowie das Auftreten mythologischer Unterweltsbewohner. Die Unterscheidbarkeit beider Elemente wird dabei auch hier zumindest bei genauem Hinsehen vorausgesetzt: Jo he treballat quant a mi fou possible de narrar vera història, i si en res faltarà ma ploma, serà la causa no ésser estat ben informat d'aquells qui en la batalla victoriosa i tan inaudita se són trobats; dels quals i no d'altres he pres informació, perquè fos ella vista més verdadera. És ver que hi trobaran algunes ficcions poètiques i altres coses que devien la veritat, emperò si bé seran mirades i advertides, veuran que són per més ornament de l'obra, i que per això no es deixa l'orde del verdader succés del que en ella es tracta. So weit es mir möglich war, habe ich mich bemüht, die wahre Geschichte zu erzählen, und wenn meine Feder irgendwo fehl geht, liegt der Grund darin, nicht richtig von jenen informiert worden zu sein, die bei der siegreichen, unerhörten Schlacht zugegen waren. Allein bei ihnen und niemandem sonst habe ich Erkundigungen eingezogen, damit sie wahrer erscheint. Es stimmt, dass man einige dichterische Fiktionen und anderes, was von der Wahrheit abweicht, vorfinden wird; wenn man jedoch gut hinschaut und darauf achtet, wird man bemerken, dass sie mehr zum Schmuck des Werkes gereichen und dass deshalb der Verlauf der wahren Begebenheit, um die es in diesem Werk geht, nicht verlassen wird. (J. Pujol, La singular i admirable victòria, in: Obra poètica, S. 15)

Wenngleich die Wahrheit als oberstes Ziel besonders hervorgehoben wird, bleibt die Legitimation der poetischen Fiktion als Schmuck unbestritten – die Lösung des Konflikts liegt für Pujol darin, dem Leser die Unterscheidung der offenbar als Episoden trennscharf isolierbaren dichterischen Elemente aufzugeben. Als Beispiel aus dem Kreis der Amerika-Epen kann auf Gabriel Lasso de la Vegas Cortés valeroso (Madrid 1588) 19 hingewiesen werden, in dem der Stoff der Eroberung des aztekischen Mexiko durch Hernán Cortés bearbeitet wird. Die epische propositio bedient sich auch hier der bekannten Distanzierungsformel von der Fiktion: „[…] no incógnitas hazañas, no invenciones, / no fingido valor de fuertes pechos / ni salgo de los límites estrechos / de la verdad“ – ‚[…] keine nie gesehenen Heldentaten, keine Erfindungen / kein fingierter Wagemut von tapferen Männern; / auch überschreite ich nicht die eng gesetzten Grenzen / der Wahrheit‘. 20 Der Prolog des Autors erlaubt hingegen die Ausnahmen einer allegorischen Episode, in der die als scheußliches Tier personifizierte Envidia in ihrem Palast gezeigt wird und in der Folge den Gouverneur von Kuba befällt, während

18 Vgl. DURAN 2004 zu Pujols Gedicht im Rahmen der zeitgenössischen Historiographie. 19 Der volle Titel des Epos lautet Cortés valeroso y Mexicana, und Mexicana hat sich für die erweiterte Version des Textes durchgesetzt, die Lasso de la Vega im Jahr 1594 in Madrid veröffentlicht. 20 LASSO DE LA VEGA 2005, S. 138.

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Moctezuma eine Teufelserscheinung erlebt. Ausgewiesener Zweck dieser Episode ist die Erholung jener Leser, die an Dichtung und Fiktion Gefallen finden: […] he inquirido sirviendo a la nación española como uno della con este mohoso cornado, en quien, aunque cubierto de herrumbe fea, resplandece una pura y viva imagen de la verdad. Sólo en la variedad del onceno canto y descripción de la casa de la envidia del dozeno, podrá el lector recrear algún tanto el ánimo cansado de tantas veras y verdades si gustare de poesía y ficiones […] porque historia de tanta autoridad como ésta, ninguna mixtura della consiente, sin ir muy declarada por tal. Ich habe mich im Dienst der spanischen Nation als einer der ihren kundig gemacht für diesen modrigen Kupferheller, aus dem durch den hässlichen Rost hindurch, der ihn bedeckt, ein reines und lebendiges Bild der Wahrheit glänzt. Nur an der Buntheit des elften Gesangs und der Beschreibung des Hauses des Neides im zwölften wird der Leser den von so viel Wahrem und Wahrheiten ermatteten Geist erfreuen können, sofern ihm Dichtung und Fiktionen gefallen […], denn eine Geschichte von so großer Autorität wie diese erlaubt keine Einmischung, sofern diese nicht deutlich gekennzeichnet ist. (G. Lasso de la Vega, Cortés valeroso, S. 132)

Wie sein Vorbild Alonso de Ercilla, von dem noch die Rede sein wird, führt Lasso de la Vega die Wahrheit damit zwar als programmatisch an, erlaubt jedoch im Schutz des pragmatischen Motivs der Publikumserwartung die poetische Digression, ohne dies als Widerspruch zum Wahrheitspostulat zu problematisieren. Vergleichbar verfährt Cristóbal de Virués in El Monserrate (Madrid 1587). 21 In seinem Epos, das sich um die Figur des Montserratiner Mönchs Garin dreht, den die katalanische Spätromantik als Fra Joan Garí zum literarischen Mythos machen sollte, zieht Virués die traditionellen Register epischer Diegese: Es finden sich Ekphrasen und eingeschobene Reden; ein Seesturm und ein allegorischer Zaubergarten schmücken die Erzählung der Sünde Garins und ihrer maßlosen Sühne: Garin kehrt nach der Beichte seines Totschlags einer Jungfrau, die ihn zu verführen suchte, auf allen Vieren von Rom aus bis zum Montserrat zurück. El celo que he tenido ha sido bueno, y con él he usado de la invencion poética en la parte que o ha permitido la historia como humana, que es en lo que toca al ermitaño Garin, procurando pintar en él un heróico y verdadero cristiano, con varias digresiones y ejemplos que, sin alterar la historia, miren á aquellos fines principales ya dichos, de provecho y gusto. En la parte deste poema que trata de la sagrada imágen (guardando el respeto y decoro debido á cosa de tanta calidad y tan divina) no ha llegado la poesía á más de decir la verdad de la historia, con solo el ornamento que el verso pide, como se verá en el canto XVIII y en el último: el cual, aunque decirlo Garin como en profecía es invención poética, es lo que dice pura verdad. Mein Eifer für die Sache hat sich gelohnt, denn durch ihn habe ich poetische Erfindungen für jenen Teil verwendet, wo es die Geschichte erlaubte, da sie menschlich war, d.h. in allem, was den Eremiten Garin betrifft. In ihm wollte ich einen heroischen, wahren Christen mit Hilfe von verschiedenen Digressionen und Exempla zeichnen, die ohne Eingriffe in die Geschichte den bereits genannten Zwecken, Nutzen und Vergnügen, dienen. In jenem Teil des

21 El Monserrate (1587) wurde durch denselben Autor unter dem Titel El Monserrate segundo (1602) fortgesetzt.

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Roger Friedlein Gedichts, der das heilige Bild betrifft, hielt ich mich an den Respekt und das Decorum, die etwas so Herausragendem und Göttlichem geschuldet sind. Die Dichtung geht nicht darüber hinaus, die Wahrheit der Geschichte zu verkünden, und hat nichts als den Schmuck, den der Vers erforderlich macht. Dies wird man im 18. Gesang [Auffindung eines Marienbildnisses] und im letzten Gesang [Prophezeiung der glänzenden Zukunft Montserrats] erkennen. Wenn auch die Tatsache, dass Garin ihn wie eine Prophezeiung ausspricht, eine dichterische Erfindung ist, entspricht letzterer Gesang dem, was die reine Wahrheit sagt. (C. Virués, El Monserrate, S. 503)

Lasso und Virués zeigen wie schon Pujol, dass die programmatische Ablehnung der Fiktion nicht immer ausnahmslos für den ganzen Text gültig sein musste. Während bei Sempere und Rufo gewisse Zugeständnisse an die fiktionale Ausgestaltung, die ihre Epen aufweisen, ohne Auswirkung auf die Programmatik bleiben, fanden Lasso, Virués und Pujol flexiblere Lösungen, indem sie – ausgehend vom bekannten Gegensatz und mit einer eindeutigen Option für die Wahrheit – in der Programmatik bereits einräumen, dass stellenweise Ausnahmen zugelassen sind und dort der Boden der historischen Wahrheit verlassen wird. Das Montserrat-Epos von Virués zählt bereits zur Sakralepik, die hier wegen der ihr eigenen Problematik nicht weiter berücksichtigt werden soll. Es sei jedoch der Hinweis erlaubt, dass unter jenen Beispielen sakraler Langgedichte, die stärker den Modellen der historisch basierten Epik verpflichtet sind, solche mit programmatischen Äußerungen zu finden sind, die dem bislang Gesagten grundsätzlich entsprechen, es allerdings in einer Hinsicht modifizieren. Auf der Grundlage der Opposition von Wahrheit und Fiktion finden sich nämlich sakralepische Beispiele einer doppelten Distanzierung, die nun sowohl das Ariost’sche RomanzoModell als auch das Modell eines historisch wahren, militärisch-heroischen Epos betrifft. Dies gilt für das hagiographische Epos Fray Luis Bertrán von Lluís Martí (València 1584) wie auch schon für Benito Sánchez Galindos Christi victoria (Barcelona 1576). 22 In einer dem ersten Gesang vorangestellten Programmoktave heißt es bei Lluís Martí: Los que a Bellona siruen, engrandezcan Las fuerças del sangriento y fiero Marte Con Venus y Cupido se enternezcan Los que siguen de amor el estandarte: Y en sus tinieblas ciegos permanezcan, Qual Egypcios, quen Dios no tienen parte, Alaben su Amadis, traten de Orlando, Que yo de Dios con Dios siempre tratando Wer Bellona dient, der mag preisen die Kräfte des blutigen, stolzen Mars;

22 Die Distanzierung von der militärischen Heroizität historisch basierter Epen ist keineswegs selbstverständlich. Gabriel de Matas El cavallero Asisio (Bilbao 1587) zeigt, dass auch die Stilisierung der in diesem Fall Franziskanischen Hagiographie mit Mitteln des Ritterromans – etwa allegorisch lesbaren Duellen – eine mögliche Option war.

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mit Venus und Cupido mögen sich jene einlassen, die der Standarte der Liebe folgen. In ihrer blinden Finsternis mögen sie bleiben wie Ägypter, die an Gott nicht teilhaben. Ihren Amadís mögen sie loben und von Orlando berichten, wo ich allein von Gott und mit Gott stets handle. (L. Martí, Fray Luis Bertrán, canto I)

Schließlich scheint selbst am anderen Ende der Skala in Gedichten, die sich ohne Umschweife zu Gunsten der fabula aussprechen, die bewusste Unterscheidung der metapoetischen Reflexion zu Grunde zu liegen. Im Allgemeinen wird in diesen Gedichten – mit der Ausnahme der beiden oben erwähnten Orlando-Fortsetzungen – zwar dafür optiert, überhaupt keine programmatischen Reflexionen anzustellen. Dies begründet sich insbesondere bei den frühen Orlando-Gedichten auch daraus, dass diese Texte sozusagen die ‚epische Normalform‘ weiterführen und damit nicht vor der Notwendigkeit stehen, Innovationen rechtfertigen zu müssen. Als sich allerdings in den 1580er Jahren das Modell des zeithistorischen Epos bereits durchgesetzt hatte, findet sich das Beispiel von Gonzalo Gómez de Luque, der sein eng an das Modell des iberischen Ritterromans in Prosa angelehntes Epos Los famosos hechos del príncipe Celidón de Iberia (Alcalá 1583) mit einer Rechtfertigung der fábulas einleitet. Deren Fiktion bringe über das Gefallen der Leser hinaus auch moralischen Nutzen mit sich. Gómez de Luque greift damit das auch auf der Iberischen Halbinsel altbekannte boccaccieske Argument zur Verteidigung der mythologischen Fiktion auf: Las quales [sciencias] en seguir los hombres tienen diuerso parecer con el differente gusto, porque vnos aman las verdaderas historias, quiero dezir, danse a leerlas, no estiman las apocryphas, y fabulosas, siendo cosa cuya moralidad contiene mysterio, y cuya meditacion, no inutil, prouechamiento. Otros, y casi los mas, gustan en estremo de fabulas, y acontecimientos enellas, porque cierto, ya que no se lean con el intento que los inuentores dellas pretendieron, ninguno ay que leyendolas las vaya juzgando por no acontecidas, y por agenas de verdad, especialmente estas que son historias, y al entendimiento se representan por ciertas, y verdaderas, y no se juzgan (como digo) por menos que assi sucedidas: y quando se entiende la fiction de ellas, con acudir a lo bueno, y aprouecharse delos exemplos en ellas puestos, ninguna aura que no satisfaga al mas curioso, y no de entero gusto al que mas lo desseare. Beim Trachten nach dem Wissen haben die Menschen je nach Geschmack unterschiedliche Ansichten, denn manche lieben wahre Geschichten, oder besser, widmen sich ihrer Lektüre und schätzen keine apokryphen und fabulösen Geschichten, deren Moral Geheimnisse enthält und deren keineswegs nutzloses Überdenken Gewinn bringt. Andere – beinahe die meisten – genießen bis zum Äußersten die Fabeln und die Begebenheiten darin. Denn gewiss, da man sie nicht in der Absicht liest, die ihre Erfinder im Sinn hatten, gibt es niemanden, der sie beim Lesen für nicht vorgefallen und fern der Wahrheit halten würde, insbesondere jene, die historisch sind und dem Verstand als gewiss und wahr erscheinen, und die man wie gesagt für nicht weniger als genau auf diese Weise geschehen hält. Wenn man dann die Fiktion in ihnen versteht, zum Guten vorstößt und sich die in sie gelegten Exempla zu Nutzen macht, wird es keine von ihnen geben, die nicht den Neugierigsten zufrieden stellt und nicht dem Begierigsten vollen Genuss gibt. (G. Gómez de Luque, Los famosos hechos del príncipe Celidón de Iberia, Prolog)

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Ein grundsätzlicher Bruch mit dem metapoetischen Gegensatzpaar von Wahrheit und Fiktion, das allen bis hierher beleuchteten epischen Varianten zu Grunde liegt, zeigt sich im spanischen Epos erstmals bei Cristóbal de Mesa, der in Las Navas de Tolosa (Madrid 1594) ein uneingeschränkt an Tassos Modell angelehntes Epos vorlegt und dies mit programmatischen Reflexionen um den Begriff der verisimilitud verbindet, die hier nach der oben genannten, nur beiläufigen Erwähnung bei seinem Vorgänger Rufo erstmals mit ihrem eigentlichen Sinngehalt zur Zentralkategorie der Reflexion avanciert. Lo que toca al artificio remito al juizio de los estudiosos de letras umanas, que estando este argumento acompañado de tantas historias antiguas y modernas, advertiran lo que avra costado introduzir la invencion de la fabula, y el ornato de la verisimilitud, para que la tela fuesse uniforme, y que esta estatua que la historia ofrece desnuda quedasse no solo vestida, pero aun compuesta con algunas galas. Y finalmente si como enseña Aristoteles en todo Poema no solo Eroico, o Tragico, mas aun Comico (el qual como de mas infimo estilo usa de frases vulgares) se requiere la unidad de la fabula, y esta en el Epico es de muchos miembros por las artificiosas digreßiones de los episodios, que son las lumbres Poeticas, que no solo la ilustran, mas aun la hazen llegar a perfeta proporcion: ya q~ esta acciô es nobilißima por ser de persona Real, como tal conueniente a la Epopeya, y segun quieren los Maestros del Arte, no basta que en un poema sea la accion una, mas ha de ser tambien entera, poßible, creible, verisimil, moral, o afectuosa y marauillosa: que como en un mundo se halla variedad de elementos, aues, animales, pescados, plantas, cô que naturaleza lo enriquece y hermosea: aßi en su Poema el raro y gentil artifice imitador de la mesma naturaleza ha de pintar diuersidad de cosas que todas ellas lleven respeto a un fin. Quando tanto no pudiere aver comprehendido un solo ingenio, bastara aver satisfecho a la mayor parte en las mejores partes, respondiendo a los demas con el Epico Latino, que no todos lo podemos todo. Was die Kunsthaftigkeit betrifft, verweise ich auf das Urteilsvermögen der humanistischen Gelehrten, die bemerken werden – da die Handlung von so vielen antiken und modernen Geschichten begleitet wird –, welche Mühe es gekostet hat, die Erfindung der Fabeln und den Schmuck der Wahrscheinlichkeit so einzuführen, dass das Gewebe einheitlich wird und die nackte Statue, die die Geschichte bietet, nicht allein bekleidet, sondern dazu noch mit einigem Glanz ausgestattet wird. Wie Aristoteles lehrt, erfordert schließlich jedes, nicht allein das heroische oder tragische, sondern auch das komische Gedicht (welches dazu noch den niedersten Stil mit volkstümlicher Ausdrucksweise verwendet) die Einheit der Fabel. Diese besteht im epischen Gedicht aus vielen Teilen, vermittels der kunstvollen Digressionen der Episoden. Sie sind die poetischen Lichter, die es nicht allein erhellen, sondern zur vollkommenen Proportion führen. Ist auch die Handlung durch die königliche Person höchst vornehm, wie es dem Epos zukommt und die Meister der Kunst es verlangen, genügt es nicht, dass in einem Gedicht die Handlung eine sei, sondern sie muss auch vollständig, möglich, glaubhaft, wahrscheinlich, moralisch oder leidenschaftlich und wunderbar sein. Denn so findet man wie in einer eigenen Welt eine Vielfalt von Elementen, Vögeln, Tieren, Fischen und Pflanzen, mit denen die Natur diese Welt bereichert und verschönert: So soll der außergewöhnliche, höfische Verfasser, der die Natur selbst imitiert, die Verschiedenheit der Dinge nachzeichnen, die allesamt zu einem Ende hinführen. Wenn so vieles ein einzelner Geist nicht zu fassen vermag, dann genügt es, dem größten Teil in den besten Teilen gerecht geworden zu sein. Den anderen antworten wir mit dem lateinischen Epiker, dass nicht alle von uns alles können. (C. de Mesa, Las Navas de Tolosa, Prolog)

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Cristóbal de Mesas außergewöhnlicher Prolog markiert in seiner Fokusverschiebung einen Bruch in der Geschichte der hispanischen Proömialreflexionen in der Epik. 23 Die Übernahme aristotelischer Grundsätze im Hinblick auf das hohe stilistische Register und das entsprechende epische Personal, das Gleichgewicht aus Handlungseinheit und Digressionen sowie insbesondere die Wahrscheinlichkeitsanforderung lassen die Opposition zwischen historischer Wahrheit und poetischer Fiktion hier aus dem Blickfeld treten. Geleugnet wird sie allerdings auch hier nicht, sondern bleibt im einleitenden Gedanken präsent, die vorliegende Handlung (argumento) sei begleitet von antiken und modernen Geschichten (acompañado de tantas historias antiguas y modernas). Ebenso bleibt die grundsätzliche Unterscheidbarkeit im anschließenden Gedanken präsent, Fabel und Schmuck hätten in die Geschichte eingeführt werden müssen (introduzir), wie man eine Statue mit Kleidern schmückt, wenn auch hier das einheitliche Erscheinungsbild das Ziel der dichterischen Tätigkeit bleibt (para que la tela fuesse uniforme). Die Neuerungsleistung in dieser Programmatik vor dem Hintergrund der hispanischen Epik liegt damit neben der Einführung bislang weniger reflektierter Fragen insbesondere darin, dass wahre und fabulöse Elemente im Epos hier nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden, sondern in kunstvoller Angleichung aneinander gemeinsam dem Ziel der Wahrscheinlichkeit untergeordnet werden. Festzuhalten bleibt, dass nicht Cristóbal de Mesas Las Navas de Tolosa nach Tassos Vorbild sich durchsetzen sollte, sondern seine Vorgänger La Araucana und Os Lusíadas unter ihrem Postulat epischer Wahrheit zum emblematischen iberischen Epenpaar wurden – wobei ohnehin nicht allein ästhetische Positionierungen, sondern schlicht die überlegene poetische Qualität des Lusiadenepos entscheidend gewesen sein dürften. Das eingangs genannte Begriffspaar bildet somit Cristóbal de Mesa zum Trotz weiterhin in den ausschlaggebenden Texten die Grundlage der programmatischen Reflexion. Selbstverständlich ist diese Charakteristik der iberoromanischen Epik – sei es in ihrer Programmatik oder in der dichterischen Umsetzung – der Forschung nicht entgangen: Zitiert sei hier Menéndez Pidal, der sein zunächst für das mittelalterliche Heldenepos geprägte Urteil auf das gelehrte Epos der Renaissance ausweitet und vom „espíritu realista“ 24 als Kennzeichen der spanischen Epik im Gegensatz zur Epik Frankreichs und Italiens spricht. Aus diesem langen Durchgang durch die Proömien der ältesten hispanischen Renaissance-Epen mit dem Blick auf die Frage von Wahrheit und Fiktion bleibt vor allem festzuhalten, dass diese, verstanden als oppositiv im Sinne des gegenseitigen Ausschlusses, die Zentralkategorien einer Programmatik ausmachen, deren Nationalisierungsanstrengung im Hinblick auf die epische Gattung auf der postulierten Überlegenheit der Heroizität ihrer als wahr präsentierten Stoffe fußt. Geschichtliche Wahrheit vs. Fiktion war als Gegensatzpaar in der antiken poeto-

23 Mesas Verhältnis zu Tasso wird eingehend analysiert bei CARAVAGGI 1974, S. 225–325. 24 MENÉNDEZ PIDAL 1959, S. 38.

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logischen Diskussion nicht vorhanden, dagegen in der Theoriedebatte in Italien aufgekommen 25 und wird in der spanischen Epik zum Ausgangspunkt der Reflexion. Unter den fast ausnahmslos abgelehnten ‚Fiktionen‘ im Sinne ‚erfundener Geschichten‘ werden insbesondere antike Mythen, aber auch die durch Zauberelemente kontaminierten Rittererzählungen aus dem Orlandokreis verstanden, wobei fallweise die Liebes- oder die phantastischen Kampfepisoden stärker im Fokus stehen. Auf die Wahrheit (und gegen die Fiktion) berufen sich dabei bis auf Gómez de Luque alle Dichter, die überhaupt poetologische Eingangspassagen verwenden, während diejenigen Autoren, die für die Ariost’schen ‚Fabeln‘ optieren, auf programmatische Äußerungen schlichtweg verzichten. Einige der Autoren lassen die poéticas ficciones in Digressionen als klar unterscheidbare Zusätze zu den verdades zu, andere lehnen auch solche Zusätze strikt ab. Mehrfach wird die Basisopposition benutzt, um sich mit ihrer Hilfe von der italienischen RomanzoEpik (unter der Chiffre ‚Ariost‘ oder den Namen seiner Protagonisten) zu distanzieren. Boccaccios Gedanken aus dem XIV. Kapitel der Genealogie bezüglich der potenziellen Nützlichkeit mythologischer Fabeln spielen dabei keine Rolle und bleiben bis zum genannten Beispiel in den Proömien ausgeblendet. Die Überlegenheit der auf zeithistorische Wahrheit gegründeten epischen Dichtung wird dabei nicht argumentgestützt erarbeitet; vielmehr wird ein quasi epistemologischer, unhinterfragbarer Minderwert der poetischen ‚Fiktion‘ (im Sinne von Erfindung) gegenüber historischer ‚Wahrheit‘ (im Sinne einer verlustfreien Abbildung von res gestae) vorausgesetzt. Es geht mithin nicht um den beanspruchten oder suspendierten Realitätsbezug im faktualen oder fiktionalen Schreiben, sondern um Abwesenheit oder Vorhandensein erfundener Sachverhalte im behandelten Stoff. Gelegentlich scheint die Unterscheidung realer res gestae von ihrer Mimesis in der Dichtung angedeutet zu werden, problematisiert wird dieses Verhältnis in den erwähnten Texten jedoch nicht. Weithin ausgeblendet wird daneben die Problematik einer Reihe epentypischer Gestaltungsschemata, die nicht zum Wunderbaren gehören, aber dennoch keineswegs ohne Weiteres mit einer ‚historischen Wahrheit‘ verrechenbar sind, deren Existenz durchweg postuliert wird. Mit unterschiedlicher Konzilianz wird dagegen dem begegnet, was in je spezifischer Weise als ‚poetischer Ornat‘ gefasst wird und sich mit unterschiedlichem Abstand diesseits dessen situiert, was die Erzähler der hispanischen Epen als eitle Erfindung abqualifizieren. Die Frage, wie sich dieses Eingangspostulat auf die unter diesem Vorzeichen entstandene Epik auswirkt, soll uns im Folgenden beschäftigen. Am wenigsten scheinen dabei solche Texte von Interesse, die dem Programmpostulat historischer Wahrheit dermaßen rigide folgen, dass sie wenig mehr als ihre Versform noch vom historiographischen Diskurs, zumal in seinen enkomiastischen Ausprägungen, unterscheidet. Das Epos nähert sich in diesen Fällen mit steigender Strenge

25 Zur antiken und Renaissancepoetik insbesondere bei Tasso vgl. in dieser Hinsicht GÜNSBERG 1998, S. 30–35.

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der Programmumsetzung asymptotisch der Gattung der Verschronik an. In anderen Beispielen weniger enger Auslegung der Programmatik kommt es in der Umsetzung allerdings zu bemerkenswerten Ergebnissen. 2. Drei Fälle der poetischen Realisation 2.1 Alonso Ercilla y Zúñiga: La Araucana – Programm als Problem Zunächst sticht unter den Umsetzungen der soeben skizzierten poetologischen Programme die Option ins Auge, die von Alonso de Ercilla y Zúñiga in La Araucana (Madrid 1569–89) und in ähnlicher Weise in anderen Amerika-Epen in seiner Nachfolge bevorzugt wird. In weiten Teilen scheint sich der Erzähler in La Araucana an das Gebot zu halten, gänzlich fiktive Episoden zu vermeiden. Dies bedeutet nach Ercillas Programmaussagen vor allem, die epische Erzählung der militärischen Auseinandersetzung zwischen den spanischen Eroberern und den einheimischen Araukanern in Südchile nicht durch Liebesepisoden zu erweitern. Diese Beschränkung auf militärische Ereignisse, die bereits aus der Proömialstrophe spricht, erlaubt es, das Gedicht als autobiographisches Zeugnis des Expeditionsteilnehmers Ercilla lesbar zu machen, als das es, vermutlich nicht ganz zu Unrecht, gelegentlich an erster Stelle gelesen wird: No las damas, amor, no gentilezas de caballeros canto enamorados, ni las muestras, regalos y ternezas de amorosos afectos y cuidados; mas el valor, los hechos, las proezas de aquellos españoles esforzados, que a la cerviz de Arauco no domada pusieron duro yugo por la espada Nicht besinge ich Damen, Liebe oder der verliebten Ritter Höflichkeiten, noch die Beweise, Gaben, Zartheiten liebevoller Zuneigung und Sorge; vielmehr die Kühnheit, Taten, Heldenleistungen von jenen kampferprobten Spaniern, die Araucos ungezähmtem Nacken mit dem Schwert das harte Joch auflegten. (A. Ercilla y Zúñiga, La Araucana, I, 1)

Hier wie an einer Vielzahl weiterer Stellen in La Araucana wird die Option gegen ‚Venus‘ und für ‚Mars‘ als die grundlegende thematische Wahl des Erzählers aufgebaut, zu der in der Folgestrophe noch die Darstellung der Sitten der Araukaner hinzukommt. Dies wird jedoch umgehend ergänzt durch das bekannte ontologische Gegensatzpaar, wenn es heißt, der Text sei ein unverfälschter, wenn auch in einem Bearbeitungsprozess zurechtgestutzter Bericht der Wahrheit: „relación sin corromper sacada / de la verdad, cortada a su medida“ (I, 3). Diese Wahrheitsbeteuerung wiederholt sich an einer Stelle, als es um eine Marienerscheinung geht,

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die sich im Kampfesgeschehen vollzogen haben soll und von den Araukanern überliefert wird. In Ansprache an den Widmungsträger, König Philipp II., beteuert der Erzähler, sich allseits über die Wahrheit des Ereignisses versichert zu haben: Heme, Señor, de muchos informado porque con más autoridad se cuente: a veintitrés de abril, que hoy es mediado, hará cuatro años cierta y justamente que el caso milagroso aquí contado aconteció, un ejército presente, el año de quinientos y cincuenta y cuatro sobre mil por cierta cuenta. Va la verdad, en suma, declarada según que de los bárbaros se sabe, y no de fingimientos adornada, que es cosa que en materia tal no cabe Erkundigt habe ich, Herr, mich bei vielen, um mit größerer Autorität zu erzählen. Am dreiundzwanzigsten April (dessen Mitte ist heute) wird gewiss und genau vier Jahre es her sein, dass zum hier erzählten, wunderbaren Ereignis es kam im Beisein eines Heeres, im Jahre fünfzehnhundert und fünfzig und vier nach sicherer Rechnung. Die Wahrheit wird insgesamt hier berichtet, wie man von Barbaren erfahren sie konnte, und nicht mit Fiktionen geschmückt, denn bei solch einem Stoff gehört sich das nicht. (A. Ercilla y Zúñiga, La Araucana, IX, 18f.)

Der dokumentarische Diskurs verstärkt sich im 12. Gesang, wenn der Erzähler vorbringt, das bislang Berichtete habe sich auf die Begebenheiten beschränkt, über die sich beide Seiten, Spanier und Araukaner, einig seien. Von nun an sei das Erzählte jedoch durch die eigene Augenzeugenschaft noch stärker autorisiert: „podré ya discurrir como testigo / que fui presente a toda la jornada“ (XII, 70). Im 15. Gesang beginnt sich jedoch das anzudeuten, was je nach methodologischem Zugriff als schlichter Umschwung, als Inkonsistenz oder als Selbstdekonstruktion des Erzählers der Araucana gedeutet wird. So gibt der Erzähler an, die thematische Vorgabe und die Länge des Gedichts führten zwangsläufig zur Eintönigkeit, die selbst der klangvollste Stil nicht vermeiden könne. Abhilfe wäre nach dem Vorbild anderer Dichter durch das Einflechten von Fabeln und Liebesgeschichten zu schaffen: „[…] pues como otros han hecho, yo pudiera / entretejer mil fábulas y amores; / mas ya que tan adentro estoy metido, / habré de proseguir lo prometido“ (XV, 5) – ‚Denn wie andere es getan haben, könnte ich tausend Fabeln und Liebschaften einflechten, doch da ich schon so weit vorangekommen bin, werde ich mich an das Versprochene halten‘. Die Erfüllung der Programmvorgabe verhindert damit vorgeblich an dieser Stelle, im letzten Gesang des ersten Teils, einen zu spät kommenden Wandel zu Gunsten von erfundenen Liebesepisoden. Ercilla hält damit die Parallelisierung von Liebesthematik und Fiktionsfrage auf-

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recht. Die Einführung eines Traums von der Kriegsgöttin Bellona sowie das Zusammentreffen des Ich mit dem Zauberer Fitón im zweiten Teil des Epos werden dementsprechend poetologisch nicht problematisiert, während die Klage, der Wahrheitsvorgabe wegen nicht über die Liebe sprechen zu können, sich sowohl paratextuell als auch im Haupttext wiederholt: De mí sabré decir cuán trabajada me tiene la memoria, y con cuidado la palabra que di, bien escusada, de acabar este libro comenzado; que la seca materia desgustada tan desierta y estéril que he tomado me promete hasta el fin trabaja sumo y es malo de sacar de un terrón zumo. ¿Quién me metió entre abrojos y por cuestas tras las roncas trompetas y atambores, pudiendo ir por jardines y florestas cogiendo varias y olorosas flores, mezclando en las empresas y requestas cuentos, ficciones, fábulas y amores, donde correr sin límite pudiera y dando gusto, yo lo recibiera? Von mir kann ich sagen, wie sehr mich die Erinnerung quält und in Sorge mich hält das gut begründete Wort, das ich gab, dieses begonnene Buch zu beenden, denn der freudlose, trockene Stoff, den ich wählte, so öde und fruchtlos, verspricht mir bis zum Ende die größte Mühe, denn schwer ist Saft aus einem Erdklumpen zu ziehen. Wer hat mich unter Disteln geschickt und auf Abhänge, dem rauen Trompeten- und Trommelklang hinterher, wo ich durch Gärten und Wälder streifen und bunte, duftende Blumen pflücken hätte können. Unter Abenteuer und Suchreisen hätte ich gemischt Erzählungen, Fiktionen, Fabeln und Liebesgeschichten, in denen ich mich grenzenlos hätte ausbreiten können; Genuss geben, und selbst solchen empfangen. (A. Ercilla y Zúñiga, La Araucana, XX, 3f.)

Ercillas Erzähler thematisiert somit die Problematik der eigenen programmatischen Wahrheitsvorgabe und unterläuft sie bekanntlich in einer Reihe von Passagen der späteren Teile des Epos. Die Programmatik wird als gegebenes Versprechen behandelt, dessen Umsetzung den Verzicht auf Liebesepisoden und parallel dazu weiterhin das Wahrheitsgebot impliziert: „pienso seguir el comenzado oficio / desnudo de ornamento y artificio“ (XXII, 5) – ‚Ich habe vor, das begonnene Unternehmen fortzusetzen / ohne Schmuck und Kunstfertigkeit‘. Bekanntlich wird der Erzähler in der Praxis jedoch schon gegen Ende des ersten Teils konzilianter, als die Episode des Araukaners Lautaro und seiner Geliebten Guacolda Erwähnung findet. Dazu kommt später die Geschichte der Indianerin Glaura, die ihren

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Mann verliert, 26 schließlich sogar eine ‚korrigierte‘ Version des Didomythos. Die Umsetzung der Programmatik, die der Erzähler immer wieder thematisiert, mag somit angesichts der fiktionalen Lapsus als gescheitert gewertet werden; andererseits ist durchaus möglich, den Liebesepisoden kohärenzbildend eine Funktion in einer Gesamtkonstruktion zuzuordnen, die über einen subsidiären und enklavischen Charakter im Dienste von delectatio und variatio hinausgehen. 27 Selbst solche kohärenzstiftenden Lektüren kommen jedoch nicht umhin, den grundsätzlichen Konflikt zwischen Programmatik und Umsetzung des Gedichts zu konstatieren, und sei es als eine Erosion oder gar systematische Dekonstruktion des epischen Diskurses. 28 Der Bruch der Programmatik, der als solcher bestehen bleibt, kann so erst durch eine ‚autodekonstruktivistische‘ Sinnzuweisung eingeholt werden, die die Vorstellung eines inkonsistenten oder scheiternden Erzählers bei Ercilla ablöst. 2.2 Luis Zapata: Carlo famoso – Wahrheit und Fiktion im horizontalen Wechsel Wenige Jahre vor Ercilla y Zúñiga hatte sich Luis Zapata dem epischen Wahrheitsgebot auf andere Weise gestellt. Sein Karlsepos Carlo famoso liefert in der Edition aus dem Jahre 1566 im Hause des in València ansässigen flämischen Druckers Joan Mey das außergewöhnliche Zeugnis eines Textes, in dem Wahrheit und Fiktion als passagenweise trennbare Bestandteile präsentiert werden, und der dem aristotelischen Einheitsgebot damit frontal entgegenläuft. Verantwortlich für die explizite Markierung zeichnet der Drucker des Textes aus dem Hause Mey: 29 Joan Mey war als Stammvater der wichtigsten Druckerfamilie im València des 16. und 17. Jahrhunderts seit 1535 in der Stadt ansässig und verstarb dort 1555, also 11 Jahre vor dem Erscheinen von Zapatas Epos. Zunächst wurde sein Haus von seiner Witwe Jerònima Galés, alsbald auch von deren zweitem Ehemann Pedro de Huete und schließlich – nach dem Tod Jerònimas – von Meys Sohn Pedro Patricio

26 Die Episoden um den Zauberer Fitón scheinen dagegen der Wahrheitsproblematik enthoben zu sein, da Fitóns Prophezeiungen und Visionen in einer Kristallkugel sich auf die zeitgenössischen Schlachten von St. Quintin und Lepanto sowie auf eine geographische Vision der Weltregionen beziehen und so in einer konzilianten Lesart der Wahrheitsanforderung, wenn nicht auf der Ebene des narrativen Rahmens, so zumindest auf der Ebene des visionären Gehalts gerecht werden könnten. 27 In dieser Richtung wurde bei Ramona Lagos argumentiert, dass die Liebesepisoden mit ihrer Exaltation der Treue wie auch die Episoden von in Visionen erzählten beispielhaften Schlachten in Europa dazu dienen, den spanischen Krieg in Arauco zu desavouieren (vgl. LAGOS 1981, S. 176–179). 28 In diesem Sinn gilt, dass das Gedicht „exhibe en su interior la erosión del sistema de restricciones en el que se inscribe“ (ebd. S. 190f.). 29 Zu Mey und den erhaltenen biographisch relevanten Dokumenten vgl. SERRANO MORALES 1898–99, S. 285–289.

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Mey übernommen, der dem Haus von 1587 bis 1623 vorstand, während sein berühmter Bruder Joan Felip Mey eine eigene Druckerwerkstatt in Tarragona aufbaute. Nach dem Tod des Vaters erscheinen die Bücher in València mit der Druckerangabe „en casa de la viuda de Joan Mey“ oder, wie im Falle von Luis Zapatas Carlo famoso, „en casa de Joan Mey“, so dass es offen bleibt, ob hinter dem Druckervorwort unter der Überschrift El Impressor al Lector tatsächlich Pedro de Huete steht, wie es der Publikationszeitpunkt vermuten lässt. Unter den Vorzügen des Werks hebt der Drucker in diesem Paratext zunächst u.a. „la variedad de las cosas, la verdad de la hystoria, la claridad de la narracion, la lindeza de las digresiones“ hervor. Daneben wird darauf hingewiesen, dass der Leser dankbar sein möge für „los cuentos que veras en este libro, las fictiones y fabulas“, derer sich bereits die antiken Dichter und Historiographen befleißigt hätten und die, sollte der Carlo famoso seiner Fiktionen wegen angegriffen werden, sich ebenfalls zu verteidigen hätten, und zwar ebenso wie die Fürsten, zu deren Preis die Fiktion diene. Um allfälliger Kritik derer dennoch vorzubeugen, die dem vorliegenden Epos nicht wie anderen Texten die Freiheit zur Fiktion zugestehen wollen, […] va puesta en cada fiction esta señal * en la margen donde comiença y acaba: para que aun que de suyo se vian, los ciegos, o de ingenio, o de embidia, las toquen assi cô la mano. […] wurde dort am Rand ein Asterisk eingesetzt, wo jeweils eine Fiktion beginnt und endet, damit, selbst wenn man sie von selbst erkennt, auch die im Geiste oder vor Neid Erblindeten die Fiktionen auf diese Weise mit den Händen greifen können. (El Impressor al Lector, in: L. Zapata, Carlo famoso)

Zapatas Carlo famoso dürfte das einzige Epos sein, in dem ‚wahre‘ und ‚fiktive‘ Episoden durch einen Eingriff des Druckers im Druckbild kenntlich gemacht wurden. Mit der Asteriskensetzung wird die postulierte Trennbarkeit der Realitätsebenen so für die weniger hellsichtigen Leser an einem Textbeispiel durchexerziert, und tatsächlich hält der Drucker die Markierungspraxis über 50 Gesänge, das heißt über 44.748 Verse in knapp 5.600 Oktavstrophen hinweg, 30 akribisch durch. Zwar hält er diese Ausweisung nur im Hinblick auf die weniger hellsichtigen Leser für erforderlich, doch wird ihm der moderne Forscher für seine Initiative zweifellos dankbar sein. Werfen wir einen näheren Blick auf die Zuordnung. Zunächst ist festzustellen, dass die Markierungen nicht von ungefähr gesetzt sind. Dies beweisen bereits diejenigen Asterisken, die nicht etwa pauschal am Strophenende, sondern an einem Versende inmitten der Strophe gesetzt sind, und mehr noch solche, die einen Statuswechsel auch für kürzeste Passagen von z.T. nur drei Versen Länge kenntlich machen. Insgesamt ergibt sich das Bild eines weitgehend ausgewogenen Wechsels von ‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘, was als Indiz dafür gelten kann, dass dies auch von der Autorseite aus mitbedacht wurde. In dieselbe Richtung deutet auch die Tatsache, dass der Editor des modernen Faksimiles

30 So die Zählung von M. Terrón Albarán in ZAPATA 1566 (1981), S. cvii.

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für die ‚wahren‘ Passagen zumeist konkrete Quellen in der zeitgenössischen Historiographie nachweisen kann, an die sich der Text eng anlehnt, während die Prozedenz für die fiktiven Episoden selbstverständlich eine andere ist. 31 In der großen Mehrzahl der Fälle scheinen Meys Statuszuweisungen an die Passagen evident zu sein. So befinden sich unter den realen Episoden die Reisen und typischerweise militärischen Begebenheiten der Vita Karls V., während als fiktiv z.B. die in mythischer Vergangenheit angesiedelte Erzählung über den örtlichen Leuchtturm, die Carlos im galicischen Coruña zu Gehör kommt, ausgewiesen ist. Klar begrenzte intradiegetische Erzählsituationen wie diese machen die Statusausweisung besonders unproblematisch. Dasselbe gilt für weitere gerahmte Mythenberichte, wird aber bereits komplexer im Fall einer als wahr ausgewiesenen, lehrhaften Rede über England seitens eines Eremiten, auf den Carlos nach einem Schiffbruch im Rahmen einer fiktiven Episode trifft. Eine andere Art von Interferenz ergibt sich in einer Episode, in der der historische Kampf Karls V. gegen die kastilischen Comuneros als allegorischer Zweikampf des Königs mit einer Schlange erzählt wird: Der Drucker entscheidet sich hier für die Ausweisung als wahr, während ein anderer allegorischer Schlangenkampf im 10. Gesang in eine als fiktiv gekennzeichnete Episode fällt. Auf ähnliche Weise schwankt die Zuordnung der Passagen metapoetischer Erzählerrede. Als weiteres Beispiel nicht evidenter Zuordnung sei die bekannte Ekphrasis einer mit den Wappen der hundert spanischen Adelsfamilien bemalten prunkvollen Saaldecke in Guadalajara im 25. Gesang genannt, deren Existenz nachweislich ist, die hingegen durch den Drucker als fiktiv gekennzeichnet wird. 32 Schließlich scheint bei den Szenen, die Karls innamoramento in England betreffen und als fiktiv markiert sind, das Decorum in Bezug auf den königlichen Protagonisten für die Kennzeichnung offenbar eine Rolle gespielt zu haben. Selbstverständlich lässt die Markierungsmethode naturgemäß nur EntwederOder-Entscheidungen zu, und ihr Resultat suggeriert daher eine Eindeutigkeit der Zuordnung, die möglicherweise in der zeitgenössischen Rezeption nicht im gleichen Maß vorhanden war. Bemerkenswert ist aber, dass der Drucker dies, sollte es denn passagenweise problematischer gewesen sein, als es im Ergebnis scheint, mit keinem Wort thematisiert, sondern im Gegenteil in seinem Prolog die Offensichtlichkeit der Zuordnung hervorkehrt. Den Beispielen inkohärenter Zuordnung zum Trotz lässt sich für den Carlo famoso als Ganzen festhalten, dass der Text sich der Zuweisungspraxis nicht grundsätzlich widersetzt. Dies mag schlicht den textgenetischen Gegebenheiten geschuldet sein, sollte aber als poetologische Option zu Gunsten einer sozusagen horizontalen Differenzierung der Realitätsebenen verstanden werden, die hier als Antwort auf die Problematik eingeführt wird, die 31 Zu den Quellen des Carlo famoso vgl. die Einführung von Manuel Terrón Albarrán in ZAPATA 1566 (1981), S. xi–cv. 32 Im 47. Gesang weist der Text eine Aussparung auf, wo offenbar eine Schau der Wappen der Städte Spaniens eingefügt werden sollte: Diese Ekphrasis markiert der Drucker im Gegensatz zu anderen als ‚wahr‘.

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durch die programmatische Wahrheitsforderung aufgeworfen wird. Passagenweise mit Fiktion abwechselnde Wahrheit, mag sie auch einer scharfen Kohärenzanalyse nicht standhalten, ist die Antwort von Luis Zapata auf das Problem des wahren Epos. Eine zugleich poetisch anspruchsvollere und dem Aristotelismus stärker verpflichtete Option zu Gunsten einer viel engeren Verschränkung der Realitätsebenen soll hier abschließend in Form eines Ausblicks gezeigt werden. 2.3 Ausblick: Der Entwurf einer Problemlösung – Luís de Camões: Os Lusíadas Auch das berühmteste und emblematische Renaissance-Epos des zeithistorischen Typs, Luís de Camões’ Os Lusíadas (Lissabon 1571), lässt seine Proömialprogrammatik in der Unterscheidung der Realitätsebenen wurzeln. Entwirft Camões auch eine ungleich komplexere Programmatik als seine Zeitgenossen, zu der inzwischen auch ein beachtlicher Forschungsstand besteht, 33 so bleibt unbenommen aller weiteren Analyse deutlich, wie auch Os Lusíadas mit dem Wahrheitsargument die italienischen Modelle zu emulieren sucht: Ouvi, que não vereis com vãs façanhas, Fantásticas, fingidas, mentirosas, Louvar os vossos, como nas estranhas Musas, de engrandecer-se desejosas: As verdadeiras vossas são tamanhas Que excedem as sonhadas, fabulosas Que excedem Rodamonte e o vão Rugeiro E Orlando, inda que fora verdadeiro. Vernehmt: Ihr werdet nicht mit Phantasie, Ersonnen, lügnerisch und ausgedacht, Dies Volk gelobt sehn, wie die Poesie Der fremden Völker Taten größer macht: Die Tat der Euren ist so groß, daß sie Erträumte Fabeln hinter sich gebracht, Auch Rodamontes und Ruggieros Pein Und Rolands, mag sie auch geschehen sein. (L. de Camões, Os Lusíadas, I, 11)

In der Umsetzung wurde die Vereinbarkeit des historischen Berichts mit der mythologischen Machina, so die allgemeine Überzeugung in der Forschung, dergestalt gewahrt, dass über den größten Teil des Epos hinweg zwei distinkte Realitätsebenen aufgemacht werden, in denen sich zum einen das historische Personal und zum anderen die mythologischen Götter bewegen. Schon F. Figueiredo wies darauf hin, dass die olympischen Götter in den Handlungsfortschritt eingreifen,

33 Vgl. ALVES 2001 und 2006.

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die Portugiesen dieses Eingreifen aber nicht als das Wirken von mythologischen Gottheiten wahrnehmen. 34 Die eindrücklichste Episode in diesem Sinn ist der Täuschungsversuch des Bacchus an der ostafrikanischen Küste. Um die Portugiesen in einen Hinterhalt zu locken, betet er in Gestalt eines Priesters einen Altar an, den die Seefahrer bei einem Festlandbesuch fälschlich als christlichen Altar wahrnehmen. Als sie sich daher anschicken, in den Hafen von Mombasa einzufahren, wo die Muslime lauern, verhindern Venus und die Nereiden die Einfahrt: Sie stemmen ihre Brust den Schiffen entgegen (II, 17ff.). Als Vasco da Gama den Hinterhalt erkennt, nennt er die Begebenheit ein Wunder und dankt der göttlichen Vorsehung – und nicht etwa der Venus – für ihr Eingreifen (II, 30). Venus wiederum nimmt diesen Dank bewegt entgegen und begibt sich daraufhin zu Jupiter, um den Portugiesen dessen Gunst weiterhin zu erhalten. Aus der Sicht der menschlichen Figuren ist die Realität ihrer Seereise somit nicht vom wunderbaren Mythologischen des Götterstreits tangiert. Ihre Wahrnehmung der Dinge bleibt für sich genommen im Sinne der ‚historischen Wahrheit‘ vollständig plausibel. Anders als bei Zapata konstituieren sich die Realitätsebenen bei Camões damit nicht im ‚horizontalen‘ Wechsel, sondern stehen im ‚vertikalen‘ Verhältnis der Gleichzeitigkeit zueinander. Beide Realitätsebenen können so in einer einzigen Episode und auch noch kleineren Teilen stratifikatorisch verschmolzen sein und je nach Perspektive unterschiedlich zugeordnet werden. Der aristotelischen Einheitsvorgabe wird diese Praxis besser gerecht als Zapatas Passagentrennung. Diese subtile camonianische ontologische Zweiteilung wird nun allerdings in der abschließenden Episode der Liebesinsel offensichtlich aufgehoben, wenn die Seefahrer in eine mythologisch geprägte Umgebung eintreten, sich mit den Bewohnerinnen dieser Welt körperlich vereinigen und dies in einer Hochzeitszeremonie auch im Wort nachvollziehen. Diese Episode wurde wegen dieses Zusammentreffens der Realitätsebenen gelegentlich mit dem Ton leisen Bedauerns als Bruch der Programmatik der Wahrheit verstanden. 35 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Schlussapotheose von Os Lusíadas vielmehr als Überschreitung, Weiterentwicklung und metapoetische Lösung der Programmproblematik zu lesen ist, indem die Welt der Seefahrer mit der Welt der Göttinnen in Kontakt kommt und gerade dieses Verschmelzen von historischer Realität und mythologisch-fabulöser Dichtung thematisiert wird. Diese Vereinigung sollte geradezu als Zielpunkt des ganzen Epos, zumal in einer autoreflexiven Lesart, verstanden werden, die den Gegensatz auflöst, indem sie der dichterischen Fiktion eine realitätskonstituierende Funktion zuweist, deren Funktionieren an anderer Stelle jedoch näher auszuführen bleibt. Deutlich bleiben muss dabei jedoch gerade, dass Vereinigung und IneinanderAufgehen der Realitätsebenen nur vor dem grundsätzlichen Bestandhaben der Ausgangsopposition her denkbar sind. Der historisch imminente Schritt zu einer Ästhetik der Wahrscheinlichkeit wird hier weder programmatisch noch in der

34 Vgl. FIGUEIREDO 1987, Kap. II, 18. 35 S. PIERCE 1954; vgl. auch GLASER 1976.

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Textpraxis unternommen. Es bleibt bei Camões’ Vorschlag der Poetisierung des Realen und der Sublimierung des Wahren, so wie das Mythologisch-Fabulöse schon immer als eine Poetisierung des Wahren verstanden werden konnte.

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Homerallegorese im Siècle classique: René Le Bossu und Anne Dacier ANGELIKA LOZAR Ebenso wie Homers Epen die ältesten Zeugnisse einer abendländischen Literatur sind, sind auch die Anfänge literaturtheoretischer Reflexionen untrennbar mit seinem Namen verknüpft. Auslöser dieser Reflexionen – letztlich als eine Konsequenz des Wandels der griechischen Kultur von einer oralen zu einer Schriftkultur 1 – war der späteren Generationen problematisch gewordene Wahrheitsanspruch der Dichtungen Homers. Dieser verstand sich selbst noch „als Medium göttlichen Wissens; was er singt, […] ist wahr. Dieser Anspruch wird nie zurückgezogen, relativiert oder problematisiert; er umgreift die Homerische Dichtung ohne Einschränkung: den Kampf der Helden um Troja, die Irrfahrten des Odysseus ebenso wie die Reden und Taten der Götter.“ 2 Genau dieser Wahrheitsanspruch – zunächst Homers, dann aber der Dichter überhaupt – war und blieb trotz Aristoteles, der bekanntlich der Dichtung eine „spezifische Wahrheit“ zuweist, 3 bis weit in die Neuzeit hinein für einen Teil der Literaturtheoretiker ein Skandalon. Eine mögliche, wenngleich von Beginn an umstrittene ‚Lösung‘ dieses Problems stellt die Allegorese dar, deren älteste Formen bis in das 6. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen und die zuerst an den Epen Homers entwickelt wurde. 4 Der vorliegende Beitrag möchte die wohl letzte Phase ernsthafter, also mit wissenschaftlichem Anspruch betriebener Homerallegorese in den Blick nehmen, die zeitlich in die Querelle des Anciens et des Modernes fällt und ihren Höhepunkt in der Querelle d’Homère hatte, „où la réflexion sur l’allégorie occupa une place importante“, 5 und zugleich fragen, ob es sich hierbei lediglich um eine unveränderte, mehr oder weniger schematische Fortsetzung sattsam bekannter allegorischer Interpretationsstrategien handelt oder ob die Homerallegorese einen innovativen Beitrag zum poetologischen Diskurs des Siècle classique geleistet hat. Zunächst sei noch einmal kurz rekapituliert, dass es in Homers Fall anfangs primär darum ging, ihn gegenüber seinen Kritikern – zu den ältesten zählt Xenophanes (6./5. Jh. v. Chr.), zu den bekanntesten Platon – vom Vorwurf lügenhafter Aussagen über die Götter zu befreien: In Ilias und Odyssee treten diese nicht nur in menschlicher Gestalt auf, sondern werden nicht selten von negativen Affekten 1 2 3 4 5

S. hierzu die Ausführungen in RÖSLER 1983; auf die von Rösler ausgeführten weitreichenden Implikationen dieses fundamentalen kulturgeschichtlichen Wandlungsprozesses kann im Rahmen dieses Beitrags verständlicher Weise nur holzschnittartig Bezug genommen werden. Ebd. S. 110; Hervorhebung von mir. Ebd. S. 117. Zu alternativen Problemlösungen s. ebenfalls RÖSLER 1980 und 1983. BOCH 2003, S. 311.

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(Hass, Wut, Neid etc.) getrieben, bekämpfen einander, lassen sich durch Opfer und Bitten ihrer Geschöpfe in ihren Entscheidungen manipulieren, sind gar die Ursache von Übeln und bedienen sich, um ihre Ziele zu erreichen, unlauterer Mittel wie der Lüge oder des Betrugs. 6 All dies scheint zunächst unbestreitbar in eklatantem Widerspruch zu dem zu stehen, was Dichtung – und insbesondere das Epos – neben dem ‚Ergötzen‘ in den Augen eines Gutteils von Literaturtheoretikern seit der Antike auch leisten sollte, nämlich ethisch und gegebenenfalls religiös zu unterweisen und Wissen zu vermitteln. Aus dieser Problematik bot die Allegorese einen Ausweg, indem sie solchen prekären Äußerungen einen ‚tieferen Sinn‘ (hypónoia) unterlegte, entweder einen physikalisch-kosmologischen (z.B. Theagenes von Rhegion) oder einen psychologisch-moralischen (z.B. Anaxagoras). 7 Seit dieser Frühzeit blieb die allegorische Interpretation von Dichtung 8 mutatis mutandis eine probate Interpretationsmethode. Das Mittelalter bediente sich ihrer zur Legitimierung der Lektüre heidnisch-antiker Werke, indem es – ein Paradebeispiel sind Ovids Metamorphosen – diesen z.B. einen heilsgeschichtlichen oder moralischen Sinn unterlegte. Noch im 16. Jahrhundert war diese Form des Umgangs mit der paganen Literatur weder unüblich noch gar ‚anachronistisch‘, wie Klaus W. Hempfer gezeigt hat.9 So sahen die Literaturtheoretiker der Epoche die Allegorese zum einen dann gerechtfertigt, wenn das voluntas-auctoris-Prinzip zutraf. Ferner – dies betraf auch wiederum den Umgang mit den Epen Homers – war sie zulässig, wenn der Literalsinn bestimmter Textstellen unverständlich oder auch anstößig war. Auch in der Renaissance diente die Allegorese im Übrigen weiterhin „als Apologie der Dichtung überhaupt, indem sie die in dichterischen Werken verschlüsselte Gedanklichkeit, die moralischen, philosophischen, ja theologischen Lehren der Dichter zum Vorschein bringt“. 10 In der Querelle des Anciens et des Modernes nun verbindet sich die allegorische Interpretation antiker Epik – genauer gesagt der Homerischen Epen und der Äneis – mit zwei Persönlichkeiten: In Bezug auf ihre theoretische Grundlegung ist dies René Le Bossu (1631–1680), in Bezug auf ihre konsequente, und, wie noch zu zeigen sein wird, in den Augen ihrer Kritiker den Bogen überspannende praktische Umsetzung Anne Dacier (1647–1720). Beider Werk ist zum einen durch die

6

Anne Dacier setzt sich mit dieser Problematik ausführlich auseinander; s. z.B. HOMER 1711, S. IX. 7 S. RÖSLER 1980 und 1983. 8 Auf die seit der Spätantike und dann vor allem im Mittelalter dominante Allegorese der Heiligen Schrift soll im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. 9 S. HEMPFER 1983; zur Allegorese in der Renaissance s. außerdem KABLITZ 1989, S. 84–90; hinsichtlich des Mittelalters s. neben den ‚Klassikern‘ der Allegorieforschung von Lubac, Ohly oder Pépin z.B. MEIER 1976 und ŽAKELJ 2007; zur Allegorie bei Dante s. HEMPFER 1982 und LIEBERKNECHT 1999. Zur Allegorese in der Frühen Neuzeit s. HAUG (Hg.) 1979. Einen Überblick über die Allegorese von der Antike bis zur Renaissance bietet jetzt PÉREZJEAN (Hg.) 2004. Zur Allegorese in der Aufklärung s. LANGVILLE (Hg.) 2003. 10 HEMPFER 1983, S. 55.

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umfassende epochale Krise des Epos, 11 zum anderen durch eine konkrete ‚Homerkrise‘ geprägt. Wie Reinhard Krüger ausführt, stand „die Gattung des [französischen] Versepos im Zentrum der ästhetischen, geschichtsphilosophischen und politischen Debatten des 17. Jahrhunderts“ 12 und war somit auch ein zentraler Gegenstand in den Auseinandersetzungen der Querelle des Anciens et des Modernes. 13 An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass letztendlich aus dieser Debatte, die nicht nur die Literatur, sondern sämtliche bis dahin erbrachten kulturellen Errungenschaften betraf, weder die eine noch die andere Partei siegreich hervorgegangen ist. Das nachhaltigste Ergebnis der Debatte, die schon bald nach ihrem Ende von d’Alembert als „dispute […] peu utile“ abgetan wurde, 14 bestand allerdings darin, dass schließlich jene andere geschichtliche Denkart, der ‚Historismus‘ des 18. Jahrhunderts, aus einer Auseinandersetzung über Fragen des ästhetischen Urteils hervorging, an welcher die Kritik der Anciens an der versuchten Einordnung der Künste in die Perspektive des universalen Fortschritts nicht weniger Anteil hat als die Kritik der Modernes an der so lange unbestrittenen Autorität der klassischen Überlieferung. 15

In der Querelle waren es erwartungsgemäß die Anciens, die, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten, aber aus einer schon ansatzweise historisierenden Perspektive, wie auch das Beispiel René Le Bossus zeigen wird, den antiken Epen zu neuer Akzeptanz verhelfen wollten und damit zu Wegbereitern der „Idee von der Autonomie der Kunst“ 16 wurden. Dies brachte sie in Konflikt mit Verfechtern einer ‚modernen‘, christlich-national geprägten Epik, welche eine Vorbildlichkeit Homers und Vergils rundweg ablehnten. Den Epen der Antike wird ihr paganer Charakter vorgehalten und damit ihre Inkommensurabilität mit den ästhetischen Bedürfnissen eines modernen, christlichen Jahrhunderts behauptet. Diesem Verdikt liegen keine eigentlich ästhetischen Maßstäbe zugrunde, sondern die Vorstellung davon, daß die Wahrheit von Kunst nicht im Ästhetischen aufgeht und diese sich darüber hinaus in außerästhetischen religiösen Wahrheiten begründen müsse. 17

Was nun speziell Homer angeht, so war seine Spitzenposition in der Hierarchie bedeutender Epiker – etwa im Verhältnis zu Vergil seit Scaliger, aber auch zu anderen und nicht zuletzt zu den zeitgenössischen Vertretern des Genre – seit langem ins Wanken geraten, längst galt er vielen Kritikern, die sich vor allem aus den Reihen der Modernes rekrutierten, nicht mehr als ‚prince des poètes‘, als Ahnherr und unerreichbares Vorbild der Epik, und die Achtung, die man ihm

11 S. hierzu KRÜGER 1986 und CSURÖS 1999. 12 KRÜGER 1986, S. 247. 13 Zur Querelle sind immer noch grundlegend JAUß 1964 und 1986. S. auch KRÜGER 1986, passim. Zum Problem des Konflikts zwischen ‚Wahrscheinlichem‘ und ‚Wunderbarem‘ in der französischen Klassik s. WEHLE 1985. 14 JAUß 1964, S. 9. 15 Ebd. S. 13. 16 KRÜGER 1986, S. 247. 17 Ebd.

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zollte, galt eher dem Alter seiner Dichtung als ihrer in vieler Hinsicht zweifelhaft gewordenen Qualität. 18 Eine Zusammenfassung der Homerkritik findet sich im 4. Dialog von Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes von 1692: Genannt werden hier Homers „sujets“, „mœurs“, „pensées“ und „diction“. 19 Bevor diese Aspekte im Einzelnen von den Gesprächsteilnehmern behandelt werden, erwähnt der Abbé, Repräsentant der Modernes und im Übrigen die dominante Sprecherfigur der Parallèle, gleichsam en passant eine Behauptung ‚vieler ausgezeichneter Kritiker‘, genau gesagt aber des Abbé d’Aubignac (Conjectures académiques sur l’Iliade 20 ), Homer habe als Individuum nie existiert, vielmehr seien seine Epen aus der Zusammenfügung verschiedener kleinerer Epen entstanden. 21 Er persönlich wolle dieser Ansicht natürlich nicht ohne Weiteres zustimmen, halte sie aber immerhin für bedenkenswert. Sodann geht man zur Detailkritik über. Insgesamt gesehen äußert der Abbé wenig Wohlgefallen an Ilias und Odyssee, die, wie er sich ausdrückt, Produkte aus der „enfance“ der Menschheit seien. Seiner Meinung nach ermangelt bereits die Konzeption der Ilias jeglicher „sagesse“; Homer behandle den ‚Zorn des Achill, der den Achäern unendliches Leid gebracht habe‘, letztendlich nur im ersten und dann wieder im 19. Buch der Ilias, die übrigen Bücher würden sich anderen Themen widmen, außerdem hätten Trojaner und Griechen gleich viel Leid erduldet. Einen breiten Raum nimmt die Diskussion über die Sprache Homers ein, der ihre ‚Weitschweifigkeit‘ zum Vorwurf gemacht wird. Kritisiert wird Homer auch in Hinsicht auf sein ‚Wissen‘ über die verschiedensten Bereiche, das als äußerst rudimentär bzw. defizitär ausgewiesen wird. Versuchen der Ehrenrettung Homers gegenüber, unter denen auch die Allegorese indirekt Erwähnung findet, verbunden mit dem Namen René Le Bossus, zeigt der Abbé sich abweisend: Comment l’entendoit donc le Pere le Bossu, qui a écrit du Poëme Epique. A voir le respect avec lequel ce bon Religieux parle de la construction de la Fable de l’Iliade, il semble qu’il fasse un commentaire sur l’Ecriture sainte. Que de chiméres ce bon Pere s’est imaginées. 22

Das hier zum Ausdruck gebrachte abschätzige Urteil über René Le Bossus erst in jüngster Zeit nicht nur wiederentdeckten, sondern auch zu neuer Anerkennung gelangten Traité sur le Poëme Epique 23 als einer „chimère“ entsprach allerdings 18 Zur ‚Homer-Krise‘ in der Frühen Neuzeit s. VOGT-SPIRA 2002, zu Homer im Siècle classique s. KRÜGER 1986, passim. 19 PERRAULT 1964, 4. Dialog, S. 32. 20 Diese wurden erstmalig 1715 posthum veröffentlicht. 21 S. ebd. S. 32–39; ebd. S. 32f.: „[…] il est bon de remarquer que beaucoup d’excellens Critiques soutiennent qu’il n’y a jamais eu au monde un homme nommé Homére, qui ait composé les vingt quatre livres de l’Iliade, et les vingt quatre livres de l’Odyssée […] mais ils disent que l’Iliade et l’Odyssée ne sont autre chose qu’un amas, qu’une collection de plusieurs petits Poëmes de divers Auteurs qu’on a joints ensemble“ (Abbreviatur ‚&‘ wurde aufgelöst). 22 Ebd. S. 37f. Sprecher ist der Chevalier, ein weiterer Gesprächsteilnehmer. 23 Ein fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1714 liegt jetzt vor in LE BOSSU 1981. René Le Bossu verfasste außerdem eine Parallèle des principes de la physique d’Aristote et

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durchaus nicht der Meinung aller zeitgenössischen Literaturtheoretiker. Vielmehr genoss der erstmals 1674 publizierte und bis 1715 in mehreren Neuauflagen erschienene Traktat beachtliche Wertschätzung, und er stand in ernst zu nehmender Konkurrenz zum Art poétique Boileaus, der zwar auch zu den Anciens zählte, dem Epos aber bekanntlich ablehnend gegenüberstand. Rigault konstatiert noch im 19. Jahrhundert, dass die „critique française du XVIIe siècle explique Homère par Aristote et Aristote par le P. Le Bossu“. 24 Mit der Aufklärung allerdings war seine Wirkungsgeschichte radikal beendet, denn diese fällte ein vernichtendes Urteil und erklärte den Traité zu einer Ausgeburt von „idées chimériques“, 25 über die man nur lachen könne. Die Folge war, dass das Werk bis in die 1970er Jahre weitgehend der Vergessenheit anheimfiel. 26 Diese ablehnende Haltung gegenüber dem poetologischen Ansatz Le Bossus resultierte aus der Tatsache, dass sich Le Bossu zur Interpretation der antiken Epen, von denen ihn primär die Äneis und erst in zweiter Hinsicht Ilias und Odyssee interessierten, der Allegorese bediente. 27 Diese Konzentration auf eine in den Augen der Aufklärung unzeitgemäße Auslegungsmethode verstellte den Blick für die Erkenntnis der innovativen Aspekte von Le Bossus poetologischem Ansatz. Diese bestehen, wie Volker Kapp ausführt, insbesondere in seiner Verbindung von Rhetorik und Poetik, „qui est au centre de toute sa théorie du poème épique: la distinction entre le héros et l’idée qu’il incarne. Cette distinction ainsi que les conséquences qu’elle implique ont provoqué les protestations les plus violentes“.28 Entsprechend dieser Voraussetzung müsse der Dichter seine fabula und seine Charaktere auf der Grundlage einer bereits vorliegenden moralischen Maxime entwickeln und nicht umgekehrt zuerst Mythos und Charaktere gestalten: „La premiére chose par où l’on doit commencer pour faire une Fable, est de choisir l’instruction et le point de Morale qui lui doit servir de fond, selon le dessein et la fin que l’on se propose.“ 29 Die utilitas des Epos, nach Le Bossu dem delectare vorgeordnet, liegt in der ‚moralischen Unterweisung‘ der Rezipienten.

24 25 26 27

28 29

de celle de René Des Cartes. S. hierzu die Einleitung zu LE BOSSU 1981 von Volker Kapp sowie KIBÉDI VARGA 1990. LE BOSSU 1981, Einleitung, S. 6, dort zitiert nach H. Rigault, Histoire de la querelle des anciens et des modernes, Paris 1856, S. 365. LE BOSSU 1981, Einleitung, S. 6. S. ebd. Volker Kapp, der Herausgeber des Traité, weist darauf hin, dass sich erstmals 1974 auf einer Pariser Tagung zum 300. Jahrestag der Erstveröffentlichung von Boileaus Art poétique mehrere Beiträge mit dem Traité befasst haben. Seinen Zeitgenossen blieb Le Bossus geistige Nähe zum Jansenismus (vgl. KRÜGER 1986, S. 255) sowie zur Philosophie Descartes’, die sich in einem auf der raison basierenden Kunstbegriff manifestiert, keineswegs verborgen. Zum rationalen Kunstbegriff Le Bossus s. z.B. folgendes Zitat: „Les Arts ont cela de commun avec les Sciences, qu’ils sont comme elles fondez sur la raison, et que l’on doit s’y laisser conduire par les lumiéres que la Nature nous a données“ (LE BOSSU 1981, S. 1; einleitendes Kapitel des Traité: „Dessein de tout l’Ouvrage“; Hervorhebungen von mir). LE BOSSU 1981, Einleitung, S. 6. LE BOSSU 1981, S. 27; Abbreviatur ‚&‘ wurde aufgelöst.

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Mit Hilfe einer auf der raison gründenden Allegorese, verstanden als „transposition des préceptes, que l’orateur cicéronien ou quintilianiste doit suivre en choisissant ses figures ‚dans le trésor mémoriel commun à lui-même et à son public‘“, 30 will Le Bossu die utilitas der antik-paganen epischen Dichtung nachweisen. Der grundsätzliche Primat des Epos in der Gattungshierarchie steht für ihn, gegen den literaturtheoretischen Mainstream seiner Epoche, außer Zweifel. Nach Ansicht Le Bossus – der damit, wie gleich deutlich werden wird, in diametralem Gegensatz zu Anne Dacier steht – ist die zeitgenössische Epik weder per se wertlos, noch ist sie der antiken aufgrund der bloßen (und zugleich fragwürdigen) Tatsache überlegen, dass „die später Geborenen allein schon durch das wachsende Erbe an Wissen und Erfahrung ihren Vätern und Vorvätern überlegen seien“. 31 Dementsprechend verwahrt er sich dagegen, aus einem ‚modernistischen‘ und damit zwangsläufig unhistorischen Standpunkt heraus die antike Epenproduktion pauschal zu verwerfen. Diese müsse vielmehr, ebenso wie alle anderen Texte, „im Kontext ihrer eigenen ästhetischen, sozialen und moralischen Voraussetzungen gelesen werden. Le Bossu gewinnt über dieses Verfahren die Kategorie eines geschichtlich zu relativierenden beau.“ 32 An seine Grenzen stößt Le Bossus historisierender Ansatz nun allerdings im Umgang mit der antiken Götterwelt. Mit dieser setzt er sich ausführlich im 5. Buch seines Traité unter dem Titel „Des Machines“ auseinander. Die Machina – im christlichen Epos ist es das wunderbare Eingreifen Gottes in das Geschehen, in den paganen Epen war diese Aufgabe den olympischen Göttern zugefallen – kommt seinen Ausführungen zufolge dann zum Einsatz, wenn der Verlauf der Handlung allzu fern jeglicher vray-semblance, d.h. nach Maßgabe der Vernunft allzu unglaubwürdig wirken würde, wäre er nur auf menschliches Einwirken zurückzuführen. Da sich in den antiken Epen viele ‚unwahrscheinliche‘ Begebenheiten finden, muss Le Bossu zwangsläufig auf die Allegorese zurückgreifen, um den Götterapparat zu legitimieren. Zwar übt er an der Tatsache Kritik, dass sich Homer und auch andere antike Dichter bisweilen bei ihrer Darstellung der Götter in allzu exzessiver Weise der Fiktionen bedient und damit eher Missverständnisse als fruchtbare Erkenntnisse hinsichtlich der Natur der Götter herbeigeführt haben: Il est vrai que les prémiers Savans ont agi de mauvaise foi en une chose de la derniére importance, quand ils ont écrit de telle sorte, que les esprits médiocres ou peu instruits […] n’ont pû pénétrer l’écorce & le voile dont ils ont couvert la vérité. […] c’est sans doute une faute très grande que nous ne voulons excuser en aucune maniére. 33

Doch will er diese gleichsam entschärfen, indem er nachweist, dass auch die Heilige Schrift nicht selten einen Gott präsentiere, der nicht nur menschliche Gestalt annimmt, sondern auch die Eigenschaften seiner Geschöpfe an den Tag legt, und

30 31 32 33

LE BOSSU 1981, Einleitung, S. 7. JAUß 1964, S. 28. KRÜGER 1986, S. 256. LE BOSSU 1981, S. 411.

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zwar durchaus auch negative, wie Zorn und Rachsucht. 34 Nach Le Bossu bergen auch die antiken Epen im Gewand ihrer noch so gewagten, wenn nicht absurden Fiktionen eine tiefere Wahrheit: „La Verité est cachée; c’est le point de Morale que l’Auteur veut enseigner […]. La Fiction est l’action, ou les paroles dont on couvre ces instructions.“ 35 Den Dichtern seiner eigenen Epoche empfiehlt Le Bossu gleichwohl entschieden, von ausgedachten Geschichten über irgendwelche Götter oder gar Gott Abstand zu nehmen. Was für Homer und Vergil noch billigenswert war, weil es dem geistigen und religiösen Niveau und dem Erwartungshorizont ihrer Adressaten entsprochen habe, gelte keineswegs für die zeitgenössische Epik. Der Dichter müsse vielmehr étudier le besoin, l’intérêt, l’humeur de ses Auditeurs, et l’effet que ces sujets pourront faire sur leur esprit. Et à vrai dire, nous ne sommes plus en un temps où la simplicité puisse rendre cette matiére tolérable aux honnêtes gens […]. Ainsi, quelque judicieux ou excusable qu’ait été Homére en cette invention; un Poëte ne seroit aujourd’hui, ni judicieux, ni excusable, si en cela il osoit imiter cet ancien. Il est bon d’enseigner ce qu’il a enseigné: mais il est trésmauvais de l’enseigner comme il a fait. 36

Wie bereits eingangs erwähnt, fand Le Bossu in Anne Dacier eine begeisterte Anhängerin, die seine theoretischen Überlegungen in die interpretatorische Praxis umsetzte. Bevor sie sich zwischen 1695 und 1716 an ihr Lebenswerk, die vollständige Übertragung von Homers Ilias und Odyssee in französische Prosa machte, hatte sie sich bereits als Editorin und Übersetzerin antiker Literatur über die Grenzen Frankreichs hinaus einen Namen gemacht. 37 Ihre Iliade, die bis 1826 34 Ebd. S. 416: „La Théologie a aussi ses diversitez. La plus saine ne doit rien dire des Dieux qui ne soit bon, mais elle peut aussi leur attribuer quelques passions, comme la colére, la vengeance, la tristesse; non qu’elle la reconnoisse selon la vérité, mais comme de simples façons de s’exprimer accommodées aux nôtres, ainsi que nous avons dit en parlant de Junon et de la Vénus de Virgile.“ 35 Ebd. S. 26. Le Bossu unterscheidet hinsichtlich der allegorischen Strukturen drei Bereiche: Theologie („pour expliquer la Nature de Dieu“), ‚Physik‘ („elles représentent les choses Naturelles“) und Moral („elles sont les figures des Vertus & des Vices“). Ein Beispiel dafür, dass ein Dichter über die Götter „en physicien“ spreche, finde sich im ersten Buch der Aeneis, wo Äneas in einen Sturm gerät: „Eole est la puissance de la Nature qui ramasse autour des montagnes & dans leur sein […]“ (ebd. S. 409). 36 Ebd. S. 415. 37 Ausführliche Biographien Anne Daciers bieten MALCOVATI 1952, FARNHAM 1972, SANTANGELO 1984, FOULON 1993 und BURY 1999; zu ihrer zeitgenössischen Reputation als Wissenschaftlerin s. VAN DIJK 1988. Neben einigen Editionen in usum delphini sind zu nennen: Les Poesies d’Anacréon et de Sapho, traduites de grec en françois avec des remarques par Mademoiselle Le Fèvre, Paris 1681; Comedies de Plaute, traduites en François, avec des Remarques et un examen selon les règles du théâtre, par Mademoiselle Le Fevre, Paris 1683 (3 Bde.); Les Comédies de Térence, Paris 1688 (3 Bde.); Le Plutus et les Nuées d’Aristophane. Comédies greques traduites en françois. Avec des remarques & un examen de chaque pièce selon les règles du théâtre. Par Mademoiselle Le Fèvre, Paris 1684; Réflexions morales de l’empereur Marc Antonin. Avec des remarques, Paris 1691. In der Parallèle Perraults wird übrigens im Kontext der Diskussion über die Komödie Anne Daciers Aristophanes-Überset-

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mehrfach aufgelegt wurde, 38 gilt noch heute als bedeutendste französische Homerübersetzung des 18. Jahrhunderts. So konstatiert etwa Noémi Hepp, die Übersetzungen Daciers seien philologisch fast fehlerfrei. 39 Negativ ist hingegen ihr Urteil über die ästhetische Qualität; auch der sich in vielen Neuauflagen manifestierende Erfolg insbesondere der Iliade dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass sur le plan de l’esthétique, elle [sc. die Übersetzung] constitue un échec. L’Homère de Mme Dacier n’est que très partiellement un poète de l’antiquité, mais il n’est pas davantage un poète moderne; il n’a pas d’âge, pas de sol où s’enraciner […] il n’a nulle vie propre. 40

In der Tat stand Daciers Homerprojekt gerade hinsichtlich der „esthétique“ bald im Kreuzfeuer der Kritik und führte bekanntlich zur Querelle d’Homère. Ausgelöst wurde diese kurz nach dem Erscheinen der Dacier’schen Iliade (1711) durch Antoine de la Mottes in Versen verfasste, auf zwölf Gesänge reduzierte Version des Epos, die sich übrigens zumindest inhaltlich an Daciers Übersetzung orientierte, da de la Motte des Griechischen nicht mächtig war. Daciers Gegner aus den Reihen der Modernes, an erster Stelle de la Motte, der sich in seinem Discours sur Homère, welchen er seiner Version vorausschickte, als entschiedener Gegner Homers ausgewiesen hat, warfen ihr insbesondere vor, sie habe sich nicht bemüht, die dem zeitgenössischen goût und der bienséance 41 zuwiderlaufenden Mängel Homers zu beseitigen. Nun beabsichtigte Anne Dacier nichts weniger, als Homer zu ‚korrigieren‘ bzw. ihn den ästhetischen Bedürfnissen ihrer Zeitgenossen anzupassen. 42 Im Gegenteil: J’advouë que je n’ay pas cherché à adoucir la force de ses traits pour les rapprocher de nostre siecle. […] En un mot le poëme imite ce qui est, et non pas ce qui n’a esté qu’aprés luy. Homere ne pouvoit pas se conformer aux usages des siecles suivants; et c’est aux siecles suivants à remonter aux usages de son siecle. C’est un des premiers preceptes de l’art poëtique de bien marquer les mœurs […]. 43

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zung erwähnt (s. PERRAULT 1964, S. 205: „On vient de nous donner les plus belles Comedies d’Aristophane traduites par une personne d’un mèrite extra-ordinaire et de qui l’on peut dire que si le François est sa langue maternelle, le Grec est sa langue paternelle, puisque son illustre Pere qui la sçavoit parfaittement a pris soin de la luy apprendre dez le berceau.“ Mit dem „illustre Pere“ ist Tanneguy Lefèvre gemeint, Professor für Griechisch in Saumur und einer der führenden protestantischen Intellektuellen unter Ludwig XIV.). Zwischen 1711 und 1826 erschienen 14 Auflagen der Ilias-Übersetzung. Vgl. HEPP 1968, S. 659f. Sie hebt auch hervor, dass „quelquefois la traductrice hésite entre plusieurs sens et dans ce cas elle indique en note les sens qu’elle n’a pas retenus. Parfois elle est la première à voir clair là où chacun avant elle a buté“ (ebd. S. 651f.). Ebd. S. 660. S. hierzu die Begriffsdefinition in DOUCHIN 1989, S. 59: „[…] et que les bienséances au contraire sont relatives aux spectateurs et ont pour but de ne pas blesser les moeurs [sic] du pays ou du siècle à qui l’orateur, le poète ou l’artiste soumettent les productions de leur génie.“ Dass sie dennoch Zugeständnisse gemacht hat, lässt sich allerdings an zahlreichen Beispielen belegen. HOMER 1711, S. XXIIIf.

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In der Querelle trat Anne Dacier mit einer gewissen, auf ihre Zeitgenossen teilweise befremdend wirkenden Polemik für die Sache Homers ein. 44 Konsequent vertrat sie – im Gegensatz zu Le Bossu – die Überzeugung, dass nach Homer mit Ausnahme Vergils die Epik keinen würdigen Vertreter mehr gefunden habe und die Dichter ihrer eigenen Epoche weder sprachlich noch stilistisch oder auch hinsichtlich der Wahl geeigneter epischer Sujets imstande seien, Werke zu schaffen, die auch nur im Entferntesten den Anforderungen des Genres entsprechen. Mit ihrem Homer-Projekt hatte sich Anne Dacier zum Ziel gesetzt, „de pouvoir donner à nostre siecle une traduction d’Homere, qui, en conservant les principaux traits de ce grand Poëte, pust faire revenir la pluspart des gens du monde du préjugé desavantageux que leur en ont donné des copies difformes qu’on en a faites“; allerdings war ihr klar, dass „[i]l n’y a rien de plus difficile que de faire bien entrer les hommes dans le veritable goust du Poëme Epique, et de leur faire connoistre son essence“. 45 Ursache für diese Schwierigkeit ist nach ihrer Meinung der korrupte goust ihrer Zeitgenossen, der sich in einem ausgeprägten Interesse an belanglosen Geschichten, in denen es vor allem um die Liebe geht, äußert. Dass Anne Dacier der eigene hohe Anspruch, der aus diesem Zitat deutlich wird und an dem sie letztendlich gescheitert ist, 46 durchaus klar war, geht aus den umfangreichen prefaces und remarques hervor, die sie ihren Übersetzungen beigegeben hatte. Die remarques, die sich dezidiert an ein interessiertes Laienpublikum und nicht an das Fachpublikum richteten, sollten dazu dienen, Verständnisschwierigkeiten jeglicher Art, seien sie nun sprachlicher, historischer oder auch religiöser Natur, zu beseitigen. In ihren Anmerkungen, die Georg Finsler pauschal für überflüssig erklärt hat, finden sich viele sehr interessante philologische und kulturgeschichtliche Hinweise. Sie zeugen von dem umfassenden Quellenstudium Daciers und bilden ein Kompendium des gesamten zeitgenössischen Homerwissens, auf das beispielsweise Alexander Pope nachweislich zurückgegriffen hat. 47 Die prefaces haben eindeutig apologetischen Charakter, d.h. sie dienen zum größten Teil der Legitimierung ihres Homerprojekts, und zwar bereits vor ihrer Auseinandersetzung mit de la Motte. Ihr Inhalt sei im Folgenden kurz referiert: Im Vorwort zur Iliade werden fünf Problemkomplexe behandelt, die ihr die größten Schwierigkeiten bereitet haben: 1) die Natur des Epos im Allgemeinen, „dont l’art est entierement opposé à ces faux arts [sc. ihrer eigenen Epoche]“; 48 2) die Allegorien und Mythen, die sich in Homers Epen finden; 3) die für zeitgenössische Verhältnisse oft zu primitiven, ja verächtlichen (‚mesprisables‘) mœurs und carac44 Insbesondere erregte ihre als Reaktion auf de la Mottes Discours sur Homère verfasste Streitschrift Des causes de la corruption du goust von 1714 Anstoß. 45 HOMER 1711, S. III. 46 Mögen ihre Übersetzungen auch viel gelesen worden sein, wie aus den erwähnten zahlreichen Neuauflagen hervorgeht, so dürfte doch einzig ihre Entscheidung für eine Prosaübersetzung richtungsweisend gewesen sein. Übrigens hatte Dacier auch ihre anderen Übersetzungen antiker Dichtung (Sappho, Anakreon, Aristophanes, Plautus und Terenz) in Prosa verfasst. Zu Daciers Bedeutung für die Entwicklung der Übersetzungstheorie s. MOORE 2000. 47 S. FINSLER 1912, S. 212f. Zu Pope s. MOORE 2000 und MORTON 2003. 48 HOMER 1711, S. VI.

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teres der Homerischen Heroen; 4) die Exaltiertheit der Homerischen fictions, die zum Teil außerhalb jeglicher vray-semblance liegen; 5) das Problem der Sprache Homers. 49 Einen Exkurs widmet sie der Frage, ob „le plaisir est l’unique but du Poëme Epique“. 50 Im Vorwort zur Odyssee verfolgt sie u.a. das Ziel, die Regeln der epischen Dichtung „selon les principes d’Aristote et d’Horace“ an Ilias und Odyssee zu demonstrieren und deren sagesse und utilité zu zeigen sowie eben diese Regeln „à un de nos Romans et à un de nos Poëmes Epiques“ zu übertragen. 51 Hinsichtlich der Zweckbestimmung epischer Dichtung vertritt Anne Dacier, ebenso wie Le Bossu, den Standpunkt, sie habe primär der utilitas zu dienen. Das delectare stelle sich automatisch ein, wenn der utilitas Genüge getan sei. Was speziell die Homerischen Epen angeht, so konstatiert sie zunächst, dass la Poësie Epique est un art qui n’a esté inventé que pour l’utilité des hommes; Si Homere a pû estre nuisible et dangereux pour les mœurs, il a peché contre les regles de son poëme, qui n’est fait que pour donner des instructions de vertu, et par consequent il ne merite pas le grand nom de Poëte, et moins encore celuy de Poëte trés divin, que Platon mesme luy a donné. 52

Von einem historisierenden Standpunkt aus, den auch Anne Dacier vertritt, ist der Nachweis der utilité leicht zu erbringen, wenn es um die Klärung derjenigen ‚anstößigen‘ Passagen in Homers Epen geht, die einen rein ‚weltlichen‘ Bezug haben. So fällt es ihr beispielsweise nicht schwer, abweichende mœurs der Griechen und Trojaner mit dem Hinweis auf den historischen Kontext, in welchem Ilias und Odyssee abgefasst wurden, zu erklären: Wenn also die Heroen persönlich die Opfertiere schlachteten, anstatt Dienern diese Aufgabe zu überlassen, so sei es sinnlos, dies aus einem modernen ästhetischen Empfinden zu verurteilen: Les mœurs des hommes sont le caractere des siecles où ils vivent […]. Le Poëme Epique estant donc l’imitation d’une action, le poëte doit rendre exactement les mœurs telles qu’elles sont dans les temps qu’il designe, autrement son imitation sera fausse, et ses heros ne seront que des heros de Roman […]. 53

Zu den Topoi der Homerkritik gehört folgendes Beispiel aus der Parallèle, wo der Abbé Homers Darstellung Achills als unangemessen für ein Gedicht, aus dem man immerhin ‚Unterweisung‘ oder ‚Vergnügen‘ ziehen solle, verurteilt: Je suis offensé d’entendre Achille qui traite Agamemnon d’yvrogne et d’impudent, qui l’appelle sac-à-vin, et visage de chien. Il n’est pas possible que des Roys et de grands Capitaines ayent jamais esté assez brutaux pour en user ainsi; ou si cela est arrivé quelquefois, ce sont des mœurs trop indécentes, pour estre representées dans un Poëme, où les choses se

49 S. HOMER 1711, S. VIf. 50 Ebd. S. LXVII–LXX. 51 HOMER 1716, S. IVf. Dacier beschränkt sich bei der Übertragung der Regeln Aristoteles’ dann doch auf das Beispiel eines zeitgenössischen Romans, die Cassandre von Gautier de Costes de la Calprenède. 52 HOMER 1711, S. IX; Hervorhebungen von mir. 53 Ebd. S. XXIIIf.

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mettent, non point comme elles peuvent, mais comme elles doivent arriver pour donner de l’instruction ou du plaisir. 54

Anne Dacier rechtfertigt, hier gänzlich Le Bossu folgend, Achills ‚mœurs trop indécentes‘ damit, dass die utilité der Ilias keineswegs dadurch beeinträchtigt werde, dass ein einzelner Held, eben Achill, negativ dargestellt sei. Vielmehr sei er gleichsam ein Paradigma ex negativo, manifestiere mithin, wie man sich nicht verhalten dürfe: Mais ces censeurs n’entrent point du tout dans l’esprit de ce grand Poëte, qui dans le Personnage d’Achill veut nous donner le caractere d’un homme colere, […] enfin d’un homme vicieux […], car il n’est nullement necessaire que le heros d’un Poëme soit un honeste-homme, […] il suffit que les mœurs sont poëtiquement bonnes, c’est à dire, que son caractere soit égal et bien soustenu. 55

Doch welche utilité bzw. welche Erkenntnis über das wahre Wesen des Göttlichen können Homers Geschichten über die Taten und passions der Götter vermitteln? Anne Dacier ist sich, wie sie im Vorwort zur Iliade mehrfach betont, der Ernsthaftigkeit dieses Problems bewusst, dessen Lösung ihrer Überzeugung nach in einer allegorischen Interpretation der fraglichen Stellen liegt. Als theoretisches Rüstzeug rekurriert sie auf zwei poetologische Standardwerke, den bereits erwähnten Traité du Poëme Epique René Le Bossus, „oú ce sçavant Religieux explique admirablement l’art des poëmes d’Homere & de Virgile par les regles d’Aristote“, 56 sowie auf die Poetik des Aristoteles, die seit 1692 in einer kommentierten französischen Übersetzung von André Dacier, ihrem Ehemann, vorlag. Nur am Rande sei erwähnt, dass André Dacier durch einige maßgebliche Ausgaben und Übersetzungen antiker Texte bekannt geworden war, u.a. einer mehrfach aufgelegten kommentierten Gesamtausgabe und Übersetzung der Werke Horaz’ und einer teilweise gemeinsam mit Anne Dacier verfassten Übersetzung der Parallelbiographien Plutarchs. Seine heute weitgehend vergessene Übersetzung der Poetik, der man im Verhältnis zur italienischen Rezeption – hier ist vor allem auf Castelvetro zu verweisen – eine allzu starke „Unterwerfung unter die Autorität des Aristoteles“ und daraus resultierende Rückschrittlichkeit vorgeworfen hat, 57 wurde gleichwohl nicht nur in Frankreich, sondern etwa auch in England und

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PERRAULT 1964, S. 49; Hervorhebung von mir, Abbreviaturen ‚&‘ wurden aufgelöst. HOMER 1711, S. 297; Hervorhebungen von mir. Ebd. S. VIIf. FINSLER 1912, S. 190: „Das Buch ist sehr fleißig und gelehrt, steht aber hinter den italienischen Arbeiten des 16. Jahrhunderts weit zurück.“ Finsler kreidet Dacier vor allem seine heftigen Attacken gegen Castelvetro an. Denn Dacier fällt in seinem Vorwort zur PoetikAusgabe ein vernichtendes Urteil über Castelvetro; dieser habe zwar „beaucoup d’esprit et de sçavoir“, aber er „ne connoît ni le theatre, ni les passions, ni les caracteres; il n’entend ni les raisons, ni la methode d’Aristote, et il cherche bien plus à le contredire qu’à l’expliquer […]. Comme le Thersite d’Homere il parle sans mesure, et déclare la guerre à tout ce qui est beau“ (ARISTOTELES 1692, Preface, Bl. 21v–22r ; Abbreviatur ‚&‘ wurde aufgelöst).

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Deutschland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit großem Interesse gelesen und zitiert. 58 Bekanntermaßen hat sich allerdings gerade Aristoteles nicht zur Allegorese geäußert, der Begriff der Allegorie findet sich nirgendwo in seinem Werk. 59 Anne Dacier zitiert aus der Poetik daher vor allem mit dem Ziel, Argumente gegen jegliche Homerkritik, besonders aber die Platons anzuführen und zudem nachzuweisen, dass die in der Poetik entwickelten Regeln für das Epos letztlich auf Homer basieren bzw. aus seinen Werken herausdestilliert worden sind. Der zentrale Referenztext für die theoretische Begründung der allegorischen Interpretation im Vorwort zur Iliade ist folglich der Traité sur le Poëme Epique, aus dem sie zahlreiche Passagen wörtlich übernimmt. Julie Boch hat kürzlich Anne Daciers Homerallegorese unter dem Aspekt der „confrontation entre la Bible et l’Iliade“ untersucht. 60 Sie analysiert u.a. die diesbezüglichen Auseinandersetzungen zwischen Anne Dacier und de la Motte, der die Allegorese als adäquaten Zugang zu paganen Epen grundsätzlich ablehnt, dies in logischer Konsequenz daraus, dass er der Dichtung lediglich die Funktion des plaire, nicht aber der utilité zuspricht. 61 Besonders heftig kritisiert er, wie Boch ausführt, Daciers „entreprise de christianisation du poète grec“. 62 Aus der Formulierung Bochs wird nicht ganz klar, ob der Terminus ‚christianisation‘ ihrer eigenen Wortwahl oder derjenigen de la Mottes entspricht. Denn Anne Dacier unternimmt, wie mir scheint, nicht den absurden Versuch, aus Homer einen Christen avant la lettre zu machen, was letztendlich bedeuten würde, dass ihre allegorische Interpretation auf eine heilsgeschichtliche Deutung von Ilias und Odyssee hinauslaufen würde. Was sie vielmehr mit der Allegorese der Homerischen Mythologie bezwecken will, wird aus folgendem Zitat deutlich: Je ne diray point icy qu’Homere n’a publié des Dieux que ce qu’on en avoit dit avant luy, et qu’il n’a fait que suivre l’ancienne Theologie payenne, comme Aristote l’a fort bien vû. Je me serviray bientost de cette raison beaucoup plus fortement qu’Aristote, en faisant voir non seulement que ce poëte a suivi l’ancienne Theologie payenne, mais encore que cette ancienne Theologie est souvent conforme à la plus saine Theologie, et qu’on trouve dans ses fictions des traces de certaines grandes veritez, que ces payens avoient entreveûës quoy qu’obscurement, et dont la tradition leur avoit donné quelque connoissance.63

Offensichtlich geht es ihr zumindest theoretisch darum, grundlegende Parallelen zwischen der Theologie der Bibel und der „ancienne Theologie“ herauszuarbeiten, die wissenschaftlich nachweisbar sind. Im Ansatz entspräche ein solches Verfahren einem religionsgeschichtlichen Vergleich, eine Methode, die zeitgenössisch z.B. von Pierre-Daniel Huet vertreten wurde. Um allerdings die besondere utilité 58 Ausführliche biographische Angaben zu André Dacier finden sich in FARNHAM 1972, SANTANGELO 1984 und FOULON 1993. 59 S. LAKS 2004. S. ferner HEMPFER 1983, S. 61 zu Tassos Umgang mit diesem ‚Problem‘. 60 BOCH 2003, S. 311. 61 S. KIBÉDI VARGA 1990, S. 165–168. 62 BOCH 2003, S. 318. 63 HOMER 1711, S. IXf. (Abbreviatur ‚&‘ wurde aufgelöst; Hervorhebungen von mir).

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und vray-semblance der Homerischen Götter gegenüber der christlichen Machina der ‚modernen‘ Epik zu begründen, reicht eine solche rein wissenschaftliche Position nicht aus. Aus diesem Dilemma heraus wird es Anne Dacier, selbst übrigens eine äußerst religiöse Persönlichkeit, unmöglich, bei ihrem Bemühen um die Legitimierung der Homerischen Epen die Grenzen der Allegorese zu erkennen. Zu ihren bizarrsten Interpretationen gehört ihre Auslegung von Ilias 18,417f. Es geht um die goldenen Statuen, die Hephaistos als Helferinnen beigesellt sind. Dacier übersetzt: „A ses deux costez marchoient pour le soustenir deux belles esclaves toutes d’or.“ Anschließend findet sich folgender Kommentar: Voicy encore un ouvrage merveilleux de Vulcain […]. Ce qui est humainement impossible, rentre dans la possibilité et la vray-semblance par la toute puissance des Dieux […]. Pour moy, je l’advouë, on appellera cela foiblesse de femme; […] je trouve qu’Homere a jetté tant de vray-semblance dans tous ces endroits miraculeux, que j’y suis trompée, et que je crois voir effectivement ce qu’il peint. 64

Fragt man abschließend, ob die allegorische Homerinterpretation, wie sie von Le Bossu theoretisch begründet und von Anne Dacier praktiziert wurde, in irgendeiner Weise innovativ auf den poetologischen Diskurs des Siècle classique eingewirkt oder sich letztgültig doch als ‚Auslaufmodell‘ erwiesen hat, so dürfte die vorliegende Untersuchung gezeigt haben, dass die Beantwortung dieser Frage zwischen der Theorie und der Praxis der Allegorese unterscheiden muss. Hinsichtlich bestimmter Formen der praktischen Umsetzung, wie sie von Anne Dacier insbesondere in Bezug auf die Mythologie realisiert worden ist, lässt sich wohl mit Recht feststellen, dass Allegorese in einer solchen Form dem poetologischen Standard der Epoche nicht mehr entsprochen hat. Nicht ohne ein gewisses Bedauern sei an dieser Stelle konstatiert, dass Anne Dacier trotz ihrer grundsätzlichen Erkenntnis, dass allein ein historisierender Umgang mit antiker Literatur angemessen ist, die daraus resultierenden Grenzen der Homerallegorese nicht einzuschätzen vermochte. Was jedoch die Allegoresetheorie Le Bossus angeht, so hat sie sich paradoxerweise gerade als eine mögliche Strategie erwiesen, die Literatur entfernter Epochen – im Wissen um die historische Distanz – in angemessener Form zu würdigen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Erkenntnis des beau relatif geleistet.

64 HOMER 1711, Bd. 3, S. 474f.

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Fiktion und Erkenntnistheorie in Diderots Rêve de d’Alembert YANN LAFON Der Dialog Le Rêve de d’Alembert steht im Zeichen einer thesenartigen Zusammenfassung Diderots jahrelanger Beschäftigung mit Naturforschung und Naturbetrachtung. 1 In diesem Sinne findet im Rahmen der Inszenierung von drei aufeinander folgenden fiktionalen Dialogsequenzen eine kritische Auseinandersetzung mit der Quintessenz der materialistischen Naturanschauung der Aufklärungsideologie statt. 2 Der inhaltlichen Progression im Text in ihren zentralen Aspekten folgend, werde ich die diskursive Vorstellung materialistischer Grundlagenhypothesen und deren erkenntnistheoretische Zuspitzung nachzeichnen. Ziel ist es darauf abzuheben, wie vermittels fiktionaler Strategien die grundlegenden materialistischen Hypothesen und vor allem die daraus entwickelten erkenntnistheoretischen Konsequenzen in eine kritisch hinterfragende Perspektive gerückt werden. 3 Der Materialismus ist als ideologisches Konstrukt vor dem Hintergrund einer epochalen Ablösungsbewegung vom cartesianischen Rationalismus, den d’Alembert als „système des idées innées“ bezeichnet hat, zu verstehen. 4 Aus diesem Grund ist eine materialistische Erkenntnistheorie so angelegt, dass die Ideengenese im Gegensatz zur cartesianischen Systematik unabhängig von transzendentalen Implikationen und somit rein immanent erklärt wird. Dieser Vorgabe entsprechend wird der Erkenntnisprozess im Rêve de d’Alembert allein auf der Grundlage empfindsamer Materie konstruiert. Die evolutionären Transformationen der empfindsamen Stofflichkeit werden hierbei bis hin zu einer materiellen Organisationsform, die einer sinnlichen Wahrnehmung befähigt ist und somit die Voraussetzung für die Erkenntnisbildung erfüllt, ihrerseits positivistisch nachvollzogen. 5 1 2

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Diderots 1753 veröffentlichter Text, Pensées sur l’interprétation de la nature, gibt angesichts des 1769 entstandenen Le Rêve de d’Alembert einen Eindruck von dem hier gemeinten zeitlichen Rahmen, in den insbesondere Diderots Arbeit an der Encyclopédie fällt. Ursula Winter hat in ihrer Materialismusstudie im Gegensatz zu der in der älteren Forschungsliteratur weit verbreiteten Meinung, Diderot habe im Verlauf seines philosophischen Schaffens wechselnden Naturanschauungen angehangen, die Durchgängigkeit seiner materialistischen Naturanschauung detailliert nachgezeichnet (vgl. WINTER 1972); Wilda Anderson geht soweit, allen Texten Diderots eine materialistische Dynamik zuzuschreiben, wobei sie darin das kohärenzstiftende Element seines Werkes sieht (vgl. ANDERSON 1990, S. 2). Gerhard Stenger hebt in seiner vornehmlich am Rêve de d’Alembert orientierten Studie das kritische Potenzial der Denkweise Diderots gegenüber dem Materialismus hervor, wie er unter anderem am Beispiel von Diderots Kritik an La Mettries und d’Helvétius’ materialistischen Ansätzen unter Beweis stellt (STENGER 1994, S. 151–178). D’ALEMBERT 1894, S. 13f. Hier sei auf Béatrice Didier verwiesen, die im Rêve de d’Alembert verarbeitete Theoreme auf korrespondierende Entwürfe französischer Theoretiker der Epoche rückbezogen hat (vgl. DIDIER 2001, S. 131–136).

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In diesem Zusammenhang werde ich zeigen, dass die im Geiste einer skeptischen Haltung vorgenommene Problematisierung materialistischer Naturanschauung ein Bewusstsein für das Ungenügen eines rein immanenten Materialismus in erkenntnistheoretischer Hinsicht impliziert. Darüber hinausgehend ist meine These, dass sich aus dem Rêve de d’Alembert ein erneuerter Transzendenzbegriff ableiten lässt, der vom Leser selbst mit den materialistischen Grundlagenhypothesen in Einklang zu bringen ist. Unter diesem Transzendenzbegriff verstehe ich von jeglicher Erfahrung losgelöste, apriorische Erkenntnisvermögen, wie etwa die Einbildungskraft, die als Anlagen aus einer vitalistisch gedachten sensibilité entbunden werden. Dass die Imagination, die im Text eine Sonderstellung einnimmt, als apriorisches Erkenntnisvermögen in einer Wechselbeziehung mit den sensitiven Erfahrungen steht, insofern als apriorische Erkenntnisvermögen nicht unabhängig von sensitiven Erfahrungen zu denken sind, dieses Phänomen soll in seiner impliziten Eingeschriebenheit in den Text vorgeführt werden. 6 Damit ist gemeint, dass diese Wechselbeziehung keineswegs explizit thematisiert wird, sondern lediglich im Rahmen fiktionaler Veranschaulichung implizit angelegt ist. Diese fiktionale Veranschaulichung werde ich nachzeichnen und erörtern, warum dieser erkenntnistheoretische Entwurf im Rahmen fiktionaler Ästhetik stattfindet. 1. Der Rêve de d’Alembert als fiktionaler Rahmen einer Erkenntnistheorie Der Rahmen für die weitergehende Untersuchung Diderot’scher Erkenntnistheorie im Hinblick auf die spezifische Frage, wie das Denken zu denken ist und welche Voraussetzungen notwendig sind, damit der Mensch erkenntnisfähig ist, kann als abgesteckt angesehen werden. Bevor ich von den materialistischen Hypothesen ausgehend auf die erkenntnistheoretischen Implikationen eingehe, soll zunächst jener fiktionale Rahmen vorgestellt werden, in dem diese Theoriebildung stattfindet. Als erstes fällt auf, dass die medias in res-Technik des Dialoganfangs den Leser des ersten Dialogteils sogleich mitten in ein Gespräch zwischen Diderot und d’Alembert eintauchen lässt, das die Gretchenfrage materialistischer Theorie zum Gegenstand hat: Ist Materie grundsätzlich empfindsam? Auch der Titel dieses ersten Teiles, La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot, und nicht zuletzt die Namen der Protagonisten selbst erwecken den Eindruck, es handle sich hierbei um die unmittelbare Wiedergabe eines Gesprächs, das tatsächlich zwischen den historischen Herausgebern der Encyclopédie stattgefunden habe. Als Gesprächsthema zeichnet sich zwar eine naturphilosophische Weltbetrachtung ab, doch die im Gesprächsverlauf verhandelten Teilaspekte dieser Weltanschauung scheinen wie in einem spontanen alltäglichen Dialog nur lose assoziativ und kei6

Elisabeth Potulicki geht auf Diderots Nähe zu Kant ein, die für sie darin besteht, dass Diderot wie der deutsche Aufklärungsphilosoph die Wechselwirkung von apriorischen Verstandesleistungen und Erfahrung in seinem Denken berücksichtigt habe (POTULICKI 1980, S. 75–95); auch Paolo Quintili ist dieser Meinung, wenn er vorschlägt, den Kantianischen Transzendenzbegriff auf Diderots Konzept des biologischen Individuums zu übertragen (QUINTILI 2001, S. 1–24).

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neswegs stringent logisch miteinander verbunden zu sein. Dass fiktionale Literatur im Allgemeinen nicht das ist, was sie zu sein vorgibt, trifft auch auf den Dialog Le Rêve de d’Alembert zu. Allerdings lässt sich die Fiktionalität 7 des Textes und damit seine besondere Komposition und Konstruiertheit nicht zwingend am Dialog zwischen Diderot und d’Alembert erkennen. Zumindest gibt es in diesem ersten Teil keine inhaltlichen Aspekte, die darauf hinweisen würden, dass es sich nicht um die faktisch getreue Wiedergabe eines Gesprächs zwischen dem Philosophen und dem Mathematiker handelt. Selbst eine detaillierte Kenntnis der historischen Personen und ihrer Stellungnahmen lässt auf den ersten Blick keine Rückschlüsse über die tatsächliche Wirklichkeitsverankerung der Aussagen zu. Jedenfalls wirkt der den Rêve de d’Alembert einleitende Dialog zwischen Diderot und d’Alembert so realitätsnah, dass auch Kenner des historischen Referenzkontextes keine störenden Diskrepanzen zwischen den Aussagen der Textfiguren und den Ansichten der historischen Personen ausmachen können. Darüber hinaus sorgen spezifische effets de réel wie ein „natürlicher Ton, die Beweglichkeit und die wechselnden Tempi, das Alternieren von knappen Wendungen und langen Ausführungen, rasche Folgen von Fragen und Antworten, Rede und Gegenrede“ für eine möglichst alltägliche und dadurch realitätsnahe Gesprächssituation. 8 Aus formaler Sicht ist streng genommen aber bereits die medias in res-Technik als Fiktionssignal interpretierbar, das einerseits eine Wirklichkeitsillusion erzeugt und andererseits als Illusionskonvention der Tragödie und Komödie des 17. Jahrhunderts erkennbar ist, sodass der Text als ein grundsätzlich mit fiktionalen Strategien operierender ausgewiesen wird. Darüber hinaus lassen sich alle bislang aufgezählten Merkmale als konventionalisierte Elemente des fiktionalen Dialogs herausstellen. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Mündlichkeitsfiktion zu nennen. Darunter ist zu verstehen, dass ein Text beispielsweise unter dem Einsatz der soeben genannten effets de réel die Illusion eines unmittelbaren mündlichen Gesprächs erweckt. Es handelt sich bei dieser Fiktionsform um eine auf Platon zurückgehende Gattungskonvention, die auch in Renaissance-Dialogen weit verbreitet war. 9 Ebenso ist die Ausstattung der Gesprächswelt mit „empirisch referenzialisierbaren“ Individuen, die als namhafte Zeitgenossen bekannt sind, eine auf die Platonischen Philosophengespräche zurückgehende Gattungskonvention. 10 Als Beleg für Diderots be7

Nach der hier verwandten Definition des Begriffes weisen fiktionale Texte eine Als-ob-Struktur auf. Darunter ist wiederum zu verstehen, dass fiktionale Texte einerseits durch gezielte Referenzbezüge eine Wirklichkeitsillusion erzeugen. Andererseits lassen sie aber auch durchscheinen, dass sie eine Referenzillusion oder vielmehr eine Scheinwirklichkeit konstruieren und insofern eine eigene Art des Umgangs mit der Wirklichkeit für sich in Anspruch nehmen. Die hier beschriebene Als-ob-Struktur ist als historisch unveränderliches Fiktionsmerkmal zu begreifen. Im Einzelnen hebt der fiktionale Text die beiden genannten Facetten der Als-obStruktur durch die Verwendung von historisch variablen Fiktionssignalen hervor. Dementsprechend gibt es zwei Arten von Fiktionssignalen: Signale, die als literarische Strategien zur Erzeugung einer Wirklichkeitsillusion und solche, die als Strategien der Illusionsdurchbrechung zu begreifen sind (vgl. HEMPFER 1990). 8 DIECKMANN 1966, S. 17. 9 Vgl. PUJOL 2005, S. 37 und HEMPFER 2004, S. 81. 10 HÄSNER 2004, S. 48.

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wusste Bezugnahme auf diese antike Dialogtradition im Rêve de d’Alembert führt Pujol an, dass der Autor für seine erste Version der Exposition materialistischer Hypothesen einen in die Antike verlegten Totendialog vorgesehen hatte, der den Titel Rêve de Démocrite tragen sollte. 11 Es bedarf allerdings weder besonderer Kenntnisse des Referenzkontextes noch eines besonderen Wissens um die Gattungskonventionen des Dialogs, um den Rêve de d’Alembert spätestens im gleichnamigen zweiten Teil als fiktionalen Dialog zu erkennen, der mit seinem Authentizitätsanspruch spielt. Denn dem Mittelteil, der d’Alemberts Traum zum Gegenstand hat, ist komödiantisches Potenzial zu Eigen. 12 Die zentralen Handlungsaspekte und die sich daraus ergebenden Konsequenzen legen diesen Eindruck zumindest nahe: D’Alembert ist nach einem kämpferischen Gespräch mit Diderot zu sich nach Hause gegangen, um endlich Ruhe zu finden. Sein Schlaf ist allerdings nicht minder umkämpft, denn verworrene Träume suchen ihn heim, deren Inhalte er mit vernehmbarer Stimme im Delirium wiedergibt. Dem Leser zur Kenntnis gebracht werden diese Träume durch die vermittelnde Tätigkeit seiner Freundin, Mlle de l’Espinasse, die in fürsorglich-nächtlichem Bereitschaftsdienst die Traumsequenzen mitgeschrieben hat. In den Morgenstunden schließlich ruft sie aus Besorgnis den Arzt Bordeu an das Krankenbett, der, nachdem er sich von dem nicht ernsthaften Krankheitszustand seines Patienten überzeugt hat, Mlle de l’Espinasse die schriftlich fixierten Traumgedanken d’Alemberts vortragen lässt, die er seinerseits zu kommentieren und sinnvoll fortzuspinnen weiß. Auch Mlle de l’Espinasse, die die Traumbilder und -gedanken zunächst ausschließlich für die irrsinnigen Auswüchse eines Fiebertraumes hält, auf die einzugehen sich nicht lohnt, lässt sich von Bordeu in die Rolle der Traumkommentatorin einbinden. Das Zwiegespräch zwischen Bordeu und Mlle de l’Espinasse verselbstständigt sich daraufhin weitgehend und wird im weiteren Gesprächsverlauf nur noch sporadisch von d’Alemberts unmittelbar im Traum vorgebrachten Wortmeldungen und später von seinen im Wachzustand eingestreuten Redebeiträgen unterbrochen, auf die die Gesprächspartner bis zum Ende des zweiten Teils stets eingehen. Die durch die Handlung vermittelte Komik besteht vor allem in dem Aus-der-Rolle-Fallen d’Alemberts – einem binnenstrukturellen Rollenbruch, der sich zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Rêve de d’Alembert vollzieht: Während d’Alembert im ersten Teil im Gespräch mit Diderot durch seine von skeptischer Vernunft geprägten Redebeiträge charakterisiert wird, vermittelt er im zweiten Teil den Eindruck eines bemitleidenswerten Träumers, der unter Wahnzuständen leidet. 13 Da der Arzt Bordeu zunächst mutmaßt, der Mathematiker d’Alembert würde auch im Traum seiner lebensweltlichen Rolle entsprechend von mathematischen Überlegungen („géométrie“) heimgesucht, belehrt ihn Mlle de l’Espinasse eines Besseren: Der Träumer ist in ihren Augen verrückt geworden. Aber damit nicht genug, denn der Rollenwechsel d’Alemberts beruht nicht auf einer vordergründi11 Vgl. PUJOL 2005, S. 24. 12 Auch die Komik ist eine seit der Antike verbreitete Spielart und somit eine Gattungskonvention des fiktionalen Dialogs. „In der Geschichte der Gattung stehen dafür beispielhaft die parodistischen und satirischen Dialoge Lukians“ (HÄSNER 2004, S. 38). 13 Vgl. DIDEROT 1987, S. 116.

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gen Statuskomik, wie es der komisch anmutende Fall d’Alemberts zunächst nahelegt, sondern viel weitgehender auf einer Ironisierung der Haltungen der historischen Person d’Alembert. Das ist so zu verstehen, dass sich sämtliche Trauminhalte d’Alemberts aus der Sicht des Arztes, des passionierten Physiologen und Naturforschers Bordeu, anders als es die Mutmaßung von Mlle de l’Espinasse nahelegt, als äußerst kohärent und sinnvoll erweisen. Bordeu geht soweit, d’Alemberts Träume mit seinen naturphilosophischen Anschauungen zu identifizieren und ihnen dadurch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Vernunft zuzuschreiben. 14 Damit aber stehen die Trauminhalte d’Alemberts teilweise in komischem Widerspruch zu den Anschauungen der historischen Person d’Alembert, die keinesfalls vorbehaltlos mit den naturphilosophischen Vorstellungen der träumenden Textfigur übereinstimmen. Diese Diskrepanz wird auch vom Text selbst widergespiegelt, da d’Alemberts Aussagen aus dem ersten Textteil durchaus mit den Ansichten der historischen Person in Einklang zu bringen sind. 15 Insoweit setzt der Rêve de d’Alembert referentielle Kenntnisse über die historische Person d’Alembert voraus, obschon auch ohne dieses Wissen die Diskrepanz der Standpunkte des träumenden und des im Gespräch mit Diderot befindlichen d’Alembert deutlich wird. In Bezug auf die Qualität der Fiktion lässt sich damit bereits eine erste Aussage treffen: Durch die Verwendung dialogspezifischer Gattungskonventionen wird im Text eine Authentizitätsillusion erweckt, die darauf abzielt, an historische Personen der Aufklärungsbewegung rückgebunden möglichst wirklichkeitsgetreu zentrale Themen und Theoreme des Aufklärungsdiskurses vorzustellen. Andererseits führt der Text insbesondere mittels illusionsstörender Fiktionssignale der Komödientradition vor, dass hier eine die aufgerufene Referenzsituation überschreitende Wirklichkeitsmodellierung bzw. Theoriebildung vorgenommen wird, wenn die historischen Ansichten d’Alemberts gezielt durch komödiantische Fiktionsstrategien ironisiert werden. Diese Qualität des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit bzw. Theorie im Rêve de d’Alembert lässt sich auch aus gattungstypologischer Sicht erhärten. Aufgrund der Struktur des ersten Dialogteils, dem entretien, in dem sich die beiden Philosophen im Gespräch gegenüberstehen, kommt Pujol zu dem nahe liegenden Schluss, dass der Rêve de d’Alembert dem traditionellen philosophischen Dialog am nächsten steht. Er spitzt seine Klassifizierung aber noch zu, wenn er konstatiert, dass der Rêve de d’Alembert von dem Dialog der Wissensvulgarisierung – einer der geläufigsten Spielarten des philosophischen Dialogs – abzugrenzen und dem Dialog der Wissensbildung zuzuschlagen sei. Diesem Dialogtyp attestiert Pujol eine humorvermittelte Mischung aus Theorie und wissenschaftlicher Vision. 16 Insofern ist es auch aus gattungstypologischer Sicht plausibel, wenn im Folgenden besagte fiktionsvermittelte Theoriebildung bzw. diese Komposition im Spannungsfeld von historisch referenzialisierbaren Fakten und sie transzendieren14 „MLLE DE L’ESPINASSE. […] Je puis donc assurer à présent à toute la terre qu’il n’y a aucune différence entre un médecin qui veille et un philosophe qui rêve. BORDEU. On s’en doutait. Est-ce tout là ?“ (zit. n. ebd. S. 122). 15 Vgl. DIECKMANN 1966, S. 19. 16 Vgl. PUJOL 2005, S. 266–270.

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der fiktionaler Modellierung im Detail vorgestellt wird. Dabei werde ich bei den einzelnen Analyseschritten zeigen, welche Funktion der fiktionalen Ästhetisierung einer faktual stets dem Aufklärungsdiskurs zuzuordnenden Thematik zukommt. Mit anderen Worten, es soll hier vorgeführt werden, warum die im fiktionalen Gespräch zwischen Diderot und d’Alembert verhandelten Themen des Aufklärungsdiskurses und insbesondere die Gretchenfrage materialistischer Weltanschauung – ist Materie grundsätzlich empfindsam? – nicht in Form eines Traktates behandelt werden bzw. warum sie dramatisiert sind, und welche Funktion den Traumsequenzen und ihren metaphorisch angereicherten Kommentaren zukommt. Dieser Fragestellung werde ich im Rahmen der Vorstellung der Textstruktur nachgehen, um so zugleich die Komposition des Rêve de d’Alembert zu veranschaulichen. Deshalb möchte ich hier die These formulieren, dass im Rêve de d’Alembert mittels seiner dreigliedrigen Kompositionsstruktur komplexe Themen des Aufklärungsdiskurses kondensiert vorgestellt werden, um sie im exploratorischen Rahmen der Fiktion über die Grenzen des faktisch Belegbaren hinauszuführen, ohne dabei die Haltung skeptischer Distanziertheit aufzugeben. Auch in diesem Text Diderots wird skeptische Distanz dadurch zum Ausdruck gebracht, dass den Aussagen einzelner Protagonisten grundsätzlich keine letztgültige Richtigkeit zugebilligt wird. Aus diesem Grund wird jede mit einer Figur zusammenfallende komplexere Anschauung auf die eine oder andere Weise ironisiert, wobei ihr ein ausschließlicher Geltungsanspruch verweigert wird. 17 Bliebe es bei dieser Entwertungsstrategie, wäre ein heilloses Durcheinander zu befürchten, doch gibt es im Text einige Hinweise, die es dem Leser ermöglichen, die einzelnen Anschauungen in eine gewisse Ordnung zu bringen. Allerdings werden auch bei dieser Ordnung letzte Widersprüche nicht aufgehoben oder endgültig erklärt, sondern lediglich in einen für Ergänzungen offenen systematischen Rahmen gestellt. 2. La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot 2.1. Materialistische Hypothesen Die grundlegende materialistische Hypothese, die bereits in den einleitenden Sätzen des dreiteiligen Rêve de d’Alembert in den Raum gestellt wird, ist weltanschaulich von zentraler Bedeutung, da sie die Einheit von Materie und Empfindsamkeit/sensibilité voraussetzt. Dieses monistische Konzept einer empfindsamen, 17 Aufgrund dieser Bauart grenzt sich der Rêve de d’Alembert von einem ebenfalls geläufigen Dialogtypus ab, in dem die Autorposition mit einer besonders exponierten Stimme zusammenfällt. Angesichts dessen, dass es im Rêve de d’Alembert eine Figur Diderot gibt, wird zumindest die Erwartungshaltung geweckt, dass es sich um einen derartigen Typus handeln könnte. Da dies nicht der Fall ist, lässt sich gerade auf den Rêve de d’Alembert übertragen, was Häsner über den Dialogtext an sich sagt: Wie jeder fiktionale Text sei auch der Dialogtext als ‚Makroproposition‘ eines Autors zu betrachten, die „semantisch komplexer ist als jede der in ihr enthaltenen Teilpropositionen“. Dem Leser fällt deshalb die „explizite Formulierung“ besagter ‚Makroproposition‘ zu, sodass er gleichsam zum Subjekt der Theoriebildung wird (HÄSNER 2004, S. 21).

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belebten Materie ist vor dem Hintergrund der cartesianischen Vorstellung einer von der Materie unabhängigen immateriellen Seelensubstanz zu sehen und steht ihr diametral gegenüber. Dementsprechend gründet das dualistische Konzept auf der Unabhängigkeit einer rein vegetativ gedachten Materie von einer apriorisch mit Ideen aufgeladenen Seele, die letztinstanzlich mit göttlichem Wissen beseelt ist. Ihren Platz hat diese Seele trotz ihrer Immaterialität dennoch im Körper, weil sie diesen bewegt. Der Figur d’Alembert ist es im Text vorbehalten, jenem dualistischen Konzept das von der Figur Diderot eingebrachte monistische Materialismuskonzept gegenüberzustellen: J’avoue qu’un être qui existe quelque part et qui ne correspond à aucun point de l’espace; un être qui est inétendu et qui occupe de l’étendue; qui est tout entier sous chaque partie de cette étendue; qui diffère essentiellement de la matière et qui lui est uni, qui la suit, et qui la meut sans se mouvoir, qui agit sur elle et qui en subit toutes les vicissitudes; un être dont je n’ai pas la moindre idée, un être d’une nature aussi contradictoire est difficile à admettre. Mais d’autres obscurités attendent celui qui le rejette, car enfin cette sensibilité que vous lui substituez, si c’est une qualité générale et essentielle de la matière il faut que la pierre sente. 18

D’Alemberts skeptischer Argumentation ist zweifelsfrei zu entnehmen, dass die Annahme, wonach die Ideen des Geistes unabhängig von der empirischen Welt existieren, obschon sie in unerklärlicher Weise an die materielle Erscheinung des Menschen rückgebunden sind, schlichtweg nicht hinnehmbar ist. Allerdings scheint er auch die von der Figur Diderot eingebrachte These von der generellen Empfindsamkeit der Materie nicht zwingend für die richtige Antwort auf den widersprüchlichen Dualismus zu halten. Aus der Ablehnung des Konzepts eingeborener und somit transzendenter Ideen folgt in der Logik eines monistischen Weltentwurfes die Notwendigkeit, die Ideengenese immanent nachzuvollziehen. Ausgehend von empfindsamer bzw. vitalistischer Materie muss dementsprechend empirisch nachvollziehbar veranschaulicht werden, wie Ideen entstehen. Dass dieser erkenntnistheoretische Entwurf nicht problemlos zu bewältigen ist, ahnt d’Alembert, impliziert er doch letztlich eine Erklärungstheorie der lebendigen Welt. Das ist so zu verstehen: Geht man von der Hypothese der prinzipiellen Empfindsamkeit der Materie aus und setzt man darüber hinaus voraus, dass es irgendwann ein empfindsames Wesen gibt, dann lässt sich auch mutmaßen, wie das fühlende Wesen zu einem denkenden Wesen wird. 19 Mit anderen Worten, die Beantwortung der erkenntnistheoretisch relevanten Frage, wie ein empfindsames Wesen zu einem denkenden Wesen wird, lässt sich zumindest aus Sicht der Figur Diderot allein auf der Grundlage der generellen Empfindsamkeit der Materie nachvollziehen. Dem Mathematiker d’Alembert kommt angesichts jenes materialistischen Welterklärungsmodells die Rolle des nachfragenden Skeptikers zu, der sowohl das Konzept für den Übergang von einem fühlenden zu einem denkenden Wesen wie auch die Grundlage hierfür,

18 DIDEROT 1987, S. 89f. 19 „DIDEROT. […] car vous m’avouerez qu’il y a bien plus loin d’un morceau de marbre à un être qui sent, que d’un être qui sent à un être qui pense“ (DIDEROT 1987, S. 95).

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die Hypothese der grundsätzlichen Empfindsamkeit der Materie, keineswegs für erwiesen hält. 20 Es lässt sich bereits erkennen, dass das erkenntnistheoretische Modell, das im Text einleitend vermittelt wird, auf dem Prinzip einer von der Empfindung aufsteigenden kausalen Kette beruht, die bis hin zum Denken reicht. 21 Hierbei gilt es, zwei Aspekte zu unterscheiden: zum einen den im engeren Sinne erkenntnistheoretischen Aspekt und damit die Frage, wie ausgehend von den Sinneseindrücken und -leistungen im bereits denkbefähigten Wesen der Prozess der Erkenntnisbildung zu verstehen ist, und zum anderen den Aspekt, wie rein entstehungs- bzw. organisationssystematisch ausgehend von rein empfindsamer Materie überhaupt ein denkendes Wesen entsteht. 22 Diese beiden Aspekte werden im einleitenden Kapitel des Rêve de d’Alembert in der von der Kausalkette vorgegebenen Reihenfolge diskutiert – insofern wird zuerst die Hypothese der empfindsamen Materie dargelegt, dann in groben Zügen eine Entwicklung des Menschen ausgehend von der sensibilité entworfen und im Anschluss daran die eigentliche Erkenntnistheorie geliefert –, um dann aufgrund verschiedener Einwände d’Alemberts aus jeweils veränderter Perspektive Einzelaspekte erneut zu diskutieren. Insbesondere bei diesen kritischen Erörterungen entsteht der Eindruck, es handle sich dabei um nicht unmittelbar mit dem Thema zusammenhängende Digressionen. Sie lassen sich indes unter die Textstrategie der Evokation einer authentischen, vermeintlich assoziativen Gesprächsführung subsumieren, denn die Dialogkomposition bleibt grundsätzlich der erwähnten Kausalkettenordnung verpflichtet. Vor dem Hintergrund dieser Ordnung möchte ich jetzt eingehender auf den Dialog zu sprechen kommen, wobei ich zunächst auf die Hypothese der Empfindsamkeit als genereller Eigenschaft der Materie eingehe, die das kausale Weltmodell begründet. Dem empfindsamen Materieverständnis liegen, wie es im Text recht ausdrücklich dargestellt wird, an sich zwei Hypothesen zugrunde: zum einen die hylozoistische und zum anderen die der Emergenz. 23 Beide hängen miteinander zusammen. Die hylozoistische Hypothese beruht auf der Annahme, dass alle Materie grundsätzlich und damit a priori empfindsam ist, wenngleich nicht in jedem Körper die gleiche Form der sensibilité gebunden ist, wie d’Alembert, von Diderot inspiriert, schlussfolgert: Zum einen gibt es die „sensibilité active qui se caractérise par certaines actions remarquables dans l’animal et peut-être dans la plante“ und zum anderen die „sensibilité inerte dont on serait assuré par le passage à l’état de sensibilité active“.24 Darunter ist zu verstehen, dass die Empfindsamkeit in Analogie zur physikalischen Unterscheidung von potentieller und kinetischer Energie im anorganischen Bereich nur potentiell vorhanden ist und lediglich die Möglichkeit der Entfaltung in sich trägt, während sie im organischen Bereich eine 20 „D’ALEMBERT. J’en conviens. Avec tout cela l’être sensible n’est pas encore l’être pensant“ (ebd. S. 95). 21 Vgl. BAERTSCHI 1992, S. 102. 22 Diese Unterscheidung ist im Text nicht explizit angelegt, sie zwingt sich aber anhand der von den Figuren vorgebrachten Überlegungen logisch auf. 23 Vgl. BAERTSCHI 1992, S. 106ff. 24 DIDEROT 1987, S. 92.

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aktive Empfindsamkeit kennzeichnet. 25 Das Übergangsphänomen von der potentiellen „sensibilité inerte“ zur „sensibilité active“ wird im Dialog von der Figur Diderot als Assimilationsprozess beschrieben, der in dem auf Analogie beruhenden Statuenbeispiel seinen Ausdruck findet. Dementsprechend gibt es eine grundlegende Ähnlichkeitsrelation zwischen einer Marmorstatue und einem Tier, denn die potentielle Empfindsamkeit des Steines der Statue kann im Vertilgungsprozess durch Assimilation in aktive Empfindsamkeit transformiert werden. 26 Aus der hylozoistischen Hypothese, die ihrerseits von der Assimilationstheorie flankiert wird, leitet sich in der Konsequenz die Emergenzhypothese ab. Diese wiederum besagt, dass die sensibilité eine Eigenschaft ist, die aus der Materie hervorgeht, wenngleich bestimmte Qualitäten der sensibilité erst mit gewissen Organisationszuständen in Erscheinung treten. Mit anderen Worten, alle Formen des Fühlens sind ebenso Teil der sensibilité wie das Denken, wobei die unterschiedlichen Qualitäten der sensibilité etwa im Rahmen der Entwicklung des Menschen, von der Befruchtung bis hin zum Erwachsenen, den progressiven Organisationszuständen entsprechend hervortreten. In diesem Sinne ist meines Erachtens auch zu verstehen, warum die Figur Diderot auf die für d’Alembert noch unbeantwortete Frage, wie aus dem fühlenden ein denkender Mensch wird, mit der vordergründig unpassenden Beschreibung der Menschwerdung d’Alemberts antwortet. Den Vortrag der einzelnen Etappen dieser besonderen Geschichte, die vom Zeugungsakt über den fötalen Zustand, über Geburt und Wachstum bis hin zu d’Alemberts Tätigkeit als Literat und Mathematiker reichen, beendet der Diderot des Textes mit der schließlich erhellenden Einschätzung: Et celui qui exposerait à l’Académie le progrès de la formation d’un homme ou d’un animal n’emploierait que des agents matériels dont les effets successifs seraient un être inerte, un être sentant, un être pensant, un être résolvant le problème de la précession des équinoxes, un être sublime, un être merveilleux, un être vieillissant, dépérissant, mourrant, dissous et rendu à la terre végétale. 27

Damit ist gesagt, dass es eine von der potenziellen Empfindsamkeit des „être inerte“ aufsteigende und wieder absteigende kausale Kette gibt, wobei auf dem Höhepunkt der materiellen Organisation des Menschen d’Alembert eine sensibilité freigesetzt wird, auf die letztlich auch hochkomplexe Denkprozesse, „un être résolvant le problème de la précession des équinoxes“, zurückzuführen sind. Darüber hinaus zeigt sich, dass die zuvor von d’Alembert gestellte Frage, wie der Übergang von der Qualität des Fühlens zu der des Denkens zu verstehen sei, implizit doch beantwortet oder zumindest geschickt umgangen wird. Denn wenn Denken und Fühlen jeweils Qualitäten der sensibilité sind, deren jeweilige Freisetzung vom Entwicklungsstand der organisierten Materie abhängt, dann gibt es auch kein tatsächliches Übergangsphänomen vom Fühlen zum Denken, sondern lediglich eine schwache Emergenz. Darunter ist zu verstehen, dass die durch die Organisierung der Materie freigesetzte Qualität der sensibilité an sich immer schon potentiell vorhanden sein muss und es somit keinen qualitativen Quanten25 Vgl. WINTER 1972, S. 31. 26 Vgl. DIDEROT 1987, S. 93ff. 27 Ebd. S. 96.

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sprung, sondern lediglich eine an der Organisation der Materie ablesbare Freisetzung empfindsamer Qualität gibt. Die Tragweite der Antwort der Figur Diderot ist allerdings weitreichender als es zunächst den Anschein haben mag, denn von einem Materialismus, der die Phänomene des Fühlens und Denkens allein auf der Grundlage immanenter Voraussetzungen erklärt, kann hier nicht die Rede sein. So ist bereits das Konzept der generell mit vitalistischer sensibilité begabten Materie insoweit transzendental, als es eine apriorisch-irreduzible und dabei vitalistische Qualität gibt, die der Materie inhärent ist. Wenn diese apriorisch-irreduzible Qualität darüber hinaus selbst für die komplexesten Phänomene wie das Denken verantwortlich zeichnet, dann ist das Emergenz-Konzept durch eine noch ausdrücklicher transzendentale Anlage gekennzeichnet, weil damit auch die Denkbefähigung als Qualität der Materie apriorisch zu Eigen ist. Es bleibt dann allerdings zu fragen, welcher Natur die transzendentale beziehungsweise apriorische Qualität des Denkens ist. Berücksichtigt man, dass in Diderots Ausführung das Denken nicht als ein bereits abgeschlossener Vorgang apriorisch angelegt ist, sondern dass es sich dabei vielmehr um eine emergente Qualität handelt, die kausal unmittelbar von einem empirischen Entwicklungsprozess abhängt, dann ist der Transzendentalbegriff, der hier implizit in Anschlag gebracht ist, im Sinne einer Anlage zu verstehen. Anders gewendet, der sensibilité als Qualität der Materie sind a priori grundlegende Vermögen zu Eigen, die die Anlage zum Fühlen und Denken einschließen, welche wiederum nur in kausaler Verbindung mit einem empirisch nachvollziehbaren Entwicklungsprozess entfaltet werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Text weit davon entfernt ist, im Sinne Kants apriorische Qualitäten beziehungsweise transzendentale, von der Erfahrung unabhängige Vermögen kritisch zu analysieren.28 Insofern stellt sich die Frage, ob im Rêve de d’Alembert über die bereits beschriebene implizite Veranlagung apriorischer Erkenntnisvermögen hinaus eine weitergehende Thematisierung des Transzendentalkomplexes nachweisbar ist. 2.2. Erkenntnistheoretische Konsequenzen und discours de la méthode In der Ordnung der Kausalkette folgt im Gespräch von Philosoph und Mathematiker auf die Beschreibung der Organisierung der Materie die eigentlich erkenntnistheoretische Frage, wie der Erkenntnisprozess in einem dafür ausgerichteten System ausgehend von den Empfindungen zu erklären ist. Da in der Logik der Emergenzhypothese ein Organismus eine bestimmte Entwicklung durchlaufen und eine bestimmte Organisationsform entwickelt haben muss, um denken zu können, macht die Figur Diderot den Denkvorgang im Rahmen der maieutischen Gesprächsführung vom Gedächtnis abhängig: „Si donc un être qui sent et qui a cette organisation propre à la mémoire lie les impressions qu’il reçoit, forme par 28 Für Baumgartner besteht die Leistung der Kritik der reinen Vernunft in der „positiven Analyse der Struktur der Erfahrungserkenntnis“, die Kant allerdings in Abhängigkeit der apriorischen Begriffe des Verstandes denkt. Zentral ist in dieser Hinsicht Kants Lehre von den Stammbegriffen des Verstandes, den Kategorien, deren objektive Geltung als aus dem Verstand entsprungene Begriffe er nachweist (vgl. BAUMGARTNER 1985, S. 18–21).

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cette liaison une histoire qui est celle de sa vie, et acquiert la conscience de lui, il nie, il affirme, il conclut, il pense.“ 29 Dabei wird das Gedächtnis nicht in seiner materiellen Gestalt beschrieben, sondern als Ergebnis eines Organisationsprozesses ausgewiesen. Beschrieben wird allerdings die Funktion des Gedächtnisses, die darin besteht, die Eindrücke, die sich ihm einschreiben, miteinander zu verbinden und sie zu einer Lebensgeschichte zu bündeln, sodass sich sagen lässt, das Gedächtnis erfüllt die Funktion des Verstandes, weil es verneint, affirmiert, urteilt und somit denkt. Der Eindruck, der hierbei vordergründig vermittelt wird, ist der, dass ausgehend von den Gefühlseindrücken das materielle Gedächtnis, das seinerseits aus einem Organisationsprozess hervorgeht, gleichsam aposteriorisch, ohne jedwede apriorischen Erkenntnisvermögen die Sinneseindrücke mechanisch miteinander verknüpft. Dieser Verknüpfungsprozess wird als Denkvorgang bezeichnet. Legt man an diesen Ablauf die aus den Hypothesen zur sensibilité ableitbaren Prinzipien an, dann ist das Gedächtnis, das hier offensichtlich allein die Funktionen des Verstandes zu erfüllen scheint, die Organisationsform der Materie, welche die an sich apriorische Verstandeskraft („il nie, il affirme, il conclut, il pense“) als Qualität der vitalistischen sensibilité freisetzt. Die Verstandeskraft wiederum ist dafür zuständig, die von der Sinneswahrnehmung im Gedächtnis abgelegten Eindrücke miteinander zu kombinieren. Aber diese transzendentalen Qualitäten der Materie werden nicht explizit als solche ausgewiesen. Wie man sich den komplexen Denkprozess genauer vorzustellen hat, das wird in der „clavecin“-Analogie veranschaulicht. Grundlage für die Analogie ist die Vorstellung d’Alemberts, wonach das Urteilen voraussetze, dass dem Verstand die von den Sinneseindrücken dargebotenen Wahrnehmungen als Gegenstände präsent sind, während er sie zugleich beurteilt. 30 Diderot entwirft daraufhin eine diese Vorstellung veranschaulichende Analogie und vergleicht die Funktionsweise des Verstandes mit einem Cembalo: […] ce qui m’a fait quelquefois comparer les fibres de nos organes à des cordes vibrantes sensibles. La corde vibrante sensible oscille, résonne longtemps encore après qu’on l’a pincée. C’est cette oscillation, cette espèce de résonance nécessaire qui tient l’objet présent, tandis que l’entendement s’occupe de la qualité qui lui convient. Mais les cordes vibrantes ont encore une autre propriété, c’est d’en faire frémir d’autres; et c’est ainsi qu’une première idée en rappelle une seconde, ces deux-là une troisième, toutes les trois une quatrième, et ainsi de suite, sans qu’on puisse fixer la limite des idées réveillées, enchaînées du philosophe qui médite ou qui s’écoute dans le silence et l’obscurité. Cet instrument a des sauts étonnants, et une idée réveillée va faire quelquefois frémir une harmonique qui en est à un intervalle incompréhensible. 31

Während zunächst mechanistisch veranschaulicht wird, wie der Verstand zugleich Eindrücke vergegenwärtigen und sie beurteilen kann, imaginiert die Figur Diderot darüber hinaus das Entstehungsbild von Ideenkomplexen. Auch hier wird mit dem Einfall, dass die Schwingung einer Saite verschiedene Obertöne erklingen lässt, eine mechanische Erklärungslogik für die Entstehung von Ideenkomplexen bemüht. Dadurch ist gewährleistet, dass im Rahmen einer transzendentale Vorstel29 DIDEROT 1987, S. 99f. 30 Vgl. ebd. S. 100. 31 Ebd. S. 101.

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lungen kategorisch ausschließenden Aufklärungsideologie allein auf der Grundlage immanent-aposteriorischer Prinzipien eine Erkenntnistheorie entworfen wird. Dennoch impliziert die „clavecin“-Analogie auch einen transzendentalen erkenntnistheoretischen Ansatz. Denn würde hier ein rein mechanisches Bild der Ideengenese aufgerufen, so müsste beim Anriss einer spezifischen Saite gleichsam mechanisch ein bestimmtes, immergleiches Obertonintervall erklingen. Dem ist aber nicht so, da das Instrument ungewöhnliche, nicht nachvollziehbare Harmonien hervorbringt. Mit anderen Worten, hier wird die Erfahrung zum Ausdruck gebracht, dass Ideenkomplexe nicht auf ein mechanisches Entstehungsschema reduzierbar sind, sondern vielmehr einem eigentümlich schöpferischen Geist der Assoziation zu entspringen scheinen, der hier geradezu mystifizierend als „intervalle incompréhensible“ umschrieben wird. Wenn auf diese Weise die Quintessenz der Ideengenese auf ein schöpferisch-irreduzibles Assoziationsprinzip zurückgeführt wird, so wird auch an dieser Stelle zumindest implizit auf ein transzendentales Erkenntnisvermögen, das der Einbildungskraft entspricht, verwiesen. Gleichwohl wird diese implizite Transzendierung mechanischer Prämissen in Diderots Zusammenfassung seiner Analogie scheinbar vollständig zurückgenommen, denn hier wird der Mensch als sinnliches Wesen wieder auf die Mechanik des Cembalos reduziert: L’instrument philosophe est sensible, il est en même temps le musicien et l’instrument. Comme sensible, il a la conscience momentanée du son qu’il rend; comme animal, il en a la mémoire; cette faculté organique en liant les sons en lui-même, y produit et conserve la mélodie. Supposez au clavecin de la sensibilité et de la mémoire, et dites-moi s’il ne se répétera pas de lui-même les airs que vous aurez exécutés sur ses touches. Nous sommes des instruments doués de sensibilité et de mémoire. Nos sens sont autant de touches qui sont pincées par la nature qui nous environne, et qui se pincent souvent elles-mêmes; et voici, à mon jugement, tout ce qui se passe dans un clavecin organisé comme vous et moi. Il y a une impression qui a sa cause au-dedans ou au dehors de l’instrument, une sensation qui naît de cette impression, une sensation qui dure; car il est impossible d’imaginer qu’elle se fasse et qu’elle s’éteigne dans un instant indivisible; une autre impression qui lui succède et qui a pareillement sa cause au-dedans ou au dehors de l’animal; une seconde sensation et des voix qui les désignent par des sons naturels ou conventionnels. 32

Insofern lässt sich die Cembalo-Analogie so verstehen, dass das menschliche Wesen von äußeren oder inneren Sinneseindrücken bewegt wird, die es, seiner selbst bewusst, im Gedächtnis zu einer zusammenhängenden Lebensgeschichte zu verknüpfen vermag. Die Art der Verknüpfung dieser Sinneseindrücke, und damit der eigentliche Denkprozess, wird in der Zusammenfassung allerdings nicht mehr erläutert, da genau dieser Aspekt angesichts seiner Komplexität und einer gänzlich ungesicherten Faktenlage am wenigsten mechanisch dargestellt werden kann. Deshalb nimmt es auch nicht Wunder, dass die von Diderot vorgetragene Systematik von d’Alembert ironisch quittiert wird: „J’entends. Ainsi donc si ce clavecin sensible et animé était encore doué de la faculté de se nourir et de se reproduire, il vivrait et engendrerait de lui-même ou avec sa femelle de petits clavecins vivants et résonants.“ 33 32 Ebd. S. 102f. 33 Ebd. S. 103.

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Auf diese Weise wird zumindest dem mechanischen Anteil der CembaloMetapher, die den Eindruck vermittelt, ein Menschenleben könne quasi nach dem Muster der Konstruktion eines Cembalos demiurgisch erzeugt werden, mit äußerster Skepsis begegnet. Wie aber ist die ironisch vermittelte Skepsis der Figur d’Alembert, die sich in diesem Fall gegen den Mechanismus der Figur Diderot richtet, im Allgemeinen zu bewerten? Diese Frage ist insoweit entscheidend, als diese die erkenntnistheoretischen Überlegungen des ersten Teils vorläufig abschließende ironische Bemerkung d’Alemberts beileibe nicht die einzige skeptische Note ist, die dem Mathematiker zugeschrieben wird. Im Rahmen seiner skeptischen Haltung stellt er nichts weniger als die gesamte Konzeption der Empfindsamkeit der Materie in Frage, wenn er zu bedenken gibt, dass die sensibilité eine mit der Materie inkompatible Qualität ist, weil die Materie im Gegensatz zur einfachen und unteilbaren Qualität der Empfindsamkeit, die hier den Charakter einer vitalistischen Kraft hat, teilbar ist.34 Die Figur Diderot räumt zwar ein, dass die materialistische sensibilité-Konzeption hypothetischer Natur ist, da es für sie keinerlei empirischen Beleg gibt. Dennoch ist Diderot nicht bereit, d’Alemberts Einwand hinzunehmen. Denn der führt in der Logik der Textfigur Diderot unweigerlich zum traditionellen Dualismus, 35 der als Alternative völlig inakzeptabel wäre: „Soyez logicien, et ne substituez pas à une cause qui est et qui explique tout, une autre cause qui ne se conçoit pas, dont la liaison avec l’effet ne se conçoit encore moins, qui engendre une multitude infinie de difficultés et qui n’en résout aucune.“ 36 So bleibt zwar das Rätsel um Materie und Empfindsamkeit nach wie vor ungelöst, aber dank d’Alemberts skeptischer Nachfrage tritt das vom Text transportierte Problembewusstsein zu Tage: Da die materialistische Konzeption der sensibilité hypothetischer Natur ist und ein empirischer Beleg für ihre Richtigkeit nicht erbracht werden kann, lässt sich, anders als es die Textfigur Diderot intendiert, auch keine unumstößliche materialistische Systematik aufrecht erhalten. Doch selbst der Philosophenfigur wird schließlich eine das eigene System relativierende Haltung zugeschrieben, wenn sie sich dazu bekennt, dass ihrer Systematik die gleiche Schwäche zu Eigen sei wie der Systematik Berkeleys, der in seinem idealistischen Denken davon ausgeht, dass es keine von der subjektiven Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeit gibt. 37 Insofern bestünde wie bei Berkeley die Gefahr, dass das empfindsame Cembalo, der Mensch, in einem Moment des Irrsinns glaube, es sei allein auf Erden und in ihm allein spiegle sich das Universum wider: „que toute l’harmonie de l’univers se passait en lui“. 38 Hiermit ist gesagt, dass es unabdingbar ist, das eigene System beständig an der Wirklichkeit zu messen, damit nicht das geschieht, was unweigerlich aus Berkeleys idealistischem 34 Vgl. ebd. S. 106. 35 Es ist der Figur Diderot vorbehalten, das mit dem Dualismus verbundene Problem zu formulieren. Wie und vor allem wann sollte ein der Materie nicht inhärentes vitalistisches Element der Materie hinzugefügt werden und wäre es räumlich ausgedehnt oder nicht? Vgl. ebd. S. 105. 36 Ebd. S. 107. 37 Vgl. KULENKAMPFF 2004, S. VII–XLIX. 38 DIDEROT 1987, S. 109.

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Subjektivismus folgt: In diesem Kontext existiert die Wirklichkeit nur in Abhängigkeit von der subjektiven Wahrnehmung, sodass allein die Wahrnehmung für die Richtigkeit des Wirklichkeitsbildes einsteht, wobei die Wirklichkeit selbst niemals Korrektiv der Wahrnehmung sein kann. Diese Annahme führt wiederum zu einem unumstößlichen Dogmatismus, der die eigenen Ansichten per Definition als die einzig möglichen und somit wahren Aussagen über die Wirklichkeit ansieht. Vor diesem Hintergrund kommt der Skepsis die Funktion zu, den spekulativen Charakter der grundlegenden materialistischen Hypothesen aufzuzeigen, um dadurch der latenten Gefahr eines systematischen Dogmatismus vorzubeugen. In der Konsequenz lässt sich darüber hinaus schlussfolgern, dass angesichts der Prekarität der den Materialismus begründenden Hypothesen auch alle auf dieser Anschauung beruhenden Aussagen über die Natur einen nur auf Wahrscheinlichkeit beruhenden Wahrheitsgehalt haben, der in Anbetracht genauerer Kenntnisse jederzeit falsifizierbar ist. Das bedeutet auch, dass die von der Figur Diderot verbreitete mechanisch-materialistische Erkenntnistheorie, die auf diesen Hypothesen fußt, keinesfalls der Wahrheit letzter Schluss ist. Ein neuer Ansatz zeichnet sich zugleich in dem impliziten Zusammenspiel der Figurenansichten ab, insoweit als der mechanisch gedachte erkenntnistheoretische Materialismus – im Sinne rein sinnlich-aposteriorischer Erkenntnisbildung – in Verbindung mit einem neu gefassten Transzendentalbegriff – im Sinne apriorischer Erkenntnisvermögen – zu denken ist. Dass sich aus dieser Konstellation ein höchst widersprüchliches Konstrukt ergibt, ist nicht zu leugnen: Zum einen werden durch die skeptische Haltung d’Alemberts vermittelt die grundlegenden Hypothesen des Materialismus in Frage gestellt, weil sie empirisch nicht nachweisbar sind. Zum anderen wird die Analogiebildung, die empirisch keineswegs nachweisbare Erkenntnisse zu Tage fördert, im Gespräch der Philosophen zur Methode wissenschaftlich-philosophischer Durchdringung der Natur erhoben. 39 Beide Aspekte erfüllen miteinander kombiniert den Tatbestand eines Widerspruches: L’analogie dans les cas les plus composés n’est qu’une règle de trois qui s’exécute dans l’instrument sensible. Si tel phénomène connu en nature est suivi de tel autre phénomène connu en nature, quel sera le quatrième phénomène conséquent à un troisième ou donné par la nature, ou imaginé à l’imitation de la nature? Si la lance d’un guerrier ordinaire a dix pieds de long, quelle sera la lance d’Ajax? […] C’est une quatrième corde harmonique et proportionnelle à trois autres dont l’animal attend la résonance qui se fait toujours en lui-même, mais qui ne se fait pas toujours en nature. Peu importe au poète, il n’en est pas moins vrai. C’est autre chose pour le philosophe; il faut qu’il interroge ensuite la nature qui lui donnant souvent un phénomène tout à fait différent de celui qu’il avait présumé, alors il s’aperçoit que l’analogie l’a séduit. 40

Angesichts der äußerst beschränkten Mittel empirischer Naturforschungen kann es nicht ausbleiben, dass die meisten Fragen, die sich auf die Natur beziehen, unbe39 Das veranschaulicht insbesondere das auf das Philosophengespräch folgende Kapitel Le Rêve de d’Alembert. Im Hinblick auf die Bedeutung der Analogie als Methode des innovativen Denkens sei insbesondere verwiesen auf BETTS 1980. 40 DIDEROT 1987, S. 110.

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antwortet bleiben. Entsprechend stellen die Cembalo-Analogie wie auch die im weiteren Textverlauf angeführten Bienenstock- und Spinnenanalogien die einzigen Möglichkeiten dar, ohne spezifische physiologische, neurologische und in modernem Sinne psychologische Erkenntnisse einen weitreichenden materialistisch-epistemologischen Entwurf zu wagen. In seiner auf die Analogie bezogenen mathematischen Gleichung führt Diderot auch aus, dass die im Dienste der Erkenntnis stehende Analogie keineswegs völlig aus der Luft gegriffen ist. Die Analogiebildung folge dementsprechend einer „règle de trois“, die besagt, dass auf der Grundlage einiger bekannter Parameter qua Analogie auf ein viertes, in der Ursachenkette unbekanntes Element geschlossen werden könne. Wie mit der Widersprüchlichkeit von empirischem Anspruch und hypothetisch-analogischer Wissenschaftsmethodik umzugehen ist, die sich auf den ersten Blick nicht allzu sehr von der geschmähten cartesianischen Hypothetik zu unterscheiden scheint, darüber gibt die dem philosophischen Naturforscher zugewiesene Verhaltensregel Auskunft: Er muss die Phänomene, die ihm die Naturbetrachtung erschließt, beständig mit seinen Analogien abgleichen und Letztere verwerfen, wenn es die Natur der Dinge erfordert. Insofern ist trotz der empirisch keinesfalls überzeugenden Forschungsmethode ein Bewusstsein für die Vorläufigkeit der Forschungsergebnisse vorhanden. Es lässt sich aber auch nachvollziehen, dass die analogische Behauptung – mag sie auch eine auf subjektiven Neigungen beruhende Ansicht sein – für den zeitgenössischen Wissensdiskurs unabdingbar ist. Denn ein auf Assoziationsleistung bzw. Einbildungskraft beruhender Entwurf erschließt Wissensräume, wiewohl sie nur in der Vorstellung existieren mögen, die einem allzu skeptischen Geist, angesichts der wenigen empirisch belegbaren Erkenntnisse, für immer verschlossen blieben. Zusammenfassend lässt sich für das erste Kapitel des Rêve de d’Alembert schlussfolgern, dass auf der Grundlage materialistischer Basishypothesen in der Logik der Ursachenkette ein materialistisches Weltmodell bis hin zum Entwurf einer Erkenntnistheorie skizziert wird. Damit geht eine skeptische Infragestellung der materialistischen Erkenntnistheorie einher, wobei gleichsam die Idee ihrer Erweiterung um die transzendentale Dimension apriorischer Vermögen der Erkenntnisbildung ‚obertonartig‘ mitschwingt, um im Klangbild der Cembalo-Analogie zu bleiben. Abschließend findet eine die Ästhetik des weiteren Textverlaufes ankündigende Diskussion um die Methoden des Wissen schaffenden Diskurses statt. Denn in dem Maße, wie der Text den als Spielart der Einbildungskraft ausweislichen Analogieschluss zum methodischen Dreh- und Angelpunkt der Wissensbildung erhebt, kündigt sich ein Textverlauf an, der aus methodischen Gründen einen Rahmen für Analogiebildungen und andere Ausdrucksformen der Einbildungskraft bietet. 41 Dass die Kunst des analogischen Veranschaulichens, die Grenzen des empirisch Belegbaren transzendieren kann, zeigt sich an der Cembalo-Analogie, in der ein Bild des Denkvorganges entworfen wird, wobei in einem Modus des Als-ob erfahrbar wird, was sich empirisch nicht nachweisen lässt. Diesem Umstand ist im Sinne einer die Einbildungskraft beziehungsweise die Analogie41 In diesem Zusammenhang sei auch schon auf den Traum hingewiesen, der im noch zu besprechenden zweiten Kapitel als Mittel der Wissensbildung funktionalisiert wird.

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bildung inszenierenden Rahmung Rechnung zu tragen, was mich in einem zweiten Schritt der Zusammenfassung zur Funktion der Fiktion zurückbringt. Im Kapitel La suite d’un entretien entre M. d’Alembert und M. Diderot hat die Fiktion, wie es der Paratext ankündigt, zunächst die Funktion, die Illusion einer historischen Gesprächssituation zwischen dem illustren Aufklärungsphilosophen und dem nicht minder bekannten Mathematiker der Aufklärung zu erzeugen. In vordergründig funktionaler und charakterlicher Übereinstimmung mit den historischen Personen treten dementsprechend Diderot als überzeugter materialistischer Denker und d’Alembert als nicht minder überzeugter rationaler Skeptiker auf den Plan, um möglichst glaubwürdig ein thematisch breites Spektrum des Aufklärungsdiskurses, der von den historischen Personen entscheidend mitgeprägt wurde, im Rahmen eines Gesprächs wiederzugeben. Im Verlauf des Textes offenbart sich indes, dass die Funktion des illusionsgestützten Textanteils nicht darauf hinausläuft, ein Gespräch wiederzugeben, wie es sich historisch zwischen d’Alembert und Diderot zugetragen hat oder zumindest hätte zutragen können. Als Signal hierfür kann die letztlich überzogene Rigidität der Haltungen der Figuren gelesen werden, die Diderot als dogmatischen Materialisten und d’Alembert als eingefleischten Skeptiker ausweist. Insofern hat es der Leser mit vergleichsweise starren dramatischen Typen zu tun, die bestimmte Standpunkte repräsentieren, wie dies am ehesten in fiktionalen Typenkomödien üblich ist. 42 Der Text signalisiert somit qua Gattungskonvention, dass er als ein fiktionaler zu lesen ist, der keineswegs in historisch adäquater Weise mit den realen Charakteren Diderot und d’Alembert übereinstimmende philosophische Anschauungen abbildet. Für die Bedeutungskonstitution entscheidend ist dennoch, dass zum einen ein möglichst breiter mit den historischen Personen Diderot und d’Alembert zusammenfallender Referenzhorizont des Aufklärungsdiskurses evoziert wird. Dazu gehören im weitesten Sinne die materialistische Naturanschauung und ihre kritische Hinterfragung vor dem Hintergrund der Ablösung von dem cartesianisch-rationalistischen Epochenparadigma. Zum anderen weisen die Typen Diderot und d’Alembert in ihrer Überzeichnung, die bei der Textfigur Diderot das Ausmaß dogmatischer Sturheit und bei d’Alembert skeptischen Blockierens annimmt, darauf hin, dass ihre Positionen keinesfalls unhinterfragt zu übernehmen sind. Vielmehr zeichnet sich im Text ein diskretes Zusammenspiel der an sich überzeichneten Haltungen ab, das auf ironischen Signalen und impliziten logischen Zusammenhängen beruht. Diese kaschierte Rezeptionsästhetik des Textes nötigt den Leser, die Synthese in der Zusammenschau der Einzelansichten zu bilden, die die Form eines um transzendentale Aspekte erweiterten materialistischen Wirklichkeitsentwurfes annimmt. Dieser Ausführung entsprechend ist im ersten Kapitel ein fiktionales Spiel angelegt, welches zunächst durch gezielte Referenzbezüge die skizzierte Wirklichkeitsillusion erzeugt, um diese wiederum in der gezeigten Weise durch spezi42 Selbstverständlich handelt es sich beim Rêve de d’Alembert um keine Typenkomödie, da hier weder die Figur d’Alembert noch die Figur Diderot einem dezidiert klischeehaften Muster zeitgenössischer Charakterologie oder Sozialtypologie entspricht, wie dies etwa in Molières Typenkomödien der Fall ist. Da aber der Skeptiker und der Materialist als vergleichsweise starre und klischeehafte Vertreter einer philosophischen Geisteshaltung ausgewiesen sind, lässt sich eine Überschneidung mit Gattungskonventionen der Typenkomödie nicht leugnen.

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fische Fiktionssignale zu durchbrechen, sodass letztlich vom Leser ein fiktionsvermittelter eigenständiger Wirklichkeitsentwurf erstellt werden kann. Im zweiten Kapitel ist dieses fiktionale Spiel dagegen mit umgekehrten Vorzeichen angelegt, insofern die Textfigur d’Alembert im Stile der Komödientradition zunächst aus der Rolle fällt und so mit der im ersten Kapitel aufgebauten Referenzillusion bricht. Da bislang noch nicht zwingend begründet wurde, warum der im Text angelegte erkenntnistheoretische Wurf im Rahmen fiktionaler Ästhetik entwickelt wird, werde ich die Bedeutung der Fiktion für die Erkenntnistheorie anhand des zentralen Textkapitels, dem Rêve de d’Alembert, veranschaulichen. 3. Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft als transzendentales Erkenntnisvermögen Das zweite Kapitel, Le Rêve de d’Alembert, liefert mit seinem im Vergleich zum ersten Kapitel stärker dramatisierten Setting einen Rahmen für den mit Analogien angereicherten Traum d’Alemberts, der wiederum von den Kommentaren Bordeus und Mlle de l’Espinassens flankiert wird. Auch deren Rede ist mit Analogien von zentraler Bedeutung angereichert. Insofern ermöglicht die fiktionale Dramatisierung eine homogene Verwebung von Dialogen und Traumpassagen, wobei die als Statthalterin der Einbildungskraft ausweisliche Analogiebildung gezielt als Erkenntnismethode im Dienste materialistischer Weltentwürfe eingesetzt wird. Unabhängig von der Richtigkeit der einzelnen auf die Einbildungskraft rückführbaren hypothetischen Entwürfe ermöglicht die fiktionale Textgestalt darüber hinaus, die Einbildungskraft an sich als apriorisches Vermögen der Erkenntnisbildung erfahrbar zu machen. Diesen Aspekt möchte ich hier abschließend veranschaulichen. Zunächst signalisiert das komische Aus-der-Rolle-Fallen d’Alemberts, dass er als Figur im Traumkapitel gezielt in Kontrast zur historischen Person d’Alembert angelegt ist, insofern als er im Gegensatz zum ersten Kapitel nicht mehr der den Diderot’schen Materialismus in Frage stellende rationale Skeptiker ist. Vielmehr entwickelt der träumende d’Alembert nach Ansicht des Arztes Bordeu geradezu geniale naturphilosophische Weltenwürfe. 43 Dieser desillusionierende Bruch erzeugt die Komik des Textes, denn der dem Materialismus skeptisch gegenüberstehende d’Alembert des ersten Teiles wird im zweiten Teil entgegen aller referentiellen Wahrscheinlichkeit zum träumenden Vertreter eines vitalistisch-mechanischen Materialismus nach Art der Textfigur Diderot. Der den komischen Effekt erzeugende Bruch in der Figurenkonzeption ist auch als Fiktionssignal lesbar, das den Leser dazu auffordert, die vermeintliche Korrespondenz zwischen dem Materialismus der Textfigur Diderot und dem des träumenden d’Alembert in Frage zu stellen. Mit anderen Worten, da im Text aufgrund des unwahrscheinlichen Geschehens signalisiert wird, dass mit der Figurenkonzeption nicht die Abbildung von Wirklichkeitsverhältnissen intendiert ist, sondern der fiktionalen Textästhetik gemäß eine eigene Wirklichkeitsmodellierung vorgenommen wird, ist auch die 43 Vgl. DIDEROT 1987, S. 121.

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Figur d’Alembert im Hinblick auf ihre fiktionale Konsistenz zu verstehen. Im ersten Kapitel beruht diese darauf, den Materialismus im Allgemeinen und den mechanischen Materialismus im Besonderen in Frage zu stellen. Insofern spricht einiges dafür, dass die Figur d’Alembert trotz des äußeren Rollenbruches, der sich im Traumkapitel vollzieht, der fiktionalen Rollenkonsistenz entsprechend im Dienste einer den Materialismus kritisch in Frage stellenden Haltung steht. Auf den ersten Blick wird der vitalistische Materialismus Diderots in den Traumbildern d’Alemberts und den Kommentaren Bordeus und Mlle de l’Espinassens lediglich erweiternd veranschaulicht: Dementsprechend ist auch in diesem zweiten Dialog ausgehend von der Annahme einer generellen Empfindsamkeit der Materie von der Entstehung des fühlenden Wesens und seiner materiellen Organisation die Rede. In diesem Kontext bringt Mlle de l’Espinasse dem Arzt Bordeu ihre Aufzeichnung eines Traumes d’Alemberts zur Kenntnis, in dem Letzterer die Bienenstockanalogie entwickelt, wobei er den Wechsel vom Kontiguitätsprinzip zum Kontinuitätsprinzip veranschaulicht, wie Bordeu im Anschluss kommentierend erklärt. 44 Damit ist die Vorstellung verbunden, dass molekulare Verbände, die wie im Falle des Bienenstocks lose miteinander verbunden sind, angesichts evolutionärer Entwicklungen in eine Kontinuitätsrelation überführt werden können, wie dies in einem aus Einzelmolekülen bestehenden Individuum der Fall ist. 45 Eine solche molekulare Verbandstruktur vorausgesetzt, werden mit der Polypenanalogie auf Teilung beruhende Fortpflanzungsszenarien entwickelt und mit der von Mlle de l’Espinasse vorgetragenen Spinnenanalogie schließlich Funktionsweisen komplexer Organismen imaginiert. Dem Prinzip der Ursachenkette Rechnung tragend ist insoweit eine Entwicklung vorgestellt, die vom einfachen Molekül bis hin zum komplexen empfindungsbefähigten Organismus reicht. 46 Zum Abschluss der Thematik der Organisation der Materie stellen Bordeu und Mlle de l’Espinasse die zentrale Bedeutung des Gehirns in den Vordergrund, laufen doch sämtliche Empfindungseindrücke, welche die Nervenfasern übermitteln, in jenem Zentralorgan zusammen, wo sie im Gedächtnis abgespeichert werden. 47 Es folgen schließlich im engeren Sinne erkenntnistheoretische Auslassungen, insoweit als Verstand, Urteilskraft, Imagination, Wahnsinn, Debilität, Grausamkeit und Instinkt als Leistungen des zuvor skizzierten organischen Systems vorgestellt werden. 48 In diesem Zusammenhang stellt sich sodann die Frage, weshalb es überhaupt eine komplexe dramatische Szenerie mit dem Dialog Bordeus und Mlle de l’Espinassens und den darin eingebetteten Traumsequenzen d’Alemberts gibt, wenn im Rahmen dieses Settings lediglich eine detailreiche Ergänzung eines bereits im Gespräch des ersten Teiles aufgefalteten Materialismus stattfände. Zum einen lässt sich die Funktion der komplexeren dramatischen Fiktionalisierung mit der angeführten Bedeutung der Einbildungskraft und ihrer Statthalter Traum und Analogie als Erkenntnismethoden begründen. Zum anderen kann die Bedeutung des Trau44 45 46 47 48

Vgl. ebd. S. 121. Vgl. ebd. S. 120–123. Vgl. ebd. S. 124–154. Vgl. ebd. S. 154–176. Vgl. ebd. S. 176.

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mes d’Alemberts und das damit zusammenhängende komödiantisch-illusionsstörende Aus-der-Rolle-Fallen d’Alemberts mit der komischen Textfunktion erklärt werden. Abgesehen davon, dass die zuletzt angeführte Begründung Ausdruck einer für Diderot zumindest untypischen Ästhetik wäre, weil sich komische Textelemente bei ihm üblicherweise ernsthaft funktionalisieren lassen, sind auch beide Begründungen zusammengenommen keineswegs hinreichend, um die Ästhetik des zweiten Teiles und somit das Zusammenspiel von Traumgeschehen und dialogischen Kommentarelementen zu rechtfertigen. 49 Auf eine mögliche Funktion dieser fiktionalen Textgestalt werde ich am Beispiel einiger Passagen eingehen, die im Modus von Dialog und Traum die Bedeutung des Traumes und übergeordnet der Einbildungskraft explizit thematisieren bzw. implizit veranschaulichen. Dabei erklärt sich auch das Verhältnis der beiden Modi zueinander. Die zunächst vorgestellte Dialogsituation befindet sich in dem Textteil, in dem nach der Diskussion über die organische Materienorganisation weitgehend erkenntnistheoretische Fragestellungen das Gespräch zwischen Bordeu, Mlle de l’Espinasse und d’Alembert bestimmen. Letzterer ist aus seinem Traum erwacht und beteiligt sich an der Diskussion mit einer an Bordeu gerichteten Frage zur Bedeutung des Schlafes. Der entscheidende Teil der Antwort des Arztes beinhaltet eine Art Traumtheorie: Dans la veille le réseau obéit aux impressions de l’objet extérieur. Dans le sommeil c’est de l’exercice de sa propre sensibilité qu’émane tout ce qui se passe en lui. Il n’y a point de distraction dans le rêve; de là sa vivacité: c’est presque toujours la suite d’un éréthisme, un accès passager de la maladie. […] Les concepts y sont quelquefois aussi liés, aussi distincts que dans l’animal exposé au spectacle de la nature. Ce n’est que le tableau de ce spectacle réexcité: de là sa vérité, de là l’impossibilité de le discerner de l’état de veille; nulle probabilité d’un de ces états plutôt que de l’autre. Nul moyen de reconnaître l’erreur que l’expérience. 50

Tatsächlich ist diese Ausführung Bordeus eine auf den Traumzustand bezogene Erkenntnistheorie, die wiederum in Relation zum Wachzustand gesetzt wird. Eine Unterscheidung zwischen beiden Zuständen gibt es laut Bordeu nur in Bezug auf die Herkunft der Eindrücke, die im Wachzustand von außen kommen, während sie im Traumzustand von innen aufsteigen, sei es in Form von Erregungen, die von den Sinnesorganen ausgehen oder als Vorstellungen, die unmittelbar vom Gehirn („l’origine du faisceau“) selbst ausgehen. 51 Die Vorstellungen an sich unterscheiden sich allerdings nicht von denen des Wachzustandes, da im Traum, zugespitzt formuliert, lediglich wieder aufgerufen wird, was im Wachzustand an von der Außenwelt vermittelten Sinneseindrücken in der Erinnerung abgespeichert wurde. Aus Bordeus Kommentar lässt sich damit ein grundsätzlich mechanischer und streng deterministischer erkenntnistheoretischer Ansatz ableiten. Denn Bordeus Theorie beinhaltet, dass sowohl im Traum wie auch im Wachzustand letztlich die von der Außenwelt induzierten Sinneseindrücke in der von der Natur vorgegebenen Weise miteinander kombiniert werden, insofern als die Empfindungen von 49 In diesem Zusammenhang ist Dieckmann zu erwähnen, der im Rêve de d’Alembert einen direkten Bezug zwischen literarischer Form und Ideengehalt sieht, was ihn dazu veranlasst, von einer Parallele zwischen der künstlerischen Form des Traumes und bestimmten Erkenntnisvermögen zu sprechen (vgl. DIECKMANN 1966, S. 24). 50 DIDEROT 1987, S. 183. 51 Ebd. S. 182.

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den Sinnesorganen in ihrer natürlichen Ereignisfolge an die Erinnerung weitergeleitet und dort abbildlich miteinander verbunden werden. Diese Verbindungen sind kontingent und dabei mehr oder weniger sinnvoll. Im Traum wird der Abbildungsvorgang im Vergleich zum Wachzustand, vereinfacht gesprochen, lediglich zeitlich verschoben wiedergegeben. Ein Spielraum für eine individuelle Kombinatorik der Impressionen ist dieser Logik zufolge ausgeschlossen. Wie ernst dieser erkenntnistheoretische Determinismus Bordeus zu nehmen ist, das kündigt sich in dem auf den ersten Blick unverfänglich erscheinenden Kommentar d’Alemberts im Anschluss an Bordeus Ausführungen zumindest an: „Voilà donc tout ramené à de la sensibilité, de la mémoire, des mouvements organiques; cela me convient assez. Mais l’imagination? mais les abstractions?“52 Ein stärkerer inhaltlicher Einwand gegen den mechanischen Determinismus des Bordeu’schen Materialismus als der in unverfänglicher Frageform vorgebrachte Hinweis auf die Einbildungskraft lässt sich mit nur einem Wort kaum vorbringen. Zumindest dann, wenn der Einbildungskraft in einer für die Aufklärungsbewegung ebenfalls gebräuchlichen Begriffsverwendung ein kombinatorisches, mitunter sogar genialisches Schöpfungsvermögen zugeschrieben wird. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang allen voran Voltaire, der in seinem 1765 veröffentlichten Encyclopédie-Artikel „Imagination“ davon spricht, dass die Sinnesorgane für die Wahrnehmung, das Gedächtnis für die Erinnerung der Wahrnehmungen und die Imagination schließlich für ihre Kombination zuständig sind. Er geht soweit, der Imagination die Verknüpfung der Ideen zu Ideenkomplexen („composition des idées“) zuzuschreiben, ein Vorgang, der sich anhand der Beispiele, die er anführt, auch als Abstraktionsvermögen charakterisieren lässt. Insofern spricht er von einer „imagination active“, der zumindest im Bereich der Kunst schöpferische Kreativität zu Eigen ist. 53 Bringt man diesen schöpferisch-kombinatorischen Aspekt einer am Erkenntnisprozess maßgeblich beteiligten Einbildungskraft in Anschlag, der sie als apriorisches Erkenntnisvermögen ausweist, 54 so muss dem Individuum in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein gewisses Maß an individueller Eigenständigkeit konzediert werden. Auch wenn es sich um eine eingeschränkte Freiheit handelt, kontrastiert diese mit dem unumstößlichen Determinismus, der aus Bordeus Materialismus hervorgeht. Wie um diesen erkenntnistheoretischen Determinismus vor dem Hintergrund der Anspielung auf die soeben skizzierte Begriffsdimension der 52 Ebd. S. 188. 53 Vgl. VOLTAIRE 1987, S. 204–214; auch Condillac schreibt der Imagination ein kombinatorisches Vermögen zu, wenn er ihr die Fähigkeit attestiert, im Gedächtnis abgespeicherte Sinneseindrücke mittels Zeichenzuordnung frei kombinieren zu können (vgl. CONDILLAC 1947, S. 17–21). Selbst La Mettrie, der vermeintliche Vertreter eines mechanischen Materialismus, lässt sich in diese Reihe stellen: „L’imagination élevée par l’art, à la belle et rare dignité de Génie, saisit exactement tous les rapports des idées qu’elle a conçües, embrasse avec facilité une foule étonnante d’objets, pour en tirer enfin une longue chaîne de conséquences, lesquelles ne sont encore que de nouveaux rapports, enfantés par la comparaison des premiers, auxquels l’Ame trouve une parfaite ressemblance“ (LA METTRIE 1990, S. 64). 54 Voltaire charakterisiert die Imagination aufgrund der ihr innewohnenden irreduziblen Kombinationskapazität als apriorisches Erkenntnisvermögen, wenn er von ihr als „don de dieu“ spricht (VOLTAIRE 1987, S. 204).

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Einbildungskraft auf komische Weise zu desavouieren, wird von der Figur Bordeu eine Definition der Imagination ins Feld geführt, die zum einen mit dem Begriff selbst in Konflikt gerät, weil sie eigentlich einen anderen Begriff definiert, und zum anderen in überzogener Weise den erkenntnistheoretischen Determinismus bestätigt: L’imagination, c’est la mémoire des formes et des couleurs. Le spectacle d’une scène, d’un objet monte nécessairement l’instrument sensible d’une certaine manière; il se remonte ou de lui-même ou il est remonté par quelque cause étrangère; alors il frémit au dedans ou il résonne au dehors; il se recorde en silence les impressions qu’il a reçues, ou il les fait éclater par des sons convenus. 55

Tatsächlich identifiziert Bordeu die Einbildungskraft mit einer Funktion des Gedächtnisses, wobei er sie in dezidiert mechanistischer Diktion auf eine Art Uhrwerk reduziert, das, nachdem es aufgezogen ist, mittels nicht näher bestimmter Auslösermechanismen wiederholend abspulen kann, was ihm an natürlichen Impressionen eingeschrieben wurde. Obschon ein solcher Eindruck erweckt wird, lässt sich aus der geschilderten Dialogsituation nicht zwingend ableiten, dass Bordeus mechanisch-deterministischer Materialismus in einem entscheidenden Aspekt seiner Erkenntnistheorie desavouiert und zugleich um eine transzendentale Dimension erweitert wird, die mit einem von Bordeus Definition abweichenden Begriff der Einbildungskraft zusammenfällt. Dass sich aus dem Zusammenspiel der einzelnen Figurenaussagen ein Unbehagen gegenüber den mechanischen Anteilen des Materialismus ableiten lässt, das scheint mir bereits an dieser Stelle als vorläufiges Fazit gerechtfertigt zu sein. Um den im Text angelegten Imaginationsbegriff und die sich daraus ergebenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen schlüssig ableiten zu können, ist es unumgänglich, Traum und Dialog als Modi der Wissensvermittlung des zweiten Kapitels in der Zusammenschau zu betrachten. Hat der bisher vorgestellte Dialogabschnitt ausgehend von einer theoretischen Auslassung Bordeus über den Traum unmissverständlich eine mechanisch eingefärbte materialistische Erkenntnistheorie vorgebracht, so ist nun der Traum d’Alemberts selbst im Hinblick auf seine erkenntnistheoretischen Implikationen zu lesen. Anders gewendet, die Traumtheorie Bordeus, der ein Begriff der Einbildungskraft zugrunde liegt, welcher einem streng mechanisch-deterministischen Materialismus das Wort redet, ist insbesondere angesichts der angedeuteten Desavouierung dieser Ausformung des Materialismus der Praxis des Träumens selbst gegenüberzustellen. Deshalb möchte ich auf d’Alemberts Traum und im Besonderen auf seine darin entwickelte Bienenstockanalogie zurückkommen. Bevor d’Alembert im Traum auf besagte Analogie kommt, scheint er gemäß der Transkription von Mlle de l’Espinasse eine Dialogsequenz aus dem am Abend zuvor mit Diderot geführten Gespräch träumend zu rekapitulieren, in der es in Anlehnung an das Assimilationsprinzip um das Verhältnis von Kontiguität und Kontinuität geht: Mon ami d’Alembert prenez-y-garde, vous ne supposez que de la contiguïté où il y a continuité… Oui, il est assez malin pour me dire cela… Et la formation de cette continuité? Elle ne

55 DIDEROT 1987, S. 189.

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Yann Lafon l’embarassera guère… Comme une goutte de mercure, une molécule sensible et vivante se fond dans une autre. 56

Richtiger ist sicherlich, dass d’Alembert die Positionen des Philosophen gleichsam markiert in seine Traumrede integriert, wobei er, den Tenor von Diderots Gedanken wieder aufnehmend, diese Ideen scheinbar schon weiterentwickelt. Bezieht man diese Traumpraxis auf die von Bordeu entwickelte Traumtheorie, so lässt sich feststellen, dass Theorie und Praxis insoweit übereinstimmen, als im Traum zunächst Gesprächseindrücke in der Erinnerung aufsteigen, die im Wachzustand im Gedächtnis abgespeichert wurden. Diese mit der Theorie Bordeus koinzidierende Stufe wird aber spätestens dann überschritten, wenn d’Alembert das bislang nicht eingehender bezeichnete Verhältnis von Kontiguität und Kontinuität in seiner Analogie vom Bienenstock veranschaulicht. Denn hier findet in der assoziativ-kreativen Analogiebildung genau der schöpferische Prozess statt, den Voltaire der „imagination active“ zuschreibt. Damit ist Bordeus Theorie eines rein abbildend-rekonstruierenden Träumens hinfällig, da diese mechanische Vorstellung von der praktischen Anschauung des Träumens widerlegt wird. Anstelle dessen wird der Traum d’Alemberts wie die Analogiebildung zur Chiffre kreativer Einbildungskraft. 57 Die Pointe besagter Imaginationsleistung ist, dass Bordeu die Bienenstockanalogie d’Alemberts selbst vollendet. Er tritt sogar mit d’Alembert in einen indirekten Imaginationswettbewerb, wenn er Mlle de l’Espinasse vorführt, dass er in der Lage ist, das Ende ihrer Traummitschrift dem Entwurf d’Alemberts entsprechend zu imaginieren: „Voulez-vous transformer la grappe d’abeilles en un seul et unique animal? Amollissez les pattes par lesquelles elles se tiennent, de contiguës qu’elles étaient rendez-les continues.“ 58 Damit ist gesagt, dass es zwischen einem träumenden Philosophen und einem Arzt im Wachzustand keinen Unterschied gibt, denn im Schlaf wie auch im Wachzustand manifestiert sich die Einbildungskraft als eine für die Erkenntnisbildung entscheidende Kategorie. Bevor ich zusammenfassend auf die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser Konstellation zu sprechen komme, möchte ich auf den performativen Widerspruch eingehen, der die beschriebene fiktionale Konstruktion charakterisiert, weil sich erst auf dieser Grundlage zweifelsfreie erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen lassen. Wenn im Text nicht zwischen Traum und Wachzustand unterschieden wird, so wird doch zwischen Behauptungen und ihren empirischen Überprüfungen, soweit sie sich im fiktionalen Explorationsraum darstellen lassen, unterschieden. Konkret ist darunter zu verstehen, dass d’Alemberts Traumaktivität an sich der theoretischen Auslassung Bordeus über den Traum widerspricht. Das wiederum ist deshalb der Fall, weil im Traum d’Alemberts in Form der Analogiebildung das Wirken einer kreativen Einbildungskraft veranschaulicht wird, während Bordeu in 56 Ebd. S. 118. 57 Insofern hat Behrens Recht, wenn er d’Alemberts Traum attestiert, dass er nur bedingt mit dem „zeitgenössischen Traumwissen und auch nur partiell mit den psycho-physiologischen Bestimmungen übereinstimmt, die sich in Diderots direktem Umfeld, etwa bei La Mettrie, in der Ecole de Montpellier oder in seinen eigenen Ausführungen über den Traum finden“ (BEHRENS 2003, S. 141). 58 DIDEROT 1987, S. 121.

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seiner theoretischen Ausführung über den Traum die schöpferische Dimension der Einbildungskraft negiert. 59 Der im Zusammenspiel von Traum und Dialog zur Geltung gebrachte Widerspruch zwischen Theorie und Praxis wiegt umso schwerer, als er sich am Theoretiker Bordeu selbst vollzieht, indem dieser die Traumsequenz d’Alemberts eigenständig vollendet. Angesichts seiner einfallsreichen Abstraktionsgabe veranschaulicht sich dementsprechend an seiner Person, dass er von der Einbildungskraft geleitet Konsequenzen zieht und so einen komplexen Vorgang begrifflich fixiert. Dabei bestätigt sich zugleich, dass es im Rêve de d’Alembert nicht um eine zeitgemäße psycho-physiologische Beschreibung des Traumes geht, sondern dass ihm im Rahmen des fiktionalen erkenntnistheoretischen Entwurfes die Funktion einer literarischen Chiffre der Einbildungskraft zukommt. 60 Weil de facto die Wirkung der Einbildungskraft veranschaulicht wird, sind Traum und Wachzustand letztlich austauschbare Größen, wie einerseits das gleichberechtigte Zusammenspiel des wachen Bordeus und des träumenden d’Alemberts im Rahmen der Bienenstockanalogie und andererseits der Umstand, dass d’Alembert so träumt, als wäre er wach, zeigt. In erkenntnistheoretischer Hinsicht führt der performative Widerspruch, den die fiktionale Textstruktur ermöglicht, zu einer eindeutigen Desavouierung des Bordeu’schen Modells einer allein auf mechanistisch gedachten Abbildungsvorgängen beruhenden Vorstellung. Denn Bordeus am Traum festgemachte Theorie der Erkenntnisbildung beinhaltet, dass die von der Außenwelt induzierten Sinneseindrücke lediglich in der von der Natur vorgegebenen Reihenfolge im Gedächtnis kompilatorisch kombiniert werden. Die Kritik an diesem krude deterministischen Materialismus bezieht sich indessen nur auf den Aspekt der Qualität der Kombination von sinnlich vermittelten Ideen zu Ideenkomplexen. Denn die Einbildungskraft, deren Wirken anhand der Analogiebildung veranschaulicht wird, wird hier nicht als kreative Imagination im Sinne einer Fähigkeit des Komponierens referenzloser Bilder vorgestellt. 61 Vielmehr wird anhand d’Alemberts Bienenstockanalogie veranschaulicht, wie die Einbildungskraft auf der Grundlage wieder auftauchender Sinneseindrücke bzw. aus dem Gedächtnis abgerufener Ideen, die den Tenor einer Gesprächssequenz des Vorabends reflektieren, einen erkenntnisbildenden Kombinationsprozess freisetzt. Konkret meint dies, dass die referenzialisierbaren Ideen von der Kontiguität und der Kontinuität in einem Prozess, der halb abstrahierend und halb kreativ-assoziativ ist, miteinander kombiniert werden, wobei das abstrakte Phänomen des Übergangs von einem kontigen Verband einzelner ‚BienenMoleküle‘ zu einem kontinuierlich-organischen Molekularverband veranschau59 Hempfer verweist im Hinblick auf den performativen Widerspruch auf genau diese Form der Komplexitätspotenzierung des argumentativen Diskurses, die er auf die „Dissoziierung von Aussagesubjekt, Aussagemodus und propositionalem Gehalt“ zurückführt (HEMPFER 2002, S. 21). 60 Von einer literarischen Chiffre spreche ich hier, weil der Traum traditionell mit der Imaginationsleistung assoziiert wird. 61 Behrens verweist darauf, dass Bordeu einen auf referenzloser Kreativität beruhenden Imaginationsbegriff verwirft. Er verkennt aber zugleich, dass im Zusammenspiel der Textelemente ein Imaginationsbegriff eingeführt wird, der gerade auf einer referenzialisierbaren Kreativität beruht (vgl. BEHRENS 2003, S. 155).

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licht wird. Insofern wird mittels der Analogie de facto die kombinatorische Wirkung der Einbildungskraft auf der Grundlage referenzialisierbarer Ideen illustriert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der im Text angelegte erkenntnistheoretische Entwurf die Erweiterung einer materialistischen Erkenntnistheorie um eine transzendentale Dimension beinhaltet. Transzendental wird der Materialismus insoweit, als mit der Einbildungskraft ein genuin apriorisches Erkenntnisvermögen, das an sich irreduzibel oder, um es mit Voltaire zu sagen, als Gabe Gottes im Sinne einer Anlage zu betrachten ist, in die materialistische Theorie integriert wird. Damit ist ein transzendentaler Materialismus entworfen, der ein Zusammenspiel zwischen der Erfahrung und der Erfahrung vorausgehenden, apriorischen und somit nicht weiter analysierbaren Erkenntnisvermögen in Betracht zieht. In Bezug auf die Funktion der Fiktion im Rêve de d’Alembert möchte ich abschließend hervorheben, dass ein an sich irreduzibles Vermögen wie die Einbildungskraft nur im exploratorischen Rahmen der Fiktion, in dem ‚Wirklichkeiten‘ mittels fiktionaler Strategien so modelliert werden können, als ob sie tatsächlich existierten, zur Anschauung gebracht werden kann. Die Pointe des Rêve de d’Alembert ist fiktionsästhetisch gesprochen darin zu sehen, dass die Textfigur d’Alembert zunächst in Anlehnung an die historische Person eine materialismusskeptische Rolle übernimmt, um sie im Kontext der komischen Verzerrung des zweiten Kapitels vorübergehend gegen die Rolle des überzeugten Materialisten einzutauschen. Diese Konstellation ist aber lediglich Ausdruck der Komik, während die eigentliche Pointe des Textes darin besteht, dass der fiktional modellierte d’Alembert ausgerechnet in seiner Traum-Rolle als überzeugter Materialist vermittels der Figur des performativen Widerspruches zur impliziten Gallionsfigur eines kritisch geläuterten transzendentalen Materialismus wird.

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Geschichte und Fiktion A. Manzonis historischer Roman und A. Thierrys Programm einer neuen Historiographie FRANZ PENZENSTADLER 1. Die Transformation des Diskurssystems vom 18. zum 19. Jahrhundert Der historische Roman, das romantische Drama, die französische Geschichtsschreibung der 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts sind – bewusst zugespitzt formuliert – nicht das Produkt der Französischen Revolution in dem Sinne, dass sie die geschichtliche Erfahrung widerspiegelten, 1 sondern die Französische Revolution ist das Resultat eines historischen Denkens, das die alten Institutionen in ihrer Historizität in Frage gestellt und neue Institutionen sowie die eigene politische Identität historisch zu legitimieren gesucht hat. 2 Dieses historische Denken erfasst gegen Ende des âge classique alle Diskurse und bringt neben der Revolution die literarische Romantik, die evolutionistische Zoologie, die neuen Geschichtsphilosophien usw. hervor. 3 Historisches Denken basiert dabei wesentlich auf zwei Konzepten: 1) der Evolution im Sinne einer permanenten und irreversiblen Transformation alles Geschichtlichen – und geschichtlich ist mit Ausnahme der Natur so gut wie alles, 2) der Partikularität und Individualität alles geschichtlich Gewordenen. 4 Die His1 2

3

4

Dies war bekanntlich Lukács’ Erklärung, der „Entstehung und Entwicklung, Aufstieg und Niedergang des historischen Romans als notwendige Folgen der großen gesellschaftlichen Umwälzungen der Neuzeit“ gesehen hat (LUKÁCS 1965, S. 21). Schon 1789 führt der Abbé Sieyès die Klassenstruktur der französischen Nation in historischer Sicht auf den Gegensatz von gallisch-römischer Bevölkerung und fremden germanischen Eroberern zurück, s. SIEYÈS 1970, S. 127f. Sieyès greift dabei seinerseits Argumente Boulainvilliers auf, dem es in seiner Histoire de l’ancien gouvernement de la France (1725) um die Existenz zweier ‚Nationen‘ auf französischem Territorium und die besonderen Rechte des Adels ging. In den Inszenierungen politischer Identität anlässlich republikanischer Feste während der Revolution erhält der Rekurs auf Geschichte – in diesem Fall auf die römische – weitere Dynamik. Diese These basiert natürlich im Wesentlichen auf FOUCAULT 1966. Origine, causalité und histoire sind Foucault zufolge die essentiellen Konzepte bzw. Struktureigenschaften der zwischen 1775 und 1825 neu sich formierenden Episteme. S. dazu auch PENZENSTADLER 2000, S. 14–28. Vgl. des Weiteren LEPENIES 1978. Die hier gemeinte Entdeckung von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit ist also zu unterscheiden vom Fortschrittskonzept der Aufklärung, das auf der letztlich statischen Vorstellung einer Entfaltung der universalen und prinzipiell von Anfang an gegebenen Perfektibilität des Menschen und der Gesellschaft beruht. Als statisch sind – etwa in Montesquieus oder Voltaires mechanistischen Erklärungsmodellen – auch geschichtliche Ereignisabläufe im Einzelnen

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torie interessiert sich daher für den Ursprung der französischen Nation, für die Genese und Evolution des Klassenkonflikts zwischen Adel und drittem Stand, und es geht es ihr dabei um die spezifisch nationalen Bedingungen der Geschichte und deren Entwicklungsprozesse. Aus demselben Grund, nämlich eines neuen historischen Denkens, bestimmt die Romantik das Schöne nicht mehr als ein Überzeitliches, sondern als das Moderne, das einer von christlicher Metaphysik geprägten Weltsicht entspringt, und räumlich-kulturell nicht mehr als ein Universales, sondern als das Besondere, das Interessante und dem jeweiligen Nationalcharakter Entsprechende. Diese Transformation der Episteme bestimmt sowohl Struktur und Eigenschaften im Inneren der einzelnen Diskurse als auch das System der Diskurse insgesamt. Ich möchte zunächst versuchen, die Veränderung im Hinblick auf das Verhältnis von historiographischem und poetischem Diskurs kurz zu skizzieren, weil daraus sowohl die neue Gattung des historischen Romans als auch die Neukonzeption der Historiographie in der Romantik hervorgegangen ist. Basis der beiden Diskurse ist bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Aristoteles’ bekannte Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung. Die Geschichtsschreibung teilt das wirklich Geschehene mit, d.h. das Faktisch-Wahre, die Dichtung hingegen, was geschehen könnte, d.h. das Wahrscheinliche; und daher ist die Dichtung philosophischer, denn ihr Gegenstand ist das Allgemeine, während die Geschichtsschreibung das Besondere zum Gegenstand hat. 5 Die Relation zwischen historiographischem und poetischem Diskurs ist jedoch tatsächlich nicht so symmetrisch, wie sie bei Aristoteles bzw. im âge classique erscheint. Die Darstellung des Faktisch-Wahren ist nämlich im Falle der Geschichtsschreibung deren Funktion, die Funktion der Dichtung hingegen ist die Darstellung des Allgemeinen. Dieses Poetisch-Allgemeine erfordert nun im Hinblick auf seine ästhetische Wirksamkeit die Glaubwürdigkeit bzw. das Wahrscheinliche als strukturelle Eigenschaft des Dargestellten. Dieses Wahrscheinliche kann schon eine strukturinhärente Qualität des vom Dichter gewählten Geschehens sein, wenn jedoch das Geschehen diese Eigenschaft nicht hat, kann bzw.

5

gedacht. Anzeichen eines neuartigen Bewusstseins von Geschichtlichkeit zeigen sich m.E. gegen Ende des 18. Jahrhunderts z.B. in der lebhaften Evokation der griechischen Antike in J.-J. Barthélemys Voyage du jeune Anacharsis en Grèce dans le milieu du quatrième siècle avant l’ère vulgaire (1788), wo es um deutlich mehr als bloßes Wissen über die Antike geht, oder in C.-F. Volneys Les ruines ou méditations sur les révolutions des empires (1791). Volneys rationalistischer Optimismus gründet nicht mehr in der traditionellen Vorstellung eines Zivilisationsfortschritts, sondern in einer vom Anblick der Ruinen von Palmyra ausgelösten historischen Meditation über den zyklischen Aufstieg und Untergang der Zivilisationen, die – ausgeweitet zu einer Vision vergangener Prosperität und Reflexion über die Ursachen des Niedergangs – schließlich zur These eines möglichen radikalen Bruchs mit der Zyklik vergangener Geschichte und eines revolutionären Neuanfangs führt. Vgl. ARISTOTELES 1982, Kap. 9. Auf Aristoteles’ Unterscheidung basiert im 18. Jahrhundert ganz offensichtlich auch die allgemeinere Differenz zwischen poésie und éloquence: „l’orateur doit dire le vrai d’une maniere qui le fasse croire [...]. Le poëte doit dire le vraisemblable d’une maniere qui le rende agréable“ (ENCYCLOPEDIE 1777–1779, Bd. 26, S. 381). Zur Geschichte des Verhältnisses von Poesie und Geschichtsschreibung s. HEITMANN 1970.

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muss die Wahrscheinlichkeit in der Bearbeitung durch den Dichter hergestellt werden. Wahrscheinlichkeit ist also erst eine Qualität des dichterischen mythos, nicht des Stoffes. Das Besondere, das den Gegenstand des historischen Diskurses bildet, ist demgegenüber schon eine strukturelle Eigenschaft des Faktisch-Wahren, das nicht erst vom Geschichtsschreiber hergestellt werden muss, insofern das HistorischFaktische notwendig immer schon ein Partikuläres ist. Wenn der Historiker seit Thukydides dennoch auf ein Allgemeines zielt, so ist dies immer das Resultat einer induktiven Operation des Historikers, die vom primär Besonderen seines Gegenstandes sekundär zu Thesen bzw. Hypothesen von allgemeinem Charakter gelangt. 6 Die Transformation der bis zum Ende des âge classique strikt getrennten Diskurse lässt sich nun so beschreiben, dass historischer und poetischer Diskurs im 19. Jahrhundert in gewisser Weise ‚zusammenfallen‘. In funktionaler Hinsicht besteht diese Koinzidenz darin, dass nun auch der poetische Diskurs das Partikuläre und Faktische als seinen Gegenstand beansprucht und der historische Diskurs sich umgekehrt zunehmend poetisch-illusionistischer Darstellungsmodi bedient. 7 Das Zusammentreffen der beiden Diskurse stellt sich genau in dem Moment als geradezu zwangsläufig ein, als das Schöne seinen bislang unangetasteten Status als Gegenstand des poetischen Diskurses verliert und ersetzt wird durch das Wahre bzw. durch ein wie auch immer verstandenes Interessantes. Dies geschieht bekanntlich in der romantischen Ästhetik. 8 So formuliert Manzoni 1823 in der Lettera a Cesare d’Azeglio sul Romanticismo: [...] che la poesia e la letteratura in genere debba proporsi l’utile per iscopo, il vero per soggetto e l’interessante per mezzo. [...] E che in ogni argomento debba cercare di scoprire e di esprimere il vero storico e il vero morale, non solo come fine, ma come più ampia e perpetua sorgente del bello. 9

Das Schöne ist also nicht Gegenstand, sondern allenfalls Effekt der Darstellung des Wahren. Die beiden Diskurse treffen sich jedoch nicht nur, sondern sie treten von diesem Moment an in ein Konkurrenzverhältnis, insofern beide eine wie auch immer 6 7

8 9

Deshalb trifft der Einwand M. Fuhrmanns, Aristoteles’ Differenzierung werde der Leistung eines Thukydides nicht gerecht, nicht exakt zu (vgl. ARISTOTELES 1982, S. 113, Anm. 2). Mit dieser Koinzidenz der beiden Diskurse ist mehr und Anderes gemeint als der Anspruch, dem historischen Geschehen „epische Einheit“ zu geben, auf den Koselleck im Zusammenhang mit der Historik des 18. Jahrhunderts verwiesen hat (s. KOSELLECK 1989, S. 51ff.). Insofern es sich bei dieser Einheit im Grunde nur um ein allgemeineres Verfahren modellierender Sinnkonstitution handelt, kann ich in diesem Falle noch keine tatsächliche Annäherung von Historik und Poetik sehen. — Als Indizien einer Aufhebung der strikten Trennung von historischem Diskurs bzw. Wissensdiskursen und poetischem Diskurs ließen sich die schon erwähnten Texte von Barthélemy und Volney nennen. Beide ordnen sich primär in den historischen bzw. geschichtsphilosophischen Diskurs ein, enthalten aber gleichermaßen neuartige Elemente und Strukturen der Fiktionalität. Zu dieser Neukonzeption des Gegenstands des poetischen Diskurses in der Romantik s. PENZENSTADLER 2000, S. 59–67 und S. 96–152. MANZONI 1970, S. 338.

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geartete Erkenntnis des Wahren für sich beanspruchen. Der poetische Diskurs beschränkt sich nicht mehr auf die poetisch-imaginative Illustration des Wahren der Wissensdiskurse, wie es etwa die Aufgabe des Lehrgedichts war, sondern vermittelt selber Erkenntnis oder hinterfragt zumindest kritisch die Erkenntnisse der Wissensdiskurse. 10 Eine besondere Rolle spielt bei der genannten Verknüpfung des poetischen Diskurses mit den Wissensdiskursen der historische Roman, der sich in erster Linie als Roman und somit als Teil des poetisch-fiktionalen Diskurses versteht, zugleich aber typische Verfahren des historischen Diskurses – wie Zitieren von Originalquellen, Quellenverweise in Fußnoten, sprachliche und sachliche Erklärungen zu historischen Sachverhalten usw. – übernimmt und durchaus auch den Anspruch erhebt, die historische Vergangenheit adäquat abzubilden oder den Verlauf von Geschichte zutreffend zu erklären. Der historische Roman gibt sich also exakt als das poetisch-fiktionale Pendant zur Historiographie. ‚Historiographie‘ als Referenzklasse ist dabei in den meisten Fällen, wenn auch nicht notwendig, in einem engeren Sinne zu verstehen, nämlich als eine spezifische Textsorte des historischen Diskurses, zu dem beispielsweise auch Biographie, Autobiographie, Memoiren, Annalen usw. gehören. Diese Textsorte ließe sich definieren als eine umfassende posteriore Darstellung einer Epoche durch den Historiker, die sich vorwiegend der Narration und Deskription bedient, aber in der Regel auch argumentative Kommentare und Reflexionen einfügt. 11 Theoretisch setzt ein solches Verhältnis von fiktionalen und faktualen Texten ein Konzept von Fiktionalität als einer Als-ob-Struktur voraus, wie es Klaus W. Hempfer entwickelt hat, wonach fiktionale Texte dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich „über eine bestimmte Menge von Strukturen konstituieren, die sie hinsichtlich dieser Strukturen isomorph zu bestimmten Typen nichtfiktionaler Diskurse erscheinen lassen, daß sie aber gleichzeitig über Strukturen verfügen, die diese Isomorphie als eine nur scheinbare ausweisen.“ 12 Handelt es sich bei der neuen Gattung also um einen fiktionalen Text, so setzt sich das erzählte Geschehen jedoch aus Faktisch-Wahrem und Fiktiv-Wahrschein-

10 Zum Erkenntnisanspruch romantischer Dichtung s. PENZENSTADLER 2000, S. 95–152. — Die Konkurrenz zu den Wissensdiskursen bleibt bekanntlich auch noch ein wesentliches Moment des realistischen und naturalistischen/veristischen Romans. 11 Dem entspricht der häufigste Typus des historischen Romans, der durch einen heterodiegetischen Erzähler gekennzeichnet ist. Der historische Roman kann sich aber auch als Pendant zu anderen historiographischen Textsorten präsentieren: W. Scotts Rob Roy z.B. realisiert sich als fiktionale Variante der Textsorte ‚Memoiren‘ (mit homodiegetischem Erzähler). — Der wichtigste Impuls zum historischen Roman als Gegenstand der neueren Forschung stammt bekanntlich von LUKÁCS 1965, zur neueren Forschung und zur Theorie des historischen Romans s. v.a. AUST 1994, NÜNNING 1995 und LAMPART 2002, S. 15–38. Zum Verhältnis zwischen historischem Roman und Historiographie bzw. zur Verwendung historiographischen Materials im historischen Roman in Italien s. COLUMNI CAMERINO 1985 und SCARANO 1986. 12 HEMPFER 1990, S. 127.

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lichem zusammen. 13 Dabei sind zwei Möglichkeiten zu unterscheiden: 1) ein Typus ‚vertikaler‘ Relation zwischen Fiktion und Faktischem, in dem eine fiktive histoire in den Kontext der faktischen Geschichte integriert wird, d.h. wo fiktive Figuren als Protagonisten in einem historischen Kontext agieren; 2) ein Typus ‚horizontal-syntagmatischer‘ Relation zwischen fiktiven und faktischen Elementen, in dem die nicht-dokumentierten Lücken in der faktischen Biographie historischer Personen durch fiktive Elemente aufgefüllt werden. Die Funktion der Dichtung wird im Falle des historischen Romans also die Darstellung und Erklärung des Faktisch-Wahren, wahrer historischer Ereignisse und Handlungen oder auch nur historisch wahrer Sitten, Lebensumstände usw. Hinsichtlich ihrer spezifischen Intention können sich historische Romane erheblich voneinander unterscheiden und entsprechend variiert auch das spezifische Verhältnis zum historischen Diskurs: Geht es dem historischen Roman um rationale Erklärung und kritische Beurteilung von Geschichte, tritt er in unmittelbare Konkurrenz zum historischen Diskurs der Aufklärung. 14 Geht es ihm um die Konstitution nationaler Identität, steht er in unmittelbarer Konkurrenz zur romantischen Historiographie. 15 Wo der historische Roman hingegen eher metaphysische Geschichtsreflexion intendiert 16 oder gegenwartsferne Historie lediglich als Motivation für nicht-alltägliche heroische Charaktere oder Abenteuer braucht,17 bleibt der Roman in Distanz zum historischen Diskurs. Eine Differenzierung innerhalb der neuen Gattung ist auch – ähnlich wie im historischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts – hinsichtlich der Relation zwischen dargestellter Historie und Gegenwart möglich: Sie kann als eine AnalogieRelation konzipiert sein, bei der das vergangene Geschehen metaphorisch auf die aktuellen Verhältnisse verweist, 18 oder als eine Art metonymischer KontiguitätsRelation, bei der die Ereignisse der Gegenwart bzw. unmittelbaren Vergangenheit durch deren Vorgeschichte erklärt oder erhellt werden. 19

13 Terminologisch empfiehlt es sich daher, zu unterscheiden zwischen ‚Fiktivität‘ bzw. ‚Faktizität‘ als einer Eigenschaft von Sachverhalten und ‚Fiktionalität‘ bzw. ‚Faktualität‘ als einer Eigenschaft von Texten. Vgl. dazu auch WARNING 1983 sowie GENETTE 1991. Dass auch der historische Diskurs sich nicht über seinen Gegenstand bestimmt, sondern über seine pragmatische Dimension, geht schon aus Voltaires Definition der ‚histoire‘ hervor: „c’est le récit des faits donnés pour vrais; au contraire de la fable, qui est le récit des faits donnés pour faux“ (VOLTAIRE 1777–1779, S. 220). 14 Zu diesem Typus gehören Texte wie Manzonis I Promessi Sposi oder P. Mérimées Chronique du règne de Charles IX (1829). 15 Ein typisches Beispiel liefert M. d’Azeglios Ettore Fieramosca ossia La disfida di Barletta (1833). 16 Paradigmatisch ist in dieser Hinsicht V. Hugos Notre-Dame de Paris (1831). 17 Typisch für diese Variante sind die Romane von A. Dumas. 18 Eine derartige Parallele zwischen den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts und der Konfrontation von Ultras und Liberalen ist in P. Mérimées Chronique du règne de Charles IX offenkundig. 19 Paradigmatisch dafür ist A. de Vignys Cinq-Mars ou Une Conjuration sous Louis XIII (1826), wo Richelieus politische Umgestaltung der Monarchie als ferne Ursache der Französischen Revolution suggeriert ist.

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2. Manzonis historischer Roman 2.1 Roman und Wahrscheinlichkeit In Manzonis Poetik des historischen Romans, die er kurz nach der Veröffentlichung der ersten Version der Promessi Sposi zu verfassen beginnt, rechtfertigt sich die Verknüpfung von Fiktion und Historie aus der klassischen Norm der Wahrscheinlichkeit, die Manzoni nun aber so umformuliert, dass sie nicht mehr als eine ahistorisch universale Kategorie erscheint, sondern im romantischen Sinne als ein historisch Besonderes bzw. historisch Wahres. 20 Der historische Roman ist Manzoni zufolge nämlich – wie die Gattung des Romans generell – fiktional, seine differentia specifica resultiert jedoch aus einer besonderen Wahrscheinlichkeitsrelation: Nel romanzo storico, il soggetto principale è tutto dell’autore, tutto poetico, perché meramente verosimile. E l’intento e lo studio dell’autore è di rendere, per quanto può, e il soggetto, e tutta l’azione, tanto verosimile relativamente al tempo in cui è finta, che fosse potuta parer tale agli uomini di quel tempo, se il romanzo fosse stato scritto per loro.21

D.h. das Wahrscheinliche orientiert sich nicht mehr am Wirklichkeitsmodell des realen Rezipienten, sondern an demjenigen eines imaginierten Rezipienten, der selbst der dargestellten Epoche angehört. Die Wahrscheinlichkeit des historischen Romans ist also letztlich nicht auf den aktuellen Leser bezogen, sondern auf den Gegenstand der Abbildung, nämlich das historische Geschehen. Damit wird Wahrscheinlichkeit jedoch zu einer eigentlich historiographischen Kategorie der Gegenstandsadäquatheit. 22 Da aber das vergangene Wirklichkeitsmodell den zeitgenössischen Lesern Manzonis nicht verfügbar ist, muss dieses im Text selbst mitvermittelt werden: Ma (e qui è l’inconveniente comune al romanzo storico con tutte le specie di poesia che inventano sopra un tempo passato) è scritto per degli altri. Mettiamo pure, che all’autore sia riu20 Manzonis Aufsatz Del romanzo storico ist von der Forschung fast einhellig als Absage an den historischen Roman verstanden worden. Diese Auffassung übersieht m.E. jedoch die argumentative Wendung im zweiten Teil der Abhandlung, die auf eine Legitimierung des historischen Romans als einer modernen Untergattung derjenigen Poesie hinausläuft, die Historie und Erfindung vermischt, nämlich Epos und Tragödie. — Eingehender betrachtet ist Manzonis Argumentation bei Lampart, der die These von der Absage an den historischen Roman insoweit modifiziert, als er in diesem poetologischen Text eine Absage an den Scott’schen Typus des historischen Romans bzw. den Gegenentwurf eines eigenen Typus von historischem Roman sieht, in dem Historie und Fiktion getrennt bleiben. S. dazu LAMPART 2002, S. 311– 319. 21 Del romanzo storico (MANZONI 1991, S. 364). 22 In der Poetik des romantischen Dramas und Romans ist dies die Kategorie der couleur locale bzw. couleur des temps. G. Berchet, der den Begriff als einer der Ersten verwendet, hatte diese folgendermaßen definiert: „Intendo per ‚tinte locali‘ quella tale modificazione d’immagini, di pensieri, di sentimenti, di stile, che è propria esclusivamente o quasi esclusivamente di quello stato di natura umana e di quel momento di società civile che il poeta piglia ad imitare“ (BERCHET 1912, S. 79). Die couleur locale ist aber auch – wie noch zu zeigen sein wird – eine Norm der romantischen Historiographie.

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scito di comporre un racconto che agli uomini di quel tempo sarebbe parso verosimile. Un tale effetto sarebbe allora venuto dal confronto spontaneo e immediato, tra il generale ideato dall’autore, e il reale ch’essi conoscevano per esperienza; mentre, per produrlo in uomini d’un altro tempo, l’autore è ridotto a cercar di supplire all’esperienza con l’informazione, e di mettere, dirò così, in una sola composizione, l’originale e il ritratto. 23

Dies bedingt zum einen den immer wieder erforderlichen Nachweis der Wahrscheinlichkeit des Erfundenen durch die Präsentation historischer Dokumente, 24 zum anderen die Einfügung ausgedehnter historischer Exkurse, die funktional nicht unmittelbar auf das fiktionale Erzählen bezogen sind, aber gleichwohl essentielle pragmatische und semantische Funktion im Hinblick auf den Textsinn haben. Diese Exkurse sind – abgesehen von der Tatsache, dass deren Sprecherinstanz zumindest strukturell nicht völlig mit dem Autor zu identifizieren ist, wenngleich sie funktional sicher als dessen Sprachrohr gelten kann – dem historischen Diskurs im eigentlichen Sinne zuzurechnen. Daraus ergibt sich in Manzonis Roman makrostrukturell ein Nebeneinander von Fiktionalität und Faktualität, wobei die Historie jedoch nicht einfach nur die Umstände der fiktiven Geschichte erklärt und motiviert, sondern – wie Joachim Küpper gezeigt hat – auch einer kritischen Gegenüberstellung von literarischer Fiktion und Handeln in der realen Welt dient. 25 Küppers Interpretation ist grundsätzlich zuzustimmen, das Verhältnis zwischen Fiktion und Historie ist jedoch m.E. sowohl in Manzonis Text als auch diskursgeschichtlich etwas komplexer und impliziert insbesondere auch eine Aufwertung des poetischen Diskurses. 26 2.2 Die Introduzione Manzonis Roman beginnt mit einem Paratext, der sich an ähnlichen Vorworten historiographischer Texte orientiert, die typischerweise folgende Elemente enthalten: 27 1) die Beteuerung der Faktizität des Erzählten und einen Verweis auf die entsprechenden Quellen, 28 2) eine Begründung der Selektion, die im Allgemeinen

23 MANZONI 1991, S. 364. 24 Ein Beispiel dafür sind die im I. Kapitel ausführlich zitierten zeitgenössischen gride, die das Unwesen der bravi betreffen. 25 S. KÜPPER 1994. Küppers Interpretation ist weitergeführt in LAMPART 2002, S. 297ff. 26 Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit Manzonis poetologischen Schriften sowie einer insgesamt überzeugenden Gesamtdeutung der Promessi Sposi im Hinblick auf die darin inhärente Geschichtskonzeption s. LAMPART 2002, S. 295–381. 27 Eine paradigmatische Realisierung dieser Konventionen bietet L. A. Muratoris Vorwort zu den Annali d’Italia (1744) („Ai lettori“, s. MURATORI 1964, Bd. 2, S. 1022–1027), aber auch Manzonis Introduzione der Storia della Colonna Infame (s. MANZONI 2002, Bd. 2, S. 749– 755). Diesen Konventionen der Einleitung eines historiographischen Textes folgt auch einer der bekanntesten historiographischen Abschnitte der Promessi Sposi, nämlich der Beginn von Kap. XXXI. 28 Die Quellen werden meist auch hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit, hinsichtlich ihrer Kongruenz, ihrer internen Konsistenz, der Plausibilität des Erzählten usw. diskutiert.

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schon deshalb als notwendig erscheint, weil die Universalgeschichte ja einen Komplex von Partikulargeschichten sowie ein zeitliches Kontinuum darstellt. Diesem historiographischen Modell scheint auf den ersten Blick auch die Introduzione zu folgen: Der Erzähler legitimiert sein Wissen über die Zeitdistanz hinweg durch die Präsentation einer Quelle, der er das erzählte Geschehen angeblich entnommen hat. Allerdings sind im vorliegenden Falle einige methodische Grundsätze ‚missachtet‘: Eine genauere Titelangabe der Quelle fehlt ebenso wie ein näherer Hinweis auf die Umstände der Manuskript-Entstehung oder auf das Verhältnis des Manuskriptverfassers zum erzählten Geschehen. Stattdessen wird der Anfang der Quelle ohne ersichtlichen Grund wörtlich wiedergegeben – also ohne dass gerade diese zitierte Stelle als historischer Beleg für irgendetwas fungieren könnte und entgegen der Konvention historiographischer Texte, die ihre Quellen im Vorwort zwar gewöhnlich thematisieren, aber gerade nicht zitieren: L’historia si può veramente deffinire vna guerra illustre contro il Tempo, perchè togliendoli di mano gl’anni suoi prigionieri, anzi già fatti cadaueri, li richiama in vita, li passa in rassegna, e li schiera di nuovo in battaglia. […] hauendo hauuto notitia di fatti memorabili, se ben capitorno a gente meccaniche, e di piccol affare, mi accingo di lasciarne memoria a Posteri, con far di tutto schietta e genuinamente il Racconto, ouuero sia Relatione. Nella quale si vedrà in angusto Teatro luttuose Traggedie d’horrori, e Scene di malvaggità grandiosa, con intermezi d’Imprese virtuose e buontà angeliche, opposte alle operationi diaboliche. E veramente, considerando che questi nostri climi sijno sotto l’amparo del Re Cattolico nostro Signore, che è quel Sole che mai tramonta, e che sopra di essi, con riflesso Lume, qual Luna giamai calante, risplenda l’Heroe di nobil Prosapia che pro tempore ne tiene le sue parti, e gl’Amplissimi Senatori quali Stelle fisse, e gl’altri Spettabili Magistrati qual’erranti Pianeti spandino la luce per ogni doue, venendo così a formare un nobilissimo Cielo, altra causale trouar non si può del vederlo tramutato in inferno d’atti tenebrosi, malvaggità e sevitie che dagl’huomini temerarij si vanno moltiplicando, se non se arte e fattura diabolica, attesochè l’humana malitia per sè sola bastar non dourebbe a resistere a tanti Heroi, che con occhij d’Argo e braccj di Briareo, si vanno trafficando per li pubblici emolumenti. […] – Ma, quando io avrò durata l’eroica fatica di trascriver questa storia da questo dilavato e graffiato autografo, e l’avrò data, come si suol dire, alla luce, si troverà poi chi duri la fatica di leggerla? 29

Dass es sich bei dieser Introduzione nicht um ein Vorwort eines realen Historikers handelt, wird gleich an der Stelle deutlich, wo das Zitat abbricht und die Erzählerrede beginnt: Das Zitat erweist sich nämlich, genauer besehen, nun nicht als Zitieren eines Textes in einem argumentativen Diskurs, sondern als die mimetischnarrative Abbildung eines Lektüreakts des Erzählers („nel travaglio del decifrare uno scarabocchio che veniva dopo accidenti“ 30 ), der damit zu einer erzählten Figur und so zu einer fiktiven Vermittlungsinstanz wird. 31 Damit ist genau genommen schon eine Verschmelzung von historischem und poetisch-fiktionalem Diskurs vollzogen: Die Präsentation und kritische Diskus29 MANZONI 2002, Bd. 2, S. 5f., 1–5 (im Folgenden abgekürzt PS). Die Ziffern nach den Seitenzahlen beziehen sich – wie auch bei allen folgenden Zitaten aus dem Text – auf die fortlaufende Zählung der Paragraphen. 30 PS, S. 6, 8. 31 Zum fiktionsironischen Charakter der Manuskriptpräsentation s. a. KÜPPER 1994, S. 133f.

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sion einer Quelle entspricht an sich dem historischen Diskurs, die Art, wie diese eingeführt wird, ordnet den Text in den fiktional-poetischen Diskurs ein. Mit anderen Worten: Die Aktualisierung des historischen Diskurses wird im selben Akt dekonstruiert. 32 Warum aber zitiert der fiktive Bearbeiter des Manuskripts dieses überhaupt, und noch dazu in dieser Ausführlichkeit? Die Antwort ergibt sich zum Teil aus der Art, wie die ‚Quelle‘ im Folgenden behandelt ist. Es geht dabei nämlich weniger um die Frage nach der Zuverlässigkeit der ‚Quelle‘; diese Frage wird zwar aufgeworfen, führt aber gerade zu den realen historischen Quellen, die der Text verwendet. 33 Die Kritik der zitierten ‚Quelle‘ richtet sich vielmehr auf zwei Kritikpunkte, deren einer extensiv expliziert wird, während der andere implizit bleibt und erst im Vergleich zwischen dem Umgang mit Geschichte in Manzonis Roman und im zitierten Manuskript deutlich wird. Die explizite Kritik betrifft die literarischen Mängel des Seicento-Manuskripts, die implizite Kritik hingegen die Geschichtskonzeption des Seicentista. Das Manuskript fungiert also nicht als Mittel der Authentisierung, sondern als ein Gegenmodell, vor dessen Folie sich die neue Gattung des historischen Romans – so wie Manzoni ihn konzipiert – konstituiert, ein Gegenmodell zum einen also im Hinblick auf den Stil, zum anderen im Hinblick auf die vorausgesetzte Geschichtskonzeption. 34 Die literarischen Mängel betreffen die für das Seicento charakteristische Hypertrophie der elocutio (in Relation zum Gegenstand der Narration), d.h. den massiven Einsatz von Tropen (Metapher, allegoria, Personifikation etc.); diese Art der Rede ist im Roman durch eine „rettorica discreta, fine, di buon gusto“ zu ersetzen. 35 Und in der Tat orientiert sich Manzonis Text nicht an der Sprache des poetischen Diskurses des 18. Jahrhunderts, sondern eher – wie noch zu zeigen ist – am sprachlich-stilistischen Modell faktualer Diskurse. Die Kombination der Diskurse wäre also in stilistischer Hinsicht als historiographisches Erzählen eines teils poetisch-fiktiven, teils historischen Geschehens zu beschreiben. Manzonis Roman versteht sich jedoch auch als Abkehr von einer längst überholten Konzeption von Geschichtsschreibung, für welche die zitierte Quelle paradigmatisch einsteht. Dies ist zum einen deren explizit oder implizit enkomiastische Intention, die in der gleich zu Beginn formulierten Rolle der Historie thema32 Auf die fiktionsironische Funktion des Vorworts, die sich in ähnlicher Form schon in W. Scotts Romanen findet, möchte ich in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen. Diese wird schon durch die Struktur des Titels evident, der aller historiographischen Titelgebung widerspricht und an die Konvention von Komödientiteln (z.B. Goldonis Gl’innamorati) erinnert. 33 „Taluni [...] di que’ fatti, certi costumi descritti dal nostro autore, c’eran sembrati così nuovi, così strani, per non dir peggio, che, prima di prestargli fede, abbiam voluto interrogare altri testimoni e ci siam messi a frugar nelle memorie di quel tempo [...]. E all’occorrenza, citeremo alcuna di quelle testimonianze, per procacciar fede alle cose, alle quali, per la loro stranezza, il lettore sarebbe più tentato di negarla“ (PS, S. 7, 12). 34 Zu den implizit poetologischen Funktionen der zitierten ‚Quelle‘ s.a. DOMBROSKI 1984 und LAMPART 2002, S. 320–330. Dombroski schreibt allerdings der Manuskriptfiktion auch eine Authentifizierungsfunktion zu. 35 PS, S. 6, 9.

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tisch wird und deren unreflektierte Tendenz selbst da noch aufscheint, wo sie sich „gente meccaniche, e di piccol affare“ zuwendet, insofern sich deren Geschichte „sotto l’amparo del Re Cattolico nostro Signore“ zugetragen hat. Der historische Roman interessiert sich demgegenüber nicht mehr für die res gestae der Herrschenden und seine Einstellung zur dargestellten Epoche ist im Wesentlichen eine rational-kritische. 36 Der historische Roman, dessen Poetik sich vor der Gegenfolie des SeicentoHistoriographen abzeichnet, versteht sich des Weiteren als Gegenentwurf zu dessen Geschichtsdeutung, deren Erklärung historischer Ereignisse und Zusammenhänge nicht auf einer kritisch-rationalen Analyse der Fakten beruht, sondern mittels bloßer Metaphorik, also allein mittels Imagination und lediglich sprachlicher Verfahren, metaphysische Begründungen konstruiert und Geschichte durch ingeniöse Sinnzuschreibungen zu interpretieren und zu erklären vorgibt. 37 2.3 Die Beschreibung des Lago di Como in diskursgeschichtlicher Sicht Das nachfolgende erste Kapitel der Promessi Sposi beginnt – wie ihr unmittelbares Modell, nämlich Walter Scotts Ivanhoe (1819) – mit einer Landschaftsdeskription, die keinerlei unmittelbare oder unmittelbar ersichtliche Relevanz für das erzählte Geschehen hat. Dies erscheint aus heutiger Sicht als eine lange bestehende literarische Konvention. Allerdings verdankt sich dieser Eindruck eben der bis heute lebendigen Tradition des realistischen Romans, so wie er im 19. Jahrhundert in der Nachfolge des historischen Romans entstanden ist. Anfang des 19. Jahrhunderts indes hat eine solche syntagmatische Anordnung – Beginn mit einer geographischen Deskription, auf die dann erst die Narration der Geschichte folgt – durchaus noch innovativen Charakter. Der Roman des 18. Jahrhunderts beginnt in aller Regel mit der Präsentation der Protagonisten (Lebensumstände, psychische 36 Darin trifft sich der historische Roman – wie noch genauer zu zeigen sein wird – mit Thierrys Programm einer neuen Historiographie, die in der Introduction seiner Histoire de la conquête de l’Angleterre par les Normands u.a. folgendermaßen skizziert ist: „Sans donner aux grands faits de l’histoire moins d’importance qu’ils n’en méritent, je me suis intéressé, je l’avoue, d’une affection toute particulière aux événements locaux relatifs à ces populations [der Besiegten] négligées. Quoique forcé de raconter sommairement les révolutions qui leur sont propres, je l’ai fait avec une sorte de sympathie, avec ce sentiment de plaisir qu’on éprouve en réparant une injustice“ (THIERRY o.J., Bd. 1, S. 7). Und an späterer Stelle formuliert Thierry nochmals, die eigentlichen „personnages“ seiner Geschichte seien nicht die Herrschenden, sondern „les grandes masses d’hommes et les populations diverses qui ont [...] figuré dans les pages précédentes. Car l’objet essentiel de cette histoire est d’envisager la destinée des peuples, et non celle de certains hommes célèbres, de raconter les aventures de la vie sociale, et non celles de la vie individuelle“ (ebd. Bd. 2, S. 303). 37 Denn die Antithese von Himmel und Inferno basiert einzig und allein auf metaphorischen Analogien: zwischen Sonne und spanischem König, Mond und Statthalter, Planeten und Beamten; zwischen Schandtaten und Dunkelheit („atti tenebrosi“); zwischen Helden und Argusaugen bzw. Briareusarmen. — Die ironisch-kritische Distanzierung des ‚Bearbeiters‘ von seiner ‚Quelle‘ in dieser Hinsicht scheint mir bei Lampart nicht hinreichend beachtet.

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Situation etc.). 38 Nur zwei Diskurse kennen einen Textbeginn, wie er sich in Manzonis Roman findet: die pastorale Narrativik, die mit einer poetischen Beschreibung eines locus amoenus einsetzt, und die Historiographie, die v.a. seit dem 18. Jahrhundert die systematische Präsentation der räumlich-zeitlichen Umstände im Hinblick auf eine rational-erklärende Geschichtsschreibung für unabdinglich erachtet. 39 Wenn der historische Roman also mit der Beschreibung einer realen Landschaft einsetzt und so das historische Geschehen auch geographisch situiert, ist dies in Anbetracht der konventionellen Trennung von historiographischem und poetischem Diskurs nicht einfach ein oberflächliches Moment rhetorischer dispositio, sondern signalisiert eine tiefer gehende Verknüpfung der Diskurse: Der Schauplatz erscheint nicht nur als logische Voraussetzung jeglichen Geschehens, sondern erhält Erklärungsfunktion, 40 insofern nun der Handlungsraum die Figuren und das historische Geschehen prägt und umgekehrt historische Zeitlichkeit den geographischen Raum bestimmt, der als temporal partikulärer und geschichtlich gewordener Raum erscheint. Manzonis Untertitel Storia milanese del secolo XVII und nachfolgende Deskription verweisen also aufeinander. Aber nicht nur die geographische Eingangsbeschreibung als solche ist in Manzonis Roman bemerkenswert, sondern auch die Art, wie die Landschaft beschrieben wird. Manzoni wählt für seine Beschreibung nicht einen fiktiv-utopischen und ästhetischen Ort wie die Pastoraldichtung und er bedient sich nicht deren poetischer Mittel, 41 sondern er wählt einen realen und historisch partikulären Raum, der mit einer Genauigkeit beschrieben ist, wie sonst nur in historiographischen oder geographischen Texten üblich:

38 Vgl. z.B. A. Verri, Le avventure di Saffo. Explizit thematisiert ist die Konvention z.B. in A. R. Andréa de Nerciats Félicia ou mes fredaines (1775), Kap. 2: „Les romans ont coutume de débuter par les portraits de leurs héros [...]“ (TROUSSON [Hg.] 1993, S. 1069). Das nachfolgende Porträt ironisiert dann allerdings bereits die Gattungskonvention. Die Gattungstradition ist jedoch noch lebendig in Mme de Staëls Corinne (1807). Der Text beginnt mit einem physischen, sozialen und v.a. psychologischen Porträt des männlichen Protagonisten. 39 Im Epos – z.B. in Vergils Aeneis – beginnt die Erzählung gelegentlich mit einer knappen Topographie, allerdings nach dem Proömium, das den Text eröffnet. Ein typisches Beispiel für die historiographische Tradition liefert Voltaires Histoire de Charles XII, die mit einer Beschreibung Schwedens beginnt. Nacheinander sind behandelt: geographische Lage und Ausdehnung, Klima, Fauna und Flora, die Bewohner und deren Sitten, wirtschaftliche Ressourcen, die politische Verfassung (vgl. VOLTAIRE 1996, S. 157–160). Die Tradition des geound ethnographischen Exkurses beginnt mit Herodot und wird u.a. von Caesar, Tacitus (z.B. in den Historien V, 8ff.) fortgeführt. Als Modell für die Faktenselektion und -anordnung fungiert wohl insbesondere auch Tacitus’ Germania. 40 Dies unterscheidet diesen Schauplatz im Allgemeinen von der topographischen Situierung der Handlung im Epos. Voll ausgeschöpft werden die Möglichkeiten dieser Erklärungsfunktion dann bekanntlich in Balzacs Comédie Humaine. 41 In Sannazaros Arcadia (I,1), einem der Modelltexte pastoraler Narrativik, ist ein locus amoenus beschrieben, der sich in einer literarisch-fiktiven Welt situiert und der charakterisiert ist durch außergewöhnliche Schönheit, ewigen Frühling und ästhetisches diletto (vgl. SANNAZARO 1990, S. 49).

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Franz Penzenstadler Quel ramo del lago di Como, che volge a mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi, a seconda dello sporgere e del rientrare di quelli, vien, quasi a un tratto, a ristringersi, e a prender corso e figura di fiume, tra un promontorio a destra, e un’ampia costiera dall’altra parte [...]. La costiera, formata dal deposito di tre grossi torrenti, scende appoggiata a due monti contigui, l’uno detto di san Martino, l’altro, con voce lombarda, il Resegone, dai molti suoi cocuzzoli in fila, che in vero lo fanno somigliare a una sega: talchè non è chi, al primo vederlo, purchè sia di fronte, come per esempio di su le mura di Milano che guardano a settentrione, non lo discerna tosto, a un tal contrassegno, in quella lunga e vasta giogaia, dagli altri monti di nome più oscuro e di forma più comune. Per un buon pezzo, la costa sale con un pendìo lento e continuo; poi si rompe in poggi e in valloncelli, in erte e in ispianate, secondo l’ossatura de’ due monti, e il lavoro dell’acque. Il lembo estremo, tagliato dalle foci de’ torrenti, è quasi tutto ghiaia e ciottoloni; il resto, campi e vigne, sparse di terre, di ville, di casali; in qualche parte boschi, che si prolungano su per la montagna.42

Nach einem kurzen Verweis auf Lecco und die zur Zeit des erzählten Geschehens bestehende spanische Garnison folgt der zweite Teil der Deskription: Dall’una all’altra di quelle terre, dall’alture alla riva, da un poggio all’altro, correvano, e corrono tuttavia, strade e stradette, più o men ripide, o piane; ogni tanto affondate, sepolte tra due muri, donde, alzando lo sguardo, non iscoprite che un pezzo di cielo e qualche vetta di monte; ogni tanto elevate su terrapieni aperti: e da qui la vista spazia per prospetti più o meno estesi, ma ricchi sempre e sempre qualcosa nuovi, secondo che i diversi punti piglian più o meno della vasta scena circostante, e secondo che questa o quella parte campeggia o si scorcia, spunta o sparisce a vicenda. Dove un pezzo, dove un altro, dove una lunga distesa di quel vasto e variato specchio dell’acqua; di qua lago, chiuso all’estremità o piuttosto smarrito in un gruppo, in un andirivieni di montagne, e di mano in mano più allargato tra altri monti che si spiegano, a uno a uno, allo sguardo, e che l’acqua riflette capovolti, co’ paesetti posti sulle rive; di là braccio di fiume, poi lago, poi fiume ancora, che va a perdersi in lucido serpeggiamento pur tra’ monti che l’accompagnano, degradando via via, e perdendosi quasi anch’essi nell’orizzonte. Il luogo stesso da dove contemplate que’ vari spettacoli, vi fa spettacolo da ogni parte: il monte di cui passeggiate le falde, vi svolge, al di sopra, d’intorno, le sue cime e le balze, distinte, rilevate, mutabili quasi a ogni passo, aprendosi e contornandosi in gioghi ciò che v’era sembrato prima un sol giogo, e comparendo in vetta ciò che poco innanzi vi si rappresentava sulla costa: e l’ameno, il domestico di quelle falde tempera gradevolmente il selvaggio, e orna vie più il magnifico dell’altre vedute. 43

Der erste Teil der Beschreibung ist ganz systematisch aufgebaut, jeweils vom Größeren zum Kleineren gehend, dann werden die einzelnen Elemente jeweils detaillierend entfaltet. Diese logisch-systematische Präsentation gibt sich betont objektiv und dies impliziert außerdem, dass die Beschreibung nicht perspektivisch-perzeptiv strukturiert ist, ein Wahrnehmungsstandpunkt also fehlt. 44 Die zur 42 PS, S. 9–10, 1–4. 43 PS, S. 10–11, 5–7. — Zum Vergleich bietet sich an L. F. Marsili, Osservazioni fisiche intorno al lago di Garda detto anticamente Benaco (1725), in Auszügen abgedruckt in ALTIERI BIGI/ BASILE (Hgg.) 1983, S. 349–361. 44 „[...] chi, al primo vederlo, [...] come per esempio di su le mura di Milano che guardano a settentrione“ verweist gerade nicht auf einen Wahrnehmungsstandpunkt des Beschreibenden, sondern bemüht sich um objektivierende Beschreibung eines Standpunkts, von dem aus bestimmte Eigenschaften des Objekts in besonders markanter Weise in Erscheinung treten. — Bei einer perspektivisch-perzeptiven Deskription ist im Unterschied zur paradigmatischthematischen Beschreibung die Selektion und Anordnung des Beschriebenen durch einen

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Deskription der einzelnen Elemente verwendeten Prädikate zielen ausschließlich auf möglichst hohe Exaktheit – v.a. geologische Formationen, geometrische Formen von Landschafts-Elementen spielen dabei eine wichtige Rolle. Auf typisch poetische Prädikate – Umschreibungen, wertende oder schmückende Adjektive – wird hingegen verzichtet; und wo Metaphorik verwendet ist, dient diese wiederum möglichst exakter Veranschaulichung und scheint betont unpoetisch gewählt (z.B. „sega“). Im zweiten Teil geht das objektiv systematische Beschreiben über in perspektivisch-perzeptive Subjektivierung, indem zunächst variierend alternative Standpunkte eingenommen werden („ogni tanto [...] ogni tanto“), die dann von einem fixen, aber im Raum beweglichen Standpunkt abgelöst werden („di qua [...] di là“). Die Beschreibung endet mit einer Art zusammenfassender Charakterisierung der ästhetischen Eindrücke, genauer mit einem Topos der pittoresken Deskription, der das Schöne einer Landschaft als Harmonie von Gegensätzen begreift. 45 Der genauere Sinn der Eigenschaften dieser Beschreibung erschließt sich jedoch erst durch eine Verortung der Deskriptionsverfahren im Kontext zeitgenössisch verfügbarer Diskurse bzw. Diskurstypen. Exkurs: Typen der Natur-Deskription im 18. Jahrhundert In den Diskursen des 18. Jahrhunderts lassen sich grob drei Typen von Naturbeschreibungen unterscheiden: 1) die wissenschaftliche Deskription Diese ist charakteristisch für geographische, aber auch historiographische Texte. 46 Typische Beispiele finden sich in der wissenschaftlich interessierten Reiseliteratur, wie z.B. Lazzaro Spallanzanis Viaggi alle Due Sicilie e in alcune parti dell’Appennino (1792), aus denen die folgenden Passagen entnommen sind: A tre miglia circa sopra S. Niccolò dell’Arena, finita l’inferiore regione dell’Etna, comincia la mezzana, che a linea retta all’insù si estende per dieci miglia, o in quel torno. A giusta ragione è chiamata selvosa, per essere una verdeggiante fascia di annosi roveri di abeti, di faggi, di pini. Il fondo di questa regione è una terra vegetabile generata dallo scomponimento delle lave, non altrimenti che quello dell’inferiore regione; le quali lave oltre allo scoprirle,

Wahrnehmungsstandpunkt bzw. Wahrnehmungsprozess determiniert; s. dazu PENZENSTADLER 2002, S. 188. 45 Zu den Strukturen dieser Beschreibung s.a. GRIMM 1985, S. 38f., CASETTI 1989, S. 315f. und GÜNTERT 1992, S. 332–340. Die Strukturen werden jedoch nicht auf den diskursgeschichtlichen Kontext verfügbarer Deskriptionskonventionen bezogen, Grimm versucht vielmehr, sie unmittelbar auf die Geschichtsdarstellung im Text zu beziehen: „Geschichte als Ganzes verschließt sich der Sinngebung, sie kann immer nur vom Einzelnen erfahren und bewältigt werden. Genauso verfährt die Landschaftsschilderung: Natur als Ganzes ist nur in perspektivierter Brechung zugänglich, sie wird nach denselben Prinzipien dargestellt wie Geschichte“ (GRIMM 1985, S. 39). 46 Die Geographie ist im 18. Jahrhundert neben der Chronologie eine Teildisziplin der Historie. Vgl. dazu ENCYCLOPÉDIE 1777–1779, S. XI.

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Franz Penzenstadler scavando ove che sia a qualche profondità il terreno, si appalesano in più siti da se, siccome abbiam detto delle lave dell’altra regione. [...] Questa corrente novella era malagevolissima, anzi pericolosa da traversare. Qui le scorie in più luoghi si alzano in angoli e in punte sostenentisi sopra appoggi di piccolissime basi; in altri si deprimono in buche, in fosse, o in ripidissimi piani inclinati; certe per la liscezza e fragilità somigliano sottili lastre di ghiaccio; certe altre in sembianza di molteplici creste formano aggregati di lame verticali e taglienti. [...] I vulcanici crateri che più o meno bruciano sogliono essere attorniati da’ cocenti fumaiuoli acido-sulfurei, che escono da’ loro fianchi e si sollevano in alto. Il cucuzzolo dell’Etna non ne andava esente: ma il forte di essi era all’ouest, ed io ritrovavami al sud-est. Quivi solamente un gruppo di quattro o cinque fumajuoli spuntava da un sito alcun poco depresso, e per dove necessariamente doveva passare. [...] Gli orli superiori del cratere, fattone giudizio con l’occhio, girano attorno un miglio e mezzo, e formano un ovale che ha il maggior diametro dall’est all’ouest; e per essere là e qua sdruciti e mezzo diroccati, appaiono come dentati, e sono que’ denti altrettanti enormi scaglioni di risaltanti lave e di scorie. 47

Dominantes Selektionsprinzip der Beschreibung ist die jeweilige Erklärungsrelevanz des Beschriebenen. Die Deskription ist dabei im Wesentlichen logisch-systematisch angeordnet. 48 Ein zeitlich oder räumlich näher bestimmter Betrachterstandpunkt ist normalerweise nicht gegeben, variable Standpunkte sind jedoch möglich. Des Weiteren sind folgende Stilmerkmale charakteristisch: exakte Maßangaben in Zahlen, die Verwendung von Fachtermini (z.B. „scorie“, „fumaiuoli acido-sulfurei“), die Verwendung der mots propres (also Verzicht auf Periphrasen und andere Tropen), die Nennung konkreter lokaler Bezeichnungen und Eigennamen, die Verwendung von Prädikaten, die möglichst exakt geometrische Formen, geologische Formationen und geographische Gegebenheiten bezeichnen („generata dallo scomponimento delle lave“, „in angoli e in punte sostenentisi sopra appoggi di piccolissime basi“, „in buche, in fosse, o in ripidissimi piani inclinati“, „formano un ovale“), die Verwendung von Metaphern und Vergleichen, die veranschaulichende oder spezifizierende Funktion – also gerade nicht rhetorische ornatus-Funktion – haben („somigliano sottili lastre di ghiaccio“, „appaiono come dentati“, „enormi scaglioni di risaltanti lave e di scorie“), exakte Angaben zur geographischen Lage, zur exakten Position der Landschaftselemente bzw. ihrer Relation zueinander. 2) die poetische Deskription Diese ist dem Typ (1) sozusagen diametral entgegengesetzt. Da sich dieser Typ in der italienischen Literatur des 18. Jahrhunderts vorwiegend in der Versdichtung findet, 49 wähle ich einen kurzen Ausschnitt aus Fénelons Les aventures de Télémaque (1699): On arriva à la porte de la grotte de Calypso, où Télémaque fut surpris de voir, avec une apparence de simplicité rustique, tout ce qui peut charmer les yeux. On n’y voyait ni or, ni argent, 47 Zit. n. VINCENTI (Hg.) 1950, S. 430–436. 48 Hier ist zu präzisieren, dass das Selektions- und Anordnungs-Paradigma naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten folgt, im Gegensatz zu poetischen Beschreibungen, die auch logischsystematischen Paradigmen folgen können, aber Modellen literarischer Topik folgen. 49 Ein anschauliches Beispiel des italienischen Klassizismus liefert T. Gargallos Novella pastorale mit dem Titel Engimo e Lucilla (1792), insbesondere in den eingelegten Verstexten. Der Text ist abgedruckt in CONRIERI (Hg.) 1982, S. 530–567.

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ni marbre, ni colonnes, ni tableaux, ni statues: cette grotte était taillée dans le roc, en voûte pleine de rocailles et de coquilles; elle était tapissée d’une jeune vigne qui étendait ses branches souples également de tous côtés. Les doux zéphyrs conservaient en ce lieu, malgré les ardeurs du soleil, une délicieuse fraîcheur. Des fontaines, coulant avec un doux murmure sur des prés semés d’amarantes et de violettes, formaient en divers lieux des bains aussi purs et aussi clairs que le cristal; mille fleurs naissantes émaillaient les tapis verts dont la grotte était environnée. Là on trouvait un bois de ces arbres touffus qui portent des pommes d’or, et dont la fleur, qui se renouvelle dans toutes les saisons, répand le plus doux de tous les parfums; ce bois semblait couronner ces belles prairies et formait une nuit que les rayons du soleil ne pouvaient percer. Là on n’entendait jamais que le chant des oiseaux ou le bruit d’un ruisseau, qui, se précipitant du haut d’un rocher, tombait à gros bouillons pleins d’écume et s’enfuyait au travers de la prairie. 50

Die beschriebene Landschaft ist in diesem Falle ein fiktiver locus amoenus in der Tradition der Pastoraldichtung. Sie ist in der Regel nicht autonom, sondern auf die Figuren, deren Affekte bzw. die jeweilige Situation hin funktionalisiert. Generell unterscheidet sich der poetische Stil vom Stil wissenschaftlicher Prosa durch einen – je nach Stillage – mehr oder weniger hohen Grad an Emotionalität. 51 Selektion und Anordnung der Beschreibung sind meist vom paradigmatischthematischen Typus, d.h. es werden verschiedene ‚Themen‘ nacheinander angesprochen (visuelle Eindrücke, akustische Eindrücke, Vegetation, Gewässer usw.). 52 Als Selektionsprinzip fungieren ausschließlich ästhetische Gesichtspunkte. Die Stilmerkmale entsprechen den ornatus-Normen des langage poétique, wie er in der Poetik und Rhetorik des 18. Jahrhunderts beschrieben ist; dazu gehören: 53 Dominanz von Farb- und Licht-Prädikaten, die Verwendung von ästhetisch wertenden Epitheta und Metaphern, die vielfach konkretisierend dem Bereich preziöser Gegenstände und Materialen entnommen sind (z.B. „aussi purs et aussi clairs que le cristal; mille fleurs naissantes émaillaient les tapis verts“, „pommes d’or“), die Verwendung von wertend hyperbolischen Ausdrücken und Diminutiva, die den Charakter des Anmutigen markieren, Anthropomorphisierung bzw. Belebung des Unbelebten („avec un doux murmure“, „ce bois semblait couronner ces belles prairies“, „un ruisseau, qui, se précipitant du haut d’un rocher [...] s’enfuyait au travers de la prairie“, „la mer [...] quelquefois follement irritée contre les 50 FÉNELON 1968, S. 67f. 51 Zum poetischen Stil im 18. Jahrhundert als rhetorisch kodifizierte Form des Affektausdrucks s. HEMPFER 1972, S. 190ff. 52 Das dominante Thema ist hier am Anfang der Deskription vorgegeben mit dem Begriff „simplicité rustique“. Dass die Deskription nicht auf einer kohärenten perspektivisch-perzeptiven Wahrnehmungssituation beruht, sondern auf ästhetisch-rhetorischen Prinzipien, zeigt etwa folgende Stelle: „De là on découvrait la mer, quelquefois claire et unie comme une glace, quelquefois follement irritée contre les rochers, où elle se brisait en gémissant, et élevant ses vagues comme des montagnes“ (FENELON 1968, S. 68). Diese Eigenschaften des Meeres sind nicht gleichzeitig beobachtbar, sondern als Antithese von Anmutigem und Erhabenem konstruiert. 53 Nicht alle genannten Merkmale sind im Beispieltext realisiert. Generell zur poetischen Sprache im Klassizismus s. z.B. BATTEUX 1775, S. 193–195 und S. 252–254 oder Muratoris Della perfetta poesia italiana (s. MURATORI 1964, Bd. 1, S. 140–143). Eine sehr ausführliche Behandlung findet sich in MARMONTEL 1763, Bd. 1, Kap. 4 und 5.

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rochers, où elle se brisait en gémissant“, „de hauts peupliers qui portaient leurs têtes superbes jusque dans les nues“), a priori vorgegebene semantische oder ästhetische Struktur-Schemata wie Antithese, Kontrast, Klimax etc.; dabei werden immer wieder auch Betrachterempfindungen thematisch („Télémaque fut surpris de voir“, „tout ce qui peut charmer les yeux“), zur Emotionalisierung sind typische Pathos-Figuren wie Apostrophe, exclamatio etc. eingesetzt. 3) die pittoreske Deskription Dieser Typus, der sich v.a. in der nicht-wissenschaftlichen Reiseliteratur findet, nimmt eine Art Zwischenposition zwischen den faktualen Diskursen und dem poetisch-fiktionalen Diskurs ein. Als Beispiel habe ich einen Ausschnitt aus Aurelio de’ Giorgi Bertola, Viaggio sul Reno e ne’ suoi contorni fatto nell’autunno del 1787 (1795) gewählt: Noi [...] tenendoci in mezzo, scoprivamo dietro ai salici e gli oggetti stessi che avevamo osservati presso la città, e talmenvolta più spiccati e più varj, e scoprivamo e da lungi e da presso altri oggettì ancor nuovi. Sopra tutto venivano aprendoci un ricco teatro le catene de’ monti al settentrione, distanti da Magonza una quindicina di miglia: fanno in parte schermo per essa all’atrocità de’ freddi, e proteggono similmente le vigne de’ suoi giulivi contorni. Ora dietro un piano foltissimo di piante di diversa verdura il grigio o l’azzurro di monti meno e più lontani, ora begli aggruppamenti di alberi in varie isolette soprattutto verso il vilaggio di Monbac che siede a sinistra, e presso cui un fiumicello si mesce col Reno, il quale prende indi a non molto la forma di regolar canale: quivi nuove degradazioni di monti, e in cima all’uno o all’altro di essi antiche rocche risvegliatrici per la loro posizione e struttura di cento fantasmi di romanzesca cavalleria. I villaggi comparivano e scomparivano a’ nostri occhi quasi tante isolette nuotanti. 54

Beschrieben wird in diesem Falle eine reale Landschaft, vermittelt werden aber vorwiegend ästhetische Eindrücke. Diese sind an ein Betrachtersubjekt und dessen perspektivisch-perzeptiven Standpunkt gebunden, der aber meist ein dynamischer ist, so dass sich die ästhetischen Effekte gerade aus dem ständigen Wechsel des Betrachterstandpunkts ergeben. 55 Vergleicht man nun Manzonis Beschreibung mit den konventionellen Merkmalen dieser Deskriptionstypen, so fehlen signifikanterweise gerade die spezifischen Elemente des klassizistischen langage poétique. Dies bedeutet nicht, dass hier keinerlei Poetisierungsverfahren zu finden wären, aber es handelt sich um eine neuartige „rettorica discreta“, wie sie in der Introduzione gefordert wurde. 56 Noch 54 Zit.n. VINCENTI (Hg.) 1950, S. 565. 55 Bertola thematisiert den Unterschied zwischen geographischer bzw. naturwissenschaftlicher Reiseliteratur und pittoresker Beschreibung in der Lettera I, abgedruckt in MAIER (Hg.) 1959, S. 781–783. 56 Dies impliziert keinen völligen Verzicht auf Poetisierung, sondern nur einen Verzicht auf die konventionellen Verfahren des poetischen Stils des 18. Jahrhunderts, die im Übrigen in der ursprünglichen Version dieser Beschreibung in Fermo e Lucia noch in hohem Maße präsent sind. Die geradezu exemplarische Umsetzung dieser Rhetorik besteht in erster Linie in rhythmisch-phonologischen Strukturen (etwa dem poetischen Prinzip der wachsenden Glieder), in syntaktisch-semantischen Parallelismen der Kola (auch Chiasmus und Antithesen) und in einer Metaphorik der Bewegung, die aber nicht Belebtheit impliziert.

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auffälliger als das Fehlen traditionell poetischen Vokabulars ist jedoch die Dominanz der Merkmale der wissenschaftlich-geographischen Deskription im ersten Teil. 57 Im zweiten Teil und v.a. gegen Ende geht die wissenschaftliche Beschreibung zunehmend in den Typus der pittoresken Beschreibung über und mündet mit der Situierung der Figur don Abbondios in die Fiktion des Romans ein. 58 Auch hier modelliert die Beschreibung also nochmals die Kombination traditioneller Diskurse: den historiographischen bzw. geographischen Diskurs und den pittoresken Diskurs der Reisebeschreibung. Manzoni kombiniert also zwei faktuale Diskurse, die gleichermaßen seinen Anspruch unterstreichen: den Anspruch auf Erkenntnis und exakte Darstellung des historisch Besonderen, zugleich jedoch auch auf eine Vermittlung ästhetischer und emotionaler Wahrnehmung der Wirklichkeit. Damit ist gesagt, dass Manzoni beides intendiert, aber nicht, dass er die beiden Intentionen vermischt. Denn im Unterschied zu seinen Vorgängern Scott oder Vigny setzt Manzoni – wie schon gesagt – im Allgemeinen genuin historiographische Abschnitte und poetisch-fiktionale Narration voneinander ab. 59 Manzonis Version des historischen Romans besteht also nicht nur in einer Verarbeitung historischer Fakten in einem seiner pragmatischen Dimension nach einheitlich fiktionalen Text, sondern kombiniert tatsächlich Fiktionalität und Faktualität, d.h. die pragmatischen Dimensionen zweier Diskurse. 2.4 Das Verhältnis von poetischem und historiographischem Diskurs 2.4.1 Die Vorzüge poetischer Fiktionalität Die Entstehung des historischen Romans resultiert zum einen aus der Tatsache, dass sich das Interesse des poetischen Diskurses generell dem Individuellen und Partikulären zuwendet. Aber dies erklärt noch nicht die Hinwendung zum historisch Partikulären. Hier kommt ein zweites Erklärungsmoment hinzu: Der historische Roman versteht sich auch als Alternative zur philosophischen Geschichtsschreibung der Aufklärung, und zwar als die bessere Alternative. Im historischen Diskurs selbst vollzieht sich zur gleichen Zeit, in der der historische Roman entsteht, ein Bruch, insofern die romantische Geschichtsschreibung in kritischer Auseinandersetzung mit den Diskurskonventionen der traditio57 Dazu hat schon De Sanctis angemerkt: „[...] spesso pare scritto da un geografo o da un naturalista, anzi che da un poeta: così preciso è il colore locale fin ne’ minimi particolari“ (DE SANCTIS 1983, S. 57f.). — In dieser Hinsicht unterscheidet sich Manzonis Eingangsdeskription im Übrigen von denjenigen seiner Vorgänger. Die Eingangsbeschreibungen in Scotts Ivanhoe und Vignys Cinq-Mars sind eindeutig der pittoresken Deskription zuzuordnen. 58 Casetti verweist durchaus auf die pittoresken Momente in Manzonis Beschreibung und spricht von einer „serie di vedute“ (CASETTI 1989, S. 315), allerdings ohne diskursgeschichtliche Einordnung des Textes. 59 Zum historischen Diskurs gehören u.a. der Anfang von Kap. XII, Kap. XXVIII, Kap. XXXIf. Die historiographischen Abschnitte machen ca. ein Drittel des Romans aus. In der definitiven Version von 1840 verstärkt sich diese Tendenz noch gegenüber der Fassung von 1827, insofern im Anhang die Storia della colonna infame abgedruckt ist.

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nellen Praxis nach neuen Wegen der Geschichtsdarstellung sucht. 60 Die Defizienz der traditionellen Geschichtsschreibung – der literarischen wie der philosophischen – liegt nämlich tendenziell darin, dass sie die historischen Umstände menschlichen Handelns nicht so erzählen kann, dass diese durch Identifikation mit den Handelnden hinreichend nachvollziehbar würden. Ohne dieses Identifikationspotential kann die Geschichtsschreibung jedoch ihr erklärtes Ziel didaktischer Exemplarität nicht erreichen. Dass der poetisch-fiktionale Diskurs hingegen, gerade wenn er sich der Darstellung historischer Ereignisse zuwendet, die Defizienz der Geschichtsschreibung zu beheben vermag, hatte Manzoni schon 1820 in seiner Lettre à M. Chauvet sur l’unité de temps et de lieu dans la tragédie als die besondere Leistung der Dichtung herausgestellt: Mais [...] si l’on enlève au poëte ce qui le dinstingue de l’historien, le droit d’inventer les faits, que lui reste-t-il? Ce qui lui reste? la poésie; oui, la poésie. Car enfin que nous donne l’histoire? des événemens qui ne sont, pour ainsi dire, connus que par leurs dehors; ce que les hommes ont exécuté: mais ce qu’ils ont pensé, les sentimens qui ont accompagné leurs délibérations et leurs projets, leurs succès et leurs infortunes; les discours par lesquels ils ont fait ou essayé de faire prévaloir leurs passions et leurs volontés sur d’autres passions et sur d’autres volontés, par lesquels ils ont exprimé leur colère, épanché leur tristesse, par lesquels, en un mot, ils ont révélé leur individualité: tout cela, à peu de chose près, est passé sous silence par l’histoire; et tout cela est le domaine de la poésie. [...] Tout secret de l’âme humaine se dévoile, tout ce qui fait les grands événemens, tout ce qui caractérise les grandes destinées, se découvre aux imaginations douées d’une force de sympathie suffisante. Tout ce que la volonté humaine a de fort ou de mystérieux, le malheur de religieux et de profond, le poëte peut le deviner; ou, pour mieux dire, l’apercevoir, le saisir et le rendre. 61

Voraussetzung solcher Nachvollziehbarkeit ist v.a. die Erlebbarkeit von Geschichte nicht in ihrer Kausalität, sondern in ihrer zeitlichen Dynamik. Nachvollziehbarkeit besteht aber auch in einem sinnhaften Verstehen von Wirklichkeit, das auf einer konzeptuellen Semantisierung des Geschehens, nicht nur auf kausaler Erklärung beruht. Gerade im historiographischen Text, der mehr als die bloße Narration von Fakten im Sinne hat, erfordert die analysierende und erklärende Darlegung historischer Umstände eine logisch-systematische Anordnung, die die komplexen chronologischen Relationen bewusst aufhebt. 62 Aber selbst die Narration der chronologischen Abfolge von Ereignissen erzeugt in der philosophischen Geschichtsschreibung der Aufklärung nicht einen eigentlichen Eindruck von Zeitlichkeit, sondern tendiert zu prinzipieller Statik, weil sie primär Ursache und Folge korre-

60 S. dazu im Folgenden den Abschnitt zu A. Thierry. 61 MANZONI 1991, S. 122. 62 Das gilt auch für die historiographischen Kapitel in Manzonis Text. In den Kapiteln XXXIf. sind die einzelnen Aspekte der Pestepidemie, der hartnäckigen Widerstände gegen das Offensichtliche und schließlich der Massenhysterie irrationaler Erklärungen tableauartig ausgebreitet.

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liert, also Geschehen mehr erklärt als erzählt – und daher auch nur selten einem mimetischen Erzählen Raum geben kann. 63 Der poetische Diskurs hingegen kann aufgrund seiner ‚Nicht-Rationalität‘ und insbesondere seiner genuinen Möglichkeit der mimetischen Narration die Zeit in ihrer Dynamik erlebbar und verstehbar machen. Denn Narration ist primär temporal geordnet und kann daher den Zeitverlauf unmittelbar abbilden bzw. die mehr oder weniger spektakulären Veränderungen der Wirklichkeit, die den Geschichtsprozess ausmachen, unmittelbar erfahrbar werden lassen, ohne sie zu erklären. Sie kann aber andererseits Kausalität auch durch semantische Konzepte ersetzen oder ergänzen, ohne den Anschein bewusster Sinnkonstitution zu erwecken. Einen paradigmatischen Fall solch poetischer Geschehensmodellierung bieten zwei Episoden in Manzonis Roman, die zentrale Momente der Historie – die Revolte am Martinstag und die Pest in Mailand – in fiktionaler Perspektive präsentieren und in ihrem Ablauf so konstruiert sind, dass sie markante Parallelen aufweisen: Renzos erste Ankunft in Mailand und seine spätere Rückkehr in die von der Pest heimgesuchte Stadt sind eng aufeinander bezogen, wie die nachfolgende schematische Darstellung zu zeigen sucht: 64 Kap. XI–XV

Kap. XXXIV–XXXV

Begegnung mit einem Einheimischen, den Renzo nach dem Weg fragt (PS, S. 230, 55– 57).

(2) Begegnung mit einem Einheimischen, den Renzo nach dem Weg fragt (PS, S. 651–653, 11–15). 65

Renzo findet zwei Brote auf der Straße und nimmt sie an sich, obwohl er sich der moralischen Problematik bewusst ist [Verlust von Unrechtsbewusstsein] (PS, S. 232f., 63).

(3) Renzo gibt zwei Brote einer armen Frau (PS, S. 653–655, 17–22).

Beobachtung einer Familie, die in ihrer Habgier in Streit gerät (PS, S. 233f., 64–68) [Konfrontation mit dem moralischen Zerfall der Gesellschaft].

(1) Renzo wird von der Wache eingelassen, nachdem er den Soldaten mit einem Dukaten bestochen hat [Konfrontation mit Habgier und dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung] (PS, S. 650f., 7f.). (4) Renzo beobachtet eine todkranke Mutter mit ihrem toten Kind und den Abtransport

63 Am markantesten tritt diese Tendenz in Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) zutage. Montesquieus Abhandlung ist für d’Alembert Modell eines idealen Typus philosophischer Geschichtsschreibung, nämlich einer „histoire approfondie et raisonnée, qui a pour but de développer dans leur principe les causes de l’accroissement et de la décadence des Empires“ (D’ALEMBERT 1821, S. 7). — Der Begriff ‚mimetisch‘ ebenso wie ‚Fokalisation‘ sind im Folgenden ausschließlich im Sinne von Genette gebraucht; s. dazu GENETTE 1972, S. 183–224. 64 Zur ersten dieser beiden Textsequenzen vgl. auch RAIMONDI 1974, S. 175, der von einer Art Bildungsroman spricht, sowie LAMPART 2002, S. 349–356, nach dessen Interpretation dieser Kapitel primär Renzos Geschichtserfahrung als vergebliche Suche nach Gerechtigkeit im Zentrum steht. 65 Die Reihenfolge der histoire-Elemente der zweiten Episode ist am Anfang umgestellt, die Nummerierung in runden Klammern verweist auf die Anordnung im discours. Hinweise zum konnotativen Sinn einzelner Episoden stehen in eckigen Klammern.

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Franz Penzenstadler erkrankter Familienangehöriger [Konfrontation mit intakter moralischer Ordnung 66 ] (PS, S. 661–664, 47–56).

Renzo missachtet die Aufforderung des Klosterpförtners, in der Kirche zu warten, und lässt sich vom „vortice“ des Tumults anziehen (PS, S. 236, 73).

Renzo kommt wieder am Kapuzinerkloster vorbei und begibt sich sogleich zum Lazarett (PS, S. 671, 80).

Die aufgebrachte Menge entreißt einem Bäckerjungen seine Ware (PS, S. 241f., 18–20). [In der Szene ist auf die Eucharistiefeier der Messe angespielt: die in der Eucharistie gegebene Symbolik der caritas erscheint damit als blasphemisch verkehrt in ein Zeichen der Verführung zum Bösen 67 ] [Konfrontation mit dem zunehmenden Zerfall staatlicher Ordnung].

Renzos erste Eindrücke beim Eintritt in das Lazarett [Konfrontation mit physischem Leid und intakter moralischer bzw. gesellschaftlicher Ordnung in Gestalt der im Lazarett tätigen Kapuzinermönche] (PS, S. 671ff.).

Obwohl Renzo noch genug Vernunft besitzt, die Irrationalität der anderen zu begreifen, lässt er sich von der „curiosità“ weitertreiben (PS, S. 250f., 46–48). Sturm auf das Haus des vicario (PS, S. 252– 257); erst mitten im Aufruhr, konfrontiert mit dem Bösen [vom Erzähler deutlich in seinem diabolischen Charakter markiert 68 ] (PS, S. 255f., 13), erfolgt Renzos moralische Umkehr (PS, S. 254–256, 6–13). Renzo wird als Spitzel verdächtigt (PS, S. 256f., 15f.).

Renzo wird für einen untore gehalten (PS, S. 666, 63f.).

Renzo wird durch die Vorbereitungen der Menge auf die Erstürmung des Hauses und schließlich die Ankunft der Kutsche Ferrers gerettet (PS, S. 257f., 17–21).

Renzo wird durch die Ankunft zweier Wagen mit Pesttoten gerettet, indem er auf einen der Wagen aufspringt (PS, S. 667f., 67f.).

Betrunken schwadroniert Renzo in einer Schänke und wird verhaftet (PS, S. 278–287, 30–58 und S. 298–300, 33–41).

Renzo wird von den monatti eine Flasche zum Trinken angeboten; Renzo, nun vernünftig geworden, lehnt jedoch ab (PS, S. 669, 73).

66 Die diese Teilepisode abschließende diegetische Schilderung unterstreicht diesen Sinn: „Pure, in tanta confusione, si vedeva ancora qualche esempio di fermezza e di pietà: padri, madri, fratelli, figli, consorti, che sostenevano i cari loro, e gli accompagnavano con parole di conforto: nè adulti soltanto, ma ragazzetti, ma fanciulline che guidavano i fratellini più teneri, e, con giudizio e con compassione da grandi, raccomandavano loro d’essere ubbidienti, gli assicuravano che s’andava in un luogo dove c’era chi avrebbe cura di loro per farli guarire“ (PS, S. 664, 56). 67 „ ‚Siam cristiani anche noi: dobbiamo mangiar pane anche noi,‘ dice il primo; prende un pan tondo, l’alza, facendolo vedere alla folla, l’addenta“ (PS, S. 242, 19). 68 „Spiccava tra questi, ed era lui stesso spettacolo, un vecchio mal vissuto, che, spalancando due occhi affossati e infocati, contraendo le grinze a un sogghigno di compiacenza diabolica, con le mani alzate sopra una canizie vituperosa, agitava in aria un martello, una corda, quattro gran chiodi, con che diceva di volere attaccare il vicario a un battente della sua porta, ammazzato che fosse“ (PS, S. 255f., 13).

Geschichte und Fiktion Renzo gelingt die Flucht aus Mailand.

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Renzo gelangt zum Lazarett und begegnet Bruder Cristoforo [Konfrontation mit tätiger caritas] (PS, S. 678, 15). Renzo verzeiht seinem ärgsten Feind, don Rodrigo (PS, S. 687f., 50–51).

In beiden Episoden folgt die Narration der Bewegung von Renzos Wahrnehmungsstandpunkt (überwiegend in focalisation interne), ist also an ein erlebendes Subjekt gebunden. In der ersten Sequenz wird Renzo zunächst in die dem Leser vertraute Stadt eingeführt, 69 in der zweiten werden die diversen Erscheinungsformen des von der Pest bestimmten Alltags aus der Perspektive des Ankommenden präsentiert, dem dies alles noch neu erscheint. Allein in dieser zweifachen Erlebnissequenz werden schon die dramatischen Veränderungen im sozialen Kosmos der Stadt vor Augen geführt, die die Epidemie mit sich gebracht hat. Auf semantischer Ebene sind aber zugleich christliche Deutungsschemata unterlegt, welche zum einen die dargestellte Welt, zum anderen die Figur Renzos betreffen. Renzo wird nämlich auf seinem Weg durch Mailand in der ersten Sequenz mit einer Welt konfrontiert, deren moralische Ordnung zunehmend in Auflösung gerät, während er in der zweiten Sequenz einer zwar moralisch wie physisch höchst unvollkommenen Wirklichkeit begegnet, die jedoch durch die Präsenz moralischer und christlicher Werte als nicht völlig unerträglich erscheint. Renzos zweifacher Weg bildet zugleich aber dessen moralische Entwicklung ab. Seine zunehmende Verstrickung in die Ereignisse des Aufstands erscheint nämlich als sündhafte Versuchung durch die curiositas. 70 Die Rückkehr nach Mailand hingegen modelliert die Läuterung des Helden zur caritas. Während sich Renzo in der ersten Sequenz von einer Kuriosität zur nächsten treiben ließ, verliert er nun sein Ziel, Lucia zu finden bzw. Näheres über ihr Schicksal zu erfahren, nicht mehr aus den Augen. Der Sinn, der sich durch die Korrelation der beiden Textsequenzen konstituiert, ist jedoch von ganz anderer Art als der Sinn, der aus der rational erklärenden Interpretation von historischen Ereignissen durch den Historiker resultiert. Denn im Hinblick auf unmittelbare Kausalität, die den Historiker gewöhnlich interes69 Dies geschieht v.a. durch zahlreiche Referenzen auf noch bestehende oder schon vergangene örtliche Besonderheiten, wie z.B.: „La strada che s’apriva dinanzi a chi entrava per quella porta, non si paragonerebbe male a quella che ora si presenta a chi entri da porta Tosa. [...] Al punto dov’era, e dov’è tuttora quella viuzza chiamata di Borghetto, il fossatello si perdeva in una fogna. Lì c’era una colonna, con sopra una croce, detta di san Dionigi“ (PS, S. 231, 58f.) oder „Dove ora sorge quel bel palazzo, con quell’alto loggiato, c’era allora, e c’era ancora non son molt’anni, una piazzetta, e in fondo a quella la chiesa e il convento de’ cappuccini, con quattro grand’olmi davanti“ (PS, S. 235, 71). 70 Nachdem der Klosterpförtner ihn zum geduldigen Warten aufgefordert hatte, „[f]ece [Renzo] dieci passi verso la porta della chiesa, per seguire il consiglio del portinaio; ma poi pensò di dar prima un’altra occhiata al tumulto. Attraversò la piazzetta, si portò sull’orlo della strada, e si fermò, con le braccia incrociate sul petto, a guardare a sinistra, verso l’interno della città, dove il brulichío era più folto e più rumoroso. Il vortice attrasse lo spettatore. – Andiamo a vedere, – disse tra sè“ (PS, S. 236, 73).

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siert, sind die beiden Episoden überhaupt nicht aufeinander bezogen, stattdessen sind deren einzelne Elemente über semantische Relationen – Äquivalenz oder Opposition – jeweils miteinander verknüpft. Der Sinn, der auf diese Weise vermittelt wird, ist eine metaphysische Deutung der Welt, wie sie – zumindest seit der Historiographie der Aufklärung – nur mehr dem poetischen Diskurs gestattet ist. 71 Dass die Subjektivierung von Geschichte im fiktionalen Text auch die unspektakulären, kaum merklichen Veränderungen der Wirklichkeit in ihrer Dynamik bewusst werden lässt, die den Gegenstand der erst im 18. Jahrhundert begründeten Sittengeschichte ausmachen und deren Kausalität gerade nicht ohne Weiteres zu erfassen ist, soll nur noch knapp an zwei aufeinander bezogenen histoireElementen verdeutlicht werden, nämlich Renzos Begegnung mit einem Passanten, den er nach dem Weg fragt bzw. fragen will. Zunächst der entsprechende Ausschnitt aus Kapitel XI: L’uomo a cui Renzo s’indirizzava, era un agiato abitante del contorno, che, andato quella mattina a Milano, per certi suoi affari, se ne tornava, senza aver fatto nulla, in gran fretta, chè non vedeva l’ora di trovarsi a casa, e avrebbe fatto volentieri di meno di quella fermata. Con tutto ciò, senza dar segno d’impazienza, rispose molto gentilmente: „figliuol caro, de’ conventi ce n’è più d’uno: bisognerebbe che mi sapeste dir più chiaro quale è quello che voi cercate.“ 72

Als Renzo daraufhin Pater Cristoforos Brief zeigt, beschreibt ihm der Einheimische geduldig und freundlich den genauen Weg zum Konvent. Renzo rimase stupefatto e edificato della buona maniera de’ cittadini verso la gente di campagna; e non sapeva ch’era un giorno fuor dell’ordinario, un giorno in cui le cappe s’inchinavano ai farsetti. 73

Dieser Stelle korrespondiert folgende Passage in Kap. XXXIV, die demonstriert, wie sich das Verhalten der Menschen durch die hysterische Angst vor Ansteckung und das Misstrauen, das jeden Unbekannten als untore verdächtigt, völlig verändert hat. Wieder begegnet Renzo einem Passanten, den er nach dem Weg fragt. Doch von panischer Angst erfasst und ohne zu antworten flieht dieser: E arrivato a casa, raccontò che gli s’era accostato un untore, con un’aria umile, mansueta, con un viso d’infame impostore, con lo scatolino dell’unto, o l’involtino della polvere (non era ben certo qual de’ due) in mano, nel cocuzzolo del cappello, per fargli il tiro, se lui non l’avesse saputo tener lontano. „Se mi s’accostava un passo di più,“ soggiunse, „l’infilavo addirittura, prima che avesse tempo d’accomodarmi me, il birbone. La disgrazia fu ch’eravamo in un luogo così solitario, chè se era in mezzo Milano, chiamavo gente, e mi facevo aiutare a acchiapparlo. Sicuro che gli si trovava quella scellerata porcheria nel cappello. Ma lì da solo a solo, mi son dovuto contentare di fargli paura, senza risicare di cercarmi un malanno; perchè un po’ di polvere è subito buttata; e coloro hanno una destrezza particolare; e poi hanno il diavolo dalla loro. Ora sarà in giro per Milano: chi sa che strage fa!“ E fin che visse, che fu per molt’anni, ogni volta che si parlasse d’untori, ripeteva la sua storia, e soggiungeva: „quelli 71 Vgl. auch das schuldhafte Handeln und die Strafe des Griso i.S. poetischer Gerechtigkeit (PS, S. 632). 72 PS, S. 230, 55. 73 PS, S. 231, 57.

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che sostengono ancora che non era vero, non lo vengano a dire a me; perchè le cose bisogna averle viste.“ 74

Geschichte wird so in ihrer Dynamik erlebbar, und zwar – wie häufig in der Alltagserfahrung – ohne einen Einblick in ihre kausale Dimension zu erlauben. Der poetisch-fiktionale Diskurs macht Geschichte also identifikatorisch nachvollziehbar. Die erlebenden Figuren der Fiktion bleiben aber – gerade wenn sie als glaubwürdig erscheinen sollen – mehr oder minder im Denken und Handeln ihrer Zeit befangen – und mit ihnen der nacherlebende Leser, stünde ihm nicht der kritische Historiker zur Seite. Deshalb hält Manzoni trotz der Vorzüge fiktionaler Vermittlung von Geschichte am historiographischen Diskurs fest, der in den eingeschobenen systematisierenden und erklärenden Passagen als Korrektiv fungiert. 2.4.2 Die Problematisierung der Augenzeugenschaft als Quelle historischer Wahrheit Dass die Faktualität des historischen Diskurses aber nicht per se der Wahrheit des fiktionalen Diskurses überlegen sein muss, demonstriert Manzoni dadurch, dass er die oft unhinterfragte Auffassung, die Geschichte liege demjenigen offen zutage, der sie selbst miterlebt habe, kritisch problematisiert. Wenn also zwar – wie Küpper gezeigt hat – in Manzonis Promessi Sposi die Welt- und Geschichtsmodellierung des poetisch-fiktionalen Diskurses aus der Perspektive der historiographischen Exkurse problematisiert wird, 75 so ist nichtsdestoweniger auch der historiographische Diskurs durch den Kontrast mit fiktionalen Textabschnitten kritisch in Frage gestellt – nicht der historische Diskurs insgesamt, aber die testimoniale Geschichtsschreibung und ihr fundierendes Moment, dass das Geschehene durch Augenzeugen gesichert ist. 76 Die historische Situation – der Beginn der Unruhen in Mailand am Martinstag 1628 – wird nämlich in Kap. XI zunächst nicht aus der kritischen Distanz des Historikers dargestellt, sondern in der Fiktion, wobei der Erzähler durchgehend den räumlichen und psychologischen Standpunkt des fiktiven Augenzeugen Renzo einnimmt; erst zu Beginn des XII. Kapitels ist eine historische Analyse der ökonomischen und politischen Situation eingeschoben, die die Sicht des Augenzeugen korrigiert. Renzos Weg in die Stadt und seine erste Konfrontation mit den Begleiterscheinungen der Revolte sind wie folgt geschildert: Renzo entra, passa; nessuno de’ gabellini gli bada: cosa che gli parve strana, giacchè, da que’ pochi del suo paese che potevan vantarsi d’essere stati a Milano, aveva sentito raccontar cose grosse de’ frugamenti e dell’interrogazioni a cui venivan sottoposti quelli che arrivavan dalla campagna. La strada era deserta, dimodochè, se non avesse sentito un ronzío lontano che indicava un gran movimento, gli sarebbe parso d’entrare in una città disabitata. Andando avanti, 74 PS, S. 652f., 13–15. 75 S. KÜPPER 1994. 76 Dies ist ein entscheidendes Kriterium der aufklärerischen Historiographie. Voltaire misstraut aller mündlichen Überlieferung, hält jedoch das Zeugnis von Beteiligten und dessen schriftliche Fixierung für relativ zuverlässig. S. dazu VOLTAIRE 1777–1779, S. 221.

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Franz Penzenstadler senza saper cosa si pensare, vide per terra certe strisce bianche e soffici, come di neve; ma neve non poteva essere; che non viene a strisce, nè, per il solito, in quella stagione. Si chinò sur una di quelle, guardò, toccò, e trovò ch’era farina. – Grand’abbondanza, – disse tra sè, – ci dev’essere in Milano, se straziano in questa maniera la grazia di Dio. Ci davan poi ad intendere che la carestia è per tutto. Ecco come fanno, per tener quieta la povera gente di campagna. – Ma, dopo pochi altri passi, arrivato a fianco della colonna, vide, appiè di quella, qualcosa di più strano; vide sugli scalini del piedestallo certe cose sparse, che certamente non eran ciottoli, e se fossero state sul banco d’un fornaio, non si sarebbe esitato un momento a chiamarli pani. Ma Renzo non ardiva creder così presto a’ suoi occhi; perchè, diamine! non era luogo da pani quello. – Vediamo un po’ che affare è questo, – disse ancora tra sè; andò verso la colonna, si chinò, ne raccolse uno: era veramente un pan tondo, bianchissimo, di quelli che Renzo non era solito mangiarne che nelle solennità. – È pane davvero! – disse ad alta voce; tanta era la sua maraviglia: – così lo seminano in questo paese? in quest’anno? e non si scomodano neppure per raccoglierlo, quando cade? Che sia il paese di cuccagna questo? – [...] Da queste e da altrettali cose che vedeva e sentiva, Renzo cominciò a raccapezzarsi ch’era arrivato in una città sollevata, e che quello era un giorno di conquista, vale a dire che ognuno pigliava, a proporzione della voglia e della forza, dando busse in pagamento. Per quanto noi desideriamo di far fare buona figura al nostro povero montanaro, la sincerità storica ci obbliga a dire che il suo primo sentimento fu di piacere. [...] E del resto, non essendo punto un uomo superiore al suo secolo, viveva anche lui in quell’opinione o in quella passione comune, che la scarsezza del pane fosse cagionata dagl’incettatori e da’ fornai; ed era disposto a trovar giusto ogni modo di strappar loro dalle mani l’alimento che essi, secondo quell’opinione, negavano crudelmente alla fame di tutto un popolo. 77

Der Effekt dieser fokalisierten Wahrnehmung der Ereignisse ist, dass die ungewöhnlichen Vorgänge, statt durch den Historiker erklärt zu werden, durch die Figur interpretiert – oder genauer: fehlgedeutet – werden, sodass das aus der Historie scheinbar objektiv Bekannte verfremdet und wieder auf seine ursprünglich subjektiv erfahrene Erscheinung reduziert wird. 78 Wie aus dem Wahrgenommenen und Fehlgedeuteten mündliche Überlieferung wird, die die Fakten weiter verfälscht, zeigt die oben schon betrachtete Episode der Begegnung Renzos mit dem Mailänder, der ihn für einen untore hält. 79 In dieser durch die Figuren der Fiktion vermittelten Präsentation von historischem Geschehen werden folgende allgemeinere Probleme der Historiographie deutlich: 1) Das Wahrgenommene bzw. von Augenzeugen Bezeugte ist grundsätzlich interpretationsbedürftig und wird im Allgemeinen intuitiv interpretiert (das verstreute Mehl zunächst als Schnee, dann als Indiz des Überflusses). 2) Gerade die scheinbare Evidenz und Selbstverständlichkeit des Interpretierten 77 PS, S. 231–234, 60–70. 78 Der Standpunkt des fiktiven Augenzeugen, von dem aus der erste Tag der Unruhen geschildert wird, erscheint geradezu als fiktionale Umsetzung von Ripamontis Beteuerung seiner Augenzeugenschaft: „Io fui spettatore di tutti questi avvenimenti: testimonio per caso del principio della sommossa […]. In seguito trovai esattamente registrato, negli atti della città, l’origine e il crescere del tumulto, non che il finire e reprimersi spontaneo di esso, come appunto io aveva veduto“ (RIPAMONTI 1841, S. 35). 79 „E arrivato a casa, raccontò che gli s’era accostato un untore, con un’aria umile, mansueta, con un viso d’infame impostore, con lo scatolino dell’unto, o l’involtino della polvere (non era ben certo qual de’ due) in mano, nel cocuzzolo del cappello, per fargli il tiro, se lui non l’avesse saputo tener lontano“ (PS, S. 652, 13).

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trügt, d.h. ist nicht konform mit der historischen Wahrheit (dem scheinbaren Überfluss entspricht in Wahrheit Getreideknappheit), sondern ist – wie der abschließende Erzählerkommentar verdeutlicht – determiniert durch Interessen, Erwartungen und Vorurteile des Wahrnehmenden. 80 3) Die unkritische Verarbeitung des vom Augenzeugen Erlebten zum ‚historischen Diskurs‘ besteht in einem Zusammenspiel von Beobachtung und Imagination, von Erfahrenem und vorgefasster Meinung, aus dem statt Erkenntnisgewinn eine Bestätigung des Vorurteils resultiert. In diesem Sinne ist also selbst eine Historiographie, die sich auf eigene Anschauung des Berichteten beruft, notwendig Interpretation des Geschehens, und soweit es ihr an historischer und rational-kritischer Distanz zum Kollektivbewusstsein der eigenen Zeit mangelt, bleibt diese Interpretation prekär und in ihrer Irrationalität inadäquat oder sie wird, wenn sie zur Massenhysterie ausartet, sogar gefährlich. 2.4.3 Historische Erklärungsmodelle Manzoni stellt – wie wir gesehen haben – nicht die Historiographie insgesamt in Frage, aber er steht aller Geschichtsschreibung kritisch bis ablehnend gegenüber, die sich nicht der Vernunft des buon senso bedient, sondern der von irgendwelchen Interessen determinierten Imagination, und damit Gefahr läuft, sich der Unvernunft des senso comune anzuschließen, d.h. dem Kollektivbewusstsein ihrer Zeit, das von Vorurteilen bestimmt ist. 81 Ohne Imagination kommt jedoch historische Rekonstruktion kaum aus. Ein klassisches Erklärungsmodell traditioneller Geschichtsschreibung ist daher die psychische Motivation von geschichtlichem Handeln. Dem Handelnden werden mittels Konjektur Intentionen unterstellt, die sein überliefertes Handeln plausibel machen. Diese Art historischer Erklärung geht wie selbstverständlich von der Prämisse grundsätzlicher Universalität menschlichen Denkens und Handelns aus sowie von einer ebenso grundsätzlichen Transparenz-Relation zwischen Denken und sprachlicher Rede, zwischen Affekten und äußeren Symptomen, zwischen Denken und Handeln. Diese Prämissen der Geschichtsschreibung des âge classique werden jedoch im 19. Jahrhundert problematisch: Das Universale tritt bis zum Verschwinden hinter das Individuelle zurück, an die Stelle der Transparenz tritt eine 80 Die vom Erzähler wiedergegebene Meinung Renzos findet sich entsprechend bei einem zeitgenössischen Historiker wie Ripamonti (s. RIPAMONTI 1841, I, xi). — Zur Rolle der visuellen Wahrnehmung und deren Verhältnis zum Wissen über die Wirklichkeit vgl. auch CASETTI 1989, S. 317–323; Casettis Folgerung, darin zeige sich „lo scetticismo manzoniano per la voce, quella voce che può tradire, là dove la vista afferra“ (ebd. S. 323), erscheint mir jedoch als abwegig. 81 Diese prägnante Gegenüberstellung von kritischer Rationalität und verbreiteter Meinung findet sich im Kontext der Erörterungen über die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pest: „[...] il buon senso c’era; ma se ne stava nascosto, per paura del senso comune“ (PS, S. 623, 63).

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generelle Unergründlichkeit oder opacité der Erscheinungen. 82 Manzoni hinterfragt daher solche Erklärungsmodelle, wo er historisches Geschehen in Fiktion überführt. In der Schilderung der Unruhen am Martinstag in Kap. XII verarbeitet Manzoni ganz offenbar den Bericht, den der Chronist Giuseppe Ripamonti davon gibt. Dort wird das Verhalten des Großkanzlers Antonio Ferrer folgendermaßen erklärt: Il gran cancelliere, in mezzo alle frodi ed all’avarizia degli uomini ed alla penuria di grano, in que’ difficili momenti aveva immaginato, tenendo una via di mezzo, di far sopportare a’ fornaj il danno derivante dalla calamità dei tempi e dall’umana malizia. [...] Credeva egli per avventura che lo scapito si compensasse coi precedenti guadagni de’ fornaj, e con quanto lucrerebbero in appresso. Fors’anche aveva loro data lusinga, calmata quella burrasca, di compensarli a spese dell’erario; ma codeste erano speranze vaghe, e intanto la perdita sicura rendeva insopportabile l’editto. 83

Die Version in Manzonis Roman lautet folgendermaßen: Facevan vedere ai magistrati l’iniquità e l’insopportabilità del carico imposto loro, protestavano di voler gettar la pala nel forno, e andarsene; e intanto tiravano avanti come potevano, sperando, sperando che, una volta o l’altra, il gran cancelliere avrebbe inteso la ragione. Ma Antonio Ferrer, il quale era quel che ora si direbbe un uomo di carattere, rispondeva che i fornai s’erano avvantaggiati molto e poi molto nel passato, che s’avvantaggerebbero molto e poi molto col ritornar dell’abbondanza; che anche si vedrebbe, si penserebbe forse a dar loro qualche risarcimento; e che intanto tirassero ancora avanti. O fosse veramente persuaso lui di queste ragioni che allegava agli altri, o che, anche conoscendo dagli effetti l’impossibilità di mantener quel suo editto, volesse lasciare agli altri l’odiosità di rivocarlo; giacchè, chi può ora entrar nel cervello d’Antonio Ferrer? il fatto sta che rimase fermo su ciò che aveva stabilito. Finalmente i decurioni (un magistrato municipale composto di nobili, che durò fino al novantasei del secolo scorso) informaron per lettera il governatore, dello stato in cui eran le cose: trovasse lui qualche ripiego, che le facesse andare. 84

Die bei Ripamonti angeführten Überlegungen über eine mögliche Rede Ferrers und die Reaktion der Bäcker ist in den Promessi Sposi umgesetzt in eine Ereignisabfolge: Die Bäcker protestieren gegen die unerfüllbaren Anordnungen des Magistrats, dem folgt eine Rede Ferrers, die die Anordnungen zu rechtfertigen sucht. D.h. auf der Basis historischer Informationen inszeniert Manzoni einen plausiblen Ereigniszusammenhang. Die knappe Zusammenfassung der Gedanken ist dabei ausgeweitet zu einer relativ mimetisch wiedergegebenen indirekten Rede, die aber zugleich ergänzt wird durch Vermutungen des Erzählers über die wahren Motive Ferrers auf einer tieferen psychologischen Ebene. D.h. die vom Historiker erschlossenen Motive des Handelns, die als figurenbezogene subjektive Rechtfertigung des Handelns fungieren, werden vom Erzähler-Historiker des Romans weiter hinterfragt nach tieferen Erklärungsmöglichkeiten, die u.U. der Charakterdisposition der Person eher gerecht werden. Doch entsprechend der neuen Wirklichkeits82 Zur epochalen Differenz zwischen der Transparenz als grundlegender Struktur der klassischen Episteme und der Opazität als deren Entsprechung in der Episteme des 19. Jahrhunderts s. FOUCAULT 1966. Dass dies jedoch in der Historiographie des 19. Jahrhunderts nicht zum Verzicht auf imaginierte Intentionen führt, hat – wie noch zu zeigen ist – andere Gründe. 83 RIPAMONTI 1841, S. 26f. 84 PS, S. 240, 12–14.

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konzeption des 19. Jahrhunderts erscheinen die psychologischen Motive nicht mehr ohne Weiteres aus dem Handeln selbst erschließbar, der Text suggeriert sie deshalb lediglich als denkbar und macht damit deutlich, dass die psychologischen Ursachen historischen Handelns letztlich nicht zu ergründen sind. Nur der poetisch-fiktionale Diskurs hat – wie Manzoni schon in der Lettre à Chauvet hervorgehoben hatte – die Möglichkeit der focalisation interne, die Handeln nachvollziehbar macht. Dies ist aber nicht das Erklären des Historikers. Die implizite Kritik am erklärenden Gebrauch der Imagination trifft also zunächst die traditionelle Geschichtsschreibung generell. Im Besonderen richtet sich Manzonis Kritik aber – wie schon im Zusammenhang mit der Introduzione deutlich geworden ist – gegen eine metaphysische Geschichtsschreibung, die Geschichte mittels rhetorischer Verfahren interpretiert und damit zu erklären vorgibt. 85 Dies ist natürlich zunächst die enkomiastische Historiographie, die Manzoni an einer Stelle in Kap. XXXI ironisch kritisiert, wenn er deren konventioneller Rhetorik die nicht erwähnte Unfähigkeit und Tatenlosigkeit des Gepriesenen im Falle der Pestepidemie gegenüberstellt: Era quest’uomo, come già s’è detto, il celebre Ambrogio Spinola, mandato per raddirizzar quella guerra e riparare agli errori di don Gonzalo, e incidentemente, a governare; e noi pure possiamo qui incidentemente rammentar che morì dopo pochi mesi, in quella stessa guerra che gli stava tanto a cuore; e morì, non già di ferite sul campo, ma in letto, d’affanno e di struggimento, per rimproveri, torti, disgusti d’ogni specie ricevuti da quelli a cui serviva. La storia ha deplorata la sua sorte, e biasimata l’altrui sconoscenza; ha descritte con molta diligenza le sue imprese militari e politiche, lodata la sua previdenza, l’attività, la costanza: poteva anche cercare cos’abbia fatto di tutte queste qualità, quando la peste minacciava, invadeva una popolazione datagli in cura, o piuttosto in balìa. 86

Zu den fragwürdigen Erklärungen von Geschichte, die nur auf Rhetorik und metaphysischer Spekulation beruhen und die gerade im 17. Jahrhundert Konjunktur haben, 87 gehört aber letztlich auch die gesamte romanhafte Erzählung des fiktiven Manuskriptautors. Der ‚Bearbeiter‘ des Manuskripts ist ja trotz der verschachtelten Kommunikationsstruktur des Textes vom Autor der ‚Quelle‘ strikt unterschieden, insofern er sich schon in der Introduzione und durch die Präsentation realer Dokumente als kritisch recherchierender Historiker gibt. Die märchenhafte Geschichte der beiden Verlobten lässt sich zwar – so wie die Figuren selbst es tun – als providentielle Fügung deuten, aber dieser „sugo di tutta la storia“ ist eben nur der Sinn der fiktionalen Erzählung, nicht des Textes. 88 Schon der dem Autor näherstehende fiktive Erzähler, der in den historischen Kapiteln als Erzählinstanz verantwortlich zeichnet, ist mit dieser Weltsicht nicht zu identifizieren, und der deutlich komödienhafte und somit fiktionsironische Schluss des Textes stellt diese

85 In dieser Hinsicht ist Manzonis Position derjenigen H. Whites nicht unähnlich (vgl. WHITE 1973). 86 PS, S. 587f., 17–19. 87 Vgl. dazu auch die Figur don Ferrantes in Kap. XXVII und Kap. XXXVII. 88 Vgl. PS, S. 745f., 68f.

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erst recht aus der intendierten Perspektive des Autors mit ironischer Skepsis in Frage. 89 Die Skepsis beruht in diesem Falle auf einem unhintergehbaren Nichtwissen hinsichtlich einer höheren Macht, die den Lauf der Dinge lenkt. Anders liegt der Fall, wo bornierte Ignoranz der Möglichkeit rationaler Erkenntnis im Wege steht. Dies ist z.B. dort der Fall, wo eine metaphysisch-moralische Deutung der Ereignisse der bloßen Imagination des Kollektivbewusstseins entspringt und sich in einer pointierten Antithese artikuliert, einer rhetorischen Figur also, die als solche nichts erklärt. Nach einer Prozession während der Pest nimmt die Zahl der Ansteckungen sprunghaft zu, doch die eigentlich naheliegende Erklärung bleibt aus: Ma, oh forze mirabili e dolorose d’un pregiudizio generale! non già al trovarsi insieme tante persone, e per tanto tempo, non all’infinita moltiplicazione de’ contatti fortuiti, attribuivano i più quell’effetto; l’attribuivano alla facilità che gli untori ci avessero trovata d’eseguire in grande il loro empio disegno. Si disse che, mescolati nella folla, avessero infettati col loro unguento quanti più avevan potuto. Ma siccome questo non pareva un mezzo bastante, nè appropriato a una mortalità così vasta, e così diffusa in ogni classe di persone; siccome, a quel che pare, non era stato possibile all’occhio così attento, e pur così travedente, del sospetto, di scorgere untumi, macchie di nessuna sorte, su’ muri, nè altrove; così si ricorse, per la spiegazion del fatto, a quell’altro ritrovato, già vecchio, e ricevuto allora nella scienza comune d’Europa, delle polveri venefiche e malefiche; si disse che polveri tali, sparse lungo la strada, e specialmente ai luoghi delle fermate, si fossero attaccate agli strascichi de’ vestiti, e tanto più ai piedi, che in gran numero erano quel giorno andati in giro scalzi. „Vide pertanto,“ dice uno scrittore contemporaneo, „l’istesso giorno della processione, la pietà cozzar con l’empietà, la perfidia con la sincerità, la perdita con l’acquisto.“ Ed era in vece il povero senno umano che cozzava co’ fantasmi creati da sè. 90

Allen Erklärungen, die nur auf Sprache beruhen, steht Manzoni skeptisch gegenüber, weil Sprache eben – so die epistemische Prämisse des 19. Jahrhunderts – die Dinge nicht mehr transparent abbildet. Dies zeigt Manzoni zufolge schon der sprachliche Umgang mit der sich ausbreitenden Pest, der die Tatsache durch ständig neue Umschreibungen verdrängt oder Erklärungen sucht, die erst eine Wortschöpfung wie ‚untore‘ voraussetzen: In principio dunque, non peste, assolutamente no, per nessun conto: proibito anche di proferire il vocabolo. Poi, febbri pestilenziali: l’idea s’ammette per isbieco in un aggettivo. Poi, non vera peste; vale a dire peste sì, ma in un certo senso; non peste proprio, ma una cosa alla quale non si sa trovare un altro nome. Finalmente, peste senza dubbio, e senza contrasto: ma già ci s’è attaccata un’altra idea, l’idea del venefizio e del malefizio, la quale altera e confonde l’idea espressa dalla parola che non si può più mandare indietro. Non è, credo, necessario d’esser molto versato nella storia dell’idee e delle parole, per vedere che molte hanno fatto un simil corso. […] Si potrebbe però, tanto nelle cose piccole, come nelle grandi, evitare, in gran parte, quel corso così lungo e così storto, prendendo il metodo proposto da tanto tempo, d’osservare, ascoltare, paragonare, pensare, prima di parlare. Ma parlare, questa cosa così

89 Zum Modell des hellenistischen Romans in den Promessi Sposi und der Ironisierung der fiktiven Geschichte s. insbesondere KÜPPER 1994, S. 128ff., zum komödienhaften Schluss s. auch SCRIVANO 2000, S. 763–766. 90 PS, S. 610f., 23–25. Manzoni führt in der Fußnote auch die Quelle an.

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sola, è talmente più facile di tutte quell’altre insieme, che anche noi, dico noi uomini in generale, siamo un po’ da compatire. 91

Sprachlichen Erklärungen hält Manzoni also Methoden der Empirie entgegen. Auch diese kommt natürlich nicht ohne Erklärungsmodelle aus, aber in den historiographischen Kapiteln der Promessi Sposi setzt die empirische Methode des Historikers an die Stelle der bloß eingebildeten menschlichen Vorstellungswelt die reale Welt der Natur. Den Phantasievorstellungen der Menschen in den Tagen der Brotpreis-Revolte (Überfluss an Getreide, Spekulanten, gerechte Brotpreise etc.), die dem Leser in den fiktionalen Textpartien begegnen, setzt Manzoni in Kap. XII eine ökonomische Analyse entgegen, die weitgehend auf einer Analogie von ökonomischen Prozessen und Prozessen im Organismus beruht, die Ökonomie also auf das Modell der Natur bezieht. 92 Falsche wirtschaftspolitische Maßnahmen, wie sie in Kap. XII oder in Kap. XXVIII vorgeführt werden, erscheinen so als Verstöße gegen Naturgesetze, die notwendig zum Scheitern verurteilt sind. Diese Referenz auf die Natur ist jedoch nicht willkürlich: Einem historischen Denken, dem alles Veränderliche historisch und partikulär erscheint, sind konsequenterweise nur noch die Naturgesetze konstant und universal. 93 Die Erkenntnis der ‚Naturgesetze‘, die in der Geschichte wirksam sind, ist die Aufgabe des kritisch-rationalen Historikers und mehr noch der im 19. Jahrhundert entstehenden Geschichtsphilosophien. Beide – kritische Analyse und Rekonstruktion des Vergangenen wie geschichtsphilosophische Erklärungen – setzen höhere Erwartungen in die Leistung des Historikers als eine traditionelle literarisch-chronistische Historiographie. Der Optimismus, der in dieser Perspektive zutage tritt, ist weitgehend derjenige, den die Aufklärung dem 19. Jahrhundert hinterlassen hat. 94 Geschichte erscheint in dieser Sicht als Konflikt zwischen einer schicksalhaften und teilweise höchst bedrohlichen Macht der Natur und dem Menschen, als ein Kampf, dem die politisch Verantwortlichen sich handelnd stellen können und in dem sie sich moralisch bewähren oder in dem sie durch Nicht-Handeln bzw. durch falsches oder unzureichendes Handeln moralisch versagen. Geschichte lässt sich aber auch begreifen als ein Kampf zwischen irrationalen Trieben und Leidenschaften der Masse auf der einen Seite und menschlicher ratio auf der anderen, in dem sich der 91 PS, S. 602, 73–75. 92 Die Doktrin dafür liefert v.a. die Wirtschaftstheorie der Physiokraten, vgl. dazu u.a. Quesnays Artikel „Grains“ in der Encyclopédie (v.a. den Abschnitt „Observations sur le prix des grains“, ENCYCLOPÉDIE 1751–1765, Bd. 7, S. 812ff.). — Eine wichtige Vermittlerrolle spielen für Manzoni dabei bekanntlich die Mailänder Aufklärer P. Verri, Meditazione sulla economia politica (1771), oder Cesare Beccaria, Elementi di economia pubblica (1804). 93 Allerdings wird schon kurz vor den Jahren, in denen Manzonis Roman entsteht, auch der Natur ihre Historizität eingeschrieben, etwa in der Evolutionstheorie von Lamarcks Philosophie zoologique (1809) und seiner Histoire naturelle des animaux sans vertèbres (1815–1822). 94 Zu Manzonis Rationalismus, der zwar in der Aufklärung wurzelt, jedoch der Vorstellung einer Perfektibilität des Menschen ausgesprochen skeptisch gegenübersteht, und dem daraus resultierenden Geschichtsverständnis s. KÜPPER 1994, S. 141ff. — Skepsis gegenüber aller Möglichkeit von Geschichtsmodellen und Geschichtsbewältigung sieht auch Lampart als die wesentliche Botschaft von Manzonis Roman (s. LAMPART 2002, S. 339–381).

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Mensch entweder dem Irrationalen überlassen kann oder an der Vernunft festhält. 95 Den Ausgangspunkt dieser Erkenntnis kann nur das historisch Partikuläre bilden, das Gegenstand des historischen Diskurses ist, nachvollziehbar und damit didaktisch wirksam wird jedoch falsches wie richtiges geschichtliches Handeln erst in der Realitätsillusion des poetisch-fiktionalen Diskurses. 3. Der historische Diskurs in der Romantik – Augustin Thierry 3.1 Erfahrung von Geschichte und patriotische Identifikation Strukturell gesehen, so meine These, entsteht der historische Roman aus einer Neuorganisation der Diskurse um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die u.a. zur Folge hat, dass der poetisch-fiktionale und der historische Diskurs des âge classique sich miteinander verbinden. Aber wie erklärt sich das Bedürfnis nach einem solchen ‚poetisch-historischen‘ Diskurs, das der historische Roman offensichtlich befriedigt? 96 Mit anderen Worten: Was ist die funktionale Dimension des neuen Genres? Die epistemischen Voraussetzungen, die u.a. das Entstehen des historischen Romans bedingt oder zumindest begünstigt haben dürften, zeigen sich nun nicht nur im poetischen Diskurs, sondern – da es sich ja um diskursübergreifende Voraussetzungen handelt – gerade auch in dem nach wie vor bestehenden und mit dem historischen Roman konkurrierenden historischen Diskurs. Dies möchte ich am Beispiel eines der bedeutendsten Vertreter der romantischen Geschichtsschreibung in Frankreich, nämlich Augustin Thierry, etwas näher erläutern. 97 In den Diskursen, die sich mit menschlicher Erfahrung beschäftigen – dies ist neben dem poetischen Diskurs ein sich zunehmend ausdifferenzierender Bereich der Wissensdiskurse, zu dem auch die Historiographie gehört –, etabliert sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ein neuer Denkstil, der seinerseits aus

95 Dass dies kein epochenspezifischer Konflikt ist, sondern eine stets aktuelle Problematik, wird an mehreren Stellen deutlich, in denen auf ähnliche Fälle in der Französischen Revolution verwiesen ist, wie z.B. in folgendem Kommentar: „Al riso brillato era già stato fissato il prezzo prima della sommossa; come probabilmente la tariffa o, per usare quella denominazione celeberrima negli annali moderni, il maximum del grano e dell’altre granaglie più ordinarie“ (PS, S. 529, 7). 96 Die immense europaweite Rezeption und Nachahmung von W. Scotts Romanen ist ein untrügliches Indiz dafür. 97 Zu Manzonis Vertrautheit mit Thierrys Schriften und dessen Geschichtskonzeption s. DE LOLLIS 1962. De Lollis geht es jedoch in erster Linie darum, die ideologischen Unterschiede zwischen Thierry und Manzoni herauszuarbeiten. — Zur Historiographie in der französischen Romantik s. die knappe Darstellung in JOHNSON 1984 und die ausführlichere Behandlung in CROSSLEY 1993, speziell zu Thierry ebd. S. 45–70. Crossley interessiert sich jedoch in allererster Linie für die Argumentationslinien in Thierrys historischem Denken.

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vorgängigen epistemischen Veränderungen resultiert. 98 Für diesen neuen Denkstil ist charakteristisch, dass tiefere Erkenntnis diesem Denken zufolge nicht bloß einer empirischen Erfahrung bedarf, deren Allgemeingültigkeit irgendwie nachgewiesen werden kann, sondern einer individuell erlebten Erfahrung. 99 Im historischen Diskurs manifestiert sich dieser Denkstil in einer Neukonzeption der Aufgaben, der methodischen Vorgehensweisen und der Darstellungsverfahren der Historiographie. Das Programm dieser neuen Historiographie entwickelt Thierry in einer Serie von Artikeln, die unter dem Titel Lettres sur l’histoire de France 1820 in der Zeitschrift Le Courrier français erschienen sind und in den folgenden Jahren in Buchform zusammengestellt und um einige Artikel ergänzt wurden. 100 Dass Thierrys Interesse an der Geschichte angeblich seinen Ursprung in seinem tagespolitischen journalistischen Engagement auf der Seite der Liberalen hat, ist in dieser Hinsicht schon symptomatisch. Dans ce temps de passions politiques, où il est si difficile, lors qu’on se sent quelque activité d’esprit, de se dérober à l’agitation générale, je crois avoir trouvé un moyen de repos dans l’étude sérieuse de l’histoire. Ce n’est pas que la vue du passé et l’expérience des siècles me fassent renoncer à mes premiers désirs de liberté, comme à des illusions de jeunesse; au contraire, je m’y attache de plus en plus: j’aime toujours la liberté, mais d’une affection moins impatiente. 101

Der Historiker ist nicht mehr wie noch Voltaire offizieller historiographe du roi, sondern sieht seine Aufgabe im aktuellen Kampf für die Freiheit. Dem entspricht auf der anderen Seite, dass die Historiographie ihre Aufgabe nicht mehr darin sieht, die Modelle für das politische und militärische Handeln der grands personnages zu liefern oder das Wesen der Menschheit und ihres Zivilisationsfortschritts in ihrer Geschichte zu erfassen und nachzuzeichnen, sondern sich primär in den 98 Ich übernehme hier den Begriff ‚Denkstil‘ von Hempfer, der dabei seinerseits auf Cassirer rekurriert. S. HEMPFER 2005, S. 21–26. Hempfer hat dort sehr überzeugend illustriert, inwiefern sich der Denkstil der Aufklärung vom Rationalismus des 17. Jahrhunderts unterscheidet, und er hat in diesem Zusammenhang zugleich Foucaults Beschreibung der Episteme des âge classique zu Recht kritisiert. Allerdings müsste m.E. die Kritik weniger auf Foucaults unterstellte Kontinuität der Episteme des 17. und 18. Jahrhunderts zielen als auf seine ungenügende theoretische Ausarbeitung des Episteme-Konzepts. Die Episteme ist nämlich wohl kaum als eine einzige elementare Struktur aufzufassen, die das Denken und Reden einer Epoche ermöglichend bedingt, sondern als ein relativ komplex und hierarchisch strukturiertes Gebilde. In diesem Sinne wären zu unterscheiden: 1) abstrakte Ermöglichungsbedingungen des Denkens und Redens auf einer hierarchisch höchsten Ebene, 2) deren Subkonfigurationen auf unteren Ebenen, 3) synchrone oder diachrone Denkstile als bewusste epistemische Konfigurationen innerhalb einer Episteme, 4) Diskurse. Dabei bleiben die elementarsten Strukturen auf der Ebene (1) und (2) in einer Epoche in aller Regel unbewusst und unreflektiert, während Denkstile sowie die Gegebenheiten der einzelnen Diskurse (Gegenstandsextension, Konventionen usw.) durchaus Gegenstand der Reflexion und Diskussion werden können. 99 Darin liegt u.a. die grundlegende Differenz zwischen romantischer Erlebnislyrik und klassizistischer Mimesis von Affekten z.B. in der Elegie. S. dazu ausführlich PENZENSTADLER 2002, S. 180ff. 100 Der Text ist im Folgenden zitiert nach THIERRY 1842. 101 Lettre I, THIERRY 1842, S. 13.

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Dienst nationaler Identitätsbildung stellt. 102 Dies erscheint als nur konsequent, insofern Thierrys Auffassung nach die Nation am Ende eines jahrhundertelangen Prozesses in der Französischen Revolution endgültig zum handelnden Subjekt der Geschichte geworden ist. Seine Historiographie ist daher eine Geschichte der Nation bzw. die Geschichte der Emanzipation derjenigen Klasse, die die Nation im eigentlichen Sinne ausmacht, nämlich des tiers état. Dieses Bürgertum hat seine historischen Wurzeln in der galloromanischen Bevölkerung der Städte, während der Adel einer letztlich fremden Ethnie und Kultur zuzurechnen ist, den fränkischen Eroberern. 103 Nationale Geschichtsschreibung ist somit nicht nur eine Geschichte der Nation i.S. einer Chronik historischer Fakten, sondern eine geschichtsphilosophische Erklärung ihrer Revolutionen im Einzelnen und ihrer Evolution insgesamt. Um die Nation ihre eigene Identität finden zu lassen, muss sie aber zugleich ‚populär‘ werden und das, was seit der Französischen Revolution als ‚Patriotismus‘ propagiert wird, fördern. Ihr primärer Adressat ist daher der politisch verantwortlich denkende und handelnde citoyen: [...] je crois que notre patriotisme gagnerait beaucoup en pureté et en fermeté si la connaissance de l’histoire, et surtout de l’histoire de France, se répandait plus généralement chez nous, et devenait en quelque sorte populaire. [...] Mais existe-t-il une Histoire de France qui reproduise avec exactitude les idées, les sentiments, les mœurs des hommes qui nous ont 102 Der Begriff der „identité nationale“ fällt bei Thierry explizit in der Lettre XII (THIERRY 1842, S. 216). Mit der Wahl Hugo Capets als „candidat de la race indigène“ (ebd. S. 215) beginne die Geschichte Frankreichs als die Geschichte einer einheitlichen Nation mit eigener ethnischer, kultureller und sprachlicher Identität. Ein solches Konzept nationaler Identität, das ‚Nation‘ nicht als staatsrechtliche oder territoriale Einheit versteht, ist dem 18. Jahrhundert völlig unbekannt. — Die typische Zielsetzung der vorromantischen Historiographie formulieren z.B. Duclos („Les sciences et les arts ont différents objets d’utilité, et font la gloire d’une nation: il n’appartient qu’à l’histoire de former les hommes d’état. C’est là qu’ils doivent trouver les règles de leur conduite.“ DUCLOS 1820–1821, Bd. 3, S. 7) oder Velly („[Histoire] Nécessaire aux Rois, qu’elle instruit à rendre leurs peuples meilleurs & plus heureux; utile à l’homme d’État, dont elle étend les vûes jusques dans l’avenir par une juste comparaison de ce qui est arrivé; agréable au simple particulier, sous les yeux duquel elle fait passer comme en revue les Républiques, les Royaumes & les Empires, elle offre à tout le genre humain des connoissances aussi curieuses qu’intéressantes sur son origine, ses progrès, ses grandeurs, ses foiblesses, ses vertus, & ses vices.“ VELLY 1755, Bd. 1, S. IX). D’Alembert stellt die Geschichtsschreibung deutlicher in den Dienst der Aufklärung; ihre Aufgabe sei es, „[...] chercher dans les annales du monde les traces précieuses, quoique faibles et clair-semées, des efforts de l’esprit humain, et les traces bien plus marquées du soin qu’on a mis de tout temps à l’étouffer“ (D’ALEMBERT 1821, S. 3). Ähnlich formuliert Voltaire das Ziel aufklärerischer Historiographie, wenngleich mit etwas anderer Akzentsetzung. Ihr Gegenstand seien „l’esprit, les mœurs, les usages des nations principales, appuyés des faits qu’il n’est pas permis d’ignorer“ (VOLTAIRE 1963, Bd. 1, S. 195). 103 Dieser Geschichtsmodellierung liegt ein Denkmodell zugrunde, das geschichtliche Konflikte und Prozesse als ‚Krieg‘ beschreibt und dessen unterschiedliche Realisierungsformen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert Foucault in einer Vorlesung am Collège de France nachgezeichnet hat. S. FOUCAULT 1997, speziell zu Thierry S. 208–212. — Die historischen Konflikte Frankreichs und deren Geschichte sind für Thierry Konflikte zwischen ethnisch-biologisch definierten Rassen (Galloromanen vs. Franken) oder ethnisch-linguistisch definierten ‚Nationen‘ (Gallo-Franken vs. Germanen). Vgl. dazu v.a. Lettre IX und XII.

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transmis le nom que nous portons, et dont la destinée a préparé la nôtre? Je ne le pense pas. [...] La vraie histoire nationale [...] est encore ensevelie dans la poussière des chroniques contemporaines. 104

In der traditionellen Geschichtsschreibung, où un petit nombre de personnages privilégiés occupent seuls la scène historique, et où la masse entière de la nation disparaît derrière les manteaux de cour nous ne trouvons ni une instruction grave, ni des leçons qui s’adressent à nous, ni cet intérêt de sympathie qui attache en général les hommes au sort de qui leur ressemble. Nos provinces, nos villes, tout ce que chacun de nous comprend dans ses affections sous le nom de patrie, devrait nous être représenté à chaque siècle de son existence [...]. 105

Eine Geschichtsschreibung, die sich diesem Ziel verschreibt, ist nicht mehr nur rationale Auseinandersetzung mit historischem Geschehen, sondern sucht emotionale Identifikation mit den Handelnden oder Betroffenen der Geschichte. 106 Eine solche Identifikation ist zum einen begünstigt durch die eigene Erfahrung von Geschichte: [...] cette expérience de la vie politique qui est un des privilèges de notre époque si remplie de grands événements. Que tout homme de sens, au lieu de se payer des abstractions monarchiques ou républicaines des écrivains de l’ancien régime, recueille ses propres souvenirs et s’en serve pour contrôler ce qu’il a lu ou entendu dire sur les événements d’autrefois, il ne tardera pas à sentir quelque chose de vivant sous la poussière du temps passé. Car il n’est personne parmi nous, hommes du XIXe siècle, qui n’en sache plus que Velly ou Mably, plus que Voltaire lui-même, sur les rébellions et les conquêtes, le démembrement des empires, la chute et la restauration des dynasties, les révolutions démocratiques et les réactions en sens contraire. 107

104 THIERRY 1842, S. 14f. 105 Ebd. S. 15. 106 Demgegenüber steht Vellys Konzept von ‚Patriotismus‘ noch ganz im Zeichen didaktischer Exemplarität: „Mais de toutes les histoires, la plus digne de l’étude d’un homme qui pense, est sans contredit celle de la Patrie. C’est une espèce de tableau général de famille, où chaque citoyen croit reconnoître quelques-uns de ses ancêtres, les uns dans un rang plus élévé, les autres dans un état moins brillant, tous véritablement utiles à la société. On sent par expérience ce que peut une pareille persuasion sur une ame bien née: l’exemple toujours plus efficace que le précepte en reçoit une nouvelle force: de-là cette noble émulation, qui produit & les grandes actions & les hommes célèbres en tout genre“ (VELLY 1755, Bd. 1, S. IXf.). Der Staat ist dabei gedacht als ein ständisch strukturiertes Kollektiv, dessen normative Ordnung idealiter der sozialen Ordnung der Familie entspricht. Identifikation bedeutet in diesem Zusammenhang Rollenidentifikation, d.h. Bestimmung des jeweils eigenen Standorts in Staat und Gesellschaft und an entsprechenden Vorbildern ausgerichtetes Denken und Handeln. Thierrys Konzept von ‚Patriotismus‘ meint demgegenüber eine emotionale Identifikation, die ihre Wurzeln letztlich in einem ethnisch-biologischen Verständnis von ‚Nation‘ als einem Kollektiv hat, dessen Geschichte als eine organische Entwicklung zu beschreiben ist. — Eine ähnliche Konzeption einer auf subjektiver Erfahrung und emotionaler Identifikation basierenden Geschichtsschreibung findet sich in A. Thiers’ Histoire de la Révolution française (1823– 1827). 107 Avertissement, THIERRY 1842, S. 5. — Thierrys gesamte Konzeption der französischen Geschichte, die ihn dazu veranlasst, diese Geschichte neu zu schreiben, basiert auf der Erfahrung der Französischen Revolution. Erst aus der Perspektive dieses Ereignisses lassen sich die An-

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Zum anderen muss der Text selbst mittels emotionalisierender Darstellungsverfahren eine identifikatorische Lektüre fördern. Dies hat zur Folge, dass genau jenes Moment wieder in die Geschichtsdarstellung eingeht, das die kritische Historiographie der Aufklärung daraus zu verbannen suchte, nämlich Fiktionalität – traditionell seit der Antike v.a. präsent in Form fiktiver Reden der Figuren. 108 Natürlich sind aber dem modernen Historiker gegenüber dem Romancier diesbezüglich Grenzen gesetzt. Somit bezieht der historische Roman seine Legitimität gerade aus der Tatsache, dass seine Geschichtsdarstellung emotionale Nachvollziehbarkeit von geschichtlichen Situationen und Ereignissen in einem Maße ermöglicht, wie sie in seriöser Historie ausgeschlossen bleibt. Diskursgeschichtliche Voraussetzung einer nachvollziehbar gemachten Geschichtserfahrung ist also eine neue Konzeption der Erkenntnis von Vergangenem, die gleichermaßen dem historischen Roman und der romantischen Historiographie zugrunde liegt. 109 Strukturelle Voraussetzung für die Nachvollziehbarkeit von Erfahrung hingegen ist entweder autobiographische Authentizität oder Fiktionalität. Genau deshalb wird seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts eine immense Fülle von Memoiren historischer Persönlichkeiten veröffentlicht. 110 Das autobiographische Schrifttum ist jedoch mit dem Makel notwendiger Begrenztheit des Erfahrungshorizonts und unhintergehbarer Subjektivität behaftet oder doch zumindest dem Verdacht ungewollter subjektiver Verzerrung ausgesetzt. Deshalb erscheint gerade im Hinblick auf ein umfassendes Epochenpanorama ein heterodiegetischer Erzähler, der sich in der Rolle des objektiven Historikers präsentiert, als zuverlässiger. Dessen notwendige Beschränktheit hinsichtlich plausiblen Wissens über Einzelheiten der historischen Sachverhalte muss dann aber kompensiert werden durch diejenigen Darstellungsverfahren, die wesentliches Merkmal des poetisch-fiktionalen Diskurses sind, nämlich mimetische Narration und Deskription sowie die Möglichkeiten fokalisierter Abbildung der dargestellten Welt. Im Hinblick auf Nacherlebbarkeit von Erfahrung ist Fiktionalität jedoch deshalb eine essentielle Voraussetzung, weil nur die Darstellungsverfahren des fiktionalen Diskurses eine Abbildung der dargestellten Welt ermöglichen, die der Wirklichkeitserfahrung des Rezipienten entspricht. Denn im Alltag wird Realität immer fokali-

fänge der für Thierry notwendigen Evolution zur Demokratie im „affranchissement des communes“ des 12. Jahrhunderts erfassen: „En effet, avant d’avoir vu, comme nous, le terrible réveil de ce vieil esprit, dans un temps d’ordre et d’obéissance volontaire, pouvait-on décrire avec exactitude, ou même simplement comprendre la révolte, l’association jurée contre le pouvoir établi, et tout ce grand travail de dissolution qui accompagne les changements politiques?“ (Lettre XIII, THIERRY 1842, S. 227). 108 S. dazu Voltaires Kritik in VOLTAIRE 1777–1779, S. 225. Auch d’Alembert kritisiert die fiktiven Reden der antiken Historiker, die Geschichte eher „en orateurs qu’en philosophes“ geschrieben hätten (D’ALEMBERT 1821, S. 6). 109 In der Historiographie entspricht diesem Wandel der Übergang vom kritischen Erzählen der Aufklärung zum genetischen Erzählen der Moderne. Vgl. dazu RÜSEN 1982. 110 Vgl. die von Guizot herausgegebenen Collection des mémoires relatifs à l’histoire de France (1823–1835) und Mémoires relatifs à la révolution d’Angleterre (1823–1825).

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siert und auch immer als ein diffuses, zunächst unstrukturiertes maximum d’information erfahren. 111 3.2 Erzählverfahren und Geschichtsmodellierung in der romantischen Geschichtsschreibung 3.2.1 Methodische Konsequenzen Die eben skizzierte Programmatik von Thierrys neuer Geschichtsschreibung bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Praxis des Historikers. Zunächst hat sie methodische Konsequenzen: 1) Gegenstand des historischen Diskurses bleibt zwar die ‚historische Wahrheit‘ i.S. einer adäquaten Rekonstruktion der historischen Fakten, aber diese Rekonstruktion ist in ihrem Erkenntnisinteresse determiniert durch geschichtsphilosophische Prämissen, insofern sie die Erkenntnis derjenigen Kräfte bzw. Ideen voraussetzt, die den Geschichtsprozess bestimmen. Für Thierry ist dies in erster Linie das Moment der liberté, die nicht mehr als nur juristisches und konstitutionelles Konzept verstanden ist, sondern als eine vitale Energie, ein intuitiver Drang nach Unabhängigkeit, der in der Menschheitsgeschichte wirksam ist. 2) Objektivität meint einerseits einen ausgiebigen Rekurs auf Quellen, die die Narration möglichst umfassend dokumentierend begleiten. Objektivität ist aber andererseits gepaart mit einer politisch engagierten Zielsetzung und bewussten Parteinahme des Historikers für diejenige Klasse, die die Nation im eigentlichen Sinne konstituiert und ‚objektiv‘ den Gang der Geschichte bestimmt. 112 Darüber hinaus scheint die Objektivität des Historikers häufig auch in einem Verzicht auf explizit bewertende Kommentare zu bestehen, mit anderen Worten darin, dass er die erzählten Fakten ‚für sich sprechen lässt‘. Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts versteht demgegenüber Objektivität nie als einen Verzicht auf deutlich ausgesprochene Urteile, im Gegenteil: Objektivität erfordert zum einen eine rational-kritische Beurteilung des überlieferten Geschehens – v.a. im Hinblick auf das aktuell geltende Wirklichkeitsmodell, auf psychologische Plausibilität, auf logische Konsistenz usw. – und zum

111 So Genettes formelhafte Charakterisierung: „la mimésis se définissant par un maximum d’information et un minimum d’informateur“ (GENETTE 1972, S. 187). 112 Manzonis Roman stellt sich im Unterschied zu Thierrys Historiographie oder späteren historischen Romanen in Italien wie d’Azeglios Ettore Fieramosca sicher nicht in den Dienst nationaler Identitätsbildung, Thierrys Konzept eines permanenten Konflikts zwischen Eroberern und Besiegten spielt in Manzonis Geschichtskonzeption jedoch sicher eine nicht zu unterschätzende Rolle. S. dazu a. DE LOLLIS 1962. Parteinahme für diejenigen, die in der Vergangenheit weitgehend ohnmächtig dem historischen Geschehen ausgeliefert waren und es bis in seine aktuelle Gegenwart hinein sind, ist durchaus auch ein Anliegen von Manzonis historischem Roman.

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anderen Überparteilichkeit in der moralischen und politischen Bewertung des Handelns der historischen Personen. 113 Überprüfungsinstanz für die Plausibilität überlieferten Geschehens wird bei Thierry jedoch die eigene Erfahrung, die nun aber nicht mehr als empirische Basis eines universal-menschlichen bon sens fungiert, sondern als individuelle Erfahrung der eigenen historischen Wirklichkeit erst ein Verstehen der Vergangenheit ermöglicht, aus der die Gegenwart evolutionär entstanden ist. 114 Überprüfungsinstanz ist des Weiteren ein neues philologisches Bewusstsein und Wissen, welches das historisch Fremde nicht dadurch zu verstehen sucht, dass es dieses auf das eigene vertraute Wirklichkeitsmodell projiziert, sondern in seiner historischen Alterität belässt. Quellen werden daher oft erstaunlich wenig auf ihre Plausibilität und Verlässlichkeit hin befragt, dafür aber philologisch sorgfältig interpretiert, um gerade das Eigentümliche der fremden Kultur und Epoche zu verstehen. 3.2.2 Darstellungsverfahren Der romantischen Geschichtsschreibung geht es – so lässt sich rekapitulieren – im Unterschied zur Tradition 1) um die Rekonstruktion historischer Epochen in ihrer Partikularität und Individualität, 2) um die Möglichkeit identifikatorischen Nacherlebens von Geschichte, aber 3) auch um eine emotionale Identifikation mit den progressiven Kräften der Geschichte (dem instinktiv nach Freiheit strebenden ‚Volk‘, den Vertretern einer modernen Sensibilität etc.). Diese Ziele erfordern neue Darstellungsverfahren, die der Historiker weitgehend dem poetischen Diskurs entlehnt. Der intendierte Eindruck historischer Partikularität ergibt sich für Thierry bereits aus einer möglichst engen Anlehnung an die Sprache der historischen Quellen. Allein dies garantiert schon das, was die romantische Poetik als couleur locale bezeichnet hat. 115 Identifikation mit der Vergangenheit auf der anderen Seite 113 Zur kritischen Überprüfung der Quellen vgl. VOLTAIRE 1777–1779: „Il sera permis alors de douter de tous les événemens qui ne sont pas dans l’ordre ordinaire des choses humaines“ (S. 224); Kriterien für die Glaubwürdigkeit sind dabei v.a. die „loix de la nature“ und der „caractere du héros“ (ebd.). Zur moralischen und politischen Beurteilung s. D’ALEMBERT 1821: „L’homme de lettres sage et éclairé, en respectant, comme il le doit, ceux que leur puissance ou leur crédit met à portée de faire beaucoup de bien ou beaucoup de mal à leurs semblables, les juge et les apprécie dans le silence, sans fiel comme sans flatterie, tient, pour ainsi dire, registre de leurs vices et de leurs vertus, et conserve ce registre à la postérité, qui doit prononcer et faire justice“ (S. 4). 114 S. oben das Zitat aus dem Avertissement der Lettres. 115 Den Begriff ‚couleur locale‘ verwendet Thierry explizit in der Lettre III (THIERRY 1842, S. 42). Thierry vergleicht dort Vellys Histoire de France mit der Historia Francorum von Gregor von Tours (THIERRY 1842, S. 41–50). Vellys Tendenz zu anachronistischen Formulierungen („historien plaisant, galant, de bon ton“, dem es darum gehe, „d’étendre avec art le vernis des grâces modernes sur la rudesse du vieux temps“) stellt er als positiv Gregors „accent de naïveté grossière, indice de l’état de barbarie“ (ebd. S. 44) gegenüber. Auch in der

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verlangt eine ausgeprägt erzählende Geschichtsschreibung. Auch dafür liefern eher die Chroniken, die Thierry als Quellen benutzt, das Modell als die gängigen Geschichtswerke des Ancien Régime. 116 Der ‚literarischen‘ Geschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts mit ihren „narrations épiques“, „portraits“ und fiktiven „harangues“ mangelt es nach Thierry an wissenschaftlicher Exaktheit, weil sie auf die Originalquellen zurückgreift, und zudem verfälsche sie die dargestellte Epoche, indem sie sich einer anachronistisch modernen Ausdrucksweise bedient, die die Semantik der in den Quellen gebrauchten Begriffe nicht erfasst und somit das eigentliche Wesen der damit bezeichneten Institutionen usw. verkennt. Und diese Kritik trifft auch noch die eher literarischen Historiker des 18. Jahrhunderts wie Velly. 117 Die ,philosophische‘ Historiographie der Aufklärung hingegen biete kein kohärent nacherlebbares Bild der Epoche, insofern sie die Narration historischer Fakten zum einen von der erklärenden Behandlung ihrer „couleur“ und „physionomies individuelles“, 118 zum anderen von der erklärenden Analyse trennt: Je crois que l’histoire ne doit pas plus se servir de dissertations hors d’œuvre, pour peindre les différentes époques, que de portraits hors d’œuvre, pour représenter fidèlement les différents personnages. Les hommes et même les siècles passés doivent entrer en scène dans le récit: ils doivent s’y montrer, en quelque sorte tout vivants [...]. C’est une fausse méthode que celle qui tend à isoler les faits de ce qui constitue leur couleur et leur physionomie individuelles [...].119

Thierrys programmatisches Ziel ist also eine Geschichtsschreibung, die Narration der Ereignisse und peinture epochentypischer Sitten (Verhaltens- und Ausdrucksweisen, Einstellungen etc.) verbindet. Die sinngebende Interpretation der Geschichte – dies ist natürlich nicht erklärtes Programm, aber faktische Verfahrensweise – wird dabei vielfach in implizite Darstellungsverfahren wie z.B. die konnotative Dimension von Beschreibungen verlagert. Mit Ausnahme der Illustration epochentypischer Sitten mittels fiktiver Figuren und Ereignisse unterscheidet diese Art von Geschichtsvermittlung so gut wie nichts mehr von der poetischen Narration des historischen Romans.

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Lettre V lobt Thierry enthusiastisch an den alten Chroniken „[c]ette couleur locale et pittoresque qui nous les fait aimer aujourd’hui, cette richesse de détails, ces dialogues si vrais et si naïfs donts ils entrecoupent leurs récits“ (ebd. S. 71). Thierrys Lettres II–V sind der Auseinandersetzung mit der modernen Historiographie gewidmet. Am signifikantesten zeigt sich dies in Thierrys Kritik an falscher Begrifflichkeit in der traditionellen Historiographie sowie in seiner Problematisierung und Rehistorisierung von Konzepten wie ‚France‘ oder ‚roi de France‘ in der Lettre II (THIERRY 1842, S. 30–40). Die Kritik zielt offenbar auf die Einfügung von „lambeaux de dissertations sur les mœurs et l’esprit des Français“ (Lettre V, ebd. S. 77) in Vellys Histoire de France. Ebd. S. 78.

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3.2.3 Geschichtsschreibung als charakterisierende Skizze einer Epoche Thierrys Lettres VI–VIII sind offenbar bewusst gedacht als ein erstes paradigmatisches Beispiel der Praxis dieser neuen Geschichtsschreibung. Lettre VI ist einer allgemeinen Charakterisierung der Franken, Burgunder und Westgoten gewidmet, aus denen zusammen mit den galloromanischen Einwohnern die französische Nation hervorgegangen ist – oder genauer: diejenige Gesellschaft, die das heutige Territorium Frankreichs bevölkert. Das Modell einer solchen Geschichtskonzeption findet Thierry interessanterweise in Scotts Waverly und Ivanhoe: Sans doute il est impossible d’attribuer aux écrits de Walter Scott l’autorité d’ouvrages historiques; mais on ne peut refuser à leur auteur le mérite d’avoir mis, le premier, en scène les différentes races d’hommes dont la fusion graduelle a formé les grandes nations de l’Europe. 120

Diese Art von Geschichtsmodellierung ist jedoch nicht das einzige Moment, für das Scott das Vorbild liefert. Thierry orientiert sich ganz offensichtlich auch an Scotts typischer Art narrativer und deskriptiver Geschichtsvermittlung, die auf der Ebene des discours einen Bilderbogen mimetischer Szenen ausbreitet, in deren Aneinanderreihung die charakteristischen Züge der Epoche illustriert werden. Wie an anderer Stelle deutlich wird, bewundert Thierry Scotts Darstellungsverfahren in höchstem Maße und sieht die poetisch-fiktionale Geschichtsvermittlung des historischen Romans durchaus als der Historiographie ebenbürtig an, weil das neue Genre in idealer Weise emotionales Identifikationspotential mit historischer Exaktheit verknüpft: C’est qu’au milieu du monde qui n’est plus, Walter Scott a soin de placer le monde qui est, et qui sera toujours, c’est-à-dire l’humanité, dont il connaît tous les secrets. Tout ce qu’il y a de particulier au temps et aux lieux, l’extérieur des hommes, l’aspect du pays et des habitations, les costumes, les usages, sont décrits avec la vérité la plus exacte; et pourtant l’érudition immense qui a fourni tant de détails ne se laisse apercevoir nulle part. Walter Scott semble avoir pour le passé cette seconde vue que, dans les temps d’ignorance, certains hommes s’attribuent pour l’avenir. Dire qu’il y a plus de véritable histoire dans ses romans sur l’Écosse et sur l’Angleterre que dans les compilations philosophiquement fausses [...] c’est ne rien avancer d’étranger aux yeux de ceux qui ont lu et qui ont compris les Puritains, Waverley, Rob-Roy, l’Officier de Fortune et la Prison d’Edimbourg. 121

120 Ebd. S. 81. In einer Rezension zu Ivanhoe stellt Thierry auch Scotts Darstellung der Eroberung Englands der aufklärerischen Historiographie gegenüber: „Un homme de génie, Walter Scott, vient de présenter une vue réelle des ces évènemens si défigurés par la phraséologie moderne [...], c’est dans un roman qu’il a entrepris d’eclairer ce grand point d’histoire, et de présenter vivante et nue cette conquête normande, que les narrateurs philosophes du dernier siècle, plus faux que les chroniqueurs illéttrés du moyen âge, ont élégamment ensevelie sous les formules banales de succession, de gouvernement, de mesures d’état, de conspirations réprimées, de pouvoir, et de soumission sociale“ (zit. n. THIERRY 1835, S. 132). — Zum Einfluss Scotts auf die französische Historiographie der Romantik s. v.a. MASSMANN 1972, S. 81ff. 121 THIERRY 1835, S. 140.

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Lettre VII und VIII sind den Zuständen nach der Eroberung der ehemals gallischen Provinzen im 6. Jahrhundert gewidmet, die geprägt sind von politischer Unordnung und vom Konflikt zwischen galloromanischer Bevölkerung und Eroberern. 122 Der VIII. Brief greift zu diesem Zweck einzelne Episoden heraus, wobei Thierry ausschließlich der Historia Francorum des Gregor v. Tours folgt. Signifikant im Hinblick auf die neuen Erfordernisse einer patriotischen Geschichtsschreibung ist nun, dass Thierry seine Quelle nicht in der Art traditioneller Historiographie kritisch und resümierend auswertet, indem er Gregors durchaus literarisch gestaltete und mit fiktiven Elementen – wie mimetischen Details, fiktiven Dialogen usw. – durchsetzte Erzählungen auf die wesentlichen geschichtlichen Fakten reduziert. Er trifft lediglich eine Auswahl. Die Episoden, die ihm offenbar als besonders charakteristisch für die Epoche erscheinen, werden dann aber nicht nur in der gleichen Detailliertheit wie in der Quelle erzählt, sondern vielfach sogar noch mittels mimetischer Elemente amplifiziert, die für Anschaulichkeit und couleur locale sorgen. Der ideologische Sinn des Textes wird dabei nur indirekt greifbar. Die zwei in der Lettre VIII szenenhaft präsentierten Ereigniskomplexe werden nämlich so miteinander konfrontiert, dass sich eine emotionale Identifikation mit demjenigen Verhalten, das der von Thierry propagierten nationalen Identität entspricht, zwangsläufig einstellt, ohne dass dies bewusst reflektiert würde: Das positiv gezeichnete galloromanische ‚Bürgertum‘ lädt zur Identifikation ein, während die Franken als fremdartige Barbaren erscheinen. Thierry hatte in der Lettre VI den ‚Charakter‘ derjenigen Germanenstämme skizziert, die für die Entstehung der französischen Nation in unterschiedlicher Weise relevant sind. Der „caractère de barbarie“ der Franken 123 ergibt sich schon aus der philologischen Analyse der Bedeutung ihres Namens: ‚frank‘ bezeichne nämlich ursprünglich nicht die positiven Eigenschaften, die im Hochmittelalter mit dem Wort assoziiert werden, sondern „fier, intrépide, féroce“. 124 Sie sind kriegerisch, grausam, und – diesen Eindruck sucht Thierry an anderen Stellen zu vermitteln – heimtückisch und habgierig. Burgunder und Westgoten hingegen zeichnen sich schon früh durch Zivilisiertheit aus, die sich v.a. in einem ausgeprägten Rechtsempfinden gegenüber fremdem Eigentum und in Ansätzen zu einem demokratisch egalitären Bewusstsein manifestiert. Zudem sind die Burgunder weniger Krieger als „gens de métier“. 125 Damit konstituiert Thierry schon an dieser Stelle eine Differenzierung zwischen germanischen bzw. germanischsprachigen Franken 122 Verstehbar ist dieser Konflikt Thierry zufolge wiederum durch die Analogie zur aktuellen historischen Erfahrung der Unterdrückung der Griechen durch die Türken. 123 THIERRY 1842, S. 90. 124 Ebd. S. 85. 125 Ebd. S. 96. — „Ils [die Burgunder] gagnaient leur vie à ce travail [Handwerkstätigkeit] dans les intervalles de paix, et étaient ainsi étrangers à ce double orgueil du guerrier et du propriétaire oisif, qui nourrissait l’insolence des autres conquérants barbares. Impatronisés sur les domaines des propriétaires gaulois, ayant reçu ou pris à titre d’hospitalité les deux tiers des terres et le tiers des esclaves [...], ils se faisaient scrupules de rien usurper au delà. Ils ne regardaient point le Romain comme leur colon, comme leur lite, selon l’expression germanique, mais comme leur égal en droits dans l’enceinte de ce qui lui restait“ (Lettre VI, ebd. S. 96).

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und den Gallofranken Südfrankreichs, die Sprache und Sitten der galloromanischen Bevölkerung übernehmen und den eigentlichen Kern der französischen Nation und deren politisch-kultureller Identität bilden werden. Die erste der beiden Episoden im VIII. Brief illustriert nun die férocité der Franken am Beispiel eines „crime fameux dans notre histoire, mais dont le récit, vague et mal détaillé chez les écrivains modernes, a besoin [...] d’être restitué d’après les textes“. 126 Es geht um die Ermordung der Kinder Chlodomirs durch dessen Brüder, in der sich – gerade im Handeln gegenüber engsten Blutsverwandten – die barbarischen Charakterzüge der fränkischen Kriegerkaste offenbaren: skrupellose Habgier, Heimtücke und brutale Grausamkeit. Chlothilde, die Mutter Chlodomirs, begibt sich nach dessen Tod mit dessen unmündigen Söhnen nach Paris, um deren ältesten als Chlodomirs Nachfolger auf den Schild heben zu lassen. Chlodomirs Bruder Hildebert, der in Paris residiert, schlägt seinem Bruder Chlother vor, die Kinder zu töten und Chlodomirs Reich unter sich aufzuteilen. Après avoir conféré ensemble et pris leur partis, les rois députèrent vers Chlotilde un messager chargé de dire en leur nom ces paroles: „Envoie-nous les enfants pour que nous les élevions à la royauté.“ La reine, ne se doutant point qu’il y eût là-dessous quelque artifice, fut toute joyeuse; et après avoir donné aux trois enfants à boire et à manger, elle les fit partir en leur disant: „Je croirai n’avoir pas perdu mon fils, si je vous vois régner à sa place.“ Theodewald, Gonther et Chlodoald, le premier âgé de dix ans, et les deux autres, plus jeunes que lui, arrivèrent au palais de leur oncle, accompagnés de leurs gouverneurs qu’on appelait alors nourriciers, et de quelques esclaves. Ils furent aussitôt saisis et enlevés aux gens de leur suite qu’on enferma séparément. 127

Der Grad an Mimesis nimmt dann zum dramatischen Höhepunkt der Episode hin weiter zu: Alors le roi Hildebert, appelant son confident Arcadius, lui dit d’aller trouver la reine afin d’apprendre d’elle ce qu’on devait faire des enfants: et pour joindre à cette demande l’éloquence des signes, que les Barbares aimaient à employer, il lui ordonna de prendre avec lui une paire de ciseaux et une épée. Le Romain obéit; et dès qu’il fut en présence de la veuve de Chlodowig, il lui présenta les ciseaux et l’épée nue, en disant: „Très-glorieuse reine, nos seigneurs tes fils te font demander conseil sur ce qu’on doit faire de ces enfants: veux-tu qu’ils vivent, la chevelure coupée, ou veux-tu qu’ils soient égorgés?“ Stupéfiée de ces paroles et de l’envoi qui donnait au message quelque chose de plus sinistre, Chlothilde hors d’elle-même, sans trop savoir ce qu’elle disait, répondit: „Si l’on ne veut pas qu’ils deviennent rois, j’aime mieux les voir morts que tondus.“ […] Les deux rois entrèrent où les enfants étaient gardés, et aussitôt Chlother, saisissant l’aîné par le bras le jeta par terre et lui enfonça un couteau sous l’aisselle. Aux cris de douleur qu’il jetait, son frère Gonther courut à Hildebert, et s’attachant à lui de toutes ses forces: „Mon père, dit-il, bon père, viens à mon secours: fais que je ne sois pas tué comme mon frère.“ […] Il paraît qu’au moment où se terminait cette horrible scène, des seigneurs franks, suivis d’une troupe de braves, forcèrent les portes, et, sans tenir compte, comme il arrivait souvent, de ce que diraient ou feraient les rois, enlévèrent le plus jeune des enfants, Chlodoald, et le mirent en sûreté hors du palais. 128

126 Lettre VIII, ebd. S. 127f. 127 Ebd. S. 129. 128 Ebd. S. 129–131.

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Der Erzähler fügt dabei jedoch zum einen Erklärungen ein, die den exotischfremden Charakter einzelner Details unterstreichen, wie z.B. die symbolhafte Präsentation von Schere und Schwert, zum anderen imaginiert er auch fiktive Details, die sich so in der Quelle nicht finden, aber die mimetische Illusion unterstützen. Dafür nur zwei typische Beispiele: „At ille [Chlothacharius] convitiis actum ait: ‚Aut eiece eum a te [...]‘“ (III, 18) in Gregors Chronik 129 wird zu „Mais Chlother, saisi d’une espèce de rage à la vue du sang, accabla son frère d’injures: ‚Repousse-le loin de toi, cria-t-il [...]‘“ 130 , die schlichte Feststellung „Tertium vero Chlodovaldum conpraehendere non potuerunt, quia per auxilium virorum fortium liberatus est“ 131 wird am Ende des Textausschnitts sogar zu einer kurzen, aber lebhaft anschaulichen Szene ausgebaut. Eine derartig mimetische Darstellungsweise, die sich in nichts mehr von den Darstellungsverfahren des poetisch-fiktionalen Diskurses unterscheidet, ist in der Historiographie des 18. Jahrhunderts undenkbar. Dialoge werden beispielsweise bei Voltaire grundsätzlich in indirekter Rede oder im knappen Redebericht wiedergegeben, es sei denn, es handelt sich um einen Ausspruch, der die Person in ihrem Denken und Reden in besonderer Weise charakterisiert.132 Der Grausamkeit der barbarischen Franken, die sich gerade auch darin zeigt, dass sie sich durch keinerlei familiäre Bindungen oder flehentliche Bitten von ihrem Vorhaben abbringen lassen, ist im Folgenden eine Episode gegenübergestellt, in der Solidarität, Treue, aber auch mit Intelligenz gepaarter Mut als typische Charaktereigenschaften, Einstellungen und Handlungsweisen der Unterdrückten galloromanischer Herkunft in Erscheinung treten.133 Es geht dabei um die abenteuerliche Befreiung eines jungen Adeligen, eines Neffen des Bischofs von Langres, „[i]ssu d’une des premières familles sénatoriales de la Gaule“, der Sklave eines Franken geworden war. 134 Als ein Freikauf an den exorbitanten Forderungen des fränkischen Herren scheitert und dessen negative Antwort dem Bischof überbracht wird, reagiert dessen ganzer Hausstand – also keineswegs nur Blutsverwandte – mit tiefem Mitgefühl: „Les esclaves s’apitoyaient sur le sort du jeune homme. L’un d’eux, nommé Léon, qui avait l’office de cuisinier, dans un élan de dévouement, courut vers son maître“ 135 und bietet seinem Herrn an, die Befreiung seines Neffen zu versuchen. Die mimetische Narration dieser Befreiungsaktion braucht nicht nochmals aufgezeigt zu werden. Bemerkenswert ist nur, dass sich auch hier wieder Details finden, die in der Quelle nicht erwähnt sind, aber ähnlich 129 130 131 132

GREGOR V. TOURS 1951, S. 119. THIERRY 1842, S. 131. GREGOR V. TOURS 1951, S. 119. VOLTAIRE 1777–1779: „Si dans une occasion importante, un général d’armée, un homme d’état a parlé d’une maniere singulière & forte qui caractérise son génie & celui de son siecle, il faut sans-doute rapporter son discours mot pour mot; de telles harangues sont peut-être la partie de l’histoire la plus utile. Mais pourquoi faire dire à un homme ce qu’il n’a pas dit? [...] c’est une fiction imitée d’Homere. Mais ce qui est fiction dans un poëme, devient à la rigueur mensonge dans un historien“ (S. 225). 133 Vgl. THIERRY 1842, Lettre VIII, S. 132–140. 134 Ebd. S. 133. Quelle ist wiederum Gregor von Tours’ Historiae III, 15. 135 Ebd. S. 133.

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wie im historischen Roman eine gewisse couleur locale garantieren. So wird eine semantisch recht unbestimmte Referenz „cum potu“ 136 konkretisiert zu „portant une cruche de bierre ou d’hydromel“ 137 – das dem Leser wahrscheinlich unbekannte, aber leicht verständliche Lexem ‚hydromel‘ trägt dabei noch ein Übriges zum Exaktheitsanspruch der Darstellung, aber auch zur Exotik der historischen Sitten bei. Nachdem nun die Befreiungsaktion gelungen ist, erwartet den treuen Bediensteten der gerechte Lohn: „L’esclave, qui, à force d’adresse, de persévérance et de courage, était parvenu à délivrer son jeune maître, reçut en récompense la liberté dans les formes préscrites par la loi romaine“. 138 Der absoluten Willkür im Handeln der Franken steht hier also die Ordnung römischer Gesetzlichkeit gegenüber. Vor allem aber folgt auf den Akt sozialer Solidarität, die der Sklave bewiesen hat, dessen Freilassung als ein exemplarischer Akt, in dem sich in ganz elementarer Form schon in der Frühzeit der französischen Nation die Idee der Freiheit manifestiert, auf deren definitive Durchsetzung die Geschichte nach Thierry notwendig zuläuft. Man könnte die anhand von Thierrys Lettre VIII aufgezeigten Erzählverfahren für ein bloßes Oberflächenphänomen halten, nämlich für einen Rekurs auf Erzähltechniken des Romans, die sich naheliegenderweise aus der gemeinsamen Narrativitätsstruktur von poetisch-fiktionaler Narrativik und Historiographie ergeben. Dass die Verknüpfung der Diskurse in Thierrys Geschichtsschreibung tiefer geht und typische Formen poetischer Wirklichkeitsmodellierung einbezieht – genauso wie der historische Roman sich nicht auf die Nachahmung historiographischer Oberflächenstrukturen beschränkt –, möchte ich zum Abschluss noch anhand einer Episode der 1840 veröffentlichten Récits des temps mérovingiens illustrieren. 139 Die Darstellung der unglücklichen Ehe und des tragischen Todes Galeswinthes, einer Tochter des Westgotenkönigs, bedient sich nämlich recht offensichtlich typischer Sinnschemata der literarischen Romantik: Es ist die Geschichte einer Heldin, die in ihrer Reinheit und sublimen Größe an der grausam barbarischen Welt ihrer Zeit zugrunde geht. 140 Die semantische Grundstruktur dieses Konflikts ist wieder die Opposition zwischen der Zivilisiertheit und geradezu modern anmu-

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GREGOR V. TOURS 1951, S. 114. THIERRY 1842, Lettre VIII, S. 136. Lettre VIII, ebd. S. 140. Vgl. THIERRY 1840. Die Texte sind z.T. schon 1833 in der Revue des Deux Mondes erschienen. — Thierry dokumentiert in den Fußnoten penibel seine Quellen. Allerdings ist dabei bemerkenswert, dass Thierrys Erzählung auf einem sehr knappen Kapitel in den Historiae Gregors v. Tours basiert (IV, 28), das er erheblich amplifiziert und dabei zu wesentlichen Teilen auch auf eine Elegie des Venantius Fortunatus rekurriert (Carmina VI, 5). 140 Hier geht es nun nicht um irgendwelche allgemeinen Sinnschemata, auf die Literatur wie Historiographie gleichermaßen zurückgreifen müssen, um einem amorphen Geschehen Sinn zuzuordnen, und die H. White zu Unrecht als unzulässige ‚Literarisierung‘ von Geschichte durch literarisches ‚emplotment‘ kritisiert hat (s. WHITE 1973), sondern um enger gefasste Wirklichkeitsmodellierungen, die ihren ursprünglichen und primären Ort im Roman des 18. Jahrhunderts und der Romantik haben.

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tenden Sensibilität der Westgoten 141 und der barbarischen Lasterhaftigkeit und Grausamkeit der Franken, wie schon zu Beginn der Erzählung in der Charakterisierung Hilperiks deutlich wird: Au milieu de ses concubines et des femmes qu’il avait épousées à la manière des anciens chefs germains, sans beaucoup de cérémonie, il lui sembla qu’il menait une vie moins noble, moins royale que celle de son jeune frère. 142

Er bittet daher den König der Westgoten um die Hand seiner Tochter Galeswinthe. Doch diese Bitte stößt zunächst auf Bedenken: Le bruit des débauches du roi de Neustrie avait pénétré jusqu’en Espagne; les goths, plus civilisés que les franks, et surtout plus soumis à la discipline de l’évangile, disaient hautement que le roi Hilperik menait la vie d’un païen. De son côté, la fille aîné d’Athanaghild, naturellement timide et d’un caractère doux et triste, tremblait à l’idée d’aller si loin, et d’appartenir à un pareil homme. Sa mère Goïswinthe, qui l’aimait tendrement, partageait sa répugnance, ses craintes et ses pressentiments de malheur; le roi était indécis et différait de jour en jour sa réponse définitive. 143

Besonders die Frauengestalten scheinen nach romantischen Typen von Weiblichkeit entworfen. Sensibilität und zärtliche Liebe zur Tochter charakterisiert Galeswinthes Mutter beim Abschied: La reine exprima, en paroles douces, sa tristesse et ses craintes maternelles: „sois heureuse, dit-elle; mais j’ai peur pour toi; „prends garde, ma fille, prends bien garde...“. À ces mots, qui s’accordaient trop bien avec ses propres pressentiments, Galeswinthe pleura et répondit: „Dieu le veut, il faut que je me soumette“; et la triste séparation s’accomplit. […] Avant de monter sur le char qui devait la ramener en arrière, la reine des goths s’arrêta au bord de la route, et fixant ses yeux vers le chariot de sa fille, elle ne cessa de le regarder, debout et immobile, jusqu’à ce qu’il disparût dans l’éloignement et dans les détours du chemin. 144

Heimtücke und kalte Berechnung zeichnet hingegen Galeswinthes Rivalin Fredegonde, die ehemalige Mätresse des Königs Hilperik, aus: Il semblait qu’elle reconnût sincèrement que ce divorce était nécessaire, que le mariage d’une femme comme elle avec un roi ne pouvait être sérieux, et que son devoir était de céder la place à une reine vraiment digne de ce titre. […] Sous ce masque d’humilité, il y avait une profondeur d’astuce et d’ambition féminine, contre laquelle le roi de Neustrie ne se tint nullement en garde. 145

Die Heldin selbst ist charakterisiert durch noble Freundlichkeit, Zurückhaltung und Edelmut, wie der Schluss der Episode zeigt: 141 „[...] les Visigoths [...] joignaient à un égal esprit de justice plus d’intelligence et de goût pour la civilisation“ (Lettre VI, THIERRY 1842, S. 98). 142 THIERRY 1840, S. 341. 143 Ebd. S. 341. 144 Ebd. S. 349f. — Im Hinblick auf fiktionale Erzählverfahren ist hier neben der mimetischen Narration (v.a. auch von Dialogen in direkter Rede) v.a. die Verwendung interner Fokalisation auffällig. Zur Rolle solcher Verfahren als Fiktionalitätssignale vgl. HEMPFER 1990, S. 129f. Thierry rekurriert bei dieser mimetischen Amplifikation im Übrigen signifikanterweise, aber völlig bedenkenlos, auf den poetischen Text Fortunatus’. 145 Ebd. S. 352.

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Franz Penzenstadler Galeswinthe se fit remarquer, durant les fêtes de son mariage, par la bonté gracieuse qu’elle témoignait aux convives; elle les accueillait comme si elle les eût déjà connus; aux uns, elle offrait des présents, aux autres elle adressait des paroles douces et bienveillantes [...]. Les premiers mois de mariage furent, sinon heureux, du moins paisibles pour la nouvelle reine; douce et patiente, elle supportait avec résignation tout ce qu’il y avait de brusquerie sauvage dans le caractère de son mari. 146

Hilperik scheint zunächst seine Gattin – wenn auch aus selbstsüchtigen Motiven – zu lieben: Mais après s’être complu quelque temps dans le calcul de toutes ces richesses [der Mitgift], il cessa d’y trouver du plaisir, et dès-lors aucun attrait ne l’attacha plus à Galeswinthe. Ce qu’il y avait en elle de beauté morale, son peu d’orgueil, sa charité envers les pauvres, n’était pas de nature à le charmer; car il n’avait de sens et d’âme que pour la beauté corporelle. 147

So gewinnt Fredegonde wieder die Gunst des Königs. Galeswinthe ist bereit, als verstoßene Gattin in ihre Heimat zurückzukehren, doch ein solcher freiwilliger Verzicht auf Reichtum und ein derartiges „désintéressement par fiertè d’âme“ 148 bleiben Hilperik unverständlich. Und schließlich lässt Hilperik Galeswinthe heimtückisch töten: En la trouvant morte dans son lit, Hilperik joua la surprise et l’affliction, il fit même semblant de verser des larmes, et, quelques jours après, il épousa Fredegonde. Ainsi périt cette jeune femme qu’une sorte de révélation intérieure semblait avertir d’avance du sort qui lui était réservé, figure mélancolique et douce qui traversa la barbarie mérovingienne, comme une apparition d’un autre siècle. Malgré l’affaiblissement du sens moral au milieu de crimes et de malheurs sans nombre, il y eut des âmes profondément émues d’une infortune si peu méritée, et leurs sympathies prirent, selon l’esprit du temps, une couleur superstitieuse. On disait qu’une lampe de cristal, suspendue près du tombeau de Galeswinthe, le jour de ses funérailles, s’était détachée subitement sans que personne y portât la main, et qu’elle était tombée sur le pavé de marbre sans se briser et sans s’éteindre. On assurait, pour compléter le miracle, que les assistants avaient vu le marbre du pavé céder comme une matière molle, et la lampe s’y enfoncer à demi. De semblables récits peuvent nous faire sourire, nous qui les lisons dans de vieux livres, écrits pour des hommes d’un autre âge; mais, au VIe siècle, quand ces légendes passaient de bouche en bouche, comme l’expression vivante et poétique des sentiments et de la foi populaires, on devenait pensif, et l’on pleurait en les entendant raconter. 149

Gerade dieser Schluss verleiht der Erzählung eine deutlich poetische Note. Abgesehen von dem typisch romantischen Sinnschema, nach welchem das tragische 146 THIERRY 1840, S. 353–355. — Thierry profiliert hier deutlich diejenigen Züge, die die Heldin romantischen Vorbildern ähnlich machen. Vgl. dazu Thierrys Charakterisierung Rebeccas in Scotts Ivanhoe: „Rébecca est le type de cette grandeur morale qui se développe dans l’ame des faibles et des opprimés de ce monde, quand ils se sentent meilleurs que leur fortune, meilleurs que les heureux qui les écrasent. Tout ce qu’il y eut jamais de dignité calme dans l’ame d’un Caton ou d’un Sidney, se joint en elle à la modestie naïve, à la patience qui ne murmure jamais, à ce pouvoir si touchant de souffrir qui est l’attribut des femmes.“ Dieser „caractère si fort au-dessus de notre nature“ sei so überzeugend dargestellt, „que, quelque idéal qu’il soit, nous sommes entraînés à y croire, et que nous nous sentons grandir en y croyant“ (THIERRY 1835, S. 138f.). 147 Ebd. S. 355–356. 148 Ebd. S. 357. 149 Ebd. S. 357–358.

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Ende sich schon durch schicksalsschwangere Vorahnungen der Heldin ankündigt, 150 ist hier besonders bemerkenswert, wie Thierry mit der überlieferten Legende umgeht. Für einen Geschichtsschreiber wie Voltaire wäre Derartiges allenfalls als Indiz einer unaufgeklärten Epoche erwähnenswert. 151 Auch für Thierry ist sie natürlich nicht als historisches Faktum glaubwürdig, aber er distanziert sich auch nicht mit aufgeklärter Überheblichkeit. Dies hängt damit zusammen, dass für ihn historische Quellen einen anderen Status haben als für Voltaire. Sie überliefern nicht einfach historische Ereignisse, sondern sie sind – und hier zeigt sich wieder Thierrys philologisches Bewusstsein – Texte, die zum einen die spezifische Weltsicht einer historischen Epoche dokumentieren und zum anderen zu begreifen sind als poetische Texte, die nicht einem historiographischen Wahrheitskonzept verpflichtet sind. Die poetische Wahrheit, die ein solcher Text vermittelt, scheint Thierry aber durchaus zu akzeptieren. Auch wenn er nämlich den poetischen Sinn der Legende nicht explizit ausformuliert, so ist ein solcher dennoch suggeriert und als tieferer Sinn der gesamten Episode insinuiert: Die moralische Reinheit der edlen Heldin bleibt auch im Tode unzerstörbar. Diese Art von Sinngebung – durch symbolische Überhöhung von einzelnen Ereignissen und Modellierung des Geschehens mittels literarischer Sinnschemata – macht also deutlich, dass nicht nur der poetische Diskurs im neuen Genre des historischen Romans eine adäquate Rekonstruktion der wahren historischen Gegebenheiten beansprucht, sondern auch umgekehrt der historische Diskurs der Romantik typische Elemente des poetischen Diskurses in sein Erzählen integriert und Geschichte nicht nur wissenschaftlich-rational zu erklären sucht, sondern immer wieder auch eine poetische Deutung der Welt intendiert.

150 Vgl. auch die oben zitierten Stellen (THIERRY 1840, S. 341 und S. 350). — Genau so kündigt sich in Vignys historischem Roman Cinq-Mars der tragische Tod des Helden bereits im ersten Kapitel an, als bei der Abreise vom Familiensitz Cinq-Mars’ Pferd strauchelt. 151 Essentielles Ziel aller aufklärerischen Historiographie ist eine kritische Prüfung der historischen Überlieferung durch eine Abtrennung des fabuleux von der historischen Wahrheit bzw. probabilité. Vgl. dazu VOLTAIRE 1777–1779, v.a. S. 221f. — Zu Wundern und Aberglauben s. auch VOLTAIRE 1963, S. 114–119 und S. 165–170.

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Randstände der Fiktion Leerstellen, Sammlungsbildung und die Suggestion einer Autobiographie HENNING HUFNAGEL Auf den folgenden Seiten möchte ich – in einem Problemaufriss und ersten, verschiedene Überlegungsansätze erwägenden Versuch – Formen und Effekte von Reihen- und Sammlungsbildung untersuchen, vor allem den Bedeutungszuwachs, den Einzeltexte dabei offensichtlich erfahren: Texte, die in sich geschlossen sind und für sich verstanden werden können, werden durch Zusammenstellung mit anderen in eine größere Struktur überführt und scheinen sich mitunter bereits durch die bloße Gegenüberstellung mit Komplexität anzureichern. Um es mit einem Bild zu umschreiben: Es geht nicht um die einzelnen Schachfiguren, sondern um die Stellung, die alle Figuren zusammen bilden und die der Kenner als ein Gambit oder diese oder jene Verteidigung erkennt und aus der er Schlussfolgerungen über den weiteren Verlauf der Partie ziehen kann. Ausgeschlossen aus meiner Betrachtung sollen Sammlungen sein, in denen die Kollokation der Einzeltexte begründend ausformuliert ist, zum Beispiel in Gestalt eines narrativen Rahmens, wie in Novellensammlungen in der Art des Decameron. Ich will den Fall in den Blick nehmen, in dem diese ‚Ausformulierung‘ den Einzeltexten selber zukommt. Besonders deutlich wird der Unterschied, wenn man Dantes Vita nuova und Petrarcas Canzoniere einander gegenüberstellt. So schreibt Andreas Kablitz: „In der Ausgrenzung des Prosatextes [in Petrarcas Canzoniere], der in Dantes Vita Nuova das narrative Substrat recht eigentlich konstituiert, fällt die Konstruktion einer den Einzeltext übergreifenden ‚Geschichte‘ nun allein dem lyrischen Diskurs zu.“ 1 Unmittelbarer Effekt dieses ‚Weglassens‘ der Prosa scheint eine größere interpretatorische Offenheit zu sein, wie sie etwa Teodolinda Barolini ausmacht: „Petrarch removes the connecting prose passages, and leaves his poems unglossed except by each other, open to interpretations that are limited by nothing but the order in which the poems are arranged.“ 2 Wie wäre eine solche Struktur nun zu beschreiben? Wie wird aus einer Anzahl von Einzeltexten ein ‚Buch‘? Was geschieht in der ‚Lücke‘ zwischen den einzelnen Texten? Inwiefern ließe sich die Verknüpfung durch Nebeneinanderstellung etwa als eine narrative auffassen? Um mich an diese Fragen heranzutasten, werde ich eine kleine Typologie des ‚Umgangs mit der Lücke‘ entwerfen, ausgehend von Lücken innerhalb von Texten. Ich werde eine Reihe von Analyseinstrumenten skizzieren und diese in einem letzten Teil des Aufsatzes dann an ein Fallbeispiel anlegen. Anhand Maurice 1 2

KABLITZ 1988, S. 59. BAROLINI 1989, S. 5.

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Barrès’ Amori et dolori sacrum werde ich Effekte der Kontextualisierung heterogener Texte untersuchen und zeigen, wie die Sammlungsbildung einem selffashioning des Autors dienen kann, indem sie die Stationen einer Autobiographie suggeriert. 1. Lücken im Text Das, was ihm an Flauberts Éducation sentimentale am besten gefalle, hat Marcel Proust geschrieben, sei nicht diese oder jene Wendung, nicht dieser oder jener Satz, sondern eine Lücke, eine Leerstelle, ein blanc. So berichte Flaubert gegen Ende des Romans in allen Details, wie sich Frédéric Moreau durch die Straßen des revolutionären Paris von 1848 bewege. In der Nähe der Oper haben sich Menschen versammelt. Dragoner galoppieren durch die Straßen, von Gendarmen gefolgt, und gemeinsam jagen sie die Leute auseinander. Ein einziger Mann bleibt stehen und stellt sich ihnen entgegen, ein Gendarm kommt heran, droht ihm mit dem Säbel, und als der Mann einen Hochruf auf die Republik ausbringt, tötet er ihn. Die Menge schreit. Der Gendarm dreht sich um: „et Frédéric, béant, reconnut Sénécal“. 3 „Ici un ‚blanc‘, un énorme ‚blanc‘“, kommentiert Proust, „et, sans l’ombre d’une transition, soudain la mesure du temps devenant au lieu de quarts d’heure, des années, des décades“. 4 Denn das Kapitel endet abrupt in diesem dramatischen Moment – um mit dem Beginn des nächsten zwanzig Jahre im Leben Frédéric Moreaus zu überspringen: […] et Frédéric, béant, reconnut Sénécal. VI Il voyagea. Il connut la mélancolie des paquebots, les froids réveils sous la tente, l’étourdissement des paysages et des ruines, l’amertume des sympathies interrompues. Il revint. 5

In einem blanc, einem ‚Durchschuss‘, wie die deutsche Übersetzung des typographischen Fachausdrucks lautet, den Proust hier verwendet, ist ein ganzer Verlaufsabschnitt der Geschichte Frédéric Moreaus nicht ausgelassen, aber doch ‚weißgelassen‘; nicht erzählt, aber suggeriert. 6 „You can’t put the whole of a character into a book“, 7 hat der englische Romancier Arnold Bennett geschrieben; blancs, wenn auch nicht unbedingt solch 3 4 5 6

7

FLAUBERT 1997, S. 450. PROUST 1971, S. 595. FLAUBERT 1997, S. 450. Gérard Genette hat solche blancs als ‚Ellipsen‘ theoretisiert, als eine Kategorie des Erzähltempos (vgl. GENETTE 1983). Mir geht es hier allerdings weniger um das Wie einer größeren oder geringeren Erzählgeschwindigkeit durch die Auslassung bestimmter Ereignisse, sondern das Was jener Ereignisse, die nicht formuliert werden und doch auf die eine oder andere Weise ‚da‘ zu sein scheinen. Zit. n. ISER 1994, S. 281.

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spektakuläre wie der zitierte aus der Éducation, finden sich durchaus häufig in narrativen Texten. 8 Roman Ingarden hat an ihnen sein Konzept der Unbestimmtheitsstelle entwickelt: 8

Insbesondere Flaubert scheint sich des blanc systematisch zu bedienen, indessen weniger, um das ‚erzählte Leben‘ seiner Figuren auf bestimmte markante Episoden zu beschränken, als vor allem, um die Erzählerstimme jeglichen direkten Kommentars ihrer Motivationen zu entkleiden. Es ist also Mittel zur ‚impassibilité‘. So charakterisiert z.B. Juliette Frølich Flauberts Prosa anhand der Trois contes als „prose austèrement scandée par l’alinéa et le silence des ‚blancs‘“ (FRØLICH 2002, S. 360) und weist mit einem eleganten Wortspiel die Erzählerstimme als „narrateur à la voix ‚blanche‘“ (ebd. S. 361) aus. Wie sie an der Neuauflage der Éducation sentimentale von 1880 nachgerechnet hat, sind von den 495 Varianten gegenüber der Vorgängerausgabe nicht weniger als 420 „des suppressions, dont le plus grand nombre sont des suppressions de conjonctions à valeur de connecteur: mais, cependant, alors…“ (ebd. S. 360) – die dann durch blancs ersetzt werden. Prousts Hochschätzung der Stelle aus der Éducation erklärt sich – nach Prousts eigenem Bekunden – nicht zuletzt dadurch, dass er in ihr „l’aboutissement de modestes recherches que j’ai faites“ wiederfindet: Flaubert gebe so „avec maîtrise l’impression du Temps“ (PROUST 1971, S. 595) wieder – „im punktuellen Überspringen vieler Jahre [werde] das unaufhaltsame Verfließen der Zeit zum Ausdruck“ gebracht (KÖHLER/CORBINEAU-HOFFMANN 1994, S. 66). Damit beschreibt Proust indessen eher sein eigenes Vorgehen. Wie Erich Köhler und Angelika Corbineau-Hoffmann betonen, erhält der blanc bei Proust nämlich die zusätzliche Funktion, „die Diskontinuität der ‚inneren‘ Zeit ins Bewußtsein zu heben“. So bleiben ganze „Lebensepochen […] ‚weiß‘, sind ‚Durchschüsse‘ im Buch der Erinnerung“, z.B. altert der Protagonist zwischen La fugitive und Le temps retrouvé um sechzehn Jahre, ohne dass man über diesen Zeitabschnitt viel mehr erführe, als dass der Protagonist den größten Teil davon in diversen Heilanstalten verbracht hat. Häufig fallen in blancs sogar „Höhepunkte der Ereignishandlung, die somit als für die innere Zeit an sich nichtig erscheinen, wie etwa der erste Kuß zwischen Swann und Odette. Im blanc des Handlungsablaufs versinken psychologisch und kompositorisch die irrelevanten Abschnitte der Zeit, die nicht ‚innerlich‘ gewordenen Zeiteinheiten“ (KÖHLER/CORBINEAU-HOFFMANN 1994, S. 66). Komisch funktionalisiert ist der blanc im Sinne einer Geschichte ‚hors texte‘ bspw. in Evelyn Waughs der Farce angenähertem Roman Decline and Fall (1928). Darin manövriert sich eine Figur, Captain Grimes, immer wieder in aussichtslose Situationen hinein – vor ein Erschießungskommando, den sicheren Tod durch Ertrinken oder eine unmögliche Flucht aus einem Gefängnis im schottischen Hochmoor –, verschwindet dann aus dem Romangeschehen, nur um etliche Seiten weiter, an völlig unerwarteter Stelle wieder darin einzutreten, ganz als sei das die natürlichste Sache der Welt. Wie ihm das Entkommen gelingt, wird denn auch nicht thematisiert, sondern bleibt ganz der Imagination des Lesers vorbehalten. Dieses plötzliche Wiederauftreten aus dem blanc treibt Waugh schließlich nach Grimes’ letztem Verschwinden auf eine (selbstreflexive) Spitze, indem er sein Porträt Grimes’ in eine Parodie von Walter Paters berühmter Beschreibung der Mona Lisa in The Renaissance. Studies in Art and Poetry (1873) münden lässt: Ist Paters Mona Lisa eine vampirische Wiedergängerin durch die Jahrhunderte, so hat auch Grimes viele Gestalten angenommen: „Surely he had […] played on the reeds of myth by forgotten streams, and taught the childish satyrs the art of love? […] Had he not, like some grease-caked Channel-swimmer, breasted the waves of the Deluge? Had he not moved unseen when the darkness covered the waters?“ (WAUGH 2003, S. 199). Freilich findet sich ein solches ‚hors texte‘ nicht nur in narrativen Texten; ein anderes, weites Feld öffnet sich, wenn man dramatische Texte betrachtet, in Gestalt des Geschehens ‚hinter der Bühne‘, das mitunter, aber nicht immer über Teichoskopie und Botenbericht an die eigentliche Handlung angebunden ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Marivaux’ La surprise de l’amour gibt es drei Paare, die Bauern Pierre und Jacqueline, die Diener Arlequin und

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Henning Hufnagel Gewöhnlich gelangen ganze Zeitbereiche des Lebens der dargestellten Menschen zu keiner expliciten Darstellung, so daß die sich wandelnden Eigenschaften dieser Menschen unbestimmt bleiben. Auf Grund von Andeutungen im Text weiß man lediglich, daß die betreffende Person in dieser Zeit existierte, was sie aber in dieser Zeit tat und erlebte, darüber schweigt der Text. 9

Streng genommen ‚tut‘ und ‚erlebt‘ die Person, von der Ingarden spricht, freilich nichts, ja ‚existiert‘ nicht einmal, insofern sie als Figur eines fiktionalen Texts, als être de papier, 10 nur in dessen Zeilen existiert. Die Formulierung Ingardens erklärt sich jedoch, wenn man bedenkt, dass sich fiktionale Texte, wie Klaus W. Hempfer herausgearbeitet hat, gerade durch einen pseudoreferentiellen Charakter auszeichnen, dem gemäß ein fiktionaler Text „über eine Welt, die er allererst konstituiert, redet, als gäbe es sie schon“. 11 Der Text suggeriert also Zusammenhang, Kohärenz und Kontinuität der histoire, die er im Text, auf der Ebene des discours, nicht leistet, sondern die vielmehr erst der Leser erbringt. So schreibt Ingarden: Wir gehen somit bei der Lektüre in verschiedenen Punkten über den Text hinaus, ohne uns deutlich Rechenschaft davon zu geben. Wir tun es zum Teil unter der – wenn man so sagen darf – suggestiven Wirkung des Textes. 12

Wolfgang Iser geht sogar noch weiter, indem er deutlicher auf die mitschöpferische Rolle des Lesers abhebt: [Leerstellen] obliegt es […], die Interaktion zwischen Text und Leser in Gang zu bringen, einen Kommunikationsprozeß entstehen zu lassen, an dessen Ende ein vom Leser konstituierter Sinn erscheint, der schwer referentialisierbar ist […]. 13

Derartige Lücken, 14 so Iser, täten sich dort auf, „wo Textsegmente unvermittelt aneinander stoßen“, 15 offenbar insbesondere an den Kapitelenden und -anfängen,

9 10 11 12 13

Colombine und als Vertreter des Adels Lélio und eine Comtesse. Diese Reihung folgt nicht nur der sozialen Hierarchie von unten nach oben; sie spiegelt auch die wachsenden Schwierigkeiten wider, welche die Protagonisten damit haben, sich ihre Liebe zu gestehen, so dass im Laufe der Komödie nur eines der drei Paare – das Bauernpaar – sich verlieben, sich trennen und vor Ende der Komödie sogar wieder versöhnen kann. Bis auf das Liebesgeständnis geht dies alles ‚hors texte‘ vor sich – indem der jeweilige Stand der Dinge ihrer Beziehung jedoch immer wieder auf die Bühne gebracht wird und so die unterschiedlichen Geschwindigkeiten deutlich werden, schlägt Marivaux komische Funken aus dieser ‚lückenhaften‘ Konstruktion (vgl. MARIVAUX 1968, S. 188, 216f., 233). Ein weiteres, noch einmal anders gelagertes Beispiel, in dem der blanc nun die besondere Situation des Stücks überhaupt erst konstituiert, wäre Jean Cocteaus La voix humaine (1930) – ein Einpersonenstück, in dem die Protagonistin auf der Bühne mit ihrem Geliebten telefoniert, der Zuschauer aber nur ihre Rede hört, während die Aussagen des Geliebten im blanc verbleiben. INGARDEN 1975, S. 44f. Vgl. KABLITZ 2003, S. 259. HEMPFER 1990, S. 132. INGARDEN 1975, S. 46. ISER 1994, S. 264. Pointiert formuliert, ließe sich sogar von der Geburt der Rezeptionsästhetik aus dem Geist des blanc sprechen.

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wie im Falle der Éducation; diese seien gleichsam „die ‚Gelenke des Textes‘ […]. Indem die Leerstellen eine ausgesparte Beziehung anzeigen, geben sie die Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellungsakte des Lesers frei“. 16 Iser versucht das Funktionieren der Leerstellen genauer zu fassen: [Leerstellen] stimulieren den Leser zu einer projektiven Besetzung des Ausgesparten. Sie ziehen den Rezipienten in das Geschehen hinein und veranlassen ihn, sich das Nicht-Gesagte als das Gemeinte vorzustellen. Daraus entspringt ein dynamischer Vorgang, denn das Gesagte scheint erst dann wirklich zu sprechen, wenn es auf das verweist, was es verschweigt. Da aber das Verschwiegene die Implikation des Gesagten ist, gewinnt es dadurch seine Kontur. Gelingt es, das Verschwiegene in der Vorstellung zu verlebendigen, dann bringt es das Gesagte vor einen Hintergrund, der es nun […] ungleich bedeutsamer erscheinen lässt, als es das im Gesagten Bezeichnete vermuten ließe. 17

In dieser Offenheit ließe sich das Konzept der Leerstelle indessen mühelos auf größere Einheiten als Einzeltexte übertragen und könnte dann dazu dienen, das Zusammenspiel von Texten innerhalb von Textsammlungen zu beschreiben. 2. Montage In dieselbe Richtung lässt sich Isers Bemerkung lesen, man müsse davon ausgehen, „daß die Segmente eines fiktionalen Textes ihre jeweilige Bestimmung nicht in sich selber tragen, sondern diese erst in Beziehung zu anderen Segmenten gewinnen“. 18 Iser hält dies für ein „allgemeines Charakteristikum für alle künstlerische[n] Medien“ und verweist in diesem Zusammenhang auf den Film. Iser zitiert den ungarischen Filmtheoretiker Béla Balázs, dem zufolge die Bedeutung des Bildes in einer Bildsequenz „letzten Endes von der Position des Bildes zwischen den anderen Bildern entschieden“ werde. 19 Auch wenn es durchaus schwierig werden dürfte, eine medienübergreifende und doch einheitliche Definition des ‚Segments‘ zu entwerfen – im Fall des durch Simultaneitätsrelationen konstituierten Gemäldes bzw. Bildes müsste das Segment auf einer ganz anderen Ebene als im durch Sukzessivität gekennzeichneten Film oder Text angesetzt werden –, öffnet Iser 14 Für unseren Zusammenhang zwar kaum von Belang, soll doch nicht unterschlagen werden, dass sich Ingardens ‚Unbestimmtheitsstelle’ und Isers ‚Leerstelle’ durchaus voneinander unterscheiden; Iser hebt im Gegensatz zu Ingarden explizit auf die „Interaktion von Text und Leser“ ab (ebd. S. 279): „Leerstellen […] bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten [so wie das die Unbestimmtheitsstellen tun] als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an“ (ebd. S. 284). Zu Isers Kritik an der Ambiguität, mit der Ingarden den Begriff der Unbestimmtheitsstelle handhabe, nach der diese manchmal konkretisiert werden sollen, manchmal aber auch nicht, vgl. ebd. S. 274. 15 Ebd. S. 302. 16 Ebd. S. 284. 17 Ebd. S. 265. 18 Ebd. S. 302. 19 Béla Balázs, Der Geist des Films, Halle 1930, S. 46, zit. n. Iser 1994, S. 302.

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doch eine weitere Piste, Effekte von Sammlungsbildung zu verstehen, nämlich in Analogie zur Montage im Film. Die Montage konstituiert, wie Gilles Deleuze geschrieben hat, erst das ‚Ganze‘ des Films, das mehr, nämlich etwas qualitativ Anderes ist als die Summe seiner Einzelbilder. Dieses Mehr weist Deleuze als die „Organisation eines indirekten Bildes der Zeit“ 20 aus, wobei ‚Zeit‘ offenbar mehr als bloße Sukzessivität beinhalten soll: Die Zeit erfährt notwendigerweise eine indirekte Repräsentation, da sie sich aus der Montage ergibt, die ein Bewegungs-Bild mit einem anderen verbindet. Aus diesem Grund kann die Verbindung keine bloße Aneinanderreihung sein: das Ganze ist ebenso wenig eine Addition wie die Zeit eine Sukzession von Gegenwarten. Eisenstein hat unermüdlich darauf hingewiesen, daß die Montage Sprünge, Konflikte, Auflösungen und Resonanzen verwenden, kurz: selektiv und koordinierend vorgehen müsse, um der Zeit ihre wirkliche Dimension und dem Ganzen seine Konsistenz zu geben. 21

Die klassische Definition von Sergej Eisenstein, auf die Deleuze hier anspielt, beschreibt die Effekte der Montage in Anlehnung an Bedeutungskonstitution bei ideographischen Schriftzeichen – durchaus mit expressionistischem Pathos: Montage [ist] nicht ein aus aufeinanderfolgenden Stücken zusammengesetzter Gedanke, sondern ein Gedanke, der im Zusammenprall zweier voneinander unabhängiger Stücke ENTSTEHT […]. Wie in der japanischen Hieroglyphik, wo zwei selbständige ideographische Zeichen (‚Bildausschnitte‘) nebeneinandergestellt zu einem Begriff explodieren. 22

Zwei Zeichen, die auch für sich zu verstehen sind und eine je eigene Bedeutung tragen, erzeugen durch Kombination eine neue, andere, dritte Bedeutung. Eisensteins Kollege Lew W. Kuleschow vollzog diese Definition experimentell nach, indem er einem Probepublikum den Schnittwechsel vom Gesicht eines jungen Mannes auf verschiedene andere Bilder vorführte – einen Teller Suppe, eine Frau in einem Sarg, ein kleines Mädchen –, und die Zuschauer dem Gesicht des Mannes jeweils unterschiedliche Emotionen zuschrieben, ja, sogar die Ausdrucksfähigkeit des Schauspielers hervorhoben. Indessen handelte es sich um den identischen Gesichtsausdruck. 23 Überträgt man diese Überlegungen nun wieder auf die Koppelung von Texten, dann wäre mutatis mutandis das Zusammenspiel der Texte innerhalb einer Sammlung weniger als Aktualisierung eines ‚virtuellen Textes‘ durch den Leser zu verstehen – der aus Gründen der Komposition und des Platzes weggelassen worden ist, wie etwa die von Ingarden als Beispiel für eine Unbestimmtheitsstelle angeführte nichtgenannte Augenfarbe des Konsul Buddenbrook 24 –, ja, es wäre nicht einmal von Merkmalen der Einzeltexte abhängig – in Kuleschows Experiment drückte dasselbe Gesicht plötzlich je verschiedene Emotionen aus. Vielmehr wäre dieses Zusammenspiel – man denke an Eisensteins ‚Explodieren‘ der neuen 20 21 22 23 24

DELEUZE 1989, S. 50. DELEUZE 1991, S. 53. EISENSTEIN 1998, S. 280; alle Hervorhebungen stammen von Eisenstein selbst. Vgl. LAMPE 2002, S. 267. Vgl. INGARDEN 1975, S. 44.

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Bedeutung zurück – als performative Relation zu verstehen. Eine solche Theoretisierung trüge wohl auch besser der möglichen semantischen Offenheit von Sammlungen Rechnung, insofern ihr semantisches Surplus dann auch explizit als nichtpropositional ausgewiesen würde, als vom Autor nicht diskursiv produziert und so seiner Kontrolle tendenziell entzogen. Vielmehr wäre davon auszugehen, dass dieses Surplus im Leseprozess ‚aufschiene‘, sich ‚zeigte‘, um erst noch diskursiviert, in Propositionen umgewandelt zu werden. So ließe sich dieses Surplus wohl zuletzt auch als emergent charakterisieren – als nicht direkt aus den Eigenschaften der Einzeltexte ableitbar. 25 Hingegen gibt es bereits Ansätze, die die Eigenschaften von Textsammlungen aus den Eigenschaften ihrer Einzeltexte konstruieren. Sie sollen im nächsten Abschnitt betrachtet werden. 3. ‚Kontextur‘, Makrotext und narratives Substrat Textsammlungen und -zyklen sind überaus vielgestaltig. Gedichte können ebenso wie Prosastücke, fiktionale ebenso wie faktuale Texte, kurze, etwa Aphorismen, ebenso wie umfangreiche, z.B. ganze Erzählungen oder gar Romane, in Sammlungen organisiert sein, und diese Sammlungen zeichnen sich durch höhere oder geringere Geschlossenheit aus. Beispiele reichen von der Bibel, die nicht nur inhaltlich, sondern auch generisch äußerst heterogene Texte in sich vereint (u.a. historische Darstellungen, die sich streckenweise einer Chronik annähern, Gesetzestexte, erotische Dichtung und moraltheologische Episteln), reichen über die Essais Montaignes bis hin zu Petrarcas Canzoniere oder Baudelaires Fleurs du Mal oder, wenn man über die materielle Grenze zweier Buchdeckel hinausgeht, hin zu Romanzyklen wie Balzacs Comédie humaine oder Zolas zwanzigbändigen Rougon-Macquart. Serienbildung vorrangig durch die Identität des Protagonisten findet sich darüber hinaus insbesondere bei Kriminalromanen; vor allem in jüngerer Zeit haben Autoren von Dorothy Sayers bis Henning Mankell ihren ermittelnden Kommissar von Band zu Band Substanz gewinnen lassen, seinen Charakter mit immer mehr Zügen ausgestattet, ihm ein Herkommen und eine Vergangenheit gegeben und ihn altern lassen, bis zur Pensionierung. Neben solchen literarischen Beispielen ist aber auch an wissenschaftliche Textsammlungen zu denken, in denen ein Themenfeld durch die Facetten der Einzelbeiträge kartiert und (idealiter) in seiner Gesamtheit fassbar wird, ohne dass es einer strengen Systematik bedürfte: in Sammelbänden wie etwa dem hier vorliegenden. 25 Der Begriff stammt aus der System- und Selbstorganisationstheorie und beschreibt das Auftreten qualitativ neuer Eigenschaften in komplexen Systemen. Er fokussiert auf das Verhältnis zwischen Makro- und Mikroebene, zwischen dem System als Ganzem und den einzelnen Bestandteilen dieses Systems. Danach ist eine Systemeigenschaft emergent, wenn sie sich nicht auf die Eigenschaften der Systembestandteile zurückführen lässt, sondern einen qualitativen ‚Sprung‘ darstellt. In diesem Sinne emergent ist z.B. das menschliche Bewusstsein, das sich nicht aus den materialen Eigenschaften der einzelnen Hirnzellen ableiten lässt (vgl. MARKL 2000 für eine konzise Einführung in die Thematik sowie STEPHAN 2000 für einem Überblick über verschiedene Spielarten des Begriffs).

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Wenn die literaturwissenschaftliche Forschung Effekte von Sammlungsbildung bisher theoretisch in den Blick genommen hat, dann nahezu ausschließlich anhand von Gedichtsammlungen, und dabei am intensivsten in den Untersuchungen zur Canzoniere-Form bzw. zu Petrarcas Canzoniere selbst. Bevor ich diese umfangreichen und differenzierten Forschungen betrachte, will ich in meine Überlegungen noch einen Ansatz einbeziehen, der durchaus transhistorisch den Bedeutungszuwachs von Einzeltexten innerhalb einer Gedichtsammlung zu fassen versucht. So schreibt Neil Fraistat: Studied within the context of their original volumes, poems reveal a fuller textuality, which is to say, an intertextuality. Perhaps no single word adequately conveys the special qualities of the poetic collection as an organized book: the contextuality provided for each poem by the larger frame within which it is placed, the intertextuality among poems so placed, and the resultant texture of resonance and meanings. 26

Für ein solches bedeutungsgenerierendes Gefüge schlägt er den Terminus „contexture“ vor und nennt Modalitäten der Dichte einer solchen ‚Kontextur‘: Perhaps the strongest formal unity is achieved in a contexture when the poems are organized so that each ‚follows‘ logically or temporally from the other: presenting a narrative, advancing an argument, or appearing in some pattern of serial arrangement (for example, calendrical, liturgical, numerological). 27

Narration, Argumentbildung und serielle Aufeinanderfolge, die Fraistat hier anführt, sind durchaus verschiedene Dinge, doch beschränkt er seine Aufmerksamkeit auf die Narration, die er versucht, ‚minimal‘ zu definieren: „Purposeful thematic iteration among the poems is in itself enough to establish an overall narrative pattern“. 28 Fraistats Kollege Earl Miner geht daran, ein solches „plotless narrative“ genauer zu bestimmen. Insbesondere versucht er, Handlung und zuletzt auch Handlungsträger aus der Definition des Narrativen zu entfernen, 29 indem er „sequentiality and continuousness“ als Grundbedingungen von „narrative“ ausmacht. Doch scheitert er letztlich an seiner Definition. Denn mit den Kriterien unspezifizierter bloßer Aufeinanderfolge und Stetigkeit lässt sich Narration beispielsweise nicht mehr von Argumentation unterscheiden, und Miner werden un-

26 FRAISTAT 1986, S. 3. Fraistat unterstreicht seinen überhistorischen Zugriff, indem er seinen zeitlichen Horizont bis in die Antike aufspannt: „Centuries bevor Petrarch and Dante, Horace – and his predecessor Catullus – had shown how a recognizable narrative of love could emerge from a collection of discrete lyrics arranged in temporal sequence.“ Doch mit Dantes Vita nova erreiche man ein neues „poetic aggregate“ (ebd. S. 5). 27 Ebd. S. 6. 28 Ebd. S. 7. 29 Vgl. MINER 1986, S. 25: „We may take its [narrative’s] minimal criteria to be continuance and development of characters in temporalities, locations, and relations with a logical system of causation.“ Indessen kann man sich fragen, ob dies nicht eine, wenn auch schwammige, Definition von ‚Plot‘ darstellt – im Sinne einer einem Handlungsträger zuzuordnenden Ereignisfolge mit einer bestimmten zeitlichen Strukturierung und einem kausalen bzw. finalen Zusammenhang (vgl. MARTINEZ 2003, S. 92).

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ter der Hand denn auch Lukrez’ De Rerum Natura oder Popes Essay on Criticism dergestalt ‚minimal-narrativ‘. 30 Worauf Miner abzielt, lässt sich indessen weniger, wie von ihm unternommen, in Termini der Erzähltheorie als in solchen der Textlinguistik beschreiben. Eine Textsammlung kann demgemäß als ‚Makrotext‘ begriffen werden, innerhalb dessen „jeder Einzeltext eine Mikrostruktur darstellt, die ihre Funktion und ihren Informationsgehalt aus der Interdependenz mit der ihr übergeordneten Makrostruktur bezieht“. 31 Das Konzept des Makrotexts ist von Maria Corti zunächst anhand Italo Calvinos Erzählsammlung Marcovaldo entwickelt, dann aber vor allem in der Canzoniere-Forschung fruchtbar gemacht worden. 32 In einem Makrotext ist, im Unterschied zu einer bloß anthologischen Zusammenstellung von Texten desselben Autors, laut Corti eine kohärenzstiftende Metaebene anzusetzen; so hebt sie „il carattere funzionale e informativo della raccolta“ hervor: „il che è come dire che il significato globale non coincide con la somma dei significati parziali dei singoli testi.“ 33 Dieser semantische Mehrwert entstehe, so Corti, wenn mindestens eine der beiden folgenden Bedingungen erfüllt sei: 1) se esiste una combinatoria di elementi tematici e/o formali che si attua nella organizzazione di tutti i testi e produce l’unità della raccolta; 2) se vi è addirittura una progressione di discorso per cui ogni testo non può stare che al posto in cui si trova. 34

Zum einen müssen die Einzeltexte also Merkmale aufweisen, die sie verbinden, insofern alle Texte sie aufweisen, und sie so als paradigmatische Reihe beschreibbar machen; 35 andererseits soll sie eine „Syntagmatik des Kontinuierlichen“, 36 eine Progression der Rede auszeichnen. Ausschlaggebend für die Geschlossenheit des Makrotexts ist, mit Ulrike Schneider, die „Semantisierung aller Elemente einer solchen Kombinatorik: Faktoren thematischer Kohärenzstiftung wie auch solcher formaler Kohäsionsstiftung werden mit Bezug auf die makrotextuelle Ebene funktionalisiert“. 37 Als ein solcher Makrotext lassen sich etwa auch Baudelaires Fleurs du Mal fassen, in denen die Einzelgedichte untereinander durch leitmotivische Wiederaufnahme, Variation und Entwicklung bestimmter Schlüsselwörter, Syntagmen und Metaphernkomplexe verknüpft sind. 38 30 Vgl. MINER 1986, S. 26. 31 SCHNEIDER 2007, S. 50f. 32 Vgl. CORTI 1975 sowie v.a. SANTAGATA 1979. Zu einer ausführlichen Systematisierung der Kategorien des Makrotexts vgl. CAPPELLO 1998. 33 CORTI 1976, S. 145f. 34 Ebd. S. 146. 35 Vgl. CORTI 1975, S. 188: „[…] il modello ripetitivo, in quanto sotteso ai vari racconti, è la macrostruttura della raccolta.“ 36 SCHNEIDER 2007, S. 51. 37 Ebd. S. 52. 38 Vgl. als Ansatz REICHENBERGER 1962, der Merkmale eines Makrotexts avant la lettre, vor der theoretischen Konzeptualisierung durch Corti, beschreibt. Indessen weist schon Barbey d’Aurevilly zeitgenössisch zum Erscheinen der Fleurs auf die Einheit der Sammlung hin (auch wenn es Barbey dabei vordergründig wohl um die Ausarbeitung einer Verteidigungsstrategie gegen die Vorwürfe der Unsittlichkeit ging, die Baudelaire zuletzt gar vor Gericht brachten). Reichenberger zitiert einen Brief Barbeys vom 24.07.1857, in dem dieser den

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Indessen scheinen über die zweite von Corti benannte Bedingung narrative Elemente doch wieder in die Definition eines Makrotexts hineinzugelangen. So unterscheidet Marco Santagata in seiner typologischen Ausdifferenzierung der Corti’schen Definition bei der syntagmatischen Verbindung der kontiguen Mikrotexte zwischen „connessioni di trasformazione“ und „connessioni di equivalenza“. 39 Während die Äquivalenzkonnektoren eher der formalen bzw. der Ausdrucksseite zuzuordnen sind, sind die Transformationskonnektoren auf einer inhaltlichen Ebene anzusiedeln. Diese untergliedert Santagata in zwei Gruppen: Die einen zeigen einen „rapporto logico e/o sintattico“, die anderen einen „parametro spaziale e/o temporale“ an. 40 Insbesondere mit Ort- und v.a. Zeitveränderungen sind jedoch Voraussetzungen für Narrativität im Sinne einer zeitlich organisierten Handlungssequenz erfüllt, „in der es durch ein Ereignis zu einer Situationsveränderung kommt“. 41 Gewissermaßen vollgültig narrativ wird die Textsammlung schließlich durch die Präsenz eines Handelnden, eines über die Texte der Sammlung hinweg identischen Sprecher-Protagonisten – und dies ist beispielsweise bei einem petrarkistischen Canzoniere gegeben. So wird denn auch, vor allem in der deutschen Forschung, bei der Bestimmung der Canzoniere-Form die Komponente eines ‚narrativen Substrats‘ in Anschlag gebracht. 42 Diese der Gedichtsammlung unterliegende Geschichte kann unterschiedlich stark ausgestaltet sein – Beispiele reichen von der Nachzeichnung einer Entwicklung, mitunter einer bloßen Markierung eines tunc und nunc, über das Aufscheinen bloßer „Geschehenspartikeln mit entsprechendem Allusionspotential“ 43 bis hin zu einer „rudimentäre[n] Geschichte“. 44 Die Ereignisabfolge scheint dabei, soviel ist festzuhalten, eher zwischen den Gedichten zu liegen – allen voran das einschneidendste Ereignis, der Tod Lauras; in den Gedichten werden die Ereignisse in der Regel vielmehr reflektiert, erinnert und verarbeitet. Lässt man historische Differenzen einmal beiseite und fokussiert einzig auf den Sammlungscharakter, scheinen der Canzoniere und die Fleurs du Mal nicht

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Zusammenhalt der einzelnen Fleurs beschreibt: „[…] chaque poésie a […] une valeur très importante d’ensemble et de situation qu’il ne faut pas lui faire perdre en la détachant. Les artistes qui voient les lignes sous le luxe et l’efflorescence de la couleur percevront très bien qu’il y a une architecture secrète, un plan calculé par le poète, méditatif et volontaire. Les Fleurs du Mal ne sont pas à la suite les unes des autres comme tant de morceaux lyriques, dispersés par l’inspiration et ramassés dans un recueil sans d’autre raison que de les réunir. Elles sont moins de poésies qu’une œuvre poétique de la plus forte unité“ (ebd. S. 193f.). SANTAGATA 1979, S. 13. Ebd. S. 14. Vgl. dazu zusammenfassend SCHNEIDER 2007, S. 51. NÜNNING 1998, S. 391. Vgl. SCHNEIDER 2007, S. 57–59. Ebd. S. 58. REGN 1987, S. 32. Unabdingbar scheinen für ihre Konstitution, wie Gerhard Regn herausgestellt hat, neben der Identität des Protagonisten, drei Komponenten zu sein: die Markierung eines Anfangs und Endes und die damit implizierte Situationsveränderung, die Markierung des Zeitverlaufs, v.a. durch eine „Semantik des Alterns“, sowie eine „lokale Dimension“ (ebd. S. 34f.).

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grundsätzlich voneinander verschieden zu sein: Auch in den Fleurs du Mal ließen sich thematische Progression bzw. die Rudimente einer Handlungssequenz ausmachen – den einzelnen Abteilungsüberschriften folgend, vom Spleen über den Ausbruchsversuch des lyrischen Ich in den ‚monde réel‘ der Tableaux parisiens, seiner anschließenden Flucht in den Rausch in der Sektion Le Vin, der Revolte in der ebenso betitelten Abteilung Révolte bis hin zum Tod in La mort. Bereits Robert Vivier hat 1924 etwas Ähnliches gesehen, zieht man die zeitbedingte Rhetorik der dichterischen Authentizität ab. So weist er darauf hin, dass die Einzelgedichte der Fleurs du Mal „eine kontinuierliche Aufeinanderfolge seelischer Entwicklungsstufen des Dichters“ darstellten. 45 Deryk Mossop hat diesen Gedanken weitergeführt, indem er das Sprecher-Ich, das die Gedichte verbindet, als Protagonisten genauer bestimmt – und ihn als ‚tragischen Helden‘ qualifiziert, was für Mossop die Fleurs du Mal dann, freilich metaphorisch, zu einem „very rich dramatic poem“ macht. 46 Doch lässt sich bei den Fleurs du Mal wohl allenfalls von der Suggestion eines narrativen Substrats sprechen, denn im Canzoniere werden Protagonist und Ereignisse ja doch in den Gedichten thematisiert und nicht nur in ihren ‚Zwischenräumen‘, und überdies wird ihre Zeitlichkeit, wie etwa in den Jahrestagsgedichten, explizit markiert, während dies in den Fleurs fehlt und die sequentielle Abfolge der Gedichte nur suggestiv über eine rein textuelle hinaus auch zu einer zeitlichen wird. 4. Textsammlungen als Medium des self-fashioning Der jeweilige Grad der Ausprägung des narrativen Substrats in den Canzonieri ist, so Ulrike Schneider, „in direkter Abhängigkeit von der – fiktional stilisierten – autobiographischen Dimension eines Canzoniereprojekts zu sehen“. 47 Autobiographie – hier sind die historischen Differenzen fundamental – ist nun freilich nicht im Sinne neuzeitlicher Subjektivitäts- und Erfahrungskategorien zu verstehen, sondern meint hier Selbstbeschreibung als Selbstentwurf, und zwar genauer einen solchen, der durch den „Relevanzfilter des Typischen“ 48 gegangen ist. 49 Der konstruktive und konstruierte Charakter dieser Biographie wird überdies dadurch hervorgehoben, dass diese ideale Autobiographie ja aus Einzeltexten innerhalb der Textsammlung, aus ‚rerum vulgarium fragmenta‘, zusammengesetzt ist, wie 45 REICHENBERGER 1962, S. 194, der auf Viviers Buch L’Originalité de Baudelaire (Neudruck Brüssel 1952) verweist. 46 MOSSOP 1961, S. 230. 47 SCHNEIDER 2007, S. 59. 48 REGN 1987, S. 36. 49 So rechtfertigt sich insbesondere die Selbstaussprache im Canzoniere Petrarcas, wie Klaus W. Hempfer betont hat, „genau hinsichtlich der zwei von Dante [im Convivio] formulierten Funktionen: Der Autor Petrarca konstituiert ein Ich, dessen Läuterungsweg vom ‚giovenil errore‘ zur Hinwendung zu Gott zum einen die ursprüngliche ‚infamia‘ aufzuheben vermag […]. Zum anderen vermag dieser Läuterungsweg für andere als ‚essemplo‘ zu fungieren und die ‚dottrina‘ vermitteln, wie man durch Einsicht in die Vergänglichkeit alles Irdischen den Weg zum himmlischen Heil findet“ (HEMPFER 1995, S. 169f.).

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Marco Santagata betont: „[autobiografia] non significa raccontarsi, ma costruirsi: costruire un immagine di sé“. So liest Santagata die Briefsammlungen, insbesondere die Familiares, und den Canzoniere zusammen, Texte, die denn auch ganz wörtlich Konstruktionen sind: „sono in effetti, materialmente ‚costruiti‘ mediante l’assemblaggio di testi autonomi e dispersi“. 50 Überhaupt scheinen Textsammlungen, sofern sie nicht explizit fiktionale Erzähltexte miteinander koppeln, durchaus häufig für das self-fashioning ihrer Autoren funktionalisiert zu werden. 51 Neben dem Canzoniere sind die von Santagata ja bereits angeführten Briefsammlungen Petrarcas zu nennen und in ihrer Folge die umfangreichen Epistolare der Humanisten, deren Sammlungscharakter und komplexitätgenerierende Zyklizität erst in jüngerer Zeit in den Blick der Forschung gerückt sind. 52 Ebenso müssen in diesem Zusammenhang die Essais Montaignes genannt werden. 53 Bernd Häsner hat hervorgehoben, dass es in der Forschungsliteratur ein seltsames Changieren gebe, so dass in aller Regel nicht klar werde, 50 SANTAGATA 1992, S. 9. Vgl. zu Petrarcas self-fashioning zuletzt etwa STIERLE 2003, dessen Kapitel V überschrieben ist „Fictor sui ipsius: Geschichte eines Selbstentwurfs“ (vgl. ebd. S. 345–474). 51 Ein eigenes Problem stellt die Relationierung von self-fashioning und Fiktionalität dar. Eine erste Klärung können dazu die Ausführungen Martin Löschniggs bringen, dem zufolge eine „konstruktivistische Sicht des Ich bzw. individueller Identität“, wie sie der Terminus selffashioning impliziert, „eine Neubewertung der Rolle der Fiktion im Zusammenhang mit autobiographischem Erzählen“ zeitige. „Fiktionalität [erscheint] nun als integrales Element dieser Identitätsstiftung, denn als narratives Konstrukt verstanden ist ‚Identität‘ letztlich eine Fiktion“, schreibt Löschnigg und zitiert Paul John Eakin: „[…] our sense of continous identity is a fiction, the primary fiction of all self-narration“ (EAKIN 1999, S. 93). Doch dürfe man nicht so weit gehen, die narrative Konfiguration kontingenter (historischer) Wirklichkeit à la Hayden Whites ‚emplotment‘ mit Fiktionalität ineinszusetzen (LÖSCHNIGG 2006, S. 11). Indessen wird Eakin die Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion zuletzt belanglos, wenn, so Löschnigg, „die individuelle Erfahrungswirklichkeit im Grunde dieselbe (narrative) Form wie die erzählerische Fiktion hat“ (ebd. S. 82): „Autobiographie ist nicht primär eine literarische Form, sondern ein psychologischer Prozess der Selbstschaffung und Selbst(er)findung“ (ebd. S. 83). — Ohne sich in solche Aporien zu manövrieren, ließe sich self-fashioning vielleicht als Mechanismus von Selektion, Zuschreibung und Aneignung von Eigenschaften fassen, womit der Begriff zwar weiter mit einem Spielraum zwischen Fakt und Fiktion operierte, vor allem jedoch eine Performanz bezeichnete, ein Behaupten und zugleich Erzeugen. Als textuelles Phänomen ließe sich self-fashioning, um eine Formulierung Bernd Häsners aufzugreifen, dann als ostentative Indexikalisierung eines Texts auf die Person des Autors hin und als Simulation einer Sprechsituation fassen. In einer solchen Simulation von Präsenz würden die Grenzen zwischen Text und Autor performativ verschliffen, und Eigenschaften des Texts (wie z.B. Klarheit, Stringenz, Sentenzenhaftigkeit oder im Gegensatz dazu gedankliches Mäandrieren) würden direkt seiner Person (als Urteilsschärfe, Macht oder im anderen Falle Skeptizismus, Humor etc.) zugeschrieben (vgl. zur Präsenz des Subjekts im Essay HÄSNER 2006, S. 160ff. sowie S. 172–174; vgl. generell zu Indexikalität und Indexikalisierung den Beitrag von Bernd Häsner in diesem Band). 52 Vgl. VAN HOUDT u.a. 2002. 53 Die Essais gelten als Nachfolger der Epistolare, wie in der Forschungsliteratur anklingt, vgl. FRIEDRICH 1967, S. 330 sowie HÄSNER 2006, S. 155.

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ob die Prädikate, die man ‚dem Montaigneschen Essay‘ zuweist, von jedem einzelnen Essay […] oder erst von der Gesamtheit der Essais erfüllt werden. Gerade die beständige Diversifikation seines Selbst und seiner Ansichten in der Zeit, die Montaigne für sich in Anspruch nimmt, manifestiert sich weniger in den einzelnen Essays als in deren Aggregation zum Buch, zu ‚seinem Buch‘, von dem Montaigne häufig spricht, wenn er eine Bilanz seines Schreibens zieht. 54

Es wird also, so Häsner, kaum reflektiert, dass dieses Surplus an Sinn, das am deutlichsten in der gegenseitigen Bezugnahme der Einzelessays, gerade im Widerspruch zueinander, sinnfällig wird, durch Sammlungsbildung entsteht. 55 Die Tatsache, dass Sammlungsbildung ein komplexitäts- und bedeutungsgenerierendes Potential eröffnet, ohne dass diese Bedeutung explizit gemacht und diese Komplexität argumentativ bewältigt werden müsste, scheint dem Projekt der Selbstbildung entgegenzukommen, und dies aus mehreren Gründen: Einmal weil eine gewisse reticentia und Bescheidenheit gewahrt wird, insofern sich ein Autor so bestimmte Eigenschaften ja nicht explizit zuschreibt; dann, weil der blanc, der Zwischenraum der Texte, eine Fülle suggeriert, die je noch auszuschöpfen wäre – ein Anders-und-weiter-Meinen und Immer-noch-mehr-sagen-Können; und schließlich aufgrund der Offenheit der Form, die es dem Autor erlaubt, im Laufe der Zeit – man denke an die vielfältigen Umgestaltungen von Petrarcas Canzoniere – der Sammlung relativ problemlos neue Texte hinzuzufügen oder die alten Texte neu zu gruppieren. Mit der Textsammlung als Medium des self-fashioning ist indessen bereits eine Funktionalisierung des Sammlungscharakters angesprochen worden. Ich will die auf den vorangegangenen Seiten erwogenen Beschreibungs- und Analysemodi jedoch, zumindest schematisch, zusammenfassen, bevor ich abschließend eine Textsammlung genauer in den Blick nehme. Insgesamt habe ich fünf Zugangsweisen skizziert: Textsammlungen strukturiert durch blancs bzw. Leerstellen oder durch ein narratives Substrat, betrachtet als Makrotext, als Kontextur und in Analogie zur filmischen Montage. In dieser Reihe, könnte man sagen, nimmt die Zahl der an den Einzeltexten festzumachenden Merkmale, die die Sammlung als Ganzheit bestimmen, kontinuierlich ab. Ein Makrotext wird nach Corti bereits durch eine über paradigmatische Ähnlichkeiten gebildete Serie von Einzeltexten konstituiert; eine Progression der Rede von Einzeltext zu Einzeltext, wie sie narratives Substrat und blanc implizieren, ist Corti zufolge eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung seiner Konstitution. 56 In einer Kontextur ist die Art der

54 Ebd. S. 151. 55 Vgl. ebd., wo Häsner jedoch auf einen Ansatz bei STIERLE 1984, S. 318 verweist. 56 Vgl. CORTI 1976, S. 146: „La funzionalità e possibilità di informazione di una raccolta come tale si ha quando si verifica almeno una di queste condizioni […]. È chiaro che 2) [Progression] presuppone 1) [paradigmatische Reihe], ma non vale l’inverso“. — Rainer Warning hat in seiner Untersuchung der Grußsonette (RVF Nr. 108–111, vgl. WARNING 1983, S. 303–313) eben diese beiden Bedingungen gegeneinander ausgespielt – die paradigmatische „Serialität des Diskurses“ und die syntagmatische „Progression des Narrativen“ (KABLITZ 1988, S. 59) –, um vorzuführen, wie sich die „mimetische Illusion einer fortlaufenden Vita“ (ebd.) im Canzoniere dekonstruiere. Auch wenn sich nach Warning so das narrative Substrat aufhöbe, ein

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verbindenden Merkmale unbestimmt, und die Montage kann auch völlig heterogene Einzeltexte miteinander koppeln. Umgekehrt gewendet, benötigt eine narrative Verknüpfung die umfangreichsten Kohärenzbildungsmechanismen, während es zu einer Montage letztlich gar keiner in den Einzeltexten selbst anzusetzenden, die Einzeltexte aber übergreifenden Merkmale bedarf. Im Zwischenraum der Einzeltexte würde sich eine Geschichte entfalten bzw. dies wäre als Teil der Geschichte anzusehen, die sich in den Texten entwickelt, wenn die die Geschichte konstituierende Ereignisfolge in den Einzeltexten selbst dargestellt oder zumindest erwähnt wird. Die Verknüpfung durch Nebeneinanderstellung ließe sich demnach als narrative begreifen, wenn in den verschiedenen Einzeltexten ein oder mehrere identische Protagonisten gegeben sind und in ihnen Handlungsmomente bzw. Situationsveränderungen (und sei es nur durch einen Anfang und ein Ende oder einen Ortswechsel) sowie ein Zeitverlauf markiert sind. Fehlen eines oder mehrere dieser Elemente, kann man allenfalls von der Suggestion einer Geschichte sprechen. Ist zwischen den Einzeltexten allein eine (gewissermaßen abstrakte) thematische Progression festzustellen, ist ihr Verknüpfungsmodus wohl am ehesten als Argumentbildung zu fassen. Je mehr narrative Parameter fehlen, desto stärker wird die Einheit der Sammlung durch die paradigmatische Serialität der Einzeltexte konstituiert, und desto mehr muss die Interaktion der Einzeltexte als eine Funktion des Performativen gelten. Und desto eher, eine weitere Konsequenz, ist die aufscheinende Kohärenz der Sammlung wohl als emergent zu beschreiben. Weiter zu überlegen bliebe freilich, wodurch dann das performative Spiel der Einzeltexte noch gelenkt und begrenzt und Sinnbildungsprozesse gesteuert würden, wenn nicht nur durch die Leseerfahrungen und Gattungserwartungen des jeweiligen Rezipienten, und ob die Kohärenz solch gleichsam minimaler Makrotexte dann nicht zuletzt als bloßes Postulat zu bezeichnen wäre. 5. Sammlungsbildung in Barrès’ Amori et dolori sacrum Maurice Barrès, der heute, selbst in Frankreich, im Wesentlichen nur noch als Propagandist eines militanten, völkisch eingefärbten Nationalismus bekannt ist, war ein überaus produktiver Schriftsteller, ja, ein regelrechter Vielschreiber, und die Themen, denen er sich widmete, waren ebenso vielfältig wie die Formen, derer er sich bediente. 57 Während seiner gesamten Karriere hat er, parallel zu seiMakrotext nach der Corti’schen Definition bliebe der Canzoniere dennoch weiterhin eindeutig. 57 Barrès, seit 1906 auch académicien, war am Ende seines Lebens eine derart dominante Figur des literarischen Establishments, dass ihm die Surrealisten in einem dadaistischen Happening den Prozess machten – mit André Breton als vorsitzendem Richter und Pierre Drieu la Rochelle als einem der Hauptzeugen. Nach Barrès’ Tod 1923 schwand der Einfluss seiner Werke jedoch rapide; „Barrès s’éloigne“, schrieb Montherlant bereits 1925 (MONTHERLANT 1963, S. 281). Weil sich das Vichy-Regime auf Barrès’ Nationalismus berief, den dieser selbst zum Kern seines Werks erklärt hatte, schien Barrès’ Œuvre nach 1945 endgültig diskreditiert.

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nen Buchprojekten und nicht selten ihnen vorgeordnet, für eine Vielzahl von Zeitschriften und Zeitungen in den unterschiedlichsten Gattungen geschrieben – Essays, Reisefeuilletons, Kunstbetrachtungen, Novellen –, hat als Parlamentsabgeordneter Reden veröffentlicht und eine Flut politischer Artikel verfasst, insbesondere während der Dreyfus-Affäre als Gegenspieler Zolas und während des Ersten Weltkriegs: Zu alt für den Dienst im Militär, sah er es als seinen eigenen ‚Kriegsdienst‘ an, jeden Tag einen patriotischen Artikel zu schreiben, was ihm, nicht zuletzt bei den Soldaten, den zweifelhaften Ruhm eintrug, offizieller „chantre du carnage“ (Robert Kopp) zu sein. Viele seiner periodisch und bibliographisch verstreuten Arbeiten hat Barrès später in Buchform zusammengefasst und erneut publiziert. Unter den Sammlungen, die eher literarische Texte versammeln, sind die gewichtigsten Du sang, de la volupté et de la mort (1895) und Amori et dolori sacrum (1903). Auf den ersten Blick sind beide Bände Zusammenstellungen von höchst heterogenen Texten, vor allem der letztere. Von einer Art Reiseessay, der mit literatur- und kunstkritischen Elementen angereichert ist, über Erinnerungsprosa und ein zwischen Rezension und Erzählung schwankendes Vorwort zu einem anderen Buch bis hin zu einer Rede reichen die vertretenen Genera. Wie es scheint, werden die Texte allenfalls durch eine gewisse thematische Konstante, nämlich Tod und Erinnerung, zusammengehalten. Den Band eröffnet ein „La mort de Venise“ betitelter Text, mit rund 35 Seiten der umfangreichste der Sammlung und auch der, der zeitgenössisch am stärksten rezipiert worden ist. 58 Teile davon waren bereits 1897 als Artikel in Le Journal und 1901 als Broschüre des Bureau de l’Action française erschienen, dort angekündigt als „Fragment d’un livre abandonné sur La Mort de Venise“. 59 In verschwenderischen Bildern feiert Barrès Venedig darin als fiebrige Seelenland-

Prägte die französische Forschung denn auch lange ein apologetischer Ton, scheint sie jetzt einen präsentatorischen Charakter angenommen zu haben. Welche Verrenkungskünste dazu selbst im heutigen Frankreich nötig sind, lässt der gewundene Satz ahnen, mit dem Barrès in einem der jüngeren Sammelbände vorgestellt wird: Barrès werde wenig gelesen, schreibt dort der Herausgeber, denn er sei „caché dans cette ombre tenace où gisent, précocement statufiés, les écrivains qu’on a trop lus, et admirés, parfois en mauvaise compagnie, de leur vivant, dans la gloire opaque qui échoit à ceux, plus ou moins équivoques, auxquels l’Histoire, cette danseuse hypocrite aux pudibonderies sélectives, a donné tort“ (GODO 2000, S. 7). Für einen guten Überblick sine ira et studio über die Forschungssituation vgl. BENDRATH 2003, S. 1–18. 58 Vgl. BARRÈS 1990, S. 135ff., wo zahlreiche Rezeptionszeugnisse abgedruckt sind. So unterschiedliche Geister wie Charles Maurras und Léon Blum zeigen sich von dem Text begeistert, und auch André Gide schreibt Barrès in einem hymnischen Brief vom „ravissement indicible“, das „La Mort de Venise“ in ihm ausgelöst habe (ebd. S. 143). Als Gesamtkomposition wird der Band weit weniger gut aufgenommen; zu disparat erscheinen offenbar seine Bestandteile. Das Lob des ersten geht denn auch mit der Abwertung der übrigen Teile einher. So schreibt etwa Henri Ghéon in seiner Rezension in L’Ermitage: „On y regrette l’intrusion de Stanislas de Guaïta, […] de la belle et sonore louange de Leconte de l’Isle et de quelques fragments“ (ebd. S. 144). 59 BARRES 1994, S. 959.

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schaft 60 und beschwört ihre schillernde Schönheit herauf als, wie er schreibt, „chant d’une beauté qui s’en va vers la mort“. 61 Diesem Text folgt ein Nachruf auf den früh verstorbenen symbolistischen Schriftsteller Stanislas de Guaïta, eine persönliche Erinnerung Barrès’ an einen Jugendfreund, dem er nach eigener Aussage die ästhetizistische ‚Initiation‘ in die zeitgenössische französische Literatur – Gautier, Flaubert, Baudelaire – verdanke. Dieser Text war zuerst 1898 in Form einer Broschüre gedruckt worden. Nächstes ‚Kapitel‘ des Buches ist „Une impératrice de la solitude“, die stark überarbeitete Version von Barrès’ Vorwort zum Buch eines gewissen Constantin Christomanos, in dem dieser sich an die österreichische Kaiserin Elisabeth erinnert. Diese wollte in ihren letzten Lebensjahren Griechisch lernen und engagierte Christomanos als Hauslehrer. Damals wie heute war der Blick hinter die Kulissen des Hofs gefragt, und Christomanos dachte, mit seinem Buch aus seiner Stellung Kapital zu schlagen. Ausgehend von einigen Erlebnissen Christomanos’, erklärt Barrès die Figur Elisabeths zur „excitatrice de notre imagination, comme une nourriture poétique et une hostie de beauté“ 62 und erzählt ihr Leben bis zu ihrer Ermordung in Genf 1898 als eine Geschichte von Pracht, Einsamkeit und Untergang, aus der Luchino Visconti ein Pendant seines Films über Ludwig II. hätte machen können. Die anschließenden wenigen Seiten, „Souvenir de Pau en Béarn“ überschrieben und zuerst 1902 in der Zeitschrift La Renaissance latine als Vorabdruck des Bandes veröffentlicht, verknüpfen einen Besuch in der südfranzösischen Kurstadt, Erinnerungen an verstorbene Freunde und den Ordnungsgedanken von Charles Maurras’ politischer Doktrin miteinander; so schreibt Barrès: „C’est sur cette terrasse, je le sais, devant ce château d’Henri IV, qu’en 1890 il advint à notre ami de sentir la nécessité naturelle de la soumission pour l’ordre et la beauté du monde“. 63 Dann ist eine Rede auf Leconte de Lisle zu lesen, die Barrès im Juli 1898 zur Enthüllung einer Statue im Jardin du Luxembourg hielt, die an den parnassischen Lyriker erinnern sollte. Der Grundgedanke der Rede ist, der Maurras’schen „soumission“ im Vorgängertext nicht unähnlich, dass Leconte de Lisles literarisches Verdienst vor allem darin bestehe, wieder „une discipline à la poésie française“ gegeben zu haben, nachdem die romantische Lyrik zu sentimentaler Redseligkeit herabgesunken sei.64 Das Buch beschließt der kurze Essay „Le 2 novembre en Lorraine“, ursprünglich ein Artikel in La revue bleue, der sich mit seinem Eingangssatz als Gipfelpunkt des ganzen Bandes präsentiert: „Le jour des Morts est la cime de l’année“. 65 Barrès entwickelt in diesem Text in nuce die Grundlagen seines Nationalismus, wonach Individuum und Gesellschaft über die Toten, die Vorfahren, miteinander 60 Vgl. ebd. S 16: „Mon objet n’est point ici de peindre directement des pierres, de l’eau, des nuages, mais de rendre intelligibles les dispositions indéfinissables où nous met le paludisme de cette ruine romantique.“ 61 Ebd. S. 47. 62 Ebd. S. 64. 63 Ebd. S. 94. 64 Ebd. S. 98. 65 Ebd.

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verbunden seien: „[…] nous sommes le prolongement et la continuité de nos pères et mères.“ 66 Dadurch werde die Individualität des Einzelnen in einem Hegelschen Sinne aufgehoben: „C’est tout un vertige délicieux où l’individu se défait pour se ressaisir dans la famille, dans la race, dans la nation, dans les milliers d’années que n’annule pas le tombeau.“ 67 Die Präsenz der Toten sei indessen nirgends stärker als in der Heimatregion, in Barrès’ Fall in Lothringen. 68 Insofern das Individuum als Ort der Kontinuität so durch seine geographische Herkunft bestimmt sei, werde es bereits aus Selbsterhaltung zum Nationalisten, wenn nicht gar zum Regionalisten: „[…] pour nous sauver d’une stérile anarchie, nous voulons nous relier à notre terre et à nos morts.“ 69 Den Erkenntnismoment, der diese Entscheidung zur Selbstbindung auslöst, inszeniert Barrès als Blick auf die lothringische Landschaft, aus der sich der Berg von Sion-Vaudemont erhebt: Venant de Charmes-sur-Moselle […], soudain dans un coup de vent je reçois sur ma face tout le secret de la Lorraine. Au loin s’étendent devant moi les solitudes agricoles, et, dans un ciel froid, brusquement, émerge, isolée de toute part, la falaise que spiritualise le mince clocher de Sion. Quel enchantement sous mes yeux, quel air vivifiant me gagne, quelle vénération dans mon cœur! Sainte colline nationale! 70

Der Berg wird zum Kristallisationspunkt von Barrès’ Nationalismus, weil auf einem der beiden Ausläufer seines hufeisenförmig gebogenen Rückens eine Wallfahrtskirche, auf dem anderen die Ruine des Stammschlosses der Herrscher von Lothringen steht, so dass der Berg auf doppelte Weise Tradition markiert; Barrès schreibt: „Elle est le point de continuité de notre région.“ 71 Kontinuität, Zusammenhang, ist das Schlüsselwort des Essays, und diese Kontinuität, die Barrès konstruiert, indem er seine Heimatlandschaft und ihre Toten beschwört, soll sich offenbar auch auf Amori et dolori sacrum als Ganzes beziehen lassen. In seinem Vorwort unterstreicht Barrès nämlich die kompositorische Einheit, den Sammlungscharakter seines Bandes, wenn er ihn erst mit Du Sang, de la volupté et de la mort parallelisiert, um ihn dann von dem früheren Band und dessen offenerer Komposition abzugrenzen: Celui-ci [Amori et dolori sacrum], toutefois, me paraît plus lourd dans la main et plus savant pour l’oreille que mon recueil de 1895. J’ai mis de l’ordre dans toutes mes libertés; j’ai vu l’unité des émotions que je recueillais sur de longs espaces de temps et de pays. 72

Die ‚Blütenlese der Emotionen‘ und die ‚Ferne‘, auf denen das Zitat endet, lassen sich ohne weiteres als Anspielung auf Venedig und die anderen, höchst unterschiedlichen Gegenstände der versammelten Texte verstehen. Das einheitsstiftende Moment, auf das Barrès in seinem Vorwort abhebt, gewinnt indessen erst am Ende des Bandes Kontur, wenn nämlich im letzten Text die verschiedenen 66 67 68 69 70 71 72

Ebd. S. 100. Ebd. Vgl. ebd.: „De la campagne, en toute saison, s’élève la voix des morts.“ Ebd. S. 98. Ebd. S. 101. Ebd. Ebd. S. 12.

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Nuancierungen der Thematik von Tod und Erinnerung gewissermaßen selbstreflexiv gebrochen werden, indem das Erinnern der Toten und seine Bedingungen selbst thematisch werden 73 – in einem Text über den 2. November, „Allerseelen“ im liturgischen Kalender, den Tag des Totengedenkens. „Le jour des Morts“ ist damit nicht nur „la cime de l’année“, sondern auch der Fluchtpunkt, auf den Amori et dolori sacrum zuläuft. Und wenn das Individuum dort „le prolongement et la continuité de nos pères et mères“ ist, dann ist das Sprecher-Ich, das alle Texte der Sammlung überspannt, gewissermaßen die Kontinuität aller Toten und der mit ihnen verbundenen Gefühlszustände, die der Band erinnert. Indessen konstituieren ein weiter thematischer Rahmen und ein in allen Texten als dasselbe, als der Autor, Barrès, identifizierbares Sprecher-Ich – in essayistischen als nichtfiktionalen Texten eine allemal gegebene Konstanz – nur eine schwache Paradigmatik und dementsprechend lose Ordnung. ‚Montierte‘ Barrès die Einzeltexte also nur zu einer Einheit, und zwar mithilfe des Vorworts, in dem er eine solche Einheit schlicht behauptet, sowie des letzten Textes, dank dessen partieller Metaperspektive? Die Einzeltexte scheinen jedoch durch einige weitere gemeinsame Markierungen zumindest eine ‚kontexturelle‘ Serie bzw. einen schwach konturierten Makrotext zu bilden. Auffällig stark werden nämlich Orte markiert, werden die einzelnen Texte ‚verortet‘ – in Venedig, Pau und Lothringen bereits durch ihre Titel. Die Rede auf Leconte de Lisle ist über den Untertitel an Paris, den Jardin du Luxembourg, geknüpft; der Nachruf auf Stanislas de Guaïta wird durch die Spannung zwischen Paris und Nancy strukturiert, und die „Impératrice de la solitude“ zeichnet sich durch eine Vielzahl von Ortswechseln, ja durch eine geographische Rastlosigkeit aus. 74 Die meisten Texte sind über explizite Angaben außerdem zeitlich fixiert, einige darüber hinaus paratextuell sogar genau datiert, 75 so dass sich ein raum-zeitlicher Verlauf ausmachen lässt, von Venedig, das Barrès mit seiner Jugend identifiziert, 76 und Nancy bzw. den Jugendfreund Stanislas de Guaïta bis hin zu Pau und Lothringen, die die Jetztzeit des nunmehr vierzigjährigen Barrès markieren. Am engsten sind der erste und der letzte Text miteinander verknüpft. Zwischen ihnen ist eine thematische Progression festzustellen, insofern in offensichtlicher Bezugnahme jeweils derselbe Bibelvers in ihnen zitiert, aber diametral ent73 Freilich wird die Erinnerung an die Toten zugleich ideologisch funktionalisiert – sie wird ja zum Grundelement von Barrès’ Nationalismus gemacht. 74 Vgl. zu den letzten beiden Texten ebd. S. 56 („Guaita [sic] avait peu d’analogie avec Paris“) und S. 62 sowie 75. 75 Datiert sind „Stanislas de Guaita [sic]“ auf „Juin 1898“ (ebd. S. 63), „Souvenir de Pau en Béarn“ sogar auf den Tag genau, 31. Oktober 1901 (vgl. ebd. S. 95), und die Rede auf Leconte de Lisle ist laut Untertitel am 10. Juli 1898 gehalten worden (vgl. ebd.). Barrès erinnert zu Beginn von „La mort de Venise“ seinen ersten Venedigaufenthalt 1887 (vgl. S. 15), in „Stanislas de Guaita“ evoziert er vor allem die Jahre 1877 bis 1883 (vgl. S. 51 und 56), und in der „Impératrice“ erzählt er das Leben der Kaiserin zwischen 1891 und ihrem Tod 1898 (vgl. ebd. S. 64 und 90). 76 Vgl. ebd. S. 48: „Venise me paraît ma jeunesse écoulée.“

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gegengesetzt gedeutet wird. 77 Es handelt sich um den Vers Hiob 17, 14, der traditionell in der katholischen Totenmesse rezitiert wird. Einmal dient er dazu, die ästhetische Faszination des dekadenten Venedig auf Barrès zu beschreiben, der er schließlich mit Haut und Haar verfällt. An der anderen Stelle bedeutet der Vers hingegen das Bekenntnis zum lothringischen Herkommen. Barrès schreibt in „La mort de Venise“: Depuis un siècle, elle [Venise] n’a plus vécu qu’en une dizaine de rêveurs qui firent ma nourriture. Putridini dixi: pater meus es; mater mea et soror mea vermibus. „J’ai dit à ce sépulcre qu’il est mon père; au ver, vous êtes ma mère et ma soeur.“ 78

Der Widerruf dieser Identifikation mit Venedig in „Le 2 novembre en Lorraine“, liest sich hingegen so: C’est tout un vertige délicieux où l’individu se défait pour se ressaisir dans la famille, dans la race, dans la nation, dans les milliers d’années que n’annule pas le tombeau. „Je dis au sépulcre: Vous serez mon père.“ Parole abondante en sens magnifique! Je la recueille de l’Église dans son sublime Office des Morts. Toutes mes pensées, tous mes actes essaimeront d’une telle prière – effusion et méditation –, sur la terre de mes morts. 79

Das zweifache Hiob-Zitat stellt also einen Wandel vom ersten zum letzten Text der Sammlung heraus, und diese beginnt vor dem Hintergrund des raum-zeitlichen Verlaufs, den die Texte in ihrer Reihung markieren, einen narrativen Schimmer anzunehmen: Aus thematischer Progression wird eine Situationsveränderung, und aus dem auktorialen Sprecher-Ich wird ein Protagonist, dessen intellektuelle Entwicklung in einem narrativen Substrat suggeriert wird. So funktionalisiert Barrès die Textsammlung für sein self-fashioning: Im Zusammenspiel ihrer Einzeltexte lässt sie seine intellektuell-ideologische Autobiographie aufscheinen. Da Kohärenz über explizite Rückbezüge jedoch nur zwischen dem ersten und dem letzten Text gestiftet wird, ist die Semantisierung der anderen Texte als Stationen dieser Autobiographie wohl als Emergenzeffekt zu bezeichnen. Barrès’ ideologische Autobiographie führt vom ästhetizistischen Genuss Venedigs – „tant de beautés qui s’en vont à la mort nous excitent à jouir de la vie“ 80 – über die Initiation in die Literatur durch Guaïta zur Erprobung des poetischen Bewusstseins an der Geschichte der Kaiserin Elisabeth, die Barrès ja ausdrücklich als „excitatrice de notre imagination“ bezeichnet und deren Geschichte er am Ende mit seiner eigenen engführt, wenn er sich daran erinnert, was er tat, als er von ihrer Ermordung erfuhr. 81 Mit dem nächsten Text setzt dann die Wandlung ein: Es folgt, vermittelt durch das südfranzösische Panorama von Pau, die Hin77 78 79 80 81

In den Termini Santagatas wäre hier von einem ‚Transformationskonnektor‘ zu sprechen. Ebd. S. 47f. Ebd. S. 100. Ebd. S. 22. Vgl. ebd. S. 90: „J’étais assis dans un bureau de rédaction, à corriger les épreuves d’un article, quand arriva la dépêche de l’assassinat.“ Der unermüdliche Kommentar gibt jedoch an, dass Barrès um diesen Zeitpunkt herum gar keinen Artikel publiziert hat (vgl. ebd. S. 985) – die erinnerte Szene ist also fiktiv, was den Text nur umso stärker in der suggerierten Autobiographie, nämlich als die Etappe der poetischen Erprobung, verankert.

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wendung zu Ordnung und „soumission“, der die Bekräftigung der ‚Disziplin‘ nun auch in der Dichtung gleich hinterhergeschickt wird – in der Rede auf Leconte de Lisle. Dass die Rede unter dem Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung Barrès’ zu lesen ist, wird bereits im Vorwort signalisiert, wenn Barrès von Leconte de Lisle sagt, er habe „beaucoup agi sur la première formation de mon goût“. 82 Und schließlich mündet diese Entwicklung in Lothringen, bei der säkularen Wallfahrt zum Berg Sion-Vaudemont, in der Erkenntnis, dass die Toten ihn, den Lebenden, in die Pflicht nehmen. So heißt es denn auch im Schlussabsatz des Essays und damit des gesamten Bandes: „Je comprenais mon pays et ma race, je voyais mon poste véritable, le but de mes efforts, ma prédestination“. 83 Einen lenkenden Impuls erhält die Emergenz der autobiographischen Geschichte im Zwischenraum der Einzeltexte indessen von einem anderen Text Barrès’, dem Roman Un homme libre (1889), dem zweiten Band von Barrès’ Trilogie Le culte du moi. Barrès spielt zu Beginn des Essays „Le 2 novembre en Lorraine“ selbst auf ihn an und postuliert zugleich Etappen seiner intellektuellen Entwicklung: J’ai „appliqué à mes propres émotions la dialectique morale enseignée par les grands religieux […] et c’est toute la genèse de l’Homme libre“; j’ai prêché le développement de la personnalité par une certaine discipline de méditations et d’analyses. Mon sentiment chaque jour plus profond de l’individu me contraignit de connaître comment la société le supporte et l’alimente tout. 84

Die Romanhandlung von Un homme libre besteht im Streben des – im Übrigen namenlosen, seine Geschichte als Ich-Erzähler selbst vorbringenden – Protagonisten nach Vervollkommnung seiner Persönlichkeit, nach ästhetizistischer Selbsterschaffung. 85 Sie korrespondiert also mit der Geschichte, die das Zusammenspiel der Einzeltexte in Amori et dolori sacrum suggeriert, und lässt sie dadurch an Kontur und Substanz gewinnen. Im Roman wird die Entwicklung des Protagonisten genau wie in der Textsammlung von Ortswechseln, u.a. zwischen Lothringen und Venedig, skandiert. Im Gegensatz zu Amori et dolori sacrum geht in Un homme libre der Aufenthalt in Lothringen jedoch der Reise nach Venedig vor82 Ebd. S. 12. 83 Ebd. S. 104. 84 Ebd. S. 99. Zwischen den Anführungszeichen zitiert Barrès aus einem Artikel Paul Bourgets über Un homme libre, vgl. ebd. S. 113. 85 Selbstkonstruktion ist das bestimmende Thema, wenn nicht des gesamten Œuvres Barrès’, so doch zumindest seines Frühwerks, wie sich schon an dem erwähnten Übertitel der Romantrilogie, Le culte du moi, andeutet. Prägnant hat Gordon Shenton die Grundkonstellation von Barrès’ Schreiben zusammengefasst: „The idea which lies at the heart of his activity as a man of letters is that his own life, his own spiritual destiny in the world, is a work to be fashioned and created, and that the role of literature is to be at the same time the means and the locus of this creation“ (SHENTON 1979, S. 11). Die Forschung reflektiert dies denn auch in Titeln wie The Fictions of the Self (SHENTON 1979), Écriture et création de soi (KIRSCHER 1992) oder Ego scriptor. Maurice Barrès et l’écriture de soi (GODO [Hg.]1997). Jedoch betrachten diese Arbeiten in der Regel nur Einzeltexte, während ihnen Fragen etwa der Funktionalisierung diverser Gattungen für das auktoriale self-fashioning kaum je in den Blick geraten, vom Zusammenspiel unterschiedlicher Texte ganz zu schweigen.

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aus – und während Lothringen den Protagonisten enttäuscht, findet er in Venedig seine Lebensregel und modelliert sein Ich nach dem Vorbild der Lagunenstadt: 86 Je suis venu à Venise pour m’accroître et pour me créer heureux. Voici cet instant arrivé. […] Au lieu de replier ma sensibilité et de lamenter ce qui me déplaît en moi, j’ordonnerai avec les meilleurs beautés de Venise un rêve de vie heureuse pour le contempler et m’y conformer. 87

Die Parallelität zwischen Roman und Textsammlung lässt die im Zusammenspiel ihrer Einzeltexte aufscheinende Geschichte an narrativer Substanz gewinnen; diese Geschichte allerdings geriert sich als Palinodie, als Umwertung und Umkehrung der Geschichte des Romans. Indessen lässt sich nicht sagen, dass bei dieser Palinodie die Faktualität der essayistischen Texte gegen die Fiktionalität des Romans ausgespielt würde. Vielmehr scheinen sich ihre Aussagen auf einer ähnlichen Ebene zu bewegen. Letztlich entfaltet der Roman gar ein Vexierspiel zwischen Faktualität und Fiktionalität, das auch die Sammlung essayistischer Texte tangiert. Wie angedeutet, ist der Protagonist des Homme libre namenlos. Sein Ich-Sagen tendiert also dazu, mit dem Ich-Sagen des Autors zu verschwimmen. 88 Zudem ist der Roman zu einem Gutteil die Fusion von nichtfiktionalen Texten, die Barrès zur Zeit der Abfassung des Romans bereits vorliegen und zum Teil sogar publiziert hatte.89 Emmanuel Godo hat minutiös nachverfolgt, wie Barrès Zeitschriftenartikel, die er 1888 veröffentlicht hatte, 1889 in seinen Roman integriert – an ihnen aber kaum ein Wort verändert. 90 Dies ist umso bedeutsamer, als Barrès in diesen Artikeln, „Journal de ma Vie Extérieure“ und „Journal de ma Vie Intérieure“, das Thema des künftigen Romans in propria persona reflektiert. Er beschreibt nämlich, wie er seine Persönlichkeit in Analogie zum Gesamkunstwerk Venedig selbst konstruiere: „[…] moi, je m’enorgueillis de me détruire pour des fictions que j’excelle à renouveler chaque soir.“ 91

86 So ruft der Protagonist in einem „Conclusions“ betitelten Kapitel, das den Lothringen-Aufenthalt beschließt, aus: „Lorraine, j’ai touché ta limite, tu n’as pas abouti, tu t’es desséchée. Je t’ai une infinie reconnaissance, et pourtant tu justifies mon découragement“ (BARRES 1994a, S. 143). 87 Ebd. S. 155f. Dementsprechend ist ein Textabschnitt überschrieben: „Description de ce type qui réunit, en les résumant, les caractères du développement de mon Être et de l’Être de Venise“ (ebd. S. 160). Zur Persönlichkeitsmodellierung des Protagonisten anhand von Stadtund Kulturlandschaften in Barrès’ Romantrilogie vgl. AMEND-SÖCHTING 2001, S. 303–306. 88 Vgl. LÖSCHNIGG 2006, S. 60. Erst im dritten Band des Culte du moi und nur auf Wunsch der Leser, wie Barrès in seinem Vorwort zu Le jardin de Bérénice (1891) schreibt, nennt er seinen Protagonisten Philippe – und setzt ihn so von sich selbst ab (vgl. BARRÈS 1994a, S. 188). In einer Text und Welt einander wieder annähernden Volte lässt Barrès jedoch seinen 1896 geborenen Sohn auf eben diesen Namen taufen. 89 Vgl. SHENTON 1979, S. 24. 90 Vgl. GODO 1996, S. 27–30. 91 Maurice Barrès’ „Journal de ma Vie Extérieure“, La Batte, 17.8.1888, S. 419, zit. n. GODO 1996, S. 22. Im Roman sagt der Protagonist dann mit abgeschwächter Radikalität: „[…] je m’enorgueillis à cause de fictions que j’anime en souriant et que je renouvelle chaque soir“ (BARRES 1994a, S. 155).

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Durch die Einarbeitung zuvor als ‚faktual‘ publizierter Textfragmente in den Roman beginnt sein Status als fiktionaler Text zu changieren. Indem jedoch auch die essayistische Textsammlung eine Geschichte erzählt, und zwar genauer eine, die der des Romans spiegelverkehrt entspricht, scheint sich an ihr ein Fiktionalisierungseffekt einzustellen: Der Protagonist des Romans nimmt Konturen des Autors an, und das essayistische Ich der Textsammlung erhält durch die Parallelen zum Homme libre Züge einer Romanfigur. Am Rand der Einzeltexte von Amori et dolori sacrum öffnet sich so ein fiktionaler Gestaltungsspielraum für Barrès’ selffashioning als Verkünder des Nationalismus, der seine Glaubwürdigkeit aus der Erzählung seiner persönlichen Entwicklung zieht. 92 6. Ausblick Im Durchgang durch verschiedene Analyseansätze – samt ihren Um- und Seitenwegen – ist deutlich geworden, auf welch vielfältige und komplexe Weise in Textsammlungen Sinnbildung funktioniert, wie an einer Reihe von Einzeltexten Kohärenz erzeugt wird und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich in ihrem Zusammenspiel gar eine Geschichte konstituiert – häufig genug von fraglicher Konsistenz und changierendem ontologischen Status: am Rande der Texte und, für auktoriales self-fashioning funktionalisiert, am Rande der Fiktion. Bisweilen scheint diese Geschichte erst im Gegenlicht anderer Texte deutliche Konturen zu gewinnen. Textsammlungen sind, wie gesehen, überaus vielgestaltig, der Terminus selbst eher noch zu schärfen. Das aber wäre die Aufgabe weiterer Untersuchungen – und einer weiteren Erprobung der hier skizzierten Instrumente, vielleicht gerade an Extremen: zum Beispiel in der kontrastiven Analyse der Kohärenzbildungsmechanismen in einer Sammlung von Erzählungen und einem wissenschaftlichen Sammelband.

92 Narrativierung als Ermächtigungs- und Überzeugungsstrategie findet sich bei Barrès offenbar selbst reflektiert. So versucht er, aus der Argumentation eine Geschichte zu machen, indem er Ideologie in Biographie verwandelt: „Nationalisme, régionalisme trop souvent demeurent des théories. Je les ferai sentir non point comme des doctrines, mais comme des biographies, nos biographies à nous tous Français“ (Maurice Barrès, L’Œuvre de Maurice Barrès, hg. v. Philippe Barrès, Paris 1965, Bd. V, S. 24, zit. n. GODO 1997, S. 189).

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Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion CHRISTINA SCHAEFER Seit Serge Doubrovsky im Jahr 1977 den Begriff der Autofiktion prägte, 1 gilt die damit visierte neue Form autobiographischen Schreibens als schwer klassifizierbarer Grenzfall im Spektrum von fiktionaler und faktualer 2 Literatur. Bereitet schon die systematische Unterscheidung von fiktionalen und nichtfiktionalen Texten nicht unerhebliche Schwierigkeiten, so verschärft sich dieses Problem bei Texten, die offenbar bewusst an dieser Grenze operieren. Zu solchen Grenzfällen zwischen Fiktion und Nichtfiktion (bzw. Roman und Autobiographie) wäre etwa auch der autobiographische Roman zu rechnen. Ziel dieses Beitrags ist es, den systematischen Ort der Autofiktion im Spektrum fiktionaler und faktualer Texte zu präzisieren. Dies kann nicht ohne eine Auseinandersetzung mit der Gattungsgeschichte der Autobiographie, mit den Begriffen Fiktionalität und Faktualität sowie der Bestimmung von Autofiktion durch Doubrovsky erfolgen. Auf der Grundlage von solchermaßen präzisierten Gattungsmerkmalen der Autofiktion sollen anschließend Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance (1975) und Alain Robbe-Grillets Romanesques-Trilogie (1984–1994) gelesen werden. 1. Die Autofiktion: Versuch einer Annäherung Den Begriff autofiction verwendet der Kritiker und Schriftsteller Serge Doubrovsky erstmals im Klappentext seines Buches Fils (1977), das einen Tag aus dem Leben des New Yorker Literaturprofessors Julien Serge Doubrovsky erzählt. Schon nach wenigen Seiten ‚verschmilzt‘ der Ich-Erzähler bzw. Protagonist dieses als „roman“ untertitelten Textes mit dem Autor: Nicht nur, so Doubrovsky später in einem Zeitschriftenartikel, trage der Protagonist seinen Namen, auch alle Fak1

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Pierre Gasparini verweist darauf, dass der Autofiktionsbegriff erstmals von Jerzy Kosinski in Bezug auf seine Erzählung Painted Bird (1965) gebraucht wurde (vgl. GASPARINI 2004, S. 26). Prägend für die Literaturproduktion und -rezeption war nichtsdestoweniger Doubrovskys Begriff, wie er im Klappentext von Fils Erwähnung findet (vgl. DOUBROVSKY 1977). Ich verwende den Begriff ‚faktual‘ im Sinne von ‚nichtfiktional‘, also analog zu frz. factuel: „Philos. Qui est de l’ordre du fait“ (PETIT ROBERT 2007, S. 1000). Dabei verhält sich ‚faktual‘ zu ‚faktisch‘ wie ‚fiktional‘ zu ‚fiktiv‘: ‚Fiktiv‘ ist das Synonym zu ‚erfunden‘/‚nichtwirklich‘; ‚fiktional‘ meint dagegen die „Eigenschaft, (Teil einer) Fiktion zu sein“ (LANDWEHR 2000, S. 500). ‚Faktisch‘ ist das Synonym zu ‚wirklich‘/‚nicht erfunden‘; ‚faktual‘ hingegen die Eigenschaft eines Textes oder einer Äußerung, auf Fakten zu basieren. Auf die Unterscheidung von ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘ sowie die Doppelbedeutung von ‚Fiktion‘ wird noch einzugehen sein. Im Zuge dessen wird auch der Begriff der Faktualität eine weitere Präzisierung bzw. Nuancierung erfahren.

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ten, Ereignisse, Orte und Daten der histoire stimmten mit denen seines Lebens überein und seien von ihm auf diese Übereinstimmung hin ‚peinlich genau überprüft‘ worden; der Anteil an „invention dite romanesque“ reduziere sich auf die Erfindung jenes ‚Pseudo-Tages‘, der dem Ganzen einen Rahmen gebe. 3 Er, Doubrovsky, könne demnach die „véracité du registre référentiel“ des Textes garantieren. 4 Dennoch, so Doubrovsky weiter, sei Fils eine Fiktion, und dies bedeute nichts anderes, als dass es sich um eine ‚Geschichte‘ handele, die – gleich, wie viele Realitätsreferenzen sie enthalte und wie exakt sie in dieser Hinsicht auch sei – niemals in der Realität stattgefunden habe und deren einzig realer Ort der des Diskurses sei, in dem sie sich entfalte. 5 Diese Doppelgesichtigkeit des Textes dürfte der Grund sein, weswegen Doubrovsky ihn sowohl von der Autobiographie als auch (zumindest teilweise) vom Roman abgrenzt: Autobiographie? Non, c’est un privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels; si l’on veut, autofiction, d’avoir confié le langage d’une aventure à l’aventure du langage, hors sagesse et hors syntaxe du roman, traditionnel ou nouveau. Rencontres, fils des mots, allitérations, assonances, dissonances, écriture d’avant ou d’après littérature, concrète, comme on dit musique. 6

Der hier manifeste Wunsch nach Gattungserneuerung hat in Verbindung mit der griffigen Neuschöpfung autofiction dazu geführt, dass der Begriff rasch Eingang in den Sprachgebrauch von Forschung, Kritik und Schriftstellern fand, wo er allerdings oft vage als „mise en fiction de la vie personnelle“ 7 oder „[r]écit mêlant la fiction et la réalité autobiographique“ 8 definiert wird und damit, wie noch zu zeigen ist, von Doubrovskys Konzept durchaus abweicht. 9 Sicherlich kann die Autofiktion auch als eine neuere Variante der Autobiographie betrachtet und damit einem im weiteren Sinne autobiographischen Schreiben zugeordnet werden. Es spricht allerdings ebenfalls einiges dafür, ihr einen eigenen Ort im Gattungsgefüge, jenseits von ‚rein‘ autobiographischen und ‚rein‘ fiktionalen Texten, zuzuerkennen. An einem solchen Ort der Überschneidung von Fiktionalität und Faktualität ließen sich weitere Gattungen (z.B. der autobiographische Roman) lokalisieren, von denen die Autofiktion, wie ich ebenfalls erläutern möchte, nichtsdestoweniger abzugrenzen ist.

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Vgl. DOUBROVSKY 1988, S. 68f. Ebd. S. 69. Vgl. ebd. S. 73. DOUBROVSKY 1977, Umschlag; m. Unterstreichungen, Kursivierungen im Original. So definieren z.B. MONTREMY 2002, S. 62 und RÉGNIER 2002, S. 65. Wie wenig distinktiv eine solche Definition ist, zeigt sich bei Vincent Colonna, der die Autofiktion als „œuvre littéraire par laquelle un écrivain s’invente une personnalité et une existence, tout en conservant son identité réelle (son véritable nom)“ (COLONNA 2004, S. 239) fasst und darunter sogar klassische Romane wie den Don Quijote oder Balzacs Père Goriot subsumiert (vgl. ebd. S. 239 u. 136f.). PETIT ROBERT 2007, S. 183. Dass die Begriffsbestimmung alles andere als Konsens ist, zeigt der Überblick über die unterschiedlichen Definitionen in COLONNA 2004, S. 227–242.

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Die Diskussion um den Status der Autofiktion kann freilich nicht losgelöst von der Bestimmung dessen geführt werden, was unter ‚Autobiographie‘ und ‚Roman‘ zu verstehen ist. Die Autobiographie ist selbst bereits, mehr noch als der Roman, eine umstrittene Gattung, sowohl hinsichtlich ihrer Definition als auch der Datierung ihres Entstehens. 10 Nicht weniger problematisch gestaltet sich die Definition von Fiktionalität bzw. Faktualität, vor deren Hintergrund die Gattungsbestimmung ebenfalls zu verlaufen hat, wenn man in Betracht zieht, dass Doubrovsky sich zwar von den Gattungsbegriffen Roman und Autobiographie abgrenzt, aber nach wie vor auf Begriffe wie ‚fiction‘ und ‚faits réels‘ rekurriert. 1.1 Zur Unterscheidung von Fakten und Fiktionen sowie von fiktionalen und faktualen Texten Meine Überlegungen zur Fiktionalität basieren auf der Annahme, dass sowohl Fakten als auch Fiktionen unter dem Oberbegriff ‚Konstrukt‘ zu fassen sind, es aber gleichwohl möglich und notwendig ist, zwischen Fakt und Fiktion zu differenzieren (Fiktion hier verstanden als fiktive, irreale Entität). 11 Damit grenze ich mich explizit von jener (poststrukturalen und postmodernen) Auffassung ab, die Fakten als Fiktionen im Sinne von ‚bloßen Erfindungen‘ begreift und damit genuin faktualen (z.B. historiographischen oder wissenschaftlichen) Diskursen ihre grundsätzliche Differenz zur fiktionalen Rede abspricht. In welche nicht zuletzt ethisch-moralischen Probleme dies führt, ist am Beispiel des sog. ‚HolocaustTest‘ gezeigt worden. 12 Die postmoderne Identifikation von Fakt und Fiktion ist, wie Lubomír Doležel gezeigt hat, wesentlich auf eine voreilige Gleichsetzung von Narrativität, Literarizität und Fiktionalität zurückzuführen. 13 Daneben scheint mir aber ebenfalls die Tatsache eine Rolle zu spielen, dass nicht in ausreichendem Maße zwischen Konstrukt und Fiktion unterschieden wird, eine Differenzierung, die, wie ich nun darlegen möchte, einige Probleme zu vermeiden hilft. Karlheinz Stierle hat in seinem Überblick über die Begriffsgeschichte der Fiktion auf die zwei ursprünglichen Bedeutungen des lateinischen fictio (von fingere ‚bilden, erdichten, vortäuschen‘) hingewiesen. Zunächst kann eine fictio demnach, wie das griechische poiesis, „die Hervorbringung eines Schöpfers [sein], sei es die Hervorbringung der Urbilder selbst oder die Hervorbringung nach den Urbildern“; das so geformte Werk kann, muss aber nicht mimetisch

10 Vgl. dazu etwa LEJEUNE 2002, S. 21. 11 Der Fiktionsbegriff kennt heute eine zweifache Verwendung. Zu unterscheiden ist grundsätzlich zwischen (1) Fiktion als Substantiv zu ‚fiktiv‘ (‚nichtwirklich, inexistent‘ im ontologischen Sinne) und (2) Fiktion als Substantiv zu ‚fiktional‘, das zur Qualifizierung einer Struktur bzw. eines Textes dient. Als Oppositionsbegriff zu Fakt hat Fiktion in dieser Studie die erste Bedeutung; ansonsten meint es im Sinne von (2) eine bestimmte Art von Konstrukt bzw. Artefakt, z.B. einen Text, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 12 Vgl. dazu DOLEŽEL 1999, S. 251ff. 13 Vgl. ebd. S. 248–251.

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sein. 14 Fiktion heißt in diesem primären Sinne also nichts anderes als Formung, Schöpfung, Werk. Erst in einer weiteren Bedeutung ist die Fiktion in dieser klassisch-lateinischen Tradition mit Täuschung, Trug und Illusionsbildung verbunden, bei der es darum geht, Imaginäres freizusetzen, oder, wie Stierle sagt, „die Imagination des Lesers oder Zuschauers in Gang zu bringen und ihn aus seiner eigenen in fremde Welten zu versetzen“. 15 In der Moderne wird Fiktion – sowohl im Sinne des Fiktiven als auch des Fiktionalen – nun allerdings fast ausschließlich in der zweiten Bedeutung verstanden; und insbesondere für die Fiktion im Sinne des Fiktionalen hat sich in der Nachfolge von Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911) die Umschreibung als ein Als-ob etabliert. 16 Will man in der heutigen Debatte zwischen den beiden Bedeutungen unterscheiden, scheint es angesichts des Bedeutungswandels des Fiktionsbegriffs sinnvoll, für die Bedeutungsebene ‚Formung, Schöpfung‘ den Begriff des ‚Konstrukts‘ zu wählen, so dass ‚Fiktion‘ für die moderne Begriffsfüllung reserviert bleiben kann, und damit gerade auch für jene spezifische Art von Konstrukten, die im Zeichen des Als-ob stehen. Der Konstruktbegriff hat den Vorteil, nicht nur alle Arten von Fiktionen zu umfassen, sondern zudem auf Fakten anwendbar zu sein und somit eine Vergleichbarkeit von Fakten und Fiktionen zu ermöglichen. Er trägt nämlich der Erkenntnis Rechnung, dass auch Fakten das Ergebnis kognitiver Selektion und Reorganisation von Erfahrung oder (auch sprachlicher) Formung, kurz: eines Konstruktionsprozesses sind. 17 Factum ist in diesem Sinne wörtlich als ein ‚Gemachtes, Geschaffenes‘ zu verstehen. Meist werden Fakten allerdings, ebenso wie das, was wir ‚Wirklichkeit‘ nennen, in ihrer Konstruktivität nicht bewusst wahrgenommen. Intuitiv bzw. naiv werden Fakten als gegeben aufgefasst und als solches mit wirklich, wahr und objektiv assoziiert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Fakten restriktiveren Bedingungen als Fiktionen unterliegen und nicht gleichermaßen beliebig bzw. frei konstruierbar sind: Fakten müssen dem entsprechen, was im jeweils gültigen Wirklichkeitsmodell für ‚richtig‘, ‚wahr‘ bzw. ‚faktisch‘ gehalten wird. Fiktionen dagegen sind frei, auch bei gewusst Nichtwirklichem so zu tun, als wäre es wirklich. Durch ihre Als-ob-Struktur kommt der Fiktion ein Sonderstatus zu: Sie erhebt gerade keinen Anspruch auf Wahrheit oder Richtigkeit. 18 Anders als Fakten sind Fiktionen bewusste Konstrukte bzw. Artefakte (‚künstlich Gemachtes‘). 19 Sie sind intentional produziert und werden auch als sol14 STIERLE 2001, S. 381f. 15 Ebd. S. 386. 16 So umstritten die Definition von Fiktionalität im Detail sein mag, das Als-ob als Basis und Ausgangspunkt heutiger Fiktionstheorien scheint weitgehend Konsens zu sein. Vgl. dazu beispielsweise HEMPFER 1990, S. 124, BARSCH 2004, S. 181 und STEINHOFF 1990, S. 157. Zur Vaihinger-Rezeption vgl. auch den Beitrag von Anita Traninger in diesem Band. 17 Im Übrigen lassen sich auch so basale Kategorien wie Raum, Zeit, Kontinuität, Objekt etc. als (kognitive) Konstrukte auffassen. Relevant wird dies für uns, wenn es später um die Konstruktivität des (autobiographischen) Ich geht: Das, was wir unser ‚Ich‘ nennen, lässt sich ebenfalls als Konstrukt (aus Erinnertem, Wahrgenommenem, Imaginiertem etc.) betrachten. 18 Vgl. z.B. BARSCH 2004, S. 181 und STEINHOFF 1990, S. 157. 19 Fiktionen unterscheiden sich von anderen Artefakten dadurch, dass sie notwendig über eine Als-ob-Struktur verfügen. Neben den Fiktionen sind alle Arten von Kunstwerken ebenso wie

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che rezipiert, denn alle Beteiligten, d.h. Produzenten wie Rezipienten, müssen sich, wenn sie in das so genannte Fiktionsspiel eintreten, über den Als-ob-Status des Gesagten im Klaren sein. 20 Die größeren Spielräume der Fiktion erklärt Andreas Kablitz unter Rekurs auf den „Möglichkeitssinn“ von Sprache, den die fiktionale Rede aktiviere: Als Repräsentationssystem bringt das Zeichensystem Sprache notwendig Lücken und Leerstellen hervor, sieht „mehr Möglichkeiten vor, als das Wirkliche jeweils ausschöpft“, und diese Lücken füllt die Fiktion. 21 Mit der Rede vom „Wirklichkeitssinn“ der Sprache zielt Kablitz hingegen darauf ab, dass jede sprachliche Äußerung und damit auch der fiktionale Diskurs unvermeidlich Referenz produziert bzw. eine Existenzpräsupposition macht, d.h. die Existenz dessen, worüber gesprochen wird, behauptet. 22 Dabei, so Klaus W. Hempfer, tue der fiktionale Diskurs allerdings nur so, als würden die Objekte, deren Existenz er präsupponiert, existieren. 23 Mit anderen Worten, es gibt den Akt des Referierens also auch bei fiktionalen Texten, bloß führt er dort ins Leere bzw. präziser: zu einem erst vom Text konstituierten Konstrukt, 24 für das es, weil es nicht an einen Anspruch auf Faktizität gekoppelt ist, keine Erfahrungsbelege geben muss. Und selbst wenn es solche Belege gibt, ändert dies nichts am fiktionalen Status der Textelemente, die nur fictional counterparts historischer Personen (Objekte, Ereignisse) und eben keine historical counterparts sind. 25

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alles Sprachliche (also auch der faktuale Diskurs) den Artefakten zuzurechnen. (Nicht zu den Artefakten gehören nichtintentionale Phänomene wie Träume oder Spiegelbilder.) Zwischen den Kategorien kann es freilich Überlappungen geben: z.B. fiktionale Kunstwerke, künstlerische oder fiktionale Sprache. Im Folgenden wird ausschließlich von sprachlichen Fiktionen die Rede sein. Ansonsten handelt es sich, wie Jürgen Landwehr gezeigt hat, nicht um Fiktion, sondern um Täuschung, Lüge oder missverständliche Kommunikation; d.h. es kann nur „[g]ewußte Fiktionen“ geben (LANDWEHR 2000, S. 500). Dem entspricht, dass das Bedeutungsfeld fingere, fictio, fictor, wie Stierle es formuliert, „von vornherein […] mit der Vorstellung eines planenden, konstruktiven Bewußtseins“ verknüpft ist (STIERLE 2001, S. 388). KABLITZ 2003, S. 268. Ähnlich äußert sich auch Doležel: „The fiction writer is free to vary the number, the extent and the functions of the gaps“ (DOLEŽEL 1999, S. 257f.). Vgl. KABLITZ 2003, S. 266f. Vgl. HEMPFER 1990, S. 131f. Vgl. dazu Hempfer: Der fiktionale Text „redet über eine Welt, die er allererst konstituiert, als gäbe es sie schon“ (ebd. S. 132). Ich verwende die Begriffe fictional und historical counterpart in Anlehnung an Doležels Unterscheidung von fiktionalen und historischen Welten im Rahmen der Mögliche-WeltenTheorie. Demnach sind sowohl fiktionale als auch historische Welten bloß possible worlds (Konstrukte bzw. Modelle von Wirklichkeit) und damit zu unterscheiden von der actual world (Wirklichkeit). Beide sind nicht von realen Personen, sondern von deren possible counterparts ‚bevölkert‘. Fiktionen können aber ihre counterparts beliebig ändern und auch historischen Personen Neues ‚andichten‘: Es sind nur fictional counterparts von realen Personen. Existenz und Eigenschaften von historical counterparts (i.e. die Personen, Objekte, Ereignisse historischer Welten) müssen im Unterschied dazu durch Erfahrungsbelege dokumentiert sein (vgl. DOLEŽEL 1999, S. 257). So ist z.B. der Napoleon aus Tolstois Krieg und Frieden nicht der Napoleon der Geschichtsschreibung; ihm können nach Belieben fiktive Charakterzüge und Handlungen zugeschrieben werden.

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Ist schon die Unterscheidung von Fakt und Fiktion an das jeweils gültige Wirklichkeitsmodell gebunden, so hängt die Frage, ob es sich um einen fiktionalen oder faktualen Text handelt, zusätzlich von Gattungskonventionen ab, die aufgrund von textuellen oder paratextuellen Signalen aktualisiert werden. Fiktionalität bzw. Faktualität wird in narrativen Texten insbesondere über Differenzen bzw. Äquivalenzen zwischen realem Autor und Erzähler/Protagonist signalisiert. Phantastisch-irreale, d.h. fiktive Inhalte fungieren aus heutiger Sicht klar als Fiktionssignale. Und auch der gattungsspezifische Einsatz von Erzählstimme, Modus, Zeitstruktur, Paratexten, intertextuellen Verweisen und Metadiskursen ist relevant. Im Übrigen kann Faktualität nicht nur durch die Abwesenheit von Fiktionssignalen, sondern auch durch spezifische Faktualitätssignale 26 indiziert werden. Im folgenden Abschnitt wird diskutiert, ob die Autobiographie als faktuale Gattung gelten kann. Ausgehend von einigen Beobachtungen zur Behandlung von fiktiven und faktischen Elementen im autobiographischen Diskurs wird dann ein Vorschlag zur Klassifizierung von Texten gemacht. 1.2 Die Autobiographie: eine faktuale Gattung? Ein Vorschlag zur Klassifikation fiktionaler und faktualer Texte Spätestens seit Philippe Lejeunes Le pacte autobiographique (1975), jenem Standardwerk zur Autobiographie, das, obgleich in vielem längst überholt, noch immer als Referenz dient, wird die Autobiographie mit dem faktualen Diskurs identifiziert und damit auf eine Ebene mit historiographischen und wissenschaftlichen Texten gestellt. Sich Lejeunes Thesen in Erinnerung zu rufen, ist nicht zuletzt deswegen sinnvoll, da sie sowohl für Doubrovskys als auch Robbe-Grillets autobiographisches (bzw. autofiktionales) Projekt als Folie dienen. 27 Nach Lejeune ist für die Autobiographie der Abschluss eines ‚autobiographischen Pakts‘ zwischen Autor und Leser gattungskonstitutiv. Der Leser könne aufgrund dieses Paktes davon ausgehen, dass es sich bei dem betreffenden Text um die referentielle Darstellung der Lebensgeschichte und Persönlichkeitsentwicklung des realen Autors handele. 28 Der ‚referentielle Pakt‘ verpflichte den Autor, die Wahrheit zu sagen, soweit sie ihm zugänglich ist: „Je jure de dire la vérité, toute la vérité, rien que la vérité“. 29 Daher ziele die Autobiographie nicht auf bloße Wahrscheinlichkeit (vraisemblance), sondern auf Ähnlichkeit (ressemblance) mit dem Wahren (le vrai); es gehe um ein Abbild des Wirklichen (image du réel), nicht eine bloße Wirklichkeitsillusion (effet de réel); ein Merkmal, das

26 Zum Beispiel durch einen Titelzusatz im Stil von Truman Capotes In Cold Blood (1965): „A True Account of a Multiple Murder and Its Consequences“. 27 Vgl. DOUBROVSKY 1988, S. 68 und ROBBE-GRILLET 2001a, S. 295 u. 542. 28 Vgl. dazu Lejeunes Definition der Autobiographie als „[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité“ (LEJEUNE 1975, S. 14). 29 Ebd. S. 36.

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die Autobiographie mit historiographischen und wissenschaftlichen Texten teile. 30 Das nach Lejeune entscheidende Kennzeichen der Autobiographie ist die Namensidentität (Homonymie) von Autor, Erzähler und Protagonist: „identité de l’auteur (dont le nom renvoie à une personne réelle) et du narrateur“ bei gleichzeitiger „identité du narrateur et du personnage principal“. 31 Die Homonymie reiche aus, so Lejeune, um Fiktionalität auszuschließen. 32 Lejeunes Autobiographiekonzeption zufolge bürgt der Autor also mit seinem Namen für die Wahrheit des Gesagten. Das bedeutet, dass diese konventionelle Autobiographie zentral mit jenem Wahrheits- oder Authentizitätsanspruch verknüpft ist, der typisch für faktuale (etwa historiographische und wissenschaftliche) Texte, nicht jedoch für Fiktionen ist. Entsprechend sucht sie alles zu vermeiden, was den Anschein von Fiktionalität erwecken könnte, und beteuert ihre Faktualität, indem sie das Gesagte beständig als wahr und authentisch ausweist. Schon anhand von Rousseaus Confessions (1782/89), dem Prototyp der modernen Autobiographie, 33 lässt sich allerdings zeigen, dass die Autobiographie dabei durchaus nicht nur auf Fakten rekurrieren muss, sondern auch Fiktives beinhalten kann. Rousseau räumt nämlich gleich zu Beginn seiner Bekenntnisse ein, diese gelegentlich – genau genommen bei Erinnerungslücken – mit Fiktivem ‚ausgeschmückt‘ zu haben: „Je n’ai rien tu de mauvais, rien ajouté de bon, et s’il m’est arrivé d’employer quelque ornement indifférent, ce n’a jamais été que pour remplir un vide occasionné par mon défaut de mémoire“. 34 Den umfassenden Wahrheitsanspruch seines Selbstporträts („Voici le seul portrait d’homme, peint exactement d’après nature et dans toute sa vérité, qui existe et qui probablement existera jamais“) 35 sieht er davon völlig unberührt, denn ihm genügt das Wahrscheinliche: „j’ai pu supposer vrai ce que je savais avoir pu l’être, jamais ce que je savais être faux“. 36 Und so weist Rousseau die fiktiven Elemente im Weiteren nicht als solche aus, sondern behandelt sie als Fakten. Der Text soll als faktualer aufgefasst werden. Und in der Tat scheint die Erwähnung der ‚Ausschmückungen‘ die Faktualität des Textes dann auch nicht zu beeinträchtigen, sondern sogar zu unterstützen. Dass jemand ein paar Erinnerungslücken hat, erscheint durchaus

30 „Par opposition à toutes les formes de fiction, la biographie et l’autobiographie sont des textes référentiels: exactement comme le discours scientifique ou historique, ils prétendent apporter une information sur une ‚réalité‘ extérieure au texte, et donc se soumettre à une épreuve de vérification. Leur but n’est pas la simple vraisemblance mais la ressemblance au vrai. Non ‚l’effet de réel‘, mais l’image du réel“ (ebd.). 31 Ebd. S. 14. Das Homonymie-Kriterium kann heute, wie nicht zuletzt die Praxis des Romans zeigt, als überholt gelten. 32 „Nom du personnage = nom de l’auteur. Ce seul fait exclut la possibilité de la fiction. Même si le récit est, historiquement, complètement faux, il sera de l’ordre du mensonge (qui est une catégorie ‚autobiographique‘) et non de la fiction“ (ebd. S. 30). 33 Zur Diskussion um Rousseau als Begründer der Autobiographie vgl. LEJEUNE 2002, S. 21. 34 ROUSSEAU 1964, S. 4. 35 Ebd. S. 2. 36 Ebd. S. 4.

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plausibel und letztlich allzu menschlich. 37 Das ‚Bekenntnis zur Lücke‘ macht die ‚Bekenntnisse‘ nur umso glaubhafter. Der Hinweis auf fiktive Ausschmückungen lässt sich hier insofern als Authentifizierungsstrategie auffassen. Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass als Faktualitätssignal der bloße Hinweis auf die Existenz solcher Lücken ja schon genügt hätte. Die Füllung der Lücke mit Fiktivem bleibt daher eine Überschreitung des Realen. Allerdings geht es dabei nicht darum, die Fiktivität als solche hervorzukehren, sondern im Gegenteil darum, die Authentizität des Erzählten zu bekräftigen. Mit anderen Worten, die fiktiven Elemente werden hier vom dominanten faktualen Diskurs überformt bzw. von ihm für seine Zwecke dienstbar gemacht; ihre Kraft als Fiktionssignal wird damit eingedämmt, neutralisiert. Wenn schon Rousseaus Text fiktive Elemente enthält, dann kann die ausschließliche Faktizität des Dargestellten nicht das für die Gattung Autobiographie entscheidende Kriterium sein. Darin unterscheidet sich die Autobiographie von historiographischen und wissenschaftlichen Texten, in denen fiktive Elemente (zumindest der Konvention nach) ausgeschlossen sind. Damit ist klar, dass die Identifikation der Autobiographie mit einem faktualen Diskurs, wie wir ihn in Historiographie und Wissenschaft antreffen, problematisch ist. Die Autobiographie kann, muss aber nicht ‚rein‘ faktual sein; sicher bleibt sie jedoch überwiegend faktual. Wie wir gesehen haben, erscheinen Rousseaus Confessions trotz fiktiver Elemente als insgesamt faktualer Text. 38 Ebenso wenig wie die Autobiographie nur auf Faktischem basieren muss, ist der Roman – als fiktionales Genre 39 – auf ausschließlich Fiktives angewiesen (besonders deutlich sichtbar am historischen Roman). Ein fiktionaler Text kann immer auch Faktisches fiktionalisieren (d.h. fictional counterparts von Faktischem entwerfen). Sowohl für Autobiographie als auch Roman gilt also, dass sie qua Gattungen insgesamt entweder als faktual oder als fiktional klassifiziert werden, obwohl sie auch ‚fremde Elemente‘ bzw. Signale (der Roman Faktualitätssignale, die Autobiographie Fiktionssignale) enthalten können. 40

37 Dass das Mitteilen von Erinnerungslücken, Irrtümern u.ä. nur ein weiteres Zeugnis der Ehrlichkeit des Autors ist, hat schon Lejeune hervorgehoben: „[…] c’est une preuve supplémentaire d’honnêteté que de la restreindre au possible (la vérité telle qu’elle m’apparaît, dans la mesure où je puis la connaître etc., faisant la part des inévitables oublis, erreurs, déformations involontaires, etc.)“ (LEJEUNE 1975, S. 36). 38 Auch Lutz Danneberg ist der Ansicht, dass faktuale Texte prinzipiell auch Fiktives enthalten können und sich „beim Einbau von ‚Fiktionen‘ in nichtfiktionale Darstellungen [...] das Nichtfiktionale durchsetzt“ (DANNEBERG 2006, S. 45, Anm. 32). Kontrafaktisches (i.e. Fiktives) werde daher innerhalb von Nichtfiktionen zu „nichtfiktionalen Bestandteilen“ (ebd. S. 82f.). Zur Autobiographie vermerkt er explizit, dass sie durch Fiktives nicht beeinträchtigt wird, solange der Erzähler/Protagonist mit dem Autor identifizierbar bleibt (vgl. ebd. S. 50). 39 Die Gattungsbezeichnung Roman ist konventionell ein starkes Fiktionssignal, das tendenziell alle Faktualitätssignale des Textes überlagert. 40 Auch Doležel stellt fest, dass die Grenze zwischen fiktionalen und historiographischen Texten ‚offen‘ ist und es wechselseitige Durchdringungen geben kann, die die Klassifikation aber nicht beeinträchtigen. Seine Beispiele sind der historische Roman, die counterfactual history und die „factual narratives“ des New Journalism (vgl. DOLEŽEL 1999, S. 264–269).

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Um dem so entstehenden Bedürfnis nach sowohl Klassifikation als auch gradueller Abstufung gerecht zu werden, möchte ich, einem Vorschlag Hempfers folgend, Fiktionalität und Faktualität als Typusbegriffe definieren. 41 Diese erlauben zunächst, einen Text im Ganzen einer Klasse bzw. einem Typ von Texten zuzuordnen: Ein Text entspricht entweder dem Typ ‚fiktionaler Text‘ oder dem Typ ‚faktualer Text‘. Innerhalb der Typen sind dann aber auch Abstufungen möglich: Ein fiktionaler Text kann mehr oder weniger fiktional sein (und damit mehr oder weniger ‚typisch‘ für seine Klasse), ein faktualer Text mehr oder weniger faktual. 42 Abhängig ist dies vom jeweiligen Verhältnis von Fiktions- und Faktualitätssignalen. Je nach Grad der Faktualität reicht das Spektrum von ‚rein‘ faktualen (wie wissenschaftlichen und historiographischen) Texten 43 bis hin zu immerhin noch dominant faktualen Texten (wie z.B. der konventionellen Autobiographie). Analog dazu wäre ein Text als umso fiktionaler zu bewerten, je höher sein Anteil an Fiktionssignalen ist. Zählt man mithin Romane zum Typus ‚fiktionaler Text‘, wäre beispielsweise ein Science-Fiction-Roman als stärker fiktional zu werten denn ein historischer Roman; ein selbstreferentieller Nouveau Roman gälte als stärker fiktional denn ein realistischer Roman. Die Frage ist nun aber, wie die Autofiktion zu klassifizieren ist. 1.3 Das Oszillieren der Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion und die Aufdeckung der Konstruktivität des Ich Anders als die Autobiographie verschleiert die Autofiktion ihre fiktionalen Anteile nicht, im Gegenteil, sie kehrt sie hervor. Und anders als der Roman bietet sie dem Leser zumindest teilweise offen einen autobiographischen Pakt an. So verweisen in Doubrovskys Fils, wie bereits erwähnt, die Homonymie von Autor, Erzähler und Protagonist sowie die prüfbaren Übereinstimmungen zwischen der histoire und dem Leben des realen Autors auf eine traditionelle Autobiographie, die Gattungsbezeichnung roman hingegen auf eine Fiktion. Da der Text also „mehrdeutige Signale hinsichtlich seiner Textsortenbestimmung sendet, d.h. nicht eindeutig zugeordnet werden kann“, wird die Autofiktion von Claudia Gronemann zu Recht als typologisches „Zwitterwesen“ gewertet. 44 Durch das elementare Nebeneinander von Fakt und Fiktion können Autofiktionen weder dem Typus ‚fiktionaler Text‘ noch dem Typus ‚faktualer Text‘ (bzw. der traditionellen Autobiographie) zugeschlagen werden. Der autofiktionale Text tut alles, um als beides, fiktional und faktual, rezipiert zu werden, und lässt sich nach dem binären Schema nicht eindeutig klassifizieren.

41 Vgl. HEMPFER 1990, S. 119. 42 Gegen einen komparativen Begriff von ‚fiktional‘ und ‚Grade der Fiktionalität‘ argumentiert DANNEBERG 2006, S. 46. 43 Das Wort ‚rein‘ ist hier nicht absolut zu verstehen. Es geht nur darum, dass diese Texte den Anspruch reiner Faktualität erheben. 44 GRONEMANN 2002, S. 11.

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Anzusetzen wäre also ggf. ein dritter Typ zwischen ‚fiktionalem Text‘ und ‚faktualem Text‘, der all jenen Texten Rechnung trüge, die auf einer ambivalenten Mischung fiktionaler und faktualer Elemente beruhen, wo also nicht mehr klar ist, ob der Text nun überwiegend fiktional oder faktual ist.45 Da sich diesem dritten Typ dann z.B. auch der autobiographische Roman zurechnen ließe, muss man sich für die Autofiktion von der allzu vagen Definition als ‚Erzählung, die autobiographische Realität und Fiktion mischt‘ 46 verabschieden und enger definieren, um sie von solchermaßen verwandten Gattungen gleichen Typs zu unterscheiden. Vom autobiographischen Roman ließe sie sich m.E. wie folgt abgrenzen. Zwar setzt der autobiographische Roman ebenfalls gezielt fiktive und autobiographisch-faktische Elemente ein, versteckt aber sein autobiographisches Substrat, hüllt es in den Deckmantel der Fiktion, 47 und präsentiert sich als fiktionaler Text. Ein autobiographischer Pakt wird also nicht offen angeboten. Dennoch gibt es im autobiographischen Roman eine eindeutige Dekodierungsrichtung: vom Fiktionalen zum Faktualen, wobei das Autobiographisch-Faktische – und dies ist zentral – als das unter der Oberfläche zu entdeckende ‚Eigentliche‘ erscheint.48 Im Unterschied dazu deklariert sich die Autofiktion offen als sowohl fiktional als auch faktual. Sie oszilliert zwischen beiden Polen, ohne einen ‚eigentlichen‘ Diskurs zu fixieren. So formuliert auch Doubrovsky: Ni autobiographie ni roman, donc, au sens strict, il [sc. le texte autofictionnel] fonctionne dans l’entre-deux, en un renvoi incessant, en un lieu impossible et insaisissable ailleurs que dans l’opération du texte. 49

Die Ambiguität der Autofiktion ist wesentlich in einer widersprüchlichen Kommunikationssituation begründet, sie inszeniert, wie Gérard Genette sagt, die Aussage „C’est moi et ce n’est pas moi“. 50 Während die Autobiographie die Identifikation von Autor und Erzähler proklamiert und der Roman zwischen beidem streng zu unterscheiden gebietet, verlangt die Autofiktion beides. Die internen Kommunikationsinstanzen Erzähler und Protagonist sind einerseits mit der externen Kommunikationsinstanz des realen Autors zu identifizieren, andererseits aber eben nicht. Anders gesagt weist sich der autobiographische Erzähler als Autor aus und zeigt zugleich, dass er eben doch nicht der reale Autor ist, sondern nur dessen erzählender counterpart, das Konstrukt ‚Autor-Erzähler‘. Die Unauflösbarkeit 45 Auch Régnier bestätigt der Autofiktion eine „ambiguïté essentielle“ zwischen einem „toutfictionnel“ und einem „tout-autobiographique“ (RÉGNIER 2002, S. 65). 46 Siehe oben, Anm. 8. 47 Auch Doubrovsky grenzt mit diesem Argument die Autofiktion vom autobiographischen Roman ab (vgl. DOUBROVSKY 1988, S. 74). Zu widersprechen ist insofern Gasparini, der die Autofiktion als bloße Variante des autobiographischen Romans sieht (vgl. GASPARINI 2004, Umschlag). 48 Was für den autobiographischen Roman gilt, trifft ungleich stärker auf den Schlüsselroman zu. Dieser verliert seinen ‚Witz‘, wenn sein Realitätsbezug nicht erkannt wird. Es bedarf dazu außertextuellen Wissens bzw. eines Codes oder ‚Schlüssels‘, um die Homologien zwischen Text und Wirklichkeit zu entdecken. 49 DOUBROVSKY 1988, S. 70. 50 GENETTE 1991, S. 87.

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dieses Widerspruchs trägt wesentlich dazu bei, dass der Leser überhaupt auf die problematische Identifizierung von Autor und Erzählinstanz aufmerksam wird. Worauf es also ankommt, ist die Offenlegung der Ambiguität. Der Leser soll sich die Frage nach der Referenz stellen: Ist der Erzähler der Autor? Die Offenlegung ihrer konstitutiven Ambiguität wäre also ein erstes gattungsspezifisches Merkmal der Autofiktion. 51 Hergestellt wird sie durch eine widersprüchliche Streuung von Fiktions- und Faktualitätssignalen. Betrachtet man nun Doubrovskys spätere Erläuterungen zu seinem Konzept der Autofiktion, wird ein zweites Kriterium erkennbar. Mithilfe des Textes formt bzw. fingiert (im primären Sinne) sich der Autor selbst bzw. sein Ich (autofiction). Der Autor be-schreibt sich selbst, gibt sich im Schreiben eine Form: L’autofiction, c’est la fiction que j’ai décidé, en tant qu’écrivain, de me donner à moi-même et par moi-même, en y incorporant, au sens plein du terme, l’expérience de l’analyse, non point seulement dans la thématique, mais dans la production du texte.52

Das durch die Autofiktion geformte Ich nennt Doubrovsky dabei explizit eine Konstruktion und führt den Begriff direkt auf den lat. Ursprung der Fiktion, fingere, ‚Formgeben‘ zurück: Le sens d’une vie n’existe nulle part, n’existe pas. Il n’est pas à découvrir, mais à inventer, non de toutes pièces, mais de toutes traces: il est à construire. Telle est bien la „construction“ analytique: fingere, „donner forme“, fiction, que le sujet s’incorpore. 53

Fingieren ist hier ein bewusstes (weil analytisches) 54 Tun, die Autofiktion mithin ein bewusstes Konstrukt („que j’ai décidé“), das sich – anders als die Autobiographie – zudem als solches zu erkennen gibt. In der Autofiktion als Selbst-Fiktion, als Selbst-Konstruktion wird das Ich entsprechend nicht mehr als etwas dem Text Vorgängiges gezeigt, sondern als Konstrukt, das erst im Text entsteht und erst im Schreiben Form annimmt. Dazu noch einmal Doubrovsky: „Pour l’autobiographe,

51 Vor diesem Hintergrund kann ich Genettes Definition der Autofiktion nicht zustimmen, denn diese berücksichtigt die Ambiguität nicht, sondern geht im Gegenteil davon aus, dass die Autofiktion ihre fiktionalen Anteile verschleiere. Ausdrücklich in Differenz zu Doubrovsky definiert Genette Autofiktionen als „textes qui à la fois se donnent, formellement ou non, pour autobiographiques, mais présentent, avec la biographie de leur auteur, des discordances (plus ou moins) notables, et éventuellement notoires ou manifestes, comme celle qui sépare la vie de Dante de ‚sa‘ descente aux Enfers, ou celle de Borges de ‚sa‘ vision de l’Aleph. D’où […] mon hésitation à appliquer à l’œuvre même de Doubrovsky le terme que je lui emprunte: un texte qui se qualifie lui-même d’autofiction ne répond évidemment pas à ma définition du genre – toute hypothèse mise à part sur le caractère fictionnel ou non de ce qu’il raconte“ (GENETTE 1999, S. 32). 52 DOUBROVSKY 1988, S. 77; m. Herv. 53 Ebd. 54 Mit dem Begriff ‚analytisch‘ zielt Doubrovsky primär auf die Psychoanalyse. Konnotiert ist aber auch die Selbstanalyse durch Sprache, das Sich-selbst-im-Text-Auseinandernehmen. Fiktionalisierung versteht Doubrovsky entsprechend als ein psychoanalytisches Tun (vgl. ebd. insb. S. 73 u. 76ff.).

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comme pour n’importe quel écrivain, rien, pas même sa propre vie, n’existe avant son texte; mais la vie de son texte, c’est sa vie dans son texte.“ 55 Dahinter steht die (post-)moderne Auffassung, das Subjekt sei fragmentiert, sei ein sujet dispersé, wie Roland Barthes es genannt hat. Das sujet dispersé, so Barthes, bestehe nicht mehr, wie die frühere Konzeption des sujet divisé, aus Gegensätzen, sondern sei zerstreut in einer dynamischen Bewegung, die keinen Mittelpunkt und keinen strukturierten Sinn mehr kennt: „un éparpillement dans le jeté duquel il ne reste plus ni noyau principal ni structure de sens: je ne suis pas contradictoire, je suis dispersé“. 56 Von einer solchen „dispersion“ spricht auch Doubrovsky 57 und macht sie zur Grundlage der Unterscheidung von Autofiktion und Autobiographie: À l’inverse de l’autobiographie, explicative et unifiante, qui veut ressaisir et dérouler les fils d’un destin, l’autofiction ne perçoit pas la vie comme un tout. Elle n’a affaire qu’à des fragments disjoints, des morceaux d’existence brisés, un sujet morcelé qui ne coïncide pas avec lui-même. 58

Als Ursache für Fragmentierung und Konstruktivität des Ich wird von den Apologeten des sujet dispersé zum einen die Unzuverlässigkeit der Erinnerung angeführt. Erinnern wird nicht mehr als Rekonstruktions-, sondern als Konstruktionstätigkeit begriffen. Bereits die noch so genaue, vermeintlich authentische Erinnerung an die eigene Vergangenheit ist nur ein Konstrukt, in das auch Imaginäres einfließt und so ‚falsche‘ oder zumindest verfälschte Erinnerungen produziert. Ein weiterer Grund für die Fragmenthaftigkeit des Subjekts wird ersichtlich: Die Anhänger der Konzeption des sujet dispersé gehen von einer grundlegenden Erkenntnisbarriere für das sich selbst erforschende Subjekt aus. Niemand ist demnach in der Lage, sich jemals vollständig zu erkennen, u.a. weil das Unbewusste dem Subjekt nicht oder allenfalls spekulativ zugänglich ist. Nie kann man sicher sein, ob sich nicht Imaginäres in die Selbstkonstruktion einschleicht, denn, so Barthes, „l’imaginaire vient à pas de loup“. 59 Da das so genannte Ich also nur einen Teil des Subjekts ausmacht, nämlich den ihm selbst bewussten Teil, bleibt die Selbsterkenntnis zwangsläufig unvollständig. Nach Doubrovsky bedarf es daher zur Selbsterkenntnis des Anderen: „l’auto-connaissance passe par la reconnaissance de l’autre“. 60 Bei Doubrovsky ist es der Psychoanalytiker, der den Part des Anderen übernimmt und aufdeckt, was dem Subjekt verborgen bleibt. 61 Es ist nicht zuletzt diese Subjektkonzeption, die die Autofiktion von der Autobiographie im Sinne Lejeunes unterscheidet, die auf einem sich selbst transzendenten Subjekt mit kohärenter, stabiler Persönlichkeitsstruktur basiert.

55 56 57 58 59 60 61

DOUBROVSKY 1979, S. 105. BARTHES 1975, S. 146. Vgl. DOUBROVSKY 1999, Umschlag. Vgl. ebd. BARTHES 1975, S. 109. DOUBROVSKY 1988, S. 72. Vgl. ebd.

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Ist schon das Ich ein unvollständiges, teilweise imaginäres Konstrukt, so gilt dies ebenso für das erzählende Ich des autobiographischen Textes. Barthes hat dies innerhalb seines eigenen autobiographischen Projekts mit dem Titel Roland Barthes (1975) wie folgt formuliert: Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman – ou plutôt par plusieurs. Car l’imaginaire, matière fatale du roman et labyrinthe des redans dans lesquels se fourvoie celui qui parle de lui-même, l’imaginaire est pris en charge par plusieurs masques (personae), échelonnés selon la profondeur de la scène (et cependant personne derrière). […] La substance de ce livre, finalement, est donc totalement romanesque. L’intrusion, dans le discours de l’essai, d’une troisième personne qui ne renvoie cependant à aucune créature fictive, marque la nécessité de remodeler les genres: que l’essai s’avoue presque un roman: un roman sans noms propres. 62

Derjenige, der über sich selbst spricht, schaffe nur eine leere Figur bzw. Masken seiner selbst „avec personne derrière“, denn das Subjekt, so Barthes, habe keinen Referenten („dans le champ du sujet, il n’y a pas de référent“). 63 Wenn allerdings diese ‚Figur‘ auch auf keine fiktive Person verweist („qui ne renvoie […] à aucune créature fictive“), dann, so lässt sich schlussfolgern, verweist sie auf ein Konstrukt: den ‚Autor-Erzähler‘. Nicht der reale Autor erzählt, sondern sein textinterner counterpart, ein erzählendes Autor-Konstrukt, das ich im Folgenden als Autor-Erzähler bezeichnen werde, um es vom realen Autor zu unterscheiden. Während uns für gewöhnlich das, was wir unser Ich nennen, in seiner Konstruktivität nicht bewusst ist, inszeniert die Autofiktion das (textuelle) Ich des AutorErzählers nun gerade als bewusstes (Text-)Konstrukt. Damit legt sie zugleich die grundlegendere Konstruktivität des Ich eines jeden Subjekts bloß. Dies ist als zweites Gattungsmerkmal der Autofiktion festzuhalten: Der autofiktionale Text lenkt den Blick auf die stets unvollständige Selbsterkenntnis des Subjekts und die Tatsache, dass das Ich nur ein Konstrukt ist. Dabei reflektiert er auf den Schreibprozess als Konstruktionsprozess: Anders als die traditionelle Autobiographie zeigt die Autofiktion, dass sich das Ich erst im Verlauf des Textes

62 BARTHES 1975, S. 123f. Barthes setzt hier, symptomatisch für gewisse postmoderne Positionen, Konstrukt und Fiktion/Roman gleich („La substance de ce livre […] est donc totalement romanesque“) und betrachtet alle Konstrukte gleichermaßen als Fiktion, ohne – wie oben vorgeschlagen – zwischen Fakten und Fiktionen zu unterscheiden („toute chose revient […] comme Fiction“, ebd. S. 73). Die Referenzfunktion von Sprache wird von ihm ebenfalls gänzlich bestritten, alles Sprachliche ist für ihn bereits fiktional („le langage est, par nature, fictionnel“, BARTHES 1980, S. 134). Aus den oben dargelegten Gründen ist diese Auffassung heute als eine der Aporien der Postmoderne zu qualifizieren. (Zur Kritik an der „poststrukturalen These vom grundsätzlichen fiktiven Charakter der Sprache“ vgl. auch KABLITZ 2003, S. 251–256.) Die Begriffe ‚fiction‘ bzw. ‚fictionnel‘/‚romanesque‘ wären einfach in den gerade zitierten Sätzen Barthes’ durch ‚construction‘ bzw. ‚construit‘ auszutauschen. Im Unterschied zu Barthes zeigt Doubrovsky durchaus ein Bewusstsein für die Differenz von Fakt und Fiktion. Das Ich sei auf der Basis von Fakten (Spuren) konstruiert, und damit eben nicht frei erfunden: construire, so Doubrovsky, bedeute inventer de toutes traces, nicht inventer de toutes pièces (vgl. DOUBROVSKY 1988, S. 77). 63 BARTHES 1975, S. 60f.; Herv. aufgehoben.

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formt. Die Autofiktion sagt also nicht nur, dass das Ich ein Konstrukt ist (etwa in einem Metadiskurs), sondern führt das self-fashioning performativ vor. Auf Basis der beiden genannten Kriterien (fiktional-faktuale Ambiguität aufgrund einer widersprüchlichen Kommunikationssituation; Ausweisung des Ich als Konstrukt) möchte ich nun diskutieren, ob Perecs W ou le souvenir d’enfance (1975) und Robbe-Grillets Romanesques-Trilogie – Le Miroir qui revient (1984), Angélique ou l’enchantement (1987) und Les Derniers jours de Corinthe (1994) – als Autofiktionen zu bezeichnen sind, denn diese Texte verfügen alle über sowohl autobiographisch-faktuale als auch fiktionale Anteile. 64 2. Perecs W ou le souvenir d’enfance – eine Autofiktion? Zunächst kurz zu Inhalt und Struktur von Perecs W ou le souvenir d’enfance: In dem in zwei große Teile und 37 durchnummerierte Kapitel gegliederten Text wechseln sich kapitelweise ein autobiographischer Text und eine fiktionale Erzählung ab. In den autobiographischen Kapiteln macht sich der Autor Georges Perec auf die Suche nach seinen eher spärlichen Kindheitserinnerungen, die vom Trauma des frühen Verlusts seiner Eltern durch Krieg und KZ geprägt sind, sowie seiner eigenen, sehr lückenhaften Identität. In den fiktionalen Kapiteln von Teil I erläutert ein Ich-Erzähler die Umstände, die ihn dazu brachten, sich auf die Suche nach dem bei Feuerland verschollenen Kind Gaspard Winckler zu machen, dessen Namen er nach einem Identitätswechsel angenommen hat; die Erzählung Wincklers bricht am Ende des ersten Teils mit Auslassungszeichen abrupt ab (WSE 87); das folgende autobiographische Kapitel besteht nur aus drei eingeklammerten Punkten: „(…)“ (WSE 89). Anstelle einer subjektiv gefärbten Reiseerzählung Wincklers folgt im zweiten Teil der Fiktion eine ebenso detaillierte wie sachliche Beschreibung der Gesellschaft der fiktiven Insel W. Die Gesellschaft W basiert ihrem Selbstverständnis nach auf dem Ideal des Sports, alles steht unter dem olympischen Motto „fortius, altius, citius“ (WSE 96). Im Laufe der Beschreibung entpuppt sich W jedoch zunehmend als Allegorie eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers. Den fiktionalen und autobiographisch-faktualen Teilen wird mit jeweils der Hälfte der Kapitel in etwa gleich viel Raum gewidmet. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Hierarchisierung erfolgt. Die autobiographische Ebene bildet zwar keine klassische Rahmenerzählung, in die die Fiktion W ‚eingebettet‘ wäre, aber im ersten autobiographischen Kapitel weist sich Perec als Erfinder der Fiktion W aus: „À treize ans, j’inventai, racontai et dessinai une histoire. […] cette histoire s’appelait ‚W‘“ (WSE 17f.). Insofern in der Autobiographie über die Fiktion gesprochen werden kann, ist sie der Fiktion übergeordnet. Die klare Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Diskurs wird typographisch untermauert durch die Aufteilung in unterschiedliche Kapitel, wobei die 64 Im Folgenden kurz WSE für W ou le souvenir d’enfance, M für Le Miroir qui revient, A für Angélique ou l’enchantement und DJC für Les Derniers jours de Corinthe.

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fiktionalen Kapitel zusätzlich durch Kursivierung abgehoben werden. Die autobiographischen Passagen sind bei Perec rein faktual, sie enthalten keine Fiktionssignale, so dass auf dieser Ebene keine fiktional-faktuale Ambiguität entsteht. Ausdrücklich macht Perec dann allerdings auf eine (doppelte) autobiographische Dimension der Fiktion W aufmerksam: „elle était, d’une certaine façon, sinon l’histoire, du moins une histoire de mon enfance“ (WSE 18). Als sein Werk ist die Fiktion ein autobiographisches Faktum im Leben Georges Perecs, und dieses Leben ist zugleich ihr Sujet. Es ist für unsere Frage entscheidend, dass das Fiktionale hier ganz klassisch als autobiographisch relevant ausgewiesen wird – und nicht etwa umgekehrt das Autobiographische als Fiktion (bzw. Konstrukt), wie im Fall der Autofiktion. Durch die Integration der Fiktion in das Autobiographische bleibt der autobiographische Pakt also insgesamt intakt. 65 Er bleibt es auch deswegen, weil es trotz einer permanenten Problematisierung der Identitäten der Ich-Erzähler keine widersprüchliche Kommunikationssituation gibt. Der Trennung von fiktionalem und faktualem Diskurs entspricht die deutliche Unterscheidung der Erzählinstanzen: Der fiktive Winckler wird explizit als eine von Perec geschaffene Romanfigur bezeichnet (WSE 145f.). Der autobiographische Erzähler Perec wird seinerseits nicht in seiner Differenz zum realen Autor gezeigt, nicht als dessen Konstrukt markiert: Der Erzähler der autobiographischen Passagen ist – ganz wie in der traditionellen Autobiographie – als der Autor Perec zu identifizieren. Anders als in der Autofiktion wird die Identifizierung von Autor und Erzählinstanz hier also nicht problematisiert, so dass weiter vom Autor (anstelle vom AutorErzähler) gesprochen werden kann. Die Fiktion bleibt der Erzählautorität des im Kommunikationssystem übergeordneten Autors unterworfen. Das erste Kriterium für Autofiktionen ist also nicht erfüllt. Wie steht es nun mit dem Ausweis des Ich als Konstrukt? Zunächst deutet einiges darauf hin, dass hier – wie in der Autofiktion – ein sujet dispersé inszeniert wird, denn die Identitäten der Erzähler Perec und Winckler sind problematisch und lückenhaft. Auch werden dafür die unzuverlässige Erinnerung, Gedächtnisverluste und mangelndes Wissen über die Vergangenheit verantwortlich gemacht. In den autobiographischen Passagen wird die Authentizität der Erinnerungen ständig dadurch infrage gestellt, dass entweder das Gesagte als bloße subjektive Vermutung markiert wird („il me semble que“, WSE 81) oder die Erinnerungslücken direkt als solche benannt werden („j’ai tout oublié“, WSE 25; „je ne m’en souviens pas“, WSE 165; „absence de repères: les souvenirs sont des morceaux de vie arrachés au vide. Nulle amarre. Rien ne les ancre, rien ne les fixe“, WSE 98). Auch die Aufdeckung ‚falscher‘ Erinnerungen trägt ihren Teil bei, so z.B. Perecs vermeintlicher Schulterbruch, den in Wahrheit nicht er, sondern bloß ein Schul65 Dass der autobiographische Pakt in W ou le souvenir d’enfance intakt bleibt, hat schon Doris Grüter konstatiert und dabei ebenfalls auf die Hierarchisierung der Ebenen verwiesen (vgl. GRÜTER 1994, S. 279f.). Auch Michel Bernier bescheinigt der Fiktion W, im Dienst des Realen bzw. der Autobiographie zu stehen und spricht von „W ou la fiction au service du réel“ (BERNIER 1997, S. 12). Manet van Montfrans weist zu Recht darauf hin, dass der autobiographische Teil der Fiktion in textgenetischer Sicht nachgeordnet ist, da er zeitlich später entstand (vgl. MONTFRANS 1999, S. 155); dies stört jedoch den autobiographischen Pakt nicht.

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kamerad erlitten hatte (WSE 112f.). Die beständigen Verweise auf die potentielle Inauthentizität des Gesagten lassen sich nun aber auch als Authentifizierungsstrategie lesen. Denn wer sich derart offen zu Unsicherheiten und Lücken bekennt, ist ja – wie am Beispiel Rousseaus erörtert – genau darin authentisch. Insofern steht Perec durchaus in der Tradition der Autobiographie. Anders als Rousseau schmückt Perec allerdings seine Erinnerungsdefizite nicht mit Fiktivem aus, sondern weist permanent auf die Mängel hin. Dass Perecs Identität in der Folge fragmentarisch-lückenhaft wirkt, ist letztlich nicht auf die Annahme einer grundsätzlichen Erkenntnisbarriere zurückzuführen, sondern erscheint als seinem Einzelschicksal, seinem Trauma geschuldet. Dass seine Selbsterkenntnis nicht gelingt, ist weniger ein epistemologisches, als ein persönliches Problem. Die Geschichte (‚mit großem G‘, i.e. die Historie) hat ‚mit ihrer großen Axt‘ die Kindheitserinnerungen aus Perecs Leben ‚herausgehauen‘: Je n’ai pas de souvenirs d’enfance. […] j’ai perdu mon père à quatre ans, ma mère à six. […] J’en étais dispensé: une autre histoire, la Grande, l’Histoire avec sa grande Hache avait déjà répondu à ma place: la guerre, les camps. (WSE 17)

Ein Kindheitstrauma, der Verlust der Familie in Krieg und Holocaust, ist verantwortlich dafür, dass die Identität als Leerstelle, als nie zu beseitigender Mangel erscheint. 66 Die Leerstelle ist das alles prägende Element, nicht nur für Perecs Erinnerung und Identität, sondern auch für die Darstellungsebene der Erzählung, in deren Zentrum die symbolischen Auslassungszeichen stehen. Identitätsstiftung erscheint bei Perec also nicht als Konstruktionsprozess, sondern als defizitär bleibender Rekonstruktionsprozess. Das Ich wird nicht als Konstrukt, sondern nur in seiner Lückenhaftigkeit gezeigt. Anstelle eines autofiktionalen ‚Ich bin es und ich bin es nicht‘ wird von Perec ein ‚Ich bin es, aber ich weiß nicht, wer ich bin‘ inszeniert. Identität wird als etwas Gegebenes (bzw. hier: Verlorenes) betrachtet, das prinzipiell auffindbar wäre – wäre es nicht durch ein Trauma beschädigt. Entsprechend formt sich das Ich auch nicht erst im Schreiben selbst. Perec geht es offenbar nicht um die Selbst-Fiktion und ihre epistemologischen und autobiographie-theoretischen Implikationen, sondern darum, das Trauma seines Lebens und die daraus resultierende Identitätsproblematik zu veranschaulichen. Als Motiv seines Schreibens gibt er an, vom Unsagbaren Zeugnis ablegen und seiner toten Eltern gedenken zu wollen: „l’indicible n’est pas tapi dans l’écriture, il est ce qui l’a bien avant déclenchée“, „j’écris parce que nous avons vécu ensemble […] l’écriture est le souvenir de leur mort et l’affirmation de ma vie“ (WSE 63f.). Perecs Text ist demnach nicht als Autofiktion zu bezeichnen, denn er steht trotz großer fiktionaler Anteile noch im Zeichen des autobiographischen Pakts und ist nach unserem Klassifikationsschema dem Typ ‚faktualer Text‘ zuzuordnen. Dass die Fiktion bei Perec noch im Dienst des Faktualen steht, zeigt sich auch daran, dass es sich um eine Allegorie handelt. Als Allegorie eines Konzentrationslagers wird die Fiktion erst erkennbar durch eine Reihe von Faktualitätssignalen, 66 Vgl. dazu auch GRÜTER 1994, S. 276.

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deren Dichte im Laufe des Textes zunimmt. 67 Zum einen wird W generell immer deutlicher als totalitäres Regime erkennbar, das auf einer menschenverachtenden Ideologie, Willkürherrschaft (WSE 149) und einem strengen Überwachungssystem mit körperlicher Ausbeute und Nahrungsmittelrationierung (WSE 126ff.) basiert. Zum anderen gibt es konkrete Anspielungen auf Nationalsozialismus, Holocaust und Konzentrationslager: z.B. die germanische Herkunft der Inselbewohner (WSE 95), deutsche Worte und Bezeichnungen („l’Oberschrittmacher“, WSE 138; „Raus! Raus! […] Schnell! Schnell!“, WSE 210f.), NS-Schlüsselbegriffe wie „Race“ (WSE 209), die „bras tendus“ des Hitlergrußes (WSE 219), die Häftlingskleidung mit den aufgenähten Stoffdreiecken (WSE 134, 219) oder die Beschreibung der Sportler als „Athlètes squelettiques“ mit „crânes chauves et luisants, [l]es yeux pleins de panique“ (WSE 220). 68 Im letzten autobiographischen Kapitel wird die Allegorie dann auch explizit. Perec zieht dort die Parallele zwischen seiner Fiktion und einem Buch über die Konzentrationslager, das zur Beschreibung der körperlichen Ausbeute im KZ ebenfalls auf die Sportmetaphorik rekurriert: „La structure des camps […]: pas de travail, du ‚sport‘, une dérision de nourriture“ (WSE 221f.). Die Allegorie verweist also auf das, was der autobiographisch-faktuale Diskurs nicht sagt bzw. beschreibt: die Leerstelle ‚Holocaust‘. Diese Leerstelle erfährt durch die Allegorie eine zumindest implizite Füllung. Die Allegorie bestätigt zugleich aber die Hierarchie von faktualem und fiktionalem Diskurs. Als Ersetzungsfiguren verweisen Allegorien stets auf ein ‚eigentlich‘ Gemeintes. Bei Perec ist dies der Holocaust als das im autobiographischen Diskurs ‚unsagbare‘ faktische Substrat. Mit anderen Worten: Durch die Allegorie wird der autobiographische als der ‚eigentliche‘ Diskurs fokussiert. Insofern die Fiktion das Unsagbare allererst sagbar macht, dient sie, ganz traditionell, der Erhellung des Faktualen. Andererseits hebt die Tatsache, dass es zum ‚Sagbarmachen‘ überhaupt einer Allegorie bedarf, die Unsagbarkeit im faktualen Diskurs nur umso deutlicher hervor. 67 Daneben gibt es auch Faktualitätssignale, die auf Biographisches verweisen, z.B. die Ähnlichkeiten zwischen Perec und Winckler auf Inhaltsebene: Gaspard Wincklers Mutter heißt Caecilia, Perecs Mutter Cécile (WSE 40, 49). Wie der achtjährige Winckler leidet Perec an einem „traumatisme enfantin“ (WSE 40): Das Alter von acht Jahren ist für Perec „[une] sorte d’année zéro dont je ne sais pas ce qui l’a précédée“ (WSE 183). Perec markiert seinen Romanhelden Winckler als sein Alter ego, indem er ihm sein persönliches Kennzeichen, eine Narbe an der Oberlippe, zuschreibt (WSE 145f.); Winckler und Perec suchen beide ein Kind, dessen Namen sie tragen. Außerdem gibt es lexikalische Rekurrenzen, die Fiktion und Autobiographie engführen, z.B. Perecs „hantise des fractions (comment les réduire)“ (WSE 183) und die „réduction de fractures“ in W (WSE 188). Weitere Beispiele sind: „allemand“/„Allemands“ (WSE 138f.); „répondre …“/„(…)“/„points de suspension“ (WSE 87, 89, 114); „pension de famille“/„pensions de Villard-de-Lans“ (WSE 16f.); „lacérait“/„lacérés“ (WSE 9, 213). Vgl. zu diesen Äquivalenzen auch MAGNÉ 1989, S. 173ff. 68 Anspielungen auf den Holocaust gibt es schon zu Beginn von Wincklers Erzählung. Otto Apfelstahl ist wahrscheinlich ein in die USA emigrierter Deutscher jüdischer Abstammung (WSE 22); Winckler trifft sich mit Apfelstahl im Hotel „Berghof“ in der „Nurmbergstrasse [sic]“ (WSE 20) – Anspielungen auf Hitlers Residenz am Obersalzberg sowie die Nürnberger Rassegesetze oder NS-Reichsparteitage. Wenn Winckler vorgibt, zur Beerdigung seiner Mutter nach „D., en Bavière“ (WSE 23) zu fahren, evoziert dies das KZ Dachau.

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Dadurch, dass die Fiktion etwas schafft, was die Autobiographie nicht vermag, bleibt sie autonom und als Fiktion in ihrem Recht. So lässt sich die Wirkungskraft von Perecs Buch erklären: Mit der Allegorisierung werden sämtliche Potentiale der Fiktion – Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn – ausgeschöpft, um dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen und es zugleich als unter normalen Umständen (d.h. im faktualen Diskurs) unsagbar, als nie zu füllende Lücke, als Trauma zu markieren. 3. Robbe-Grillets Romanesques als idealtypische Realisierung der Autofiktion Schon bei Betrachtung der theoretischen Äußerungen Robbe-Grillets zeigt sich sein „projet de raconter [s]a vie“ (M 18) mit dem der Autofiktion verwandt. Robbe-Grillets Subjektkonzeption ist die des sujet dispersé: „Je suis […] fait de morceaux qui ne peuvent pas trouver un assemblage cohérent, définitif, paraissant stable. Ces morceaux sont mobiles et incertains; […] ils sont insignifiants.“ 69 Auch betrachtet er den Akt der Selbsterkenntnis als zwangsläufig unvollständig: Nicht nur traue er seinen Erinnerungen nicht, 70 sondern, so Robbe-Grillet, das Unbewusste sei dem Bewusstsein prinzipiell unzugänglich. 71 Mit der daraus resultierenden Feststellung, es gebe „dans la relation autobiographique à soi-même quelque chose d’impossible“, 72 wendet er sich explizit gegen Lejeunes Autobiographiekonzept, das als „projet globalisant“ das Subjekt und seine Vergangenheit auf eine bestimmte ‚Wahrheit‘ festlegen wolle, 73 und entwirft mit den Romanesques ein alternatives autobiographisches Projekt, in dem er drei Diskurse miteinander kombiniert, den autobiographischen, den essayistischen und den fiktionalen. 74 Anders als bei Perec sind die drei Diskurse schon auf der Textoberfläche nicht streng voneinander getrennt, sondern gehen im Gegenteil immer wieder ineinander über. In den autobiographischen Passagen wird das Leben Robbe-Grillets verhandelt, in den poetologisch-essayistischen seine Ansichten zu Ästhetik, Kunst und Literatur und speziell zum autobiographischen Schreiben. Die fiktionalen Passagen erzählen die Abenteuer eines gewissen (fiktiven?) Grafen Henri de Corinthe.

69 ROBBE-GRILLET 2001, S. 296. 70 Vgl. ebd. S. 283. 71 Vgl. dazu: „[…] la conscience est structurée comme notre langage […], mais ni le monde ni l’inconscient; avec des mots et des phrases, je ne peux représenter ni ce que j’ai devant les yeux, ni ce qui se cache dans ma tête, ou dans mon sexe“ (M 17f.). 72 ROBBE-GRILLET 2001, S. 283. 73 Vgl. ebd. S. 542f. u. 295. 74 Die Bezeichnung der Diskurse mit den konventionellen Begriffen ‚autobiographisch‘, ‚fiktional‘ und ‚essayistisch‘ ist aus Gründen der Darstellbarkeit erforderlich: Die – immerhin auf den ersten Blick verschieden wirkenden – Diskurse müssen hier, um überhaupt über sie reden zu können, benannt werden. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ihre Differenzierung und Etikettierung als äußerst problematisch, wenn nicht unmöglich erweist. Darauf wird im Folgenden genauer einzugehen sein.

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Mit dem Neologismus „Romanesques“ habe er, so Robbe-Grillet in einem Interview, bewusst eine Gattungsbezeichnung gewählt, die die Texte als Fiktion charakterisiere, zugleich aber vom Roman abgrenze.75 Innerhalb der Trilogie selbst ist dann u.a. von einer „fiction“ (M 13 u. 19), „ma modeste autobiographie“ (M 47), von „errements autofictionnels“ (DJC 177) und „mon entreprise autohétéro-biographique“ (DJC 190) die Rede. Am präzisesten erscheint die Umschreibung als „autobiographie consciente“, c’est-à-dire consciente de sa propre impossibilité constitutive, des fictions qui nécessairement la traversent, des manques et apories qui la minent, des passages réflexifs qui en cassent le mouvement anecdotique, et peut-être en un mot: consciente de son inconscience. (DJC 17)

Hier zielt Robbe-Grillet auf die erwähnte ‚Unmöglichkeit der autobiographischen Beziehung‘ und fordert von seiner ‚bewussten Autobiographie‘, dass sie diese grundlegende epistemologische Schranke im Text selbst markiert. Unmöglich ist es dann, das autobiographisch Konstituierte noch als wahr auszugeben. Nichts aber läge Robbe-Grillet ferner, erteilt er doch dem autobiographischen wie jedem Wahrheitsanspruch eine grundsätzliche Absage: „Je ne crois pas à la Vérité. Elle ne sert qu’à la bureaucratie, c’est-à-dire à l’oppression“ (M 11). Er präzisiert aber sogleich: Je ne suis pas homme de vérité, ai-je dit, mais non plus de mensonge, ce qui reviendrait au même. Je suis une sorte d’explorateur […] qui ne croit pas à l’existence antérieure ni durable du pays où il trace, jour après jour, un chemin possible. […] Et c’est encore dans une fiction que je me hasarde ici. (M 13)

Deutlich wird hier zweierlei. Die Bezeichnung als „fiction“ befreit die Romanesques vom Maßstab der Wahrheit bzw. Lüge. Sie erheben keinen Anspruch auf Faktualität. Außerdem wird die textuelle Konstruktionstätigkeit thematisiert, in der nicht Vorgängiges abgebildet, sondern erst etwas geschaffen wird. Entsprechend weist Robbe-Grillet darauf hin, dass sich die Trilogie nicht darauf beschränke, ein paar hübsche Erinnerungen ‚für bare Münze‘ auszugeben (M 18); vielmehr würden Elemente seiner Biographie in Textoperatoren transformiert, mit denen er dann frei ‚agieren‘, sprich: konstruieren könne: „opérateurs […] sur lesquels et grâce auxquels je pourrai cette fois agir“ (ebd.). Die autobiographische Wahrheit („je m’obstine à la [sc. ma vie] cerner dans sa vérité“, ebd.) wird so in einer „incessante remise en cause“ (ebd.) immer sofort wieder infrage gestellt – ganz nach Robbe-Grillets Überzeugung, es handele sich bei Literatur stets um den Versuch einer letzlich unmöglichen Repräsentation („une poursuite d’une représentation impossible“, ebd.). Die Romanesques zeigen das ‚Bewusstsein ihrer eigenen Unmöglichkeit‘ – ganz im Sinne der Autofiktion – dadurch, dass sie das (Autor-)Ich und den autobiographisch-faktualen Diskurs, in dem sich das Ich konstituiert, in ihrer Kon75 Vgl. ebd. S. 542. — Keiner der Romanesques-Bände trägt im Übrigen eine Gattungsbezeichnung im Untertitel. Robbe-Grillet erklärt aber, schon für den ersten Band Romanesques I vorgeschlagen zu haben; dies habe jedoch sein Verleger abgelehnt (vgl. ebd. S. 541). Bei Angélique und den Derniers jours erscheint der Begriff Romanesques immerhin im Klappentext.

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struktivität aufdecken. Dazu dienen im Wesentlichen zwei Strategien, die immer wieder in der Figur Corinthes zusammenlaufen. Zum einen werden fiktionaler und faktualer Diskurs so miteinander verschränkt, dass vielfach nicht mehr entschieden werden kann, ob das Erzählte nun fiktional oder faktual ist. Die zweite Strategie besteht in der Inszenierung einer widersprüchlichen Kommunikationssituation, bei der der reale Autor einerseits im Text überall unmittelbar präsent zu sein und hinter jeder Figur zu stehen scheint, andererseits aber niemals direkt, sondern nur mittels eines Stellvertreter-Konstrukts, eines Erzählers sprechen kann. Zur klareren Unterscheidung von textexterner und -interner Kommunikationsinstanz werde ich künftig differenzieren zwischen (1) dem realen Autor Robbe-Grillet und (2) dem Autor-Erzähler ‚Robbe-Grillet‘ (in einfachen Anführungszeichen). Als Folie für die Vermischung von fiktionalem und faktualem Diskurs werden im Text zunächst ein fiktionaler und zwei faktuale Diskurse etabliert. Als faktual erscheinen der autobiographische und der essayistische Diskurs, in denen sich der Erzähler als realer Autor, als ‚Ich, Alain Robbe-Grillet, Verfasser des vorliegenden Texts‘ zu erkennen gibt. 76 Fiktional erscheinen dagegen die Abenteuer Henri de Corinthes, u.a. wegen ihrer teils irreal-phantastischen, also fiktiven Inhalte. 77 Die punktuelle Streuung ambiger Signale macht die Unterscheidung der Diskurse dann jedoch problematisch, wenn nicht unmöglich. Dabei wird im Fall (a) der (vermeintlich) faktuale Diskurs von potentiellen Fiktionssignalen unterminiert, und im Fall (b) der fiktionale Diskurs mit ambigen Signalen durchsetzt, die Faktualität und Fiktionalität gleichermaßen indizieren. Dazu zwei Beispiele. (a) In der autobiographischen Episode, in der ‚Robbe-Grillet‘ von einem Überraschungsbesuch bei seinem Onkel Maurice und dessen Frau Louise in Ornans berichtet, verbirgt sich ein mögliches Fiktionssignal. Am Ende der Episode heißt es anlässlich des Todes von Onkel und Tante: „Ils sont morts tous les deux peu de temps après. Papa est allé à l’enterrement (à Ornans, ô Courbet!)“ (M 107). Scheint die Parenthese zunächst nur eine beiläufige Hommage an Gustave Courbet zu sein, der mit seinem Gemälde L’enterrement à Ornans (1849–50) das gleiche Sujet behandelt hat, sorgt die Apostrophe bei genauerer Betrachtung für Irritation. Rückblickend lässt sie einige Elemente der Episode in neuem Licht erscheinen und gerät so zum potentiellen Fiktionssignal. Dass Onkel Maurice sich etwa in seiner Freizeit der Ölmalerei verschrieben hat und dabei stets die heimatliche Landschaft der Franche-Comté malt (M 106), wirkt kaum mehr zufällig, wenn man weiß, dass auch für den ebenfalls aus Ornans stammenden Courbet die örtliche Umgebung ein wichtiges Motiv war. Wenn aber damit Onkel Maurice (als scheinbarer historical counterpart des realen Onkels) Züge Courbets annimmt, so lässt ihn dies als mehr oder weniger frei gestalteten fictional counterpart erschei-

76 So jeweils zu Beginn der Bände, vgl. etwa: „[…] le présent mémoire sans fond ni origine, peut-être sans fin, dont je suis en train d’écrire le troisième volume que vous lisez en ce moment même, commencé […] à la fin septembre (1988)“ (DJC 17). 77 Corinthe reitet stets völlig lautlos (M 22f.), leidet an den Folgen eines Vampirbisses (M 218), und ab dem zweiten Romanesques-Band wimmelt es nur so von Hexen, Feen und Zauberei.

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nen und macht die Figur in ihrer Konstruktivität bewusst. 78 Letztlich wird so die Authentizität der gesamten Episode mehr oder minder zweifelhaft, denn es bleibt unklar, was genau als faktual und was als fiktional zu werten ist. Illustriert wird zugleich die grundsätzliche menschliche Erkenntnisbarriere: Ebenso wie in der Maurice-Episode nicht gesagt werden kann, inwiefern sie mit den historischen Fakten übereinstimmt, kann der Mensch nie wissen, ob und inwieweit das, was er (bewusst oder unbewusst) konstruiert, mit einer Realität jenseits menschlicher Erfahrung übereinstimmt. Der Satz „Papa est allé à l’enterrement (à Ornans, ô Courbet!)“ wird also zum Schnittpunkt einer ambigen Verquickung von fiktionalem und faktualem Diskurs. Dass außerdem Onkel Maurice seine Landschaftsbilder nicht in der Natur, sondern nach Postkartenmotiven malt (M 106), und mit Courbet ausgerechnet auf einen Vertreter des Realismus angespielt wird, macht ebenso nachdenklich wie die Bemerkung, die verschneiten Tannen auf Maurices Bildern ähnelten den Gräten von sauren Heringen (ebd.). Wenn nämlich die Landschaftsmalerei auf Basis von Artefakten entstanden ist und das so genannte Realistische der Realität nicht ähnelt, liest sich das als clin d’œil auf die unmögliche Abbildung der Wirklichkeit, die Konventionalität des so genannten Realismus und die mögliche Inauthentizität der autobiographischen Episode. (b) Ein durchweg ambiges Signal setzt auch jene Photographie, die ‚RobbeGrillet‘ als Beleg für ein angebliches Treffen Corinthes mit Konrad Henlein, dem Führer der Sudetendeutschen, im Jahr 1937 anführt: Il demeure que les relations – amicales peut-être, cordiales en tout cas – qui existaient entre Henri de Corinthe et Conrad Henlein (chef du parti pro-nazi dans les Sudètes et en Bohème du Nord) semblent attestées par une photographie prise à Paris […] lors de l’inauguration du pavillon de l’Allemagne à l’exposition internationale de 1937. (M 175)

Da das Medium Photographie, wie Barthes sagt, im Unterschied zu Sprache und Malerei stets die ‚Spur des Realen‘ trägt, das Noema ‚Ça-a-été‘, 79 und die Existenz des abgelichteten Objekts (zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit) nicht einfach behauptet, sondern bestätigt, 80 verleiht die Erwähnung der Photographie von Corinthe und Henlein der Episode einen effet de réel. 81 Sie wäre als Faktualitätssignal zu werten, kämen nicht Zweifel an der Existenz der Photographie auf. Stutzig macht zunächst die Schreibung von Conrad mit ‚C‘, hieß der historische Henlein doch Konrad mit ‚K‘. 82 Ist die Aufmerksamkeit erst auf die Eigennamen gerichtet, fällt noch mehr auf: Die Namen Henri de Corinthe und Conrad Henlein bilden ein (nicht ganz vollständiges) Anagramm. Die französische Aussprache von Conrad ähnelt zudem verblüffend der von Corinthe. Solche Spiele mit Signifikanten und Variationen von Figurennamen sind nun aber eine Spezialität des 78 Zur freieren Gestaltbarkeit von fictional counterparts im Unterschied zu historical counterparts siehe oben Anm. 25. 79 Vgl. BARTHES 1980, S. 120. 80 Vgl. dazu Barthes: „[L]’essence de la Photographie est de ratifier ce qu’elle représente. […] Cette certitude, aucun écrit ne peut me la donner“ (ebd. S. 133f.). 81 Zum effet de réel dieser Stelle vgl. ROBBE-GRILLET 2001, S. 517. 82 Es handelt sich offenbar auch nicht um eine offizielle französierende Orthographie, notiert diese doch ebenfalls Konrad mit K (vgl. PETIT ROBERT DES NOMS PROPRES 2005, S. 988).

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Nouveau Roman und dort unter dem Begriff Generatorentechnik bekannt geworden. In Robbe-Grillets früheren Romanen, v.a. seit La Maison de rendez-vous (1965), kommen sie ständig vor und dienen laut Robbe-Grillet explizit dazu, die Erzähltexte als artifiziell auszuweisen und jeden Wahrheits- und Natürlichkeitsanspruch sowie effet de réel zu verhindern. 83 Robbe-Grillet hat das Verfahren einmal anhand von Figurennamen vorgeführt: Dabei wurde Roland zu Rolla, Horla und Orlando, Laurent zu Loran und Lorào, Charlotte zu Carl Ott. 84 Vor diesem Hintergrund scheint das ‚C‘ in Conrad kein Irrtum, sondern durch eine bewusst konstruierte Namensähnlichkeit motiviert zu sein – es gerät, zumindest potentiell, zum Fiktionssignal. Folglich wäre das vermeintlich historische Treffen von Corinthe und Henlein weder zufällig noch historisch, sondern auf Basis einer Signifikantenähnlichkeit erfunden. Bestätigen lässt sich dies freilich nicht, das ‚C‘ könnte ja ggf. doch ein Irrtum und das Anagramm bloßer Zufall sein. Kurz, die Stelle bleibt mehrdeutig. Der Name „Conrad Henlein“ fungiert hier weder eindeutig als Fiktions- noch eindeutig als Faktualitätssignal: Als möglicher historical counterpart verweist er auf das Faktuale, als potentieller fictional counterpart auf das Fiktionale. Resultat ist das für die Autofiktion typische Oszillieren zwischen Fakt und Fiktion. Die Ambiguisierungsstrategien gipfeln aber in der Figur Corinthes. Als Grenzgänger zwischen Fakt und Fiktion dient sie als Klammer für den autobiographischen und den fiktionalen Diskurs. Eingeführt wird Corinthe zunächst als historische Person, als Bekannter von ‚Robbe-Grillets‘ Vater (M 8 u. 22), und ist somit Teil der autobiographischen Passagen. Anders gesagt, er wird gerade nicht als von Robbe-Grillet erfundene fiktive Figur markiert (wie dies bei Perecs Winckler der Fall war), postuliert wird im Gegenteil seine Faktizität. Andererseits wirkt er dann aber sehr wohl fiktiv. Fiktionssignale sind neben den erwähnten phantastischen Elementen z.B. auch der intertextuelle Bezug auf den fiktiven Lord Corynth aus Robbe-Grillets Roman Souvenirs du triangle d’or (1978), über den Corinthe als Romanfigur und Geschöpf Robbe-Grillets ausgewiesen wird, und die widersprüchlichen Lebensdaten: Heißt es zunächst, Corinthe sei deutlich nach 1894 geboren (M 71f.), wird später 1889 als Geburtsjahr genannt (DJC 86). Außerdem mutiert Corinthe, der zunächst als Freund und Alter ego von RobbeGrillets Vater erscheint, im Laufe der Trilogie mehr und mehr zum Alter ego des Autors selbst. Dies zeigt sich u.a. in jener mise en abyme, in der Corinthe an einem – den Romanesques überaus ähnlichen – Buch schreibt, das charakterisiert wird als „mélange […] d’autobiographie et de théorie ‚révolutionnaire‘, auquel s’ajoutait […] une part indéterminée de politique-fiction, pour ne pas dire roman“ (A 25). ‚Robbe-Grillet‘ gibt außerdem schon zu Beginn an, Ziel seines (immerhin autobiographischen) Projekts sei es, die Identität Corinthes zu klären, nicht seine eigene: „Qui était Henri de Corinthe?“ (M 7), „C’est de Corinthe qu’il devrait 83 Vgl. dazu Robbe-Grillet im Jahr 1972: „[P]our la première fois, un mode de production s’annonce lui-même comme non naturel […]. Aujourd’hui nous sommes décidés à assumer pleinement l’artificialité de notre travail; il n’y a pas d’ordre naturel […], il n’existe que des ordres humains créés par l’homme“ (ROBBE-GRILLET 2001, S. 133). 84 Vgl. ebd. S. 196f.

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s’agir (non de moi)“ (A 24). Dies erklärt nun auch ‚Robbe-Grillets‘ Rede von seiner „entreprise auto-hétéro-biographique“ (DJC 190), wird doch das Ich hier getreu nach Rimbauds „Je est un autre“ als ein Anderer, als von sich selbst verschieden, ‚heterogen‘ inszeniert. Das Erzählen in der dritten Person dient hier der Distanzierung des Subjekts von sich selbst. Trotz des Namensunterschieds von Robbe-Grillet und Corinthe wird also ein verdeckter autobiographisch-faktualer Pakt nahegelegt. Wird beim klassischen Alter ego die ihm inhärente Ambiguität (qua Namensdifferenz ist es Fiktionssignal, qua Ähnlichkeit mit dem Autor Faktualitätssignal) zugunsten des Autobiographisch-Faktualen als dem ‚eigentlich‘ Gemeinten aufgelöst (so noch bei Perec), ist dies bei Robbe-Grillet nicht mehr der Fall. Die klare Hierarchie von (faktischem) Schöpfer und (fiktiver) Schöpfung bzw. Autor und Figur wird bewusst durchbrochen, wenn sich Corinthe unvermittelt zur Erzählautorität aufschwingt und damit infrage stellt, ob er tatsächlich eine von RobbeGrillet hervorgebrachte Figur ist. Besonders deutlich zeigt sich dies in einer Metalepse, in der sich Corinthe in seinen ‚Memoiren‘ überraschend über die Romanesques äußert: „Alain Robbe-Grillet raconte dans ses mémoires qu’il y avait encore au château d’Eu, lorsqu’il a connu Nathalie Sarraute, une splendide vaisselle dorée…“ (DJC 87). Vier Seiten zuvor hatte ‚Robbe-Grillet‘ (und freilich auch Robbe-Grillet) in der Tat von seiner ersten Begegnung mit Sarraute, Ende der 1950er Jahre, auf dem Schloss von Eu berichtet (DJC 83), aber damit thematisiert Corinthe hier etwas, das er nicht wissen kann, ‚lebt‘ und ‚schreibt‘ er doch angeblich Jahrzehnte vor der Abfassung der Romanesques. Doch nicht genug damit, dass sich Corinthe hier zum (vermeintlich) übergeordneten Erzähler erhebt. Er nimmt sich zudem das Recht heraus, den Bericht des anderen zu modifizieren: Eine ‚vergoldete Schüssel‘ wurde von ‚Robbe-Grillet‘ nämlich gar nicht erwähnt. Damit tut aber Corinthe offenbar nichts anderes, als das Leben seines Schöpfers zu fiktionalisieren: Er macht Robbe-Grillet zum fictional counterpart seiner eigenen Geschichte. Auf die Frage, wer wen hervorgebracht hat (Robbe-Grillet Corinthe oder Corinthe Robbe-Grillet), gibt der Text also eine widersprüchliche Antwort. Andererseits zeigt jedoch gerade die Metalepse, wer ‚eigentlich‘ hinter Corinthe steht: der reale Autor als Textproduzent, denn nur er verfügt über die Macht, eine Aussage, die er selbst soeben erst niedergeschrieben hat, einige Seiten weiter im selben Text einer Figur in den Mund zu legen. Nirgendwo ist im Grunde die Erzählautorität des realen Autors uneingeschränkter zu spüren als in einer solchen Ebenendurchbrechung. Deutlich wird, dass der reale Autor stets hinter allen seinen Schöpfungen bzw. Figuren steht. Dies erklärt nun auch jene ‚skandalöse‘ Aussage Robbe-Grillets zu Beginn der Romanesques, die zu seinem (scheinbar ‚subjektlosen‘) Nouveau Roman-Werk so gar nicht zu passen schien: „Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi“ (M 10). Nichtsdestoweniger wird gerade in der Metalepse, diesem neuralgischen Punkt der Erzählung, der Unterschied zwischen realem Autor und Autor-Erzähler manifest: Nur letzterer kann von Corinthe metaleptisch verdrängt werden, der reale Autor dagegen nie (auch wenn mit genau dieser Idee gespielt wird); d.h. nicht Robbe-Grillet, sondern ‚Robbe-Grillet‘ wird von Corinthe zum fictional counterpart degradiert. Erneut wird klargestellt, dass

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auch in der Autobiographie stets nur eine Erzählinstanz als Stellvertreter für den realen Autor spricht. Ganz im Sinne der Autofiktion wird hier also ein ‚Ich bin es und ich bin es nicht‘ inszeniert und auf die problematische Identifizierung von Autor und Erzähler/Protagonist hingewiesen. Noch pointierter zeigt sich dies nur im rein faktual wirkenden essayistischpoetologischen Diskurs. 85 Mit einem gezielten Fiktionssignal macht plötzlich der Autor-Erzähler seine eigene Konstruktivität transparent: J’aurai en somme seulement, depuis Le miroir qui revient, compliqué un peu plus la donne et proposé comme nouveaux opérateurs de nouvelles cartes truquées, en introduisant cette fois parmi les effets de personnages qui avaient le nom Boris, Edouard Manneret, Mathias ou Joan Robeson, un autre effet de personnage qui s’appelle moi, Jean Robin. (A 69)

Der Erzähler ‚Robbe-Grillet‘, der sich hier zunächst deutlich als realer Autor inszeniert (indem er die Autorschaft von Miroir beansprucht), stellt sich ausgerechnet an dieser zentralen poetologischen Stelle nicht etwa mit „moi, Robbe-Grillet“, sondern mit „moi, Jean Robin“ vor. Er zeigt damit, dass auch er, der ‚autobiographische Erzähler‘, nur ein „effet de personnage“ ist, ein textuelles Konstrukt, das als solches eben nicht mit dem realen Autor gleichzusetzen ist. Zugleich scheint aber auch hier wieder der reale Autor selbst zu sprechen, der sich als „je“ von dem ‚Figureneffekt‘ Jean Robin – Jean Robin ist eine Figur aus Robbe-Grillets frühem Roman Le Voyeur (1955) – unterscheidet. Abermals zeigt sich die widersprüchliche Kommunikationssituation, die in Robbe-Grillets Roman La Reprise (2001) als elegante Lösung des unlösbaren Referenzproblems gepriesen wird: „Il y aurait en fait quelqu’un, à la fois le même et l’autre, […] la présence narratrice et le voyageur…, solution élégante au problème jamais résolu: qui parle ici, maintenant?“86 Die Konstruktion des Ich im Schreib- und Erinnerungsprozess wird gegen Ende der Trilogie in einer Allegorie veranschaulicht. Der auf der Suche nach seiner Identität befindliche Corinthe verirrt sich mehr und mehr in einem rhizomatisch wuchernden Gewirr unterirdischer Gänge – ein Bild für die Suche des sujet dispersé nach sich selbst, für die Erforschung des sich permanent verändernden Ich und Unbewussten: „Henri […] explore désormais sans repos […] ce déroutant, cet instable (dirait-on) labyrinthe“ (DJC 209). Dies ist zugleich eine Allegorie der Erinnerung und des autobiographischen bzw. autofiktionalen Textes, dessen Labyrinth sich mit jedem Satz ebenfalls rhizomatisch vergrößert und in dem sich der Autor-Erzähler ständig zu verlieren droht: „Où en suis-je, d’ailleurs, exactement? Toutes ces choses, perdues dans le dédale obscur de la mémoire, ne montrent-elles pas une tendance alarmante à la perte progressive d’identité?“ (DJC 208). Erinnern und Schreiben bilden so ein im wahrsten Sinne des Wortes 85 Der Eindruck der Faktualität wird dadurch verstärkt, dass die essayistischen Passagen teilweise wörtlich bereits anderweitig publizierte nichtfiktionale Texte Robbe-Grillets (Essays, Interviews) wieder aufgreifen. So war z.B. die Passage über Barthes (M 62–65 u. 67–70) schon in Le Nouvel Observateur 855 (1981) unter dem Titel „Le parti de Roland Barthes“ erschienen (vgl. ROBBE-GRILLET 2001, S. 187–190) und der Abschnitt zu Sade (A 213ff.) stimmt in weiten Teilen mit dem Essay „Sade et le joli“ überein (vgl. ROBBE-GRILLET 1977). 86 ROBBE-GRILLET 2001a, S. 226f.

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‚errement autofictionnel‘, das nicht zum erhofften Resultat einer stabilen Identität führt, sondern in dem sich das Ich als bruchstückhaftes Konstrukt erweist. Bleibt festzuhalten, dass die Romanesques als idealtypische Realisierung der Autofiktion gelten können. Und dennoch: Wenn die Differenz von Fakt und Fiktion textintern überspielt wird, so setzt dies doch gerade das Wissen um ihre konventionelle Unterscheidung als Folie voraus. Ohne Bewusstsein um die Grenze, wäre die Grenzüberschreitung gar nicht als solche erkennbar. Implizit schreibt der Text die Grenze von Fakt und Fiktion also fort. Von Doubrovskys ‚Ur-Modell‘ der Autofiktion unterscheiden sich die Romanesques im Übrigen nicht nur durch ihre stärker ausgeprägte Verwirrung von Fakt und Fiktion, sondern auch in ihrem Umgang mit der Psychoanalyse. Wird diese bei Doubrovsky äußerst ernst genommen, 87 so kritisiert Robbe-Grillet ihren Dogmatismus 88 und mokiert sich über sie. In den Romanesques heißt es etwa – mit einem nicht zu übersehenden Seitenhieb auf die autobiographische ‚Bekenntnispflicht‘: Méticuleux, sadique, économe par surcroît, je reconnais ici devant le bon docteur Freud avoir depuis mon plus jeune enfance cumulé ces trois attributs, dont il a justement formé l’un de ses complexes favoris. Et pour ses descendants actuels ou futurs, je signale en outre, à toutes fins utiles, que j’ai tété le sein maternel jusqu’à plus de deux ans […]. (M 181)

87 Eine Sitzung des Autor-Erzählers mit seinem Analytiker bildet das Zentrum von Fils. Vgl. zur Bedeutung der Psychoanalyse für sein Schreiben auch DOUBROVSKY 1979 und 1988. 88 Zur Kritik am ‚totalitären‘ Erklärungsanspruch der orthodoxen Psychoanalyse vgl. ROBBEGRILLET 2005, S. 45.

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Diaphanes Erzählen Das Ausstellen der Erzähl(er)fiktion in Romanen der jeunes auteurs de Minuit und seine Implikationen für die Erzähltheorie IRINA O. RAJEWSKY ‚Postliterarische Ästhetik‘, ‚délittérarisation‘ oder auch ein ‚manque d’art‘ und ein an Roland Barthes angelehnter ‚degré moins deux de l’écriture‘ sind nur einige der markanten Formulierungen und Schlagworte, die in jüngeren und jüngsten Beiträgen zur französischen Literatur der 1980er und 90er Jahre ein gewisses Erstaunen erwecken. Ich beziehe mich hier auf Beiträge, vornehmlich aus dem Bereich der deutschen Romanistik, die sich mit Romanen der sogenannten jeunes auteurs de Minuit auseinandersetzen. 1 Aufgerufen sind damit Autoren wie Jean Echenoz (*1947), Jean-Philippe Toussaint (*1957), Patrick Deville (*1957) und Marie Redonnet (*1948), die in den 1980er Jahren mit ihren von den Éditions de Minuit verlegten Romanen große Erfolge erzielen konnten. Aufgerufen ist damit zugleich ein bekanntes literarisches Phänomen, das nicht nur in Frankreich, sondern ebenso etwa in Italien und in den USA für Aufsehen sorgte und auf dessen Grundlage in Bezug auf die 1980er Jahre (zumindest Frankreich und Italien betreffend) von einem „Ende der Avantgarde“, von einer „Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur“, von einem „tiefgreifende[n] Paradigmenwechsel“ und schließlich von postmodernen oder auch postavantgardistischen Erzähltexten gesprochen wird: 2 Kleinster gemeinsamer Nenner der im europäischen Kontext als postmodern bzw. postavantgardistisch bezeichneten Literatur nämlich ist bekanntermaßen eine – in den 1980er Jahren zumeist als begrüßenswertes Novum gewertete – Rückkehr zum Erzählen und damit zugleich eine Rückkehr zur Geschichte, mithin zur Handlung, zur Figur und zur ‚Lesbarkeit‘. Eine solche ‚Rückkehr‘ zum Erzählen wird in den einschlägigen Erzähltexten freilich – auch dies ist in der Forschung hinreichend belegt – ganz dezidiert mit Verfahren verbunden, die gerade den Inszenierungscharakter der dargestellten Welten und den Konstruktcharakter der Texte selbst offenlegen. Sie vollzieht sich mit anderen Worten, um einmal mehr auf die vielzitierte Formel Jean Ricardous zurückzugreifen, im Sinne einer Koppelung einer aventure d’un récit, wie sie in Abgrenzung zum traditionellen Roman für die literarischen Avantgarden der 1950er bis 70er Jahre kennzeichnend war, mit einem récit d’une aventure, wie er von eben diesen Avantgarden radikal unterminiert wurde.3 Das Potential des Erzählens wird folglich nicht mehr in einer in letzter Konsequenz ‚schweigenden‘ 1 2 3

Vgl. insb. MECKE 2000, 2002 u. 2002a sowie BRANDSTETTER 2006. Erstes und zweites Teilzitat: GELZ 1996, S. 1; drittes Teilzitat: TSCHILSCHKE 2000, S. 14. Vgl. RICARDOU 1967, S. 111, sowie 1971, insb. S. 143f.

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Aporie einer Kommunikation der Nichtkommunikabilität 4 und entsprechend auch nicht mehr in einem Erzählen gesucht, „das als Gegenstand immer nur die Bedingungen der Möglichkeit von Erzählen zulassen will“, 5 ebenso wenig aber in einer naiven, ungebrochenen Rückkehr zu traditionellen Formen. Nicht um die Zerstörung vorgängiger Kunst- und Literaturformen geht es mehr, 6 nicht mehr um eine kategorische Absage an die Darstellungs- und Ausdrucksfunktion von Sprache, sondern viel eher darum, im Bewusstsein um den Inszenierungs- und Konstruktcharakter jeglicher Darstellung von ‚Welt‘ dennoch wieder Geschichten zu erzählen, dabei konventionelle Erzählformen im Sinne eines „unerschöpflichen Fundus aller zukünftigen Fiktionen“ 7 aufzugreifen und aus dem Pool möglicher Verfahren, Muster und Konventionen in durchaus innovativer Weise zu schöpfen. Hierzu gehören nicht nur die etablierten Erzählformen des ‚klassischen‘ realistischen Romans und sogenannte triviale Erzählmuster (etwa des Kriminalromans, des Genrefilms oder des Comics), sondern auch die ihrerseits konventionell gewordenen Verfahren experimentell-avantgardistischen Schreibens der 1950er bis 70er Jahre. Insofern ist die ‚Wiederentdeckung‘ traditioneller Erzählmuster auch keineswegs mit einem Rückschritt hinter das epistemologische Problembewusstsein der 1960er und 70er Jahre gleichzusetzen. Dieses wird vielmehr in einen spielerisch-ironischen, selbstbewussten Umgang mit den entsprechenden Problemstellungen überführt, und es entsteht „jene andere Poetik der Post-Avantgarde“, die, wie Ulrich Schulz-Buschhaus bereits 1987 herausgestellt hat, dem Ideal der Authentizität als einer Illusion abgeschworen hat und sich deshalb unbefangen auf die distanzierte Sichtung und Wiederverwendung, ja auf das spielerische Pastiche der Traditionsbestände einlassen darf. 8

Aus einer solchen Absage an das Ideal der Authentizität wird nun in Bezug auf die Romane der jeunes auteurs de Minuit in einer Reihe neuerer Beiträge eine umfassende ‚Inauthentizitätsthese‘ abgeleitet, die sich anhand titelgebender Formulierungen wie Strategien inszenierter Inauthentizität (Brandstetter 2006) ablesen lässt und im Sinne einer „esthétique de l’inauthenticité“, die in den Romanen durch eine „inauthenticité de l’esthétique“ ergänzt werde, diskutiert wird (Mecke 2002). 9 Es geht hier nun in keiner Weise darum, diese Beiträge in ihrem Erkenntnispotential hinsichtlich ihrer für sich genommen überzeugenden Beobachtungen an den behandelten Texten zu schmälern: Die genannten Studien arbeiten anhand 4 5 6 7 8 9

Vgl. ähnlich zum Œuvre John Barths ARLART 1984, S. 116. HEMPFER 1999, S. 175. Vgl. FÖCKING 1998, S. 174. Vgl. auch MECKE 1990, insb. S. 217. ARLART 1984, S. 116. SCHULZ-BUSCHHAUS 1987, S. 290. Vgl. entsprechend den Titel einer 2003 erschienenen Monographie von Dorothea SCHMIDTSUPPRIAN: Spielräume inauthentischen Erzählens im postmodernen französischen Roman; vgl. zudem MECKE 2000 und 2002a. In den genannten Beiträgen Meckes und Brandstetters wird die Kategorie der ‚Inauthentizität‘ zu einem Differenzkriterium erhoben, auf dessen Grundlage sich die Romane der jeunes auteurs de Minuit vom nouveau und nouveau nouveau roman wie auch von der sog. nouvelle autobiographie abgrenzen lassen (zur nouvelle autobiographie bzw. autofiction vgl. auch den Beitrag von Christina Schaefer in diesem Band).

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der jeweils im Zentrum stehenden Romane Erzählverfahren heraus, die für eine Analyse der Texte zentral sind, und betten diese zudem, mit jeweils unterschiedlichem Fokus, in einen größeren Kontext ein, der es erlaubt, eine diachrone Betrachtung der Entwicklung von der französischen Avantgarde der 1950er bis 70er Jahre zum postavantgardistischen bzw. postmodernen Erzählen der 1980er und 90er Jahre vorzunehmen. Dabei gelingt es den Beiträgen nicht zuletzt, bei allen im Einzelnen gegebenen Unterschieden zwischen den behandelten Romanen, in Bezug auf die spezifische Weise, in der in den Texten der jeunes auteurs erzählt wird und verschiedenste Traditionsbestände aufgegriffen werden, augenfällige Gemeinsamkeiten dieser Romane herauszuarbeiten. Gerade hinsichtlich dieser Gemeinsamkeiten fällt nun allerdings auf, dass die Romane mit einer ganzen Flut negativ konnotierter, wertender Formulierungen und Kategorien belegt werden, die nicht nur die Basis für eine Funktionsbestimmung der entsprechenden Verfahren im jeweiligen Werkganzen, sondern auch ganz allgemein die Grundlage für eine Beurteilung der ‚jüngeren‘ französischen Literaturproduktion der 1980er und 90er Jahre bilden. Die diesbezüglichen Formulierungen sprechen für sich: In Bezug auf die Romane der jeunes auteurs de Minuit ist, neben den oben bereits genannten Schlagworten wie ‚postliterarisches Erzählen‘ und ‚Entliterarisierung‘, etwa von ‚stilistischem Unvermögen‘ und ‚offenkundigen Mängeln der Schreibweise‘ die Rede, von ‚falschen perspektivischen Konstruktionen‘, von einer ‚unkorrekten Verwendung literarischer Normen‘, einer ‚Unfähigkeit, kohärent und spannend zu erzählen‘, oder auch, ganz allgemein, von einer ‚augenscheinlichen Inkompetenz der Erzählerfigur‘.10 Auf diese Weise „verkommen“ literarische Techniken „zur unglaubwürdigen Inszenierung ihrer entfunktionalisierten Vorführung“; 11 konstatiert wird damit einhergehend eine „écriture qui ne résiste plus à l’inflation de la trivialisation“, ein „Minusgrad der Schrift, dessen Kunstlosigkeit Literatur selbst, ihre Literarizität, unterminiert und letztendlich zerstört.“ 12 Vor diesem Hintergrund wird den Romanen der jeunes auteurs de Minuit insgesamt eine „Selbstentwertung des ästhetischen Wertes von Literatur, eine Zerstörung von Literatur als Wert“ attestiert, die zuvorderst an eine allumfassende Ästhetik des Stilbruchs und im Zuge dessen an eine „postmoderne Praxis der Unterbietung ästhetischer Normen“ gebunden wird. 13 Eben hieraus ergibt sich auch das Verdikt einer délittérarisation, die sich in den Romanen zum einen sprachlich-stilistisch etwa in „des maladresses stylistiques calculées“, einem „vocabulaire extrêmement réduit, peu de variations grammaticales“ und „de nombreuses répétitions maladroites“ nachweisen lasse, 14 zum anderen aber ebenso aufgrund der ‚misslungenen‘ Verwendung literarischer Konventionen, etwa Fokali10 Vgl. BRANDSTETTER 2006, insb. S. 165–169, 175f., 187, 203, 216f., 232–235. — Der Begriff des ‚postliterarischen Erzählens‘ (vgl. insb. MECKE 2000) wird dabei nicht, wie hingegen z.B. bei NETTELBECK 1994, auf ein Erzählen im Medienzeitalter bezogen, sondern tatsächlich im Sinne einer Entwertung der Literatur verstanden; vgl. hierzu auch weiter unten. 11 BRANDSTETTER 2006, S. 232. 12 MECKE 2002, S. 420 und MECKE 2000, S. 422. 13 MECKE 2000, S. 419; vgl. auch BRANDSTETTER 2006, S. 190. 14 MECKE 2002, S. 110.

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sierungstechniken, den Spannungsaufbau und die Kohärenz des Erzählens oder auch Verfahren wie das der Intertextualität oder der mise en abyme betreffend. 15 Verabschiedet werde in den Romanen insgesamt betrachtet „eine ganze Epoche wechselseitiger Befruchtung von Roman und Theorie“, dem ein Erzählen im Zeichen des „ästhetische[n] Prinzip[s] kalkulierter Ungeschicklichkeit und inszenierter Unfähigkeit zum formvollendeten Ausdruck“ gegenüberstehe, das beispielsweise Jean Echenoz’ Roman Cherokee (1983) auf „allen Ebenen“ bestimme. 16 Wertungen dieser Art zeugen zunächst einmal von einer deutlich an der Höhenkammliteratur und am avantgardistischen Authentizitätsideal orientierten Perspektive, die zwar der Tatsache Rechnung trägt, dass in den Texten der behandelten Autoren ganz offenkundig Grenzen zwischen E- und U-Literatur überschritten werden, ihrerseits aber nach wie vor an etablierten, ‚modernen‘ Kategorien und Wertmaßstäben festhält. Die Rede von ‚fehlerhaften Konstruktionen‘, ‚falschen Perspektivenverwendungen‘ oder von einem ‚missglückten Spannungsaufbau‘ setzt entsprechende ‚fehlerfreie‘, ‚korrekte‘ und ‚gelungene‘ Verfahren, setzt mit anderen Worten eine Norm und etablierte Konventionen voraus, die als geltende veranschlagt und auf deren Basis die fraglichen Verfahren als ‚fehlerhaft‘ oder auch ‚balourdes‘ und ‚maladroites‘ gewertet werden. 17 Mag man Wertungen dieser Art auch nicht teilen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass in den von Jochen Mecke, Nicole Brandstetter und anderen analysierten Romanen ganz offenkundig Auffälligkeiten gegeben sind, die über eine – noch näher zu bestimmende – irritierende oder doch zumindest ungewöhnliche Qualität verfügen und insofern fraglos Beachtung verdienen. Konzentrieren werden sich die folgenden Ausführungen auf eine ganz bestimmte dieser ‚Auffälligkeiten‘, die in der Forschung zwar schon mehrfach als ein Charakteristikum der Romane der jeunes auteurs de Minuit angeführt worden ist, deren Implikationen sowohl für die Erzähltheorie im Allgemeinen als auch für die Frage nach der ‚potentiellen Autoreflexivität des narrativen Diskurses‘ 18 und den spezifischen Möglichkeiten des Ausstellens der Fiktionalität narrativer Texte im Besonderen aber noch so gut wie keine Beachtung gefunden hat. Es geht hier um das Phänomen einer, von Mecke und Brandstetter so genannten, ‚falschen‘ Verwendung perspektivischer Konstruktionen, mit anderen Worten um Erzählverfahren, die gängige Parameter ‚klassischer‘ Erzählsituationen unterlaufen. Gerade auf diese Weise zeitigen die Verfahren, wie genauer zu zeigen sein wird, einen ‚Transparenzeffekt‘, der den Inszenierungscharakter der Texte und insbesondere den Erzählvorgang selbst mit aller Deutlichkeit in seiner Gemachtheit hervortreten lässt und insofern letztlich die Grundfesten jeglichen Erzählens erschüttert. In einem ersten Schritt seien Verfahren dieser Art anhand ausgewählter Textbeispiele verdeutlicht, wobei ich mich vorrangig auf Patrick Devilles 1988 erschienenen Roman Longue vue konzentrieren werde. 15 16 17 18

Vgl. etwa MECKE 2002a, S. 69. Ebd. S. 68f. Vgl. MECKE 2002, S. 108 u. 110. Aufgegriffen wird hier der Titel eines grundlegenden Beitrags von Klaus W. Hempfer, auf den weiter unten ausführlicher zurückzukommen sein wird (vgl. HEMPFER 1982).

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1. Schon der erste Satz von Devilles Roman Longue vue legt – in ironischer Anspielung auf den fiktionalen Status des Textes – die (mutmaßliche) Erzählsituation dieses Romans offen: „Voici un livre scientifique, car Skoltz et Körberg, effectivement, je les ai connus.“ 19 Man hat es hier, so scheint es zumindest, mit einem Ich-Erzähler, genauer mit einem peripheren Ich-Erzähler, zu tun, was wenige Seiten später nochmals explizit gemacht – „Alexandre Skoltz était irrité. Pourtant, la première semaine de son séjour parmi nous avait été des plus agréables. Je l’avais rencontré, une fois ou deux” (LV, S. 13) – und auch im weiteren Verlauf des Romans noch mehrfach in das Bewusstsein des Lesers gehoben wird. 20 Zugleich vermittelt uns dieser Erzähler nun allerdings ganz offenkundig Ereignisse, die sich u.a. im Leben der Hauptfiguren des Romans, Skoltz und Körberg, zutragen und von denen er, nimmt man seine Position als peripherer Ich-Erzähler ernst, nicht wissen kann bzw., der Konvention gemäß, nicht wissen dürfte. Damit einhergehend finden sich verschiedentlich interne Fokalisierungen, in deren Rahmen uns allerdings nicht die Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken des Ich-Erzählers, sondern diejenigen anderer Figuren mitgeteilt werden, „auxquels un narrateurtémoin“, wie auch Mecke hervorhebt, „n’aurait pu avoir accès.“ 21 Man vergleiche etwa folgende Textpassage; Professor Körberg befindet sich in seinem Zimmer im Hôtel Casablanca, und zwar allein und – zumindest vom Ich-Erzähler – unbeobachtet: Körberg pensait que c’était une bonne idée [ihm wurde kurz zuvor mitgeteilt, dass er seine Unterkunft zu verlassen habe], et regrettait de ne pas l’avoir conçue lui-même, mais son esprit était lent, ces jours-ci, à concevoir. A cause de la chaleur, suggéra-t-il en se déshabillant. Il se glissait nu dans les draps. Le climatiseur vibrait doucement. Il regardait au plafond les trois pales du ventilateur et les jeux d’ombres, réguliers, sur les murs. Une enseigne lumineuse clignotait dans la rue: vert chlorophylle, puis mauve, puis rien – vert chlorophylle, puis mauve, puis rien. Cette femme, pensait Körberg, avait une minuscule tache de vin sur l’épaule. [LV, S. 36]

Legt man konventionelle Parameter an, so kommt man auf der Grundlage dieser und ähnlicher Passagen nicht umhin festzustellen, dass man es nun wohl doch mit einem auktorialen Erzähler zu tun hat – eine Annahme, die durch z.T. in Klammern gesetzte und häufig ironische Kommentare und Erklärungen des Erzählers weiter unterstützt wird –, der aber eben zugleich ein peripherer Ich-Erzähler, mit19 DEVILLE 1988, S. 9; im Folgenden werden Zitate mit ‚LV‘ und der jeweiligen Seitenzahl gekennzeichnet. — Wie oben bereits angedeutet, erschöpft sich dieser erste Satz des Romans natürlich nicht in einer Markierung der Erzählsituation. Hervorzuheben ist insbesondere das markante Insistieren auf Objektivität, gar in Anschluss an den wissenschaftlichen Diskurs, das durch die ebenso überraschende wie lapidare Begründung des Objektivitätsanspruchs am Satzende – ‚je les ai connus‘ – (fiktions-)ironisch unterlaufen wird. 20 Vgl. etwa LV, S. 19: „A la villa, il étudiait le go chaque après-midi, […], et ne cessait que le soir, à l’arrivée des amis d’Anton-Mokhtar, petit groupe dont je faisais souvent partie.“ Vgl. weiter bspw. LV, S. 114. 21 MECKE 2002, S. 107. Vgl. zur Erzählsituation in Longue vue auch SCHMIDT-SUPPRIAN 2003, insb. S. 155–159.

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hin eine Figur der diegetischen Welt des Textes ist. Ebenso ließe sich andersherum (und nun mit Genette) formulieren: Man hat es mit einem homodiegetischen Erzähler zu tun, der aber zugleich über Fähigkeiten und Informationen verfügt, die der narratologischen Konvention gemäß nur einem heterodiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung zustehen. Ähnliche Verfahrensweisen finden sich etwa auch in Echenoz’ Nous trois (1992), wobei die Komplexität der Erzählsituation hier noch deutlich gesteigert ist. 22 Ihre Eigentümlichkeit lässt sich jedoch in aller Kürze schon an einer Textstelle belegen, an der der zumindest in diesem Moment eindeutig als homodiegetisch zu klassifizierende Erzähler eigens betont, dass er den Ort des Geschehens verlässt, die weiteren Ereignisse, die zu erzählen er – konventionsgemäß – im Grunde nicht in der Lage sein dürfte, aber dennoch erzählt: […] Je m'éloignai. Après mon départ, vers vingt-deux heures, Blondel était passé téléphoner dans le bureau de Poecile. Séguret, fit-il, c’est moi. Vous avez pu voir pour les vannes d’injection? On cherche, on cherche, assure Séguret. On va trouver. Oui, dit Blondel, est-ce que Meyer est encore là? A cette heure-ci? fit Séguret. Un instant, je vais voir. Etouffant le combiné d’une main, l’ingénieur Séguret s’était retourné vers un vaste bureau dans le fond de la pièce, vers un autre ingénieur de haute taille, proportionné à ce bureau, penché sur lui. – Meyer, dit Séguret, c’est Blondel qui demande après toi. Est-ce que tu es là? 23

Entscheidend ist hier der Beginn der angeführten Textpassage – „Je m’éloignai“ und gleich darauf, erneut betont, „Après mon départ“ –, auf die die detailreiche Erzählung der Geschehnisse folgt, die sich danach am selben Ort, aber nunmehr ohne die Präsenz des Ich-Erzählers abgespielt haben. Die Reihe der Romane, in denen eigentümliche Erzählsituationen dieser Art nachzuweisen sind, lässt sich fortsetzen: Mecke behandelt, über die bereits genannten Texte hinaus, Jean Echenoz’ Je m’en vais (1999), Brandstetter Devilles Ces deux-là (2000). Dorothea Schmidt-Supprian zeigt Entsprechendes anhand von Devilles Le feu d’artifice (1992). 24 Und Ulrike Schneider hat kürzlich, in deutlicher Abgrenzung von der These einer ‚Entliterarisierung‘ des Erzählens und einer ‚postliterarischen Literatur‘ (sensu Mecke), die ebenso auffällige Erzählsituation in Jean-Philippe Toussaints Fuir (2005) einer genaueren Analyse unterzogen. 25

22 Vgl. ausf. SCHMIDT-SUPPRIAN 2003, insb. S. 93–100. Vgl. zu Nous trois auch MECKE 2000, S. 418, Fn. 47, sowie 2002, S. 107; vgl. des Weiteren SCHOOTS 1997, insb. S. 171, die in der Mischung von hetero- und homodiegetischen Erzählperspektiven eine Kritik an der Oberflächlichkeit einer mediatisierten Welt ausmacht. Auch TSCHILSCHKE 2000 hebt auf die inkonsistenten Erzählsituationen bei Echenoz und Deville ab, die er, dem Fokus seiner Arbeit entsprechend, an intermediale Erzählpraktiken knüpft. 23 ECHENOZ 1992, S. 11f. (zitiert wird hier das Ende des ersten Kapitels des Romans). 24 Vgl. MECKE 2002, S. 107f.; BRANDSTETTER 2006, insb. S. 165–169; SCHMIDT-SUPPRIAN 2003, insb. S. 157–162. Angemerkt sei, dass Schmidt-Supprian zwar ebenfalls auf einer ‚Inauthentizität‘ der Romane der jeunes auteurs de Minuit insistiert, dies jedoch ohne pejorative Wertungen der oben genannten Art zu vertreten. 25 Vgl. SCHNEIDER, U. 2008.

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Mecke verweist in diesem Zusammenhang zudem auf Echenoz’ Roman Cherokee, auf den weiter unten ausführlicher zurückzukommen sein wird. 26 Man hat es, insgesamt betrachtet, also mit einem Phänomen zu tun, das in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit tatsächlich auffallend häufig anzutreffen ist. Entsprechende ‚Auflösungen‘ konventionell zu unterscheidender Erzählsituationen werden in den fraglichen Texten zudem nicht nur auf geradezu ostentative Weise betrieben, sondern, wie sich bereits der oben zitierten Passage aus Nous trois entnehmen lässt, auch als solche markiert und hervorgehoben – Letzteres ein Aspekt, der in der Forschung erstaunlich wenig Beachtung findet. 27 Im Falle von Devilles Longue vue ist bereits der Titel des Romans bezeichnend, der nicht nur auf ein in diesem Roman mit Vorliebe von der Figur des Professor Körberg verwendetes Fernglas, sondern zugleich auf die wichtige Rolle verweist, die dem point of view bzw. der Perspektivsteuerung in diesem Text zukommt. Darüber hinaus wird auch die Frage des Wissensstands bzw. der Informationsvergabe gleich zu Beginn des Romans thematisch. Hier beobachtet Körberg durch sein Fernglas, wie Skoltz und Jyl, eine weitere zentrale Figur des Romans, auf einem Motorrad einen Hügel hinauffahren: En contrebas, Körberg était debout sur de la mousse, les jumelles devant les yeux, et l’humidité traversait peu à peu les semelles en corde de ses espadrilles. Il va sans dire qu’il ne savait pas, alors, qui était Alexandre Skoltz. Ni, surtout, ce qu’il deviendrait. Il ne savait pas non plus que la jeune fille était Jyl. Non, Körberg l’ignorait. [LV, S. 10; m. Herv.]

Die von Seiten des Erzählers vierfach wiederholte Betonung des Nicht-Wissens Körbergs markiert zugleich den Wissensstand des Erzählers, den der Leser an dieser Stelle zwar noch mit dem eines peripheren Ich-Erzählers in Verbindung bringt, der sich aber schon wenig später als ein erstaunliches ‚All-Wissen‘ erweisen bzw. mit einer Informationsvergabe verbunden wird, die mit einem traditionellen IchErzähler nicht mehr zu verrechnen ist. Eben dies wird spätestens am Ende des ersten Kapitels deutlich markiert. Hier wird die Frage thematisiert, was genau wer von einem bestimmten Standpunkt aus sehen kann, wobei der Erzähler zugleich explizit als ein homodiegetischer ausgewiesen und sein Aufenthaltsort bzw. ‚Sehpunkt‘ genau benannt wird: La moto [mit Skoltz und Jyl] coupa la place d’Armes et prit la route des collines, où je la vis passer. J’étais dans mon jardin. […] Derrière eux (mais ils ne pouvaient pas la voir) s’élevait la colonne orange et noire d’un feu de maquis. Je comptais procéder à des essais de couleurs jusque tard dans la soirée, en fumant une pipe. [LV, S. 21f., m. Herv.] 26 Vgl. MECKE 2000, S. 418f. — In etwas abgewandelter Form lassen sich Verfahren dieser Art etwa auch anhand von Marie Redonnets Roman Forever Valley (1986) zeigen, in dem uns von der Ich-Erzählerin in tagebuchähnlichen Sequenzen aus ihrem Leben berichtet wird, wobei diese Ich-Erzählerin pikanterweise aber zugleich explizit als Analphabetin ausgewiesen ist. Auf ihre mangelnde Lese- und Schreibfähigkeit nimmt die Ich-Erzählerin selbst mehrfach Bezug. Zu Beginn des Romans ist sie genau ein Wort zu lesen in der Lage (‚dancing‘); am Ende sind es derer immerhin zwei (‚dancing‘ und ‚barrage‘). Vgl. genauer SCHOOTS 1997, insb. S. 151, sowie BRANDSTETTER 2006, S. 145ff., die in diesem Zusammenhang auch auf Redonnets Rose Mélie Rose (1987) eingeht. 27 Eine Ausnahme bildet hier SCHMIDT-SUPPRIAN 2003; zu LV vgl. insb. S. 155–159.

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Der Ich-Erzähler befindet sich hier also im Garten seines Hauses, wobei die Aufmerksamkeit eben gerade darauf gelenkt wird, was die einzelnen Figuren und auch der Erzähler selbst von ihrem jeweiligen Standpunkt aus sehen (où je la vis passer) oder eben nicht sehen (mais ils ne pouvaient pas la voir) – und mithin auch nicht wissen – können. Damit wird die Aufmerksamkeit freilich zugleich darauf gelenkt, dass der Erzähler konsequenterweise bereits die zuvor berichteten Ereignisse – „Ils revinrent à pied vers la moto, en coupant par les escaliers. Jyl faisait rebondir son ballon sur les marches. Skoltz lui demanda de ne pas faire rebondir son ballon. [usw.]“ (LV, S. 21) – von seinem Aufenthaltsort im Garten aus gerade nicht gesehen bzw. gehört haben kann, kommt das Motorrad doch erst auf der route des collines in sein Blickfeld. Er dürfte von diesen Ereignissen somit ebenso wenig wissen wie von den unmittelbar im Anschluss an die zitierte Passage wiedergegebenen Ereignissen, die sich an einem anderen, vom Ich-Erzähler nicht einsehbaren Ort, nämlich im Innern des Hauses von Skoltz und Jyl abspielen, das die beiden inzwischen mit dem Motorrad erreicht haben (vgl. LV, S. 22). 28 Mag dem Leser die erstaunliche Wissensfülle des Ich-Erzählers zuvor auch noch entgangen sein: Spätestens an dieser Stelle wird die Diskrepanz zwischen der Informationsvergabe durch den Erzähler und seinem homodiegetischen Status durch die explizite Thematisierung eines standortgebundenen Sehen- bzw. Nicht-SehenKönnens mit aller Deutlichkeit hervorgehoben.29 Vor dem Hintergrund der Häufung eigentümlicher Erzählsituationen dieser Art in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit, die in den Texten zudem gerade in eben dieser Eigentümlichkeit betont werden, erscheinen Beschreibungsmuster der gängigen Theoriebildung allein, wie etwa Genettes Kategorien der Paralepse und der Polymodalität, kaum ausreichend, um das Phänomen in seiner spezifischen Ausformung adäquat zu erfassen. 30 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass sich die hier angesprochenen Verfahren nicht mit einem ‚schlichten‘ „Wechsel der Erzählperspektive“ 31 und in den meisten Fällen auch nicht mit einem momentanen Bruch innerhalb eines ansonsten dominanten Modus – so Genettes Kategorie der Paralepse – verrechnen lassen. 32 Passender erschiene da28 Die weitere Möglichkeit, dass dem Erzähler die verschiedenen Ereignisse, Gedanken und Gespräche der Figuren nachträglich berichtet worden sein könnten, erscheint aufgrund zahlreicher, zudem häufig unwesentlicher Details, die in die Wiedergabe der Ereignisse eingestreut sind, als unplausibel. Vgl. ähnlich zu Echenoz’ Nous trois SCHMIDT-SUPPRIAN 2003, S. 93. 29 Wie Schmidt-Supprian zu Recht hervorhebt, ist auch die Lage des Hauses des Ich-Erzählers bezeichnend: „Das Haus des Erzählers liegt auf einer Anhöhe und ermöglicht ihm einen weiten Blick über das Land, weshalb er selbst wiederholt von einem ‚repaire d’un aigle ou d’un voyeur’ spricht [vgl. LV, S. 88, 114]. Diese über allem thronende Position kann als eine ironische Begründung für seine Allwissenheit und somit auch als eine karikierende Anspielung auf den traditionellen Erzähler gesehen werden“ (SCHMIDT-SUPPRIAN 2003, S. 157). 30 Vgl. GENETTE 1972, insb. S. 211–224. Für eine Anwendung dieser Kategorien auf die Texte der jeunes auteurs de Minuit vgl. z.B. SCHMIDT-SUPPRIAN 2003, insb. S. 90–93. 31 MECKE 2000, S. 418. 32 Dies gilt nicht für Toussaints Roman Fuir, in dem es, wie Schneider herausgearbeitet hat, „innerhalb der sonst kohärenten Ich-Erzählsituation“ zu einer Überschreitung der entsprechenden gängigen Parameter kommt (SCHNEIDER, U. 2008, S. 153; m. Herv.). Hier mag durchaus

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her, zumindest auf den ersten Blick, Genettes Kategorie der Polymodalität. Diese zielt prinzipiell auf ähnliche Verfahren wie die hier beschriebenen, erfasst aber von der Konzeption und schon von der Begrifflichkeit her gerade nicht das Spezifikum des Phänomens, geht es doch um Verfahren, die ganz offenkundig zwei der zentralen Kategorien Genettes, ‚Modus‘ und ‚Stimme‘, bzw. deren gängige Koppelungen tangieren – Schneider spricht bezeichnenderweise in Bezug auf Toussaints Fuir von einer „Dissoziation von Erzählstimme und Fokalisierung bzw. Wahrnehmungszentrum“. 33 Zu tun hat man es mit anderen Worten nicht nur mit einer Polymodalität, sondern viel eher mit einer ‚Durchmischung‘ bzw. ‚Auflösung‘ konventionell unterschiedener Erzählsituationen, wie sie Stanzel letztlich in Zusammenführung dessen, was Genette später mit mode und voix bezeichnet, beschreibt: Zentrale, für bestimmte Erzählsituationen gängige contraintes werden nicht eingehalten; konventionell verankerte und nachhaltig habitualisierte ‚Grenzen‘ der in den Romanen zeitweilig und vor allem anfänglich suggerierten Erzählsituationen werden überschritten bzw. unterlaufen. Hiermit soll nicht behauptet werden, dass eine solche Überschreitung konventionell verankerter Grenzen ‚klassischer‘ Erzählsituationen per se gänzlich neu wäre; im Gegenteil: Man hat es mit einem Phänomen zu tun, das in der Literaturgeschichte berühmte Vorläufer hat – man denke nur an Melvilles Moby Dick, an Fitzgeralds The Great Gatsby und insbesondere natürlich an Prousts Recherche, die Genette bekanntlich als Grundlage für die Entwicklung seiner Kategorie der Polymodalität dient. 34 Darüber hinaus sind vergleichbare Verfahren im avantgardistischen Roman anzutreffen, worauf u.a. auch Mecke abhebt. 35 Insofern ist Mecke durchaus zuzustimmen, wenn er bezüglich der von ihm als ‚Wechsel der Erzählperspektive‘ bezeichneten Verfahren feststellt, dass der „‚feine Unterschied‘ zum nouveau roman“ nicht „im Perspektivenwechsel selbst“ liegen kann; signifikant sei vielmehr die „Art und Weise, in der er vollzogen wird“ 36 – und Entsprechendes gilt natürlich ebenso im Vergleich zu ähnlichen Verfahren in Texten wie Moby Dick oder Prousts Recherche. Es kann hier nun kein umfassender Vergleich zwischen den verschiedenen Verfahrensweisen angestellt werden. Hingewiesen sei jedoch auf vier Aspekte, die hinsichtlich des spezifischen Umgangs mit gängigen Erzählsituationen in Romanen der jeunes auteurs de Minuit im Vergleich zu ähnlichen Verfahren in anderen Texten und Kontexten relevant erscheinen: Zunächst ist hervorzuheben, dass die, mit Genette, ‚polymodalen‘ Techniken in Prousts Recherche letztlich noch logisch

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bezeichnend sein, dass es sich bei Fuir nicht um einen Roman der 1980er bzw. 90er Jahre, sondern um einen 2005 erschienenen Roman handelt. Ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang NIELSEN 2004, PHELAN 1996 u. 2004, FLUDERNIK 2001 sowie GENETTE 1972, insb. S. 214–224; vgl. des Weiteren RICHARDSON 2006. Mecke bezieht sich beispielhaft auf Marguerite Duras’ Le ravissement de Lol V. Stein (1964) und Claude Simons La route des Flandres (1960); vgl. MECKE 2000, insb. S. 418f. „[B]ekanntlich eine Errungenschaft des experimentellen Romans“ (ebd.) sind entsprechende Verfahren, wie die zuvor genannten Beispiele verdeutlichen, allerdings nicht. Ebd. S. 418f.

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auflösbar sind, nämlich im Sinne einer „Dissoziierung vom Akt des Erinnerns und dem Akt des Erzählens bzw. der Niederschrift“, womit nicht zuletzt deutlich wird, „dass es sich bei der Recherche um keine klassische Autobiographie handelt“. 37 Im Unterschied hierzu sind die beschriebenen Verfahren in den Texten der jeunes auteurs de Minuit, gemessen an konventionellen Parametern, gerade nicht mehr logisch und vor allem – hierauf wird zurückzukommen sein – nicht mehr ‚mimetisch‘ auflösbar. Des Weiteren lassen sich die fraglichen Strategien auf der Grundlage ihrer oben dargelegten ostentativen und deutlich markierten Umsetzung von anderen Verwendungsweisen und Funktionalisierungen entsprechender Verfahren abgrenzen. Wie etwa Henrik Skov Nielsen in Bezug auf Melvilles Moby Dick herausgestellt hat, liegt „the curiosity of such phenomena“ häufig darin, „that it is very easy to read the texts without registering that there is anything unusual going on“ 38 ; ein Umstand, der, neben der spezifischen Umsetzung der Verfahren, wohl nicht zuletzt durch den sogenannten primacy effect und somit durch die Gestaltung des jeweiligen Romaneingangs befördert wird. 39 Im Unterschied hierzu wird im Falle der Romane der jeunes auteurs de Minuit die Durchbrechung tradierter, konventioneller Erzählmuster regelrecht ausgestellt und so dem Leser im Laufe des Rezeptionsprozesses immer wieder bewusst gemacht. Die spezifische Umsetzung der Verfahren zielt somit nicht auf ein Kaschieren, sondern gerade auf ein foregrounding der Tatsache, dass man es hier mit eigentümlichen Konstruktionen zu tun hat, die konventionelle Parameter unterlaufen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang (und ebenso im Vergleich zu Prousts Recherche) darüber hinaus, dass die Romane der jeunes auteurs de Minuit in einem gänzlich anders gearteten literarischen und insbesondere auch erzähltheoretischen Horizont entstanden sind als etwa die Texte Melvilles und Prousts: Mit der Entwicklung des Erzählens bis hin zum nouveau nouveau roman Tel Quel’scher Prägung und gerade mit der zeitgleichen Entwicklung der Erzähltheorie hat sich eine Folie herausgebildet, auf der die Romane der jeunes auteurs de Minuit mitsamt ihren spezifischen Erzählstrategien zu lesen sind und auf der sie – bezieht man erneut die Art der Umsetzung und die Markiertheit der Verfahren mit ein – offenkundig auch gelesen werden wollen. Schließlich ist, gerade in Abgrenzung zum nouveau und nouveau nouveau roman, ganz dezidiert die Koppelung der fraglichen Verfahren an eine Rückkehr zum Erzählen und damit einhergehend zur ästhetischen Illusion hervorzuheben. Letztere mag in den genannten Texten zwar zugleich auch (mehr oder weniger kontinuierlich) als solche offengelegt werden; 40 der discours der Romane der jeunes auteurs de Minuit ist, entgegen dem Anspruch avantgardistischer Praktiken 37 SCHNEIDER, U. 2008, S. 157; vgl. zudem GENETTE 1972, S. 222ff. 38 NIELSEN 2004, S. 136; Nielsen bezieht sich hier auf PHELAN 2004. 39 Wie empirische Untersuchungen gezeigt haben, ist für die sukzessive Vorstellungsbildung auf Seiten des Rezipienten die Reihenfolge der Informationen von erheblicher Relevanz, wobei gerade die jeweils ersten Informationen eine besondere Rolle spielen; vgl. GRABES 1978, S. 414f. u. 418f. (inkl. Literaturangaben), SCHNEIDER, R. 2000, NÜNNING 2001, insb. S. 24. 40 Vgl. hierzu genauer den zweiten Abschnitt dieses Beitrags.

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und bei allem Hervorkehren des Inszenierungscharakters des Erzählens, aber eben dennoch im Sinne der Hervorbringung einer Geschichte funktionalisiert. Die beschriebenen Verfahren treten gerade im Zuge des Erzählens einer Geschichte, genauer auf der Grundlage der spezifischen Ausgestaltung des Erzählvorgangs selbst zu Tage, der bei aller Eigentümlichkeit der Erzählsituationen dennoch (vorgeblich) an eine figürlich gestaltete, personalisierbare Erzählinstanz gebunden ist, die vom Leser auch nach wie vor als solche konstruiert wird. In dieser Koppelung der Verfahren an eine Rückkehr zum Erzählen liegt nun aus meiner Sicht nicht nur ein ‚feiner‘, sondern ein ganz zentraler Unterschied zu avantgardistischen Vertextungsverfahren; zugleich sind die Besonderheit und das spezifische Potential der beschriebenen Verfahren, wie im Folgenden genauer auszuführen sein wird, gerade an diesen Aspekt gebunden. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass in den fraglichen Texten der jeunes auteurs de Minuit, bei aller Eigentümlichkeit der Erzählsituationen, vom Leser dennoch ein figürlicher Erzähler konstruiert wird, der die Geschichte (vorgeblich) hervorbringt. Hier rückt das Konzept der ‚Erzählillusion‘ in den Vordergrund. 41 Mit Nünning besteht das Ergebnis dieser spezifischen, gemeinhin kaum beachteten Art textueller Illusionsbildung eben darin, dass sich „die Vorstellung bildet, der Rezipient sei Zuhörer oder Adressat eines Erzählvorgangs mit einem als ‚Person‘ erscheinenden Erzähler als Sender und einem Zuhörer bzw. Adressaten als Empfänger“. 42 Das Konzept zielt somit gerade auf die Vermittlungsebene narrativer Texte bzw. auf den Erzählvorgang selbst, der auf der Grundlage einer entsprechenden Illusionsbildung vom Leser überhaupt erst als solcher, d.h. als Akt des Erzählens durch einen ‚leibhaftigen‘ Erzähler konstruiert wird. Sprechen ließe sich insofern durchaus auch von einer ‚Erzählerillusion‘ bzw., mit Werner Wolf, von einer „illusion of a narratorial presence“. 43 Dabei sind in der Regel schon wenige textuelle Signale ausreichend, um im Leser eine solche Erzählervorstellung abzurufen und die Bildung von Erzählillusion zu initiieren, wie dies gerade für Romane mit Ich-Erzählern typisch ist und gemeinhin schlicht als selbstverständlich genommen wird. 44 So auch in den

41 Vgl. insb. NÜNNING 2000 u. 2001 sowie bereits WOLF 1993, der das Phänomen im Rahmen seiner grundlegenden Studie zur ästhetischen Illusionsbildung unter dem Stichwort der ‚Sekundärillusion‘ verhandelt. Für eine Auseinandersetzung mit Nünnings Konzeption der ‚Erzählillusion‘ vgl. FLUDERNIK 2001 u. 2003 sowie WOLF 2004 u. 2007. Nünning spricht auf die Erzählillusion bezogen auch von einer ‚Mimesis des Erzählens‘. 42 NÜNNING 2001, S. 25. 43 Dies die Formulierung, mit der Wolf Nünnings Konzept der Erzählillusion aufgreift; vgl. WOLF 2004, S. 332. Auch Nünning selbst spricht in einem Beitrag von 2004 bezeichnenderweise von ‚narratorial illusionism‘ (vgl. NÜNNING 2004, insb. S. 17). 44 Natürlich lassen sich darüber hinaus mit Hilfe verschiedener Textverfahren ganz unterschiedliche Grade der Profilierung und Plastizität der Vorstellung eines Erzählers und dessen Aktes des Erzählens erreichen. Dies hängt u.a. davon ab, wie stark das Aussagesubjekt textuell in Erscheinung tritt und etwa kommentierend, analysierend oder wertend über „sein Wissen, seine psychologische Dimension, seine Intentionen sowie seine Werte und Normen“ Aus-

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genannten Texten der jeunes auteurs de Minuit, in denen eine Erzählillusion zumindest anfänglich gängigen Parametern gemäß aufgebaut wird. Erinnert sei hier nur an Devilles Roman Longue vue, der gleich im ersten Satz mit wenigen Worten ausreichende Anhaltspunkte für die Konstruktion eines als Person wahrgenommenen Ich-Erzählers liefert, dem der Erzählvorgang auch im weiteren Verlauf der textuellen Informationsvergabe zugeschrieben wird: „Voici un livre scientifique, car Skoltz et Körberg, effectivement, je les ai connus“ (LV, S. 9). Wenn Prozesse der Bildung von Erzählillusion und damit die Frage, „wie aus Sätzen auf dem Papier Vorstellungen von ‚Erzählern‘ und vom Akt des Erzählens“ entstehen, auch noch kaum empirisch erforscht sind,45 so ist doch des Weiteren davon auszugehen, dass die Konstruktion einer Erzählervorstellung auf Seiten des Rezipienten in der Regel unbewusst bzw. automatisch erfolgt und gemeinhin nicht weiter reflektiert wird.46 Neben spezifischen textuellen Signalen und Verfahren und den im jeweiligen Text enthaltenen Informationen 47 spielt hierbei zum einen das Voraussetzungssystem und speziell die literarische Kompetenz des Lesers eine zentrale Rolle, zu der nicht zuletzt die Kenntnis etablierter Erzählmuster und Konventionen gehört, die entsprechend habitualisierte Rezeptionsmuster zeitigen. Damit einhergehend werden lebensweltliche Schemata relevant, die vom Rezipienten (auch dies in der Regel unbewusst) auf den Text projiziert werden. 48 So beruhen bereits die Wahrnehmung bzw. Konstruktion des literarischen Aussagesubjekts als ‚leibhaftiger‘ Erzähler sowie die Konstruktion der textuellen Informationsvergabe als dessen Erzählakt ganz offenkundig auf einer Projektion lebensweltlich-anthropomorpher Schemata. Besonders hervorzuheben ist dabei gerade in diesem Zusammenhang die Medialität, und damit zugleich die Materialität, literarischer Erzähltexte – ein Aspekt, der in der derzeitigen Debatte um das Phänomen der Erzählillusion erstaunlicherweise keinerlei Berücksichtigung findet. Es erscheint jedoch mehr als naheliegend, dass die grundlegende Verbalsprachlichkeit narrativer Texte entsprechende Projektionen und folglich die Bildung von Erzählillusion nachhaltig befördert, wenn nicht gar bedingt. Allein

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kunft gibt oder anderweitige Angaben zu seiner eigenen Person und Persönlichkeit macht (NÜNNING 2001, S. 25). Ebd. S. 23. Nünning greift hier den Titel von GRABES 1978 auf. Dies gilt auch dann, wenn der Erzählakt durch metanarrative Kommentare thematisiert wird, soweit diesen nicht zugleich eine illusionsstörende Funktion zukommt; vgl. ausf. NÜNNING 2001 sowie den zweiten Abschnitt dieses Beitrags. Zur Bildung von Erzählervorstellungen vgl. zudem den Beitrag von Anita Traninger in diesem Band, insb. Abschnitt 5. In seinen Ausführungen zur Erzählillusion betont Nünning zu Recht, dass die Entstehung von Erzählillusion keineswegs allein oder primär auf außertextuelle Schemata von Alltagserzählungen zurückzuführen, sondern maßgeblich an Textfaktoren gebunden ist. Er führt diverse Faktoren an, die eine solche Erzählillusion nachhaltig befördern; Faktoren, die zum einen an Herbert Grabes’ Überlegungen zu der Frage, wie in unserer Vorstellung aus Sätzen Personen werden, und zum anderen an Werner Wolfs Überlegungen zur allgemeinen ästhetischen Illusionsbildung gebunden sind (vgl. GRABES 1978 u. WOLF 1993). Vgl. NÜNNING 2001, S. 24 u. GRABES 1978. Entsprechende alltagsweltliche Schemata kommen natürlich, was gerne vernachlässigt wird, ebenso auf Produktionsseite bei der textuellen Ausgestaltung des discours zum Tragen.

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schon durch diese Verbalsprachlichkeit nämlich – Spezifikum menschlicher Kommunikation – und damit einhergehend durch die Tatsache, dass jeder Satz ein Aussagesubjekt voraussetzt, wird sowohl ein Aussagesubjekt behauptet als auch eine anthropomorphe Qualität dieses Aussagesubjekts indiziert. Das ‚Ich‘ des Aussagesubjekts wird folglich mit einem anthropomorphen ‚Ich‘, mit einer Person (oder ggf. auch mit sprechenden Tieren, Maschinen o.ä.) identifiziert bzw. als solche konstruiert, die freilich, abhängig von der je spezifischen Verfasstheit des discours, mehr oder weniger hervortreten bzw. mehr oder weniger plastisch werden kann und über unterschiedliche erzählerische Privilegien bzw. Freiheiten verfügt. Auch bezüglich des letztgenannten Aspekts spielen, neben habitualisierten Erzählkonventionen, zumindest in Teilen mimetisch-lebensweltliche Schemata eine entscheidende Rolle: So fußt die gängige Ausgestaltung von Ich-Erzählsituationen – und entsprechend deren rezipientenseitige Konstruktion – auf lebensweltlich verankerten Annahmen bezüglich der Möglichkeiten und Grenzen eines narrateur-témoin. Als Figur der dargestellten Welt und in seiner testimonialen Funktion ist dieser der Konvention gemäß an die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens und an physikalische Gesetzmäßigkeiten gebunden (soweit nicht fiktionsintern spezifische Konstellationen zum Tragen kommen, die anderweitige Fähigkeiten des Erzählers plausibilisieren). Ein Ich-Erzähler ist insofern gängigerweise gewissen Restriktionen unterworfen und ‚darf‘ gerade nicht über die erzählerischen Privilegien verfügen, die einem auktorialen Erzähler – so will es das entsprechende Erzählmuster – unhinterfragt zugestanden werden. Eben dies geschieht nun aber in den Texten der jeunes auteurs de Minuit, in denen man es, auf eine kurze Formel gebracht, mit ‚allwissenden Ich-Erzählern‘ zu tun hat. Gebrochen wird hier demnach just mit der Konvention, die die Kompetenzen eines homodiegetischen Erzählers auf real-life frames bzw. ‚realistisch naturalisierbare‘ 49 Erzählweisen einschränkt und nicht zuletzt auf diese Weise von denen heterodiegetischer Erzähler abgrenzbar werden lässt. Damit werden elementare und gemeinhin als selbstverständlich erachtete Grenzziehungen zwischen Ich-Erzählern und auktorialen Erzählern unterlaufen, und eben hieraus resultiert der Eindruck einer ‚Eigentümlichkeit‘ oder ‚Unstimmigkeit‘ der Erzählsituation. Nun stellt ein ‚regelwidriges‘ Erzählen dieser Art natürlich schon per se einen bemerkenswerten Sachverhalt dar. Hervorzuheben ist jedoch, dass sich das Funktions- und Wirkungspotential der aufgezeigten Verfahren keineswegs in der Grenzüberschreitung selbst bzw. im Regelverstoß als solchem erschöpft. Vielmehr lassen die beschriebenen Verfahren damit einhergehend, indem sie im Zuge des Erzählens einer Geschichte und unter zunächst bzw. zeitweilig regelkonformer Verwendung etablierter Erzählmuster diesen in der Folge ostentativ zuwiderlaufen, gerade die Konventionalität und den Konstruktcharakter auch dieser gemeinhin als ‚stimmig‘ empfundenen Erzählmuster deutlich werden – nicht zuletzt deren konventionelle Bindung an mimetisch-lebensweltliche Schemata. Anders 49 Vgl. NÜNNING 2001, S. 27; zum Begriff der ‚Naturalisierung‘ vgl. CULLER 1975: „[T]o naturalize a text is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural or legible“ (ebd. S. 138). Vgl. diesbezüglich auch FLUDERNIK 1996.

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formuliert: In den Romanen der jeunes auteurs de Minuit werden Erzählsituationen konstruiert, die beim Leser unweigerlich den Eindruck erwecken, dass hier etwas passiert, das eigentlich ‚nicht geht‘: Ein Ich-Erzähler ‚kann‘ nicht von den intimen Gedanken anderer Figuren wissen, ‚kann‘ nicht vermitteln, was andere Figuren an anderen Orten gedacht, getan oder gesagt haben; ein solches Verhalten steht, so die gängige Annahme, allein einem auktorialen Erzähler zu. Die Tatsache aber, dass dies in den fraglichen Romanen ganz offenkundig dennoch geschieht, führt dem Leser praktisch vor Augen, dass seine diesbezüglichen Annahmen auf habitualisierten Erzähl- und Rezeptionsmustern beruhen, auf konventionellen Setzungen und gängigen Grenzziehungen, die, wie es diese Texte vorführen, durchaus auch anders gesetzt bzw. anders gezogen werden könnten. Die beschriebenen Verfahren erwecken so nicht ‚einfach nur‘ den Eindruck eines unstimmigen, ‚fehlerhaften‘ Erzählens oder auch einer ‚unkorrekten Verwendung literarischer Normen‘, um hier erneut die Positionen Meckes und Brandstetters aufzugreifen. Sie lassen vielmehr zugleich den Erwartungshorizont hinsichtlich eines gängigerweise als stimmig empfundenen Erzählens hervortreten und somit die Folie, auf der sich das Funktions- und Wirkungspotential der Verfahren entfaltet. Diese wird dabei gerade in ihrer eigenen grundlegenden Konventionalität und Regelgeleitetheit, in ihrer Verankerung in habitualisierten Erzählmustern und mimetisch-lebensweltlichen Schemata kenntlich gemacht, womit letztlich der Inszenierungscharakter und die ‚Gemachtheit‘ jeglichen Erzählens in den Vordergrund und in das Bewusstsein des Lesers gehoben werden. In dem Moment, in dem die für Ich-Erzählsituationen gängigen contraintes unterlaufen werden, in dem Moment also, in dem die Ich-Erzähler unvermittelt eine (üblichen Parametern gemäß) weder logisch noch mimetisch auflösbare auktoriale Allwissenheit zur Schau stellen und auf diese Weise dennoch weiterhin ‚ihre‘ Geschichte erzählen, wird der Leser folglich nicht nur mit der Gemachtheit und dem Inszenierungscharakter des gegebenen Textes, sondern auch mit seinen eigenen (vor)gängigen Konstruktionen und Projektionen konfrontiert. Offengelegt wird der fiktionsinterne Erzähler hier somit, insgesamt betrachtet, nicht ‚schlicht‘ als sprachliches Konstrukt, als reine Textfunktion. Offengelegt und als solche ausgestellt werden vielmehr die Konventionen selbst, auf denen sowohl rezipienten- als auch produzentenseitige Vorstellungen und Konstruktionen von Erzählerfiguren und deren Akt des Erzählens basieren. Der Akzent liegt hierbei auf der Offenlegung der Erzählkonstruktion bzw. der Konstruktion eines Erzählers im Zuge des Erzählens einer Geschichte: Die, an gängigen Parametern gemessen, ‚unstimmigen‘ Erzählsituationen der Romane bringen den Leser in Distanz nicht nur zur erzählten Geschichte, sondern vor allem in Distanz zum Akt des Erzählens selbst, dessen potentielle Identifikationsbzw. Naturalisierungsmuster auf diese Weise in ihrer Verbindlichkeit fragwürdig werden, ohne diese freilich gänzlich zu negieren. Man hat es vielmehr mit einem changierenden Effekt zu tun, mit einem Mäandern zwischen zwei Polen, die man, in Anlehnung an Werner Wolf, als „poles of immersion and distance“ beschreiben

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könnte. 50 Auf Seiten der immersion ließen sich dabei, auf den hier nun relevanten Kontext bezogen, illusionsbildende Verfahren ansiedeln, die es dem Leser erlauben, auf der Basis habitualisierter literarischer Konventionen und lebensweltlicher Erfahrungen eine glaubwürdige und konsistente Erzählinstanz samt deren Aktes des Erzählens zu konstruieren. 51 Auf der Seite der distance stünden dagegen Verfahren, die eine konventionell verankerte Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit der Erzählinstanz bzw. deren Aktes des Erzählens gerade unterlaufen; dies im Falle der jeunes auteurs de Minuit nun allerdings nicht im Sinne eines ‚unglaubwürdigen Erzählens‘, wie dies gemeinhin verstanden wird, 52 und auch nicht nur im Sinne eines generellen foregrounding des Vermittlungsprozesses selbst, sondern viel eher im Sinne eines Offenlegens und Ausstellens der Konventionen, die unsere Konstruktionen des fiktiven Vermittlungsprozesses und der dafür – fictivement – ‚verantwortlichen‘ Instanz gängigerweise bestimmen. 53 Dies wiederum geschieht sozusagen ‚von Innen heraus‘: Die entsprechenden Konventionen werden nicht etwa explizit thematisiert; sie werden vielmehr implizit bzw. indirekt als solche kenntlich gemacht, indem gegen sie verstoßen wird. Demgemäß verweisen die nicht mehr so ohne Weiteres anthropomorphisierbaren – und auch nicht mehr so ohne Weiteres naturalisierbaren – Ich-Erzähler und ‚deren‘ Akt des Erzählens indirekt zugleich auf eben die Konventionen, Konstruktionen und Projektionen, die diese Erzähler überhaupt erst als solche, d.h. als innerhalb des fiktionalen Universums des jeweiligen Textes angesiedelte und mehr oder weniger klar umrissene, ‚leibhaftige‘ Vermittlungsinstanz in der Imagination des Lesers entstehen lassen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich nun auch der Titel dieses Beitrags: Narrateur und narration werden im Zuge der beschriebenen Verfahren, um es auf ein Wort zu bringen, diaphan: durchscheinend in Hinblick auf die Konventionen und habitualisierten Muster, die unsere Konstruktionen eines fiktionsinternen Aktes des Erzählens und einer personalisierten Erzählinstanz – und letztlich ebenso die diesbezügliche Theoriebildung – gängigerweise bestimmen; durchscheinend mithin in Hinblick auf die Fiktionalität und Gemachtheit des jeweiligen 50 WOLF 2004, S. 329. Ich greife hier Wolfs Konzept der allgemeinen ästhetischen Illusionsbildung narrativer Texte auf, in dessen Rahmen Wolf freilich nur bedingt speziell auf den Akt des Erzählens bzw. den Erzähler selbst abhebt: „Aesthetic illusion may […] be represented as being located on a scale between the two poles of immersion and distance, maintaining, however, a relative proximity to ‚immersion.‘ The poles themselves are excluded, since both total distance and total immersion do not yet, or not longer, qualify as aesthetic illusion“ (ebd.). Vgl. ausf. auch WOLF 1993. 51 Zuzurechnen wären diesem Pol zudem ebenso Verfahren, die gerade eine Unmittelbarkeitsillusion befördern und somit den Vermittlungsprozess insgesamt in den Hintergrund treten lassen, wie dies in, eben aus diesem Grund zuweilen so genannten, narratorless narratives bzw. bei covert narrators der Fall ist (s. auch unten). Es geht hier nun jedoch vorrangig um Texte, in denen (figürlich) ausgestaltete Erzählinstanzen, mithin overt narrators und, hieran gebunden, zugleich eine Erzähl(er)illusion zum Tragen kommen. 52 Vgl. hierzu und für weiterführende Literaturhinweise etwa NÜNNING 1999 u. OLSON 2003. 53 Vgl. Genettes bekanntes Diktum: „un récit de fiction est fictivement produit par son narrateur, et effectivement par son auteur (réel)“ (GENETTE 1983, S. 96).

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Textes und durchscheinend schließlich in Hinblick auf die Materialität und mediale Bedingtheit sprachlichen Erzählens per se. 54 2. Stellen die ‚unstimmigen‘ bzw. ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen, gerade auch aufgrund ihrer Häufung in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit, schon aus literaturhistorischer Sicht ein bemerkenswertes Phänomen dar, verdienen sie doch auch aus erzähltheoretischer Perspektive und insbesondere im Kontext des jungen Forschungsfelds einer transgenerischen und transmedialen Narratologie genauere Betrachtung. 55 Man hat es hier mit Verfahren zu tun, die sich ganz offenkundig sowohl als autoreflexive als auch metafiktionale beschreiben lassen, womit zugleich der Theorierahmen umrissen ist, in den die ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen einzubetten sind: Die Texte weisen im Zuge der Verfahren, um dies zunächst einmal sehr allgemein zu formulieren, auf sich selbst zurück und legen dabei ihren Konstruktcharakter, ihre Gemachtheit offen, wobei hier neben der Konstruiertheit der Verfahren selbst zusätzlich eben auch die Konventionsgebundenheit und der Konstruktcharakter eines vergleichbar ‚stimmigen‘ – und somit letztlich jeglichen – Erzählens betont werden. Letzteres ist für die Funktionalisierung der Verfahren von Bedeutung, worauf im dritten Abschnitt dieses Beitrags zurückzukommen sein wird. An dieser Stelle soll es jedoch zunächst um die Besonderheiten der beschriebenen Verfahren im Theoriehorizont autoreflexiver Erzählstrategien gehen, die in der spezifischen Art des ‚Rückverweisens auf sich selbst‘ begründet liegen. In diesem Zusammenhang rückt die derzeit (wieder) florierende Debatte um sog. metanarrative Erzählverfahren in den Vordergrund, die aktuell insbesondere im Kontext des Konzepts der Erzählillusion diskutiert werden, im Zuge einer medienübergreifenden Auseinandersetzung mit Meta-Phänomenen im Allgemeinen aber auch im Bereich der transgenerischen und transmedialen Narratologie Beachtung finden. 56 Als ‚metanarrativ‘ lassen sich mit Nünning „alle vermittlungsbezogenen Funktionen von Erzählinstanzen [bezeichnen], d.h. Erzähleräußerungen mit pri54 Die diaphane Qualität eines solchen Erzählens ist freilich an historisch verankerte Konventionen gebunden: Es mag sein, dass entsprechend konstruierte Erzählsituationen, die uns bezüglich der 1980er und 90er Jahre (und auch heute noch) als ‚unstimmig‘ erscheinen, bereits in naher Zukunft als gängig und kaum mehr außergewöhnlich wahrgenommen werden (dies nicht zuletzt aufgrund veränderter Parameter, wie sie insbesondere durch Film und Fernsehen befördert werden). In diesem Fall würde nicht nur die konventionsdurchbrechende Qualität, mithin der Eindruck einer ‚Unstimmigkeit‘, sondern zugleich das autoreflexive und metafiktionale Potential der Verfahren schwinden (s. hierzu Abschnitt 2 dieses Beitrags). 55 Zum Forschungsfeld der transgenerischen und transmedialen Narratologie vgl. RAJEWSKY 2007 (inkl. weiterer Literaturangaben) sowie jüngst WEIDLE 2007 u. MAHNE 2007. 56 Vgl. NÜNNING 2001, 2001a u. 2004 sowie etwa SCHEFFEL 1997, FLUDERNIK 2003, HAUTHAL et al. (Hgg.) 2007. Als Beleg für die Aktualität dieser Diskussion im Rahmen der transgenerischen und transmedialen Narratologie sei auf das internationale Symposium Metareference in the Arts and Media, Universität Graz, 22.–24. Mai 2008, verwiesen; vgl. auch WOLF 2007.

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märem Bezug zum Erzählvorgang bzw. zur Kommunikationssituation auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung“. Metanarration liegt mithin dann vor, „wenn der Akt des Erzählens oder Faktoren des Erzählvorgangs thematisiert werden“. 57 Nünning, dem es nicht zuletzt um die Relevanz metanarrativer Verfahren im Kontext der Bildung von Erzählillusion geht, betont dabei zu Recht, dass Verfahren dieser Art keineswegs per se eine illusionsstörende, metafiktionale Funktion zukommen muss. Vielmehr ist dezidiert zwischen Metanarration und Metafiktion als zwei grundsätzlich unterschiedlichen Phänomenen zu differenzieren (wenngleich diese natürlich in einem gegebenen Erzählverfahren auch zusammenfallen können). Insofern können gerade metanarrative Erzähleräußerungen nachhaltig zur Bildung bzw. Stärkung von Erzählillusion beitragen, soweit sie sich denn darauf beschränken, den Erzählakt als solchen zu profilieren, ohne dass damit eine Bloßlegung der Fiktionalität einherginge. 58 Nünning hebt durchaus ebenso berechtigterweise hervor, dass metanarrative Verfahren und speziell solche, denen nicht zugleich eine illusionsstörende Wirkung zukommt, in der Erzählforschung insgesamt betrachtet bisher „kaum Beachtung gefunden haben“. 59 Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass durchaus auch einige frühere Versuche der Theoretisierung literarischer ‚Metanarration‘ zu verzeichnen sind, wenn auch nicht unbedingt unter Verwendung dieses Terminus. Hier rückt insbesondere Klaus W. Hempfers frühe Studie zur „potentiellen Autoreflexivität des narrativen Diskurses“ in den Vordergrund, in der Hempfer bereits die zentralen der derzeit unter dem heading der Metanarration 57 NÜNNING 2001, S. 34 u. 35; Nünning hebt hier auf einen eng gefassten Begriff des Narrativen, d.h. auf i.e.S. narrative, erzählervermittelte Texte ab (vgl. genauer unten, Fn. 61). Zu unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs ‚metanarrativ‘ in der Forschung (etwa bei Genette) vgl. ebd. S. 32, sowie NÜNNING 2004. — Der Terminus ‚Metanarration‘ erfasst die fraglichen Phänomene wohl präziser als der gemeinhin synonym verwendete Begriff ‚Metanarrativität‘ bzw. ‚metanarrative Verfahren‘. Insbesondere im Kontext einer transgenerisch und transmedial ausgerichteten Narratologie kann die Rede von ‚Metanarrativität‘/‚metanarrativen Verfahren‘ durchaus zu Missverständnissen führen, liegt dieser Ausrichtung der Erzählforschung doch gerade ein weit gefasster Begriff des Narrativen zugrunde. In der ‚klassischen‘, literaturzentrierten Erzählforschung wird mit der Rede von ‚metanarrativen‘ Verfahren hingegen traditionell auf einen eng gefassten Erzählbegriff rekurriert, mithin auf Verfahren, die an die Erzählervermitteltheit i.e.S. narrativer Texte gebunden sind. Unmissverständlicher wäre es insofern wohl, in Anlehnung an das Substantiv ‚Metanarration‘, von ‚metanarrationalen‘ Verfahren zu sprechen, womit die Diskurszentriertheit und die Bindung dieser spezifischen Form von Autoreflexivität an den Akt des Erzählens deutlicher markiert wären. Da sich jedoch die Rede von ‚metanarrativen‘ Verfahren in der oben definierten Bedeutung zumindest in bestimmten Bereichen der Erzählforschung durchgesetzt hat, wird hier auf eine sperrige Begriffsneuschöpfung dieser Art verzichtet und am Terminus ‚metanarrativ‘ festgehalten. 58 Dies verdeutlichen etwa schon einleitende metanarrative Formulierungen wie „Ich erzähle euch (jetzt) die Geschichte von…“ (vgl. in diesem Zusammenhang auch HEMPFER 1982, insb. S. 137ff., sowie bereits GÜLICH 1976). Zur Abgrenzung zwischen Metanarration und Metafiktion vgl. NÜNNING 2001 u. 2004; s. auch SCHEFFEL 1997, insb. S. 48 u. 58. 59 NÜNNING 2001, S. 33. Dies gilt insbesondere im Vergleich zur weitaus umfassenderen Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Autoreflexivität im Kontext sog. self-conscious fiction, wozu natürlich auch entsprechend funktionalisierte metanarrative Verfahren gehören.

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diskutierten Aspekte vorwegnimmt – nicht zuletzt Fragen der Funktionalisierung entsprechender Verfahren betreffend. 60 Das Konzept der ‚potentiellen Autoreflexivität des narrativen Diskurses‘ zielt exakt auf das, worum es auch Nünning geht, nämlich auf die „prinzipielle Möglichkeit des Erzählens […], das Erzählen selbst und nicht nur die ‚Geschichte‘ zum Gegenstand des Diskurses zu machen“. 61 Dabei geht Hempfer von einer gattungsvergleichenden Perspektive aus, womit sein Beitrag zugleich auf das Forschungsfeld einer transgenerischen und transmedialen Narratologie vorausweist. Entwickelt nämlich wird das Konzept ausgehend von der pragmatischen Dimension der Sprechsituation narrativer Texte und somit ausgehend von „jene[r] Strukturebene“, auf der „die Spezifizität erzählender Texte [im Unterschied zum Drama] traditionell angesiedelt wird“ 62 : Durch die für narrative Texte spezifische Konstitution einer Vermittlungsebene, die die Versprachlichung nichtsprachlicher Gegebenheiten übernimmt bzw. die dargestellten Figuren reden läßt, ist ein potentielles Reflexionsmoment in die Kommunikationsstruktur narrativer Texte eingeschrieben. Dieses Reflexionsmoment kann nicht zum Tragen kommen, der narrative Diskurs kann sich weitgehend auf die Vermittlung der Geschichte beschränken, er kann aber genauso gut […] den Vermittlungsprozeß selbst zu seinem Gegenstand machen und wird damit autoreflexiv. 63

Zentral ist hier die grundlegende Differenz zwischen der berichtenden Sprechsituation narrativer Texte einerseits und der performativen Sprech- bzw. Kommunikationssituation des Dramas andererseits, die dazu führt, dass Erzähltexte über andere Möglichkeiten verfügen, Autoreflexivität zu realisieren, als das Drama: 64 Selbstverständlich finden sich auch im Drama autoreflexive Verfahren, doch konstituieren sich diese entweder implizit […] über die ‚Geschichte‘ oder aber als grundlegende Transformation schreibartspezifischer Gegebenheiten. […] Demgegenüber ermöglicht die berichtende 60 HEMPFER 1982. Nicht zu vernachlässigen sind in diesem Zusammenhang auch weitere frühe Arbeiten, etwa GÜLICH 1976 oder SCHMELING 1978; vgl. zudem PRINCE 1987, S. 51. 61 HEMPFER 1982, S. 136. Wie schon Nünning hebt auch Hempfer auf einen eng gefassten Erzählbegriff ab, dem die traditionsreiche Unterscheidung zwischen einem narrativen, mithin erzählervermittelten, und einem dramatischen, ‚unmittelbaren‘ Kommunikationsmodus zugrunde liegt. In meinen folgenden Ausführungen wird nur an den Stellen explizit zwischen einem eng und einem weit gefassten Erzählbegriff unterschieden, an denen das jeweils Gemeinte nicht aus dem Kontext ableitbar ist. Unter einem weit gefassten Erzählbegriff, wie er im Bereich einer transgenerischen und transmedialen Narratologie gängiger- und notwendigerweise angesetzt wird, ist dabei ein Begriff des ‚Narrativen‘ bzw. des ‚Erzählens‘ zu verstehen, der gattungs- und medienübergreifend auf die Vermittlung von ‚Geschichten‘ zielt, wobei dann auf einer untergeordneten Ebene zwischen verschiedenen, gattungs- bzw. medienspezifischen Kommunikationsmodi zu differenzieren ist (s. ausf. RAJEWSKY 2007). 62 HEMPFER 1982, S. 135. 63 Ebd. S. 136. 64 Dieser Satz ist in seiner Gültigkeit auf Gattungskonventionen einzuschränken (vgl. genauer weiter unten). Hierauf verweist auch Hempfer selbst, wenn er auf das Drama bezogen die Möglichkeit einer „grundlegende[n] Transformation schreibartspezifischer Gegebenheiten“ einbezieht, womit er auf Formen der ‚Episierung‘ des Dramas abhebt, etwa durch „die Einführung einer presenter-Figur oder anderer Vermittlungsinstanzen“ (ebd.). Vgl. zu einem etwas anderen Verständnis der ‚Episierung des Dramas‘ RAJEWSKY 2007.

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Sprechsituation narrativer Texte autoreflexive Verfahren sowohl explizit auf der Ebene des Diskurses wie implizit durch Rückverweise der ‚Geschichte‘ bzw. von Teilen der ‚Geschichte‘ auf den Diskurs. 65

Wenn im zitierten Beitrag nun auch Differenzen zwischen narrativen und dramatischen Texten und somit generische Aspekte im Vordergrund stehen, so lässt sich das für Erzähltexte spezifische ‚Meta-Potential‘ doch letztlich ebenso an deren mediale Gegebenheiten binden. Denn die Möglichkeit narrativer Texte, das Erzählen selbst zum Gegenstand des erzählerischen Diskurses zu machen, setzt zunächst einmal eine entsprechende mediale Disposition voraus. Diese unterliegt dann freilich nicht nur narrativen, sondern, in ihrer Eigenschaft als Text, ebenso dramatischen Texten, wenn Letztere diese Möglichkeit (in der Regel) auch nicht ausschöpfen mögen. Vorausgesetzt ist also, dass es Texten per se medial möglich ist, ‚explizit auf der Ebene des Diskurses‘ autoreflexiv zu werden; eine Fähigkeit, über die andere Geschichten kommunizierende Medien, wie das Theater, gerade nicht verfügen. Hier zeigt sich somit eine grundlegende mediale Differenz zwischen Text und Theater, d.h. zwischen textuellen und performativen Darstellungsbzw. Präsentationsformen von Geschichten. 66 Dass sich bezüglich des autoreflexiven Potentials ebenso Unterschiede zwischen narrativen und dramatischen Texten festmachen lassen, ist hingegen an generische Differenzen, mithin an Gattungskonventionen gebunden, die im Falle des Dramas freilich gerade auf die medialen Spezifika der theatralen Aufführungssituation hin ausgerichtet sind. 67 Damit wird das von Hempfer aufgezeigte ‚Meta-Potential‘ narrativer Texte, insgesamt betrachtet, zu einem Differenzkriterium, das narrative Texte nicht nur im Sinne einer Gattungskonvention vom Drama, sondern ebenso – in Weiterführung des Gedankens – medial vom Theater unterscheidbar werden lässt. Während implizite „Rückverweise der ‚Geschichte‘ bzw. von Teilen der ‚Geschichte‘ auf den Diskurs“ offenkundig sowohl in narrativen und dramatischen Texten als auch im Theater realisiert werden können, erweisen sich „autoreflexive Verfahren explizit auf der Ebene des Diskurses“ somit als ein – im Vergleich zum Drama generisches, im Vergleich zum Theater mediales – Spezifikum narrativer Texte. 68

65 HEMPFER 1982, S. 136. 66 Dem Theater ist es aufgrund der Performativität und liveness der Aufführungssituation tatsächlich medial bedingt nicht möglich, besagte Form der Autoreflexivität (narrativen) Texten entsprechend umzusetzen (vgl. auch unten); dies gilt auch dann, wenn Episierungsverfahren wie etwa die Einführung einer presenter-Figur zum Tragen kommen (vgl. RAJEWSKY 2007). 67 Zum Unterschied zwischen generischen Möglichkeiten und Grenzen einerseits und medialen Möglichkeiten und Grenzen andererseits vgl. RAJEWSKY 2007 u. 2008. 68 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Hempfer keineswegs, wie hingegen Nünning anmerkt, „den Begriff der ‚Autoreflexivität‘ ausdrücklich auf den unmittelbaren Selbstbezug von Äußerungen zum ‚narrativen Diskurs‘ beschränkt“ (NÜNNING 2001, S. 34, Fn. 46). Vielmehr beschränkt er eine spezifische Form von Autoreflexivität, nämlich die Möglichkeit, das Erzählen selbst zum Gegenstand des Diskurses zu machen, ausdrücklich auf i.e.S. narrative Texte. — Angemerkt sei, dass ein entsprechendes ‚Meta-Potential‘ auch für mündliche Erzählungen anzusetzen ist.

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Betrachtet man vor diesem Hintergrund nun erneut die ‚unstimmigen‘ Erzählsituationen in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit, so wird deren besonderer Status unmittelbar einsichtig. Bereits aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass man es hier ganz offenkundig nicht mit Rückverweisen der histoire auf den discours zu tun hat. Relevant wird für die autoreflexive – und in diesem Fall zugleich metafiktionale – Qualität der Verfahren gerade die Eigentümlichkeit der Erzählsituation, mithin die Frage, wie uns die Erzähler ‚ihre‘ Geschichte vermitteln. Das Reflexionsmoment, das hier zum Tragen kommt, ist somit – wie schon im Falle der Verfahren, die Hempfer und Nünning diskutieren – auf der Ebene der ‚Kommunikationsstruktur der Texte‘ (Hempfer) angesiedelt und unmittelbar an ‚vermittlungsbezogene Funktionen der Erzählinstanzen‘ (Nünning) gebunden, nämlich an die spezifische Ausgestaltung des Erzählvorgangs selbst. Demnach handelt es sich auch hier im Wortsinne durchaus um ‚metanarrative‘ Verfahren. Allerdings geht es hier nun um Verfahren, deren metanarrative Qualität sich nicht im Sinne Hempfers und ebenso wenig im Sinne der aktuellen Diskussion um entsprechende Strategien definieren lässt, wie sie u.a. von Nünning vorangetrieben wird. Was hier nämlich fehlt – und das ist der für mich zentrale Punkt –, ist das Moment des Expliziten: Zu tun hat man es gerade nicht mit Erzähleräußerungen, die „den Akt des Erzählens oder Faktoren des Erzählvorgangs thematisier[en]“; denn auf den Erzählvorgang wird im Zuge der Verfahren in keiner Weise explizit Bezug genommen. Dementsprechend kommt hier auch nicht die von Hempfer aufgezeigte Möglichkeit narrativer Texte zum Tragen, zumindest punktuell nicht die ‚Geschichte‘, sondern das Erzählen selbst „zum Gegenstand des Diskurses zu machen“. 69 Das spezifische Wirkungspotential der ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen entfaltet sich vielmehr gerade im Zuge des Erzählens einer Geschichte. Womit man es hier zu tun hat, ist folglich ein ‚dritter Weg‘ des AutoreflexivWerdens narrativer Texte. Der gängigen Systematisierung metanarrativer Verfahren entsprechend ist dieser auf der Ebene des Diskurses angesiedelt, wobei aber zugleich – hier liegt der entscheidende Unterschied – implizit bzw. indirekt verfahren wird. 70 Erinnert sei an dieser Stelle an den oben beschriebenen Funktionsmechanismus der Verfahren, der, abstrakter gefasst, auf einem ebenso allgegenwärtigen wie wirkungsmächtigen Prinzip beruht, das in der Erzählforschung bis69 Aufgegriffen werden hier Äußerungen Nünnings und Hempfers, die bereits weiter oben zitiert wurden: NÜNNING 2001, S. 35 (m. Herv.) sowie HEMPFER 1982, S. 136 (m. Herv.). 70 Ist hier und im Folgenden von expliziten versus impliziten Verfahren die Rede, so wird damit auf die zuvor zitierte Unterscheidung Hempfers abgehoben (vgl. das mit Fn. 65 ausgewiesene Zitat), wobei es hier nun allerdings in beiden Fällen um diskurszentrierte Formen von Autoreflexivität, in beiden Fällen also um metanarrative Verfahren geht. Dabei implizieren explizite Verfahren Erzähleräußerungen, die den Erzählakt ausdrücklich thematisieren, während impliziten Verfahren gerade keine ausdrückliche Thematisierung des Erzählaktes unterliegt, auf den im Zuge der Verfahren vielmehr indirekt bzw. auf einer Metaebene rückverwiesen wird. Es geht bei der Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Verfahren somit nicht um die Frage von deren Markiertheit; implizite Verfahren können ihrerseits durchaus deutlich als solche markiert sein, wie dies ja gerade bei den ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit der Fall ist (auch diese Markierungen erschließen sich dem Rezipienten allerdings allein auf einer Metaebene).

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her allerdings kaum Beachtung gefunden hat. Gebunden nämlich sind die Verfahren an ein performatives Potential des Konventionsbruchs, das keineswegs nur dem hier gegebenen ‚regelwidrigen‘ Erzählen, sondern letztlich jeglicher Art des Konventionsbruchs inhärent ist. Hier wird der Umstand relevant, dass im Bruch mit einer Konvention immer auch die zugrundeliegende Konvention selbst als solche sinnfällig und in das Bewusstsein des Rezipienten gehoben wird, dass also im Zuge der Verfahren mehr passiert und mehr bewirkt wird als nur der Verstoß gegen die jeweilige Regel, die Unter- oder Überbietung der jeweiligen Norm. Genau aus dieser Dynamik speist sich das Wirkungspotential der ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit: 71 Im Konventionsbruch wird für den Leser zum einen die jeweilige Konvention erfahrbar, gegen die verstoßen wird; erfahrbar wird die Konvention dabei zugleich als Konvention, als Konstrukt, als Setzung, die eben unterlaufen und durchaus auch anders gesetzt werden kann. Demgemäß lässt das Erzählen ‚gegen die Regel‘ gerade die gängigen Regeln, und im Falle der hier relevanten Verfahren tatsächlich grundlegende Regeln jeglichen Erzählens, als solche hervortreten und in ihrer (lebensweltlich verankerten) Konventionalität und ‚Gesetztheit‘, mithin in ihrem Konstruktcharakter sinnfällig werden – und weist dabei zugleich auf sich selbst zurück, wird also autoreflexiv. Nun ist der grundlegende Funktionsmechanismus der Verfahren als solcher keineswegs außergewöhnlich; ein entsprechender Mechanismus unterliegt de facto zahlreichen implizit autoreflexiven Erzählverfahren.72 Das Besondere der ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen liegt in der Tatsache begründet, dass dieses Funktionsprinzip hier auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung, also auf der Ebene des Diskurses angesiedelt ist. Es kommt hier eben nicht zu impliziten Rückverweisen der Geschichte auf den Diskurs, sondern zu impliziten Rückverweisen des Diskurses auf den Diskurs, der sich folglich im Zuge der Vermittlung einer Geschichte selbst bloßstellt und seinen eigenen Konstrukt- und Fiktionscharakter ‚von Innen heraus‘ offenlegt. Aus Sicht der Erzähltheorie und insbesondere aus medienvergleichender Perspektive ist hierbei nun entscheidend, dass sich diese Art metanarrativen Verfahrens im Unterschied zu expliziten metanarrativen Erzähleräußerungen problemlos auch in anderen Medien realisieren lässt, und zwar obwohl diese Verfahren in narrativen Texten, explizit-metanarrativen Erzähleräußerungen entsprechend, gerade auf der Ebene der Kommunikationsstruktur angesiedelt und unmittelbar an vermittlungsbezogene Funktionen der Erzählinstanzen gebunden sind. Wie sich anhand zahlreicher Beispiele nachweisen ließe, kann das an einen Konventionsbruch 71 Dies gilt natürlich nur, wenn der jeweilige Rezipient – und dies ist abhängig von dessen Disposition – das Verfahren überhaupt als Konventionsbruch bzw. als Verstoß gegen eine Regel wahrnimmt. Ansetzen lässt sich somit auch in Bezug auf die ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit das, was Gerhard Regn in anderem Zusammenhang als ein für die Postmoderne typisches ‚doppelt kodiertes Vergnügen‘ ausgewiesen hat (vgl. REGN 1992). 72 Vgl. den dritten Abschnitt dieses Beitrags, in dem Formen des Rückverweises der histoire auf den discours aufgegriffen werden, denen ein analoger Funktionsmechanismus unterliegt.

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gebundene ‚Durchscheinend-Werden‘ des (hier nun im weiteren Sinne verstandenen) Erzählvorgangs ebenso wie in narrativen Texten auch im Theater oder etwa im Film umgesetzt werden, mithin ganz unabhängig davon, ob man es mit einer berichtenden oder performativen Kommunikationssituation zu tun hat und ob der Erzählvorgang an eine fiktionsinterne Vermittlungsinstanz zu binden ist oder nicht. 73 Dies ist aus erzähltheoretischer Sicht insofern von Brisanz, als sich hieraus grundsätzliche Konsequenzen für eines der zentralen Theoreme der Erzählforschung ableiten lassen: In der Erzählforschung wird gemeinhin die Erzählervermitteltheit des narrativen Diskurses als Differenzkriterium angesetzt, um den narrativen vom dramatischen bzw. theatralen Kommunikationsmodus zu unterscheiden. Diese traditionsreiche Auffassung beruht bekanntermaßen auf dem platonisch-aristotelischen Redekriterium. Zu bedenken ist hierbei allerdings, dass das Redekriterium im Zuge der Scheidung zwischen Autor und Erzähler insofern modifiziert worden ist, als in der modernen Erzählforschung nicht mehr schlicht die Unterscheidung zwischen einem – bei Aristoteles noch an den Dichter gebundenen – berichtenden und einem performativen Kommunikationsmodus, sondern vielmehr die Ansetzbarkeit einer fiktionsinternen Vermittlungsinstanz zum entscheidenden Differenzkriterium erhoben worden ist. 74 Dies wiederum setzt – nicht zuletzt um der Kohärenz der Theoriebildung willen 75 – voraus, dass im Falle i.e.S. narrativer Texte stets von einer fiktionsinternen Vermittlungsinstanz auszugehen ist; eine Annahme, die nicht nur die ‚klassische‘ Erzählforschung in entscheidendem Maße geprägt hat – man denke nur an die Ansätze Stanzels und Genettes –, sondern auch in der sogenannten ‚post-klassischen‘ Narratologie eine zentrale

73 Man denke etwa an die sog. jump cuts in Filmen der französischen Nouvelle Vague, die, wenn sie auch aus heutiger Sicht zum gängigen Repertoire filmischen Erzählens gehören, zum damaligen Zeitpunkt als ein Bruch mit filmischen Erzählkonventionen empfunden wurden und insofern mit einer Offenlegung des Konstruktcharakters des jeweiligen Films einhergingen. Zu denken ist ebenso, um nur ein weiteres Beispiel für den filmischen Bereich anzuführen, an unkonventionelle oder auch, am Kanon gemessen, ‚regelwidrige‘ Verwendungen der sog. subjektiven Kamera, die ebenfalls dazu führen können, dass der filmische Erzählvorgang auf seine Gemachtheit hin durchscheinend wird – so etwa durchgehend in Robert Montgomerys ebenso berühmtem wie irritierendem Versuch, eine Ich-Erzählhaltung filmisch umzusetzen (vgl. Lady in the Lake, 1947), oder, wenn auch nur in bestimmten Einstellungen, in Quentin Tarantinos Pulp Fiction (1994), wo die subjektive Kamera z.B. punktuell ostentativ an Gegenstände gebunden wird, in diesem Fall an Waffen in einem geöffneten Kofferraum. Dies führt zu einem (hier ironisch-augenzwinkernden) Bruch mit der filmischen Konvention, der zufolge die ‚subjektive Kamera‘ die Blickposition einer Figur bzw. eines belebten Subjekts voraussetzt (vgl. z.B. MONACO 1995, S. 575). Für den Bereich des Theaters lassen sich beispielhaft die Brecht’schen Verfremdungstechniken anführen. 74 Ablesen lässt sich dies, um nur ein Beispiel unter vielen herauszugreifen, etwa an Manfred Pfisters Gegenüberstellung des narrativen und dramatischen Kommunikationsmodells, deren Differenz gerade in der Frage der Besetzung oder Nicht-Besetzung des vermittelnden Kommunikationssystems und d.h. in der Frage der Ansetzbarkeit oder Nicht-Ansetzbarkeit einer fiktionsinternen Erzählinstanz begründet liegt (vgl. PFISTER 1988, S. 20f.). 75 So explizit etwa in RYAN 1991, S. 69.

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Rolle spielt. 76 Hervorzuheben ist allerdings zugleich, dass eben diese Annahme im Rahmen der erzähltheoretischen Debatte auch immer wieder in Frage gestellt worden ist. 77 In den Vordergrund rückt hier demnach auch die gerade in jüngerer und jüngster Zeit wieder neu entfachte Diskussion um die fiktionsinterne Vermittlungsinstanz narrativer Texte, die vor allem um die Frage kreist, ob eine solche Instanz generell zu veranschlagen ist oder nicht.78 Während die Vertreter eines, wie Dorrit Cohn dies nennt, disjunctive model systematisch zwischen Autor und Erzähler unterscheiden und somit stets eine fiktionsinterne Vermittlungsinstanz ansetzen, 79 sind auf der Seite der Gegner einer solchen „ubiquity thesis“ 80 unterschiedliche Positionen zu verzeichnen, die hier nicht en détail aufgefächert werden können. Festgehalten sei lediglich, dass das diesbezügliche Spektrum von der Annahme sogenannter narratorless oder non-narrated narratives im Falle von covert narrators bzw. einer „effaced narration in the heterodiegetic mode“ 81 bis zur ausdrücklichen Identifizierung des textuellen Aussagesubjekts mit dem empirischen Autor reicht – Letzteres wiederum in unterschiedlichen Varianten, wobei erneut, wenn auch keineswegs ausschließlich, covert narrators eine wichtige Rolle zukommt. 82 Es soll hier nun keineswegs darum gehen, die Frage nach der Ansetzbarkeit oder Nicht-Ansetzbarkeit einer fiktionsinternen Vermittlungsinstanz in narrativen Texten ausführlicher zu diskutieren oder gar zu beantworten; im Gegenteil: Vor dem Hintergrund implizit autoreflexiver Verfahren auf der Ebene des Diskurses und deren transmedialer, also medienübergreifender Realisierbarkeit deutet sich vielmehr an, dass die gesamte Debatte um diese Frage am eigentlich zentralen Punkt vorbeiläuft. Ableiten nämlich lässt sich aus den vorangegangenen Überlegungen, dass die Frage, ob der Vermittlungsprozess des narrativen Diskurses an eine fiktionsinterne Instanz oder aber – denn dies schiene die einzig plausible Al76 Vgl. genauer RAJEWSKY 2007. 77 Nicht unproblematisch erscheint diese Annahme insbesondere in Hinblick auf ältere Epochen und deren je spezifisches Fiktionsverständnis; dieser Aspekt wird hier jedoch ausgespart. Der Fokus liegt hier auf Ansätzen, die diese Annahme generell, d.h. auch auf moderne Erzähltexte bezogen, in Frage stellen (für Literaturhinweise vgl. unten, Fn. 82). 78 Parallel hierzu ist zugleich eine ganze Reihe von Beiträgen zu verzeichnen, in denen – sozusagen in gegenläufiger Bewegung – versucht wird, auch in traditionell einem dramatischen bzw. mimetischen Kommunikationsmodus zugeordneten Gattungen bzw. Medien, wie etwa Drama und Theater, systematisch eine fiktionsinterne Erzählinstanz nachzuweisen (vgl. z.B. JAHN 2001, SOMMER 2005; in kritischer Auseinandersetzung: RAJEWSKY 2007). 79 Vgl. COHN 1990, S. 794. 80 KANIA 2005, S. 47 et passim. 81 PHELAN/BOOTH 2005, S. 388. Die in den einschlägigen Beiträgen wieder und wieder zitierten Beispiele für Erzählungen dieser Art sind Hemingways Kurzgeschichten „The Killers“ und „Hills Like White Elephants“. 82 Vgl. die frühe Position Chatmans (CHATMAN 1978), die dieser später allerdings revidiert (vgl. CHATMAN 1990, insb. S. 115f.), sowie etwa BANFIELD 1982, WALSH 1997, NIELSEN 2004, KANIA 2005 und nicht zuletzt den Beitrag von Andreas Kablitz in diesem Band. Für einen kurzen Überblick über entsprechende Positionen s. PHELAN/BOOTH 2005; zur Erzähler- bzw. Instanzenfrage s. auch COHN 1990 u. RYAN 2001; vgl. in diesem Zusammenhang des Weiteren BAREIS 2006.

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ternative – an den Autor zu binden ist, 83 für das spezifische ‚Meta-Potential‘ narrativer Texte schlicht irrelevant ist. Und eben dies wiederum führt in der Konsequenz zu der Schlussfolgerung, dass sich die Instanzenfrage auch für die grundsätzliche Abgrenzbarkeit narrativer Texte von Drama und Theater als irrelevant erweist, womit die narratologische Tragweite des Phänomens offenkundig sein sollte. Dies bedarf nun freilich einer etwas genaueren Erläuterung: Mit Hempfer setzt die ‚potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses‘ voraus, dass der Diskurs zumindest punktuell nicht die ‚Geschichte‘, sondern das Erzählen selbst thematisiert, dass also die ‚Geschichte‘ zumindest punktuell nicht Gegenstand des Diskurses ist. Eben diese Möglichkeit kommt bezeichnenderweise bei expliziten, nicht aber bei impliziten diskurszentrierten Formen der Autoreflexivität zum Tragen, die sich ja, wie am Beispiel der ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit belegt, gerade im Zuge des Erzählens einer Geschichte entfalten. Hieraus lässt sich nun die Antwort auf die Frage ableiten, warum die eine, nicht aber die andere Form des diskurszentrierten AutoreflexivWerdens, warum also explizite, nicht aber implizite metanarrative Verfahren als ein generisches bzw. mediales Spezifikum narrativer Texte auszuweisen sind: Zu bedenken ist hier erneut, dass die ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen genauso an eine deutlich ausgestaltete Erzählinstanz gebunden sind wie dies per definitionem bei expliziten metanarrativen Erzähleräußerungen der Fall ist. 84 Dies ist insofern signifikant als sich die impliziten Verfahren aber eben dennoch als eine transgenerisch und transmedial anzusetzende Form der Autoreflexivität ausweisen lassen, also auch in solchen Medien umgesetzt werden können, denen gerade keine fiktionsinterne Erzählinstanz zuzuschreiben ist, wie etwa dem Theater. Wenn nun sowohl implizite als auch explizite metanarrative Verfahren in narrativen Texten an eine fiktionsinterne Erzählinstanz gebunden sind, sich aber implizite Verfahren – und nur diese – auch in performativen Medien realisieren lassen, so verweist dies schon aus rein logischen Gründen darauf, dass der entscheidende Unterschied zwischen den Verfahren nicht in der Frage der Erzählervermitteltheit liegen kann, sondern an anderer Stelle zu suchen sein muss. In den Vordergrund rückt hier erneut der Beitrag Hempfers, in dem der zentrale Aspekt bereits vorformuliert ist: Als ausschlaggebender Faktor nämlich erweist sich die in narrativen Texten gegebene prinzipielle „Unabhängigkeit der Vermittlungsebene von der ‚Geschichte‘“, wie sie im Zuge expliziter metanarrativer Verfahren mit aller Deutlichkeit zu Tage tritt, während sie für deren implizite Variante keine wesentliche Rolle spielt.85 Nun wird die ‚Vermittlungsebene‘ nar83 Vgl. dagegen BANFIELD 1982 sowie in kritischer Auseinandersetzung MCHALE 1983. 84 Dies gilt zumindest dann, wenn man eine fiktionsinterne Vermittlungsinstanz nicht gänzlich in Frage stellen will. 85 HEMPFER 1982, S. 136; m. Herv. — Letzteres gilt zumindest, was die Möglichkeit der Realisierung impliziter Verfahren in unterschiedlichen Gattungen und Medien anbelangt. Selbstverständlich bleibt der Erzählmodus auch im Falle impliziter metanarrativer Strategien in narrativen Texten ein anderer als etwa in Theater oder Film, was nicht zuletzt Konsequenzen für die je (medien-)spezifische Umsetzung der Verfahren hat. Dies ändert jedoch nichts daran,

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rativer Texte der gängigen Theoriebildung entsprechend freilich gerade mit einer fiktionsinternen Vermittlungsinstanz, mit einem Erzähler, korreliert, was der hier vertretenen These auf den ersten Blick zu widersprechen scheint. Diese gängige Annahme sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die narrativen Texten eignende prinzipielle Unabhängigkeit des Erzählvorgangs von der ‚Geschichte‘ ihrerseits unabhängig davon Bestand hat, wem dieser Erzählvorgang zugeschrieben wird. Sie schließt damit natürlich nicht aus, dass das Aussagesubjekt des Textes dennoch mit einer fiktionsinternen Erzählinstanz identifiziert wird, setzt dies aber eben auch nicht per se voraus. Die Unabhängigkeit des Erzählvorgangs von der ‚Geschichte‘ ergibt sich vielmehr unmittelbar aus der berichtenden Kommunikationssituation narrativer Texte und bliebe auch dann bestehen, wenn man den Erzählvorgang nicht an eine fiktionsinterne Erzählinstanz, sondern an den Autor binden würde. Als solche erweist sie sich als notwendige und hinreichende Bedingung für das spezifische ‚Meta-Potential‘ narrativer Texte und lässt diese zugleich von der für das Theater medial und für das Drama generisch konstitutiven performativen Kommunikationssituation unterscheidbar werden. Als zentral erweist sich hier demnach nicht die Frage der Erzählervermitteltheit. Als zentral erweist sich vielmehr die Frage, in welcher Weise die für sämtliche Geschichten erzählenden Medien konstitutive Doppeltheit von discours und histoire im jeweiligen Medium umgesetzt werden kann, und folglich – ganz im Sinne eines back to the roots und d.h. in diesem Fall eines ‚zurück zu Aristoteles‘ –, ob man es mit einem berichtenden oder performativen Kommunikationsmodus zu tun hat; eine Frage, die entgegen der narratologischen Praxis losgelöst von der Instanzenproblematik zu denken ist oder sich zumindest losgelöst von dieser denken lässt. Und eben hiermit ist der Bogen zu Aristoteles geschlagen: „Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten […] oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen“ 86 – die Frage, wer uns berichtet, ob im ersten von Aristoteles genannten Fall also der gängigen modernen Erzähltheorie folgend eine fiktionsinterne Vermittlungsinstanz angesetzt wird oder nicht, bleibt für diese Unterscheidung unerheblich, wird zu einer nachrangigen. Hieraus ergeben sich nun weitreichende Implikationen für die Erzähltheorie im Allgemeinen und für das Forschungsfeld einer transgenerischen und transmedialen Narratologie im Besonderen. Denn in der Konsequenz droht einem der zentralen Theoreme der Erzählforschung, nämlich der Frage der Erzählervermitteltheit narrativer Texte, ein grundlegender Relevanzverlust. Hiermit soll keineswegs behauptet werden, dass diese Frage generell belanglos würde. 87 Wohl aber deutet dass nur implizite, nicht aber explizite metanarrative Verfahren in einer narrativen Texten prinzipiell vergleichbaren Weise überhaupt in anderen medialen Kontexten realisierbar sind. 86 ARISTOTELES 1994, S. 9 (Kap. 3 der Poetik). 87 Die Erzählervermitteltheit narrativer Texte erweist sich für die Analyse narrativer Texte in mehrfacher Hinsicht als ein zentrales Kriterium, dies insbesondere deren Fiktionalitätsstatus, mithin den Wahrheitsgehalt bzw. -anspruch fiktionaler Rede betreffend (vgl. auch den Beitrag von Anita Traninger, insb. Abschnitt 4, vgl. dagegen den Beitrag von Andreas Kablitz in diesem Band).

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sich an, dass sie bezüglich der Scheidung zwischen narrativem und dramatischem bzw. theatralem Kommunikationsmodus in weiten Teilen überbewertet und diese Scheidung allzu eindimensional auf eben diese Frage zugespitzt worden ist – ein Umstand, der ganz offenkundig mit der traditionellen Textzentriertheit der Erzählforschung zusammenhängt. Dies hat Konsequenzen für die Theoriebildung auch in anderen Bereichen, etwa der Dramentheorie oder der Narratologie des Films. Denn in diesen Bereichen hat sich die Theoriebildung gerade auf der Folie der gängigen Annahme entwickelt, dass die Erzählervermitteltheit das distinktive Merkmal narrativer Texte bzw. eines (im engeren Sinne verstandenen) narrativen Kommunikationsmodus sei. Hierauf basieren nicht nur sämtliche gängigen Differenzierungen zwischen Narrativik und Dramatik, wie sie in jeder ‚Einführung in die Literaturwissenschaft‘ nachzulesen sind, sondern ebenso z.B. jedwede kommunikationstheoretisch ausgerichtete Theorie filmischen Erzählens und analog neuere Versuche, den theatralen Kommunikationsmodus als eine Mischform mimetischer und diegetischer (sprich: erzählervermittelter) Elemente und Strukturen auszuweisen. 88 Ohne diesen Aspekt im vorliegenden Kontext nun weiter zu vertiefen, sollte doch schon mit diesen Anmerkungen deutlich werden, dass sich hier eine grundlegende Möglichkeit – und Notwendigkeit – der Revision und Neuausrichtung entsprechender Ansätze ergibt. 3. Zurückzukommen ist nun auf die Romane der jeunes auteurs de Minuit und dabei insbesondere auf die Funktionalisierung der ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen im Kontext einer Rückkehr zum Erzählen. Die beschriebenen Erzählsituationen stellen fraglos eines der herausstechenden Charakteristika der ‚jüngeren‘ französischen Literaturproduktion dar; dies bedeutet jedoch nicht, dass sie isoliert neben anderen Erzählverfahren stünden. Diese ‚Auffälligkeit‘ der Romane lässt sich vielmehr als eine von mehreren Realisationsformen eines grundlegenden Funktionsprinzips beschreiben, mit dessen Hilfe in diesen Texten die Wiederkehr des Erzählens von Geschichten mit einem Ausstellen des Inszenierungscharakters eben dieses Erzählens verbunden wird. Um die Variationsbreite entsprechender Verfahren zu illustrieren, erscheint es daher sinnvoll, den ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen an dieser Stelle beispielhaft einige weitere Erzählverfahren an die Seite zu stellen. Auf diese Weise ergibt sich zugleich die Möglichkeit, das Spektrum autoreflexiver Erzählstrategien in diesen Texten in seiner Breite zu beleuchten, wobei hier nun auch explizite metanarrative Verfahren und insbesondere implizite Rückverweise der histoire auf den discours zum Tragen kommen. Festzuhalten ist, dass in den Romanen der jeunes auteurs keineswegs nur in Bezug auf die ‚klassischen‘ Erzählsituationen, sondern ganz generell und auf unterschiedlichen Ebenen in auffälliger Manier auf etablierte Normen und Konven88 Positionen dieser Art werden insbesondere in der sog. ‚post-klassischen‘ Narratologie vertreten; vgl. bereits oben, Fn. 78, sowie RAJEWSKY 2007.

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tionen rekurriert wird, wie sie – mindestens für die 1980er Jahre – als Fluchtpunkte jeden Erzählens anzusetzen sind. Verdeutlicht sei dies zunächst beispielhaft an einer viel zitierten Romanpassage aus dem Erstlingswerk Jean-Philippe Toussaints, die aufgrund eines einzigen Wortes einen erheblichen Bekanntheitsgrad erlangt hat. In La salle de bain (1985), ein Roman, in dem der Relationierung von mobilité und immobilité eine zentrale Rolle zukommt, findet sich eine längere Passage, in der der Protagonist und Ich-Erzähler in seinem bevorzugten Rückzugsort, dem Badezimmer, über die Betrachtung von Regen reflektiert: Il y a deux manières de regarder tomber la pluie, chez soi, derrière une vitre. La première est de maintenir son regard fixé sur un point quelconque de l’espace et de voir la succession de pluie à l’endroit choisi; cette manière, reposante pour l’esprit, ne donne aucune idée de la finalité du mouvement. La deuxième, qui exige de la vue davantage de souplesse, consiste à suivre des yeux la chute d’une seule goutte à la fois, depuis son intrusion dans le champ de vision jusqu’à la dispersion de son eau sur le sol. Ainsi est-il possible de se représenter que le mouvement, aussi fulgurant soit-il en apparence, tend essentiellement vers l’immobilité, et qu’en conséquence, aussi lent peut-il parfois sembler, entraîne continûment les corps vers la mort, qui est immobilité. 89

Wie in der Forschung bereits hinreichend belegt, lassen sich die Reflexionen in dieser Passage nicht nur auf den Regen, sondern auf einer Metaebene ebenso auf die Ästhetik und Machart des Romans insgesamt beziehen, kann doch eine Ästhetik der Immobilität durchaus und in mehrfacher Hinsicht als dessen kompositorisches Prinzip betrachtet werden. Zumindest „[b]is zu diesem Punkt würde also tatsächlich“, so Mecke, der diese Textstelle einer vergleichbaren Passage aus Claude Simons La route des Flandres (1960) gegenüberstellt, „eine als klassisches Verfahren der literarischen Moderne geltende mise en abyme vorliegen.“ 90 Nun endet diese Passage, und damit zugleich der 33. instantané im ersten Teil des durchgehend in nummerierte Abschnitte gegliederten Romans, aber noch nicht an dieser Stelle; vielmehr folgt auf den letzten zitierten Satz noch genau ein Wort: ein ebenso schlichtes wie fulminantes „Olé.“ An diesem ‚Olé‘ lassen sich nun zwei grundlegend unterschiedliche Lesarten festmachen: Mecke zufolge stört das Ende der Passage „die Bezüge zwischen Theorie und Praxis des Erzählens“, was zur Folge habe, dass der „Spiegel der Selbstreflexion des Romans zerbricht“. Das ‚Olé‘ stelle klar, „daß es sich bei dem zitierten Gedankengang nicht um eine authentische Reflexion über die Poetik des Romans handelt, sondern […] um die beifallheischende Vorführung eines literarischen Kunststückchens.“ Damit wiederum verwandle sich eine Technik der Selbstbezüglichkeit, „die literarische Texte einst von der Repräsentation in reine (Selbst-)Präsenz transformieren sollte, in eine Repräsentation des prätentiösen Charakters eines solchen Strebens nach Selbstpräsenz“, und die Ästhetik der mise en abyme werde zur „Zielscheibe einer respektlosen mise en boîte“. 91 Bezieht man nun allerdings Umberto Ecos Überlegungen zur Literatur der Postmoderne mit ein, so wird unmittelbar einsichtig, dass dem ‚Olé‘ auch eine 89 TOUSSAINT 2005 (11985), S. 37f. 90 MECKE 2000, S. 415f. 91 Ebd. S. 416f. Für weitere Lesarten des ‚Olé‘ vgl. z.B. WORTMANN 1993, MAREK 2001.

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ganz andere, weitaus weniger zerstörerische Funktion zugeschrieben werden kann. In seiner Nachschrift zu Il nome della rosa (1983) verdeutlicht Eco ein Spezifikum postmodernen Erzählens mit Hilfe eines einprägsamen Vergleichs. Dabei wird in der Forschung gemeinhin allerdings nur ein – wenn auch zentraler – Teil seiner Ausführungen aufgegriffen, nämlich die berühmt gewordene Formel eines Erzählens „con ironia, in modo non innocente“. 92 Die entsprechende Passage aus Ecos Postille, von der hier nun der in der Forschung selten aufgegriffene, zweite Teil in Erinnerung gerufen sei, hebt jedoch darüber hinaus auf weitere Aspekte ab, die für den vorliegenden Kontext mindestens ebenso relevant sind: Penso all’atteggiamento post-moderno come a quello di chi ami una donna, molto colta, e che sappia che non può dirle ‚ti amo disperatamente‘, perché lui sa che lei sa (e che lei sa che lui sa) che queste frasi le ha già scritte Liala. Tuttavia c’è una soluzione. Potrà dire: ‚Come direbbe Liala, ti amo disperatamente‘. A questo punto, avendo evitata falsa innocenza, avendo detto chiaramente che non si può più parlare in modo innocente, costui avrà però detto alla donna ciò che voleva dirle: che la ama, ma che la ama in un’epoca di innocenza perduta. Se la donna sta al gioco, avrà ricevuto una dichiarazione d’amore, ugualmente. Nessuno dei due interlocutori si sentirà innocente, entrambi avranno accettato la sfida del passato, del già detto che non si può eliminare, entrambi giocheranno coscientemente e con piacere al gioco dell’ironia… Ma entrambi saranno riusciti ancora una volta a parlare d’amore. 93

Es sind insgesamt fünf der von Eco aufgerufenen Aspekte, die in Bezug auf die Regentropfen-Sequenz aus Toussaints La salle de bain, aber auch für das Erzählen der jeunes auteurs de Minuit im Allgemeinen zentral erscheinen: Zunächst rückt offenkundig das Erzählen ‚mit Ironie und ohne Unschuld‘ in den Vordergrund, das sich bei Toussaint im Zuge eines Sich-Anschließens an die Tradition, d.h. im Sinne eines Aufgreifens etablierter Erzählverfahren, bei gleichzeitiger und unverkennbar ironischer Distanznahme in Form des ‚Olé‘ wiederfinden lässt. Darüber hinaus ist jedoch auch der Umstand von entscheidender Relevanz, dass es Toussaint, in Analogie zu Ecos Liebenden, auf diese Weise gelingt, trotz der unhintergehbaren Problematik des ‚già detto‘ bzw. ‚già fatto‘, einmal mehr eine mise en abyme umzusetzen und vor allem: einmal mehr eine Geschichte zu erzählen. Denn das mise en abyme-Verfahren als solches bleibt ebenso bestehen wie die in diesen Romanen praktizierte Rückkehr zum Erzählen (wenn sich diese in diesem spezifischen Fall auch als eine recht ‚minimalistische‘ ausnehmen mag). 94 Beides wird allerdings – und hiermit sind die letzten drei wichtigen Aspekte aufgerufen – in einen bewussten und zugleich spielerischen Umgang mit den literarischen Traditionsbeständen überführt, der sich in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit zudem fraglos als kompatibel mit einer ausgeprägten Lust am Erzählen erweist: 95 Beide, Autor und Leser, spielen bewusst und mit Vergnügen das Spiel der Ironie 92 Die vollständige Formulierung Ecos lautet: „La risposta postmoderna al moderno consiste nel riconoscere che il passato, visto che non può essere distrutto, perché la sua distruzione porta al silenzio, deve essere rivisitato: con ironia, in modo non innocente“ (ECO 1993, S. 529). 93 Ebd. 94 Zur Kategorie des Minimalismus im Zusammenhang der Minuit-Autoren vgl. SCHOOTS 1997. 95 Dies gilt bei allem Minimalismus durchaus auch für Toussaints La salle de bain, wie sich nicht zuletzt an den Klammereinschüben des Textes zeigen ließe.

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und sind doch zum Erzählen, zur Geschichte und mithin immer auch zu etablierten Verfahren des Darstellens von ‚Welt‘ zurückgekehrt, die freilich zugleich – und eben dies ist entscheidend – in ihrer Konventionalität und Konstrukthaftigkeit kenntlich gemacht werden. Auf die doppelte Bewegung des Anschließens an etablierte Erzählmuster bei gleichzeitiger Distanzierung ist in der Forschung hinsichtlich der Romane der jeunes auteurs de Minuit bereits mehrfach hingewiesen worden, wobei insbesondere Jean Echenoz’ Roman Cherokee von 1983 hervorgehoben worden ist. Mit Cherokee hat Jean Echenoz einen Roman vorgelegt, der ganz dezidiert mit ‚trivialen‘ Erzählmustern, insbesondere mit den Gattungskonventionen des Kriminalromans, genauer der sog. ‚schwarzen Serie‘ spielt; mit Konventionen also, wie sie aus der amerikanischen hard-boiled school of fiction und somit etwa aus Romanen Dashiell Hammetts und Raymond Chandlers sowie deren Verfilmungen bekannt sind. 96 In Cherokee wird die genannte doppelte Bewegung nun geradezu auf die Spitze getrieben; gängige Konventionen und Erzählmuster werden in immer neuen Varianten „zugleich bestätigt und dementiert“ 97 bzw. als solche offengelegt. Dies lässt sich bereits anhand der Handlung des Romans aufzeigen, die sich, wie auch Christian von Tschilschke hervorhebt, zwar durchaus auf ein einfaches und genretypisches Grundmuster bringen lässt, das dem Roman jedoch in keiner Weise gerecht wird. 98 De facto wartet Cherokee mit einer schier unüberschaubaren Fülle von Ereignissen, Schauplätzen und Figuren – es sind derer über 40 – auf, die nach und nach in die Handlung eingeführt werden, wobei die verschiedenen Erzählstränge im Laufe des Geschehens in zunehmender Unübersichtlichkeit und in z.T. überaus plötzlichen Volten der Handlungsführung aufeinandertreffen, um am Ende des Romans schließlich endgültig zusammengeführt zu werden. Man hat es, insgesamt betrachtet, mit einer „temporeichen, labyrinthisch verzweigte[n]“ 99 Handlung zu tun, die nicht nur jeder Zusammenfassung des Romans, sondern darüber hinaus auch den Kategorien der Wahrscheinlichkeit, Plausibilität und Glaubwürdigkeit ironisch-augenzwinkernd Hohn spricht. Dementsprechend regiert im Reich des Romans der Zufall, regieren narrative Sprünge, zahlreiche blancs und zudem ein offensichtlicher Inszenierungscharakter der Geschichte, wie sich etwa schon anhand der ersten ‚Fälle‘ ablesen lässt, denen der genretypische Privatde96 Vgl. hierzu genauer TSCHILSCHKE 2000, insb. S. 121f. 97 TSCHILSCHKE 2006, S. 4 (entsprechend TSCHILSCHKE 2000, S. 125); m. Herv. 98 Vgl. die Zusammenfassung Tschilschkes: „Ein junger Mann, Georges Chave, nimmt eine Gelegenheitsarbeit als Privatdetektiv an. Nach ersten Erfolgen wird er auf eine Erbschaftsangelegenheit angesetzt. Im Verlauf seiner Nachforschungen begegnet er einer schönen Frau [i.e. der genretypischen femme fatale des Romans], die er jedoch aus den Augen verliert. Nach komplizierten Verwicklungen, bei denen er selbst zum Verfolgten wird und wiederholt in Gefahr gerät, trifft er sie dann am Ende unverhofft wieder“ (TSCHILSCHKE 2000, S. 117f.). Dass dieses Resümee den Roman nur ansatzweise zu erfassen in der Lage ist, zeigt sich, wenn man vergleichend etwa Kemps Kurzbeschreibung von Cherokee hinzuzieht, die auch ihrerseits durchaus treffend ist, sich aber zugleich auf einen gänzlich anderen Roman zu beziehen scheint: „An array of crooks, policemen, and private detectives attempt to get their hands on a buried fortune at the headquaters of a religious cult“ (KEMP 2002, S. 181). 99 TSCHILSCHKE 2000, S. 117.

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tektiv des Romans, Georges Chave, nachzugehen hat. 100 Diese ‚Fälle‘ erscheinen im Horizont des roman bzw. film noir schon per se eher lächerlich und einem ‚hartgesottenen‘ Detektiv kaum angemessen – ausfindig zu machen sind eine untreue Ehefrau und ein gestohlener Papagei. Vor allem aber werden sie von Chave, entgegen allen Regeln des Genres und ohne auch nur einen Hauch von Spannung aufkommen zu lassen, vollkommen problemlos, ohne jeglichen detektivischen Scharfsinn, geschweige denn ermittlerische Anstrengung, auf wenigen Romanseiten ganz nebenbei und aus purem Zufall gelöst, wobei diese Zufälle zudem so „übertrieben inszeniert werden, dass ihre Unwahrscheinlichkeit und Unglaubwürdigkeit offenkundig wird.“ 101 Schon diese wenigen Anmerkungen lassen deutlich werden, dass man es in Bezug auf Cherokee kaum mit einer auch nur annähernd genrekonformen Umsetzung eines Kriminalromans bzw. eines roman noir, sondern ganz im Gegenteil mit einem Text zu tun hat, der gängige Erzähl- und Erwartungsmuster aufgreift, um sie gleich darauf zu unterlaufen, ja, geradezu ‚auflaufen‘ zu lassen. Dies geschieht, indem kontinuierlich und auf sämtlichen Ebenen des Textes eine „Überund Untererfüllung“ konventioneller Erzählmuster und Klischees und zugleich ein – überaus vergnügliches – Spiel mit den diesbezüglichen Erwartungen des Lesers betrieben wird. 102 Dabei funktioniert der ganze Mechanismus weniger im Sinne einer Parodie, sondern eher im Sinne einer Hommage an die aufgerufene Gattung, oder auch, mit Tschilschke, im Sinne einer „réécriture“, die eben nicht einer „spöttisch-kritische[n] Preisgabe“, sondern eher einer „ironisch-spielerischen Wiederaufnahme eines Modells“ verpflichtet ist.103 Gearbeitet wird dabei auch hier – erinnert sei an die ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen – von Innen heraus: „Echenoz works within the framework of conventional narrative forms (including, although not exclusively, crime fiction) to distort their original effects and divert them from their usual goals.“ 104 Bei all dem lassen sich hinsichtlich der Erzählverfahren bei Echenoz, soweit man diese denn an den Konventionen und Mustern der aufgerufenen Gattung, mit100 Man hat es in diesem Roman freilich nicht nur, wie es dem Genre entspräche, mit einem, sondern gleich mit mehreren Privatdetektiven zu tun, wobei Chave allerdings eine herausgehobene Rolle zukommt. — Angemerkt sei, dass der Inszenierungscharakter der Geschichte fiktionsintern zudem über ein von Chaves Cousin und Gegenspieler Fred Shapiro in Auftrag gegebenes Rollenspiel einiger der Figuren gespiegelt wird. 101 MECKE 2002a, S. 66. 102 TSCHILSCHKE 2000, S. 118. Diese Verfahren sind in der Forschung bereits hinreichend belegt und analysiert, wobei sowohl Unterschiede zum ‚klassischen‘ Kriminalroman bzw. roman noir als auch zum modernen ‚Anti-Kriminalroman‘ herausgearbeitet worden sind und Cherokee dementsprechend als „Pseudo-Krimi“ (ZELTNER-NEUKOMM 1991, S. 31) oder als „postmoderner“ (MECKE 2002a) bzw. „postavantgardistischer Kriminalroman“ (TSCHILSCHKE 2000, S. 117) klassifiziert worden ist. Vgl. ebd. für Bezüge und Unterschiede zur ‚schwarzen Serie‘; für einen Vergleich zwischen modernem und postmodernem Kriminalroman s. insb. MECKE 2002a, der Cherokee Michel Butors L’emploi du temps (1956) gegenüberstellt. 103 TSCHILSCHKE 2000, S. 117. Von einer ‚Parodie‘ sprechen hingegen z.B. CLOONAN 1995 u. JULLIEN 1988. 104 KEMP 2002, S. 183; m. Herv. Vgl. auch SCHOOTS 1997, insb. S. 213.

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hin an „ultra-lisible genre-fiction“ 105 messen wollte, ganz offenkundig Schwachstellen, Mängel und Formfehler feststellen. Zu nennen sind hier etwa die Multiplikation der kriminalistischen Fälle, die zum Teil, zum Teil aber auch nicht, und wenn, dann ganz zufällig, einer Lösung zugeführt werden; darüber hinaus ein fehlender Spannungsaufbau, eine Unüberschaubarkeit sowie offenkundige Unglaubwürdigkeit und Unwahrscheinlichkeit der Ereignisse und Figuren, fehlende Motivierungen und Erklärungen und nicht zuletzt eine umfassende Nicht-Einhaltung von Gattungskonventionen und eine Nicht-Erfüllung von „venerable mysterystory cliché[s]“, 106 die zugleich aber eben dennoch aufgerufen werden. Gerade Letzteres verweist nun, über die bereits dargelegte doppelte Bewegung des Aufgreifens und gleichzeitigen Unterlaufens etablierter Erzählmuster hinaus, auf den für den vorliegenden Kontext zentralen Aspekt, der in der Forschung noch kaum beachtet oder zumindest nicht in seiner Relevanz reflektiert worden ist. Eine Ausnahme bildet hier Simon Kemp, der am Beispiel eines in Cherokee nachweisbaren Spiels mit der genretypischen crime fiction closure gerade die Tatsache hervorhebt, dass Echenoz, [a]s he plays with the conventions of crime fiction closure, […] ensures that it is the conventions themselves that are the centre of attention; he not only subverts, but makes it known that he is subverting through metafictional signals in the text. The result may not have the satisfactions of the well-made genre plot, but offers more idiosyncratic pleasures in their place: hidden techniques of closure are revealed, subconscious manipulations are exposed, and the most basic building materials of narrative structure are set out for our amused inspection. 107

105 KEMP 2002, S. 182. 106 Ebd. S. 186. 107 Ebd. S. 187; m. Herv. — Letzteres lässt sich bereits anhand der Eingangssätze von Cherokee nachweisen, wobei die Tatsache, dass es sich um die ersten Sätze des Romans handelt, Aufmerksamkeit verdient. Der Roman beginnt folgendermaßen: „Un jour, un homme sortit d’un hangar. C’était un hangar vide, dans la banlieue est. C’était un homme grand, large, fort, avec une grosse tête inexpressive. C’était la fin du jour“ (Cherokee, S. 9). Aufgerufen werden hier nicht nur Elemente der genretypischen Welt der ‚schwarzen Serie‘ und zudem in geradezu ostentativer Weise eine – kurz darauf wieder unterlaufene – externe Fokalisierung, wie sie bezeichnenderweise mit Dashiell Hammets Roman The Maltese Falcon berühmt geworden ist; vielmehr weist die „Aufdringlichkeit des rhetorischen Musters“ (TSCHILSCHKE 2000, S. 123) zugleich auf die ‚Gemachtheit‘ des Textes insgesamt voraus: Die drei Substantive des ersten Satzes werden in überaus simpler Weise in umgekehrter Reihenfolge von den drei nachfolgenden, parallel und anaphorisch strukturierten Sätzen aufgegriffen und mit Ergänzungen versehen (vgl. ebd.). Entsprechende Verfahren lassen sich in unterschiedlichen Varianten in Cherokee in Fülle nachweisen. Verwiesen sei hier, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auf die spezifische Verwendungsweise der für Märchen topischen Eingangsformel ‚es war einmal‘, die in diesem Roman gleich zweifach zur Anwendung kommt: Das erste Mal werden mit dieser Formel, und zugleich in spielerisch-ironischem Rekurs auf Stan Laurel und Oliver Hardy (‚Dick und Doof‘), zu Beginn des fünften Kapitels zwei Detektive in das Geschehen eingeführt: „Il était une fois deux hommes nommés Ripert et Bock, ce genre de grand maigre et de petit gros qu’on ne présente plus“ (Cherokee, S. 32). Wird die Formel des ‚es war einmal‘ schon hier in ihrer Qualität als ‚klassisches‘ Fiktionssignal ausgestellt, womit die Charaktere in doppelter Weise als Versatzstücke ausgewiesen sind, so wird dieses Verfahren im zweiten Fall durch eine betonte Wiederholung noch weiter potenziert und damit endgültig in

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Kemp nimmt hier auf die (fast) finale Sequenz von Cherokee Bezug, in deren Rahmen es zu einer Art Persiflage des klassischen show-down der beteiligten Figuren kommt. Mehr zufällig denn aus irgendeiner Handlungslogik begründet liegt am Ende, als komplettes Chaos und eine kaum im gängigen Sinne motivierte Schießerei die Szenerie bestimmen, eine der beteiligten Figuren tot am Boden, und der hauptverantwortliche Gauner flieht den Schauplatz der Handlung. Der Leser befindet sich an diesem Punkt der verzwickten Handlung, d.h. nach zahlreichen „unexplained twists, ambiguous actions, sudden narrative jumps, and other holes in the plot“, wie Kemp es treffend auf den Punkt bringt, „in a state of some bemusement as to exactly what the characters have been doing in the course of the narrative, let alone for what motives.“ 108 Gerade vor diesem Hintergrund empfindet der Leser die Tatsache, dass auch für einen der in das Geschehen verwickelten Detektive Fragen offen geblieben sind – „Monsieur Gibbs, dit-il, il y a deux ou trois choses que je m’explique mal“ (Cherokee, S. 226) – als eine Erleichterung, wird dem Leser hiermit doch nicht nur qua mise en abyme aus der Seele gesprochen, sondern zugleich, wie Kemp zu Recht hervorhebt, ein generischer „standard cue for the explaining to begin“ gesetzt. 109 Die entsprechende Erwartung wird in diesem Roman selbstverständlich unterlaufen: Monsieur Gibbs „baissa la tête“ in aller Stille (ebd.), und der Erzähler wendet sich der aufkommenden Nacht und einem Jazz-Programm im Radio zu. Antworten werden auch im dann noch folgenden, letzten Kapitel des Romans nicht gegeben, das allerdings seinerseits, wie Tschilschke überzeugend gezeigt hat, mit weiteren genretypischen closureElementen spielt. 110 Und zu guter Letzt wird der Leser mit den abschließenden Worten des Romans in eine ausgestellte Unabgeschlossenheit und zugleich in das Bewusstsein einer durch und durch spielerischen Handlung entlassen: „– Bon, dit Fred. Qu’est-ce que’on fait, maintenant?“ (ebd. S. 231). Man mag sich in Bezug auf den abschließenden show-down des Romans tatsächlich an ein „schlecht gemachtes B-Picture“ erinnert fühlen, „dem es nicht gelungen ist, der zu den Gepflogenheiten des Genres gehörenden Schießerei am Ende die notwendige Plausbilität zu verleihen.“ 111 Hieraus leitet Mecke den für ihn zentralen Unterschied zu Verfahrensweisen des nouveau roman ab: Der Unterschied zum ‚nouveau roman‘ könnte größer nicht sein. Zwar übertritt auch er die Regeln des Kriminalromans, allerdings geschieht dies aus einer Position der Überbietung und Überlegenheit. Der ‚roman nouveau‘ eines Jean Echenoz gibt hingegen vor, nicht ganz auf der Höhe literarischer Techniken zu sein. Statt die Regeln des Kriminalromans zu durchbrechen, um sie zu überbieten, gefällt er sich in deren absichtlichen Unterbietung. 112

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seiner Konventionalität kenntlich gemacht. Zu Beginn des 13. Kapitels heißt es: „Il était encore une fois deux hommes […]“ (Cherokee, S. 90; m. Herv.), wobei diesmal nun zwei weitere Figuren, die Polizisten Guilvinec und Crémieux, ihren ersten Auftritt haben, die zudem in einer symmetrischen Relation zu Ripert und Bock stehen. KEMP 2002, S. 186. Ebd. Vgl. TSCHILSCHKE 2000. MECKE 2002a, S. 69. Ebd.

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Dieser Auffassung lässt sich nun wiederum eine anders geartete gegenüberstellen: Der roman nouveau, wie die neue Tendenz des Erzählens hier genannt wird, scheint so sehr ‚auf der Höhe‘ etablierter literarischer Techniken zu sein, dass er offen mit diesen spielen kann, frei von einem obsolet gewordenen, modernen Authentizitäts- und Überbietungsanspruch. Hervorzuheben ist hierbei aber vor allem erneut der Umstand, dass, indem Genrekonventionen geradezu plakativ aufgerufen, entsprechende restriktive und präskriptive Regeln dann aber nicht eingehalten werden, die fraglichen Konventionen (und damit zugleich die diesbezüglichen Erwartungen des Lesers) nicht nur unterlaufen, sondern gerade als solche, d.h. als gängige Normen und Konventionen, sinnfällig und in das Bewusstsein des Lesers gehoben werden. Hier also tritt erneut das performative Potential des Konventionsbruchs zu Tage, in diesem Fall im Zuge impliziter Rückverweise der ‚Geschichte‘ auf den Diskurs. Dementsprechend lässt auch das oben zitierte ‚Olé‘ im Roman Toussaints in der spielerisch-ironischen – und hier nun explizit metanarrativen – Markierung der mise en abyme das Verfahren selbst gerade als etabliertes und konventionalisiertes Erzählmuster, als ‚già fatto‘, hervortreten, ja, führt es als solches geradezu vor. Und dementsprechend kehren die ‚eigentümlichen‘ Erzählsituationen in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit eben nicht nur ihre eigene Gemachtheit heraus, sondern ebenso die Konventionsgebundenheit und den Konstruktcharakter ihrer regelkonformen Pendants und somit letztlich jeglichen Erzählens per se. Gängige Normen und Konventionen, zu denen in den 1980er Jahren ganz selbstverständlich auch diejenigen einer avantgardistischen literarischen Praxis gehören, lassen sich vor diesem Hintergrund als Faktoren auffassen, die Spielräume des Erzählens schaffen: Gerade in der Möglichkeit des Ausstellens und Unterlaufens entsprechender Konventionen entstehen Spielräume, die es den Autoren erlauben, ‚mit Ironie‘ und ganz dezidiert ‚ohne Unschuld‘ dennoch Geschichten zu erzählen – dies nicht nur notgedrungen, sondern ganz bewusst unter Rückgriff auf etablierte Erzähltechniken und weit entfernt von einem naiven Glauben an eine „unproblematische Abbildbarkeit von Wirklichkeit“.113 Was in den Romanen der jeunes auteurs de Minuit betrieben wird, ist folglich ein Erzählen, das, gerade indem es die Konventionalität seiner eigenen Materialien und den Konstruktcharakter seiner Verfahren in keiner Weise verhehlt, sondern, ganz im Gegenteil, ostentativ ausspielt und präsent hält, eben das realisiert, was den postavantgardistischen bzw. postmodernen Roman sowohl von avantgardistisch geprägten Erzähltexten als auch vom traditionellen ‚realistischen‘ Roman unterscheidbar werden lässt: ein Erzählen durch und durch im Zeichen der Fiktion, die mit Hilfe verschiedenster autoreflexiver Verfahren beständig als solche offengelegt und ausgestellt wird.

113 FÖCKING 1998, S. 167. Vgl. auch SCHOOTS 1997, S. 213: „Le récit minimaliste“, wie Schoots das Erzählen der jeunes auteurs bezeichnet, „représente tout en mettant en cause la représentation de la réalité; il démantèle les procédés narratifs tout en racontant une belle histoire.“

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2. (Mit-)Herausgebertätigkeit Information und Synthese. Reihe zur Allgemeinen Literaturwissenschaft, München: Fink (6 Bde.) [mit W. Weiß]. Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden: Steiner, 1983, 442 S. [mit G. Regn]. Italien und die Romania in Humanismus und Renaissance. Festschrift für Erich Loos zum 70. Geburtstag, Wiesbaden: Steiner, 1983, 288 S. [mit E. Straub]. Text und Kontext: Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft, Stuttgart: Steiner (seit 1985, bisher 29 Bde.). Grundlagen der politischen Kultur des Westens. Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin, Berlin: de Gruyter, 1987, 367 S. [mit A. Schwan]. Zeitschrift für französische Sprache und Literatur (seit Jg. 97/1987) [mit P. Blumenthal]. Beihefte zur Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Stuttgart: Steiner (seit Bd. 14/1989, zuletzt Bd. 35/2008) [mit P. Blumenthal]. Ritterepik der Renaissance, Akten des deutsch-italienischen Kolloquiums Berlin 30.03.– 02.04.1987, Stuttgart: Steiner, 1989, 361 S. Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart: Steiner, 1992, 169 S. Der Petrarkistische Diskurs: Spielräume und Grenzen, Akten des Kolloquiums an der Freien Universität Berlin 23.10.–27.10.1991, Stuttgart: Steiner, 1993, 427 S. [mit G. Regn].

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Schriftenverzeichnis

Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst, Stuttgart: Steiner, 1993, 215 S. Jenseits der Mimesis. Parnassische transposition d’art und der Paradigmenwandel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner, 2000, 171 S. Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, Stuttgart: Steiner, 2002, 312 S. Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, Stuttgart: Steiner, 2002, 163 S. [mit H. Pfeiffer]. Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner, Stuttgart: Steiner, 2003, 246 S. [mit G. Regn]. Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, Stuttgart: Steiner, 2004, 191 S. Petrarkismus-Bibliographie 1972–2000, Stuttgart: Steiner, 2005, 214 S. [mit G. Regn und S. Scheffel]. Macht – Wissen – Wahrheit, Freiburg: Rombach, 2005, 274 S. [mit A. Traninger]. Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs, Stuttgart: Steiner, 2006, 204 S. Dynamiken des Wissens, Freiburg: Rombach, 2007, 338 S. [mit A. Traninger]. Letture petrarchesche, Florenz: Le Lettere, 2007, 329 S. (Quaderni petrarcheschi XIV) [mit G. Regn]. Sprachen der Lyrik – von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags, Stuttgart: Steiner, 2008, 464 S.

3. Aufsätze „Bibliographie zur Gattungspoetik (1): Allgemeine Gattungstheorie (1890–1971)“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 82 (1972), S. 53–66. „Nouveau roman und Literaturtheorie. Zu einigen neueren Arbeiten zum nouveau roman“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 82 (1972), S. 243–262. „Textkonstitution und Rezeption. Zum dominant komisch-parodistischen Charakter von Pulcis Morgante, Boiardos Orlando Innamorato und Ariosts Orlando Furioso“, Romanistisches Jahrbuch 27 (1976), S. 77–99. „Shakespearekritik und Rezeption Shakespeares in der Literatur: die Romania (Frankreich, Italien, Spanien)“, in: Shakespeare-Handbuch, hg. v. I. Schabert, Stuttgart: Kröner, 1972, S. 690–704; zweite ergänzte Auflage 1978, S. 745–760. „Ansätze zur Definition und Typologisierung von Präsuppositionen“, in: Akten der zweiten Salzburger Frühjahrstagung für Linguistik, hg. v. G. Drachman, Tübingen: Narr, 1977, S. 19–34 (Salzburger Beiträge zur Linguistik 3). „Die Theorie der Präsuppositionen und die Analyse des Dialogs im Absurden Theater“, in: Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Teil 1: Diskussion aktueller Fragen und Analysen zur modernen französischen Literatur, hg. v. A. Noyer-Weidner, Wiesbaden: Steiner, 1977, S. 33–70 (Beihefte zur Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 4). „Zur pragmatischen Fundierung der Texttypologie“, in: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, hg. v. W. Hinck, Heidelberg: Quelle & Meyer, 1977, S. 1–26 (Medium Literatur 4).

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„Präsuppositionen, Implikaturen und die Struktur wissenschaftlicher Argumentation“, in: Wissenschaftssprache, hg. v. Th. Bungarten, München: Fink, 1981, S. 309–342. „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts Orlando Furioso“, in: Erzählforschung, hg. v. E. Lämmert, Stuttgart: Metzler, 1982, S. 130–156. „Allegorie und Erzählstruktur in Dantes Vita Nuova“, Deutsches Dante Jahrbuch 57 (1982), S. 7–9. [Gekürzte Fassung: „Allegoria e struttura del racconto nella Vita Nuova“, Lingua e stile 17 (1982), S. 209–232.] „Überlegungen zu einem Gültigkeitskriterium für Interpretationen und ein komplexer Fall: Die italienische Ritterepik der Renaissance“, in: Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für A. Noyer-Weidner, hg. v. K. W. Hempfer und G. Regn, Wiesbaden: Steiner, 1983, S. 1–31. [Übersetzung: „Un criterio di validità per interpretazioni. L’epica cavalleresca italiana del Rinascimento“, Intersezioni 4 (1984), S. 289–320.] „Allegorie als interpretatives Verfahren in der Renaissance: Dichterallegorese im 16. Jahrhundert und die allegorischen Rezeptionen von Ariosts Orlando Furioso“, in: Italien und die Romania in Humanismus und Renaissance. Festschrift für Erich Loos, hg. v. K. W. Hempfer und E. Straub, Wiesbaden: Steiner, 1983, S. 51–76. „Shakespeare, Voltaire, Baretti und die Kontextabhängigkeit von Rezeptionsaussagen“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 94 (1984), S. 227–245. [Erweiterte Fassung in: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik, hg. v. R. Bauer, Bern u.a.: Lang, 1988, S. 75–101 (Jahrbuch für internationale Germanistik 22).] „L’épopée chevaleresque de la Renaissance italienne“, in: Essor et fortune de la chanson de geste dans l’Europe et l’Orient latin. Actes du IXe Congrès International de la Société Rencesvals pour L’Etude des Epopées Romanes, Padoue-Venise, 29 août au 4 septembre 1982, hg. v. A. Limentani, Modena: Mucchi, 1984, S. 993–995. „Genre“, in: Encyclopedic Dictionary of Semiotics, 3 Bde., hg. v. Th. Sebeok, Berlin u.a.: Mouton de Gruyter, 1986, Bd. 1, S. 282–284. „Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand“, in: Pluralität der Welten, hg. v. W. D. Stempel und K. Stierle, München: Fink, 1987, S. 253–277. „Die Konstitution autonomer Vernunft von der Renaissance zur Aufklärung“, in: Grundlagen der politischen Kultur des Westens, hg. v. K. W. Hempfer und A. Schwan, Berlin: de Gruyter, 1987, S. 95–115. „Der Westen: Von der geographischen zur normativen Identität – einige zusammenfassende Thesen“, in: Grundlagen der politischen Kultur des Westens, hg. v. K. W. Hempfer und A. Schwan, Berlin: de Gruyter, 1987, S. 350–355. „Französische Lyrik im 18. Jahrhundert“, in: Die französische Lyrik, hg. v. D. Janik, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1987, S. 267–341 [mit A. Kablitz]. „Ernst und Spiel oder die Ambivalenz des Rittertums um 1500“, Romanische Forschungen 99 (1987), S. 348–374. [Übersetzung: „Realtà sociale e gioco letterario: l’ambivalenza della cavalleria intorno al 1500“, L’Immagine riflessa 12 (1989), S. 405–432.] „Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts (Ariost, Ronsard, Shakespeare, Opitz)“, GermanischRomanische Monatsschrift N.F. 38 (1988), S. 251–264.

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Schriftenverzeichnis

„Zeitschrift für französische Sprache und Literatur“, Romanische Forschungen 100 (1988), S. 323–331 [mit P. Blumenthal]. „Von der ‚Spielwiese‘ zum ‚Spielraum‘ – oder Rahmenbedingungen für eine differenzierte Universität“, in: Die Hochschule im Spannungsfeld von Qualität und Quantität: Die veränderten Rahmenbedingungen der 90er Jahre, hg. v. P. Eisenmann und G. Schmirber, Regensburg: Pustet, 1988 [1989], S. 58–67. „Vorwort“, in: Ritterepik der Renaissance. Akten des deutsch-italienischen Kolloquiums, Berlin 30.03.–02.04.1987, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart 1989, S. IX–XIII. „Dekonstruktion sinnkonstitutiver Systeme in Ariosts Orlando Furioso“, in: Ritterepik der Renaissance. Akten des deutsch-italienischen Kolloquiums, Berlin 30.03.–02.04. 1987, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 1989, S. 277–298. „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), S. 109–137. „Il postulato di un significato ‚più profondo‘. Procedimenti e funzioni dell’esegesi allegorica“, Schifanoia 9 (1990), S. 243–262 [Übersetzung des Kap. 6 von Diskrepante Lektüren]. „Schwierigkeiten mit einer ‚Supertheorie‘. Bemerkungen zur Systemtheorie Luhmanns und deren Übertragbarkeit auf die Literaturwissenschaft“, Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 9 (1990), S. 15–36. „Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘ (Kurzfassung)“, Berliner Wissenschaftliche Gesellschaft Jahrbuch 1990 [1991], S. 155–160. „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard)“, in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hg. v. M. Titzmann, Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 7–43. „Ideologieanfälligkeit und Relevanzverlust der Geisteswissenschaften“, Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (03.04.1992), S. 3–9. „Vorwort“, in: Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 1992, S. 7–11. „Vorwort“, in: Der Petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, hg. v. K. W. Hempfer und G. Regn, Stuttgart: Steiner, 1993, S. 9f. [mit G. Regn]. „Petrarkismus und romanzo. Realisation und Refunktionalisierung des petrarkistischen Diskurses im Orlando Furioso“, in: Der Petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, hg. v. K. W. Hempfer und G. Regn, Stuttgart: Steiner, 1993, S. 187–223. „Vorwort“, in: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 1993, S. 7f. „Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘“, in: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 1993, S. 9–45. „Konstituenten Parnassischer Lyrik“, in: Romanische Lyrik, Dichtung und Poetik. Walter Pabst zu Ehren, hg. v. T. Heydenreich, E. Leube und L. Schrader, Tübingen: Stauffenburg, 1993, S. 69–91.

Klaus W. Hempfer

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„Rhetorik als Gesellschaftstheorie: Castigliones Il libro del Cortegiano“, in: Literarhistorische Begegnungen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard König, hg. v. A. Kablitz und U. Schulz-Buschhaus, Tübingen: Narr, 1993, S. 103–121. „Shakespeares Sonnets: Inszenierte Alterität als Diskurstypen-Spiel“, in: Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven. Ein Symposium, hg. v. D. Mehl und W. Weiß, Münster/Hamburg: Lit Verlag, 1993, S. 168–205. „Der Orlando Furioso als Klassiker? Zu Daniel Javitchs Rezeptionsgeschichte“, Romanische Forschungen 105 (1993), S. 377–383. „Diskursmaximen des Poststrukturalismus“, Zeitschrift für Semiotik 15 (1993 [1994]), S. 319–331. „La canzone CCLXIV, il Secretum e il significato del Canzoniere di Petrarca“, in: Atti e memorie dell’Accademia Patavina di Scienze, Lettere ed Arti 106, parte III (1993/4), S. 263–287. „Du Bellay ‚romantique‘. L’anachronisme de la critique biographique“, Œuvres & Critiques 20 (1995), S. 129–137. „Ariosts Orlando Furioso – Fiktion und episteme“, in: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992, hg. v. H. Boockmann et al., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, S. 46–85 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse. Dritte Folge 208). „Sinnrelationen zwischen Texten. Petrarcas Secretum und Canzoniere“, in: GermanischRomanische Monatsschrift N.F. 45 (1995), S. 156–176. „Transposition d’art und die Problematisierung der Mimesis in der Parnasse-Lyrik“, in: Frankreich an der Freien Universität. Geschichte und Aktualität, hg. v. W. Engler, Stuttgart: Steiner, 1997, S. 177–196 (Beihefte zur Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 23). „Die Fleurs du Mal und der Parnasse“, in: Konkurrierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Festschrift zu Ehren von Winfried Engler zum 60. Geburtstag, hg. v. B. Wehinger, Stuttgart: Steiner, 1997, S. 154–174 (Beihefte zur Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 24). „Gattung“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin: de Gruyter, 1997–2003, Bd. 1, S. 651–657. „Les campagnes d’Italie: la mise en fiction de l’histoire dans le Roland furieux“, in: La Naissance du monde et l’invention du poème. Mélanges de poétique et d’histoire littéraire du XVIe siècle offerts à Yvonne Bellenger, hg. v. J. C. Ternaux, Paris: Champion, 1998, S. 219–238. „Die Karnevalisierung der Ritterepik in Pulcis Morgante“, in: Werk und Diskurs. Festschrift zu Ehren von Karlheinz Stierle zum 60. Geburtstag, hg. v. D. Ingenschay und H. Pfeiffer, München: Fink, 1999, S. 89–107. „Epos. Italien und Frankreich“, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. M. Landfester, in Verbindung mit H. Cancik und H. Schneider, Bd. 13: Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte (A–Fo), Stuttgart/ Weimar: Metzler, 1999, Sp. 1015–1024. „Die Grenzen der Interpretation und die unendliche Auslegbarkeit des literarischen Textes: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Bologna und Konstanz“, in: Umberto Eco, die Freie Universität und das Schnabeltier. Ehrenpromotion von Umberto Eco am 16. November 1998, hg. v. J. Trabant, Berlin: Dahlem UP, 1999, S. 75–88.

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Schriftenverzeichnis

„(Pseudo-)Performatives Erzählen im zeitgenössischen französischen und italienischen Roman“, Romanistisches Jahrbuch 50 (1999 [= 2000]), S. 158–182. „Fiktionalisierung der Geschichte im Orlando Furioso: Das Beispiel der Italienfeldzüge“, in: Romania una et diversa. Philologische Studien für Theodor Berchem zum 65. Geburtstag, hg. v. M. Guille und R. Kiesler, 2 Bde., Tübingen: Narr, 2000, Bd. 2, S. 599–613. „Zur Differenz der Gegenstandskonstitution in romantischer und parnassischer Lyrik – am Beispiel der Kunstwerk- und Künstlerbezüge“, in: Jenseits der Mimesis. Parnassische transposition d’art und der Paradigmenwandel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 2000, S. 43–75. „Zum Verhältnis von Diskurs und Subjekt: von Bembo zu Petrarca“, in: Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen, hg. v. W. Wehle, Frankfurt a.M.: Klostermann, 2001, S. 57–81. „Platons Schriftkritik im Phaidros oder die Notwendigkeit einer Entkoppelung von ‚dialogischer Hermeneutik‘ und ‚Hemeneutik des Dialogs‘“, in: Domänen der Literaturwissenschaft. 21 Beiträge zum neuen Millenium, hg. v. G. Vogt-Spira, J. Klein und B. Rommel, Tübingen: Stauffenberg, 2001, S. 48–58. „Per una definizione del petrarchismo“, in: Dynamique d’une expansion culturelle: Pétrarque en Europe, XIVe–XXe siècle. Actes du XXVIe congrès international du CEFI, Turin et Chambéry, 11–15 décembre 1995, hg. v. P. Blanc, Paris: Champion, 2001, S. 23–52. „Performativität und episteme. Die Dialogisierung des theoretischen Diskurses in der Renaissance-Literatur“, Paragrana 10,1 (2001), S. 65–90 [mit B. Häsner, G. M. Müller und M. Föcking]. „Gattungskonstitution als Normverletzung: Zum Problem der Poetik ‚niederer‘ Gattungen im Kontext der Regelpoetik“, in: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, hg. v. W. Helmich und A. Poier-Bernhard, München: Fink, 2002, S. 240–253. „Vorwort“, in: Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, hg. v. K. W. Hempfer, Steiner: Stuttgart, 2002, S. VII–XV. „Lektüren von Dialogen“, in: Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, hg. v. K. W. Hempfer, Steiner: Stuttgart, 2002, S. 1–38. „Vorwort“, in: Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, hg. v. K. W. Hempfer und H. Pfeiffer, Stuttgart: Steiner, 2002, S. VII–XIV [mit H. Pfeiffer]. „Die Kopräsenz des Differenten und Mallarmés frühe Lyrik“, in: Fin de Siècle, hg. v. R. Warning und W. Wehle, München: Fink, 2002, S. 73–88. „Ferrare n’est pas Camelot: le Roland Amoureux et la tradition épique médiévale“, in: L’épopée et ses modèles de la Renaissance aux Lumières. Actes du Colloque international du Centre de Recherche sur la Transmission des Modèles Littéraires et Esthétiques de l’Université de Reims (16–18 mai 2001), hg. v. F. Greiner und J.-C. Ternaux, Paris: Champion, 2002, S. 161–175. „Diskurstraditionen und fragmentarisierte Rezeption: Ariosts Orlando Furioso in Du Bellays L’Olive“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 112 (2002), S. 264–283.

Klaus W. Hempfer

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„Vorwort“, in: Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner, hg. v. K. W. Hempfer und G. Regn, Stuttgart: Steiner, 2003, S. 7–12 [mit G. Regn]. „Rerum vulgarium fragmenta XXXII: Diskursive Antinomien und die Konkurrenz alternativer Wirklichkeitsmodellierungen in Petrarcas Canzoniere“, in: Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner, hg. v. K. W. Hempfer und G. Regn, Stuttgart: Steiner, 2003, S. 39–67. „Schreibweise2“, in: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. K. Weimar, 3 Bde., Berlin/New York: de Gruyter, 1997–2003, Bd. 3, S. 391–393. „Traditions discursives et réception partielle: le Roland furieux de l’Ariost dans L’Olive de Du Bellay“, Cahiers V. L. Saulnier 20 (2003), S. 53–74. „Il dibattito sul ‚romanzo‘ nel Cinquecento italiano e la teoria dei ‚libros de caballerías‘ nel Don Quijote“, in: Letteratura cavalleresca tra Italia e Spagna (da Orlando al Quijote). Literatura Cavalleresca entre España e Italia (Del Orlando al Quijote), hg. v. J. Gómez-Montero und B. König, Salamanca/Kiel: Seminario de Estudios Medievales y Renacentistas (SEMYR)/Centro de Estudios sobre el Renacimiento Español (CERES), 2004, S. 19–33. „I primissimi lettori del Furioso e la ricezione ‚di massa‘ nel Cinquecento“, in: L’età di Alfonso I e la pittura del Dosso. Atti del convegno di Ferrara dal 9 al 12 dicembre 1998, hg. v. G. Venturi, Modena: Panini, 2004, S. 29–43. „Vorwort“, in: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 2004, S. 7–12. „Die Poetik des Dialogs im Cinquecento und die neuere Dialogtheorie: zum historischen Fundament aktueller Theorie“, in: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 2004, S. 67–96. „Diskursivierung des Performativen“, Paragrana 13,1 (2004), S. 81–127 [mit B. Häsner, I. Rajewsky, M. Baisch, R. Friedlein, A. Lozar, R. Felfe, L. Schwarte, B. Gronau und J. Roselt]. „Vorwort“, in: Petrarkismus-Bibliographie 1972–2000, hg. v. K. W. Hempfer, G. Regn und S. Scheffel, Stuttgart: Steiner 2005, S. VII–XIII [mit G. Regn und S. Scheffel]. „Some Problems Concerning a Theory of Fiction(ality)“, Style 38 (2004 [2005]), S. 301– 324. „Der Bachelorstudiengang Italienstudien an der Freien Universität Berlin“, in: Italia regione d’Europa. Lingua – cultura – identità. Atti del convegno internazionale di studi tenutosi nell’ambito della Settimana della Lingua Italiana nel Mondo. Organizzato dall’ufficio culturale dell’Ambasciata d’Italia (Berlino 20–22 ottobre 2003), hg. v. M. G. Tassinari und G. Ugolini, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2005, S. 59–72. „Probleme der Terminologie. Wissenschaftssprache, Objektebene und Beschreibungsebene“ in: Theorie der Gattungen, hg. v. S. Mauser, Laaber: Laaber, 2005, S. 5–14 (Handbuch der musikalischen Gattungen 15). „Vorwort“, in: Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs, hg. von K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 2006, S. 7–11. „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, in: Aufklärung, hg. v. R. Galle und H. Pfeiffer, München: Fink, 2007, S. 15–54. „Einführung“, in: Dynamiken des Wissens, hg. v. K. W. Hempfer und A. Traninger, Freiburg: Rombach, 2007, S. 7–21 [mit A. Traninger].

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Schriftenverzeichnis

„Epistemologie und Experiment in der Literatur der französischen Aufklärung: Diderots Les Bijoux indiscrets“, in: Dynamiken des Wissens, hg. v. K. W. Hempfer und A. Traninger, Freiburg: Rombach, 2007, S. 253–268. „Premessa“, in: Letture petrarchesche, hg. v. K. W. Hempfer und G. Regn, Florenz: Le Lettere, 2007, S. 7–14 (Quaderni petrarcheschi XIV) [mit G. Regn]. „Rerum vulgarium fragmenta 32: antinomie discorsive e concorrenza di modelli alternativi della realtà nel Canzoniere di Petrarca“, in: Letture petrarchesche, hg. v. K. W. Hempfer und G. Regn, Florenz: Le Lettere, 2007, S. 49–87 (Quaderni petrarcheschi XIV). „Antinomie discorsive e concorrenza di modelli alternativi della realtà (RVF 31–40)“, in: Il Canzoniere. Lettura micro e macrotestuale, hg. v. M. Picone, Ravenna: Longo, 2007, S. 97–114. „Vorwort“, in: Sprachen der Lyrik – von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 2008, S. 7–12. „Überlegungen zur historischen Begründung einer systematischen Lyriktheorie“, in: Sprachen der Lyrik – von der Antike bis zur digitalen Poesie. Für Gerhard Regn anlässlich seines 60. Geburtstags, hg. v. K. W. Hempfer, Stuttgart: Steiner, 2008, S. 33–60. „Zur Enthierarchisierung von ‚religiösem‘ und ‚literarischem‘ Diskurs in der italienischen Renaissance“, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. P. Strohschneider, Berlin/New York: de Gruyter, 2008 (im Druck). „Zur Interdependenz und Differenz von ‚Dialogisierung‘ und ‚Pluralisierung‘ in der Renaissance“, in: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit, hg. v. W. Österreicher, Münster: Lit Verlag, 2008 (im Druck). „Funktionen des Faktischen in der Fiktion oder das Überspielen einer Grenze in Ariosts Orlando Furioso“, in: Fiktionen des Faktischen in der Renaissance, hg. v. U. Schneider und A. Traninger, Stuttgart: Steiner, 2008 (im Druck).

Dieser Band beleuchtet das Spannungsverhältnis von ,Fiktion‘ und ,Literatur‘. Das Spektrum der Beiträge reicht von einer grundlegenden Revision gängiger Konzepte der ­ Fiktionsund Erzähltheorie bis hin zu stärker historisch orientierten Untersuchungen. Die Analysen literarischer Texte vom Mittelalter bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert führen dabei zu neuen Einsichten in das jeweils anzusetzende Fiktionsverständnis, die sich wiederum für die aktuelle Theoriedebatte nutzbar machen lassen.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-09278-4