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Dietmar Mieth
Im Wirken schauen
Dietmar Mieth
Im Wirken schauen Die Einheit von vita activa und vita contemplativa bei Meister Eckhart und Johannes Tauler
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Inhaltsverzeichnis Einleitung des Nachdrucks von 2018 ............................................................................. 11 DIE EINHEIT VON VITA ACTIVA UND VITA CONTEMPLATIVA in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler ....... 25 Vorwort ........................................................................................................................... 27 Abkürzungen .................................................................................................................. 28 Vorbemerkungen ........................................................................................................... 29 1. Der Grundgedanke der christlichen Mystik Eckharts und Taulers ............. 29 2. Zur Sachfrage ...................................................................................................... 31 3. Zur Methode ....................................................................................................... 33 Erster Teil – DIE VORGESCHICHTE DES MODELLS VITA ACTIVA – VITA CONTEMPLATIVA ..................................................................................................... 34 I. DAS PHILOSOPHISCHE MODELL UND DAS NEUE TESTAMENT ........ 35 1. Das philosophische Modell und seine Dimensionen............................. 35 A. Die Einteilung des menschlichen Lebens ........................................ 35 B. Die Beziehung der beiden Lebensformen zum höchsten Glück des Menschen und ihre Rangordnung ................................. 41 C. Die Dimensionen des philosophischen Modells und seine besonderen Merkmale ........................................................................ 46 2. Das Modell und das Neue Testament ...................................................... 50 A. Die pneumatisch-eschatologische Existenz des Christen.............. 54 B. Erkenntnis und Liebe ......................................................................... 58 C. Gebet und Tätigkeit ............................................................................ 62 5
D. Das Verhältnis von »Hören und Tun« ............................................ 68 E. Identität und Differenz des christlichen Lebens ............................ 71 F. Zusammenfassung: Voraussetzungen für eine christliche Integrierung des Modells.................................................................. 73 II. DIE CHRISTLICHE INTEGRIERUNG DES MODELLS ............................ 75 1. Die christliche Integrierung des Modells bei den orientalischen Vätern .......................................................................................................... 75 A. Übernahme und Verwandlung des Modells im allgemeinen ........... 75 B. Die Auslegung von Lk 10,38–42 und die Frage der Wertüberlegenheit.............................................................................. 82 C. Zusammenfassung ............................................................................. 90 2. Immanenz und Transzendenz: Die Vollendung der christlichen Integrierung des Modells durch Augustinus .......................................... 91 A. Einheit: Christus und die Kirche ...................................................... 93 B. Dialektische Typologie: vertikale und horizontale Differenz ........... 96 C. Vita mixta .......................................................................................... 101 D. Bewertung des augustinischen Modells ........................................ 103 III. DAS MODELL ALS TRADITIONSGUT DER CHRISTLICHEN SPIRITUALITÄT ............................................................................................. 106 1. Die Vermittlung des Modells zum Mittelalter ..................................... 106 A. Das Weiterleben des augustinischen Modells bei Julianus Pomerius ............................................................................................ 106 B. Das Weiterleben des augustinischen Modells bei Gregor dem Grossen ..................................................................................... 110 C. Die Vermittlung der orientalischen Mönchstheologie durch Cassian.................................................................................... 115 2. Das Modell im Mittelalter ....................................................................... 117 A. Allgemeiner Überblick..................................................................... 117 B. Thomas und die aristotelische Klassifikation ............................... 123 6
Zweiter Teil – DIE GRUNDGEDANKEN DER DEUTSCHEN PREDIGTEN UND TRAKTATE MEISTER ECKHARTS UND DAS MODELL VITA ACTIVA – VITA CONTEMPLATIVA.................................................................... 128 VORBEMERKUNGEN ........................................................................................... 128 I. GRUNDGEDANKEN DER DEUTSCHEN PREDIGTEN UND TRAKTATE MEISTER ECKHARTS ............................................................ 132 1. Die Weiselosigkeit des Gottfindens ....................................................... 133 2. Gottfinden in der Gottesgeburt .............................................................. 142 A. »Creatio continua« und »incarnatio continua« ............................ 142 B. Eckharts Analogie-Lehre als Schlüssel der Interpretation .......... 144 C. »Scintilla animae« bei Meister Eckhart .......................................... 150 D. Die ontologische Vorgegebenheit der Gottesgeburt .................... 156 E. Die Gottesgeburt als Vollzug im Leben ......................................... 160 3. Das Leben des Gerechten aus der Freiheit in Gott ............................... 168 A. »iustus inquantum iustus« ............................................................... 168 B. Dynamische Spiritualität ................................................................. 170 C. Erkenntnis und Liebe ....................................................................... 176 D. Gottfinden in allen Dingen.............................................................. 185 4. Zusammenfassung und Bewertung: Vollkommenheit bei Meister Eckhart ....................................................................................................... 188 A. Die sittlich-religiöse Vollkommenheit wird bei Eckhart im ewigen Heilswerk Gottes ontologisch begründet ......................... 188 B. Die ontologische Begründung der sittlich-religiösen Vollkommenheit wird sichtbar in der Erkenntnis von Vorgegebenheit, Weiselosigkeit und Totalität.............................. 190 C. Der existentielle Vollzug der weiselosen Erkenntnis, die Freiheit für Gott, vollendet sich in der Liebe, d. h. der Willens- und Wirkeinheit mit Gott................................................ 192
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II. DIE EINHEIT VON »VITA ACTIVA« UND »VITA CONTEMPLATIVA« ...................................................................................... 195 1. Die Einheit des spirituellen Aktes .......................................................... 195 2. Die Einheit des spirituellen Aktes in der Differenzierung: Maria und Martha ............................................................................................... 198 A. Vorbemerkungen zur Predigt über Maria und Martha .............. 198 B. Die Verzückung Mariens ................................................................ 201 C. Falsche Versuche einer Steigerung oder Irrwege der kontemplativen Spiritualität ............................................................ 204 D. Die eigentliche Steigerung: Marthas Wirken in der Zeit ............ 211 E. Mariens Vollendung zur Wesentlichkeit ...................................... 222 3. Zusammenfassende Strukturbetrachtung ............................................. 228 A. Die Einheitlichkeit der Aussagen Eckharts über das Modell ................................................................................................ 228 B. Die Struktur des Modells bei Meister Eckhart ............................. 238 C. Bewertung der Struktur des Modells bei Meister Eckhart .......... 242 Dritter Teil – JOHANNES TAULERS LEBENSLEHRE UND DAS MODELL »VITA ACTIVA – VITA CONTEMPLATIVA« .................................................... 249 VORBEMERKUNGEN ........................................................................................... 249 I. MEISTER ECKHART UND DIE LEBENSLEHRE JOHANNES TAULERS .......................................................................................................... 250 1. Johannes Tauler als Schüler Eckharts? .................................................. 250 2. Zentralvorstellungen Eckharts bei Tauler ............................................. 253 3. Neue Gesichtspunkte bei Tauler ............................................................ 260 II. THEOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER LEBENSLEHRE TAULERS ...... 267 1. Anthropologische Grundlegung des christlichen Lebensweges ........ 269 A. Dualistischer Ansatz ........................................................................ 269 B. Christliche Überwindung des anthropologischen Dualismus........ 271
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C. Taulers Seelenspekulation in ihrer Bedeutung für die Lebenslehre ........................................................................................ 272 2. Trinitarische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges ................. 275 3. Heilsgeschichtliche Bestimmtheit des christlichen Lebensweges ...... 278 4. Ekklesiale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges ....................... 281 A. Kirche als Heilsinstitution ............................................................... 282 B. Kirche als Leib Christi ...................................................................... 284 5. Kosmische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges ..................... 286 A. Die negative Bewertung der Welt als Abweg von Gott ............... 286 B. Die positive Bewertung der Welt als Weg zu Gott ....................... 287 C. Die Verbindung von negativer und positiver Bewertung in der personalen Zuordnung .............................................................. 289 6. Zusammenfassung und Bewertung ........................................................ 291 III. DIE EINHEIT VON »VITA ACTIVA« UND »VITA CONTEMPLATIVA« IN DER LEBENSLEHRE JOHANNES TAULERS .......................................................................................................... 298 1. Taulers Gebetslehre und das Verhältnis von innerem und äußerem Gebet .......................................................................................... 299 A. Gebet und »unio mystica« ............................................................... 299 B. Inneres und äusseres Gebet ............................................................. 302 C. Zusammenfassung ............................................................................ 305 2. Taulers Lehre von der Berufsarbeit und das Verhältnis von innerem und äußerem Werk................................................................... 306 A. Arbeit und Beruf .............................................................................. 306 B. Inneres und äusseres Werk ............................................................. 314 C. Zusammenfassung ............................................................................ 319 3. Taulers Lehre von der tätigen Liebe und das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe ............................................................... 321 A. Christliche Brüderlichkeit ............................................................... 323 9
B. Gottesliebe und Nächstenliebe ....................................................... 325 C. Zusammenfassung ........................................................................... 326 IV. ZUSAMMENFASSENDE DARSTELLUNG DES ERGEBNISSES ........... 329 1. Geschichtlicher Rückblick ...................................................................... 329 A. Das philosophische Modell ............................................................. 329 B. Die Übernahme des Modells in die christliche Spiritualität ....... 330 C. Der Gehalt des Modells in der christlichen Spiritualität ............. 335 D. Das Modell als Ideologie ................................................................. 337 E. Die Bedeutung der Lebenslehre Taulers für das Modell ............. 341 F. Herkunft und Weiterwirken der Veränderungen Taulers ......... 344 2. Sachliches Ergebnis: Die Spannungseinheit der christlichen Existenz und ihre verschieden akzentuierte Präsenz in den Spiritualitätsformen .................................................................................. 345 Literaturverzeichnis .................................................................................................... 349 REGISTER ................................................................................................................ 365 I
Verzeichnis der zitierten Autoren aus Altertum und Mittelalter ...... 365
II Begriffs- und Sachverzeichnis................................................................. 368 Anhang – Meister Eckharts Predigt 86 über Maria und Martha »Intravit Iesus in quoddam castellum«.................................................................................................. 379 Intravit Iesus in quoddam castellum etc. ................................................................. 379 Intravit Iesus in quoddam castellum etc. ................................................................. 379 Zur Frage der Echtheit ................................................................................................ 400 Zur Interpretation der Predigt................................................................................... 414 Schluß ........................................................................................................................... 422
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Einleitung des Nachdrucks von 2018 Dieses Buch „Im Wirken schauen“ ist im ersten Teil ein durchgesehener Nachdruck des Buches „Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler, Studien zur Struktur des christlichen Lebens (Studien zur Geschichte der kath. Moraltheologie, hg. von Michael Müller, Band 15) Regensburg 1969. Es handelt sich um die Veröffentlichung meiner theologische Doktorarbeit an der Universität Würzburg aus dem Jahr 1968, die vom Theologen Alfons Auer und vom Germanisten Kurt Ruh betreut und begutachtet worden war. Das Buch, das hier als erster Teil wieder erscheint, brachte das Thema wissenschaftlich in Gang. Es erschien jedoch vor der Veröffentlichung des dritten Bandes der Deutschen Werke (DW III) Meister Eckharts, hg. von Josef Quint. Daher zitiert es diese zentrale Predigt Meister Eckharts über Maria und Martha (Predigt Nr. 86, DW III, 472–502) nach der Ausgabe der deutschen Schriften Meister Eckharts von Franz Pfeiffer (Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. 2, Meister Eckhart, Nachdruck der Ausgabe von Leipzig 1857, Aalen 1963, Predigt IX, 47–53). Ich bleibe im ersten Teil bei der Zitationsweise nach Pfeiffer, insofern man damit auch die Reaktionen Josef Quints auf meine Vorschläge besser nachvollziehen und diskutieren kann. An der Diskussion meiner Auslegung der Geschichte des AktionKontemplation-Modells beteiligten sich neben Quint auch die damaligen Herausgeber der Lateinischen Werke Meister Eckharts. In meinem späteren Buch “Die Spannungseinheit von Theorie und Praxis, Theologische Profile, Fribourg-Freiburg 1986, 22–42, bin ich auf diese und andere Kritiken bzw. Ergänzungen eingegangen. Im Anschluss als zweiter Teil steht nun – unter Einbezug der seitherigen Debatte – meine erneute Beschäftigung mit der zentralen Predigt auf der Basis der wissenschaftlichen Ausgabe und der Besprechungen. Dieser Beitrag in der von Georg Steer und Loris Sturlese herausgegebenen „Lectura Eckhardi“, Bd. II, Stuttgart 2003, enthält 11
den Text der wissenschaftlichen Ausgabe Josef Quints mit meiner Übersetzung und meinem Kommentar. In der Zusammenfassung dieser Debatte kann man vier Themen unterscheiden: – Die Echtheit der Predigt, d.h. ihre sichere Zuweisung zu Meister Eckhart. Mit dem Nachweis, dass Eckhart selbst in einer anderen Predigt auf die Predigt über Maria und Martha in einem Selbstzitat verweist, konnte ich diese Diskussion in meinen Arbeiten seit 2003 beenden. Dies war aber eine Debatte, die zugleich einen konzeptionellen Hintergrund hatte: sollte der „Mystiker“ Meister Eckhart tatsächlich die „Schau“, die Kontemplation nicht an die höchste Stelle menschlicher Tätigkeiten gesetzt haben? Inzwischen zweifelt aber niemand daran, dass Eckhart Lob des aktiven Lebens oder des „gewerbes“, das die Figur der Martha aktiv ausübt, als Mitwirken mit Gott, in der Tat einen neuen Ansatz in Bewegung setzte, auf den dann im 20. Jahrhundert Hannah Ahrend kritisch als „Vita activa“ zu sprechen kam, ohne Eckhart zu kennen. – Die Entwicklung des Modells „Vita activa und vita contemplativa“ in der Theologie der Kirchenväter und in der mittelalterlichen Scholastik. Hier zeigte sich, dass meine Referenz auf Thomas von Aquin als Bezugspunkt Meister Eckharts ergänzt werden konnte. Heribert Fischer verwies auf Albert den Großen und auf Heinrich von Gent in ihrer Auslegung der Maria-Martha-Perikope (Lk 10,38– 42). Daraus ergab sich, dass der von mir beobachtete Aufstieg der „vita activa“ in der „vita mixta“ des Augustinus bereits vor Eckhart einsetzte und von ihm nur in besonderer Weise zugeschärft wurde. Die Entwicklung seit der Patristik hat dann Markus Vinzent in seinem Eckhart-Buch „On Detachment“ (2011) nochmals nachgezeichnet. – Die Legende von Maria Magdalena (in Einheit mit Maria von Bethanien gedacht) und Martha, entstanden in Südfrankreich als Missionsgeschichte und Spiritualitätsgeschichte, die deutlicher als meine Arbeit zeigt, wie Eckhart auf die Bedürfnisse seiner Zuhörerinnen einging und sie zugleich anders zu orientieren suchte als z.B. seine Zeitgenossin Marguerite Porete, die sich aus der „vita activa“ herauszulösen versuchte. (Vgl. meinen letzten Beitrag dazu 2018) – Die Einbettung der Predigt über Maria und Martha in die systematische Konzeption Meister Eckharts, die ich noch auf der Basis von Josef Kochs Verständnis vorgenommen hatte. Hier ergaben sich durch die Untersuchung Burkhard 12
Mojsischs neue philosophische Perspektiven zur Differenz von Analogie und Univozität. Sie berühren aber, so wichtig sie sind, meine Arbeit insofern weniger, als diese sich theologisch auf die immerwährende Schöpfung und Menschwerdung bei Eckhart abstützt, die Gott als „Wirklichkeit“, als Wirkenden und en Menschen als Mitwirkenden zeigt. Diese Arbeit habe ich dann in vielen Beiträgen zu Meister Eckhart fortgesetzt und in meinem Buch Meister Eckhart, München 2014, zusammengefasst. Das Thema des Buches wird aber weiter von Studierenden und spirituell Interessierten nachgefragt. Eckharts Neu-Inszenierung der Maria-Martha-Perikope interessiert viele, die sich in ihren spirituellen Bemühungen auf Meister Eckhart beziehen, und das ist eher eine wachsende Gemeinde. Das Buch möchte aber nicht nur eine Interpretation von Meister Eckhart liefern. Arbeiten über Johannes Tauler in seiner Art sind heute noch selten. Dazu kommt meine Nachzeichnung der Entwicklung dieses Modells, seitdem die griechische Philosophie, die es einbrachte, über die christliche Mönchskultur, die biblische Parallelen zu entdecken glaubte, das Thema zuerst entwickelt hatte. Mein Interesse an Meister Eckhart stammt aus dem Beginn meiner philosophischen Studien in Freiburg 1959, ist aber nie erlahmt, auch wenn ich später als Theologischer Ethiker viele anderen Felder durchpflügen musste. Erst danach, seit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts, hatte ich wieder mehr Zeit, zu Meister Eckhart zu publizieren. Das liegt daran, dass Eckhart keine normative Ethik im Visier hat, wohl aber ihre religiösen Voraussetzungen. Ich nutzte 2015 die Möglichkeit, die Verbindung von Eckharts „Proprium Christianum“ in der Ethik darzustellen. (In: Bobbert/ Mieth 2015).
Eine kurze Zusammenfassung des Themas aus heutiger Sicht: In der griechischen Philosophie werden, z.B. bei Aristoteles, Lebensformen unterschieden: bios praktikos und bios theoretikos. Menschliches Leben ist Selbsttätigkeit. Deshalb meint das theoretische Leben als Lebensform des Philosophen nicht Untätigkeit sondern ein Leben in geistiger Konzentration, bei dem es auf die „Schau“ (Theoria, Contemplatio) der obersten Prinzipien ankommt. Das praktische Leben richtet
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sich auf die Entfaltung sozialer Tugenden. Als sich das Christentum in der hellenistischen Welt entfaltete, sah man Entsprechungen zwischen der philosophischen Lebensform und der Suche nach der Erkenntnis der Wahrheit im Johannesevangelium. Der Philosoph verwandelte sich in den Mönch. Bestimmte stoische Elemente der Zurückgezogenheit verwandelten sich in Tugenden des Mönchs, z.B. „tranquillitas mentis“ (apatheia) und „puritas cordis“, die dem Aufstieg in spiritueller Erkenntnis (contemplatio) und Weisheit (sapientia) dienen sollten. Die Ideale der christlichen Kontemplation wurden teils von den Kappadoziern, teils von Ps. Dionys, teils von der Mönchstheologie (Evagrius, Cassianus), im Westen von Augustinus entwickelt. Dabei spielte neben neuplatonischen Mustern der Einheitsmetaphysik auch der Rückgriff auf die Bibel eine Rolle. Man fand dort in Parallelfiguren greifbare Vorbilder des aktiven bzw. des kontemplativen Lebens: zunächst in Maria und Martha (Lk 10,38–42), die sich nach Hören und Tun unterschieden, sodann im Alten Testament Lea und Rachel, die Frauen Jakobs, als Modelle von (aktiver) Fruchtbarkeit und (kontemplativer) Schönheit, schließlich verglich Augustinus Petrus, dem die aktive Führung der Kirche anvertraut wurde, mit Johannes, der als Kontemplativer das Bleibende im Vorgriff auf die ewige Schau repräsentiert. Da schon die Philosophen die Theorie der Praxis vorordneten, nimmt es nicht Wunder, dass diese intellektuell aristokratische Position als eine spirituelle Überlegenheit der Kontemplation und der mit ihr verbundenen Lebensform verstanden wurde. Die dominikanischen Prediger des 14. Jahrhunderts fanden in den theologischen Schulen ausführliche Traktate zur Kontemplation, biblische Auslegungen zu den repräsentativen Figuren, vor allem zu Maria und Martha, und bezüglich dieser Frauen auch eine Legendenbildung vor, in der Maria von Bethanien mit Maria Magdalena gleichgesetzt wurde. Sie konnte so zugleich als Vorbild der Büßerinnen dienen und als Ideal der Hörenden und Schauenden sowie als erste Auferstehungszeugin, die daher den Titel „Apostolin“ verdiente. Martha, die mir den Geschwistern von Bethanien der Legende nach in Südfrankreich missionierte, wurde dort als Drachentöterin verehrt. Der fromme Dreischritt der via purgativa, via illuminativa, via unitiva, dem Bonaventura einen griffigen Ausdruck verliehen hatte („De triplici via“ – Über den dreifachen Weg), sah die vita activa mit dem Weg der Reinigung durch aszetische und moralische Übung sowie durch Werke der Caritas verbunden. Die vita activa war eine notwendige Voraussetzung des Zugangs zur Kontemplation. Oft blieb es dabei stehen, zumal wenn Magdalena vor allem unter dem Gesichtspunkt von Bußübungen 14
verehrt wurde. Die spielte in der Betreuung der Frauen, die im13 Jahrhundert zum Buß-Leben durch Jakob von Vitry ermuntert wurde und aus denen die Beginen-Bewegung entstand, eine wichtige Rolle. Je mehr im 13 Jahrhundert religiöse und literarische Bildung unter bürgerlichen Frauen avancierte, um so mehr wurden Ideale tieferer Liebesbeziehungen (von der „Brautmystik“ des Bernhard von Clairvaux beflügelt), Ideale tieferer Erfahrung und Einsicht und Ideale der gläubigen Selbsterschließung in geistiger Freiheit geweckt und verfolgt. Diese Ideale zeigen sich ebenso in der Mystik der Zisterzienser wie bei den Franziskanern und Dominikanern, die ihrerseits dann wiederum Frauenklöster und Beginenhäuser betreuten. Im Strom der rheinischen Mystik haben Frauen wie Hadewijch von Antwerpen, Mechthild von Magdeburg und Marguerite Porete das kontemplative Leben um präzise spirituelle Selbsterfahrungen, poetische Ausdrucksweisen und ekstatische Elemente bereichert. Dabei blieb freilich die ekstatische Liebe eine Steigerung des Affektes durch Phänomene des Entzugs und Wiedergewinnes, sie war aber auch oft kritisch gegenüber bestehenden Zuständen. Die dominikanischen Mystiker, Eckhart, Tauler, Seuse suchten alle eine zugleich kontemplative und aktive Bereicherung des spirituellen Lebens. Unter Ihnen ist aber vor allem Tauler, der eine ausführliche Auswertung der „vita activa“ als einem Leben im Weltdienst entfaltet hat. Die theoretische Spur dazu hatte vor allem Meister Eckhart gelegt. Mit seiner Figur der Wirkeinheit mit Gott nahm er auf seine Weise den „contemplativus in actione“, wie er später bei Ignatius von Loyola genannt wird, vorweg. Es war ein Modell religiös intensiver Lebensführung in der Tätigkeit führte Eckhart über das „zweiseitige“ Leben, die „vita mixta“ des Augustinus hinaus. Auch über das dominikanische Predigtideal „Das in der Schau Erfahrene anderen weiter geben“ („contemplata aliis tradere“, Thomas von Aquin) entwickelte er die spirituelle Freiheit und die Einheit mit Gottes Wirklichkeit mitten im Wirken. Das Martha-Ideal provoziert insofern, als diese nicht bloß, wie üblich, wegen ihrer notwendigen Tätigkeit entschuldigt wurde. Vielmehr gab er diesem Ideal den Vorzug vor dem als Anfänger-Schärmereil charakterisierten Marientyp. Damit bereitete er den Weg zur spirituellen Eignung des Weltberufes, wie er dann von Tauler und nach ihm von Luther beschrieben wurde. Nehmen wir aus der sog. spätmittelalterlichen Mystik drei Beispiele, die sich explizit mit dem Thema befassen. Zunächst Marguerite Porete (ca. 1250–1310), die eine Betrachtung über Maria Magdalena geschrieben hat (Miroir Nr. 124). Jesus, heißt es hier, sei häufig Gast im Hause in Bethanien gewesen, aber „Maria rührte sich nicht, 15
was für Arbeiten hier auch zu tun gewesen wären.“ (Übers. Gnädinger 187) Auch ein erschöpfter und vom Staub geplagter Christus „rührte sie doch nicht wegen etwas, das seinem Leib mangelte. Und sie überließ es Martha, ihrer Schwester, ihn zu bedienen, was deren Aufgabe war. Doch ihn zu lieben, überließ sie nur sich selbst.“ Marguerite fährt fort: „Nachher betrachtete ich Maria, wie sie das Land ihres Herrn bestellte, das er ihr überlassen hatte. Sie säte das Korn …mit harter Arbeit, und der Meister ließ sie hernach das Hundertfache an Frucht bringen“… Als sie getan, was verlangt war, da ruhte Maria alsbald aus, ohne von sich aus ein Werk zu verrichten. Und Gott wirkte das Seine … in Maria, für Maria, ohne Maria. Denn Maria hatte ihren Teil getan, an ihr lag es nicht mehr…“ „Die Erde, die Maria bearbeitete, das war ihr Leib, den sie (szetisch) reinigte „aus brennendem Verlagen“. Dabei wird die Reinheit der Absicht betont. Das Ergebnis ist die Tugend in ihrer Vollkommenheit. Damit werden aber die Werke verlassen und der Mensch erlangt „den wahren Kern des Zustandes der Freiheit, in welchem die Seele nach göttlicher Weise wirkt, ohne eigenes Wirken.“ Sofern in der Büßerin auch in guten Werken, sofern diese hinter dem Wirken Gottes zurückbleiben, in der Sünde weilte, ist dies durch diesen Wechsel der Urheberschaft im Wirken der Seele folgenlos. Der neue zustand bedeutet, dass sich die „göttliche Güte“ in Maria ausruht und diese von sich ausruhen lässt. Darin liegt die vermehrte göttliche Fruchtbarkeit (mit Anspielung auf Mt 13,8) von innen her. „Und damit vollendete Maria den Lauf ihrer Lebensweise nicht, als sie redete und als sie suchte (am Grabe, vgl. Joh 20), sondern als sie schwieg und sich gesetzt hatte.“ (vgl. Lk 10,38–42) Marguerite, sich selbst wohl als eine solche Maria-Christin stilisierend, nimmt als die Kontemplation als ruhendes erfüllt-Sein vom Liebeswirken Gottes. Man kann dieses Modell als Umsetzung zisterziensischer Gedanken in der BeginenFrömmigkeit betrachten. Genau in diesem Kontext muss man Eckharts Maria-Martha-Predigt sehen. Man kann diese Predigt Nr. 86 über Maria und Martha mit der Predigt Nr. 55 über Maria Magdalena am Grab des Auferstandenen in Zusammenhang sehen. In dieser Predigt über die „Apostolin“ Maria Magdalena erinnert Eckhart die Zuhörerinnen an die Predigt 86 mit seinem Lob der stehenden Martha, dagegen in Pr. 55 angesichts der stehenden „gereiften“ Maria das Lob der sitzenden, „anfangenden“ Maria. Es geht um verschiedene Perspektiven. Eckhart sieht in der Lukasgeschichte die anfangende Maria, die noch Trost braucht und nach Verzückung sucht, während die Apostolin der Auferstehungserfahrung darüber hinaus gelangt, getragen vom Vorbild einer 16
Schwester, welche die Freiheit und Offenheit für Gottes Einwirken mitten in ihrem Wirken zeigt. Die Motive der Legende, die Marguerite verarbeitet hat, waren Eckhart sicherlich bekannt, und er geht freundlich korrigierend, darauf ein, ohne das MariaMagdalenen-Ideal zu desavouieren: denn Maria wird ja einmal die wahre Maria sein. So betont Eckhart die Einheit von Aktion und Kontemplation, ohne individuelle Verschiedenheiten einzuebnen. Die Differenzierung des Wirkens in den Geschöpfen, die ganze „Wirklichkeit“ setzt sich bei Johannes Tauler in der Differenzierung der menschlichen Tätigkeit fort. Der Mensch ist wirkend, „und zwar jeder nach seinem ihm zum Wirken gegebenen Gegenstand“. Nicht nur die Wirksamkeit allgemein, sondern auch der besondere Gegenstand der Wirksamkeit ist von Gott gegeben. Tauler leitet also nicht nur die Arbeit im Allgemeinen, sondern auch die Berufsarbeit im Besonderen von Gott ab. Taulers Berufsbegriff enthält erstmalig sowohl die allgemeine Heilsberufung des Christen als auch ihre konkrete Verwirklichung im jeweiligen Beruf in der Welt. Für die Verwirklichung der allgemeinen Heilsberufung nennt Tauler drei Stufen: Leben nach den Geboten, Leben nach den Räten und Leben in der Gleichgestaltung mit Christus. Diese Ordnung ist in den kirchlichen Gemeinschaften institutionalisiert, aber jeder Mensch kann in jedem Beruf an ihr teilhaben. Tauler nennt als Beispiele den verheirateten jungen Mann, die kinderreiche Hausfrau, den Handwerker und den Mistkärrner. Er kennt zwar eine objektive Hierarchisierung der Stände; sie entscheidet bei ihm jedoch nicht über die jeweilige Vollkommenheit des einzelnen Menschen in seinem eigenen Beruf. Deshalb kann er den Schuhmacher, den Ackersmann und den Mistkärrner, insofern sie Gottesfurcht, Armut und Schlichtheit haben, seinen Ordensleuten als Beispiel vorstellen. „Denn jeder Dienst und jede Tätigkeit, wie gering sie auch sei, sind allesamt Gnaden, und derselbe Geist wirkt sie zu Nutz und Frommen der Menschen.“ Die Sinnerfüllung der Berufsarbeit richtet sich deshalb zugleich darauf, durch die Gestaltung der Dinge auch die Erlösungsabsicht Gottes sichtbar zu machen.
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Literatur Meister Eckhart, wissenschaftliche Ausgaben, Stand 2018 Meister Eckhart, Die Deutschen Werke (zit. DW mit Bandnummer, Seitenzahl, Zeile), hg. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Stuttgart 1958 ff., Bde. I-III und V hg. v. Josef Quint, Band IV/1-2 hg. v. von Georg Steer. Meister Eckhart, Die Lateinischen Werke (zit. LW I-V mit Bandnummer, Textnummer, Seitenzahl). Stuttgart 1936 ff. Bd. I-III, hg. v. Ernst Benz, Karl Christ, Bruno Decker, Heribert Fischer, Bernhard Geyer, Josef Koch, Konrad Weiss und Albert Zimmermann, Bd. IV und V von Loris Sturlese. Meister Eckhart, Werke in Auswahl (zitiert EW mit Bandnummer); Band I: Texte und Übersetzungen nach DW, hg. und kommentiert von Niklaus Largier; Band II: Texte und Übersetzungen nach DW und LW. Frankfurt a.M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker: Bibliothek des Mittelalters 20 und 21). Lectura Eckhardi (zit. LE mit Bandnummer), hg.v. Georg Steer und Loris Sturlese, 3 Bde. Stuttgart 1989-2008. (Einzelne Predigten, neu ediert und übersetzt.) Weitere Ausgaben siehe: Markus Vinzent, The Art of Detachment, Löwen 2011, Bibliographie 251-377; Alessandra Beccarisi, Meister Eckhart, Roma 2012, 217 f. D. Csányi, Optima Pars. Die Auslegungsgeschichte von Lukas 10,38–42 bei den Kirchenvätern der ersten vier Jahrhunderte. In: Studia Monastica 2 (Montserrat 1960) 5–78. Brian Vickers (Hg.), Arbeit, Musse, Meditation. Betrachtungen zur Vita activa – Vita contemplativa. Zürich 1985. Martina Wehrli Johns, Maria und Martha in der religiösen Frauenbewegung. In: Kurt Ruh, Hg., Abendländische Mystik im Mittelalter, Stuttgart 1986, 354–367. Wolfgang Vogl, Aktion und Kontemplation in der Antike (Regensburger Studien zur Theologie 63) Frankfurt a.M. 2002 (Literatur!). Elisabeth Moltmann-Wendel, Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus. 9. Aufl. 2002. (Zur Martha-Legende). 18
Volker Leppin, Die Komposition von Meister Eckharts Maria-Martha-Predigt. In: ZfThK 94 (1997) 69–83. Markus Vinzent, The Art of Detachment (Eckhart: Texts and Studies, vol 1) LeuvenParis – Walpole 2011, 166–213.
Eigene Beiträge Monographien Christus, das Soziale im Menschen. Texterschließungen zu Meister Eckhart. Düsseldorf (Patmos, Reihe Topos Nr. 1) 1972. Die Spannungseinheit von Theorie und Praxis, Theologische Profile, Freiburg i.Br, Fribourg/ CH, Freiburg i.Br. 1986. Meister Eckhart. Gotteserfahrung und Weg in die Welt. Olten-Freiburg i. Br. 1979. Lizenzausgabe Zürich (Ex libris) 1983. Lizenzausgabe München (Piper), überarbeitet 1989. 3. Aufl. 1991. (Piper, Neuauflage); Wiederaufnahme unter dem Titel: Meister Eckhart. Einheit mit Gott. Patmos-Verlag. Düsseldorf 2002.Neuauflage 2008. Weitere ergänzte Neuauflage 2014. Koreanische Übersetzung: Seoul Benedict Press 2014. Gotteserfahrung-Weltverantwortung. München (Kösel-Verlag) 1982. Meister Eckhart. Mystik und Lebenskunst. Patmos-Verlag. Düsseldorf 2004. Meister Eckhart, München (Beck) 2014. Meister Eckhart, Vom Atem der Seele, kommentierte Auswahl. Reclam. Stuttgart 2014. (Mit Monika Bobbert), Das Proprium der christlichen Ethik, Luzern 2015 (Eigener Beitrag: Zur Rechtfertigungslehre und Christologie bei Meister Eckhart, 127–171). Herausgeber: Religiöse Selbstbestimmung, Anfänge im Spätmittelalter. Erscheint als Beiheft des Jahrbuches der Meister Eckhart Gesellschaft, Stuttgart 2018.
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Artikel und Buchbeiträge Die Einheit von Theorie und Praxis als Lebensform. Zur Diskussion um die Einordnung der Predigten Pfeiffer II, nr.IX. In: Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des deutschen Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, hg.v. Peter Kesting (Medium Aevum 33) München 1975, 271–286. Mit Ergänzungen neu in: Die Spannungseinheit von Theorie und Praxis, 22–41. Gottesschau und Gottesgeburt. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 27 (1980) 204–223. Meister Eckharts Ethik und Sozialtheologie. In: W. Böhme (Hg.), Meister Eckhart heute (= Herrenalber Texte 20). Karlsruhe 1980, 42–57. Auch in: Zeitwende 51 (1980) 87–102. Auch in: Verf., Gotteserfahrung – Weltverantwortung. München 1982, 130–154. *Kontemplation und Gottesgeburt – die religiöse Erfahrung im Christentum und die christliche Erfahrung des Religiösen bei Meister Eckhart. In: W. Haug, D. Mieth (Hg.), Religiöse Erfahrung. München-Paderborn 1992, 205–228. Ersch. überarbeitet neu in: Marie-AnneVannier, Markus Vinzent (eds.), Meister Eckhart und die Kirchenväter, 2019. *The Model of an Ethics of Being in Meister Eckhart in the Structural Philosophy of Heinrich Rombach. In: Listening, Journal of Religion and Culture 29 (1994) 186– 198. Leidenschaft des Denkens, Spiritualität und Lebenskunst. Mit Überlegungen zur heutigen Rezeption. In: Volker Leppin, Hans-Jochen Schiewer (Hg.), Meister-EckhartJahrbuch. Meister Eckhart aus theologischer Sicht, Bd. I, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007, S. 71–95. Mystik und Lebenskunst. Meister Eckhart – ein Lebensmeister. In: Viele Charismen, ein Leib. Ordenschristen in Kirche und Gesellschaft, hg. v. Ordensleute in der Fokolar-Bewegung, 19. Jahrgang/ Heft 2, Neue Stadt, Oberpframmern 2007, S. 28–32. Maria Magdalena. Ein Beispiel für die (Frauen-) Predigten von Meister Eckhart, in: Christoph Gellner/Georg Langenhorst (Hgg.), Herzstücke. Texte die das Leben ändern. Ein Lesebuch zu Ehren von Karl-Josef Kuschel. Düsseldorf 2008, S. 59–69. 20
Wandlungen in der christlichen Spiritualität der Arbeit. In: Albert Biesinger, Joachim Schmidt (Hg.), Ora et Labora. Eine Theologie der Arbeit. Ostfildern 2010, 155–184. (zu Johannes Tauler) Meister Eckhart - Die Suche nach Gott und die Intensität des Lebens. In: Bernhard Kirchgessner (Hg.), Christliche Spiritualität und Mystik, Begriffsklärungen, St. Ottilien 2011, 87–130. *Ethique. In: Marie-Anne Vannier (éd.), Encyclopédie des Mystiques rhénans. Paris 2011, Sp. 465–468. *Vie active et vie contemplative. In: Marie-Anne Vannier (éd.), Encyclopédie des Mystiques rhénans. Paris 2011, Sp. 1235–1238. Maria und Marta. In: Rudolf Walter (Hg.), Inspiration für das Leben, Im Dialog mit der Bibel. Freiburg-Basel-Wien 2015, 126–135. Zur Rechtfertigungslehre und Christologie in Bezug auf die Ethik bei Meister Eckhart, in: Monika Bobbert, Dietmar Mieth, Das Proprium der christlichen Ethik, Luzern 2015, 127–171. Dynamics of Meister Eckhart – Past and Present. In: Jutta Vinzent and Christopher Wojtulewiccz (eds.), Performing Bodies. Time and Space in Meister Eckhart and Taery Kim. Eckhart Text´s and Studies, vol 6, Peters, Löwen 2016, 77–96. Geflügelte Motive. Meister Eckhart liest Marguerite Porete. In: Dietmar Mieth, et al. (eds.), Meister Eckhart in Paris and Straßburg, Löwen 2017, 23–50. Experiential Ethics and Religious Experience with Reference to Meister Eckhart. In: Patrick Cooper – Satoshi Kikuchi (eds.), Commitments to Medieval Mysticism within Contemporary Contexts. Leuven-Paris-Bristol 2017, 195–222. Leben und Leben oder: Lebensführung und Lebensforschung. Folgerungen für eine „neue“ Metaphysik im Sinne Hermann Deusers. Ein Essay. In: Natur, Religion, Wissenschaft, Beiträge zur Religionsphilosophie Hermann Deusers, hg. v. Matthias Kleinert und Heiko Schulz, Tübingen 2017, 421–438.
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Innerlichkeit ohne Weltgestaltung? (L´intériorité au lieu de l´action dans le monde) Der Weg von der „devotio moderna“ zu den „Stillen im Lande“ (Pietismus), in: Marie-Anne Vannier (Hg.), Myststique rhénane et Devotio moderna, Paris 2017, 267–282. Der Aufstieg des „gewerbes“: Eckhart, Luther und Max Weber. Erscheint in: Volker Leppin, Freimut Löser (Hg.) Meister Eckhart und Martin Luther, Jahrbuch der Meister Eckhart Gesellschaft, Bd. 13. Stuttgart 2018. Contemplativus post actionem, contemplativus in actione ou contemplativus sine actione? In: Marie-Anne Vannier (éd.), La Mystique rhénane et la Devotio moderna, Paris 2018, 53–77. Meister Eckhart: Kontemplation und Gottesgeburt. Die religiöse Erfahrung des Christentums und die christliche Erfahrung des Religiösen. ersch. In: Marie-Anne Vannier, Meister Eckhart und die Kirchenväter, Paris 2018. Selbsttranscendence in Meister Eckhart. Ersch. im KFG Bericht „Religiöse Individualisierung“ hg. v. Martin Fuchs u.a. 2018. Marguerite Poretes Lebenswende als Modell religiöser Selbstbestimmung. In: Dietmar Mieth (Hg.) Religiöse Selbstbestimmung, Anfänge im Spätmittelalter. Ersch. als Beiheft des Jahrbuches der Meister Eckhart Gesellschaft, Stuttgart 2018.
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DIE EINHEIT VON VITA ACTIVA UND VITA CONTEMPLATIVA in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens
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MEINER MUTTER
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Vorwort Vorliegende Untersuchung hat im Verlauf ihres Entstehens mehrfach Anregungen erfahren. Zu der Beschäftigung mit den Texten Eckharts und Taulers und der Sachfrage wurde der Verfasser durch die Seminare Professor Dr. Erwin Iserlohs (damals Trier, jetzt Münster) angeleitet. Die Erweiterung der ersten Erkenntnisse erforderte ein langjähriges Einarbeiten. Der Verfasser nützte dazu sein Studium der Theologie und Germanistik an der Universität Würzburg unter der Führung von Professor Dr. Alfons Auer und Professor Dr. Kurt Ruh. So entstand zunächst eine Zulassungsarbeit über Johannes Tauler, die als dritter Teil der Untersuchung vorliegt. Zusammen mit der Vorgeschichte des Modells und der Untersuchung Meister Eckharts wurde das nun dreiteilige Werk im Sommersemester 1967 bei der Theologischen Fakultät der Universität Würzburg als Inauguraldissertation eingereicht. Die vorliegenden drei Teile beanspruchen eine gewisse Selbständigkeit für sich, die auch bei der nochmaligen Durchsicht für die Drucklegung belassen wurde. Der Dank des Verfassers gilt allen seinen akademischen Lehrern, vor allem aber der kritischen Förderung durch Professor Dr. Alfons Auer und Professor Dr. Kurt Ruh, die stets auf die rechte Literatur und die methodischen Voraussetzungen aufmerksam machten. Sie haben sich auch der Mühe des Referates bzw. Korreferates unterzogen. Professor Dr. Erwin Iserloh, dem moraltheologischen Colloquium und dem philosophischen Colloquium bei Professor Dr. Heinrich Rombach in Würzburg ist der Verfasser für Anregungen und Gespräche besonders dankbar. Professor Dr. Michael Müller (Bamberg) sei dafür gedankt, daß er die Untersuchung in die von ihm herausgegebene Reihe »Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie« aufnahm. Dem Verwaltungsausschuß der Universität Würzburg ist der Verfasser für einen größeren Druckkostenzuschuß, der Studienstiftung des deutschen Volkes für ein Doktorandenstipendium von 1965 bis 1967 zu Dank verpflichtet. Tübingen, Weihnachten 1968
Dietmar MIETH
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Abkürzungen ATB BgT DTA
EN Ged. LThK Pr.
RdU RNT S. th. VeM
Altdeutsche Textbibliothek. Hrsg. von H. Kuhn. Meister Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung (Liber benedictus). Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutschlateinische Ausgabe der Summa theologica. Hrsg. von der Albertus-Magnus-Akademie, Walberberg bei Köln. Heidelberg–München–Graz–Wien–Salzburg 1954. Aristoteles, Ethica nicomachia. Johannes Tauler, ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag. Hrsg. von E. Filthaut. Essen 1961. Lexikon für Theologie und Kirche, hrsg. von J. Höfer und K. Rahner, 10 Bde., Freiburg 1957–1965. Predigt. Die bei Eckhart dazu angegebenen Nummern bezeichnen als arabische Zahlen die Ausgabe der Forschungsgemeinschaft (DW), als römische Zahlen die Ausgabe Pfeiffers (Pf). Meister Eckhart, Reden der Unterweisung. Regensburger Neues Testament, hrsg. von A. Wikenhauser und O. Kuss, 10 Bde. Regensburg 31955 ff. Thomas von Aquin, Summa theologica. Meister Eckhart, Von dem edlen Menschen.
Die Abkürzungen der Quellenwerke sind mit ihnen zusammen angegeben, ebenso die Abkürzungen der Sammelwerke. Für die im Literaturverzeichnis abgekürzten Zeitschriften wird auf das Abkürzungsverzeichnis im Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 1, Freiburg 1957, verwiesen.
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Vorbemerkungen
1. Der Grundgedanke der christlichen Mystik Eckharts und Taulers M. Grabmann bezeichnet die Mystik als »Verinnerlichung und Erleben der durch die Scholastik begründeten Lehre von der übernatürlichen Gottesgemeinschaft« 1 . H. Piesch weist auf die mittelalterliche Definition »cognitio Dei quasi experimentalis« hin.2 Diese Definitionen beziehen sich auf eine bestimmte geschichtliche Ausprägung der Mystik, nämlich auf die deutsche Mystik des Spätmittelalters, der Johannes Tauler zugehört. Eine allgemeine Definition der Mystik zu geben, ist wesentlich schwieriger. Mystik kommt von griechisch »myein«, d. h. schließen (der Augen oder Lippen); als Erfahrung ist sie »die Versenkung der Seele in ihren göttlichen Grund und dadurch die innerliche einende Begegnung mit der den Menschen und alles Seiende begründenden göttlichen Unendlichkeit, in der christlichen Mystik, im Judentum und im Islam mit dem persönlichen Gott«3. Als Mystik wird jedoch nicht nur diese Erfahrung der Gottbegegnung gefaßt, sondern auch die ihr entsprechende Lebenshaltung und die theoretische Auslegung der mystischen Phänomene. Daraus ergeben sich Berührungspunkte mit der Spiritualität und der Theologie der Spiritualität. Christliche Mystik ist zunächst nicht als psychologische Besonderheit zu betrachten, sondern als Erfahrung der christlichen Existenztiefe in Gott durch den Vollzug der christlichen Existenz. Sie ist identisch mit der vollkommenen Frömmigkeit des Christen und hebt sich nur durch die besondere Betonung des Erlebens und Erspürens der Existenztiefe in Gott von den Kategorien Spiritualität und Frömmigkeit ab. Mystik 1 2
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Wesen und Grundlagen der katholischen Mystik 57. Mystik (Christentum und moderne Geisteshaltung, hrsg. von J. Stadelmann und L. Hänel 1954) 511. Herders kleines philosophisches Wörterbuch, hrsg. von M. Müller und A. Halder. Freiburg 21959, 112. 29
ist also eine Lebensweise oder, in der theologischen Reflexion betrachtet, eine Lebenslehre, die genau das darstellen will, was christliche Existenz ist. Als solche sucht sie die vollkommene Frömmigkeit als Vergöttlichung des Lebens in allen seinen Möglichkeiten und Regionen. Mystische Lebensgestaltung ist freilich keine bestimmte Frömmigkeitsform, sondern die Begründung aller Frömmigkeitsformen aus ihrer ursprünglichen Identität in der einheitlichen Existenzstruktur des Christen. Sie zeigt den Koinzidenzpunkt aller religiösen Lebensformen in der gnadenhaften Vergöttlichung des Menschen, die Gott im Heilswerk in Christus immer schon vollzogen hat und in der Geschichte ihrer Vollendung entgegenführt. Der ontologische Grundgedanke der christlichen Mystik ist bei Meister Eckhart besonders klar herausgestellt: »Quando aliqui multum se amant, solent compartire vestes suas. Deus assumpsit vestem nostram, ut vere, proprie et per substantiam sit homo et homo deus in Christo. ... Natura autem assumpta communis est omni homini sine magis et minus. ... Ergo datum est omni homini filium dei fieri, per substantiam quidem in ipso (Christo), in se (in homine) autem adoptive per gratiam.«4 Theologie der Mystik ist also Beschreibung der Wirksamkeit der in der Inkarnation entbundenen »gratia adoptionis«. Mit »Inkarnation« ist dabei immer das ganze Christusereignis gemeint. Der inkarnierte Christus ist zugleich der Gekreuzigte, Auferstandene und zur Rechten Gottes Erhöhte. In diesem gefüllten Sinne muß »Inkarnation« bei Meister Eckhart verstanden werden. Mystisches Leben ist das Empfangen der »gratia adoptionis« durch das Mitwirken mit Gott in Erkennen und Lieben. Ontologische, erkenntnistheoretische und ethische Vorstellungen bilden eine Einheit. Zielbestimmung des mystischen Lebens ist die Indifferenz des Menschen in Gottes Sein, Erkennen und Lieben, damit aus Gott gelebt, erkannt und geliebt wird. In Christus ist dieses Leben jedem Menschen vorgezeichnet. Das Zentrum des christlichen Lebens, sein Grund und sein Ziel ist die Christusförmigkeit. Der menschgewordene und gekreuzigte Christus ist auferstanden und zur Rechten Gottes erhöht. In ihm erhielt der Mensch Anteil an Gott. So ist Eckharts unzulängliches Bild des
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LW IV,437. 30
Kleidertausches zu verstehen: der Logos wird Menschensohn, damit der Mensch Gottessohn werde, freilich weder im Sinne eines magischen Zwanges noch im Sinne menschlicher Leistung, sondern »adoptive per gratiam«. Dieses ontologische Ereignis entfaltet sich geschichtlich, denn Christus ist das Haupt von Kirche und Kosmos und führt alles seiner Vollendung in der Gemeinschaft mit Gott entgegen. So begegnet der Mensch überall der Leiblichkeit Christi: in sich selbst, denn er ist in Christus eingegliedert und unter das Haupt gestellt, in seinen Mitmenschen, denn sie sind ebenso vom Heilswerk in Christus betroffen, und im Kosmos, denn Christus ist der erhöhte Herr der irdischen Wirklichkeit. Diese Vergöttlichung in Christus durch das Leben sichtbar zu machen, ist das Ziel der mystischen Versenkung: sie möchte das christliche Sein in Gott erspüren, um das Leben dafür transparent werden zu lassen. Dieses Erspüren ist weder auf einen besonderen Lebensbereich noch auf ein besonderes Tun des Menschen festgelegt. Die Mystiker verlegen es in den »Seelengrund«, der die christliche Existenztiefe in Gott bezeichnet, ohne irgendwie in einer Seelenkraft »lokalisierbar« zu sein. So geschieht das Erspüren zugleich überall und nirgends: nirgends, insofern es nicht auf eine bestimmte Weise festlegbar ist, überall, insofern es in jeder Weise geschehen kann: in der Erkenntnis des Glaubens und im sittlichen Verhalten, im Erleiden der göttlichen Liebe und in der Fruchtbarkeit der tätigen Liebe, im kontemplativen Gebet und in der schöpferischen Tätigkeit. Die christliche Mystik ist daher offen für jeden Lebensweg des Menschen. Von daher stellt sich die Sachfrage nach der Bedeutung des Modells »vita activa – vita contemplativa«.
2. Zur Sachfrage In der christlichen Tradition vor Eckhart wird die Mystik als Vergöttlichung des Lebens mit der besonderen Lebensform der »vita contemplativa« gleichgesetzt, die ihrerseits bereits mit bestimmten Prägungen philosophischer Provenienz versehen war: Selbstgenügsamkeit, Intellektualismus, Welt- und Tatfeindlichkeit. Solche Prägungen wurden zwar christlich immer wieder überwunden; oft genug aber wurden sie mit dem eschatologischen Vorbehalt des Christen gegenüber dieser Weltzeit zusammengesehen oder sogar identifiziert. Die aktiven Lebensformen des Menschen, vor allem aber das materiale Werkschaffen traten dahinter zurück; die Hingabe an den 31
tätigen Weltdienst erschien unter dem Signum der Weltverfallenheit und wurde von der Vergöttlichung ausgeschlossen. Einer heutigen theologischen »Aufwertung des tätigen Lebens« 5 steht die Geschichte des Modells »vita activa – vita contemplativa« mit ihrer einseitigen Fassung der Vergöttlichung im Wege. In seiner geschichtlichen Ausfaltung bedeutet das Modell nichts anderes als eine dualistische Aufspaltung der Merkmale der christlichen Existenz: die Festlegung der eschatologischen Tugenden der christlichen Existenz auf die »vita contemplativa« und die Beschränkung der »vita activa« auf die Vorläufigkeit einer aszetischen Lebensführung und christlicher Sozialfürsorge. Dazu kam eine weitläufige und unfruchtbare Diskussion über die Vorrangigkeitsfrage auf,6 die bei solchen Festlegungen nur im Sinne einer grundsätzlichen Überlegenheit der »vita contemplativa« beantwortet werden konnte, mit einer durch die neutestamentliche Forderung der Bruderliebe bedingten Einschränkung. Jeder Versuch, sich von diesen Verfestigungen des Modells zu befreien und die Merkmale der christlichen Existenz in jeder Lebensform in ihrer Fülle aufzuzeigen, muß daher zu einer Kritik des Modells führen. Solange eine solche Kritik im Rahmen des Modells bleibt und es nur inhaltlich zurechtrückt, entsteht eine Hilfskonstruktion. Das Modell muß auch formal auf seine ideologischen Elemente hin untersucht werden,7 d. h. die Einheit der christlichen Existenz sollte in ihrem Ursprung gesehen und die verschiedenen Lebensformen sollten von daher gedacht werden. Ein solches Denken liegt nun im Grundgedanken der christlichen Mystik vor und ist von Eckhart und Tauler in besonders eindringlicher Weise vollzogen worden. In dieser Untersuchung soll gezeigt werden, daß die heutigen Versuche, das Modell anders zu interpretieren und dadurch eine Offenheit für die Spiritualität des tätigen Lebens zu erreichen,8 in der Lebenslehre Eckharts und Taulers eine geschichtliche Grundlage finden könnten, die lange verschüttet war. Die Lebenslehre Taulers setzt dabei die mystische Konzeption Meister Eckharts voraus, der die entscheidende Umformung des Modells geleistet hat.
5 6 7 8
So lautet der Titel einer Untersuchung von A. Auer. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2, q 180. Vgl. S. 319–323 dieser Untersuchung. Vgl. H. Sanson, Leben mit Gott in der Welt 51–83. 32
3. Zur Methode In unserer Untersuchung sind zwei Absichten miteinander verbunden. Einerseits soll für die Struktur der christlichen Lebensformen das richtige Modell gesucht werden, und andererseits wird ein Beitrag zur Interpretation Eckharts und Taulers versucht. Beide Absichten lassen sich nur in einer geschichtlichen Betrachtungsweise verwirklichen. Dennoch müssen die Texte Eckharts und Taulers auch aus sich selbst heraus verstanden und in ihrer Eigenständigkeit gesehen werden. Deshalb behandeln wir die geschichtliche Entfaltung des Modells »vita activa – vita contemplativa« nicht im Rahmen der Untersuchung Eckharts und Taulers, sondern stellen sie voraus, um dann freilich immer wieder darauf zurückzugreifen. Die Darstellung der Entwicklung des Modells läßt diese als christliche Integrationsleistung sichtbar werden, deren Maßstab das Neue Testament ist. Die Entwicklung läßt sich dabei nicht begrifflich festhalten, sondern nur als Strukturwandel des Modells beschreiben. Ausgangspunkt der Entwicklung ist das philosophische Modell. Die christliche Integration, die mit Origenes einsetzt, erreicht ihren Höhepunkt durch die Umwandlung des Modells bei Augustinus. Das augustinische Modell verfestigt sich im Mittelalter als Traditionsgut der christlichen Spiritualität und wird durch eine neuerliche Bindung an den philosophischen Ausgangspunkt bei Aristoteles zu einer Klassifikation der Lebensformen. Die Auflösung dieser Verfestigung im Denken Eckharts und Taulers ermöglicht eine neue Höhe der christlichen Umwandlung des Modells aus der einheitlichen Struktur der christlichen Existenz.
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Erster Teil DIE VORGESCHICHTE DES MODELLS VITA ACTIVA – VITA CONTEMPLATIVA Das Modell »vita activa – vita contemplativa« ist untrennbar mit der Geschichte der Kontemplationslehre verbunden, die zugleich weitgehend Geschichte der christlichen Mystik ist. Wie die Kontemplationslehre ist auch dieses Modell griechisch-philosophischen Ursprungs, wurde christlich integriert in der Spiritualität der Väter und in weitgehender Einheitlichkeit an das Mittelalter vermittelt. In der Systematisierung der Scholasik wurde es mit geringfügigen Veränderungen und Variationen in die Neuzeit tradiert. Die Frage nach dem Verständnis des Modells bei Meister Eckhart und Johannes Tauler setzt einen Blick auf die Überlieferung des Modells voraus. Dabei geht es weniger um eine lückenlose Darstellung als um ein Aufreißen der in dieser Überlieferung liegenden Problematik, der Problematik des philosophischen Modells selbst und seiner christlichen Integrierung sowie seiner biblischen Begründung. Eine Geschichte dieses Modells ist noch nicht geschrieben, wohl aber wurden bereits eine Reihe von Vorarbeiten dazu geleistet. So hat D. A. Csányi die Auslegungsgeschichte von Lk 10,38–42, dem biblischen Hauptbeleg für das Modell, bei den Kirchenvätern der ersten vier Jahrhunderte untersucht,1 und A. Kemmer hat ihn darin ergänzt.2 Über die Behandlung des Modells bei den einzelnen Kirchenvätern liegen eine Reihe von Aufsätzen vor, 3 auch die Vermittlung zum Mittelalter ist in 1
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Vgl. D. A. Csányi, Optima Pars. Die Auslegungsgeschichte von Lk 10,38 bis 42 bei den Kirchenvätern der ersten 4 Jahrhunderte. Vgl. A. Kemmer, Maria und Martha. Zur Deutungsgeschichte von Lk 10,38 ff. im alten Mönchtum. Vgl. I. Hausherr, Utrum S. Ephraem Mariam Marthae plus aequo anteponerit; A.-M. de la Bonnardière, Marthe et Marie, figures de l'église d'après saint Augustin; G. f. D. Locher, Martha en Maria in de prediking van Augustinus; M. Olphe-Galliard, Vie contemplative et vie active d'après Cassien. 34
Ansätzen untersucht.4 An geschichtlichen Durchblicken fehlt es in den Interpretationen und systematischen Arbeiten nicht,5 und einen Überblick über die ganze christliche Tradition hat Th. Camelot gegeben.6 Die Problematik des Modells wird heute meist unter drei Aspekten betrachtet, die sich überschneiden: Kritik an den philosophischen Reminiszenzen des Modells, christliche Relativierung der kontemplativen Wertüberlegenheit und geschichtstheologische Rechtfertigung der christlichen Integrierung des Modells.7 Diese Aspekte sollen auch hier beachtet werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Struktur des Modells der Struktur der christlichen Existenz angemessen ist. Das ist das Kernproblem dieser Untersuchung, das vor allem in der Interpretation Eckharts und Taulers hervortreten soll. Die Leitfrage lautet also: genügt es, das Modell von der christlichen Existenz her zu korrigieren und unter Beibehaltung seiner Form durch neue Inhalte zu verwandeln oder fordert die christliche Existenz eine andere Strukturierung?
I.
DAS PHILOSOPHISCHE MODELL UND DAS NEUE TESTAMENT
1. Das philosophische Modell und seine Dimensionen A. Die Einteilung des menschlichen Lebens Aristoteles unterscheidet in der Nikomachischen Ethik drei Lebensformen des Menschen: ein animalisches Leben, ein Leben der Ehre, und ein Leben der Hingabe an die Philosophie.8 Dahinter steht die platonische Einteilung der Lebensformen nach den 4 5
6
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8
Vgl. C. Butler, Western Mysticism, vor allem 195–278. Vgl. auch H. Bérard, Action et Contemplation; E. Coreth, In actione contemplativus; J. de Guibert, De vita activa et contemplativa; J. Mennessier, Vie contemplative et vie active comparée; H. Sanson, Leben mit Gott in der Welt 52–60; 82–93. Vgl. Th. Camelot, Action et contemplation dans la tradition chrétienne und Th. Camelot – J. Mennessier, Aktives und kontemplatives Leben. Solche Aspekte bestimmen die Untersuchungen H. U. von Balthasars, vgl. DTA 23,432– 464; Aktion und Kontemplation, und Th. Camelots, vgl. a. a. O. Vgl. EN I,3. 35
Seelenkräften, nach der Vernunftseele (logistikon), der muthaften Seele (thymoeides) und der Begierdenseele (epitymetikon). Die Lebensformen des Philosophen, des Kriegers und des Arbeiters spielen bekanntlich in Platons Staatslehre eine wichtige Rolle.9 Die philosophische Dreiteilung wird vor allem von den verschiedenen Glückszielen des Menschen spezifiziert. Lust, Ehre und Weisheit werden jeweils von den verschiedenen Lebensformen als höchstes Glück erstrebt. Für Platon und Aristoteles ist dabei klar, daß das höchste Glück und dementsprechend auch das höchste Glücksstreben des Menschen nur in der Hingabe an die Philosophie liegen kann.10 Demgegenüber tritt das animalische Leben der Lustbefriedigung derart zurück, daß es nicht eigentlich als ein menschliches Leben bezeichnet werden kann.11 Die Suche nach einer spezifisch menschlichen Lebenseinteilung führt bei Aristoteles über die Seelenstufungen hinaus. Eine spezifisch menschliche Lebenseinteilung ist nur im rationalen Seelenteil zu finden. Deshalb klammert Aristoteles nacheinander alle anderen Funktionen des Menschen aus, indem er sie als nicht genuin menschlich bezeichnet: »Die bloße Funktion des Lebens ist es nicht, denn die ist auch den Pflanzen eigen. Gesucht wird aber, was nur dem Menschen eigentümlich ist. Auszuscheiden hat also das Leben, soweit es Ernährung und Wachstum ist. Als nächstes käme dann das Leben als Sinnesempfindung. Doch teilen wir auch dieses gemeinsam mit Pferd, Rind und jeglichem Lebewesen. So bleibt schließlich nur das Leben als Wirken des rationalen Seelenteils.«12 Danach stellt sich für Aristoteles das Problem der irrationalen Verfaßtheiten des Menschen. In der Nikomachischen Ethik werden die irrationalen Elemente der Seele in solche unterteilt, die zur vegetativen Grundlage des Lebens gehören und am Rationalen keinen Anteil haben, und solche, die zur Unterordnung unter die rationale Regentschaft befähigt sind. Diese nennt Aristoteles ganz allgemein das Strebevermögen des Menschen;13 sie allein werden ethisch erfaßt, weil sie sich in gewissem Sinne 9 10 11
12 13
Vgl. J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Bd. I, 119. Vgl. EN X,7–9. Vgl. EN I,6. Thomas von Aquin klammert deshalb die »vita voluptuosa« aus der spezifisch menschlichen Lebenseinteilung aus. Vgl. S.th. 2–2 q 179 a 2 ad 1. EN I,6. Übersetzung nach f. Dirlmeier 31. Vgl. EN I,13. 36
vom Rationalen bestimmen lassen.14 So verweist alles spezifisch Menschliche auf das rationale Zentrum des Menschen. Auf dieser höchsten Stufe der menschlichen Bestimmung gelangt Aristoteles zu der Lebenseinteilung in das philosophisch-beschauliche (theoretikos) und das sittlich-politische (praktikos) Leben. 15 Von ihrer philosophischen Ableitung her betrachtet setzt also die Einteilung gerade nicht in der Dimension der Alltäglichkeit ein,16 sondern im »logistikon«, im rationalen Zentrum des Menschen. Das gilt in gleicher Weise für Platon, bei dem die Begriffe noch nicht herausgestellt sind, auf den sie aber inhaltlich zurückführen. Aristoteles verweist auf den Doppelcharakter des Rationalen im Menschen: »ein Teil hat das Rationale im eigentlichen Sinn und in sich selbst, während ein zweiter das Vermögen besitzt hinzuhören, so wie ein Kind auf den Vater hört.17 Es gibt also eine autarke Rationalität und eine abhängige Rationalität. Diesen Rationalitätsformen entsprechen verschiedene Einteilungen in der Ethik des Aristoteles: die Einteilung in die Tugenden des Verstandes (dianoëtische Tugenden) und des Charakters (ethische Tugenden);18 die Gliederung der rationalen Erkenntnis in ein spekulatives und ein »abwägend reflektierendes« Vermögen;19 die Einteilung gemäß der dem einzelnen Menschen besonders eigentümlichen Seelentätigkeit, die sich dann jeweils in künstlerischer Produktion, sittlichem Handeln und philosophischer Wahrheitsfindung ausdrückt.20 Diese verschiedenen Einteilungen entsprechen einander insofern, als die dianoëtischen Vorzüge, das spekulative Vermögen und die philosophische Wahrheitsfindung auf der einen Ebene stehen, die ethischen Vorzüge, die abwägende Reflexion, das künstlerische Werkschaffen (poiesis) und das sittliche Handeln (praxis) 14 15 16
17 18 19 20
Vgl. EN I,6. Vgl. EN I,3.6.13; VI,1–3; X,7–9. Von daher gesehen, ist es nicht zutreffend, wenn U. von Balthasar den Begriffsgegensatz von Aktion und Kontemplation »nicht in den tieferen Schichten philosophischer und theologischer Spekulation beheimatet« sieht und in eine »eher oberflächliche Schicht« verweist (Aktion und Kontemplation 361). EN I,13. f. Dirlmeier 41. Vgl. EN I,13. Vgl. EN VI,2. Vgl. EN I,6, wo Aristoteles die künstlerische Lebenstätigkeit am Beispiel eines Kitharaspielers beschreibt, und EN VI,2. 37
auf der anderen Ebene. Diese beiden Ebenen geben bei Aristoteles die Unterscheidung zwischen »vita contemplativa« und »vita activa« wieder. Eine Rückbetrachtung des Ausgangspunktes, der Seelenstufungen, zeigt, daß diese Unterscheidung nicht einfachhin damit gleichgesetzt werden kann. Das animalische, d. h. vegetative und sensitive Leben entfällt überhaupt. Das Leben der Ehre, das von der Irrationalität der Strebevermögen gekennzeichnet ist, wird insofern eingegliedert, als es sich in rationaler Abhängigkeit befindet, und der praktischen Lebensebene zugeordnet. Die Einteilung des Aristoteles hat also einen rein rationalistischen Standort, von dem aus alle übrigen Seelenkräfte und die ihnen entsprechenden Tätigkeiten in ihrem Rang und in ihrer Ebene bestimmt werden. Die Besonderheit der philosophischen Einteilung liegt nicht nur in ihrem rationalistischen Charakter, sondern auch in ihrer Beschränkung auf die Aktivität des Menschen. Beide Ebenen werden ausdrücklich als Tatigsein des Menschen gekennzeichnet; das Leben wird als eigenständiges Tätigsein, als »die dem Menschen eigentümliche Leistung« erfaßt.21 Aristoteles sagt: »... setzen wir als Aufgabe und Leistung des Menschen eine bestimmte Lebensform und als deren Inhalt ein Tätigsein und Wirken der Seele, gestützt auf ein rationales Element, als Leistung des hervorragenden Menschen dasselbe, aber in vollkommener und bedeutender Weise, und nehmen wir an, daß alles seine vollkommene Form gewinnt, wenn es sich im Sinne seines eigentümlichen Wesensvorzugs entfaltet, so gewinnen wir schließlich als Ergebnis: das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit«.22 Für Aristoteles ist also das Leben Leistungsvollzug der in der Veranlagung vorgegebenen Wesensvorzüge; eine passive Dimension ist in dieser Vorstellung ebenso ausgeklammert wie die gnadenhafte Bestimmung der existentiellen Entfaltung. Vor allem an dieser Stelle haben die christlichen Theologen mit ihren Umwandlungsbemühungen eingesetzt. Der rationalen Einteilung entsprechen bei Aristoteles eine Reihe von Grundhaltungen, die den verschiedenen Ebenen zugeordnet werden: praktisches Können, sittliche Einsicht, wissenschaftliche Erkenntnis, intuitiver Verstand und philosophische Weisheit.23 Diese Grundhaltungen werden im VI. Buch der Nikomachischen Ethik 21 22 23
Vgl. EN I,6. EN I,6; f. Dirlmeier 32. Vgl. EN VI,3. 38
näher untersucht. Dabei ergibt sich, daß das »Können« (techne) ein auf das Hervorbringen von Werken gerichtetes Verhalten ist24 und »daß die sittliche Einsicht eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit ist, die auf das Handeln im Bereich der Werte abzielt, die dem Menschen erreichbar sind«25. Beide Grundhaltungen gehören zur Ebene des »bios praktikos«, der »vita activa«, denn sie werden von der abwägenden und planenden Verstandeskraft geleitet. Ihr Unterschied liegt darin, daß das künstlerische Hervorbringen seinen Zweck außerhalb seiner selbst, das wertvolle Handeln seinen Zweck aber in sich selbst hat. Aristoteles hat hier um des systematischen Fortschrittes willen nicht beachtet, daß Kunst sehr wohl autarke Selbstdarstellung sein kann und daß das sittliche Handeln nicht nur den personalen Selbstzweck, sondern auch den sozialen Erfolg intendieren muß. Darin zeigt sich die Gefahr der Selbstgenügsamkeit, die sich durch die ganze Ethik hindurchzieht; das soziale Verhalten erscheint weitgehend verkürzt. Glück ist für Aristoteles im wesentlichen Selbstvollzug und Selbstbesitz und nicht Empfangen und Hingabe. Diese Einseitigkeit wird in das Modell »vita activa – vita contemplativa« hineingetragen, und Jahrhunderte christlicher Umformung haben es nicht vermocht, sie völlig zu beseitigen.26 Das Moment der Autarkie verstärkt sich noch in der Betrachtung der Grundhaltungen, die der kontemplativen Ebene zugeordnet werden. Das wissenschaftliche Erkennen nimmt dabei eine gewisse Mittelstellung ein. Als »die zu einer Grundhaltung verfestigte Fähigkeit, bündige Schlüsse zu ziehen«27 entspricht es einem abwägenden, diskursiven Denken. Zur Wissenschaft gehört jedoch auch die Kenntnis der Grundlagen und Ausgangspunkte, und diese werden intuitiv erfaßt.28 Der Wissenschaftler muß also Intuition und diskursives Denken miteinander verbinden, wobei der Schwerpunkt freilich die diskursive Urteilsbildung ist. Auch die philosophische Weisheit verbindet Intuition und Diskursivität, jedoch liegt dabei der Schwerpunkt eindeutig auf der intuitiven Einsicht: der Weise weiß nicht nur um die Ableitungen,
24 25 26 27 28
Vgl. EN VI,4. EN VI,5; f. Dirlmeier 128. Aristoteles betont vor allem die sophrosynê. Vgl. U. von Balthasar, DTA 23,454.455. EN VI,3; f. Dirlmeier 125. Vgl. EN VI,6. 39
sondern auch um die »obersten Ausgangssätze«29. »Die philosophische Weisheit ist sowohl wissenschaftliche Erkenntnis wie intuitives Verstehen der ihrer Natur nach erhabensten Seinsformen.«30 Der Höhepunkt der kontemplativen Grundhaltungen liegt also in der Wahrheitsintuition, der eigentlichen »theoria«. Aristoteles und Platon haben eine höhere Vorstellung vom Theoretischen, als sie im heutigen Sprachgebrauch üblich ist, in dem die Theorie eher diskursive Überlegungen als intuitive Wahrheitsschau ist. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Einteilung des Aristoteles von einem rational verstandenen Zentrum des Menschen ausgeht, das sich auf zwei verschiedenen Ebenen entfaltet, wobei die eine Ebene dem Zentrum näher steht und die andere sich zwar mehr davon entfernt, aber in Abhängigkeit bleibt. Die eine Ebene wird vom spekulativen (intuitiven) Verstand begründet, die andere von der abwägenden (diskursiven) Reflexion. Die eine sieht ihren Höhepunkt in der wissenschaftlichen Erkenntnis und in der philosophischen Weisheit; die andere Ebene zielt auf die Grundhaltungen der sittlichen Einsicht und des Könnens oder schöpferischen Werkschaffens. So verstanden, entspricht also die aristotelische Einteilung der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft bei Kant. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Modells sind die Elemente des Rationalismus, des aktiven Leistungscharakters und der Autarkie kritisch hervorzuheben. Sie sind nicht etwa ein besonderes inhaltliches Verständnis des Modells, sondern bereits mit der formalen Einteilung gegeben. Deshalb sind sie durch inhaltliche Veränderungen des Modells, wie sie in der christlichen Integrierung vorgenommen wurden, nur schwer zu beseitigen. So treten auch in der christlichen Geschichte des Modells immer wieder Überschätzung der Verstandeskraft, Selbstheiligung und Selbstgenügsamkeit hervor, weil das integrierte philosophische Modell seine formale Eigendynamik entwickelt. Diese Gefahr wird am Schluß dieses Kapitels näher zu untersuchen sein. Die Einteilung des Aristoteles wurde bisher sehr formal betrachtet. Eine nähere Untersuchung ihres Inhaltes ergibt sich aus der Frage nach der Beziehung der beiden Lebensformen zum höchsten Gut und Glück des Menschen. 29 30
EN VI,7. A. a. O.; f. Dirlmeier 130. 40
B. Die Beziehung der beiden Lebensformen zum höchsten Glück des Menschen und ihre Rangordnung Am Beispiel des hervorragenden Kitharaspielers erläutert Aristoteles, daß jede Tätigkeit in der ihr eigenen Weise zu der ihr eigenen Vollkommenheit gelangen kann.31 Dementsprechend haben auch die den verschiedenen Ebenen zugeordneten Grundhaltungen ihre besondere Vollkommenheit und die Erfüllung ihres Glücksstrebens. Das gilt für die Kunst ebenso wie für das politische Handeln, das in besonderer Weise sittliche Einsicht erfordert; auf der kontemplativen Ebene gilt es für die wissenschaftliche Sachlichkeit und in besonderer Weise für die philosophische Weisheit. Die beiden Lebensformen stehen also in bezug auf ihre Vortrefflichkeit zunächst gleichrangig nebeneinander. Sie werden von Aristoteles an der ihnen eigenen Vollkommenheit gemessen: »das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit«32. Die jeweiligen Wesensvorzüge, charakterliche und intellektuelle Veranlagungen des Menschen, haben ihren eigenständigen Wert, ihre eigenständige Wertentwicklung und ihre eigenständige Vollkommenheit, in der die höchste Vollkommenheit präsent ist. Diese höchste Vollkommenheit ist freilich für Aristoteles wie für Platon die »theoria« als göttliche Lebensweise des Menschen. Es gibt zwar »mehrere Formen wesenhafter Tüchtigkeit«, aber »im Sinne der vorzüglichsten und vollendetsten«33, d. h. diese Formen können noch einmal untereinander verglichen werden, damit diejenige hervortritt, die die Vollkommenheit am vollkommensten repräsentiert. Die »theoria« repräsentiert nun diese höchste Vollkommenheit am besten und ist darum das höchste Glück des Menschen. Aristoteles führt dafür vor allem zwei Gründe an: sie entspricht der höchsten Fähigkeit des Menschen, und sie entspricht dem Wesen des Göttlichen.34 Die höchste Fähigkeit des Menschen muß diejenige sein, die sich nicht auf das Viele und das Veränderliche, sondern auf das Eine und das Beständige richtet; solcher Art ist aber die intuitive Verstandeskraft, die sich auf die Schau der obersten
31 32 33 34
Vgl. EN I,6. EN I,6; f. Dirlmeier 32. A. a. O. Vgl. EN X,7. 41
Wahrheiten richtet. 35 Das der Schau entsprechende Leben ist zugleich das glücklichste in seiner Reinheit, seiner Beständigkeit und seiner Muße, das unabhängigste in seiner Autarkie gegenüber der Gemeinschaft und das einzige, das seinen Zweck und seinen Gewinn in sich selbst, d. h. in seinem eigenen Vollzug hat. So bestimmt, ist die »vita contemplativa« für Aristoteles göttliche Lebensweise: »Ein solches Leben aber wäre übermenschlich, denn man kann es in dieser Form nicht leben, sofern man Mensch ist, sondern sofern ein göttliches Element in uns wohnt. Und so groß der Unterschied zwischen diesem göttlichen Element und unserer zusammengesetzten Wesenheit ist, so weit ist auch das Wirken des göttlichen Elements von den übrigen Formen wertvoller Tätigkeit entfernt. Ist also, mit dem Menschen verglichen, der Geist etwas Göttliches, so ist auch ein Leben im Geistigen, verglichen mit dem menschlichen Leben, etwas Göttliches.«36 Der Geist (nous) ist also das göttliche Prinzip im Menschen, die geistige Lebensführung göttliche Lebensweise. Das Glück der Götter ist das reine geistige Schauen, das zugleich ihre alleinige Wirksamkeit ausmacht.37 Eine solche Wirksamkeit ist auch die höchste Bestimmung des Menschen, denn sie führt über seine Immanenz, deren Vollkommenheit sich für Aristoteles in der (sittlichen) Staatskunst repräsentiert, hinaus. Das wahre Selbst des Menschen, das zugleich alle Dimensionen des Menschlichen umgreift, kann nicht rein immanent bestimmt werden, es umfaßt auch den Anteil des Menschen an der Göttlichkeit. Nur darin ist das höchste Glück als Beständigkeit, als Unabhängigkeit und als Selbstzweck zu finden: wie das Göttliche, so wird auch die Tätigkeit des Geistes um ihrer selbst willen geliebt.38 An dieser Stelle zeigt Aristoteles auch die religiöse Dimension der »vita contemplativa«: »Wer aber ein aktives Leben des Geistes führt und den Geist pflegt, von dem darf man sagen, sein Leben sei auf das beste geordnet und er werde von den Göttern am meisten geliebt. Denn wenn die Götter, wie man glaubt, sich irgendwie um menschliches Tun und Treiben kümmern, so darf man mit Grund annehmen, daß sie sich nicht nur über das freuen, was den höchsten Wert darstellt und ihnen am verwandtesten ist – das aber ist der Geist –, sondern daß sie auch dem Menschen, der 35 36 37 38
Vgl. EN VI,7. EN X,7; f. Dirlmeier 206. Vgl. EN X,8. Vgl. EN X,7. 42
dieses Höchste am meisten liebt und schätzt, mit Gutem vergelten, weil er sich um das bemüht, was ihnen, den Göttern, nahesteht, und weil sein Handeln richtig und wertvoll ist.«39 Die als ein Leben der Muße, der geistigen Autarkie und der Selbstzwecklichkeit verstandene »vita contemplativa« wird also mit der religiösen Vollkommenheit gleichgesetzt; das Ideal einer philosophischen Religion erscheint als Postulat des Modells. Die Differenz zur christlichen Spiritualität ist hier deutlich sichtbar, eine Gemeinsamkeit besteht eigentlich nur in der transzendenten Bestimmung des Menschen und in dem Versuch einer Vergöttlichung des menschlichen Lebens. Diese Gemeinsamkeit war es jedoch, die letztlich zur christlichen Integrierung des Modells führte. Wenn die Rangordnung der Lebensformen in der Nikomachischen Ethik so eindeutig bestimmt ist, ergibt sich die Frage, was nun noch die Sittlichkeit des Menschen bedeutet, die der Ebene der »vita activa« zugeordnet ist. Diese Frage stellte sich auch Aristoteles in seiner ausführlichen Begründung der Überlegenheit der intellektuellen »vita contemplativa« über die sittliche Einsicht. Die Sittlichkeit gehört nach Aristoteles zu der Natur des Menschen, insofern sie zusammengesetzt ist. Verstand, Charakter und die Regungen des Irrationalen verbinden sich hier miteinander in geordneter Weise. Diese Ordnung beherrscht aber nicht das Leben des Geistigen, sondern dient ihm, denn das Leben des Geistigen ist nicht zusammengesetzt, sondern einfach; es »hat seinen Rang in der Absonderung«40. Die Lösung des Problems lautet also: zwar steht die philosophische Weisheit der »vita contemplativa« rangmäßig über der sittlichen Einsicht, aber die »theoria« setzt die Sittlichkeit voraus. Ein wertvoller Mensch kann niemand sein ohne sittliche Einsicht, und diese wiederum bedarf der tatsächlichen Sittlichkeit.41 Die Ordnung im Bereich der reinen Geistigkeit setzt die Ordnung der Sittlichkeit voraus; das sittliche Handeln der »vita activa« ermöglicht erst die Unabhängigkeit und Selbstzwecklichkeit der »vita contemplativa«. Insofern also die »vita activa« zur »theoria« hinführt, hat sie 39
40 41
EN X,9; f. Dirlmeier 210. An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie sehr Aristoteles die religiöse Dimension in einer speziellen geistigen Tätigkeit lokalisiert. Das ist nur möglich, weil er sich sicher ist, daß von dieser zentralen Tätigkeit auch die ganze Sittlichkeit des Lebens ausgeht. EN X,8; f. Dirlmeier 207. Vgl. EN VI,13. 43
über die ihr genuin eigene Vollkommenheit hinaus Anteil an der höchsten Vollkommenheit. Deshalb können im abgeleiteten Sinne auch der hervorragende Künstler und der hochstehende Staatsmann weise genannt werden.42 Aristoteles schränkt also die Beziehungslosigkeit der »vita contemplativa« wieder ein. Der Bereich des menschlichen Handelns wird zwar in zwei übereinanderliegende Ebenen eingeteilt, aber die eine ist für die andere durchsichtig; die Sittlichkeit für das höchste Leben des Geistigen und das Leben des Geistigen für das Leben der alltäglichen Aktivität: »das Leben des Mannes, der wertvoll handelt, wird glücklich sein«43. Trotz dieser Einordnung in die sittliche und damit auch soziale Voraussetzung sind kontemplative und aktive Ebene bei Aristoteles deutlich getrennt. Die Prinzipien der Theorie und Praxis sind dualistisch auf verschiedene Lebensformen verteilt; die philosophische Lebensweise setzt sich dabei um so mehr von der Praxis ab, als ihr besonderer Wert in ihrer Autarkie und Absonderung liegt. Eine Durchdringung beider Prinzipien oder ein sie umgreifendes Einheitsideal ist bei Aristoteles nicht gegeben, wohl aber in der Kontemplationslehre Platons. Während die systematische Ethik des Aristoteles vor allem das Ordnungsgefüge für die Lebenseinteilung bereitstellt, tritt in der Philosophie Platons die organische Verbindung von Aktion und Kontemplation hervor. Das Einheitsideal Platons ist besonders von A. J. M. Festugière gesehen und untersucht worden. Wir folgen seinen Ergebnissen, die sich vor allem auf das VII. Buch des »Staates« beziehen. 44 Festugière bezeichnet die platonische Kontemplation als eine synoptische Intuition oder eine Gesamtschau, die zugleich die Einheit und Einfachheit des Seins und seine Distinktionen als Ausfaltungen in den alltäglichen Gegebenheiten erfaßt.45 Platon legt nicht nur Wert auf die Reinheit und Absonderung der »theoria« von der Vielfalt der Erscheinungen, sondern auch auf ihre umgreifende Funktion: so wie das Eine das Prinzip des Vielen, das Sein das Prinzip des Seienden, das Gute das Prinzip alles Guten ist, so ist die »theoria« als Gesamtschau Prinzip aller Erkenntnis, auch der praktischen Einzelerkenntnis. Die beste praktische Vernunft ist daher die theoretische Vernunft; der Philosoph ist zugleich der beste Staatsmann. Die 42 43 44 45
Vgl. EN VI,7 und VI,13. EN X,9; f. Dirlmeier 210. Vgl. A. M. J. Festugiére, Contemplation et vie contemplative selon Platon 396–408. Vgl. A. M. J. Festugiére, a. a. O. 186.196.234. 44
Kontemplation schließt zwar die Praxis aus, insofern diese nicht ihr besonderes Objekt ist, sie schließt aber die Praxis ein, insofern alle Objekte nur von ihrer obersten Einheit her richtig erfaßt werden können. Der Philosoph nimmt also eine dialektische Haltung gegenüber der Praxis ein: »d’une part, le mouvement de retraite, le goût du recueillement qui portent le sage à quitter un monde qu’il méprise; d’autre part, l’implication mutuelle de l’idéal et du réel, la subordination de la cité au Bien et du philosophe au Bien de la cité ...«46. Weltflucht und Weltdienst werden in gleicher Weise vom kontemplativen Leben gefordert; das ist nur möglich, wenn die Weltflucht nicht als äußere Zurückgezogenheit, sondern als innerer Vorbehalt gegenüber der Welt der Erscheinungen verstanden wird, die das eigentliche Sein nur abbildet, aber nicht ist. Der Philosoph bedarf zwar im Aufstieg zur Schau der Loslösung, aber er muß, von der umfassenden Schau selbst her gesehen, sich wieder der aktiven Lebensgestaltung zuwenden: »Là-haut, les Nombres purs, immuables, divins, offrent l’exemplaire idéal ... et, les voyant, modèles de la justice et de toute vertu, on atteindra le bonheur. Mais ce bonheur ne sera pas complet si la cité tout entière n’y participe. Le sentiment, qui mène Platon est un sentiment religieux ... la theoria, chez lui, déborde en activité, elle a pour achèvement normal l’apostolat ...«47. Das Wohl der Gemeinschaft und die religiöse Überzeugung verlangen vom Philosophen, daß er das Glück der Schau dreingebe, um die ganze Welt daran teilhaben zu lassen. Das kontemplative Leben wird fruchtbar in der Aktion, die nun nicht mehr aus äußerer Weltverfallenheit, sondern aus innerer Ordnung heraus gesucht wird.48 Bei Platon findet sich also bereits der Gedanke der Fruchtbarkeit der Kontemplation, der später in der christlichen Mystik eine große Rolle spielen sollte. Es ist verständlich, daß das kontemplative Einheitsideal Platons den Kirchenvätern eher Ansatz zu einer christlichen Deutung des Modells »vita activa – vita contemplativa« sein konnte als die Systematik des Aristoteles, die die Zurückgezogenheit des Weisen der Lebensgestaltung gegenüberstellt. Dennoch verbinden sich in der christlichen Integrierung des Modells platonische und aristotelische Elemente, und es findet sich in der gesamten christlichen Tradition bis zur deutschen Mystik kaum ein formales Element des Modells, das sich nicht auf das 46 47 48
A. a. O. 376. A. a. O. 398. Vgl. a. a. O. 357.402. Vgl. a. a. O. 402. 45
philosophische Verständnis bei Platon und Aristoteles zurückführen ließe. Das bedeutet, daß jedwedes Einheitsideal von Kontemplation und Aktion ein kontemplatives Ideal sein mußte; es gelang wohl, die Aktion in das kontemplative Leben zu integrieren, nicht aber, die dem aktiven Leben besonders eigene »Kontemplation« zu erfassen. Das formale Ordnungsgefüge der Philosophie schränkte die theologische Deutung ein.49 Das wird noch deutlicher werden, wenn wir zusammenfassend einen Blick auf die Dimensionen und die Merkmale des philosophischen Modells werfen. C. Die Dimensionen des philosophischen Modells und seine besonderen Merkmale Das Modell »vita activa – vita contemplativa« kann recht verschiedene Gehalte und Färbungen annehmen. Der Grund dafür liegt in seinem Formalismus, der nicht viel mehr besagt als die formale Dualität von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von zentripetalen und zentrifugalen Kräften des Menschen. Man muß also genau auf den jeweiligen Gehalt achten, um die Aussage in ihrer Bedeutung zu erfassen. In dem besprochenen philosophischen Modell überschneiden sich nun die Gehalte, so daß sich das Modell in verschiedenen Dimensionen bewegt. Diese Dimensionen gilt es zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist im philosophischen Modell selbst nicht durchgeführt. Sie bildet deshalb zugleich einen transzendenten Maßstab zu sei 49
Über die Weiterentwicklung des philosophischen Ordnungsgefüges im Bereich der Philosophie, im Platonismus, in der Stoa und im Neuplatonismus vgl. R. Joly, Le thème philosophique des genres de vie dans l’antiquité classique 127–186. Seit Aristoteles ist jedoch das Modell begrifflich präzis entwickelt. Veränderungen betreffen weniger seine Struktur als seine Akzentuierung. So betont der Neuplatonismus besonders die intellektuelle Reinheit des kontemplativen Aufstiegs, während die Stoa ein kontemplatives Einheitsideal als »vita mixta« propagiert, die zugleich das Ideal eines philosophischen Synkretismus ist, der besonders zur Zeit der christlichen Integration des Modells bedeutsam war. Vgl. R. Joly, a. a. O. 188–191.In theologischen Darstellungen des Modells wird immer wieder betont, wie weit sich der christliche Kontemplationsgedanke und die christliche »vita contemplativa« von ihrem griechisch-heidnischen Ausgangspunkt entfernt habe. Vgl. vor allem Th. Camelot, Action et contemplation dans la tradition chrétienne 281 ff. Aber die Umwandlungen im Verlauf der Integration des Modells bei den Vätern (s. u.) betreffen weit weniger die dualistische Struktur des Modells, weil bei aller inhaltlichen Umwandlung die formale Abhängigkeit vom philosophischen Modell erhalten bleibt. 46
ner Beurteilung, einen Maßstab, der erst durch die geschichtliche Ausfaltung einzelner Elemente ermöglicht ist. In der geschichtlichen Ausfaltung hat das Modell in drei Bereichen eine Rolle gespielt: im alltäglichen Bereich, im Bereich der Wissenschaft und im Bereich der Religion. Im alltäglichen Bereich bezeichnet das Modell den Unterschied zwischen leiblichem Handeln und seelischem Tätigsein.50 Dabei wird die Rangordnung klar, wenn man mit Aristoteles das Glück als »Tätigkeit der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit«51 versteht. Die wesenhafte Tüchtigkeit kann für Aristoteles nur im rationalen Bereich liegen. Der irrationale Bereich wird mit der Leiblichkeit zusammen gesehen, und umgekehrt. Daraus ergibt sich, daß die alltägliche Dimension des Modells auch als Gegenüber von Irrationalität und Rationalität gefaßt werden kann. Die Zuordnung von beidem ist von der Überlegenheit der Rationalität bestimmt und geschieht, wenn sich das irrationale Strebevermögen gehorsam und hinhörend zur Rationalität verhält. Von dieser Zuordnung ist freilich bei Aristoteles die Irrationalität insofern ausgeschlossen, als sie rein vegetativ und animalisch ist. Die Merkmale des Modells in der alltäglichen Dimension sind also das Gegenüber von Leiblichkeit und Geistigkeit, die höhere Rangordnung und Wertüberlegenheit des Geistigen und eine Zuordnung beider Bereiche des Handelns im Sinne der Unterordnung des Leiblichen und Irrationalen unter die Rationalität des Menschen. Im Bereich der Wissenschaft unterscheidet das Modell zwischen zwei Formen der Rationalität des Menschen: einer Rationalität, die sich auf das sittlich-ordnende Handeln und auf das Hervorbringen von Werken richtet, und einer Rationalität im eigentlicheren Sinne, die sich auf das selbstzweckliche Erkennen der Wahrheit richtet.52 Dieser Unterscheidung zwischen praktischer und spekulativer Vernunft sind die beiden Lebensformen der »vita activa« und der »vita contemplativa« zugeordnet; das Leben des Wissenschaftlers ist kontemplativ, während das Leben des Politikers und des Künstlers aktiv ist. Von der alltäglichen Dimension des Modells unterscheidet sich diese Dimension dadurch, daß sie sich ganz auf der rationalen Ebene bewegt. Die Zuordnung im alltäglichen Bereich tritt hier als »vita activa« auf: sittliche Ordnung und künstlerisches Werkschaffen. Das kontemplative Leben wird nun näherhin als 50 51 52
Vgl. EN I,8. EN I,10; f. Dirlmeier 36. Vgl. EN VI,2. 47
ein Leben der wissenschaftlichen Theorie charakterisiert. Als solches ist es autark und selbstzwecklich; es kennt keine Dienstfunktion am Menschen oder am Werk und ist deshalb, rein in sich selbst betrachtet, unfruchtbar. Hier ist die Quelle der Gleichsetzung von Kontemplation und Unfruchtbarkeit, Aktion und Fruchtbarkeit in der Geschichte der Spiritualität (z. B. bei Augustinus und Gregor dem Großen), die ihren Audsruck in der typologischen Verbindung des Modells mit den alttestamentlichen Figuren Rachel (als Schöne, aber Unfruchtbare) und Lea (als Häßliche, aber Fruchtbare) gefunden hat. Die Merkmale des Modells in der wissenschaftlichen Dimension sind also die Gegenüberstellung einer spekulativen, unabhängigen und selbstzwecklichen Rationalität und einer auf die praktische Ordnung des eigenen Selbst, der menschlichen Beziehungen oder eines Werkes gerichteten Rationalität sowie die eindeutige Wertüberlegenheit der wissenschaftlichen Autarkie über die praktische Rationalität. Die Zuordnung besteht auf dieser Ebene darin, daß die praktische Ordnung zum kontemplativen Leben in dispositiver Funktion steht; so setzt auch das Leben des Wissenschaftlers die praktische Sittlichkeit voraus. Zum religiösen Modell führt bei Aristoteles und Platon die Intuition des Philosophen, die mehr bedeutet als die wissenschaftliche Fähigkeit, »bündige Schlüsse zu ziehen«53, weil sie über die wissenschaftliche Erkenntnis hinaus »intuitives Verstehen der ihrer Natur nach erhabensten Seinsformen« ist.54 Die Kontemplation im engsten Sinne ist Intuition der höchsten Wahrheit. Eine solche Schau entspricht dem Leben der Götter, Teilhabe an ihr ist Teilhabe am Göttlichen.55 Die philosophische Weisheit ist daher Erfüllung der Religion, das philosophische Leben ist ein religiöses Leben. Da aber die philosophische Weisheit auch die Dimension wissenschaftlicher Erkenntnis umfaßt, entsteht vor allem bei Aristoteles eine rationalistische Religiosität, die die Merkmale der wissenschaftlichen Erkenntnisse integriert: Autarkie, Selbstzwecklichkeit, Unfruchtbarkeit. Die Praxis ist dazu nur Vorbereitung. Das ist bei Platon anders. Der geistige Aufstieg zur höchsten, philosophischen und religiösen Kontemplation wird bei ihm vom Eros begleitet, ist nicht nur rationale, sondern auch affektive Hingabe und Intuition. Die platonische Kontemplation ist umfassender als 53 54 55
EN VI,3; f. Dirlmeier 125. EN VI,7; f. Dirlmeier 130. Vgl. EN X,8. 48
die aristotelische; sie geschieht unter geordnetem Einschluß aller menschlichen Kräfte, und sie wird fruchtbar in allen Bereichen des aktiven Lebens. Platon kennt eine Fruchtbarkeit der Kontemplation, die gerade durch ihre umfassende Schau und ihre Unabhängigkeit ermöglicht ist. Die platonische Kontemplation wird auf ihrem Höhepunkt zur Aktion. Im religiösen Modell gibt es deshalb die »vita activa« als Disposition der Kontemplation (vor allem Aristoteles) und als Fruchtbarkeit der Kontemplation (Platon). Die Loslösung von der Praxis und die Hingabe an die Praxis stehen bei Platon in einem dialektischen Spannungsverhältnis, das bei Aristoteles in der Systematisierung verschwindet. Ein religiöses Einheitsideal von Aktion und Kontemplation ist deshalb zwar bei Platon, nicht aber bei Aristoteles denkbar.56 Das platonische Einheitsideal bleibt jedoch ganz im Bereich des kontemplativen Lebens; die Vorstellungen von der »vita mixta« in der christlichen Spiritualität folgen ihm darin. So gibt es wohl eine Vergeistigung der Aktion durch die Kontemplation, nicht aber eine Verleiblichung der Kontemplation in der Aktion, wie sie das inkarnatorische Denken des Christentums erforderte. In der religiösen Dimension bedeutet das Modell die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz des Menschen. Die Transzendenz des Menschen wird auf die Gottähnlichkeit des Geistes bezogen, die Immanenz auf die äußeren Aktivitäten. So führt die religiöse Dimension wieder zum Ausgangspunkt in der alltäglichen Dimension zurück, bedarf aber bei Platon und Aristoteles des Weges über das wissenschaftliche Erkennen. Der Rationalismus des philosophischen Modells wird dadurch offenkundig; es ist darum verständlich, daß das Modell seine größte Überzeugungskraft im Bereich der Wissenschaft entwickelt. Seine Gültigkeit darin und die daraus folgende Entfaltung des Wissenschaftsgedankens in der Geschichte, die Legitimierung einer theoretischen Wissenschaft überhaupt, sind seine eigentlichen positiven Leistungen. Die Gefahren des Modells bestanden jedoch darin, daß es aus dem ihm genuin zukommenden Bereich in die Religiosität ohne wesentliche Veränderung übertragen wurde. Die Folge davon war eine Vereinseitigung der religiösen Ideale auf die wissenschaftlich-philosophische Lebensform, eine Abwertung der Leiblichkeit 56
Aus diesem Grunde treten in der Aristotelesrezeption des Mittelalters »vita activa« und »vita contemplativa« wieder weit auseinander, während vorher in der christlichen Spiritualität die Spannungseinheit von Aktion und Kontemplation und ihr dynamischer Austausch im Vordergrund standen. 49
und der äußerlich aktiven Lebensformen. Die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz wurde so gelöst, als gebe es eine Lebensform, die unter besonderer Betonung der Transzendenz die Einheit beider Prinzipien zu leisten befähigt war, nämlich das kontemplative Leben, und eine geringere Lebensform, die, verkürzt um die transzendenten Merkmale der Existenz, sich an die immanente Darstellung der menschlichen Existenz ausgab, nämlich das aktive Leben. Auch eine rein philosophische Kritik muß auf die Einseitigkeiten dieses Modells verweisen, das eine bestimmte Lebensform des Menschen, die esoterisch bleiben muß und nicht allen zugänglich ist, zur »menschlichsten« Lebensform erklärt und sie mit allen Merkmalen der Transzendenz zu qualifizieren sucht. Eine theologische Kritik führt noch darüber hinaus und verweist auf den Gegensatz zwischen dem kontemplativen Lebensideal des Philosophen und der Verwirklichung der theologischen Tugenden in einem christlichen Leben der Brüderlichkeit.57
2. Das Modell und das Neue Testament Bevor man das Modell »vita activa – vita contemplativa« in seiner christlichen Integrierung betrachtet, muß man sich fragen, wo der Ursprung und der Grund für diese Integrierung zu sehen ist. Diese Frage verweist uns an das Neue Testament und lautet dann: gibt es biblische Ansätze, die auf das Modell hin angelegt sind, gibt es eine biblische Begründung des Modells? Im Hinblick auf diese Frage muß zunächst konstatiert werden, daß sich das Modell an keiner Stelle des Neuen Testamentes vorfindet, weder im Wort noch in der Sache. Dieser Feststellung steht entgegen, daß ein Teil der Väter nach dem Vorgang des Origenes in der Maria-Martha-Perikope (Lk 10,38– 42) eine biblische Begründung des Modells und seiner Merkmale gesehen hat.58 Demgegenüber ist in neuerer Zeit mehrfach nachgewiesen worden, daß diese Perikope 57 58
Vgl. U. von Balthasar, DTA 23,458–461. Vgl. Origenes, Scholia in Lucam 10,42 PG 17, 351–353; Cyrill von Alexandrien, In Joannem 11,1 ff. PG 74, 39.73; Ambrosius, In Lucam 10,38 bis 42 CSEL XXXII,4, 316 f.; Cassian, Collationes 1,8 PL 49,490 B bis 491 B; Augustinus, Sermo 104, 3.4 PL 38, 617. Diese biblische Begründung des Modells beruht zwar, wie D. A. Csányi am Schluß seiner Untersuchung festsstellt, nicht auf einem »unanimis consensus patrum« (vgl. a. a. O. 78), wird aber seit Augustinus und Cassian ziemlich einheitlich von der mittelalterlichen Exegese übernommen; vgl. Thomas von Aquin, Catena aurea in quatuor evangelia 154–156. 50
nichts für die Wertüberlegenheit hergibt und nicht auf das Modell hin zu interpretieren ist. 59 Der »gute Teil«, den Christus der zu seinen Füßen sitzenden Maria zuspricht, ist die Konzentration auf das in ihm hereinbrechende Gottesreich; 60 sein Tadel gegenüber der geschäftigen Martha bezieht sich nicht auf ihre Arbeit, d. h. den Dienst an seinem leiblichen Wohl, sondern auf ihre Verurteilung der Schwester und ihr Übermaß an weltlicher Besorgtheit.61 Ihren »Sitz im Leben« hat die Perikope in der Reaktion auf die Wanderprediger in der Urkirche; sie wurde als Mahnung an die Hausfrauen verstanden, über der Bewirtung des Gastes nicht die Predigt des Gottesreiches zu vernachlässigen. Das Hören des Wortes und seine bereitwillige Aufnahme ist wichtiger als die Sorge um den Tischdienst,62 jedoch in einer ganz bestimmten Situation der Verkündigung. Diesen Sinn der Perikope hat bereits Chrysostomus genau erkannt.63 Wenn es also weder im Wort noch in der Sache eine biblische Begründung des Modells gibt, wie ist dann die christliche Übernahme des Modells von der Schrift her zu verstehen? Im Zusammenhang mit dieser Frage fällt auf, daß die biblische Begründung keineswegs am Anfang der Übernahme des Modells stand. So benützt schon
59
60 61 62 63
Die ältere Exegese des 20. Jahrhunderts bleibt dieser Tradition verhaftet; vgl. R. Riezler, Das Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nach Lucas, Brixen 1900, 333–337; J. Knabenbauer, Commentarium in quatuor evangelia, Paris 21905, Bd. III, 354. Vgl. E. Laland, Die Martha-Maria-Perikope Lukas 10,38–42, 77 ff.; D. A. Csányi, a. a. O. 5.6.78; A. Kemmer, a. a. O. 355.356; H. Sanson, Leben mit Gott in der Welt 78–80; A. Valensin – J. Huby, Evangile selon saint Luc, Paris 1930, 208; N. Geldenhuys, Commentary on the Gospel of Luke, London – Edinburgh 31956, 316. Vgl. J. Schmid, Das Evangelium nach Lukas (RNT Bd. 3), Regensburg 31955, 196. Vgl. N. Geldenhuys, a. a. O. 316. Vgl. E. Laland, a. a. O. 82; A. Kemmer, a. a. O. 355. Johannes Chrysostomus ist Vertreter der antiochener Exegese im Literalsinn und übernimmt daher die origenistische Allegorese nicht. Das Marien-Lob Christi bezieht sich daher seiner Auffassung nach nicht auf die »vita contemplativa« und deren Wertüberlegenheit, sondern auf Marias Erkenntnis des »kairós«, der in Christus da ist; der MarthaTadel bezieht sich nicht auf ihre gastfreundliche Tätigkeit (»ergásia«), sondern auf ihre Sorge um periphere Dinge (»mérimna«). Vgl. In Joannem, Homilia 44 PG 59, 248. Vgl. dazu D. A. Csányi, a. a. O. 34–47; A. Kemmer, a. a. O. 365. 51
Clemens von Alexandrien das Modell,64 ohne es auf bestimmte biblische Stellen zu beziehen. Eine irrtümliche Auslegung der Maria-Martha-Perikope ist nicht der Grund für die christliche Integrierung des Modells. Das Modell ist von der biblischen Typologie (Maria und Martha, Rachel und Lea, Johannes und Petrus), die ihm erst nachträglich zugeordnet wurde, zunächst weitgehend unabhängig. Der Grund für die christliche Übernahme ist nicht im Neuen Testament zu suchen, sondern in der Begegnung und Auseinandersetzung der christlichen Theologen, vor allem der philosophisch geschulten Theologen, mit der griechischen Philosophie. In dieser Auseinandersetzung mußte die christliche Theologie um der Kommunikation willen in die Sprache der Gegner, die zugleich Sprache der hellenischen Umwelt war, übersetzt werden. So ist z. B. bereits im Neuen Testament die gnoseologische Terminologie des Johannesevangeliums zu verstehen. 65 Dies war eine Aufgabe, die der Selbstbehauptung des jungen Christentums in seiner Umwelt diente und zugleich eine missionarische Tendenz hatte. Wenn heute vor allem die Problematik der Verbindung von Christentum und hellenischer Denkweise gesehen wird,66 so darf nicht die geschichtliche Notwendigkeit dieser Integration übersehen werden. Dieselbe geschichtliche Notwendigkeit führt freilich heute ebenso legitim dazu, die biblische Sehweise von der hellenischen Denkweise an den Stellen wieder zu trennen, an denen die Übernahme des Ordnungsgefüges der griechischen Philosophie zu ideologischen Verfestigungen in der Theologie und in der Spiritualität geführt hat. Wenn die christliche Integrierung des Modells bei den Vätern missionarisch zu verstehen ist, so heißt das, daß das philosophische Modell in seiner tiefsten, religiösen Bedeutung in der Weise zu sich selbst, d. h. zu seiner besten Interpretation, gebracht werden mußte, daß es durchsichtig wurde für die christliche Wahrheit. Das Modell mußte also zu einem Träger der christlichen Wahrheit umgeformt werden. Dieser Aufgabe haben
64 65 66
Vgl. W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus 546 f. 549 f. Vgl. f. Mußner, Die johanneische Sehweise 12–17. Vgl. J. Hessen, Griechische oder biblische Theologie. Das Problem der Hellenisierung des Christentums in neuer Beleuchtung. München – Basel 21962; H. W. Wolff, Wissen um Gott bei Osea als Urform der Theologie. (Theol. Bücherei Bd. 22) München 1964; Th. Bomann, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. Göttingen 21954. C. Tresmontant, Biblisches Denken und hellenische Überlieferung. 52
sich die Väter angenommen. Inwieweit sie gelungen ist, muß die geschichtliche Untersuchung erweisen, die den Auffassungen der einzelnen Theologen nachgeht. Ein dreifacher Maßstab ist dabei erforderlich: das Neue Testament, die geschichtliche Situation der einzelnen Theologen und die heutige theologische Wahrheitsinterpretation. Man könnte nun einwenden, daß die Verwendung des Neuen Testamentes als Maßstab von vorneherein zu einer negativen Beurteilung des Modells führen muß, wenn es weder im Wort noch in der Sache eine biblische Begründung des Modells gibt. Das hieße aber, alle theologischen Aspekte »expressis verbis« in der Schrift suchen zu wollen. Die Legitimität einer christlichen Tradition ist nicht nur dann gegeben, wenn sie im Wortsinn der Schrift gefunden werden kann, sondern auch dann, wenn sie sich unter Verwertung biblischer Ansätze nicht im Gegensatz zur Schrift und ihrer Aussagerichtung entfaltet. Von daher gesehen kann nach biblischen Ansatzpunkten für das Modell »vita activa – vita contemplativa« auch dann gefragt werden, wenn es sich hier um ein Modell rein philosophischen Ursprungs handelt. Hier wird also keine biblische Begründung des Modells gesucht, sondern die biblische Ausgangsbasis, die eine christliche Deutung des Modells ermöglichte. Das Gelingen der christlichen Integrierung bedurfte der biblischen Ermöglichung. Das christliche Modell der Väter geht zwar von einem philosophischen Ordnungsgefüge aus, aber es mißt sich an der Theologie des Neuen Testamentes. Wenn also nach den einzelnen christlichen Veränderungen am Gehalt des Modells gefragt wird, so muß ihr Ursprung im Neuen Testament gesucht werden.67 67
In den Untersuchungen über Aktion und Kontemplation wird zwar die christliche Sinngebung der Kontemplation immer wieder betont – Gebet und Liebe statt intellektueller Leistung; vgl. Th. Camelot, a. a. O. 290 f.; H. Sanson, a. a. O. 53–59 –, aber eine Gegenüberstellung von griechisch-philosophischer und biblischer Struktur der Lebensformen steht noch aus. Th. Camelot beschäftigt sich zwar mit dem Strukturunterschied, aber das, was er als christlichen Fortschritt herausstellt, entspricht durchaus dem platonischen Aufstieg zur Kontemplation: »il ne s’agit plus d’opposer deux formes de vie irréductibles l’une á. l’autre ... mais de distinguer dans le progrès spirituel deux étapes ...« (A. a. O. 282). Gerade diese Auffassung der Stufenfolge von Aktion und Kontemplation ist problematisch, weil sie zur Ideologie einer höchsten speziellen Spiritualitätsform führt, für die der immanente Aufgabenbereich nur Vorstufe ist. 53
A. Die pneumatisch-eschatologische Existenz des Christen Das philosophische Modell entstand aus der philosophischen Anthropologie, näherhin aus der Vorrangigkeit der Geistseele (nous) gegenüber den leiblichen und irrationalen Funktionen des Menschen. 68 Seine Merkmale sind: die Einteilung des menschlichen Lebens nach den beiden Funktionsmöglichkeiten der Rationalität und die Wertüberlegenheit des kontemplativen, gottähnlichen Lebens über die sittliche und künstlerische Praxis. Bei Aristoteles liegt der Akzent auf den Merkmalen der Unterscheidung und Rangordnung, d. h. Selbstzwecklichkeit, Autarkie und Unfruchtbarkeit; bei Platon liegt der Akzent auf dem Einheitsideal, das sich aus der kontemplativen Gesamtschau begründet. In diesem Einheitsideal ist das aktive Leben als sittliche Integrität Vorbereitung der Kontemplation und als Werk die höchste Frucht der Kontemplation. Dem Ansatz in der philosophischen Anthropologie steht die biblische Anthropologie gegenüber. Nach der biblischen Anthropologie umfassen die Merkmale des menschlichen Lebens jeweils den ganzen Menschen.69 Die Gottebenbildlichkeit bezieht sich also nicht auf die kontemplative Gottähnlichkeit des Geistes, sondern auf den ganzen Menschen. Auch die Gestaltung des Leiblichen, Sinnlichen, Materialen bezeichnet die Gottebenbildlichkeit;70 der aktive Umgang mit den Dingen darf also nicht von vorneherein gegenüber »geistigeren« Funktionen des Menschen abgewertet werden. Der philosophischen Gottähnlichkeit steht die Leiblichkeit gegenüber, der biblischen Gottebenbildlichkeit die Sünde, die wiederum den ganzen Menschen erfaßt und nicht bestimmte mindere Teile. 68
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70
U. v. Balthasar nennt deshalb das antike Ideal der Kontemplation einen »Idealzustand der Vernunftnatur« (DTA 23,453). Vgl. J. Schmid, Art. Biblische Anthropologie, in: LThK Bd. 1, 607: »Daß physische Organe, wie die Nieren und die Eingeweide oder die Gebeine oder das Fleisch überhaupt als Träger höchster geistiger Funktionen verstanden werden können, während umgekehrt von der ruach wie der näphäsch auch physische Bedürfnisse, wie Hunger und Durst, ausgesagt werden können, beweist, daß für das hebräische Denken die verschiedenen ›Teile‹ des Menschen nicht strikte Gegensätze, sondern nur verschiedene Aspekte der einen lebendigen Persönlichkeit sind.« Vgl. C. Tresmontant, Bibl. Denken u. hellen. Überlieferung 142.160.161. 54
In der philosophischen Anthropologie hat das »Religiöse« seinen Sitz in einer besonderen Fähigkeit des menschlichen Geistes, d. h. in der intuitiven Wahrheitsschau des Intellektes, zu der die einzelnen Menschen mehr oder minder begabt sind. Die religiöse Gemeinde ist deshalb ebenso wie die Philosophenschulen ein esoterischer Kreis. Solche Einschränkungen sind der christlichen Religiosität unbekannt. 71 Die christliche Religiosität umgreift den Menschen in allen seinen Merkmalen und Verfaßtheiten. Jede Anlage des Menschen ist vom Anruf Gottes betroffen. Die Vorstellung von einem persönlichen Gott, der schaffend und erlösend in das Weltgeschehen eingreift, läßt jeden Menschen in seiner Lebensweise unmittelbar vor Gott stehen und ermöglicht die Gottbegegnung auch an den kleinsten Zeichen der irdischen Wirklichkeit. Für die biblische Anthropologie ist also mit verschiedenen Lebensformen des Menschen nicht auch schon eine religiöse Wertung unter ihnen gegeben; vielmehr muß jede Lebensform in ihrer religiösen Bedeutung erfaßt werden. Die Einteilung in aktive und kontemplative Lebensformen, die sich aus der Erfahrung bestätigen läßt, ist als solche noch nicht religiös relevant, es sei denn, insofern jeder Mensch in der ihm entsprechenden Lebensform seine Heilsberufung verwirklichen muß. In ihrem Ursprung gehört diese Einteilung jedoch nicht in die religiöse Dimension, 72 sondern zum Verständnis der irdischen Wirklichkeit. In die religiöse Dimension gerät das Modell erst, wenn sich Aktion und Kontemplation auf die immanenten bzw. transzendentalen Merkmale der christlichen Existenz beziehen. Dies ist dann gegeben, wenn das kontemplative Leben im Sinne der pneumatisch-eschatologischen Existenz des Christen verstanden wird, wie das bei den Vätern geschieht. Erst durch dieses Verständnis gerät das Modell in eine nähere Beziehung zum Neuen Testament. Wenn nach der Grundlage dieses Verständnisses gefragt wird, so darf diese nicht in der Einteilung des Modells gesucht werden, sondern im kontemplativen Lebensideal, wie es vor allem Platon ausgeformt hat, d. h. in der umgreifenden Bedeutung
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72
Wenn sie auftauchen, dann entziehen sie sich der Orthodoxie, wie das Zwei-KlassenChristentum der messalianischen Mönche des 4./5. Jahrhunderts, die die unablässige Gebetskontemplation der Vollkommenen dem aktiven Dienst der Unvollkommenen gegenüber stellte. Vgl. A. Kemmer, a. a. O. 357 bis 364. Vgl. U. v. Balthasar, DTA 23,434.435. 55
der religiösen Wahrheitsschau, die ethische, erkenntnistheoretische und ontologische Elemente integriert. Platonische Kontemplation ist der transzendentale Fluchtpunkt, in dem alle einzelnen Wirklichkeiten des Lebens konvergieren und in ihrer Differenziertheit verwirklicht werden. Dem entspricht im christlichen Verständnis die Glaubensgnosis, die liebende Verbindung mit Gott und die Suche nach seinem Heilswillen im Gebet. Der Unterschied zwischen philosophischer und christlicher Kontemplation besteht also darin, daß an die Stelle der entscheidenden Verstandestugenden, wie sie besonders Aristoteles behandelt hat,73 die theologischen Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung treten. 74 Dazu kommt ein entscheidender Unterschied in der Grundlage der Kontemplation: sie basiert nun nicht mehr auf dem intellektuellen Fähigkeiten, sondern auf den Merkmalen der christlichen Existenz. Das bedeutet, daß nicht mehr der »nous« entscheidende Bedeutung hat, sondern das »pneuma« Christi, das durch die Taufe dem Menschen zuteil wird. Nicht mehr die natürliche Veranlagung, sondern die sakramentale Begnadung des Menschen ist entscheidend, nicht mehr die Leistung des Menschen, sondern das Heilshandeln Gottes an ihm.75 Diese Umwandlung des Kontemplationsgedankens verändert auch das Modell »vita activa – vita contemplativa«. Es bezeichnet nun die Spannung zwischen eschatologischer Heilsberufung und immanenter Heilsverwirklichung. 76 Es ist deutlich, daß diese Spannung nicht dem Gegensatz von Aktion und Kontemplation im philosophischen Modell entspricht, denn sie läßt sich nicht auf besondere Fähigkeiten und Tätigkeiten des Menschen festlegen, und die verschiedenen Merkmale entsprechen nicht mehr verschiedenen Lebensweisen, sondern verschiedenen Akzentuierungen 73 74
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Vgl. EN VI. Vgl. H. Sanson, a. a. O. 19–23. Sanson bezieht die Beschauung vor allem auf Hoffnung und Gebet, jedoch sollte das keine Einschränkung sein. In der christlichen Tradition gehört sie seit Clemens und Origenes in den Bereich aller theologischen Tugenden; wenn die Kontemplation auch nicht jeweils mit ihnen konvertibel ist, weil sie Glaube, Hoffnung und Liebe in einer besonderen Weise vergegenwärtigt, so ist sie doch mit ihnen stets in Korrelation. Vgl. H. Sanson, a. a. O. 88. Die thomanische Begründung der Eignung zu den aktiven bzw. kontemplativen Lebensformen in S.th. 2–2 q 179 ist deshalb nicht vollständig, weil sie die spirituelle Berufung nur an den rationalen Begabungen orientiert. Vgl. U. v. Balthasar, DTA 23,435. Vgl. H. Sanson, a. a. O. 88. 56
der Lebensweisen. Eine Rangordnung kann es dabei nur im Sinne der größeren Liebe geben, im Sinne des eschatologischen Vorbehaltes gegenüber dieser Weltzeit und der christlichen Freiheit von ängstlicher Sorge. Diese Rangordnung kann jedoch nun nicht mehr rein theoretisch entschieden werden, sondern nur noch in der Beurteilung der jeweiligen Verwirklichung des kontemplativen bzw. des aktiven Lebens. Eschatologische Heilsberufung und immanente Heilsverwirklichung betreffen alle Lebensformen des Christen, wenn auch in verschiedener Weise. Diese verschiedene Weise besteht aber nicht darin, daß einige Lebensformen die eschatologische Heilsberufung darstellen und andere die immanente Heilsverwirklichung, sondern darin, daß einige Lebensformen eschatologische Heilsberufung und immanente Heilsverwirklichung in der Weise darstellen, daß die eschatologische Heilsberufung in besonderer Weise zum Ausdruck kommt und daß andere Lebensformen beides in der Weise darstellen, daß die immanente Heilsverwirklichung in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. So integriert die christliche »Kontemplation« im Gegensatz zur Autarkie der philosophischen Kontemplation die Fruchtbarkeit im Bruderdienst und im schöpferischen Werkschaffen, ohne ihre kontemplative Akzentuierung zu verlieren, während die christliche Aktion die kontemplative Glaubenserkenntnis und Gebetshoffnung impliziert, ohne ihre aktive und weltzugewandte Akzentuierung zu verlieren. »Vita activa« und »vita contemplativa« stellen also im christlichen Sinn jeweils die Einheit von Aktion und Kontemplation dar, jedoch in verschieden akzentuierter Weise. Diese verschiedene Akzentuierung läßt sich nicht allgemein feststellen, sondern nur in den jeweiligen Spiritualitätsformen darstellen, denn immer ist es das christliche Einheitsideal, das zur Darstellung kommt, sei es, daß man die Spiritualität des aktiven Lebens oder die des kontemplativen Lebens beschreibt.77 Daraus erklärt sich auch, daß man im Neuen Testament kein theoretisches Auseinander von Aktion
77
Vgl. a. a. O.: »Das beschauliche Leben ist ... die Übung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe im ›Jetzt-Schon‹ der Endzeit; das tätige Leben ist ebenfalls eine Übung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, aber im ›Noch-Nicht‹ der Endzeit.« 57
und Kontemplation vorzufinden vermag, sondern immer nur Einheitsvorstellungen. Solche Einheitsvorstellungen sollen nun, ausgehend von biblischen Begriffen, im Neuen Testament gezeigt werden.78 B. Erkenntnis und Liebe79 Die christliche Glaubenserkenntnis ist keine intellektuelle Leistung, sondern begnadete Antwort auf die Heilsberufung durch Gott. Dem Erkennen des Menschen geht das Erkanntsein durch Gott voraus.80 Gottes Erkennen des Menschen ist ein personales, liebendes Erfassen des Menschen, das in der Erwählung seinen Grund hat und im Heilshandeln Gottes sichtbar wird. Die erkennende Antwort des Menschen richtet sich deshalb auf den Reichtum der Zuwendung Gottes und auf sein geschichtliches Heilswerk.81 Für Paulus ist diese Erkenntnis immer Glaubenserkenntnis, die von der Liebe durchformt ist und ihrerseits die Liebe befruchtet.82 Nach 1 Kor 13 wird das Charisma der Glaubensgnosis einerseits von der zukünftigen Gottesschau abgegrenzt (13,8–12) und andererseits auch in diesem Leben eindeutig unter das Primat der Liebe gestellt (13,13). Wir »wandeln im Glauben und nicht im Schauen« (2 Kor 5,7); deshalb kann sich kein Mensch in überheblichem Sinn auf seine Gnosis berufen83 und 78
79
80 81 82 83
Diese indirekte Methode ist die einzige Möglichkeit, vom Neuen Testament her die Struktur des Modells zu betrachten, ohne eine Fragestellung an die Schrift heranzutragen, die ihr nicht adäquat ist. Thomas von Aquin konnte noch eine Harmonie zwischen acht aristotelischen und acht biblischen Gründen für die kontemplative Wertüberlegenheit aufstellen (vgl. S.th. 2–2 q 182 a 1 resp.); diese Harmonie war nur möglich durch ein vom philosophischen Modell bereits beeinflußtes Schriftverständnis, das in der MariaMartha-Typologie des Origenes seinen Ausgangspunkt hat und besonders von Augustinus ausgebaut wurde. Vgl. zum Ganzen: J. Mouroux, L'expérience chrétienne dans la première épître de saint Jean; f. Mußner, Die johanneische Sehweise 26 ff., 52 ff.; J. Dupont, Gnosis 379–417; H. Schlier, Glauben, Erkennen und Lieben nach dem Johannesevangelium; R. Schnackenburg, Art. Erkennen (biblisch), in: LThK Bd. 3, 996–1000. Vgl. Gal 4,9; 1 Kor 1,5. Vgl. Eph 1,18 ff., 3,18 ff. Vgl. Eph 3,19; Phil 1,9; Tit 1,1. Vgl. 1 Kor 8,1 f.; Röm 11,34. 58
sich der tätigen Liebe entziehen.84 Dementsprechend zeichnet sich der Christ in dieser Welt durch seine Verbindung von Erkenntnis und Liebe aus; der Sprachgebrauch des Apostels zeigt, wie nahe sie beieinander liegen und sich gegenseitig durchdringen.85 Diese Durchdringung wird in den johanneischen Schriften noch deutlicher. Auch hier ist die Erkenntnis personal verstanden und an die liebende Gemeinschaft mit Gott in Christus gebunden.86 Sie geschieht im Glauben und aus der Kraft des Heiligen Geistes.87 Die liebende Zuwendung zu Gott in der Erkenntnis ist nur echt, wenn sie sich in der Bruderliebe bezeugt.88 F. Mußner, H. Schlier, R. Schnackenburg u. a. betonen die Christozentrik der johanneischen Liebeserkenntnis.89 Die Selbsterschließung Gottes in Christus bedeutet auch die Aufschließung der Erkenntnis und der Liebe für diejenigen, die den Sohn im Glauben sehen. J. Mouroux zeigt, daß die christliche Liebeserkenntnis, »l’expérience chrétienne«, im 1. Johannesbrief etwas anderes ist als die intellektuelle Kontemplationslehre eines Aristoteles. Die christliche Liebeserkenntnis geht von der Gemeinschaft mit Gott aus. Gott ist das Licht der Wahrheit und der Ursprung der Liebe. Durch Christus ist die Gemeinschaft mit ihm eine »immanence réciproque« geworden:90 »Wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater« (1 Jo 2,23). Das Insein in Christus bedeutet die göttliche Durchdrungenheit des Menschen und stellt ihn vor die Aufgabe: »bleibet in ihm«91, d. h. jede Tätigkeit soll die Immanenz von Christ und Christus bezeugen. »Notre être chrétien est un être-dans le Christ, parce-qu’il est un être-de Jésus-Christ, dont toute la 84 85 86 87 88 89
90 91
Vgl. 1 Kor 4,6 ff., 8,10 f. Vgl. Eph 3,19; Phil 1,9. Vgl. R. Schnackenburg, a. a. O. 999. f. Mußner, a. a. O. 52.53. Vgl. a. a. O. Vgl. a. a. O. Vgl. f. Mußner, a. a. O. 52.53: »Der liebende Blick des Glaubenden richtet sich auf Jesus Christus und ›erkennt‹ in ihm Gott; denn ›wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen‹ (Jo 14,9). Vgl. H. Schlier, a. a. O. 290, zur Weinstockrede (Joh 15). Vgl. R. Schnackenburg, a. a. O. 999. J. Mouroux, a. a. O. 385. Vgl. 1 Jo 2,6.28; 3.24; 4,12.16; 5,20. Vgl. J. Mouroux, a. a. O. 386. 59
force est de nous faire être-à Jésus-Christ, par la foi et l’amour.«92 Die christliche Liebeserkenntnis steht zwischen Inkarnation und Parusie; sie hat deshalb »une dimension dynamique: le rapport actif d’un germe à son épanouissement« 93 . Der dynamische Fortschritt der Liebeserkenntnis ist ein Seinsfortschritt, eine fortschreitende Seinsverwandlung in das Sein Christi. Darum lebt die Liebeserkenntnis in der Hoffnung auf die vollendete Sohnschaft. 94 Das Leben des Christen versucht die unaufhörliche Annäherung in Sein, Erkennen, und Lieben an das vollendete Sein des Christen in Christus. »D’un mot: pour le chrétien ici-bas, l’inachèvement ontologique entraîne l’inachèvement noétique; ce double inachèvement est tendu, de tout son élan, vers l’achèvement définitif, ontologique et noétique; et cet élan inscrit l’espérance et l’effort de sainteté au coeur de l’expérience chrétienne.«95 J. Mouroux hat auch die Kriterien und die Prinzipien der johanneischen Liebeserkenntnis klar herausgestellt. Die Kriterien sind das Sündenbewußtsein, der Kampf gegen die »Welt«, die Treue zu Christus und die Bruderliebe. »Welt« tritt dabei im Sinne der Region der von Satan regierten christusfeindlichen Mächte auf.96 Alle diese Kriterien werden später von den christlichen Kontemplationsmystikern der philosophischen Kontemplation gegenübergestellt; das gleiche gilt für die Prinzipien der christlichen Liebeserkenntnis, die theologischen Tugenden und die Kraft des Heiligen Geistes im Menschen.97 So liegt im 1. Johannesbrief eine Quelle christlicher Mystik vor, aus der alle großen Mystiker geschöpft haben. J. Mouroux stellt am Schluß seiner Untersuchung zwei gegensätzliche Züge der johanneischen Liebeserkenntnis heraus, den Einheitsgedanken und die Dynamik.98 Die Liebeserkenntnis setzt die Einheit ontologisch voraus; sie ist immer schon durch Christus im Heiligen Geist mit dem Vater verbunden und in das trinitarische Leben hineingezogen. Ohne diese Einheit am Anfang und am Ende wäre die dynamische 92 93 94 95 96 97
98
J. Mouroux, a. a. O. 387. A. a. O. 388. Vgl. a. a. O. 388–390. A. a. O. 390. Vgl. a. a. O. 396–399. Vgl. I Jo 2,15–18. Vgl. a. a. O. 403–410. Vgl. zum Weiterwirken von 1 Jo, besonders Kap. 4, E. Gilson, Die Mystik des hl. Bernhard von Clairvaux, Wittlich 1936, 49–52. Vgl. a. a. O. 410–412. 60
Entfaltung der christlichen Liebeserkenntnis nicht möglich. So bedingen sich Einheit und Dynamik: »il n’y a pas d’agir spirituel sans une communion divine au moins ébauchée; il n’y a pas de communion réelle sans un agir généreux. L’agir spirituel est le fruit de la communion, puisqu’il y puise son élan; il en est la condition, puisque, seul, il la maintient; il en est le signe, puisqu’il en révèle la présence efficace.«99 An der christlichen Liebeserkenntnis zeigt sich also die Integration aller Merkmale der christlichen Existenz, so auch die Integration von Aktion und Kontemplation, von immanenter Dynamik der Heilsverwirklichung in der Welt und transzendenter Einheit mit dem göttlichen Sein. »L’expérience chrétienne, telle que la présente saint Jean, est une expérience intégrale ou elle n’est pas.«100 Die christliche Liebeserkenntnis, in der sich die theologischen Tugenden durchdringen, kann also nach dem Neuen Testament nicht wie die philosophische Kontemplation einer aktiven Lebensform gegenübergestellt werden, sondern sie integriert auch sie. Das Gegensatzpaar Aktion und Kontemplation ergänzt sich in der Einheit der christlichen Existenz und ihrer Verwirklichung im Leben. Wenn man dies voraussetzt, drängt sich die Frage auf, inwiefern die Unterscheidung »vita activa« und »vita contemplativa« als Gegensatz noch für die Geschichte der christlichen Spiritualität bedeutsam werden konnte. Diese Frage entscheidet sich nicht in der Dimension von Glaube und Liebe, die in der christlichen Liebeserkenntnis oder Gotteserfahrung zusammenwirken, sondern in der Dimension Hoffnung. H. Sanson hat in seinem Buch über die Spiritualität des tätigen Lebens dem Glauben in besonderer Weise die Erkenntnis, der Liebe in besonderer Weise die Tätigkeit und der Hoffnung in besonderer Weise das Gebet zugeordnet.101 Dieser Ansatz erweist sich als sehr fruchtbar für die Beschreibung der Spiritualität im Lichte der theologischen Tugenden. Dennoch beinhaltet er eine gewisse systematische Festlegung, die von Sanson selbst wieder im Verlauf seiner Untersuchung insofern aufgehoben wird, als er die Tätigkeit auf alle drei Dimensionen, Gebet, Erkenntnis und Liebe bezieht. Auch die Tätigkeit ist von der Hoffnung betroffen und muß in ihrer Dimension gesehen werden. Wir glauben nun, daß dies in so entscheidendem Maße der Fall ist, daß die Dynamik der Tätigkeit gerade auf die Dimension Hoffnung verweist und hier 99 100 101
A. a. O. 411.412. A. a. O. 412. Vgl. Leben mit Gott in der Welt 25. 61
der Haltung des betenden Menschen begegnet. Da aber das Gebet der »vita contemplativa«, die Tätigkeit aber naturgemäß der »vita activa« zugeordnet wird, stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis in der Dimension Hoffnung, und darin ist das neutestamentliche Verständnis zu untersuchen. C. Gebet und Tätigkeit102 Im biblischen Verständnis von Gebet und Tätigkeit scheinen »Kontemplation und Aktion« in besonderer Weise auseinanderzutreten. So wurde das sogenannte »unaufhörliche« Gebet bei Lukas (18,1) und Paulus (1 Thess 5,17) in den Rang eines »klassischen Zitats« (Auer) für die Eigenständigkeit und die Wertüberlegenheit des kontemplativen Lebens erhoben.103 Wie in der traditionellen Auslegung der MariaMartha-Perikope liegt auch hier ein exegetisches Mißverständnis vor. Nach J. Schmid bedeutet das »pantote proseuchesthai ... kai me egkakeiv« (Lk 18,1) nicht die Forderung eines unaufhörlichen Gebetes, sondern die Forderung, in jedem Anliegen zu beten und nie an der Kraft des Gebetes zu zweifeln.104 Das folgende Gleichnis von der Bittstellerin legt diese Deutung nahe: »Christus befiehlt uns nicht, ohne Unterlaß zu beten, sondern inständig, wachsam, beharrlich zu beten, was aber nicht dasselbe ist.« 105 Auch die Paulusstelle »adialeiptos proseuchesthe« (1 Thess 5,17) darf nicht einseitig verstanden werden, wie ihr Kontext zeigt. Das »Gebet ohne Unterlaß« steht hier in der Folge von vier Aufrufen (Liebesdienst, Freude, Gebet, Dankbarkeit), von denen die drei anderen durch »pantote« bzw. »en panti« eingeleitet werden. Auch hier ist weniger die zeitliche Unaufhörlichkeit gemeint als die umfassende Bedeutung »in jeder Hinsicht«, die das »en panti« nahelegt. Die Vergleichsstelle Röm 12,12 steht 102
103
104 105
Vgl. zum Ganzen: A. Auer, Christsein im Beruf 38–42; R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testamentes (Handbuch der Moraltheologie, hrsg. von M. Reding, Bd. 6), München 21962, 91–99; H. Rondet, Die Theologie der Arbeit, ein Entwurf. Aus dem Französischen übertragen von E. Beck, Würzburg 1956; A. Vögtle, Art. Arbeit (biblisch), in: LThK Bd. 1 801–803; H. Sanson, a. a. O. 94–123. Vgl. auch Lk 21,36; Röm 12,12. Vgl. die Bemerkungen für die Folgen in der Geschichte der Spiritualität bei A. Auer, Christsein im Beruf 234 und H. Sanson, Leben mit Gott in der Welt 60–69. Vgl. Das Evangelium nach Lukas (RNT Bd. 3), Regensburg 31955, 279. H. Sanson, a. a. O. 63. 62
in einem ähnlichen Zusammenhang und verbindet das Ausharren im Gebet mit der freudigen Hoffnung des Christen, bezieht sich also auf die allgemeine Haltung des Christen und nicht auf eine besondere unaufhörliche Gebetspraxis.106 Eine genauere Untersuchung der Schriftstellen läßt also sehr daran zweifeln, ob sie als Ausgangspunkte oder Argumente für eine rein kontemplative Lebensführung oder gar für deren Wertüberlegenheit ausgewertet werden können. Nach den beiden Paulusstellen ist es zudem unzulässig, das Gebet in der Hoffnung der Tätigkeit, sei es dem Bruderdienst oder der alltäglichen Arbeit, scharf gegenüberzustellen und davon abzugrenzen. Im ersten Thessalonicherbrief, der ersten Schrift des Neuen Testamentes, in der durch die noch ungebrochene Naherwartung der Parusie die Dimension Hoffnung besonders klar hervortritt, steht die Gebetsermahnung in einer Reihe mit der allgemeinen Bereitschaft des Christen für die Ankunft des Herrn: »Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch ganz und gar, damit euer Geist (pneuma), eure Seele und euer Leib völlig untadelhaft erhalten seien bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus« (5,23). Zu dieser allgemeinen Bereitschaft, die aus der Heiligung durch Gott stammt, gehört aber auch die Heiligung der Tätigkeit. Paulus nennt die Heilssorge der Vorsteher (5,12) und den allgemeinen Bruderdienst (5,14.15). Die Gebetsermahnung bedeutet keinen eschatologischen Rückzug aus der Welt und der Gemeinschaft. Mit besonderem Nachdruck gegenüber eschatologistischen Schwärmern betont deshalb Paulus im zweiten Thessalonicherbrief den Wert und die Würde der menschlichen Arbeit. Die Dimension der Hoffnung auf die Ankunft des Herrn ist keine Dimension der Muße, die eine Gebetskontemplation im Sinne der griechischen Selbstgenügsamkeit der Schau für sich beanspruchen würde, sondern sie integriert die geordnete Tätigkeit des Menschen: »Nun haben wir gehört, daß einige unter euch einen unordentlichen Lebenswandel führen, nichts arbeiten, sondern sich herumtreiben. Solchen Leuten befehlen wir streng im Herrn Jesus Christus, daß sie mit (innerer) Ruhe (meta hesychias) ihre Arbeit tun und ihr selbstverdientes Brot essen. Ihr
106
Vgl. zur Exegese: M. Dibelius, An die Thessalonicher II (Handbuch zum Neuen Testament, hrsg. von H. Lietzmann, Bd. 11), Tübingen 31937, 30.31; A. Oepke, Die Briefe an die Thessalonicher (Das Neue Testament Deutsch, hrsg. von P. Althaus und J. Behm, Teilband 8), Göttingen 41949, 143; K. Staab, Die Thessalonicherbriefe (RNT Bd. 7), Regensburg 1955, 43. 63
aber, liebe Brüder, laßt nicht noch darin, eure Tätigkeit gut zu verrichten (kalopoiountes)« (3,11 bis 13).107 So treten also im neutestamentlichen Verständnis Gebet und Tätigkeit keineswegs im Sinne des philosophischen Modells »vita activa – vita contemplativa« auseinander, sondern sie begegnen sich in derselben Dimension, in der hoffenden Bereitschaft auf den ankommenden Herrn. Auch im Römerbrief sind Hoffnung und Gebet ganz von den Forderungen der Bruderliebe eingerahmt: brüderliche Achtung (12,10), Hilfe in der Not und Gastfreundschaft (12,13). Das theologische Verständnis der Arbeit ist in den Paulusbriefen allgemein positiv gehalten, und wenn auch eine Theologie der Arbeit fehlt,108 so wird doch das aktive Leben nirgends an einer besonderen kontemplativen Lebensform abgewertet. Im Gegenteil: Paulus versteht die verschiedenen Aufgaben in der Kirche als Tätigkeiten, die nicht aneinander gewertet werden, sondern die alle, auf ihre Weise, die christliche Existenz verwirklichen und in ihrer Fülle darstellen (vgl. Röm 12,6–8; 1 Kor 12). Dabei treten freilich in der Heilsverkündigung besonders die Tätigkeiten des apostolischen Amtes und des Bruderdienstes hervor;109 solche Hervorhebungen haben dann in der christlichen Integrierung des Modells immer wieder zu einer Rechtfertigung der »vita activa« geführt, zumal auch die Kontemplationsmystiker nicht umhin konnten, in Christus und den Aposteln auch das Vorbild des aktiven Lebens zu sehen.110 Freilich beschränkte sich diese Rechtfertigung auf die Predigt und Lehre des aposto 107
108 109 110
Das Verständnis von »kalopoioûntes« ist hier bei den Exegeten nicht einheitlich. K. Staab übersetzt mit »Gutes tun« (a. a. O. 62), aber M. Dibelius bemerkt wohl mit Recht: »Die Kontrastwirkung (zu den Müßiggängern und Herumtreibern) ginge allerdings verloren, wenn ›kalopoiûntes‹ hier ›wohltun‹ hieße« (a. a. O. 55). A. Oepke übersetzt: »Werdet nicht lässig in rechtschaffenem Wandel!« (a. a. O. 151). Das trifft auch nicht den Kern, denn es geht hier um »Arbeit und selbstverdientes Brot«. Die Stelle ist ein Beleg dafür, daß bei Paulus »die eschatologische Naherwartung ... den Einsatz in irdischen Aufgaben keineswegs aus(schließt)« (A. Auer, Christsein im Beruf 39). Vgl. A. Auer, a. a. O. 38. Vgl. Gal 4,19; 1 Tim 5,17; 2 Tim 4,5 (Amt); Gal 2,10 (Bruderdienst). Vgl. Thomas von Aquin, S.th. q 40, a 1 ad 2 und a 2 ad 3; Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 124,4 PL 35, 1972 C (Petrus als das besondere Vorbild des aktiven Lebens und damit der weltimmanenten Führung der Kirche). 64
lischen Amtes und die christliche Sozialfürsorge als »necessitas caritatis« (Augustinus). Das schöpferische Werkschaffen, die christliche Berufsarbeit, wurde dagegen von den Vätern weitgehend vernachlässigt, sobald sie vom Modell »vita activa – vita contemplativa« her argumentierten. Im Neuen Testament ist dieser Bezug zur alltäglichen Arbeitsleistung noch gegeben: Paulus verweist oft auf seinen Selbstunterhalt durch die Zeltweberarbeit,111 die Apostel Petrus und Johannes geben auch als Jünger Christi ihren Fischerberuf nicht ganz auf, und viele der ersten Christen übten geachtete Berufe in der heidnischen Umwelt aus. Im Neuen Testament schließt »die höhere Berufung in den Dienst Gottes ... wie im Alten Testament die treue Erfüllung der Erdenpflichten stillschweigend mit ein«112. Eine Überhöhung dieser Arbeitsauffassung als Pflichterfüllung findet sich Kol 3,17: »Was immer ihr tut im Wort oder im Werk, tut alles im Namen des Herrn Jesus und danket Gott dem Vater durch ihn.« Nach A. Auer ist hier »tatsächlich in nuce eine Theologie der Arbeit, jedenfalls nach ihrem wesentlichen Aspekt, enthalten«113. Von einer Abgrenzung der transzendenten und der immanenten Merkmale der christlichen Existenz und der Rangordnung unter ihnen, wie sie das philosophische Modell intendiert, ist jedenfalls im neutestamentlichen Verständnis der Tätigkeit nichts zu spüren. So bleibt die Frage offen, wie diese Abgrenzung und Rangordnung in der christlichen Auffassung des Modells tradiert werden konnten. Diese Frage entscheidet sich am christlichen Weltverständnis.
Exkurs: Der eschatologische Vorbehalt gegenüber der Welt und die Tätigkeit Das Neue Testament betont den eschatologischen Vorbehalt gegenüber der Welt. Auch die heutige Erkenntnis der Bedeutung der Weltlichkeit der Welt für die christliche Spiritualität kann nicht übersehen, daß das Neue Testament »diese Weltzeit« negativ thematisiert und vor allem als den Bereich der Unheilsmächte unter der Herrschaft des Satans versteht.114 Andererseits stellt Paulus im Epheser- und Kolosserbrief die Christozentrik des Kosmos heraus: Christus ist nicht nur das Haupt der Kirche, 111
112 113 114
Vgl. 1 Kor 4,12; 9,6.12; 1 Thess 2,9; Apg 18,3; mehr noch verweist Paulus auf seine Arbeit im apostolischen Amt, vgl. 1 Kor 15,10; 2 Kor 11,23 ff. A. Auer, a. a. O. 39. A. a. O. 41. Vgl. f. Mußner, Art. Welt (in der Schrift) in: LThk Bd. 10, 1022. 65
sondern Herr des Kosmos und der Geschichte.115 Vom »Noch-nicht« der Vollendung her gesehen, trägt jedoch die Welt an sich das Merkmal der Sünde und des Unheils. »Durch Christus ist mir die Welt gekreuzigt worden und bin ich der Welt gekreuzigt worden«, sagt Paulus (Gal 6,14). Eine völlige Gemeinschaft des Christen mit der Welt scheint durch die Kreuzestheologie ausgeschlossen. Andererseits wiederum hat »Gott die Welt so sehr geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab« (Jo 3,16). Im Neuen Testament liegt also ein divergierendes Weltverständnis vor, das besonders deutlich bei Johannes zum Ausdruck kommt: die Christen sind nicht von der Welt, aber sie sind in der Welt (Jo 17,15.16); sie dürfen die Welt nicht lieb gewinnen (vgl. 1 Jo 2,15), aber sie sollen das Licht der Welt sein (vgl. Jo 8,12). Das divergierende Weltverständnis des Neuen Testamentes erklärt sich aus den verschiedenen Aspekten und aus der Spannung der christlichen Existenz. Von der Inkarnation, von der Auferstehung und der Vollendung her gesehen erscheint die Welt in Christus eingeordnet und in ihrer Unheilskraft überwunden (vgl. Jo 16,33; 1 Jo 5,4; Eph 1,11.21; Kol 1,16). Von der Betroffenheit durch die Sünde und der Notwendigkeit des Kreuzes her gesehen, erscheint die Welt als Inbegriff aller feindlichen Potenzen, die sich Christus und den Christen entgegenstellen. Der Christ muß in seiner Existenz beide Aspekte austragen; er kann sich dem eschatologischen Vorbehalt gegenüber der Welt nicht entziehen, aber er ist auch wie kein anderer dazu berufen, die alte Schöpfung mit Christus in eine Neuschöpfung zu verwandeln, so wie er selbst in Christus bereits ein »neues Geschöpf« (2 Kor 5,17) geworden ist. Vom Neuen Testament her ist jedoch völlig klar, daß sich der eschatologische Vorbehalt gegenüber der Welt auf die Sünde und die Unheilsmächte bezieht und nicht auf den gestaltenden und damit verwandelnden Umgang mit den Dingen der Welt, d. h. auf die menschliche Tätigkeit. In der Bibel findet sich, vom Kampf gegen die Sünde abgesehen, nur ein einziger Vorbehalt gegenüber einer weltzugewandten Tätigkeit: die Warnung vor ängstlicher Sorge (vgl. Mt 13,22 u. a.; Lk 10,41; 1 Kor 7,32; Phil 4,6; 1 Petr 5,7), die sich ganz an die irdischen Bedürfnisse ausgibt und darüber die Heilsberufung vernachlässigt. In diesen Bereich gehört auch die für die Geschichte des Modells wichtige Maria-Martha-Perikope. Der eschatologische Vorbehalt warnt also den in der Welt tätigen Menschen vor Sünde und Sorge und betont die Vorrangigkeit der Heilsberufung aus der Welt so 115
Vgl. a. a. O. und Eph 1,19–23; Kol 1,16–20; 2,10.15. 66
eindeutig, daß dabei die eschatologischen Merkmale der christlichen Existenz stärker hervortreten als die Merkmale der immanenten Heilsverwirklichung. Diese Tatsache ist von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Modells »vita activa – vita contemplativa«. Da nämlich die eschatologischen Merkmale der christlichen Existenz auf die »vita contemplativa«, die immanenten Merkmale aber auf die »vita activa« festgelegt wurden, begründete der eschatologische Vorbehalt des Christen die Rangordnung zwischen beiden Lebensweisen, d. h. er bezog sich geradezu auf die »vita activa«, die in besonderer Weise zur Gestaltung der Welt verpflichtet ist. Diese geschichtlichen Festlegungen der Merkmale der christlichen Existenz auf verschiedene Lebensweisen, die formal der Festlegung der sittlichen bzw. der noëtischen Tugenden im philosophischen Modell des Aristoteles entspricht, läßt sich jedoch biblisch nicht begründen; sie hat vielmehr ihren Grund in der philosophischen Voreingenommenheit gegenüber der Materialität. Man muß also auch in der christlichen Argumentation hinsichtlich der Vorrangigkeitsfrage sehr sorgfältig differenzieren zwischen der Vorrangigkeit der Heilsberufung einerseits, die den Christen in jeder Lebensweise betrifft, und dem Verhältnis von Aktion und Kontemplation andererseits. Beides durchdringt sich zwar in der Weise, daß das kontemplative Leben in besonderer Weise die Heilsberufung aus der Welt, das aktive Leben aber in besonderer Weise die Heilsverwirklichung in der Welt darstellen will, aber dabei stehen sich nicht zwei extreme Theoreme gegenüber, sondern verschieden akzentuierte Darstellungen der Fülle der christlichen Existenz. Das aktive Leben sucht in der Heilsverwirklichung in der Welt seine Weise der Heilsberufung zu erfüllen; es versteht sich nicht als Verfallenheit an Sünde und Sorge, sondern sucht die Gestaltung der Dinge in der Freiheit der Loslösung. Das kontemplative Leben sucht in der Heilsberufung aus der Welt seine Weise der Heilsverwirklichung in der Welt als Frucht des Gebetes und der liebenden Erkenntnis. Die Frage der Vorrangigkeit läßt sich also nur jeweils im Sinne der größeren Liebe beantworten, die sich im Tun bezeugt. Daraus ergibt sich ein eigentlicher Maßstab für die Bewertung der beiden Lebenswege; wir glauben ihn im neutestamentlichen Fruchtbarkeitsbegriff vorzufinden, der das Verhältnis von »Hören und Tun« charakterisiert.
67
D. Das Verhältnis von »Hören und Tun« Hören und Tun (akouein und poiein) spezifizieren im Neuen Testament nicht zwei getrennte Bereiche, sondern sie sind untrennbar miteinander verbunden. Das zeigt der Sprachgebrauch der Synoptiker, in dem sich deutlich dokumentiert, daß die Aufnahme des Wortes die Vollzugsbereitschaft, ja den Vollzug selbst integriert (vgl. Mt 7,21.24.26; Lk 8,21; 11,28). Ganz deutlich wird diese Zusammengehörigkeit auch im Gleichnis vom Sämann, das alle drei Synoptiker überliefern.116 In der Deutung dieses Gleichnisses durch Jesus selbst wird herausgestellt, daß zum Hören des Wortes seine feste Eingründung im Herzen (nach Lukas, »verstehen« nach Matthäus, »aufnehmen« nach Markus) und seine Fruchtbarkeit im Tun des Menschen gehört (vgl. Mk 4,20; Mt 13,23; Lk 8,15). Der Sprachgebrauch ist zwar in bezug auf die feste Aufnahme des Wortes verschieden, aber in bezug auf die Fruchtbarkeit bei allen Synoptikern gleich (karpophorein), bei Matthäus noch durch »poiein« ergänzt. Das Wort ohne Verständnis gleicht dem Samen auf steinigem Grund und das unfruchtbare Wort gleicht dem Samen, der von den Dornen erstickt wird. Selbst die gläubige Aufnahme des Wortes bliebe also unvollkommen, wenn sie sich infolge von falscher Weltsorge, von Wohlleben und Begierden nicht in einer Lebensgestaltung aus dem Glauben durchsetzt. Von daher wird klar, daß jedesmal dann, wenn im Neuen Testament das Hören des Wortes gefordert wird, dies im Vollsinne seines fruchtbaren Vollzugs erfaßt werden muß. Dieses Ergebnis kann nun freilich nicht einfachhin auf das Modell »vita activa – vita contemplativa« übertragen werden. Wohl aber bestimmt der Fruchtbarkeitsgedanke, der im Verhältnis von Hören und Tun zum Ausdruck kommt, die christliche Integrierung des Modells in der Geschichte. Vor allem in der deutschen Mystik gehört er zu den Merkmalen eines christlichen Verständnisses des Modells, und auch Thomas hat auf die Fruchtbarkeit der Schau in der Tätigkeit hingewiesen.117 Hören und Tun verhalten sich bei den Synoptikern wie Same und Frucht bzw. Baum und Frucht. So verlangt Johannes der Täufer, daß die Pharisäer und Sadduzäer 116
117
Vgl. Mt 13,1–9; Mk 4,1–9; Lk 8,4–8 und die Deutung Mt 13,18–23; Mk 4,13–20; Lk 8,11– 15. Zur Exegese vgl. f. Mußner, Die Botschaft der Gleichnisse Jesu (Schriften zur Katechetik, hrsg. von J. Goldbrunner, Bd. 1), München 1961, 18–20. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2 q 188 a 6 resp. In der deutschen Mystik vgl. Pf 18,18–19,3: »Gott hat es in der Einheit der Schau auf die Fruchtbarkeit des Wirkens abgesehen ...« 68
nicht nur zur Taufe kommen, sondern auch »würdige Früchte der Bekehrung« bringen (Mt 3,8, vgl. 3,10). Die gute Frucht ist das Erkennungszeichen auch der rechten Verkündigung (vgl. Mt 7,15–20); sie kommt freilich nur zustande, wenn auch der »Baum«, die gläubige Aufnahme, gut ist (vgl. Mt 12,33; 21,43). So, wie sich die Begegnung von Erkenntnis und Tätigkeit in der Liebe und die Begegnung von Gebet und Tätigkeit in der Hoffnung zeigte (s. o.), so zeigt sich die Begegnung von Hören und Tun in der Fruchtbarkeit des Glaubens. Jesus sagt: »Meine Brüder sind, die Gottes Wort hören und tun« (Lk 8,21). Die theologische Durchdringung bei Johannes und Paulus sagt nichts anderes. »Wer die Wahrheit tut, kommt an das Licht« (Jo 3,21). »So ihr solches wisset, selig seid ihr, so ihr es tut« (Jo 13,17). Die Wahrheit, die gläubig aufgenommen wird, das Wissen, das gläubig erkannt wird, ist für Johannes Christus selbst (vgl. Jo 14,6). Die Wahrheit, die frei macht, ist der Sohn, der frei macht (vgl. Jo 8,32.36). So ist die Eingründung in die Wahrheit zugleich Fruchtbarkeit aus der Wahrheit (vgl. die Weinstockrede Jo 15). Auch für Paulus ist die christliche Existenz von der Fruchtbarkeit bestimmt (vgl. Röm 7,4; Eph 5,9). Für den Mystiker Paulus, der den Tod um der tieferen Gemeinschaft mit Christus willen ersehnt (vgl. Phil 1,23), ist das Leben der apostolischen Tätigkeit notwendiger, insofern es fruchtbar ist im Dienst an den Brüdern (vgl. Phil 1,22.24; Röm 9,3). Diese Paulusstellen sind für die christliche Kontemplationsmystik wichtig geworden; sie dienten als Beleg für die aktive und apostolische Fruchtbarkeit auch im kontemplativen Leben.118 F. Mußner zeigt in seiner Untersuchung der »Johanneischen Sehweise« den Zusammenhang des Glaubenszeugnisses in der Verkündigung und in den Werken (martyrein) mit den glaubensgnoseologischen Akten des »Hörens« (akouein) und »Sehens« (horan, theorein!, theasthai, blepein). 119 »Daß dieser (Christus) das ewige Leben ist (vgl. 1 Jo 1,2), konnte man an ihm nicht einfach ablesen, sondern nur ›sehen‹, wenn 118
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Thomas von Aquin führt Röm 9,3 als Beleg dafür an, daß sich die Vorrangigkeit der Kontemplation nicht gegen die tätige Liebe richten darf. Vgl. S.th. 2–2 q 182 a 2 resp.: »Potest tarnen contingere quod aliquis in operibus vitae activae plus meretur quam alius in operibus vitae contemplativae: puta si propter abundantiam divini amoris, ut eius voluntas impleatur propter ipsius gloriam, interdum sustinet a dulcedine divinae contemplationis ad tempus separari.« Vgl. Die johanneische Sehweise 18–44. 69
man zum Glauben gekommen war. Und dies, was im Glauben ›gesehen‹ wurde, ist Gegenstand des späteren Zeugnisses und der Verkündigung ... Der Gegenstand des Zeugnisses ist zugleich der Gegenstand des Bekenntnisses und des Glaubens ...«120. Das Zeugnis ist also Aktualisierung, Vergegenwärtigung des im Glauben Gesehenen und Gehörten; Prinzip dieser Vergegenwärtigung ist der Paraklet (vgl. Jo 15,26 f.).121 Das gilt in besonderer Weise für die Sehweise des 4. Evangeliums, eröffnet aber von daher auch den Blick auf das christliche Kontemplationsverständnis. Die christliche Kontemplation ist nicht nur Aktuierung einer Verstandestugend, sondern existentielle Vergegenwärtigung des Christusglaubens durch den Heiligen Geist und sein Bezeugen im Wort und in der Tat. Der Glaube ist der Koinzidenzpunkt von »Sehen« und »Bezeugen«, von »Hören« und »Tun«. So muß nach Origenes der christliche Theologe ein »alter Johannes« werden; im Sinne der johanneischen »Kontemplation« verkündet und vollzieht er die christliche Existenz.122 Das Verhältnis von Hören und Tun läßt sich also doppelt charakterisieren: durch den Fruchtbarkeitsgedanken und durch den Zeugnisgedanken. 123 Der Fruchtbarkeitsgedanke bezieht den Glauben auf die tätige Lebensgestaltung; er zeigt die Immanenz des Vollzugs im Glauben und die Immanenz des Glaubens im Vollzug. Der Zeugnisgedanke bezieht den Glauben auf die Entfaltung und immer neue geschichtliche Aktualisierung der Wahrheit. Schon »das evangelische Zeugnis transzendiert so Raum und Zeit des historischen Jesus und hört dennoch nicht auf, sein Zeugnis zu sein«124. Der Zeugnisgedanke zeigt die Immanenz des Bezeugens im Hören und die Immanenz des Hörens im Bezeugen. Von welchem Aspekte aus man dabei auch »einsteigt«, die »Fülle« wird immer präsent, ob die Fülle der christologischen 120 121
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124
A. a. O. 37. Vgl. J. Blank, Krisis, Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg/Br. 1964, 215; f. Mußner, a. a. O. 36. Vgl. Origenes, In Ioannem hom. I,4 (Menschen der Kirche in Zeugnis und Urkunde, Neue Folge, hrsg. von H. U. von Balthasar, Bd. 4, übersetzt von R. Gögler), 100. Es wäre interessant, das Selbstverständnis der Theologie des Origenes von der johanneischen Sehweise her zu untersuchen. Zum Fruchtbarkeitsgedanken vgl. Biblisch theologisches Handwörterbuch zur LutherBibel und zu neueren Übersetzungen, hrsg. von E. Osterloh und H. Engelland, Göttingen 31964, 155.156. Zum Zeugnisgedanken vgl. f. Mußner, a. a. O. 34–38. F. Mußner, a. a. O. 36. 70
Wahrheit (Zeugnisgedanke) oder die Fülle der christlichen Existenz (Fruchtbarkeitsgedanke). »Vita activa« und »vita contemplativa« als christliche Lebensweisen würden sich also biblisch nicht durch die Festlegung einzelner Merkmale der christlichen Heilsbotschaft oder der christlichen Existenz unterscheiden lassen; jede Lebensweise muß in sich die Fülle der Merkmale präsent machen. Bei näherem Zusehen erweist sich also die »Indifferenz« des Neuen Testamentes gegenüber dem Modell als bedeutsam für das Modell selbst; eine christliche Integrierung setzt nicht nur die inhaltliche Umwandlung des philosophischen Modells im Lichte der theologischen Tugenden voraus, sondern auch ein anderes formales Verständnis: die Verbindungen von Liebeserkenntnis und Bruderdienst, von Gebet und Arbeit, von Hören und Tun betreffen jede christliche Existenzweise. Die Akzente können sich jedoch dabei verschieben, und zwar um so legitimer, als sie einander nicht ausschließen, sondern durchdringen. So gilt für die verschiedenen Lebensweisen, was Paulus über die Ämter und Charismen in der Kirche sagt: »Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber es ist derselbe Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber es ist derselbe Herr. Es gibt verschiedene Betätigungen (energema), aber es ist derselbe Gott, der alles in allem wirkt« (1 Kor 12,46; vgl. Röm 12,6–8).125 Den Gedanken der Einheit und Verschiedenheit erläutert Paulus am ekklesialen Leibe Christi (vgl. 1 Kor 12,12 ff.; Röm 12,4.5). Auch dieser Gedanke muß in seiner Bedeutung für das Modell untersucht werden. E. Identität und Differenz des christlichen Lebens Hier geht es weniger um die inhaltliche als um die formale Bedeutung der paulinischen Leib-Christi-Vostellung für das Modell. 126 Nach H. D. Wendland hat das Gleichnis vom Leib und seinen Gliedern im 1. Korintherbrief und im Zusammenhang der Stelle dreifache Bedeutung: die Mannigfaltigkeit der Geistesgaben gehört zum Wesen der Gemeinde; in einem Leibe sind die Verschiedenartigkeiten zugleich eine unlösbare Einheit; ein einzelnes Glied hat seine besondere Stelle und muß nicht 125
126
Die Stelle bildet den Ausgangspunkt für eine Predigt Johannes Taulers, in der die aktiven und kontemplativen Aufgaben der Christen entsprechend behandelt werden. Vgl. V 176 ff. Vgl. Teil 3, Kap. III, 2 dieser Untersuchung. 71
alle Gaben besitzen.127 Das heißt, daß Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit der Gaben nicht Gegensätzlichkeit bedeuten, sondern der Fülle der Einheit entsprechen. Jedes Glied ist in demselben Christus eingegründet, aber es manifestiert diese einheitliche christliche Existenz auf seine Weise. In dieser Weise ist aber trotz ihrer Individualität die Fülle des Geistes Christi präsent und wirkt diese besondere Weise. Die Differenzierung weist also auf eine höhere Identität hin, die in dieser Differenzierung selbst präsent wird. Die Einheit des Leibes Christi bedeutet nicht Uniformität, sondern Fülle der Formen: »Wenn alles nur ein Glied wäre, wo wäre dann der Leib? Nun aber sind es viele Glieder, aber nur ein Leib« (1 Kor 12,19.20). Ein und derselbe Geist teilt nun den verschiedenen Gliedern, »jedem nach seiner Art« (12,11), die Fülle der Einheit mit. H. D. Wendland weist darauf hin, daß diese Gabenordnung analog zur Schöpfungsordnung (»nach seiner Art« vgl. Gen 1,11.12.21 f.) aufgeteilt ist.128 In 1 Kor 12,4–6 ist die Identität in der Differenzierung trinitarisch formuliert; sie verweist auf den Geist, der die Gnadengaben wirkt; sie verweist auf Christus, in den die verschieden begabten Glieder eingegründet sind; sie verweist auf den Vater, »der alles in allem wirkt«. Am Beispiel des ekklesialen Leibes wird dann gezeigt, daß die christozentrische Identität eine Identität in der Differenzierung ist. Auf das Modell »vita activa – vita contemplativa« angewandt – unter Berücksichtigung, daß es hier in der Regel nicht um Charismen geht – bedeutet dies, daß auch in dieser Differenzierung der Lebensweisen eine höhere Einheit präsent sein muß, jedoch auch hier nicht in der Weise der Uniformität, sondern der Akzentuierung der Fülle. Das Modell darf nicht zu einem Dualismus in der christlichen Existenz führen, sondern es muß die Struktur des christlichen Lebens als Präsenz der Einheit in der Differenzierung aufzeigen. Die verschiedenen Tätigkeiten haben ihre je verschiedene Weise; Paulus verlangt im Römerbrief (12,6–8) nicht die Fertigkeit in allen Weisen, sondern ermahnt zum richtigen Vollzug der je eigenen Aufgabe. Das Ideal einer »vita mixta«, wie es Augustinus vorschwebte,129 ist von dieser formalen Betrachtung her gesehen, nicht notwendig, weil der jeweils individuellen Begabung nichts von der 127
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Vgl. H. D. Wendland, Die Briefe an die Korinther (Neues Testament deutsch, Bd. 7), Göttingen 51948, zu 1 Kor 12. Vgl. a. a. O. Vgl. Civitas Dei 19,19, PL 41,647. 72
Fülle des Geistes ermangeln muß, der alle Begabungen wirkt. Wohl aber ist jede der individuellen Begabungen und der ihnen entsprechenden Lebensweisen auf dieselbe allgemeine Heilsberufung des Christen festgelegt; diese manifestiert sich nur in verschiedener Weise. Die Rangordnung dieser Weisen aber bestimmt die jeweils größere Liebe (vgl. 1 Kor 13), ihre innere Ordnung (vgl. 14,40) und ihr Nutzen zum Aufbau und zur Förderung der Gemeinde (vgl. 12,7). F. Zusammenfassung: Voraussetzungen für eine christliche Integrierung des Modells Obwohl im Neuen Testament das Modell »vita activa – vita contemplativa« nirgends angesprochen ist, erbrachte doch die Untersuchung einiger Aspekte, die mit der Geschichte des Modells verbunden sind, wichtige Voraussetzungen für eine christliche Integration des philosophischen Modells. 1. Die aristokratische Esoterik, Autarkie und Unfruchtbarkeit, die das kontemplative Leben im philosophischen Modell kennzeichnen, muß von den biblischen Forderungen der Bruderliebe und der Fruchtbarkeit überwunden werden. Eine christliche »vita contemplativa« vollzieht sich nicht in Selbstgenügsamkeit, sondern sie vollendet sich im Werk. Das bedeutet, daß das kontemplative Einheitsideal Platons der christlichen Sicht näher steht als der systematische Stufenbau des Aristoteles, der den Theoretiker schrittweise von der Gesellschaft trennt. 2. Eine Abwertung der praktischen Tätigkeiten des Menschen an einer höheren kontemplativen Lebensform findet sich an keiner Stelle des Neuen Testamentes. Sie setzt die philosophische Leib- und Weltfeindlichkeit voraus. Der eschatologische Vorbehalt des Christen ist damit nicht zu identifizieren, vielmehr warnt er nur den in der Welt tätigen Menschen vor ängstlicher Sorge und ungeordnetem Verfall an die Weltdinge. 3. Auch eine Rangordnung zwischen kontemplativen und aktiven Lebensweisen ist im Neuen Testament nicht gegeben; die Diskussion der Wertüberlegenheit des kontemplativen Lebens über das aktive findet im Neuen Testament nur dann einen Ansatz, wenn die eschatologische Heilsberufung des Christen mit einer kontemplativen Lebensweise gleichgesetzt wird. Dafür findet sich jedoch keine Begründung. Eine Rangordnung kann es nur im Sinne des jeweiligen Erfüllungsgrades der theologischen Tugenden, vor allem aber der Liebe (vgl. 1 Kor 13,13) geben, um so mehr, als 73
beide Lebensweisen von den theologischen Tugenden betroffen sind: die christliche Liebeserkenntnis und die Bruderliebe begegnen sich in der allgemeinen Liebesforderung des Neuen Testamentes; Gebet und Tätigkeit begegnen sich in der Hoffnung auf die Vollendung durch den wiederkehrenden Christus; Glaubensgnosis und Tätigkeit begegnen sich in der Fruchtbarkeit und im Zeugnischarakter des Glaubens. 4. Die Merkmale der christlichen Existenz lassen sich, wie das Beispiel der theologischen Tugenden zeigt, nicht dualistisch auf verschiedene Lebensweisen festlegen. Statt dessen muß die Fülle der christlichen Existenz, wenn auch in akzentuierter Weise, in ihrer Präsenz in jeder christlichen Lebensweise gezeigt werden. 5. Die christliche Integrierung des philosophischen Modells verlangt also seine inhaltliche und formale Umwandlung. Dabei ist es geschichtlich legitim, die christliche Wahrheit in einem philosophischen Ordnungsgefüge präsent zu machen, um so mehr, als dies bei den Vätern im Zeichen des gläubigen Selbstverständnisses in der hellenischen Umwelt geschieht. Im historischen Rückblick auf die Entfaltung des Modells in der christlichen Spiritualität muß jedoch immer wieder kritisch gefragt werden, inwieweit eine christliche Integrierung die Voraussetzungen beachtet hat und insofern »gelungen« ist.
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II. DIE CHRISTLICHE INTEGRIERUNG DES MODELLS 1. Die christliche Integrierung des Modells bei den orientalischen Vätern130 A. Übernahme und Verwandlung des Modells im allgemeinen Die Übernahme und Verwandlung des Modells »vita activa – vita contemplativa« setzt in der christlichen Literatur relativ spät ein. Sie beginnt mit dem Zeitpunkt, von dem ab philosophisch gebildete Theologen die Theologie der Spiritualität bestimmten, näherhin also mit den Alexandrinern Clemens und Origenes. Eine bestimmende Kraft entfaltete das Modell vor allem dadurch, daß Origenes es in der Schriftauslegung mit der Maria-Martha-Perikope Lk 10,38–42 verband (s. u.), eine Auslegung, die von den orientalischen Vätern keineswegs einhellig akzeptiert wurde, 131 aber durch die Vermittlung Augustins und Cassians in der abendländischen Kirche um so bedeutsamer wurde. Wenn man zunächst einmal von der Frage der Wertüberlegenheit absieht, die sich an der Exegese von Lk 10,38–42 entscheidet, lassen sich in der christlichen Integrierung des Modells drei Haupttypen unterscheiden: das kontemplative Einheitsideal der Alexandriner, die rein kontemplative Spiritualität bei Evagrius Ponticus und die ausgeglichene Würdigung beider Lebensformen bei Basilius und Gregor von Nazianz.
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Vgl. zum Ganzen: EA, Index systematicus 652.653; D. A. Csányi, Optima Pars 8–54 (mit ausführlichen Textbelegen); A. Kemmer, Maria und Martha 358–365; Th. Camelot, Action et contemplation dans la tradition chrétienne 272–301; W. Völker, Das Vollkommenheitsideal des Origenes 76 ff., 145 ff.; S. Marsili, Giovanni Cassiano ed Evagrio Pontico 105–127 (zu Evagrius); I. Hausherr, Utrum Sanctus Ephraem Mariam Marthae plus aequo anteposuerit 153–163; Laien und christliche Vollkommenheit 183–185; K. V. Truhlar, Antinomiae vitae spiritualis 129–157. Ausnahmen sind z. B. Ephräm der Syrer, Basilius der Große, Johannes Chrysostomos und, wenigstens an einer Stelle, Cyrill von Alexandrien. Vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 75; A. Kemmer, a. a. O. 355; I. Hausher, a. a. O. und Laien und christliche Vollkommenheit a. a. O. 75
Clemens und Origenes 132 vertreten die platonische Form des Einheitsideals von »vita activa« und »vita contemplativa«. Ihre Integrierung des Modells bedeutet also keine formale Verwandlung, wohl aber schließt das christliche Kontemplationsverständnis eine inhaltliche Umwandlung ein.133 Die Kontemplation bedeutet nicht nur gnoseologische Teilhabe am Leben der Götter, sondern sie führt zur Vergöttlichung des Menschen durch die gnadenhafte Rechtfertigung, die von der Inkarnation des Logos ausgeht. 134 Christliche Kontemplation überwindet also den einseitigen erkenntnistheoretischen Ansatz; sie ist Entfaltung der christlichen Existenz und integriert als solche ontologische, ethische und erkenntnistheoretische Vorstellungen in der Vereinigung mit Gott. Der kontemplative Aufstieg behält zwar aus seiner philosophischen Provenienz die intellektualistische Färbung, vollzieht sich aber in allen Dimensionen, in Erkenntnis, Liebe und Gebet.135 Die christliche Kontemplation setzt für die Schau den Glauben, für die Erkenntnis die Haltung des Liebenden und für den Aufstieg im Gebet die Hoffnung voraus.136 Während das Ideal der »vita contemplativa« sich für die Alexandriner harmonisch mit der christlichen Existenz zu verbinden scheint, ist ihre Haltung gegenüber der »vita activa« doppelpolig. Das aktive Leben ist einerseits aszetische Disposition und
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Vgl. G. Bardy, Clément d’Alexandrie, Paris 1926, 284.289; W. Völker, Das Vollkommenheitsideal des Origenes 76. Vgl. Th. Camelot, a. a. O. 279.285 ff. Vgl. Origenes, In Joannem 19,4 (Menschen der Kirche in Zeugnis und Urkunde, Neue Folge, hrsg. von H. U. von Balthasar, Bd. 4, 288). Vgl. W. Völker, a. a. O. 78–84 (Erkenntnis und Glaube); 147 ff. (das Hauptmotiv »Liebe« bei Origenes); 210 ff. (Kontemplationsaufstieg korrelativ mit Gebetsaufstieg). Vgl. Origenes, In Joanem Frgm. 113 (a. a. O. 365), (Schau im Glauben); In Joannem 20,34 (a. a. O. 326): »Wer alle Mysterien kennt und jegliche Einsicht hat und zugleich die Werke der vollkommenen Liebe recht vollbringt, der sei völlig und in allem aus Gott.« Die Dimension Hoffnung fehlt im Johanneskommentar des Origenes, wie sie ja auch im Johannesevangelium selbst zurücktritt. Deutlicher ist sie bei Clemens ausgedrückt: die Schau erfolgt in der Hoffnung des ständigen geistigen Gebets. Vgl. W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus 415–419. Nach Völker (a. a. O. 419) ist Clemens in diesem Punkte Origenes überlegen. 76
andererseits Frucht der Schau. Als aszetische Disposition steht es unter dem der stoischen Philosophie entliehenen Ideal der »apatheia«137, d. h. der Unbewegtheit des Geistes gegenüber sinnlichen Regungen, als Frucht der Schau unter der Forderung des christlichen Liebesapostolates in der rechten Verkündigung und der Sozialfürsorge.138 Hier tritt die Tätigkeit als Umgang mit der Welt völlig zurück; die eigenständige Dimension der »vita activa«, die der Kontemplation gegenübersteht, ist nicht erfaßt. Statt dessen ist das aktive Leben immer auf das kontemplative Leben bezogen als Aszese und Aktion.139 Wo es eigenständig aufgefaßt wird, muß es der Vorrangigkeit der Kontemplation weichen, bei Clemens freilich bei weitem nicht in dem Maße wie bei Origenes.140 Diese Einschränkung des aktiven Lebens auf die aszetische Selbstheiligung und die unerläßlichen Forderungen des christlichen Liebesgebotes bestimmt auch die Mönchstheologie des Evagrius Ponticus.141 Von ihm wird das aktive Leben nur noch 137
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Die christliche »apátheia« ist im Gegensatz zur stoischen nicht einfachhin ein seelischer Zustand, der aus aszetischer Übung erwächst, sondern ein göttliches Geschenk, »apátheia ek cháritos theoû«. Vgl. W. Völker, Das Vollkommenheitsideal des Origenes 154. Die »apátheia« gründet auf dem Gottvertrauen und bleibt der Dynamik der Liebe immer untergeordnet. Vgl. a. a. O. 155. Vgl. Origenes, In Joannem 19,78 (a. a. O. 290.291). Origenes gebraucht das Beispiel des Münzwechslers: er empfängt in der Gnosis die »Münzen« mit göttlicher Prägung und trägt sie in der Tat für das Gemeinwohl in die Schatzkammer der Kirche. Vgl. zur aszetischen Vorbereitung der Schau bei Origenes W. Völker, a. a. O. 23–61. Diese Vorbereitung geschieht in drei Stufen: Ausgangspunkt ist die rechte Selbsterkenntnis, darauf folgt der KamPf gegen die Sünde (a. a. O. 25 f.) und im Einklang damit schließlich der KamPf gegen das gesamte Affektleben (páthe) und alle irdisch realen Beziehungen (a. a. O. 44 f.). Bei Origenes entfernt sich der kontemplative Aufstieg immer weiter von der »vita activa«, je mehr er sich dem Endzustand nähert, in dem es nur noch die Gnosis (bei Origenes synonym mit »theorîa«) gibt. Vgl. In Joannem 1,16 (a. a. O. 113; PG 14,49 C). Bei Clemens dient hingegen der gnostische Aufstieg auch der »freieren Entfaltung der Liebestätigkeit«; vgl. W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus 192; G. Bardy, Clément d'Alexandrie 284.289; Clemens, Stromata VI, 9, 71 PG 9, 293: Der Gnostiker liebt bei Clemens Gott durch die Kreatur und zieht sich deshalb zwar von ungeordneter Verfallenheit an die Welt (»páthe«), nicht aber aus dem Leben selbst zurück. Vgl. S. Marsili, a. a. O. 105–127. 77
als Stufe der Kontemplation erfaßt, als »theoria praktike«: »praktike esti methodos pneumatike to pathetikon meros tes psyches ekkathairousa«142. Das aktive Leben ist für die Spiritualität nur noch insofern bedeutsam, als es »die Sitten reinigt« (emundatio morum) und »die Laster vertreibt« (purgatio vitiorum).143 S. Marsili zeigt, daß durch die Verlegung des Gottesreichgedankens aus seiner irdischen Verleiblichung in die Gottähnlichkeit des Geistes keine andere Aktivität mehr möglich ist als die Freilegung der gnoseologischen Potenzen des Menschen.144 Die intellektualistische Einseitigkeit trägt also in dieser christlichen Integrierung des Modells den Sieg über die biblische Fülle davon. Außer dem spiritualistischen Mißverständnis des Gottesreichgedankens ist dafür die Gleichsetzung des eschatologischen Vorbehalts gegenüber dieser Weltzeit mit allen weltzugewandten Tätigkeiten verantwortlich. 145 Die Beziehung der eschatologischen Heilsberufung zur immanenten Heilsverwirklichung ist zerrissen, wenn die eschatologische Heilsberufung mit der höchsten geistigen Funktion gleichgesetzt wird. Bei Evagrius steht im Gegensatz zu den Alexandrinern die Gnosis noch über der Caritas;146 so wird der Selbstgenügsamkeit der philosophischen Kontemplation weiter Vorschub geleistet. Danach ist es nur folgerichtig, die christliche Vollkommenheit unlösbar mit dem kontemplativen Leben zu verbinden, das sich »sine intermissione« dem Gebet und der »gnosis theou« widmet.147 Ein weit ausgeglicheneres Verständnis der beiden Lebensformen und daher auch eine stärkere Umwandlung des philosophischen Modells findet sich bei Basilius dem Großen und Gregor von Nazianz. Für Basilius ist Christus selbst die wahre Regel der Spiritualität.148 Durch seine Inkarnation ist er der Archetyp des menschlichen Lebens überhaupt.149 Aufgabe der Christen ist es, in ihrem Leben seinen Lebenssinn auszudrücken; das kann jedoch auf verschiedene Weise geschehen, in der »vita activa« 142 143 144
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Evagrius, Capita practica ad Anatoliam I, 50 PG 40, 1233. Vgl. S. Marsili, a. a. O. 106. Vgl. S. Marsili, a. a. O. Vgl. a. a. O. 107.108. Diese Feststellungen treffen auch auf Johannes Cassianus zu, der von Evagrius abhängig ist und ihn zum Abendland vermittelt. Vgl. oben: Kap. I, Exkurs. Vgl. Ad monachos 3 PG 40, 1277; Cap. Pract., Praeamb. PG 40, 1221 B. Vgl. Ad virgines 4 PG 40, 1283. Vgl. EA Nr. 285. Vgl. a. a. O. 78
ebenso wie in der »vita contemplativa«. Dabei darf der aktive Dienst an der »Leiblichkeit Christi« nicht an der Kontemplation abgewertet werden, obwohl man von der kontemplativen Maria besonders die Aufmerksamkeit auf das Wort des Meisters lernen kann.150 An Basilius zeigt sich, daß überall da, wo das Modell auf Christus bezogen wird, die kontemplative Einseitigkeit überwunden ist zugunsten einer Präsenz der Fülle des christlichen Lebens in den Differenzierungen. So kann Gregor von Nazianz sagen: »Pulchra res est contemplatio, pulchra item actio: illa hinc assurgens atque ad sancta sanctorum contendens, mentemque nostram ad id, quod ipsi cognatum est (suggenes), reducens; haec vero Christum excipiens, eique inserviens, ac vim amoris per opera indicans« 151 . Hier werden beide Lebensformen in ihrem besonderen Sinngehalt anerkannt: das kontemplative Leben als Aufschwung zu den göttlichen Geheimnissen in Glauben, Erkennen und Lieben und das aktive Leben als Christusdienst in der Liebe, die sich immer wieder in den Werken bezeugen muß. Bei Basilius und Gregor gelangt darum das Modell erst zu seinem christlichen Verständnis, wenn auch nicht in allen Dimensionen; denn die aszetische und soziale Seite der »vita activa« stehen noch ausschließlich im Vordergrund, so daß die »praxis« immer als Vorstufe zur »theoria« aufgefaßt werden kann152 und nicht als eigenständiger Weltdienst des Christen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die christliche Übernahme des Modells nicht einheitlich ist und nicht zu seiner vollständigen Verwandlung führt. Die Welt-, Leibund Tatfeindlichkeit des philosophischen Modells bleibt auch nach seiner christlichen Integration erhalten und ebensowenig verschwindet der intellektualistische Akzent völlig. Das Modell erhält seine christliche Prägung nicht zuletzt aus der Spiritualität des altchristlichen Mönches, deren kontemplative Orientierung eine ausgewogene Betrachtung immer wieder unwirksam machte.
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Vgl. a. a. O. Nach J. Gribomont, Histoire du texte des Ascétiques de S. Basile, Louvain 1953, 305, sind die Constitutiones monasticae, aus denen diese Stelle in EA Nr. 285 übernommen ist (vgl. auch PG 31, 1325 A), unecht und messalianisch beeinflußt. Vgl. auch D. A. Csányi, a. a. O. 28. Orationes 14,4 PG 35, 864 A (EA Nr. 303). Vgl. Orationes 4,113 (contra Julianum) PG 35, 649 B (EA Nr. 300): »actio nobis ad contemplationem gradus«. 79
Eine genauere Interpretation der christlichen Übernahme des Modells, die den einzelnen Vätern sicherlich mehr gerecht wird, als es hier in einer kurzen Zusammenfassung möglich ist, steht noch aus. Drei Haupttypen des christlichen Verständnisses scheinen jedoch hervorzutreten. Diese drei Typen sind: ein kontemplatives Einheitsideal, das die »vita activa« als Disposition und Frucht der Kontemplation einbezieht, aber doch das christliche Leben im wesentlichen kontemplativ bestimmt; ein aszetisch-gnostisches Ideal, das die »vita activa« auf eine aszetische Selbstheiligung beschränkt und letztlich die Gnosis über die Caritas stellt; schließlich ein Ideal der Ergänzung aktiver und kontemplativer Lebensformen in der Kirche und im gemeinsamen Christusdienst, wobei freilich die größere Vollkommenheit im kontemplativen Leben vorhanden ist, das das aktive Leben als bleibende Stufe integriert. In der Bewertung dieser drei Typen muß man sich für den letzten entscheiden, weil in ihm allein die Fülle der christlichen Existenz in der Differenzierung gewahrt bleibt und die Gefahr einer kontemplativen Spiritualitätsideologie, die letztlich im Widerspruch zur Aussage des Neuen Testamentes stünde, abgewehrt ist. Das kontemplative Einheitsideal sieht zwar etwas Richtiges, wenn es Aktion und Kontemplation zu ergänzen sucht, aber es führt nicht zur Rechtfertigung der aktiven Lebensformen, die ihr Heil nicht in der Kontemplation, sondern nur in einer Gottverbundenheit inmitten der Tätigkeit suchen können. Das aszetisch-gnostische Ideal entspringt letztlich nicht einer christlichen Integrierung des Modells, sondern opfert wesentliche christliche Errungenschaften dem philosophischen Ordnungsgefüge, seiner Esoterik, seiner Autarkie und Selbstgenügsamkeit. Alle drei Typen überschneiden sich jedoch in der Frage der Wertüberlegenheit des kontemplativen Lebens über das aktive. Sie stimmen, wenn auch in verschiedenen Graden, darin überein, daß das christliche Vollkommenheitsideal mit der Kontemplationsmystik zusammen behandelt wird. Dabei kann es nicht ausbleiben, daß Kontemplation und christliche Vollkommenheit einander so durchdringen, daß eine weitgehende Kongruenz zwischen Kontemplation, Vollkommenheit und Heiligkeit entsteht. Sie ist naturgemäß in der evagrianischen Mönchstheologie am deutlichsten ausgeprägt: »Duplex mundi huius cognitio traditur, practica et spiritualis (d. h. gnos-
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tisch oder theoretisch); ad priorem impii etiam perveniunt, soli sancti ad alteram progrediuntur«153. Solche Aussagen teilen das christliche Leben in zwei übereinanderliegende Schichten auf, eine vollkommene und eine unvollkommene. Die für die Menge unerreichbare Heiligkeit wird ganz der Dimension der »theoria« der Gnosis zugeordnet. Um die Menge zu retten, muß darum Evagrius folgerichtig aus der »praxis« eine, wenn auch unvollkommene, Kontemplationsstufe machen, die »theoria praktike«. Solche kontemplativen Stufenordnungen der Vollkommenheit haben die christliche Spiritualität im Altertum und im Mittelalter zu einer »hierarchischen« Spiritualität verformt. Christliche Spiritualität war eine Kontemplationspyramide, nach festen Gesetzen regelmäßig aufgebaut; die alltäglichen Tätigkeiten und ihre aszetische Ordnung bildeten das Fundament, die übernatürliche Gottesschau die Spitze. Jeder Christ, der die mystischen Traktate eines Richard von St. Viktor154 oder auch eines Bonaventura155 las, konnte sich in etwa ausrechnen, auf welcher Stufe der Pyramide er sein Leben führte. Das Verständnis von Aktion und Kontemplation als Schichten des geistlichen Lebens ist, wie sich aus unserer Betrachtung ergibt, philosophischer Provenienz; es setzt eine rationalistische Stufenordnung im Menschenbild voraus, die der biblischen Anthropologie im Allgemeinen und dem Neuen Testament im besonderen entgegensteht. Die Überordnung des theoretischen über den praktischen Intellekt mag ihre Bedeutung im Wissenschaftsgedanken besitzen, sie ist jedoch nicht relevant für eine Überordnung verschiedener Spiritualitätsformen im religiösen Bereich. Hier gilt es, genauer zu differenzieren und den religiösen Wert jeder Begabung in seiner Fülle zu erfassen. Die Frage der Wertüberlegenheit muß hinter die Frage zurücktreten, wie jede Lebensform die christliche Existenz präsent machen kann. Christliche Heilsberufung ist nicht die Berufung zu einer besonderen unirdischen Lebensform,
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Evagrius, Centuriae 6,2, EA Nr. 1375 (= W. Frankenberg, Evagrius Ponticus, Berlin 1912, 363). Vgl. Richard von St. Viktor, Benjamin maior, lib. 1,1–5 PL 196, 63–70, und Nonnullae allegoriae tabernaculi foederis PL 196,191–202. Vgl. f. Andreas, Die Stufen der Contemplatio in Bonaventuras Itinerarium mentis in Deum und im Benjamin maior des Richard von St. Viktor. In: Franziskanische Studien 8 (1921) 189–200. 81
sondern Berufung zu der jedem Menschen eigenen, bestmöglichsten Weise, seine Existenz in Christus zu vollziehen. In der Geschichte der Spiritualität hat freilich die Frage der Wertüberlegenheit eine große Bedeutung angenommen. Zur christlichen Integration des Modells bei den Vätern gehört auch die Begründung der Wertüberlegenheit des beschaulichen Lebens aus Lk 10,41.42. B. Die Auslegung von Lk 10,38–42 und die Frage der Wertüberlegenheit Die Auslegung von Lk 10,38–42 ist im Zusammenhang mit der Frage der Wertüberlegenheit in jüngster Zeit sorgfältig untersucht worden. 156 Dabei hat vor allem A. Csányi gezeigt, daß die Interpretation weitaus uneinheitlicher und differenzierter geschah, als man vorher gemeinhin annahm. 157 Wenn man von dem flüchtigen Gebrauch der Perikope bei manchen Vätern absieht,158 lassen sich im wesentlichen zwei Gruppen unterscheiden: eine Trennung der Auslegung vom Modell (Literalsinn der Perikope, Vertreter: Chrysostomus) und eine typologische Auslegung der Perikope auf das Modell im Sinne einer Unterscheidung von vollkommener und unvollkommener Lebensweise (Origenes u. a.).159 Der Literalsinn der Perikope bezieht sich, wie schon erwähnt,160 nicht auf das Modell. Martha verkennt in ihrer häuslichen Besorgtheit die Bedeutung der in Christus präsenten Botschaft vom Gottesreich, während Maria über der Bedeutung dieser Botschaft die Besorgtheit vergißt. Der Tadel und das Lob Christi können nur aus der Bedeutung der Stunde verstanden werden; hier handelt es sich weder um einen allgemeinen Tadel der Arbeit noch um ein allgemeines Lob der Muße.161 Aus der Stellung der Perikope im Zusammenhang des lukanischen Reiseberichtes wird deutlich, daß 156 157 158
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Vgl. die S. 68, Anm. 129 angegebene Literatur. Vgl. D. A. Csányi, Optima Pars 74–78. Z. B. bei Basilius und Evagrius, vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 28.33; A. Kemmer, Maria und Martha 355. Vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 75; A. Kemmer, a. a. O. 356. Zu dieser Gruppe zählen vor allem die lateinischen Väter: Ambrosius, Hieronymus, Cassian, Augustinus. Vgl. oben S. 45,46. Vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 6; A. Kemmer, a. a. O. 355. 82
es hier um die geschichtliche Antwort auf das in Christus hereinbrechende Gottesreich geht. Diese Antwort kann nicht in ängstlicher Besorgtheit um irdische Dinge, sondern nur in resoluter Aufmerksamkeit auf die Botschaft gefunden werden. In diesem Sinne war die Perikope von Bedeutung für die urkirchliche Mission und in der Zeit der Wandermissionare besonders aktuell.162 Origenes ist der Vater der »mystischen« Auslegung der Perikope. Maria und Martha sind Sinnbilder oder Typen des beschaulichen bzw. des aktiven Lebens. Dementsprechend bezieht sich der Tadel Christi auf die »vita activa«; sein Lob, die Wahl des »guten Teils« und das »Eine Notwendige« (vgl. Lk 10,41.42) macht die kontemplative Lebensführung zum Idealbild der christlichen Vollkommenheit.163 Die allegorische Auslegung des Origenes ist zwar selbst nicht so festgelegt – er bezieht z. B. das Eine Notwendige auch auf die Nächstenliebe bzw. auf das Gesetz Christi und sieht in den beiden Frauen auch Symbole der Juden- bzw. Heidenkirche164 – aber in der Geschichte der Spiritualität verfestigte sie sich immer mehr. So wird bei Hieronymus und Nilus von Ankyra die Perikope als Beleg für die Vorrangigkeit des Klosterlebens angeführt165, und fast in der gesamten abendländischen aszetisch-mystischen Literatur des Altertums und des Mittelalters, ausgehend von Augustin und Cassian, dient sie der biblischen Begründung der Wertüberlegenheit des beschaulichen Lebens über die aktiven Lebensformen. Wenn man von den wenigen Ausnahmen mariologischer und ekklesiologischer Allegorie absieht, wird die Perikope untrennbar mit dem Modell verbunden. 166 Man kann die Stellung der 162
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Vgl. zur Aktualität der Perikope in der Urkirche: E. Laland, Die Martha-Maria-Perikope Lukas 10,38–42. Ihre Kerygmatische Aktualität für das Leben der Urkirche, besonders 77–82. Vgl. Origenes, Scholia in Lucam 10,42 PG 17,351–353. Vgl. a. a. O. Vgl. Nilus von Ankyra, De monachorum praestantia PG 79, 1061–1094, besonders 1079.1080; Hieronymus, Epistula 22,24 CSEL 44,178. Vgl. dazu D. A. Csányi, a. a. O. 47– 49; 58.59. Die ekklesiologische Deutung beginnt bei Augustinus (s. u.). Sie findet sich noch bei Paulus Diaconus, Hom. in Luc. 10,38 f. PL 95,1569–1572. Anselm von Canterbury gibt eine völlig mariologische Auslegung, die darauf beruht, daß Maria als Vorbild beider Lebensformen, bzw. der »vita mixta« gilt; vgl. Hom. IX PL 158,644–649. Schon Paulus Diaconus hatte den Vorzug beider Lebensweisen an Maria gerühmt; vgl. Hom. de sanctis 48 PL 83
einzelnen Autoren zum Modell geradezu an ihrer Exegese der Perikope ablesen. Die Auslegung im Literalsinn bleibt im wesentlichen auf Johannes Chrysostomus beschränkt (s. u.), Spuren davon finden sich freilich auch noch bei Clemens von Alexandrien, Cyrill, Ephräm, Basilius und – etwas überraschend – bei Evagrius. 167 Immerhin gestatten die Ausnahmen und die Differenziertheit der Auslegungsgeschichte A. Csányi das Urteil, daß die heutige Auslegung der Perikope sich nicht gegen eine einheitliche patristische Exegese behaupten muß, daß sich eine allegorische Inspiration der Stelle nicht beweisen läßt und schließlich, daß man sich nicht auf die einhellige Meinung der Väter berufen kann, um die Wertüberlegenheit und Vorrangstellung des beschaulichen über das tätige Leben zu begründen.168 Die Uneinheitlichkeit der Tradition ist also nicht ohne Bedeutung für die Freiheit der theologischen Diskussion über das Modell, weil der »unanimis consensus patrum« nach dem I. Vaticanum als Norm der Glaubenslehre gilt.169 Von der geschichtlichen Wirkmächtigkeit her betrachtet ist freilich die Auslegung im Literalsinn lange Zeit bedeutungslos geblieben. Noch ältere Lukaskommentare und neuere Schriftmeditationen kommen nicht über die typologische Exegese des Altertums und des Mittelalters hinaus.170 Man muß also immer wieder darauf verweisen, daß die Exegese dieser Perikope vom Modell »vita activa – vita contemplativa« zu trennen ist. Eine geschichtliche Betrachtung kann sich freilich nicht darauf beschränken, die typologische Auslegung als Irrtum abzutun; sie muß sich mit den Aussagen im Rahmen dieser typologischen Exegese beschäftigen, sie deuten und werten,
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95,1506. Im 12. Jahrhundert findet sich dann bei Godefridus Admontensis (gest. 1165) eine Deutung von »Maria« und »Martha« auf die beiden Naturen in Christus; vgl. Hom. festivales LXIV PL 174,959.960. Seit Augustinus gehören die Interpretationen der Perikope und im Zusammenhang damit auch die Darstellung des Modells »vita activa – vita contemplativa« nicht nur in den ethisch-aszetischen Bereich, sondern sie sind auch dogmatisch-theologisch zu verstehen; vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 74. Bei Thomas von Aquin treten freilich die theologischen Aspekte, die das im Modell enthaltene ImmanenzTranszendenz-Problem behandeln, wieder in den Hintergrund. Vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 28–54, mit ausführlichen Belegstellen. Vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 78, und A. Kemmer, a. a. O. 356. Vgl. D 1788. Vgl. Anm. 58; vgl. auch R. Gutzwiller, Meditationen über Lukas, Bd. 2, Einsiedeln 1954,33.34. Dort wird die Perikope auf den »contemplativus in actione« bezogen. 84
und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt exegetischer Richtigkeit, sondern im Hinblick auf eine richtige Betrachtungsweise des Modells. Dabei läßt sich freilich feststellen, daß es bei Festhalten der Typologie geradezu einer exegetischen Akrobatik bedarf, um zu einer ausgeglichenen Wertung der christlichen Lebensformen zu gelangen. Das wird sich bei Meister Eckhart zeigen,171 ist aber bereits deutlich in den Rechtfertigungsversuchen des aktiven Lebens bei Ephräm und Augustinus zu spüren. Innerhalb der typologischen Exegese des Modells lassen sich wiederum die drei Haupttypen unterscheiden, die uns in der Betrachtung der christlichen Integration des Modells bisher begegnet sind. Der erste Deutungstyp ist die origenistische Deutung im Sinne des kontemplativen Einheitsideals. Dieser Typ hat vor allem Augustinus beeinflußt, dessen Betrachtungsweise jedoch etwas differenzierter ist und keinen eindeutigen Vorrang der Kontemplation zuläßt. Augustinus hat die Typologie weiter bereichert um die alttestamentlichen Gestalten Rachel und Lea und die Apostel Johannes und Petrus. Die Geschichte dieser Typologien ist noch weniger untersucht als die Maria-Martha-Typologie, obwohl z. B. die Rachel-Lea-Typologie die biblische Begründung für die Unfruchtbarkeit der Kontemplation bzw. die Fruchtbarkeit der Aktion liefern muß.172 So wird sie noch von Thomas von Aquin benützt.173 Der zweite Deutungstyp geht ebenfalls von der origenistischen Deutung aus, zielt aber auf eine aszetisch-gnostische Vereinseitigung der kontemplativen Wertüberlegenheit und leistet so dem Individualismus, Spiritualismus und Quietismus Vorschub. Er führt letztlich zu der Vorstellung von einem Zwei-Klassen-Christentum. Vor allem die Mönchstheologie ist dieser Gefahr oft genug erlegen. Hauptvertreter dieser Richtung ist die Sekte der Messalianer.174 Ihre Auslegung, die zwischen Gebetsund Arbeitschristen unterscheidet und die Gebetskontemplation des Mönches ganz vom aktiven Leben zu befreien sucht, hat vor allem Cassian beeinflußt und ist von ihm in noch gesteigerter und überspitzter Form175 an die lateinischen Schriften des Altertums und Mittelalters übermittelt worden. Da Cassian auch Evagrius Ponticus 171 172
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Vgl. S. 205, Anm. 279 a dieser Untersuchung. Vgl. Augustinus, De consensu evangelistarum 1, c. 5 n. 8 PL 34,1045; Contra Faustum 22 PL 42,432–438. Vgl. S.th. 2–2 q 182 a 1 resp.; a 2,1; a 3,2. Vgl. D. A. Csányi, a. a. O. 39–46, und vor allem A. Kemmer, a. a. O. 356–362. Vgl. A. Kemmer, a. a. O. 364. 85
dem Abendland tradiert, bildet er die Quelle für viele ideologische Gefahren des Modells im Mittelalter, zumal die eklektischen Schriften Gregors des Großen in dieser Frage auch von ihm und nicht nur von Augustinus geprägt sind. Der Hauptgegner dieser Richtung ist im Altertum Johannes Chrysostomus, der die Messalianer in seiner Auslegung bekämpfte. Im Mittelalter setzen sich vor allem die deutschen Mystiker Eckhart und Tauler von solchen Ideologisierungsversuchen ab.176 Der dritte Deutungstyp steht dem Literalsinn, wie ihn Chrysostomus vertritt, am nächsten, indem er bei Martha zwischen ihrem Christusdienst und ihrer ängstlichen Besorgtheit unterscheidet. Für Ephräm den Syrer ist ähnlich wie für Gregor von Nazianz das aktive Leben Christusdienst und dem kontemplativen Leben insofern vorzuziehen, als es wirksamer die Liebe zu beweisen vermag. 177 Diese Deutungsweise sucht das aktive Leben aus der Fruchtbarkeit der christlichen Liebe zu rechtfertigen, gerät aber dabei in die Gefahr, die Fruchtbarkeit des kontemplativen Lebens zu übersehen. Bei Augustinus ist diese Deutung mit aufgenommen: aktives und kontemplatives Leben sind beide lobenswert, wenn auch in verschiedener Hinsicht und unter klarer Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens. Wenn man die drei Deutungstypen miteinander vergleicht, so ergeben sich in der Auffassung des kontemplativen Lebens folgende Unterschiede: im ersten Typ wird das Wesen der christlichen Existenz, im zweiten Typ eine besonders hervorragende Klasse von Christen, im dritten Typ werden die transzendenten Merkmale der christlichen Existenz kontemplativ bestimmt. Dem entsprechen die Unterschiede in der Auffassung des aktiven Lebens: im ersten Typ besitzt es keine Eigenständigkeit, sondern ist ganz auf das kontemplative Leben bezogen; im zweiten Typ besitzt es zwar eine gewisse Eigenständigkeit, wird aber ganz am kontemplativen Leben abgewertet; im dritten Typ hat es sowohl Eigenständigkeit als auch eine besondere Vollkommen-
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Vgl. Teil 3, Kap. III,4 dieser Untersuchung. Vgl. Ephräm, Comm. in S. Lucam 10,42 (S. Ephraemi Syri evangelii concordantis expositio, ed. Moesinger, Venetiis 1876, 86): »Marthae autem caritas magis coram eo in servitio stabat.« Vgl. dazu I. Hausherr, a. a. O. 102. Ephräm vertritt »eine von jeglicher philosophischer Systematisierung freie, ausschließlich von Evangelium und Tradition inspirierte Spiritualität« (D. A. Csányi, a. a. O. 29); die origenistische Allegorese ist ihm unbekannt. 86
heit, dabei besteht jedoch die Gefahr, daß die Merkmale der christlichen Existenz dualistisch gefaßt werden, daß eine »unfruchtbare« Gottesliebe der fruchtbaren Nächstenliebe gegenübersteht. Wenn man nun die Auslegungsgeschichte von Origenes bis Augustinus überblickt, so scheint die fortschreitende Vereinseitigung der Auslegung des Origenes, die freilich nicht ohne Gegenstimmen blieb, 178 bei Augustinus wieder aufgehoben. Diese Entwicklung gilt es kurz zu skizzieren.179 Bei Origenes selbst überwiegt in den Johannesfragmenten180 und den Scholien zu Lukas181 die heilsgeschichtliche Deutung über die Klassifizierung des christlichen Lebens. Im Blickpunkt steht die Entwicklung von »Martha« zu »Maria«, d. h. von der Gesetzesfrömmigkeit der Juden zur Freiheit der Christen und zum einen Gesetz Christi, dem Liebesgebot.182 Auch wenn Origenes zwischen aktivem und kontemplativem Typ unterscheidet, geht es ihm weniger um den Gegensatz als um die Entwicklung des christlichen Lebensweges zur Vollendung in Christus. Das beweist eine andere Stelle im Johanneskommentar, in der der christliche Weg zur Vollendung drei Schritte umfaßt. Er beginnt mit der »vita activa« als »poiein ta dikaia«, denn »ta prota noeteon einai to praktikon«183, setzt sich dann fort in der »vita contemplativa«, die dann zuletzt in die »apokatastasis« einmündet, d. h. in die endgültige Gleichgestaltung mit dem Gottessohn.184 Der Weg führt also von den irdischen Tätigkeiten zur himmlichen Gotteserkenntnis. Der »Zwischenzustand«, die eschatologische Existenz des Christen, ist durch die »vita contemplativa« charakterisiert, die den irdischen Anteil an der himmlischen Gottesschau darstellt. Diese »vita contemplativa« integriert jedoch immer den ersten Schritt der »vita activa« und damit alle Tätigkeiten des Menschen, sofern sie seiner Vollendung dienen. Erst im Himmel gibt es nur noch die 178
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Vgl. Chrysostomus. In Joannem, Hom. 44 PG 59, 248.249; Apophthegmata Patrum, De abb. Silvano 5 PG 65, 409 C (EA Nr. 1038). Vgl. dazu A. Kemmer, a. a. O. 358–365. Vgl. Fragm. 78 und 80, GCS Origenes Bd. 4, 545.547, Menschen der Kirche, Bd. 4 (übersetzt von R. Gögler), 338.339. Vgl. PG 17, 351–353. Vgl. Scholia in Lucam PG 17, 353 A, In Joannem, Fragm. 78, a. a. O. In Joannem 1,16 PG 14, 49 C. Vgl. a. a. O. 87
Gotteserkenntnis als einzige Tätigkeit des zum Sohn gewordenen Christen. 185 Die Auslegung des Origenes ist also weder spiritualistisch noch quietistisch zu verstehen; für ihn sind Martha und Maria Anfang und Ende des christlichen Lebensweges, des Weges von den vielen Tätigkeiten der Erde zu der einen Tätigkeit des Himmels. In »statu viae« bleiben dabei die irdischen Tätigkeiten durchaus erhalten, vor allem, insoweit sie das christliche Liebesgebot erfordert. Diese Auslegung des Origenes läßt sich in differenzierterer Form bei Augustinus wiederfinden; es fragt sich also, wie sie der Ursprung der einseitigen Deutung bei den Messalianern sein konnte. Der Grund für diese Vereinseitigung liegt bei Origenes in den Stellen, an denen nicht die Entwicklung des christlichen Lebensweges, sondern eine Typologie der Lebensformen im Blickpunkt steht, d. h. die einzelnen Entwicklungsstufen für sich betrachtet werden. Dann bilden nämlich die »praktikoi« und die »theoretikoi« zwei verschiedene Klassen der Christen, von denen die eine sich um somatische, die andere um pneumatische Dinge kümmert, die eine um das Viele, die andere um das Eine. So heißt es in den Scholien zu Lukas: »... eureseis Marthan men somatikoteran, kai peri polla eiloumenen, Marian de te theoria mone, kai tois pneumatikois pros anechousan«186. In diesem Sinne ist auch ein Satz aus dem Psalmenkommentar (In Ps 133,1), zu verstehen: »Die Kontemplativen sind im Hause Gottes, die Aktiven in den Vorhöfen des Hauses unseres Gottes.«187 Konsequenterweise sagt Origenes in der Erklärung von Jo 11,19, daß nur Maria würdig ist, den Herrn bei sich aufzunehmen, nicht aber Martha.188 In dieser Deutungsrichtung des Origenes liegt nun der Ansatz für die spiritualistischen und quietistischen Mißverständnisse des Modells, die ihren extremsten Ausdruck bei den Messalianern und Cassian gefunden haben. Die Messalianer haben ihren Namen von ihrem auffälligsten Merkmal: »Ablehnung jeder Art von Arbeit zugunsten eines beständigen Gebetes«189. Messalianer
185 186 187 188 189
Vgl. a. a. O. Scholia in Lucam PG 17, 353 A. PG 12, 1651 C. Vgl. In Joannem, Fragm. 80, a. a. O. A. Kemmer, a. a. O. 357. 88
heißt syrisch »Betende«190. Sie bildeten eine Mönchsgruppe in Syrien und Mesopotamien, die in Ephesus 431 verurteilt wurde.191 Manichäischer Dualismus bestimmt die krassen, eine quietistische Erlebnistheologie die verfeinerten Formen dieser Sekte.192 Gerade die verfeinerte Form, die sich in den Schriften des Ps. Makarios findet, wurde durch Jahrhunderte als Zeugnis orthodoxer Mystik betrachtet und konnte deshalb einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entwicklung der Spiritualität ausüben.193 A. Kemmer hat die messalianische Auslegung der Perikope im einzelnen untersucht.194 Sie deckt sich weitgehend mit der soeben beschriebenen Deutungsrichtung des Origenes: Unterscheidung zwischen pneumatischen Marienchristen und somatischen Marthachristen. »Maria ist Symbol der Asketen, die in Armut und Ehelosigkeit leben und sich ausschließlich dem Gebet und der Lehre widmen; Martha vertritt die in der Welt, in Besitz und Ehe lebenden Christen, die durch leibliche Almosen den Armen zu Hilfe kommen.«195 Nur die Marienchristen sind zur eigentlichen Vollkommenheit fähig. Außer Lk 10,42 führen die Messalianer auch Apg 6,2–7 (Trennung von Wortdienst und Tischdienst) und Jo 6,27 als Belege für ihre Auffassung an. Diese willkürliche Schriftdeutung wird in einem Apophthegma von Abbas Silvanus drastisch und humorvoll widerlegt, indem er einen messalianischen Mönch, der unter Berufung auf Jo 6,27 und Lk 10,42 sich nicht an der Arbeit der Brüder beteiligt, sondern sie kritisiert, ein wenig hungern läßt, bis dieser einsieht, daß zum Essen die Arbeit gehört (vgl. 2 Thess 3,10) und daß die beschauliche Maria der tätigen Martha bedarf. 196 Die messalianische Auslegung wurde also von den Mönchen selbst bestritten. 190 191
192 193 194 195
196
Vgl. H. Rahner, Art. Messalianismus in: LThK Bd. 7, 319. Eine Verurteilung auf der Synode von Side ging schon 390 voraus. Vgl. A. Kemmer, a. a. O. 356. Vgl. A. Kemmer, a. a. O. 357. Vgl. a. a. O. Vgl. a. a. O. A. Kemmer, a. a. O. 361 zu Sermo 3,13 aus dem syrischen Liber Graduum (Patrologia Syriaca, Bd. 3) hrsg. und übersetzt von M. Kmosko, Paris 1926, 74 f. Vgl. Apophthegmata Patrum, De abb. Silvano 5 PG 65, 409 C (EA Nr. 1038). Vgl. dazu A. Kemmer, a. a. O. 362. 89
Einen besonderen Kampf gegen die messalianische Auslegung führt Chrysostomus in seiner Erklärung von Jo 6,27.197 Er unterscheidet bei allen entsprechenden Schriftstellen (Lk 10,41.43, Mt 6,34) zwischen Sorge als Weltverfallenheit und Arbeit als christlichem Weltdienst. Christus tadele nur die Weltverfallenheit und zeige, daß der rechte »kairos« für die alleinige Heilssorge des Christen erkannt werden müsse. Diese Auffassung wird von Chrysostomus auch auf die Maria-Martha-Perikope bezogen: der Tadel Christi ist kein Tadel der »vita activa«, sondern der übermäßigen Besorgtheit Marthas. Eine Wertüberlegenheit des kontemplativen Lebens über das aktive ist also in der Exegese des Chrysostomus nicht gegeben. Dem entspricht allgemein das christliche Vollkommenheitsideal des Chrysostomus. Das Maß der Vollkommenheit ist für ihn die Liebe und nicht die Kontemplation. Die Liebe kann sich aber ebenso im Leben der »Weltleute« als auch im Leben der Mönche entfalten. Also gibt es kein »doppeltes Lebens- und Vollkommenheitsideal ..., ein eigentliches und wahres für die Mönche, und ein uneigentliches, minderwertiges für die Weltleute« 198 . Bei Chrysostomus zeigt sich indirekt das ausgeglichene Verständnis des Modells »vita activa – vita contemplativa«: Einheit der christlichen Existenz und Repräsentation ihrer Fülle in den verschiedenen Lebensformen, Leider sind seine Aussagen für die Entwicklung des Modells unwirksam geblieben, da sie sich nicht direkt auf das Modell bezogen. Als Vollender der christlichen Integration des Modells ist deshalb Augustinus zu betrachten. Er ist zugleich einer der Hauptvermittler des Modells zum Mittelalter. C. Zusammenfassung Der Überblick über die christliche Integrierung des Modells zeigte drei Haupttypen: ein kontemplatives Einheitsideal, eine aszetisch-gnostische Vereinseitigung des christlichen Lebens und eine ausgewogene Wertung der beiden Lebensformen als Darstellungen der christlichen Existenz in der Kirche. Der Vorrang des kontemplativen Lebens ist dabei überall unbestritten (Ausnahme: Chrysostomus), jedoch ergeben sich in der Frage der Wertüberlegenheit im Anschluß an eine typologische Exegese der Maria-Martha-Perikope verschiedene Auffassungen, die wiederum den drei 197 198
Vgl. In Joannem, Hom. 44 PG 59, 248.249. C. Baur, Das Ideal der christlichen Vollkommenheit nach dem hl. Chrysostomus. In: Theologie und Glaube 6 (1914) 572. 90
Haupttypen entsprechen. Das kontemplative Einheitsideal fordert eine Wertüberlegenheit im Sinne der Entwicklung vom aktiven zum kontemplativen Leben, unter Beibehaltung der aktiven Stufe. Die aszetisch-gnostische Bestimmung des Modells fordert eine Wertüberlegenheit der Klasse der pneumatischen Theoretiker über die Klasse der somatischen Praktiker, ist aber bereit, das aktive Leben als Aszese und Lehrverkündigung in die theoretische Klasse einzubeziehen. Eine ausgewogene Wertung der beiden Lebensformen versucht, durch Aufteilung der Merkmale der christlichen Existenz (z. B. Gottesliebe – Nächstenliebe) ihre je eigene Vollkommenheit zu erfassen. Die Vorrangigkeit der Schau wird dabei in ihrem Anteil an der künftigen Herrlichkeit der Gottesschau gesehen, die Vorrangigkeit der Tätigkeit in der Fruchtbarkeit der Nächstenliebe. Im Vergleich mit dem philosophischen Modell zeigt sich zunächst, daß die christliche Integrierung bei der religiösen Stufe des philosophischen Modells ansetzt und Platon mehr verpflichtet ist als Aristoteles. Ferner ergibt sich eine weitgehende Umwandlung des Gehaltes; die Tugenden des Verstandes sind durch die theologischen Tugenden ersetzt, freilich unter Beibehaltung einer intellektualistischen Färbung. Glaubenserkenntnis, Gottesliebe und Gebetshaltung bestimmen die christliche »vita contemplativa«, der Dienst der tätigen Liebe die »vita activa«. Schließlich zeigt sich, daß die christliche Integrierung formal dem philosophischen Modell verhaftet bleibt, deshalb seine Klassifizierungen übernimmt und so den philosophischen Dualismus zwischen immanenten und transzendenten Tätigkeiten oft unbewußt tradiert.
2. Immanenz und Transzendenz: Die Vollendung der christlichen Integrierung des Modells durch Augustinus199 Die christliche Integrierung des Modells »vita activa – vita contemplativa« bei den griechischen Vätern verwies uns immer wieder auf Origenes. Er hat das Modell in die 199
Vgl. zum Ganzen: A.-M. de la Bonnardière, Marthe et Marie, figures de l'église d'après saint Augustin 404–428; f. Cayré, La contemplation augustinienne 27–47; C. Butler, Western Mysticism 195 ff.; G. f. D. Locher, Martha en Maria in de prediking van Augustinus 65–86; J. Ratzinger, Die Kirche in der Frömmigkeit des hl. Augustinus. In: Sentire Ecclesiam, Festschrift für H. Rahner, hrsg. von J. Daniélon und H. Vorgrimmler. Freiburg/Br. 1961, 152–175, bes. 153–162. 91
Theologie eingeführt und für die christliche Spiritualität fruchtbar gemacht; von ihm hängen alle späteren Interpretationen ab, und letztlich führen auch die drei Haupttypen der christlichen Integration auf ihn zurück, wie sich besonders in der Auslegungsgeschichte der Maria-Martha-Perikope zeigt. Im Denken Augustins findet nun die christliche Integrierung des Modells ihren Höhepunkt. Augustinus verbindet das kontemplative Einheitsideal mit der Vorstellung von den beiden eigenständigen Lebensformen in der Kirche. Abgesehen von der aszetisch-gnostischen Richtung, deren Dualismus ihm fernliegt, hat er die Haupttypen der vorhergehenden christlichen Integrierung zusammengefaßt und in seiner theologischen Deutung weit übertroffen. »Vita activa« und »vita contemplativa« sind für ihn Formeln für Immanenz und Transzendenz in Christus, in der Kirche und in der christlichen Existenz. Seine Sicht des Modells ist ekklesiologisch und christologisch,200 deshalb läßt sie die Vorgegebenheiten des philosophischen Modells hinter sich. Seit Augustinus kann man von einem christlichen Modell sprechen, wenn sich auch bei den griechischen Vätern durchaus Ansätze finden, die sich für die Vollendung bei Augustinus transparent machen lassen. Bei Origenes bilden Aktion und Kontemplation zwei übereinanderliegende »Schichten« der christlichen Existenz, wobei die Kontemplation die Aktion umgreift. Diese Schichtung betrifft nun nicht verschiedene Menschentypen, sondern ganz allgemein die christliche Existenz. Sie hat jedoch zur Folge, daß jedesmal dann, wenn Aktion und Kontemplation als verschiedene Lebensformen gefaßt werden, die »praktikoi« den »theoretikoi« untergeordnet werden müssen. Das geschieht dann auch in der gnostischen Vereinseitigung, besonders extrem im Messalianismus. Aber auch Gregor von Nazianz, der sowohl Theorie als auch Praxis zu schätzen weiß, kommt zumindest mit sich selbst in Widerspruch, wenn er Aktion und Kontemplation als Stufe und Vollendung beschreibt: »kai gar theorian sunekdemon pros ta ekeithen poioumetha, kai praxin theorias epibasin«201. Das Problem einer Rechtfertigung des aktiven Lebens stellt sich also in aller Schärfe, sobald die Aktion nur als Vorstufe der 200
201
Vgl. G. f. D. Locher, a. a. O. 79 f.; A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 409: »... en tous ces textes saint Augustin oppose les deux vies beaucoup plus sur le plan ecclésial, communautaire, que sur le plan individuel. Il s’agit bien plutôt de la vie menée ici-bas par le corps mystique du Christ et de la condition personelle de tout un chacun.« Orationes 4,113 (contra Julianum) PG 35, 649 B. 92
Kontemplation gesehen wurde. Das war aber immer dann der Fall, wenn die »vita activa« die immanenten, die »vita contemplativa« aber die transzendenten Merkmale der christlichen Existenz darstellte. Daran war jedoch kaum etwas zu ändern, weil die Kontemplation den irdischen Anteil an der »visio beatifica« bedeutete.202 Von einer vertikalen Schichtung der Merkmale der christlichen Existenz her war also das Problem nicht zu lösen. Es konnte nur aus dem Gedanken der Einheit aller Merkmale in Christus und der Kirche gelöst werden. Das hat Augustinus versucht. Neben der vertikalen Bestimmung des Modells findet sich bei Origenes auch eine horizontale Bestimmung, wenn er nämlich die Maria-Martha-Perikope heilsgeschichtlich auf die Entfaltung der Kirche hin auslegt. Dieser Ansatz ist freilich bei Origenes selbst noch nicht für das Modell fruchtbar gemacht. So blieb es Augustinus vorbehalten, dem Modell auch eine heilsgeschichtliche Deutung zu geben. In dieser heilsgeschichtlichen Deutung wird aber nicht etwa die Entwicklung von der Aktion zur Kontemplation beschrieben, sondern die Überwindung der Spannung zwischen Aktion und Kontemplation bis zur endgültigen Einheit in Christus. Die Gedanken Augustins über das Modell, so reichhaltig und umfangreich sie sind,203 können hier nur in einem kurzen Überblick geboten werden, der auf Einzelheiten weitgehend verzichtet. Dieser Überblick verdankt viel den Untersuchungen von G. Locher und A.-M. de la Bonnardière.204 Er übernimmt ihre Ergebnisse, bietet sie jedoch in einem anderen, unserer Untersuchung entsprechenderen Gedankengang. A. Einheit: Christus und die Kirche205 Augustins Aussagen sind meist typologisch gefaßt. Seine Auffassung über das Modell ergibt sich weitgehend aus der dialektischen Gegenüberstellung der biblischen Paare 202 203
204 205
Vgl. dazu E. von Ivánka, Vom Platonismus zur Theorie der Mystik 163–195. A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 404.405 weist auf über ein Dutzend wichtige Stellen hin, von denen die wichtigsten sind: Sermo 103 PL 38, 613 bis 616; Sermo 104 PL 38, 616– 618; Contra Faustum 22,52–54 PL 42, 432 bis 435; De consensu evangelistarum 1 c. 5 n. 8 PL 34, 1045.1046; In Joannis evangelium tractatus 124, 4–7 PL 35, 1969–1976; De civitate Dei 19,19 PL 41, 647. Vgl. auch G. f. D. Locher, a. a. O. 67. Vgl. Anm. 198. Vgl. G. f. D. Locher, a. a. O. 74.79 ff. 93
Rachel-Lea, Maria-Martha, Johannes-Petrus.206 Dabei bilden Rachel, Maria und Johannes die Linie des kontemplativen, Lea, Martha und Petrus die Linie des aktiven Lebens. Das aktive Leben ist durch Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Vielheit gekennzeichnet, das kontemplative durch Geistigkeit, Ewigkeit und Einheit.207 Beides ist bei Augustinus also auf die schärfste Spannung gebracht. Diese Spannung beinhaltet jedoch zunächst noch keine Wertung: beide Lebensformen sind lobenswert und von einer »vita iniqua« der Sünde getrennt, soweit das in diesem Leben möglich ist.208 Man muß dementsprechend sowohl »vita activa« als auch »vita contemplativa« als Idealformen der christlichen Frömmigkeit ansehen, von denen die eine die »necessitas caritatis«, die andere die »caritas veritatis« darstellt.209 Beide Lebensformen sind Liebesformen aus der Kraft des Glaubens in der Hoffnung auf die zukünftige Vollendung, jedoch stellt das kontemplative Leben in besonderer Weise die Hoffnung dar, die den Anteil der himmlischen Kontemplation ersehnt. Rachel heißt »spes«, und wir erhoffen den Anteil Mariens, die in Christus die Wahrheit selbst schaut.210 Die Hoffnung transzendiert den irdischen Bereich, die tätige Liebe gestaltet ihn.211 Über der Spannung der beiden Lebensformen steht jedoch eine höhere christologische und ekklesiologische Einheit. Das fleischgewordene Gotteswort faßt Transzendenz und Immanenz in sich zusammen; es ist zugleich ganz bei Gott (Jo 1, 1) und ganz unter den Menschen (Jo 1, 14). Die Einheit der beiden Naturen in Christus ist für Augustinus die Einheit von Kontemplation und Aktion.212 Deshalb sind die beiden Lebensformen in Christus vorgezeichnet. Sie sind Dienst an Christus: der 206
207 208 209
210
211 212
Zur Exegese Augustins vgl. M. Pontet, L'exégese de saint Augustin prédicateur, Paris 1944, für das Thema der Lebensformen 516.517. Vgl. Sermo 103, IV,5 PL 38, 615. Vgl. Sermo 104, III,4 PL 38, 618. Vgl. De civitate Dei 19,19 PL 41, 647: »... otium sanctum quaerit caritas veritatis; negotium iustum suscipit necessitas caritatis.« Vgl. Contra Faustum 22,52, PL 42, 432; Sermo 104, III,4 PL 38, 618: »Quod agebat Martha, ibi sumus; quod agebat Maria, hoc speramus.« Vgl. a. a. O. Vgl. Sermo 104, a. a. O. A.-M. de la Bonnardière spricht hier von einer »axe christologique«; vgl. a. a. O. 406. Die Beziehung des Marthadienstes und damit der »vita activa« auf das »verbum caro factum« sowie die Beziehung des Mariendienstes und damit der 94
Marthadienst widmet sich besonders seiner Leiblichkeit, d. h. dem Wort, insofern es unter uns gewohnt hat; der Mariendienst widmet sich besonders seiner Göttlichkeit, d. h. dem Wort, insofern es immer bei Gott und Gott selbst ist.213 Aktion und Kontemplation bilden die Christuswirklichkeit in verschiedener Weise ab, aber es ist derselbe Christus, den sie abbilden. Wie die christologische Einheit, so geht auch die ekklesiologische Einheit der Differenzierung in Aktion und Kontemplation voraus. Die Kirche ist sowohl irdische wie himmlische Kirche, sie ist transzendent und immanent zugleich. Als immanente Kirche ist sie hauptsächlich aktiv, als transzendente Kirche hauptsächlich kontemplativ.214 Nur unter der Voraussetzung dieser vorgegebenen Einheit kann man den augustinischen Dualismus von »vita activa« und »vita contemplativa« verstehen. Er ist, wie G. Locher bemerkt, kein vollstreckter, endgültiger Dualismus, sondern ein vorläufiger Dualismus.215 Was sich »vertikal« als Einheit in der Differenz darstellt, die beiden Naturen in Christus, Transzendenz und Immanenz in der Kirche, stellt sich
213
214
215
»vita contemplativa« auf das »verbum apud Deum« stellt das Modell bei Augustinus eindeutig auf eine neue, genuin theologische Grundlage. Hier ist wohl auch die Quelle für die christologische Interpretation der Maria-Martha-Perikope bei Godefridus Admontensis im 12. Jahrhundert; vgl. PL 174, 959.960. Martha symbolisiert deshalb in besonderer Weise die gegenwärtige Kirche: »... quod Martha excepit illum (= Christum) in domum suam significat ecclesiam quae nunc est, excipientem dominum in cor suum« (Quaestiones evangeliarum, in Lucam 2,20 PL 35, 1341 C). Sofern die Kirche von dieser Welt ist, zeigt sich ihr transzendenter Aspekt in der »inchoata contemplatio« der Christen; vgl. In Joannis Ev. tract. 124,5, PL 35, 1972. Vgl. G. f. D. Locher, a. a. O. 70. Immanenz und Transzendenz lassen sich bei Augustinus nicht trennen. Die Aspekte der Kirche sind immer Aspekte der ganzen Kirche. So praefigurieren sowohl der aktive Petrus als auch der kontemplative Johannes jeweils dieselbe Kirche, wenn auch in verschiedener Weise. Vgl. In Joannis Ev. tract. 124,7 PL 35, 1975.1976: »Nemo tarnen istos insignes apostolos separet. Et in eo quod significabat Petrus, ambo erant, et in eo quod significabat Joannes, ambo futuri erant. Significando sequebatur iste, manebat ille (vgl. Jo 21,22); credendo autem ambo mala praesentia huius miseriae tolerabant, ambo futura bona illius beatitudinis exspectabant.« Vgl. dazu A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 425; G. f. D. Locher, a. a. O. 83. 95
geschichtlichhorizontal216 als Spannung zwischen »Schon« und »Noch-nicht«, zwischen »Nicht-von-der-Welt« und »In-der-Welt«, zwischen eschatologischer Heilserfüllung und immanenter Heilsverwirklichung dar. B. Dialektische Typologie: vertikale und horizontale Differenz Die biblischen Typologien Rachel-Lea, Maria-Martha, Johannes-Petrus sind für Augustinus Präfigurationen der beiden verschiedenen Aspekte der Kirche.217 Man darf sie also zunächst nicht individuell nehmen, sondern muß sie ekklesiologisch verstehen. Ihre Anwendung auf die Spiritualität des einzelnen setzt ein ekklesiologisches Vorverständnis voraus. In der ekklesiologischen Betrachtung der augustinischen Typologie muß man bei Augustinus selbst zwei Aspekte unterscheiden, nach denen sich auch seine Aussagen jeweils verändern. Der eine Aspekt, den wir vertikale Sicht nennen, weil er die Elemente Kontemplation und Aktion übereinander lagert und statisch betrachtet, sieht in der Linie Rachel-Maria-Johannes Präfigurationen des Jenseits, in der Linie LeaMartha-Petrus Präfigurationen des Diesseits: »imago futurorum« und »imago praesentium«218. Der andere Aspekt, den wir »horizontale« Sicht nennen, weil er die Elemente Aktion und Kontemplation nebeneinander in der dynamischen Entfaltung der Geschichte betrachtet, sieht in der Linie Rachel-Maria-Johannes die »contemplatio inchoata« der irdischen Kirche,219 in der Linie Lea-Martha-Petrus das »ministerium« und »obsequium« der irdischen Kirche. 220 Hier entsteht die Spannung 216
217 218 219 220
Der geschichtlich-horizontale Aspekt enthält zugleich die Dynamik (Augustinus: »extensio«), der »vertikale« Aspekt die Statik in der Struktur des Modells. Vgl. A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 420–426. Vgl. A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 406.407. Sermo 104, III,4 PL 38, 617. In Joannis Ev. tract. 124, 5 PL 35, 1972. Vgl. Sermo 103, IV,5 PL 38, 615; Sermo 104, I–III PL 38, 616.617: Der Marthadienst besteht in den »ministeria circa pauperes« und den »obsequia religiosa«. Darin ist Martha zu loben. Der bessere Teil Mariens besteht in ihrer Vorwegnahme des zukünftigen Endzustandes, auf den auch Martha hin arbeitet: »Marthae ministerium ad Mariae quietem tendit«. (Die »extensio« bezieht sich also nicht nur auf die Kontemplation, wie A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 425.426, meint; vgl. dagegen G. f. D. Locher, a. a. O. 73). Das Lob 96
zwischen Aktion und Kontemplation als »occupatio ex necessitate« und »suavitas ex caritate«.221 Diese beiden Aspekte durchdringen einander bei Augustinus. Man muß sie jedoch voneinander trennen, um seine Distinktionen der Wertüberlegenheit zu erfassen und nicht die irdische »contemplatio inchoata« mit der völlig transzendenten Kontemplation im Jenseits zu vermischen. In vertikaler Sicht stehen die dualistischen Äußerungen Augustins, die zwischen »in via« und »in patria« unterscheiden, zwischen Arbeit und Ruhe, Sorge und Glück, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Vielheit und Einheit, Vorläufigkeit und Endgültigkeit. Augustinus wendet eine Fülle von Adjektiven auf, die diesen Gegensatz umschreiben und ihn in der Folgezeit auch nach Augustinus begrifflich geprägt haben.222 Alle diese Ausdrücke beweisen eindeutig die Vorrangigkeit des »unum necessarium« von Lk 10, 42, das Augustinus auf die jenseitige Kontemplation bezieht. Der »vita contemplativa« steht in dieser Blickrichtung die »vita activa« als »vita actualis« gegenüber. Wohl ist auch diese »vita actualis«, die Lea-Martha-Petrus präfigurieren, zu loben: sie ist
221
Mariens Lk 10,42 bedeutet nicht, daß den Christen der Marthadienst genommen wird: »Non ergo Dominus opus reprehendit, sed munus distinxit.« Der endgültige Anteil ist für beide gleich: die Schau in der himmlischen Kirche. »Transit labor multitudinis et remanet caritas unitatis.« Vgl. De Civitate Dei 19,19 PL 41, 647.
222
Vgl.
Vgl.
Sermo 103, IV,5 PL 38, 615: multa, diversa – una carnalis – spiritualis Sermo 104, III,3, PL 38, 617: laboriosa – quieta negotiosa – otiosa aerumnosa – beata praesens – futura temporalis, transitoris – aeterna 97
irdisch fruchtbar,223 frei von Schuld,224 notwendig,225 Dienst an Christus und den Brüdern.226 Aber sie bleibt nicht, ist vom Signum der Vorläufigkeit, Unruhe und Besorgnis geprägt. In horizontaler Sicht läßt sich die Vorrangigkeitsfrage für Augustinus nicht mehr so deutlich beantworten. Hier stehen sich nicht mehr irdische und himmlische Kirche, jetzige und zukünftige Existenz, »vita actualis« und »visio beatifica« gegenüber, sondern zwei Aspekte der Kirche »in statu viae«. In dieser Sicht präfigurieren die biblischen Typen nicht etwas, das sie nicht sind,227 sondern sie repräsentieren, was sie sind. Lea-Martha-Petrus symbolisieren nun nicht mehr den Weg, Rachel-Maria-Johannes nicht mehr das Ziel der christlichen Existenz, sondern beide sind Wege, beide sind Lebensformen in der Kirche, die auf die Vollendung in Christus zuschreiten. Die Bewegung, die dabei entsteht, ist eine fortschreitende »coïncidencia oppositorum«. G. Locher hat gezeigt, daß die Figurenreihe ihre äußerste Spannung in Lea und Rachel besitzt,228 aber dann über Maria und Martha bei Petrus und Johannes immer mehr zusammenrückt.229 Dabei scheint es, daß über Leas »Fruchtbarkeit«, Marthas Gastfreundschaft (die die Werke der Barmherzigkeit umfaßt230) bis zur Übertragung der Kirchenführung an die tätige Liebe des Apostels Petrus das aktive Leben sogar allmählich die Führung übernimmt.231 G. Locher und A.-M. Bonnardière haben auf die 223 224 225 226 227
228 229 230 231
Vgl. Contra Faustum 22, 52–58 PL 42, 432–438. Vgl. Sermo 104, III,4 PL 38, 618. Vgl. Sermo 103, II,3 PL 38, 614; De Civitate Dei 19,19 PL 41, 647. Vgl. Sermo 103, II,3, a. a. O. Augustinus unterscheidet wohl zwischen den realen Personen und den Präfigurationen. Als reale Personen sind z. B. weder Petrus rein aktiv, noch Johannes rein kontemplativ. Vgl. In Joannis Ev. Tract. 124,7, PL 1975.1976. Vgl. G. f. D. Locher, a. a. O. 68. Vgl. a. a. O. Vgl. Sermo 179, VI,6 PL 38, 969. Vgl. In Joannis Ev. tract. 124,5 PL 35, 1972: (Petrus) »... universam significabat ecclesiam, quae in hoc saeculo diversis tentationibus ... quatitur, et non cadit ...« Der aktive Dienst bestimmt also die Kirche in dieser Zeit mehr als die kontemplative Zurückgezogenheit, darum bedarf die Kirche der aktiven Menschen mehr als der kontemplativen: »a Martha convivium Domino parabatur, in cujus convivio Maria iam iucundabatur« (Sermo 104, I,1 PL 38, 616). Deshalb betont Augustinus für alle diejenigen, die aus der transzendenten 98
Beziehung der entsprechenden Texte zur Übernahme der bischöflichen Funktionen nach klösterlicher Zurückgezogenheit im Leben Augustins hingewiesen.232 Die Vorrangigkeits- und Wertüberlegenheitsfrage, die sich für Augustinus aus der vertikalen Sicht klar beantworten ließ, wird nun neu zum Problem. Dieses Problem stellt sich vor allem im Johannestraktat, und zwar zwischen Petrus und Johannes (zu Jo 21, 15–23). Es steht unter folgenden Vorzeichen: Augustinus hat dem aktiven Leben besonders die Liebe zugeordnet. Lea ist Sinnbild der Fruchtbarkeit in guten Werken, Martha Sinnbild der Nächstenliebe, die sich in jedem Bruder um die Leiblichkeit Christi kümmert.233 Nun wird noch Petrus im Anschluß an Jo 21, 15 als der Jünger bezeichnet, der Christus am meisten liebte. Demgegenüber war dem kontemplativen Leben besonders die Hoffnung zugemessen: »quod agebat Maria, hoc speramus«234. Der Glaube betrifft in der vertikalen Sicht die »vita actualis«, die sich noch nicht im Schauen vollzieht; in der horizontalen Sicht betrifft er beide Lebensformen.235 Nun ist aber bei Augstinus das Maß der Vollkommenheit die Liebe.236 Sie entscheidet auch zwischen den beiden Lebenswegen. Wenn aber die Liebe in besonderer Weise dem aktiven Leben zukommt, was ist dann das Maß des kontemplativen Lebens? Dieses Maß muß ebenfalls die Liebe sein; das kontemplative Leben genießt seine »suavitas ex caritate«237. Daraus ergibt sich für Augustinus einerseits, daß sich
232
233 234 235 236 237
Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens für ihr Verhalten falsche Rückschlüsse ziehen: »ministerium Marthae non reprehensum a Christo« (a. a. O. I,2). In der irdischen Kirche hat die »necessitas caritatis« den Vorrang vor der »suavitas caritatis« vgl. De Civitate Dei 19,19, a. a. O. Vgl. G. f. D. Locher, a. a. O. 84–86; A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 425.426. G. Locher konstatiert abschließend: »De conclusie uit deze gegevens mag wel zijn, dat Augustinus geleerd heft de volle plaats aan het actieve leven te geven, voral als huidige gestalte der kerk van Christus ... Toch is dit actieve leven hem immer fremd gebleven als en goede, maar lastige zuster (Martha!)« (a. a. O. 86). Trotz seiner prinzipiellen Aufwertung des aktiven Lebens leidet Augustinus unter seiner Notwendigkeit. Vgl. Sermo 103, II,3 PL 38, 614: Augustinus nennt die »vita activa«: »Dominum pascere«. Sermo 104, III,4 PL 38, 617. Vgl. In Joannis Ev. Tractatus 124,7 PL 35, 1976. Vgl. De natura et gratia 70,84 PL 44, 290. Vgl. De Civitate Dei 19,19 PL 41, 647. 99
die Frage der Wertüberlegenheit im Bereich der »caritas« entscheidet, und andererseits, daß er die »caritas« differenzieren muß nach der Weise von Aktion und Kontemplation. Hier liegt der Grund für den Dualismus von Gottesliebe und Nächstenliebe, der das Modell lange charakterisiert hat und sich im Mittelalter besonders auswirkt. 238 Augustinus selbst hat diesen Dualismus nicht begründet, ihn aber durch seine Scheidung zwischen »caritas veritatis« und »necessitas caritatis« nahegelegt.239 Im Johannestraktat unterscheidet Augustinus nicht zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe, sondern stellt sich das Problem, wie es möglich ist, daß Christus Johannes vor Petrus bevorzugt, der ihn doch von den Aposteln am meisten liebt. 240 Diese Frage hatte sich Augustinus auch im Zusammenhang mit Rachel-Lea und Maria-Martha gestellt,241 bei denen ebenfalls die Bevorzugung durch Jakob bzw. Christus deutlich war, obwohl Fruchtbarkeit bzw. tätige Liebe für Lea bzw. Martha sprachen. Die Lösung dieser Frage findet Augustinus in der Verbindung von vertikaler und horizontaler Sicht. Die »vita contemplativa« in der Kirche präfiguriert ja die »vita contemplativa« der Vollendung, und insofern sie dies tut, ist sie der »vita activa« überlegen. Christus liebt an Johannes den Zustand der Vollendung, des Glücks, der Ruhe, der einmal sein wird, und zwar, weil er uns weniger »miseros quam beatos«242 liebt. Die Rangordnung der vertikalen Sicht gilt also auch in gewisser Weise in der horizontalen Sicht; von der eschatologischen Herrlichkeit her betrachtet muß die Kontemplation über die Aktion gestellt werden. In der Ordnung der irdischen Kirche aber steht die Aktion über der Kontemplation; die Führung der Kirche wird Petrus anvertraut.243 Aktion und Kontemplation sind also einander in verschiedenen Ordnungen wertüberlegen, die Aktion in der immanenten (horizontalen) Ordnung der Kontemplation, die Kontemplation in der transzendenten (vertikalen) Ordnung der
238 239 240 241 242 243
Vgl. U. von Balthasar, DTA 23, 460. Vgl. De civitate Dei 19,19 a. a. O. Vgl. In Joannis Ev. Tract. 124,5 PL 35, 1972. Vgl. A.-M. de la Bonnardière, a. a. O. 411.412. Vgl. In Joannis Ev. Tract. 124,6 PL 35, 1975. Vgl. a. a. O. 124,5 PL 35, 1972. 100
Aktion.244 Sofern die Kirche in der Welt ist, muß sie aktiven Charakter haben, sofern sie nicht von der Welt ist, ist in ihr der kontemplative Endzustand vorgezeichnet. Augustinus ist also weit davon entfernt, die Spannung zwischen Aktion und Kontemplation zugunsten einer durchgängigen Prävalenz des kontemplativen Lebens aufzuheben. Sein Lob der Martha ist ein Lob der weltimmanenten Kirche, sein höheres Lob der Maria ein Lob ihrer zukünftigen Einheit mit Christus, ein Lob der zukünftigen Herrlichkeit der Kirche. Seine Aussagen über das Modell sind in eschatologischer Sicht formuliert, aber sie betonen die Notwendigkeit der irdischen Heilsverwirklichung in der Welt. Die »vita activa« besitzt zeitliche, die »vita contemplativa« ewige Priorität. Dabei kann das eine nicht sein ohne das andere. Aus der Zuordnung von Aktion und Kontemplation, Immanenz und Transzendenz in der christlichen Existenz entsteht Augustins Bestimmung des christlichen Lebensweges als »vita mixta«. C. Vita mixta Die Bedeutung der augustinischen »vita mixta« wird schlecht erfaßt, wenn man sie nur als dritte Lebensform neben »vita activa« und »vita contemplativa« versteht.245 Sie bezeichnet vielmehr Augustinus Versuch, die Einheit von Aktion und Kontemplation nicht nur in Christus und in der Kirche, sondern auch im christlichen Leben zu erfassen. Die Stelle aus »De civitate Dei«, die Thomas benützt und wegen der Vorstellung von der »vita mixta« angegriffen hat,246 legt zwar den Gedanken an eine dritte Lebensform nahe, weil Augustinus von drei Lebensarten spricht, aber in der Folge ist nur davon die Rede, daß der Kontemplative sich nicht der Nächstenliebe entziehen dürfe und daß der Aktive seine Tätigkeiten auf Gott auszurichten habe. 247 Der 244
245
246
247
Die Lehre Augustins bietet damit eine historische Stütze der Thesen H. Sansons, Leben mit Gott in der Welt 88–93. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2 q 179 a 1. Thomas’ kritische Beurteilung (ad 2) geht davon aus, daß jedes menschliche Leben eine «vita mixta» ist, in dem nur jeweils Kontemplation oder Aktion überwiegen. Diese einleuchtende Ansicht greift aber im Grunde gerade Augustins Anliegen auf. Vgl. a. a. O. Augustinus übernimmt die Einteilung der »genera vitae« in »otiosum«, »negotiosum« und »ex utraque compositum« von Varro (vgl. De Civitate Dei 2,3 PL 41, 624 B). Vgl. De Civitate Dei 19,19 PL 41, 647. 101
Schwerpunkt liegt also nicht auf einer Dreiteilung des Lebens, sondern auf dem Verständnis sowohl der »vita contemplativa« als auch der »vita activa« als »vita mixta«. Die Worte von den »genera vitae« sollte man also nicht klassifikatorisch verstehen, denn Augustins Sprachgebrauch ist hier nicht scholastisch festgelegt. In einem anderen Zusamenhang spricht Augustinus von »duae virtutes«, die sich gegenseitig ergänzen;248 eine dritte Lebensform oder Tugend ist nicht gefordert. Nach dem bisherigen Gedankengang liegt es nahe, die »vita mixta« als Zuordnung von Transzendenz und Immanenz in der christlichen Existenz zu begreifen, und zwar analog zur Einheit in Christus und in der Kirche. »Vita mixta« ist dann nicht eine weitere christliche Lebensform, sondern das christliche Leben selbst, dessen Fülle sich je nach Berufung aktiv oder kontemplativ akzentuiert darstellt. In die kontemplative Akzentuierung ist der Bruderdienst einzuschließen: »nec sic esse quisque debet otiosus, ut in eodem otio utilitatem non cogitet proximi ...«249. An anderer Stelle sagt Augustinus, daß die Handarbeit mit der Kontemplation zu verbinden sei. Den Mönchen, die sich über die Handarbeit erhaben dünken, droht er mit Nahrungsentzug. »Cantica vero divina cantare etiam manibus operantes facile possunt et ipsum laborem tamquam divino celeumate consolari.«250 Bei Augustinus gehört also nicht nur das Tugendleben und die Aszese zur Kontemplation, sondern auch die Arbeit und die Bruderliebe. Unbeschadet davon bleibt der Akzent auf der kontemplativen Tätigkeit: »otium sanctum quaerit caritas veritatis«251. In die aktive Akzentuierung ist die »Kontemplation« einzuschließen: »... nec sic (esse debet quisque) actuosus, ut contemplationem non requirat Dei«252. Bei einer solchen Formulierung hängt freilich viel davon ab, was hier unter »Kontemplation« zu verstehen ist. Handelt es sich um eine Gottverbundenheit in der Tätigkeit, die etwas anderes ist als die Muße der Kontemplation, dann bleibt die Eigenständigkeit des aktiven Lebens gewahrt. Das ist jedoch bei Augustinus nicht intendiert. Es genügt ihm nicht, daß die Tätigkeit »gottgemäß«, zum Heil der andern, »recte atque utiliter« geschieht;253 vielmehr darf 248 249 250 251 252 253
Vgl. De consensu evangelistarum 1,5,8 PL 34, 1045. De civitate Dei 19,19 PL 41, 647. De opere monachorum 17,20 PL 40, 564. De civitate Dei 19,19 a. a. O. A. a. O. Vgl. a. a. O. 102
die »suavitas« der Wahrheitsschau um der Notwendigkeit der tätigen Liebe nicht verloren gehen.254 Die »vita mixta« erweist sich also im konkreten Leben doch als ein kontemplativ gefärbtes Einheitsideal. Auch Augustinus hat die mönchstheologische Einseitigkeit des Modells nicht ganz durchbrochen. Man spürt, daß die Selbstgenügsamkeit der philosophischen Kontemplation hier durchscheint. Die Aktion ist »negotium«, Nicht-Muße. Ihre Pflichten (officium, necessitas) werden übernommen (suscipere), wenn sie auferlegt werden (imponere). Das Wort des Apostels Paulus, er möchte von Christus getrennt sein um seiner Brüder willen (vgl. Röm 9, 3) hat hier keinen Platz. »Quam sarcinam si nullus imponit, percipiendae vacandum est veritati; si autem imponitur, suscipienda est propter caritatis necessitatem; sed nec sic omni modo veritatis delectatio deserenda est, ne subtrahatur illa suavitas et opprimat ista necessitas.«255 D. Bewertung des augustinischen Modells Trotz der Einschränkungen, die für den Gedanken der »vita mixta« zu machen sind, bedeutet Augustins Interpretation des Modells einen großen Fortschritt. Der Intellektualismus und der Spiritualismus des philosophischen Modells sind überwunden. Aktion und Kontemplation begegnen sich in der christlichen Liebe; die »perfectio« ist kein Erkenntnisvorgang mehr, sondern ein Vorgang der Liebe.256 Ferner ist der Dualismus des Modells dreifach überwunden, ohne daß die geschichtliche Spannung dem Einheitsgedanken geopfert wird: in Christus, in der Kirche und in der christlichen Existenz sind Aktion und Kontemplation miteinander vereint. Dabei wird von Augustinus die Immanenz in der Transzendenz aufgehoben; das entspricht dem philosophischen Ordnungsgefüge, in dem die Kontemplation immer das Umgreifende darstellt. Schließlich ist die aszetisch-gnostische Vereinseitigung des kontemplativen Lebens überwunden, und zwar durch eine Aufwertung und Integration der Tätigkeit. Die Tätigkeit ist nicht nur Aszese im Kampf um die »apatheia«, sondern Arbeit und Bruderdienst. 254 255 256
Vgl. a. a. O. A. a. O. Vgl. De natura et gratia 70,84 PL 44, 290. 103
Der Wert des christologischen und ekklesiologischen Ansatzes bei Augustinus wird jedoch durch eine dualistische Typologie gemindert, die zwar nur vorläufig ist und als Dialektik von Immanenz und Transzendenz der endgültigen Einheit zustrebt, aber doch verschiedene Merkmale der christlichen Existenz einseitig festlegt. Dazu trägt Augustinus selbst bei, denn nicht immer ist deutlich, welche seiner Aussagen sich auf die »vita aeterna« und welche sich auf die irdische »vita contemplativa« beziehen. So scheint es, als sei die irdische »vita contemplativa« ganz von den Merkmalen der Einheit, Ewigkeit, des Glücks und der Muße geprägt, während die »vita activa« den Charakter der Vielheit, der Vorläufigkeit, des irdischen Elends, der Pflicht und der Mühe trägt. Vom augustinischen Ansatz her durchdringen sich zwar diese Merkmale in der kontemplativen bzw. aktiven »vita actualis«, die ja immer »vita mixta« ist, aber der dialektische Sprachgebrauch läßt sie oft schroff auseinandertreten. Wo daher der Ansatz nicht mehr gewahrt wurde, mußte die Zuordnung der Merkmale einem krassen Dualismus weichen, in dem die immanenten Tätigkeiten an der eschatologischen Sehnsucht nach der unvergänglichen Kontemplation abgewertet wurden. Augustinus hat den Nachteil des aktiven Lebens in seiner irdischen Vorläufigkeit und den Nachteil des kontemplativen Lebens in seiner Sterilität gesehen. Die Sterilität ist nun aber ein Merkmal der philosophischen Kontemplation, nicht der christlichen Liebeserkenntnis. Die Figuren der Rachel (Unfruchtbarkeit und Schönheit) und Lea (Fruchtbarkeit und Häßlichkeit) wären wohl ohne die philosophische Vorprägung nicht für das Modell bedeutsam geworden. Die christliche Kontemplation wird an ihrer Fruchtbarkeit erkannt; die tätige Liebe ist deshalb für sie nicht nur »officium«, sondern Maßstab. Auch für sie gilt die irdische Vorläufigkeit, bis ihr Erkennen nicht mehr Stückwerk ist, sondern sich so erkennt, wie es erkannt ist (vgl. 1 Kor 13, 12). Andererseits kann die Bedeutung des aktiven Lebens nicht in vollem Sinne gesehen werden, so lange seine Fruchtbarkeit nur vorläufig verstanden wird und die Dimension der Hoffnung ausschließt. Während das kontemplative Leben darum weiß, daß die Vollendung in Christus immer schon geschehen ist und deshalb die eschatologischen Züge der Kirche schon in dieser Zeit präsent macht, weiß das aktive Leben darum, daß die endgültige Vollendung noch aussteht und vorbereitet
104
werden muß, und versucht deshalb in der Gestaltung der Schöpfung die Vorbereitung ihrer Verwandlung.257
257
Vgl. Sermo 104 I,1 PL 38, 616: »A Martha convivium Domino parabatur, in cujus convivio Maria iam iucundabatur«. 105
III. DAS MODELL ALS TRADITIONSGUT DER CHRISTLICHEN SPIRITUALITÄT 1. Die Vermittlung des Modells zum Mittelalter258 H. Urs von Balthasar weist im Thomaskommentar darauf hin, daß die Tradition des Modells »vita activa – vita contemplativa« »ununterbrochen« und »völlig homogen« von Thomas auf die griechische Mönchstheologie und Augustinus zurückreicht.259 Tatsächlich erbringt die Geschichte des Modells nach Augustinus und Cassian inhaltlich nichts Neues mehr, sondern nur verschiedene Einkleidungen derselben Tradition. Erst durch das klassifikatorische Interesse in der Scholastik tauchen neue Fragen auf, so für das kontemplative Leben die Frage der Vorrangigkeit von Affekt oder Intellekt und die Frage der Abgrenzung der Kontemplation zur »visio beatifica«, für die Unterscheidung beider Lebensformen die Einordnung der sittlichen und theologischen Tugenden sowie der Gaben des Heiligen Geistes.260 Unser Überblick verzichtet daher auf die Darstellung der einzelnen Einkleidungen des Themas und beschränkt sich darauf, auf die Namen, Texte und Aspekte hinzuweisen, die für die Interpretation des Modells im Mittelalter bedeutsam waren. A. Das Weiterleben des augustinischen Modells bei Julianus Pomerius Die augustinische Scheidung von »vita actualis« und »vita aeterna« wirkt sich vor allem auf die Schrift des Julianus Pomerius »de vita contemplativa« aus, die im Mittelalter Prosper von Aquitanien zugeschrieben wurde und einen großen Einfluß 258
259 260
Vgl. zum Ganzen: M. Olphe-Galliard, Vie contemplative et vie active d’après Cassien 252–288; M. L. W. Laistner, The influence during the Middle Ages of the treatise »De vita contemplativa« and its surviving manuscripts 344–358; f. Lieblang, Grundfragen der mystischen Theologie nach Gregors des Großen Moralia und Ezechielhomilien 160–176; C. Butler, Western Mysticism 212 ff., 267 ff.; J. Leclerq –F. Vandenbroucke, La spiritualité du Moyen Age 19–59; f. Ohly, Hohelied-Studien 60.67 f.108.132. U. von Balthasar, DTA 23, 432. Vgl. a. a. O. 433.434. Die klassifikatorischen Fragen werden in dieser Untersuchung nicht näher thematisiert, weil sie für die Behandlung des Modells bei Eckhart und Tauler ohne Belang sind. 106
ausübte. 261 Die theologische Tiefe, die Augustins Interpretation des Modells auszeichnete, wird freilich weder von ihm noch von Gregor dem Großen erreicht, der ein noch wichtigerer Gewährsmann des Mittelalters in dieser Frage war. Pomerius’ Schrift hat ein praktisches Interesse. Es geht ihm vor allem um die Spiritualität der Priester.262 Der Titel »de vita contemplativa« ist dabei etwas mißverständlich, denn von den drei Büchern handelt das erste über das Modell, das zweite über die »vita actualis« als »vita mixta« und das dritte über Tugenden und Laster.263 Die Schrift ist also eher ein kleines Kompendium der Spiritualität; als solche wurde sie gern in frühmittelalterlichen Synodalakten ausgewertet.264 Das augustinische Modell findet sich vor allem im ersten Buch, jedoch ohne Augustins ausführliche Typologie und ohne seine christologische und ekklesiologische Vertiefung. Pomerius übernimmt vor allem Augustins eschatologisches Motiv. Die christliche Existenz wird von der »vita futura« her bestimmt, die »vita contemplativa« im eigentlichen Sinne ist.265 Deshalb bestimmt die »visio beatifica« die Definition des kontemplativen Lebens. »Contemplativa vita, in qua Creatorem suum creatura intellectualis ab omni peccata purgata, atque ex omni parte sancta, visura est, a contemplando, id est, videndo, nomen accepit.«266 Dementsprechend behandelt Pomerius anfangs den Vollendungszustand des Christen, vor allem die Auferstehung des Leibes. 267 Darin liegt ein Fortschritt in der Betrachtung des Modells, der freilich ohne weitere Wirkung blieb. Gerade in der eschatologischen Bestimmung der »vita contemplativa« wurde leicht 261 262 263
264
265 266 267
Vgl. M. L. W. Laistner, a. a. O. 347–351. Vgl. De vita contemplativa I, Praefatio PL 59, 416 C. Im ersten Buch stellt sich Pomerius die Aufgabe: »quid inter ipsam (vita contemplativa) et activam vitam intersit, quanto possum brevitate distinguam« (a. a. O. 416 C); im zweiten Buch geht es um die »ecclesiastica vita« und ihre Verpflichtungen (II, Praefatio, a. a. O. 441 B); im dritten Buch um eine «disputatio de vitiis atque virtutibus» (III, Praefatio, a. a. O. 471 B). Vgl. M. L. W. Laistner, a. a. O.: zwischen 750 und 900 besitzt der Traktat eine große Autorität und wird von Bonifatius, Chrodegang von Metz, Amalrich von Trier, Hrabanus Maurus, Jonas von Orléans u. a. gern zitiert. Vgl. De vita contemplativa, I, 2–5 PL 59, 420 A – 423 C. A. a. O. I,1 PL 59, 418 D. 419 A. Vgl. a. a. O. I,3 PL 59, 421 C – 422 C. 107
vergessen, daß nicht die permanente Geistigkeit der Gottesschau, sondern die Auferstehung des Fleisches das Zentrum der christlichen Hoffnung ist. Die platonische Kontemplationsmystik übte hier ihren Einfluß aus. Bei Pomerius, der kein Mystiker war, tritt sie hinter die Glaubenstradition zurück. Die »vita actualis« ist für Pomerius Kampf der »milites Christi« im Glauben auf die kommende Vollendung hin.268 Wie Augustinus, so scheidet auch er im diesseitigen Leben wiederum zwischen »vita contemplativa« und »vita activa«. Das kontemplative Leben ist dabei der irdische Anteil an der zukünftigen Vollendung in der Schau. Die Kontemplativen empfangen bereits hier die Gabe der geistlichen Weisheit (sapientia spiritualis), wenn sie, von der Liebe erfaßt, in der Hoffnung »studiis coelestibus gerunt«269. Diese Fassung des kontemplativen Lebens ist sehr weit gespannt. Bei näherem Zusehen entdeckt man, daß Pomerius im Grunde nichts anderes meint als »perfecte vivere«270. Dieser Anspruch gilt aber auch für das aktive Leben. Pomerius’ Anliegen ist nur, die Spiritualität der aktiv lebenden Priester durch kontemplative Züge zu ergänzen: »quales esse debeant sacerdotes qui volunt fieri vitae contemplativae participes«271. Es geht ihm also um die Ergänzung der Aktion durch die Kontemplation, und zwar bei klarer Vorrangigkeit der Aktion in der »vita actualis«. Unter dieser Aktion versteht Pomerius hier im Bereich der Seelsorge die Verkündigung (praedicare).272 Für Pomerius spezifizieren also Aktion und Kontemplation nicht zwei verschiedene Lebensformen, sondern sie ergänzen sich in der christlichen Spiritualität. Die Aktion erfüllt die Werke der Barmherzigkeit273 und verkündet den Glauben durch die Tat.274 Die Kontemplation erfüllt dieses immanente Handeln mit transzendenter Sehnsucht; sie ist auf Erden »contemplativae vitae desiderio affectus« 275 . Kontemplation und Aktion kennzeichnen also Immanenz und Transzendenz in der christlichen Existenz. »Ad activam pertinet inter humana proficere, et rebelles corporis motus rationis imperii temperare; ad con 268 269 270 271 272 273 274 275
Vgl. a. a. O. I,1 PL 59, 419 BC. A. a. O. I,5 PL 59, 423 C. Vgl. a. a. O. I,5 PL 59, 423 A. A. a. O. I,25 PL 59, 439 D – 440 D. Vgl. a. a. O. 1,19 PL 59, 433 C. Vgl. a. a. O. I,12 PL 59, 428 B. Vgl. a. a. O. I,19 PL 59, 433 BC. A. a. O. I,8 PL 59, 426 D. 108
templativam supra humana desiderio perfectionis ascendere, et indesinenter augendis virtutibus incubare.«276 Diese Definition teilt also die Bekämpfung der Leidenschaften der Aktion zu, was der Tradition entspricht, die Mehrung der Tugenden aber der Kontemplation, was der Tradition keineswegs entspricht. Eine solche Einteilung ist nur möglich, weil Pomerius Augustins »contemplatio inchoata« sehr weit faßt. Bei Augustinus hatte noch die Selbstverleugnung zur Aktion gehört, Pomerius zählt sie zu den Zügen der Kontemplation.277 In der »vita actualis« rücken für Pomerius also Kontemplation und Aktion eng zusammen, nur der Aspekt bleibt verschieden. Kontemplation ist nicht viel mehr als die transzendente Gesinnung (intentio, supra humana) im innerweltlichen Fortschritt (inter humana proficere).278 So ist es zu verstehen, daß Pomerius seine christliche Tugendlehre im dritten Buch unter dem Oberbegriff »vita contemplativa« abhandelt. Das was er beschreiben will, ist jedoch eine Spiritualität des aktiven Lebens, nicht für den Mönch, sondern für den Bischof und Priester geschrieben. Sie hat die »praedicatio« in Wort und Lebensführung zum Ziel und behandelt ihre spirituellen Voraussetzungen unter dem Stichwort: »... ut bene agat quis, intelligere studeat, et ut intelligat, credat279. Man kann die Schrift des Pomerius als praktische Auswertung des augustinischen Modells auffassen. Von der kontemplativen »Weltmüdigkeit« Augustins ist freilich dabei wenig zu spüren.280 Hatte für Augustinus die spirituelle Durchdringung der Aspekte noch einen überwiegend kontemplativen Akzent, auch innerhalb der »vita actualis«, so zeigt Pomerius die Durchdringung auf aktiver Ebene. Dabei ist interessant festzustellen, daß, je nachdem sich die Ebene der Behandlung verschiebt, ein anderes Verständnis von Transzendenz und Immanenz aufritt. So sind auch Kontemplation und Aktion in aktiver oder in kontemplativer Sicht etwas je Verschiedenes. Für Augustinus ist Kontemplation zeitlose Schau und, wenn auch eingeschränkte Vorwegnahme des endgültigen Glücks, Aktion aber ist Pflicht, vorläufige Notwendigkeit. Für Pomerius ist Kontemplation Gottverbundenheit inmitten der eigentlichen Aufgabe, der pastoralen Aktion. 276 277 278 279 280
A. a. O. I,12 PL 59, 427 D. 428 A. Vgl. a. a. O. I,8 PL 59, 425 C. Vgl. Augustinus, In Joannis Ev. tract. 124,5 PL 35, 1972. Vgl. a. a. O. I,12 PL 59, 427 D. 428 A. A. a. O. 1,19 PL 59, 433 C. Vgl. U. von Balthasar, DTA 23, 453; G. f. D. Locher, a. a. O. 86. 109
B. Das Weiterleben des augustinischen Modells bei Gregor dem Grossen Die kontemplative Akzentuierung des augustinischen Modells, wie sie sich bei Augustin selbst findet, prägt vor allem die Überlegungen Gregors des Großen.281 Bei ihm findet sich inhaltlich nicht viel Neues,282 obwohl er alle bei Augustinus vorhandenen Aspekte noch ausführlicher behandelt. Auch Gregor bestimmt die »vita actualis« als »vita mixta«, die in Christus ursprünglich geeint ist.283 Gregor sorgt sich vor allem um den Aufbau eines geistlichen Lebens, das Aktion und Kontemplation integriert. Dieser Aufbau beginnt mit dem aktiven Leben. Das aktive Leben integriert dabei die sittliche Selbstheiligung (personaler Aspekt), die Handarbeit (materialer Aspekt) und die Sozialfürsorge (sozialer Aspekt). 284 Darauf folgt das kontemplative Leben, das bei Gregor in der Gottes- und Nächstenliebe besteht, aber sich von äußerer Tätigkeit zurückhält. »Contemplativa vero vita est caritatem quidem Dei (et) proximi tota mente retinere, sed ab exteriore actione quiescere.«285 Diese Definition würde das Signum des Quietismus tragen, wenn Gregor das kontemplative Leben als eigenständige Lebensform auffaßte. Aber für ihn gibt es ebensowenig ein rein kontemplatives wie ein rein aktives christliches Leben. Es gibt nur Akzentuierungen. Für Gregor hat das tätige Leben die natürliche Tendenz zum kontemplativen Leben; deshalb fordert er »kontemplative Perioden« für diejenigen, die hauptsächlich in der Aktivität befangen
281
282
283
284
285
Vgl. f. Lieblang, a. a. O. 160–169; von den dort angeführten Texten vgl. vor allem Homiliarum in Ezechielem 2,2,8 ff. PL 76, 953 A – 955 C (EA Nr. 1268). Gregor schreibt aus einer ähnlichen Situation heraus wie Augustinus: bei aller Aktivität im Kirchenamt beherrscht ihn die Sehnsucht nach der beschaulichen Zurückgezogenheit, aus der er gekommen war. Vgl. L. M. Weber, Hauptfragen der Moraltheologie Gregors des Großen. Ein Bild altchristlicher Lebensführung. (Paradosis. Beiträge zur Geschichte der altchristlichen Literatur und Theologie. Bd. I.) Freiburg/Schw. 1947, 70.71.127.128. Vgl. Moralia 28, 13,33 PL 76, 467 B: »Ab activa enim vita longe contemplativa distat; sed incarnatus redemptor noster veniens, dum utramque exhibuit, in se utramque sociavit.« Dabei werden die personalen und sozialen Aspekte von Gregor viel häufiger angesprochen. Vgl. Moralia 1,6,37 PL 75, 760 C und Hom. in Ez. 2,2,8 PL 76, 953 A. Hom. in Ez. a. a. O. 110
sind.286 Ebenso hat das kontemplative Leben eine Tendenz, zum aktiven Leben zurückzukehren, um des Nutzens und der Fruchtbarkeit willen.287 Für Gregor ergeben sich also im Verlauf des christlichen Lebens drei aufeinanderfolgende Schritte: Aktion, Loslösung davon und Kontemplation, Rückkehr zur Aktion. Diese drei Schritte wiederholen sich immer wieder und bilden gleichsam den Rhythmus des geistlichen Lebens. Auch hier liegt eine Auswertung Augustins vor, jedoch mit einem kleinen, nicht unbedeutenden Unterschied. Wenn Augustinus die Rückkehr zur Aktion fordert, so unter dem Vorbehalt, die »suavitas« der Schau nicht gänzlich aufzugeben;288 wenn Gregor die Rückkehr zur Aktion fordert, so mit der Begründung, daß das beschwerliche Leben der Tätigkeit nicht gänzlich aufgegeben werden dürfe. 289 Hier scheint Gregor dem aktiven Leben doch näher zu stehen als Augustinus, was seiner praktischeren Ausrichtung entspricht. Aber auch Gregors Dreischritt bleibt letztlich ein kontemplatives Ideal, das sich nur insoweit mit der Aktion einläßt, als es nicht zu umgehen ist. Das wird deutlich an Gregors Fassung der Rachel-Lea-Typologie: Jakob kehrt von Rachel (pulchra et infecunda ... filios non generat ex praedicatione) zu Lea (lippa et fecunda ... multos in bono opere filios generat) zurück, nicht weil er sie liebt, sondern weil er sich den fruchtbaren, aber mühevollen Notwendigkeiten des aktiven Lebens nicht entziehen darf.290 Eine glaubwürdige Anwendung auf diejenigen, die zur Kontemplation als »visio principii«291 weder fähig noch berufen sind, findet sich bei
286 287
288
289 290 291
Vgl. C. Butler, a. a. O. 212.268. Vgl. Hom. in Ez. 2,2,11 PL 76, 955 A: »... plerumque utiliter a contemplatione animus ad activam vitam reflectitur, ut per hoc quod contemplativa mentem accenderit, perfectius activa teneatur. Debet ergo nos activa ad contemplativam transmittere, et aliquando tarnen ex eo quod introrsus mente conspeximus, contemplativa melius ad activam revocare. Unde et idem Jacob post Rachelis amplexus ad Liae rediit, qui et post visum principium laboriosa vita boni operis non est funditus deserenda«. Vgl. De Civitate Dei 19,19, PL 41, 647: »... sed nec sic omni modo veritatis delectatio deserenda est, ne subtrahatur illa suavitas et opprimat ista necessitas.« Vgl. Hom. in Ez. 2,2,11 a. a. O. Vgl. Hom. in Ez. 2,2,10 PL 76, 954 C. Hom. in Ez. 2,2,11, a. a. O. 111
Gregor ebensowenig wie bei Augustinus.292 Das Problem, das sich uns heute stellt, kam damals nicht in den Blick. Augustinus und Gregor haben einerseits aktives und kontemplatives Leben als zwei verschiedene und eigenständige Lebensformen in der Kirche aufgefaßt und andererseits ihre prinzipielle Verbindung in jedem Leben gefordert. Die Eigenständigkeit der beiden Lebensformen verlangt nun »deux manières d’unir l’action et la contemplation«293; aber Augustinus und Gregor bieten im Grunde nur eine Weise der Zuordnung; dem Aktiven wird gesagt: »Cum ad contemplativam vitam idonea discretione non sufficis, solam securius activam tene«294. Das wäre nun ein guter Ratschlag, wenn er nicht im Schatten der kontemplativen Wertüberlegenheit stünde und bei aller Hochschätzung der Aktivität den Aktiven sein persönliches Ungenügen spüren ließe. Man muß freilich bedenken, daß Kontemplation jedesmal dann, wenn sie auf die »vita mixta« bezogen wird, einen weiteren Sinn annimmt als mystische Gottesschau. Die eigentliche Schau hat ja nur vorübergehenden Charakter,295 deshalb kann sie bereits nicht mehr gemeint sein, wenn man vom kontemplativen Leben spricht. Die »caritas veritatis« bei Augustinus läßt jedenfalls einen weiten Bereich von Gebet, Erkenntnis und Liebe zu. Deshalb möchte J. Leclercq bei Gregor zwischen einer »vita contemplativa« im engeren Sinne und einer »vita contemplativa« im weiteren Sinne unterscheiden, wobei letztere sich auf die Ergänzung mit der »vita activa« bezieht.296 Doch ist damit das Problem nicht gelöst, solange diese kontemplativen Ergänzungsformen aus den Erfahrungen der Kontemplation und nicht auch aus den Erfahrungen der Aktion formuliert werden. Wenn dies aber geschieht, dann kann Kontemplation nur noch Gottverbundenheit bedeuten, die in jeder Lebensform auf verschiedene Weise möglich ist. Diese der christlichen Spiritualität entsprechende Umformung des Kontemplationsgedankens findet sich jedoch bis zu Thomas von Aquin einschließlich nicht; erst bei Meister Eckhart tritt der Kontemplationsgedanke 292
293 294 295
296
Das Einheitsideal von Aktion und Kontemplation bleibt bei aller Anerkennung der Aktion immer kontemplativ bestimmt, solange die «vita activa« in ihrer Eigenständigkeit nicht anerkannt wird. J. Leclerq, La spiritualité du Moyen Age 21. Moralia, 6,37,57 PL 75, 762 B. Die »vita contemplativa« ist deshalb »minor quidem tempore, sed merito major (est) quam activa«. (Moralia 6,37,61 PL 75, 764 C.) Vgl. La spiritualité du Moyen Age 20. 112
mit seinen gnoseologischen Belastungen ganz hinter der Theologie der Gottesgeburt zurück und die Privilegien des kontemplativen Lebens verschwinden. 297 Dennoch muß man rückblickend feststellen, daß die Entwicklung des Modells von den griechischen Vätern des dritten und vierten Jahrhunderts über Augustinus zu Gregor dem Großen und weiterhin einen Aufstieg des aktiven Lebens einschließt. Der Grund dieses Aufstieges liegt in der Unterscheidung der beiden Aspekte bei Augustinus: in der transzendenten Unterscheidung von »vita futura« und »vita actualis« behält die Kontemplation die Führung; in der immanenten Unterscheidung innerhalb der »vita actualis« übernimmt die Aktion die Führung vor der Kontemplation. Aktion und Kontemplation sind nun nicht mehr wie im philosophischen Modell und noch in der christlichen Integration der Alexandriner anthropologische Stufen oder Schichtungen, sondern Aspekte der Kirche und der christlichen Existenz. Das christliche Modell hat sich weit vom Ausgangspunkt entfernt. Nicht mehr theoretischer und praktischer Intellekt stehen sich gegenüber, sondern Transzendenz und Immanenz, Zukunft und Gegenwart, die eschatologische Spannung zwischen der Heilsberufung aus der Welt und der Heilsverwirklichung in der Welt. Dieses Verständnis war zwar im philosophischen Modell insofern grundgelegt, als die Theorie zugleich die Transzendenzerfahrung und die Praxis zugleich die immanente Haltung bedeuteten, aber das christliche Modell legt eine neue Scheidungslinie an, die quer durch theoretische und praktische Vernunft hindurch geht, indem es zugleich schärfer zwischen Immanenz und Transzendenz unterscheidet und zugleich beides zusammen in jedem Merkmal des Menschen präsent sieht. Es scheidet schärfer zwischen Transzendenz und Immanenz, indem es der reinen »vita contemplativa« ihren Platz in der »visio beatifica« zuweist; es verbindet Transzendenz und Immanenz inniger, indem es alle Aspekte des Menschlichen in seiner ganzheitlichen Betrachtungsweise sowohl in ihrer Transzendenz wie in ihrer Immanenz begreift. Für den Griechen war die Gottebenbildlichkeit auf die Gottähnlichkeit der höchsten Funktionen des Geistes beschränkt; für den Christen wird sie in allen Aspekten des Menschen sichtbar, auch in der Arbeit, die das Wirken Gottes abbildet. Für eine christliche Denkweise sind keinerlei Merkmale der christlichen Existenz absolut auf Transzendenz und Immanenz festlegbar; an welchem Aspekt man auch ansetzt in einer Theologie der Spiritualität, er kann und muß sich zur Fülle der christlichen Existenz erweitern. Man kann 297
Vgl. S. 240/241 dieser Untersuchung. 113
sowohl in der »vita contemplativa« wie in der »vita activa« das Zusammenspiel der theologischen Tugenden darstellen; die Zuordnung wird jeweils anders strukturiert sein, aber ideologische Einseitigkeiten werden vermieden.298 Solche Einseitigkeiten stehen solange immer in Reichweite, als mit dem formalen Ordnungsgefüge der Philosophie ein Dualismus der Merkmale tradiert wird, der sich unterschwellig im christlichen Modell festsetzt. So stehen sich im augustinischen Modell die Gegensatzpaare Fruchtbarkeit – Unfruchtbarkeit, Vorläufigkeit – Ewigkeit, Beschwernis – Ruhe gegenüber. Gregor von Nazianz hatte noch die Kontemplation für schwieriger gehalten als die Aktion;299 seit Augustinus besteht die Gefahr, daß die »vita contemplativa« zum Zufluchtsort für das menschliche Ruhe- und Mußebedürfnis (otium sanctum) und ganz allgemein für Sekuritätsbestrebungen in der Frömmigkeit in Anspruch genommen wird. Das Wort »ab exterioribus actionibus quiescere«300, das mehrere Generationen in der Interpretation der Maria-Martha-Perikope von Gregor abgeschrieben haben, konnte zum gefährlichen Schlagwort der quietistischen Versuchung werden. Eckharts Predigt über Maria und Martha muß sich mit solchen Versuchungen auseinandersetzen.301 Das augustinische Modell lebt über Pomerius und besonders über Gregor im Mittelalter fort, vor allem in den Erklärungen zu Lk 10, 38–42. Von Gregor abhängig sind dabei: Alulfus und Paterius,302 Beda Venerabilis,303 Rupert von Deutz,304 Hugo von St. Viktor;305 von Augustinus besonders Wilhelm von St. Thierry.306 Eine etwas abweichende Linie findet sich in einem »opusculum de vita activa et contemplativa« unter den Schriften Isidors. Hier steht zum erstenmal eine klare Aufteilung von Aktion und 298 299 300
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Zur ideologischen Gefahr des Modells vgl. Teil 3, III,4. Vgl. Orationes 4, 113 (contra Julianum) PG 35, 649 B. Vgl. auch Beda Venerabilis, Homilia 57 III, PL 94, 420; Paulus Winfridus (Diaconus), Homiliae de sanctis II PL 95, 1569. Vgl. q 288, 36 f.: »Nun wollen gewisse Leute es gar so weit bringen, daß sie der Werke ledig werden. Ich sage: das kann nicht sein.« Vgl. Paterius, Super Evangelium secundum Lucam 25 PL 79, 1062 CD; Alulfus, Super Evangelium secundum Lucam 37 PL 79, 1211 D – 1212 C. Vgl. Beda Venerabilis, Expositio in Evangelium sancti Lucae PL 92, 301. Vgl. In Genesim (cap. 24) PL 167, 476 B ff. Vgl. Allegoriae in Novum Testamentum 4,13 PL 175, 815 D – 816 D. Vgl. De contemplando Deo (La contemplation de Dieu, Paris 1959) 58. 114
Kontemplation nach Nächstenliebe und Gottesliebe, in der Formulierung freilich gegen jeden Dualismus abgesichert. »Utraque enim ita sibi connexa est, ut una sine alia sufficere nequaquam valeat. Quia nec dilectio proximi absque dilectione Dei quidquam prodest, neque dilectio Dei sine dilectione proximi perfectum efficere valet.«307 Im folgenden gibt der Verfasser sogar der Nächstenliebe den Vorzug, denn die »fraterna compassio« ist für ihn der Maßstab und die Grenze der »vita contemplativa«.308 So vermag sich zwar die Aktion ohne Kontemplation darzustellen, nie aber die Kontemplation ohne die Aktion.309 Die wahre Vollkommenheit sieht der Verfasser in einem Rhythmus von »ascendere« und »descendere«.310 Die Kontemplation ist ein Aufschwung aus dem aktiven Leben, der wieder zum aktiven Leben »per compassionem fraternam« zurückkehrt.311 Solche Gedanken finden sich wieder bei Bernhard von Clairvaux und später bei Johannes Tauler.312 C. Die Vermittlung der orientalischen Mönchstheologie durch Cassian Außerhalb des augustinischen Modells hat vor allem Cassian auf das Mittelalter eingewirkt und ihm die altgriechische Mönchstheologie vermittelt. Drei Aspekte sind dabei besonders bedeutsam. Zunächst die Dreistufung von »theoria praktike, physike und theoretike«313, die im Mittelalter, z. B. bei Richard von St. Viktor und Thomas,
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Opusculum de vita activa et contemplativa (Appendix ad S. Isidorum Hispalensem) n 1 PL 83, 1243 C. Vgl. a. a. O. n 2 PL 83, 1243 C. Vgl. a. a. O. n 37 PL 83, 1248 A: »... activa actio ... absque contemplativa ... sibi sufficit ... Contemplativa autem, quousque mortaliter vivimus, sine activa se explicare non valet.« Vgl. a. a. O. n 2 PL 83, 1243 C: »Illi vero perfecti esse noscuntur qui intra Ecclesiam tempore discreto de vita activa ad contemplativam ascendere noscunt, et de contemplativa ad activam per compassionem fraternam descendere sciunt.« Vgl. auch a. a. O. n 38 PL 83, 1248 A. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Opusculum de vita activa et vita contemplativa, PL 184, 1276–1279; zu Tauler vgl. Teil 3, III,3 dieser Arbeit. Vgl. Evagrius Ponticus, Capita practica ad Anatoliam I,1 PG 40, 1221; Cassian, Collationes 14,3.4. PL 49, 995 B ff.; vgl. dazu: M. Olphe-Galliard, a. a. O. 254; S. Marsili, a. a. O. 105 ff. 115
als Unterscheidung zwischen einer Kontemplation im engeren (simplex intuitus veritatis) und im weiteren Sinne (contemplatio divinorum effectuum) weiterwirkte.314 Ferner, in negativer Weise, die Beschränkung der »praktike« auf Aszese und Sozialfürsorge, was im Mittelalter zu den Ordensdiskussionen über Notwendigkeit und Wert der Handarbeit führte.315 Schließlich eine sehr akzentuierte Hervorhebung des größeren Verdienstes der »theoretike«, wie sie sich in dieser Schärfe weder bei Augustinus noch bei seinen Epigonen findet.316 Die Mönchstheologie kennt keine »Rückkehr« von der Kontemplation zur Aktion, jedoch muß man bedenken, daß in der Dreistufung jeweils die untere Stufe in der oberen erhalten bleibt, die jeweils die umfassendere ist, so daß das aktive Leben im kontemplativen Leben aufgeht. Ein eigenständiges aktives Leben wird jedoch von dieser Stufenordnung aus abgewertet, wie wir bereits bei Evagrius gesehen haben.317 Eine solche »Rückkehr« liegt, wie H. Urs von Balthasar bemerkt,318 verborgen in den Gedanken des Gregor von Nyssa und des Ps. Dionysius über das Dunkel der Gottesschau, wo alle Weisen des intellektiven und affektiven Aufschwungs auf die absolute Weglosigkeit und Unzugänglichkeit Gottes stoßen, wo das eigentliche »Licht« nicht in der Illumination, sondern in der Verborgenheit erscheint: »ho theios gnophos esti to aprositon phos«319. Dieses Erleiden der Unzugänglichkeit Gottes ist die höchste Form der »vita contemplativa«, die »vita passiva«, die bei Augustinus den Ausdruck
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Vgl. Richard von St. Viktor, Benjamin major 1,1–5 PL 196, 67 C; Thomas, S.th. 2–2 q 180 a 4 resp. Vgl. J. Storm, Untersuchungen zum »Dialogus duorum monachorum Cluniacensis et Cisterciensis« 68.69. Vgl. Cassian, Collationes 1,8 PL 49, 491 B: »Videtis ergo principale bonum in theoria sola, id est in contemplatione divina, Dominum posuisse. Unde ceteras virtutes, licet necessarias et utiles bonasque pronuntiemus, secundo tarnen gradu censendas esse decernimus, quia universae huius unius patrantur obtentu.« Vgl. S. Marsili, a. a. O. 110. Vgl. DTA 23, 457. Ps. Dionysius, Epistula 5 PG 3, 1073 A. 116
findet »pasci a Domino«320. Hier liegt zugleich die kontemplative Seite der »compassio fraterna«, indem dieses schmerzhafte Erleiden für die Brüder aufgeopfert wird oder indem sich der Mystiker dem Experiment des tätigen Lebens unterwirft.321 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das augustinische Modell in der Vermittlung an das Mittelalter die Führung innehat. Das spricht nicht nur für die Autorität des Augustinus, sondern auch für umfassenden Charakter seiner beiden Aspekte, die alle vorhergehenden Typen in sich begreifen und vertiefen können. Aus diesen Gründen blieb auch die Behandlung im Mittelalter im wesentlichen einheitlich bis auf die Schwankungen in der Zuordnung einzelner Merkmale zur Aktion oder Kontemplation. Wir haben gesehen, daß z. B. die Nächstenliebe bald der Aktion (Augustinus), bald der Kontemplation in weiterem Sinne (Gregor) zugeordnet wurde. Solche klassifikatorischen Probleme beschäftigten die Scholastik, an der Spitze Thomas von Aquin.
2. Das Modell im Mittelalter A. Allgemeiner Überblick322 Im Mittelalter ist das Modell bereits zur festen Formel geworden. Seine Merkmale und die augustinische Typologie gehören zum Bestand der mystischen Traktate und Schrifterklärungen.323 Man kann diese Merkmale in Unterscheidungsmerkmale und Verhältnismerkmale aufteilen. »Vita activa« und »vita contemplativa« unterscheiden sich zunächst nach Akt und Gegenstand. Über die Gegenstandsfrage war man sich im Mittelalter weitgehend einig. Gegenstand der »vita contemplativa« im engeren Sinne konnte nur Gott selbst 320 321 322
323
Sermo 103, II,3 PL 38, 614. Vgl. Anm. 309. Vgl. zum Ganzen: J. Leclerq – f. Vandenbroucke, La spiritualité du Moyen Age, besonders 136 f., 156 f., 270 f., 386 f.; B. Aperribay, La vida activa y la vida contemplativa según San Buenaventura; ders., Prioridad entre la vida activa y contemplativa según San Buenaventura; H. Urs von Balthasar, DTA 23, 432–464; C. Wirtz, Das kontemplative und aktive Leben nach Thomas von Aquin. Vgl. für die Hohes-Lied-Kommentare f. Ohly, Hoheliedstudien 108.132.153 f. 117
sein. Gott aber war viel mehr als Gegenstand; er bestimmte zudem den Kontemplationsakt, der in seiner höchsten Form schauende Teilnahme am göttlichen Leben in der Trinität bedeutete.324 Je mehr sich der Kontemplationsakt von der mittelbaren »theoria physike«, der Erfahrung Gottes in der Schöpfungswirklichkeit, zum unmittelbaren Aufblick zu Gott verengte, um so mehr wurde er ein Akt der Gnade Gottes.325 Dieser Akt, in dem Gott und Mensch zusammenwirken, ist ebenso einheitlich wie sein Gegenstand. An seinem intuitiven Charakter hat sich seit Aristoteles nichts geändert. Für die griechischen Väter war diese Intuition immer zugleich liebend und erkennend, obwohl die gnoseologische Terminologie vorherrschend blieb. Durch Augustinus wurde die Betonung der Liebe verstärkt; »vita contemplativa« ist Aufstieg in der »caritas«, von der »caritas inchoata« über die »caritas provecta« bis zur »caritas perfecta«326. Im Mittelalter geriet die intellektive Terminologie mit der affektiven Terminologie in eine Spannung, die ursprünglich nicht vorhanden war. Für diese Spannung wurde immer wieder ein Ausgleich gesucht, der am klarsten bei Wilhelm von St. Thierry formuliert ist: »amor ipse intellectus est«327. Der Kontemplationsakt kann also intellektive und affektive Färbung tragen. Die Durchformung der Erkenntnis mit der Haltung des Liebenden ist ein untrügliches Kennzeichen der christlichen Kontemplation. Die Liebe ist dabei nicht nur, wie der platonische Eros, Ausgangspunkt, sondern auch Endpunkt des kontemplativen Aufstieges. Der christliche Kontemplationsakt hat in mehrfacher Hinsicht doppelten Charakter. Er ist Zusammenwirken zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Aktivität; er ist Zusammenwirken von Erkenntnis und Liebe; schließlich ist er auf der einen Seite Ruhe und Muße und auf der anderen Seite »operatio«, also auch eine Tätigkeit. Der operative Charakter bezieht sich dabei auf die ganze fortschreitende Dynamik
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Vgl. Augustinus, Sermo 103, III,4 PL 38, 614.615. Vgl. Richard von St. Viktor, Benjamin major 1,2 PL 196, 65 D. Vgl. Augustinus, De natura et gratia 70,84 PL 44, 290. Vgl. J.-M. Dechanet, Amor ipse intellectus est. La doctrine de l'amourintellection chez Guillaume de Saint-Thierry (Revue du moyen-âge latin, Bd. 1), Paris 1945, 349–374. 118
des kontemplativen Aufstiegs im kontemplativen Leben; der ruhende Charakter sichert die Voraussetzung innerer Muße für das innere Werk, er bezieht sich auf die »exteriores actiones«328. Trotz dieser mehrfachen Aspekte ist der Kontemplationsakt ebenso einheitlich wie sein Gegenstand, und in seiner höchsten gnadenhaft bestimmten Form ist er zugleich zeitlich unbegrenzt; er bleibt im Vollendungszustand des Christen erhalten. So stehen Einheit und Ewigkeit des kontemplativen Aktes der Vielheit und zeitlichen Vorläufigkeit der aktiven Akte entgegen, die sich auf die immanenten Aufgaben des Christen richten, auf Aszese und Arbeit, Bruderliebe und Apostolat. Außer dem Stempel der Vielheit und Vorläufigkeit tragen sie das Odium der Mühe, zumal sie meist aus kontemplativer Berufung betrachtet werden. Daß hier das aktive Leben aus der kontemplativen Sicht zurechtgerückt und in seinen eigentlichen Möglichkeiten verkannt wird, haben wir schon bemerkt.329 Bei den Verhältnisformen von Aktion und Kontemplation treten vier Möglichkeiten auf: das aktive Leben als Disposition und Präparation der Kontemplation, worunter die christliche Aszese zu verstehen ist; die Lösung des kontemplativen Lebens vom aktiven, insofern es sich an äußere Tätigkeiten hingibt, um der Kontemplationsmuße willen; die dialektische Verbindung von Aktion und Kontemplation in der »vita mixta«; schließlich die Fruchtbarkeit der Kontemplation in der Aktion. Alle Merkmale des Modells sind seit Augustinus im Wesentlichen einheitlich. Abgesehen von klassifikatorischen Fragen330 und der Rückbindung des Modells an Aristoteles bei Thomas von Aquin ist eigentlich nur im Fruchtbarkeitsgedanken eine Entwicklung des augustinischen Modells enthalten, die von der Sterilität der Kontemplation zum dominikanischen Ordensideal des »contemplata aliis tradere« führt.331
328 Vgl. Thomas, S.th. 2–2 q 182 a 3 resp.: »... impossibile est quod aliquis simul occupetur circa exteriores actiones et divinae contemplationi vacet.« 329 Vgl. oben S. 70 ff.96. 330 Vgl. die Übersicht über einige entsprechende Traktate bei H. Urs von Balthasar, DTA 23, 433.434. 331 Thomas, S.th. 2–2 q 188 a 6 resp.; vgl. aber q 188 a 8, wo Thomas mit der Betonung des Vorranges der »vita solitaria« seine Aussagen wieder einschränkt. 119
Der Fruchtbarkeitsgedanke ist zugleich platonischen und biblischen Ursprungs. Schon bei Platon war das politisch-soziale Handeln eine Frucht der umfassenden Wahrheitsschau.332 Im Neuen Testament sind die Werke die Frucht des existentiell verankerten Glaubens.333 In der christlichen Kontemplationsmystik blieb immer der Gedanke erhalten, daß der Glaube über die liebende Erkenntnis zur liebenden Tat führen müsse. So sagt J. Pomerius: »qui credit intelligat et qui intellexerit, bene agat«334. So liegt auch der Sinn der höchsten Erkenntnis für den Christen nicht in der aristotelischen Selbstgenügsamkeit, sondern in ihrer Fruchtbarkeit. Nun war aber seit Augustinus die »vita contemplativa« mit der Sterilität des Rachel-Typs in Verbindung gebracht worden; der Fruchtbarkeitsgedanke diente hingegen zur Aufwertung des aktiven Lebens. Bei Gregor steht die Sterilität der Kontemplation neben der Fruchtbarkeit; der in der Kontemplation entflammte Geist vermag das aktive Leben am besten zu gestalten. 335 Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich daraus, daß zwar der Kontemplationsakt als solcher sich selbst genügt, daß er aber bei der notwendigen Rückkehr des Kontemplativen zur Aktion seine besondere Wirkmächtigkeit auch in der Aktion entfaltet. Diese Rückkehr – »revocatio« bei Gregor, »descendere« im Isidor-Appendix336 – liegt freilich bei Gregor noch nicht im Wesen der Kontemplation selbst, sondern in der mit einigem Bedauern akzeptierten »necessitas huius vitae«. Erst bei Bernhard von Clairvaux ist die Fruchtbarkeit direkter Effekt des höchsten Kontemplationsaktes. Die Brautschaft zwischen Christus und der liebenden Seele führt zur Vereinigung, und diese Vereinigung zieht die geistige Fruchtbarkeit nach sich, so daß das aktive Leben gleichsam ein Ausfluß der Kontemplation ist.337 Auch das gilt nicht für den Kontemplationsakt selbst, sondern für die mystische Vereinigung, die Einwohnung Gottes, die er zur Folge hat. Die geistli 332
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Vgl. Platon, Der Staat, Buch VII, 519 a–d (Die Bibliothek der alten Welt, hrsg. von K. Hoenn, Griechische Reihe, Zürich 1950). Vgl. oben S. 61–65. Vgl. dazu Julianus Pomerius, De vita contemplativa, I,19 PL 59, 433 C: »... nec opera sine fide, nec sine operibus fides sola justificat«. De vita contemplativa I,19 PL 59, 433 B. Vgl. Gregor, Hom. in Ez. 2,2,11 PL 76, 955 A: »... ut per hoc, quod contemplativa mentem accenderit, perfectius activa teneatur.« Vgl. Opusculum de vita activa et vita contemplativa, n 2 PL 83, 1243 C. Vgl. C. Butler, Western Mysticism 270 ff. 120
che Fruchtbarkeit der mystischen Vereinigung wird dann besonders bei Meister Eckhart ausgeführt, wenn auch nicht in den bernhardischen Formulierungen der Gottesbrautschaft. Man könnte die Geschichte der Verhältnisformen von Aktion und Kontemplation als fortschreitende Integration des aktiven in das kontemplative Leben auffassen. Darin liegt einerseits eine weitgehende Emanzipation des Kontemplationsgedankens, aber andererseits auch eine konsequente Aufwärtsentwicklung des aktiven Lebens in der Spiritualität. Indem sich die Kontemplation immer mehr auf die Aktion bezieht, wird diese selbst verinnerlicht, gewinnt an Tiefen und bezeugt die Immanenz des Transzendenten auch im »rein« immanenten Handeln. Im Mittelalter geschieht dies doch meist im Zeichen kontemplativer Vormundschaft, nicht einer eigenständigen Spiritualität des aktiven Lebens, aber die Entwicklung ist in diese Richtung vorgezeichnet. Indem die Aktion in das kontemplative Leben integriert wird, wird die »Kontemplation« in das aktive Leben hineingenommen. Dabei ändert sie ihren Charakter. Wenn sie im kontemplativen Leben hauptsächlich dem Gebetsleben entspricht, so im aktiven Leben der inneren Gottverbundenheit, in der das Gebetsleben zugunsten der Gebetshaltung zurücktritt. Die Unterscheidung zwischen »vita activa« und »vita contemplativa« führt immer wieder zu dem Mißverständnis, daß sich die Kontemplation nur auf die »vita contemplativa« und die Aktion nur auf die »vita activa« beziehe, am deutlichsten in dem Zwei-Klassen-System der Messalianer. Dieses Mißverständnis wird durch die Systematisierungsversuche begünstigt, die die Unterscheidungsmerkmale festhalten müssen. Aber auch der Systematiker Thomas von Aquin lehrt, daß jede Lebensform irgendwie gemischt sein muß und die einzelnen Lebensformen nur danach geschieden werden können, was sie »praecipue«, nicht etwa immer und durchweg, intendieren.338 So ist jede Lebensform eine verschieden akzentuierte »vita mixta«, was Thomas zwar gesehen, dann aber ebenso wie Augustinus nur für das kontemplative Leben gezeigt hat.
338
Vgl. S.th. 2–2 q 179 a 1 resp.: »Quia ergo quidam homines praecipue intendunt contemplationi veritatis, quidam vero intendunt principaliter exterioribus actionibus, inde est quod vita hominis convenienter dividitur per activam et contemplativam.« 121
Daß die fortschreitende Integration der Aktion in das kontemplative Leben zu einer Aufwertung des aktiven Lebens führt, läßt sich am Beispiel der Ordensgeschichte zeigen, für die das Modell immer besonders bedeutsam gewesen ist. Die christliche Mönchsspiritualität verbindet zwar immer Aktion und Kontemplation, doch wurde diese Verbindung unterschiedlich verstanden. Von der griechischen Mönchstheologie bis zur cluniazensischen Reform einschließlich war die »vita activa« im Orden hauptsächlich Aszese. Der selbstheiligende Aspekt der äußeren Tätigkeiten stand im Vordergrund; es ging um den Kampf gegen die »pathe«, gegen die ungeordneten Leidenschaften, als Vorbereitung der Kontemplation. In diesem Sinne geht bei Cassian die »praktike« der »theoretike« voraus. Noch zur Zeit der Zisterziensergründung war diese Vorstellung maßgebend, denn die Zisterzienser mußten ihre Handarbeit gegen die cluniazensischen Aristokraten verteidigen. In einem Dialog zwischen einem Cluniazenser und einem Zisterzienser verteidigt der Cluniazenser den alten Orden mit messalianischen Argumenten: der Cluniazenser habe mit Maria den besten Teil erwählt (auch hier Lk 10, 42 als Hauptargument!), weil er sich fast nur mit Gebet und Lesung beschäftige.339 Dagegen führt der Zisterzienser an, die wahre Beschaulichkeit, die echte Maria, richte sich nicht gegen die Tätigkeit, sondern gegen die Weltverfallenheit.340 Er wirft also dem Cluniazenser vor, den eschatologischen Vorbehalt gegenüber der Welt auf die Tätigkeit zu beziehen. Bei den Zisterziensern wird durch die Aufwertung der Arbeit die »vita activa« aus ihrer aszetischen Beschränkung befreit; vom Apostolat des Mönches ist aber hier noch keine Rede. Erst der Dominikanerorden verlegt den Schwerpunkt seiner Existenz auf das Apostolat in Predigt und Lehre, die nach Thomas die höchste Form des aktiven Lebens darstellen.341 Danach bedeutet nun auch im Ordensleben die »vita activa« mehr als eine bloße Präparation der Kontemplation; in ihren höchsten Akten 339 340 341
Vgl. J. Storm, Dialogus duorum monachorum Cluniacensis et Cisterciensis 68. Vgl. a. a. O. 68.69. Vgl. Thomas, S.th. 2–2 q 188 a 6 resp.; 3 q 40 a 1 ad 2: »Ad secundum dicendum quod, sicut in secunda Parte dictum est (2–2 q 182 a 1; q 188 a 6), vita contemplativa simpliciter est melior quam activa quae occupatur circa corporales actus; sed vita activa secundum quam aliquis praedicando contemplata tradit, est perfectior quam vita quae solum contemplatur, quia talis vita praesupponit abundantiam contemplationis. Et ideo Christus talem vitam elegit.« 122
wird sie zum eigentlichen Ziel der kontemplativen Lebensführung. Aktion und Kontemplation begegnen sich in der »vita contemplativa«342. B. Thomas und die aristotelische Klassifikation Bei Thomas von Aquin ist noch einmal die ganze Entwicklung des Modells zusammengefaßt. Er ist Systematiker, vor allem in den einschlägigen Quaestiones der Summa theologica; nicht eine neue Gestaltung des Modells, sondern Sichtung und Ordnung des Vorhandenen ist daher seine Absicht.343 Thomas ist aber auch Aristoteliker, deshalb bindet er die christliche Tradition, die bereits eine Integrationsleistung war, noch einmal an den philosophischen Ausgangspunkt bei Aristoteles. Er ist schließlich Dominikaner und stellt deshalb den Fortschritt des dominikanischen Seelsorgeideals heraus: »contemplata aliis tradere«344. Die Lehre Thomas von Aquins über Aktion und Kontemplation ist mehrfach dargestellt worden und bildet zudem meist den Ausgangspunkt für heutige Untersuchungen des Themas. 345 Unser Interesse richtet sich hier ausschließlich auf die Akzentuierungen, die Thomas in der Entwicklung des Modells gesetzt hat. Seine Aussagen werden im einzelnen dann jeweils im Rahmen der Interpretation der Vorstellungen Eckharts und Taulers behandelt. 342
343 344 345
Diese Begegnung und Zusammengehörigkeit hat sich in den Texten Bonnaventuras noch stärker ausgedrückt als bei Thomas von Aquin. Vgl. B. Aperribay, La vida activa y la vida contemplativa según San Buenaventura 681 ff.; ders., Prioridad entre la vida activa y contemplativa según San Buenaventura 92.93. Vgl. De purificatione BMV, sermo 1: »Non debet homo esse purus activus nec purus contemplativus«, III Sent. a 2 q 4 in corp.: »... qui vult esse bonus contemplativus, prius debet esse bonus activus«; De assumptione BMV, sermo 6: »Bona est pars activorum, melior contemplativorum, sed optima quae habuit utrumque simul.« Bonaventura vertritt dabei einen Rhythmus von »ascensio« und »descensio«, d. h. Aufstieg zur Schau und Rückkehr zur Tätigkeit; der Maßstab dabei ist die »caritas, quae facit ascendere ad superiora et descendere ad inferiora« (Collationes in Hexameron, coll. 23 n 34). Vgl. auch dazu U. von Balthasar, DTA 23, 463. Vgl. U. v. Balthasar, DTA 23, 433. S.th. 2–2 q 188 a 6 resp. Vgl. U. v. Balthasar, Aktion und Kontemplation; H. Bérard, Action et contemplation; Die katholische Glaubenswelt, Bd. 2, Kap. XVIII, 961–989. 123
Thomas wird vor allem von vier klassifikatorischen Problemen beschäftigt: von der Einteilungsfrage, von der Frage der Zuordnung der verschiedenen Ziele, Akte und Haltungen zu den beiden Lebensformen, von ihrer Rangordnung und von den verschiedenen Ergänzungsformen der beiden »vitae« im konkreten christlichen Leben. Seine Behandlung dieser Fragen wirkt schematisch und abstrakt. Die unmittelbare Lebendigkeit, die die Schilderung der Wechselbeziehungen beider Lebensformen in der »vita mixta« bei Bernhard und Bonaventura charakterisiert, 346 ist in Thomas’ nüchternem Begriffsgebäude nicht zu spüren. Thomas entfernt sich weitgehend von der mittelalterlichen Weiterentwicklung des augustinischen Modells. Augustinus wird in einen rein aristotelischen Ansatz eingebaut und dadurch wird die theologische Umwandlung, die Augustinus geleistet hatte, wiederum gefährdet. Augustinus hatte den beiden Lebensformen eine christologische und ekklesiologische Begründung gegeben. Thomas gibt eine rein natürliche Einteilung aus der theoretischen und praktischen Vernunft und den diesen intellektuellen Aspekten entsprechenden Eignungen und Zielsetzungen des Menschen. 347 Das Unterscheidungsmerkmal ist die »intentio hominis«, »id quo maxime delectatur«, und zwar im rein intellektuellen Bereich, der nach Thomas und Aristoteles das spezifisch menschliche Leben ausmacht.348 Man befindet sich also in der Einteilung des Aquinaten wieder am aristotelischen Ausgangspunkt. Die rationalen Stufen eines Menschenbildes spezifizieren zwei verschiedene Berufungen. Das befindet sich weder im Einklang mit der christlichen Anthropologie noch mit dem christlichen Berufungsgedanken, in denen es nicht um dualistische Aufspaltung der Merkmale, sondern um ihre verschieden akzentuierte Zuordnung geht, ganz abgesehen davon, daß die christliche Berufung prinzipiell einheitlich ist und sich nur jeweils verschieden darstellt. Die »prästabilierte Harmonie«, die Thomas zwischen der aristotelischen Einteilung und der patristischen Exegese herstellt,349 ist schon in sich selbst problematisch, da 346
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Zu Bernhard vgl. C. Butler, Western Mysticism 137 ff., 270 f.; zu Bonaventura siehe oben, Anm. 340. Vgl. S.th. 2–2 q 179 a 1 resp.; q 182 a 4 ad 2. Vgl. a. a. O. q 179 a 1 resp.: »hominum (vita) vero in hoc quod intelligunt et secundum rationem agunt«. Vgl. a. a. O. q 179 a 2 praeterea und resp.; eine ähnliche Harmonie glaubt Thomas in der Frage der Wertüberlegenheit zu finden, vgl. q 182 a 1 resp. 124
diese Exegese bereits philosophischen Gedankengängen folgte; sie wird noch problematischer, wenn sie die Begründung für die theologische Relevanz des Modells bereitstellen soll. Nun liegt aber hier zwischen der Begründung der Einteilung und der Darstellung der beiden Lebensformen bei Thomas ein Bruch vor. In der Darstellung übernimmt wieder Augustinus bzw. Gregor die Führung, d. h. mitten im philosophischen Ordnungsgefüge wird die Spannung von eschatologischer Heilsberufung und immanenter Heilsverwirklichung beschrieben. Thomas argumentiert also später auf einer anderen Basis, die stillschweigend vorausgesetzt wird. An anderen Stellen der »Summe« tritt diese Basis deutlich hervor; es ist die Spannungseinheit der christlichen Existenz, die in Christus selbst ihren Ausgleich gefunden hat. Thomas betont oft genug, daß Christus in sich das aktive und das kontemplative Leben vereinigt habe.350 Auch das christliche Vollkommenheitsideal besteht deshalb in der Zuordnung von Aktion und Kontemplation. Unter dieser Voraussetzung wird den Klassifikationen bei Thomas viel von ihrer Schärfe genommen. Die Aufspaltung von immanenten und transzendenten Akten, von Gottesliebe und Nächstenliebe verliert an Bedeutung, wenn ihre ursprüngliche Zuordnung im Blick bleibt. Ähnliches gilt für die sich aus dieser Aufspaltung ergebende Rangordnung der beiden Lebensformen. Dennoch muß man allgemein sagen, daß die ideologische Gefahr, die das Modell immer wieder in die christliche Spiritualität hineinträgt, bei Thomas durch die schematische Rückbindung der christlichen Integration und Umwandlung an Aristoteles besonders deutlich wird. h. Urs von Balthasar hat auf diese Gefahr in seinem Thomaskommentar aufmerksam gemacht.351 Die meisten Autoren beschränken sich freilich dieser Gefahr gegenüber auf die Richtigstellung von Einzelheiten und eine Apologie des Ganzen. Dabei wird übersehen, daß diese Gefahr im Ansatz selbst liegt. Christliche Immanenz und Transzendenz werden auf ganz bestimmte Akte und Haltungen festgelegt, und dann werden diese Akte und Haltungen aneinander gewertet, wobei dem transzendenten Akt der Gottesschau und Gottesliebe die größere Vertrautheit (»familiaritas«), das größere Verdienst (»meritum«) und die ewige Dauer in
350 351
Vgl. S.th. 2–2 q 25 a 6 ad 5; 3 q 40 a 1 ad 2. ad 3 und a 2 ad 3. Vgl. DTA 23, 433. 125
der »visio beatifica« immer den Vorrang sichern. 352 Eine solche Sicht nimmt den »körperlichen« Aufgaben der christlichen Spiritualität ihre transzendente Bedeutung, so z. B. der sozialen und materialen Aktivität in der Welt, die als »exteriores actiones« ganz einer immanenten Vorläufigkeit unterliegen. Eine solche Sicht legt zugleich die christliche Heilserfüllung auf bestimmte intellektuell gefärbte Akte fest, ohne zu berücksichtigen, daß Paulus auch sie als »Stückwerk« bezeichnet (vgl. 1 Kor 13), daß die Verwandlung in der Auferstehung sich auf den ganzen Menschen bezieht (vgl. 1 Kor 15) und daß nicht nur eine himmlische Schau, sondern auch ein »neuer Himmel und eine neue Erde« von den Christen erwartet werden (vgl. 2 Petr 3, 13 und Apk 21, 1). Die fortschreitende christliche Integration des Modells »vita activa – vita contemplativa« führt bei Thomas endgültig zu einer Gleichsetzung von eschatologisch-pneumatischer Existenz des Christen und kontemplativer Lebensführung. Nun kommt alles darauf an, von welcher Seite in dieser Gleichsetzung die prägende Kraft ausgeht. Dies ist jedoch nur festzustellen, wenn sich die christliche Lebenslehre wieder vom Kontemplationsgedanken löst. Diese Lösung geschieht in der Mystik Meister Eckharts, deren Zentrum nicht die »contemplatio divinae veritatis«, sondern die Gottesgeburt einnimmt. An Meister Eckhart werden wir also mit den Fragen verwiesen, die sich aus der Integrierung der aristotelischen Klassifikation bei Thomas von Aquin ergeben. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um die Fragen, die uns schon der Gegenüberstellung des philosophischen Modells mit der Spiritualität des Neuen Testamentes begegnet sind: Wie steht es mit dem Vergleich der beiden Lebenswege und der sich daraus ergebenden Vorrangigkeitsfrage, zu deren Beantwortung der Schriftbeweis aus Lk 10, 38–42 nicht hinreicht, für die also, ebenso wie für die Einteilung des christlichen Lebens, nur rein philosophische Argumente bleiben? Wird nicht die Einheit des christlichen Liebesgebotes durch die Aufteilung der »caritas« in Gottesund Nächstenliebe, jeweils zugeordnet zur »vita contemplativa« bzw. »vita activa«, gefährdet? Gibt es tatsächlich zwei Prinzipien des christlichen Lebens und nicht nur eines, das sich dann wohl in vielfältiger Berufung verwirklichen läßt, und drängt nicht die thomistische Betonung der philosophischen Unterscheidungslehre dazu, dieses 352
Vgl. S.th. 2–2 q 182 a 2; a 4. Da die entsprechenden Äußerungen Thomas von Aquins im Zusammenhang mit Meister Eckhart, vgl. unten Teil 2, Kap. II, behandelt werden, wird hier nicht näher darauf eingegangen. 126
eine Prinzip zu verstellen? Kann es nicht neben der kontemplativen Spiritualität in der Patristik und Scholastik, die das aktive Leben zu integrieren sucht, auch eine aktive Spiritualität geben, die einerseits ihre vornehmlichste Aufgabe in der Wirksamkeit sieht und andererseits gerade inmitten dieser Wirksamkeit ihre eigene »Kontemplation« findet? Eine solche Spiritualität gibt es von Augustinus bis Thomas einschließlich nicht. Sie sähe ihre primäre Aufgabe nicht in der Kontemplation, sondern in der Aktion, achtete aber darauf, ihre Wirksamkeit in die göttliche Dynamik der Schöpfung, Erlösung und Vollendung einzubetten und durch diese »kontemplative« Verinnerlichung eine Darstellung der christlichen Existenz zu erreichen, die dem Ideal einer kontemplativen Spiritualität in nichts nachsteht. Ihre Aktion wäre eine andere als die des kontemplativen Menschen, da sie nicht sekundär als Vorbereitung oder Auswirkung der Kontemplation sondern als primärer Lebensinhalt angestrebt würde. Ihre »Kontemplation« wäre eine andere Kontemplation als die des kontemplativen Menschen, denn sie manifestierte sich in der Wirkeinheit mit Gott, nicht in einer der »visio beatifica« vorausgehenden Teilnahme an der göttlichen »Muße«. Wir werden die Antwort auf diese Fragen suchen, indem wir an den entscheidenden Stellen Thomas und Eckhart miteinander vergleichen. Dabei soll der geschichtliche Fortschritt deutlich werden, den Eckharts dynamische Spiritualität gegenüber den Verfestigungen eines Modells erreicht, das seit Augustinus und Cassian zum Traditionsgut der christlichen Spiritualität geworden war.
127
Zweiter Teil DIE GRUNDGEDANKEN DER DEUTSCHEN PREDIGTEN UND TRAKTATE MEISTER ECKHARTS UND DAS MODELL VITA ACTIVA – VITA CONTEMPLATIVA
VORBEMERKUNGEN Der Dominikaner Meister Eckhart von Hochheim (ca. 1260–1327) ist einer der bedeutendsten Denker des ausgehenden Mittelalters, zu seiner Zeit der führende Kopf seines Ordens und deshalb von diesem zu vielfältiger Lehrtätigkeit nach Paris (1302/ 03 und 1311–1313), Straßburg (ab 1314) und Köln (etwa ab 1323) berufen. Zugleich ist er ein besonderer Vertreter der deutschsprachigen Dominikanermystik und -seelsorge, der mit hohen Ordensfunktionen betraut war und als Prior von Erfurt und Vikar von Thüringen (um 1290), als Provinzial der Provinz Saxonia (ab 1304) und als Generalvikar der böhmischen Provinz (ab 1307) für Organisation und Spiritualität Verantwortung trug. Er integrierte also in seiner Person spekulative Leistung, Erfahrung der mystischen Einheit und ein bewegtes aktives Leben, das in seinen letzten Jahren von dem Prozeß um seine Rechtgläubigkeit überschattet wurde. Dabei steht fest, daß Eckhart von keiner häretischen Absicht getragen wurde, sondern die Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre in einer Dimension des Denkens suchte, die sich oft nur noch als paradoxaler Anreiz in Worte fassen ließ und der Verurteilung ihrer Zeit nicht entgehen konnte, sobald sie am Maßstab einer dogmatischen Systematik gemessen wurde, die sich in einer anderen Dimension, der Dimension des reallogischen Denkens, bewegte.1
1
Zum Leben und Prozeß Eckharts vgl. J. Koch, Art. Meister Eckhart (Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon) Bd. I, 495–502; Bd. V, 163–171. 128
Seit über 100 Jahren steht Eckhart im Mittelpunkt vielfältiger wissenschaftlicher Interessen. Die Fragen nach seinem philosophischen System, nach der Rechtgläubigkeit seiner theologischen Aussagen und nach seinen sprachlichen Leistungen beschäftigten eine Forschung, die sich aus beschränkten Anfängen kontinuierlich weiterentwickelte, verbreiterte und vertiefte. Der jahrhundertelang vergessene Meister kam zunächst durch Mißverständnisse wieder zu Ehren. Man wollte in ihm den Vorbereiter des deutschen Idealismus bzw. den Begründer einer dem sogenannten »deutschen Wesen« gemäßen Spekulation sehen. Inzwischen ist mit dem Fortschritt der Kenntnis seiner Werke auch ein Fortschritt der Interpretation zu verzeichnen. K. Ruh kann deshalb im letzten Forschungsbericht zur altdeutschen Mystik vier Phasen der Eckhart-Forschung unterscheiden: die Herausgabe deutscher Predigten und Traktate durch F. Pfeiffer (1857), die Auffindung und Untersuchung lateinischer Werke Eckharts durch H. S. Denifle (1886), die Auffindung, Herausgabe und Diskussion der Prozeßschriften in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts und schließlich die im Enstehen begriffene Gesamtausgabe der deutschen Forschungsgemeinschaft (seit 1935).2 Die philosophische und theologische Interpretation Meister Eckharts orientierte sich lange an den Streitfragen seiner philosophiegeschichtlichen Einordnung 3 und seiner Rechtgläubigkeit. 4 Im Widerstreit der Meinungen kamen keine endgültigen Lösungen in Sicht. Erst in den letzten fünfzehn Jahren vermochten die Untersuchungen J. Kochs, H. Hofs, J. Koppers u. a. den gedanklichen Ansatz Eckharts, vor allem aber seine besondere Analogielehre zu klären; unter ihnen hat sich H. Hof auch mit der Widerlegung älterer Interpretationen ausführlich beschäftigt.5 Seither ist der Zugang für das geschichtliche Verständnis der Texte eröffnet, und unter diesen Voraussetzungen können die offen stehenden Einzelfragen beantwortet werden. Freilich 2 3
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5
Vgl. K. Ruh, Altdeutsche Mystik 136. Vgl. W. Bange, Meister Eckharts Lehre vom göttlichen und geschöpflichen (Eckhart als Thomist); E. von Bracken, Meister Eckhart und Fichte (Idealismus); H. Ebeling, Meister Eckharts Mystik (monistische Deutung); A. Dempf, Meister Eckhart (Eckhart als Dialektiker). Vgl. O. Karrer, H. Piesch, Meister Eckharts Rechtfertigungsschrift vom Jahre 1326; O. Karrer, Das Göttliche in der Seele bei Meister Eckhart. Vgl. Scintilla animae 29–79. Eine umfassendere Übersicht über die Interpretationsgeschichte bietet neuerdings J. Degenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes, Leiden 1967. 129
steht jede Untersuchung weiterhin vor dem Problem, daß die kritische Gesamtausgabe noch nicht vollständig zur Verfügung steht und so weder der Umfang der echten Eckhart-Texte noch der ganze Text selbst kritisch gesichert ist. Diese Schwierigkeiten gelten vor allem für eine Untersuchung, die ihr Material hauptsächlich aus den deutschen Predigten beziehen muß, also auch für unsere Frage nach dem Modell »vita activa – vita contemplativa« bei Meister Eckhart. Die Einschränkung auf die deutschen Predigten und Traktate wurde freilich nicht nur um des Stellenmaterials willen gewählt, sondern auch, weil wir mit J. Kopper eine gewisse Zäsur zwischen den deutschen und den lateinischen Werken Eckharts annehmen.6 Diese Zäsur widerspricht nicht der gesicherten Erkenntnis, daß das Verständnis der deutschen Werke sich gerade aus den lateinischen erschließen muß. Sie bezieht sich auch nicht auf das verschiedene Medium der Sprache, wenn auch gerade in deutscher Sprache die besonderen Begriffe und Kategorien eckhartschen Denkens sichtbar werden. Sie besagt vielmehr vor allem, daß der deutsche Prediger in stärkerem Maße seine Botschaft aus der Einheit formuliert als der lateinische Exeget und Systematiker, auch als der lateinische Prediger. Dies ist durch den kerygmatischen Charakter der deutschen Werke bedingt, in denen durch den Prediger die Selbstmitteilung des ontologischen Geschehens vermittelt wird. In ihnen geschieht das »contemplata aliis tradere«, in dem Thomas von Aquin den höchsten Punkt der Predigttätigkeit sieht. Sie integrieren zugleich den Mitvollzug des Hörers, ohne freilich von ihm abhängig zu sein: der Impetus der eckhartschen Verkündigung ist der Mitteilungscharakter der Wahrheit selbst, der das spirituell-pädagogische Anliegen zwar umgreift, aber nicht
6
Vgl. J. Kopper, Die Metaphysik Meister Eckharts 38.39: »Die Verkündigung der eigentlichen Wahrheit (in der Predigt) kann ... nicht mehr auf die Weise des reallogischen Begreifens vor sich gehen. Sie kann nur noch ein Kundgeben jenes Erfahrens vom Zusichselbstkommen der Transzendenz in unserer Unvollkommenheit sein, das sich zwar im aussagenden Worte vollzieht, doch dessen Worte nicht ein rationales Beurteilen der Gegenwart des Seins meinen, sondern nichts sind als das Faßbarmachen jener Seinserfahrung ... So gibt es ... in Eckharts Metaphysik und Theologie zwei Weisen des Denkens, es gibt einmal das die Ordnung der Dinge aufweisende Denken, das gleichsam den Vorhof zur vollen Wahrheit darstellt, daneben aber steht die Verkündigung der Predigt.« 130
davon ausgeht; die Predigt paßt sich deshalb nicht an, sondern sie fordert die Anpassung.7 In den Predigten läßt Eckhart die Einheit aus sich selbst offenbar werden; in den systematischen Werken untersucht er die Ordnung der Dinge im Lichte der Einheit.8 Daraus ergibt sich, daß das mystische Gedankengut Eckharts in den deutschen Werken stärker aufleuchtet, daß es in seiner Erklärung jedoch immer wieder auf die Systematik der lateinischen Werke angewiesen ist. Während die echten deutschen Traktate Meister Eckharts vollständig vorliegen, ist der Umfang und der Text-Wortlaut des Predigtwerks noch nicht durch eine kritische Ausgabe geklärt. Wenn man sich daher nicht auf die bereits kritisch herausgegebenen Predigten beschränken kann, muß man von dem vorläufigen Stand der Forschung ausgehen, der durch die 59 von J. Quint in Übersetzung herausgegebenen Predigten gekennzeichnet ist.9 Da aber auch hier für manche Predigten die endgültige Entscheidung noch aussteht,10 empfiehlt es sich für unsere Untersuchung, ihre Ergebnisse zunächst aus der Gesamtkonzeption Eckharts zu gewinnen, wie sie sich aus gesicherten Texten erschließen läßt, und dann die daraus erwachsenen inneren Kriterien bei der Heranziehung weiterer Texte zu beachten. Dementsprechend gliedert sich unsere Untersuchung in zwei Kapitel, von denen das erste Eckharts Haltung zum Modell »vita activa – vita contemplativa« aus seinen Grundgedanken erschließt und das zweite die Ergebnisse des ersten auf die Interpretation der Predigttexte, vor allem der Predigt über Maria und Martha, anwendet.
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8 9
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Vgl. Meister Eckhart, q 273, 29–31: »Wer diese Predigt nicht verstanden hat, dem vergönne ich sie wohl. Wäre hier niemand gewesen, ich hätte sie diesem Opferstocke predigen müssen.« 309,8–12: »Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.« Vgl. J. Kopper, a. a. O. 39. J. Quint bemerkt zu seiner Übersetzung (Meister Eckehart 537): »... die von mir ausgewählten Predigten und Traktate (stellen) das Kontingent dar, das, soviel ich sehe, bisher durchgängig von der Eckehart-Forschung als für Eckehart bestbezeugt angesehen worden ist.« Vgl. a. a. O. 492.537. Stand November 1968: 39 kritisch edierte Predigten. 131
Die deutschen Werke werden, soweit möglich, nach der von J. Quint besorgten Ausgabe der Forschungsgemeinschaft, im übrigen nach der Ausgabe F. Pfeiffers (jeweils mit Seiten- und Zeilen-Zahl) zitiert. Dabei werden die von J. Quint bereitgestellten Mittel benützt: die Textverbesserungen zu Pfeiffer und die Übersetzungen.11 Da die Übersetzung ein Teil der Interpretation ist, zitieren wir sie im Text der Arbeit, wobei wir uns meistens J. Quint anschließen; die meisten Zitate werden jedoch zur besseren Nachprüfbarkeit in den Anmerkungen noch einmal mittelhochdeutsch angegeben. Stellen aus den lateinischen Werken entsprechen der von J. Koch besorgten Ausgabe und werden mit Nummern und Seitenzahl zitiert.12
I.
GRUNDGEDANKEN DER DEUTSCHEN PREDIGTEN UND TRAKTATE MEISTER ECKHARTS
Es ist ein Grundzug der theologischen Mystik Meister Eckharts, daß alles aus Gott verstanden wird: Gott ist nicht nur das Prinzip aller Dinge, sondern auch aller Aussagen. Insofern handelt es sich in des Wortes engster Bedeutung um Theologie, um Reden von Gott. Das ist nicht etwa in einem unprägnanten Sinne von »Mystik« zu verstehen, als liege mit dieser »Vergottung« der Schleier des Vagen und Verschwommenen über allen Aussagen; vielmehr glaubt Eckharts Mystik, in Gott und seiner göttlichen Seinsstruktur die Struktur zu erkennen, aus der sich alles erklären und verstehen läßt. Die Offenbarung ist dabei die gottgewollte Interpretation der göttlichen Seinsgnade; Philosophie und Theologie befinden sich nicht im Widerspruch, sondern in Ergänzung. Es ist also nicht so, als stünden sich Gott, Mensch und Welt gegenüber, als gäbe es einen alles umfassenden Funktionszusammenhang, in dem auch Gott seine Stelle, gewissermaßen als Spitze des ganzen Systems, einnähme, sondern Gott ist das ganze 11
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Die Textverbesserungen finden sich in J. Quint, Die Überlieferung der deutschen Predigten Meister Eckeharts; die Übersetzungen in Meister Eckehart (zit. q), und in DW I und V. Vgl. zur Zitationsweise auch das Abkürzungsverzeichnis. Die Untersuchung verfolgt das Prinzip, längere Textzitate in die Anmerkungen zu verweisen. Im Text stehen daher nur lateinische Stellen, deren Vokabular zum Verständnis notwendig ist, ferner wichtige mhd. Begriffe und einige leicht lesbare mhd. Stellen. 132
System, und das Reden von Gott schließt alles ein, z. B. auch die ganze »Naturwissenschaft«13. Die Gefahr einer solchen Konzeption ist der Monismus. Aber diese Gefahr besteht nur auf den ersten Blick. Denn die Gegnerschaft zu jedem Monismus macht diese Konzeption erst möglich. Im Monismus wird jeder Unterschied aufgehoben, in der mystischen Theologie wird jedoch die Unterscheidung von Schöpfer und Geschaffenen so sehr vorausgesetzt, daß sie geradezu die Einheit der theologischen Systeme ermöglicht. Gerade die härteste Unterscheidung von Schöpfer und Schöpfung, wie sie im christlichen Schöpfungsglauben ausgesprochen ist, ist das »Licht« dieser Theologie: den Blick auf diesen Unterschied gerichtet, zeigt sie ihn als Prinzip der ganzen Spekulation. Nur der Mensch, der sich der absoluten Differenz zum Absoluten, zu Gott, bewußt ist, ist der mit Gott geeinte Mensch. Das absolute Dunkel Gottes ist das einzige Licht sowohl der ganzen Theologie als auch der ihr entsprechenden Frömmigkeitshaltung.14 Darum läßt sich Eckharts mystische Theologie und Spiritualität nur verstehen, wenn man zuvor ihren Ausgangspunkt ins Auge faßt. Dieser Ausgangspunkt ist die Unzugänglichkeit Gottes. Bei Eckhart taucht deshalb in vielen Predigten die »Weiselosigkeit des Gottfindens« als zentrales Thema auf. Dieses Thema muß zunächst geklärt werden.
1. Die Weiselosigkeit des Gottfindens Die Unzugänglichkeit Gottes wird beschrieben in der negativen Theologie.15 Die negative Theologie hat vor Meister Eckhart bereits eine lange Tradition, vor allem seit
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14 15
Bei Eckhart gibt es keine relative Eigenständigkeit der Welt. Welt ist nur im Bezug zum Schöpfer. Deshalb gibt es auch keine rein immanente Weltbetrachtung. Vgl. dazu J. Kopper, Die Metaphysik Meister Eckharts 60. Kopper unterscheidet hier transzendentales und reallogisches Denken. Reallogisches Denken versteht sich vom relativen Selbstand der Dinge her. Eckharts transzendentales Denken versteht sich ganz aus der Transzendenzerfahrung, die freilich das reallogische Denken immer wieder integriert. Vgl. oben S. 107. Vgl. dazu V. Lossky, Théologie négative et connaissance de Dieu chez Maître Eckhart 13–39; Th. Steinbüchel, Mensch und Gott in Frömmigkeit und Ethos der deutschen Mystik 95 f. 133
Pseudo-Dionysius.16 Sie bezeichnet die Transzendenz Gottes und enthält zunächst die Vorstellung, daß alle, notwendigerweise im Kreatürlichen befangenen Benennungen Gottes und Erkenntnisse über Gott ihm selbst nicht adäquat sind und ihn deshalb in seiner Fülle nicht wiedergeben können.17 Jede Aussage über Gott gilt deshalb nur analog. Analogizität bedeutet jedoch nicht, daß Gott nicht das Ganze dessen umfaßt, was jeweils von ihm ausgesagt wird, sondern vielmehr, daß er noch mehr als dieses Ganze umfaßt. Wäre Gott das Ganze z. B. alles Guten, dann könnte er mit einer Aussage erreicht werden. Gutheit ist jedoch nur eine bestimmte menschliche Fassung einer Vorstellung. Diese reicht zwar an Gott heran, indem sie zugleich real und transzendental ist und alles »hic et nunc« eines jeweiligen Seienden überschreitet, aber sie erfaßt Gott nicht in seinem Wesen. Gott wohnt noch jenseits aller Transzendenz, insofern auch diese irgendwie dem menschlichen Fassungsvermögen entspricht. Gott ist nicht gut, sagt Eckhart, er hat nur »eine Schale von Gutheit« 18 . Diese Schale können wir erkennen in der Fähigkeit des menschlichen Geistes, sich selbst zu überschreiten. Jedoch ist diese Transzendenzerfahrung selbst eben ein menschliches Produkt und insofern Gott inadäquat. Für Eckhart sind Güte, Weisheit und Kraft »das Kleidhaus Gottes«, hinter dem er das eigentliche Wesen verbirgt; Gott muß daher gleichsam »nackt« verstanden werden.19 Hier setzt Eckharts Spekulation ein und fragt sich zunächst: Ist Gott das Sein? Das scholastische Axiom lautete: »Esse est Deus.« Für Eckhart hat dieses Axiom seine 16
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Über die Auslegung der mystischen Theologie des Pseudo-Dionysius im Mittelalter vgl. W. Völker, Kontemplation und Extase bei Pseudo-Dionysius Areopagita 218–245; J. Koch, Platonismus im Mittelalter 18. Überholt ist die Arbeit von W. Achelis, Über das Verhältnis Meister Eckeharts zum Areopagiten Dionysius, Diss. Steglitz 1922. Vgl. DW I, 146,5.6; 284,4.5; 329,8–10; 346,3–347,7 (vgl. auch die Parallelstellen aus Pseudo-Dionysius und dem »Liber de causis« in den Anmerkungen); Pf 82,26–83,8; Pf 318,31–319,17. In der letzten Stelle nennt Eckhart Gott »ein überswebende wesen und ein überwesende nihtheit«. Diesen Gott kann man nicht »worten«, d. h. in Worte fassen, denn er ist eine »ungeworteter got« (319,4.5.17). Vgl. DW I, 152,2.6; 153,4–6. Eckhart spricht von einem »velle« oder einem »kleide der güete«: »Güete ist ein kleit, dâ got under verborgen ist, und wille nimet got under dem kleide der güete.« Vgl. DW II, 120, 1–4; Pf 110,17.18: »Mit disen engeln nimet vernünftikeit got in sîme kleithûse blôz als er ist ân underscheid.« (DW II, 217,4.5) 134
volle Gültigkeit.20 Und doch scheint ihm die Aussage nicht ausreichend. Wenn nämlich Gott das Sein ist, dann kann nichts sein außer Gott; ist etwas außer Gott, so ist das Sein doppelt. Darum muß Gott zugleich nicht das Sein sein. Aber nicht so, als sei er nicht, sondern sein Sein ist derart different von allem Seienden, daß der Ausdruck Sein fast gefährlich ist. Wenn Gott das Sein ist, dann ist er ein Über-Sein. Eckhart sagt: »Deus est intelligere.«21 Darin liegt ein weiterer Versuch der Formalisierung und Entgegenständlichung der Gott-Aussagen. Im Erkennen, sagt er, sei Gott so nackt und bloß, wie er in sich selbst sei.22 An dieser Lieblingsvorstellung hält er jedoch auch nicht durchgängig fest: Gott wächst ihm auch über das Erkennen hinaus. Er ist das »Nichts«,23 jedoch nicht so, wie die Kreatur nichts ist, wenn sie von Gott nicht im Sein gehalten wird, sondern als Verneinung des Nichts, das in allem liegt, das man über ihn aussagt.24 Eckharts negative Theologie nimmt also Gott als Verneinen des Verneinenden. Diese Unzugänglichkeit Gottes findet einen weiteren Ausdruck in Eckharts Unterscheidung zwischen Gott und Gottheit.25 Diese Unterscheidung macht auf zwei verschiedene Aspekte aufmerksam. Von Gott spricht Eckhart, wenn er die Zugewandtheit Gottes zur Schöpfung meint; Gott ist der Gott, der aus der Schöpfung erkannt wird. Gottheit ist der Gott, der über dieses Erkennen hinaus allein in sich selbst steht, ohne Unterscheidungen zu ertragen.26 Gottheit ist zugleich der Einheitsgrund der Trinität. Es muß betont werden, daß hier keine reallogische Differenzierung vorliegt, sondern eine Aspektbetrachtung. Daher ist es unrichtig, wenn vermutet wird, Eckhart wolle 20
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22 23 24 25 26
Vgl. etwa Thomas von Aquin, S.th. 1 q 13 a 11. Vgl. Prologus generalis in opus tripatitum n. 12 (LW I, 156 f.); Prologus in opus propositionum (LW I, 166–182). Vgl. Quaestiones Parisienses LW V, 40–45, und die Bemerkungen J. Koppers dazu, a. a. O. 43.44. Vgl. auch Pf 40,12.13: Gottes »wesen ist sin bekennen«. Vgl. DW I, 122,5.6; 150,3–7; 152,6–8. Vgl. Pf 80,1 ff.; 82,26 ff.; 319,3 ff. Vgl. Pf 83,15–19; 320,27–31; DW I, 361,10–364,4. Vgl. DW I, 363,7–10; Pf 181,3–18. Vgl. Pf 181,7–13: »... Alsô sprechent alle crêatûren von gote. Und war umbe sprechent sie niht von der gotheit? Allez daz, daz in der gotheit ist, daz ist ein, unde dâ von ist niht ze sprechenne. Got wirket, diu gotheit wirket niht (d. h. sie ruht in sich selbst), si enhât niht ze wirkenne, in ir ist kein werc. Si geluogete ûf nie kein werc. Got unde gotheit hât underscheit an würken und an niht würken.« 135
über die Trinität hinaus.27 Die Rede von der »Gottheit« ist nicht mehr als der Versuch einer Formel für die absolute Göttlichkeit Gottes. Gott hat in seiner Göttlichkeit eine trinitarische Struktur.28 Das Sein (der Vater) gebiert in seiner Selbsterkenntnis den Sohn, von beiden geht die göttliche Liebe, der Heilige Geist, aus. Ist der Sohn die Erkenntnis, in der Gott sich erkennt, so ist der Geist die Liebe, in der Gott sich liebt, der Vater das Sein, in dem Gott ist.29 Diese Struktur Gottes ist der Ausgangspunkt der mystischen Spekulation, die ganz aus dem Wesen Gottes deduziert wird. Die Seele als Bild dieser göttlichen Struktur hat die gleiche Strukturierung: ihre »Gottheit« ist der unzugängliche »Seelengrund«, in dem allein Einigung mit Gott möglich ist. Dieser Seelengrund ist die existentielle Verankerung des Menschen in Gott durch die in der Schöpfung beginnende und in der Erlösung »geadelte« Gottebenbildlichkeit des Menschen.30 Die Gottebenbildlichkeit ist, sofern sie in Gott ist, Gott selbst, d. h. wie Eckhart manchmal sagt, ungeschaffen. 31 Insofern sie im Menschen ist, ist sie geschaffen. Diese Doppelpoligkeit ist 27 28 29 30
31
Vgl. f. Heer, Meister Eckhart 42. Vgl. DW I, 302,3.4; 173,2–6. Vgl. dazu K. Ruh, Die trinitarische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik 42 ff. Über das Bildsein der Seele vgl. DW I, 268,3–14; 5,5–6,5; 154,1–6; 165,3.4; der »Ort« dieses Bildseins ist näherhin der Seelengrund; vgl. Pf 158, 24–27; 258, 18–22; Sermones n. 98, LW V, 93 (abditum mentis); n. 249, LW V, 228 (ratio superior); n. 488, LW V, 403 (abditum cordis); Pf 304, 34–39; DW I, 332.333. (vünkelin, lieht, bilde, synderesis); weiteres Vergleichsmaterial: DW I, 332, Anm. 4. Von einem »Ort« dieses Bildseins in der Seele kann man nur im übertragenen Sinne sprechen; Eckhart spricht zwar manchmal von einer »kraft« in der Seele (vgl. Pf 158,24–27), bestreitet aber allgemein die Gültigkeit dieser Vorstellung; vgl. DW I, 332,2.3; Pf 258,18 ff. Es geht um das Verhältnis selbst, das das »Bild« zwischen Gott und Mensch bezeichnet: »Got gibet sich der sele alles niuwe in einem gewerdene ... âne underlâz« (DW I, 349,6–8). Die vielfältigen Bezeichnungen des Seelengrundes sind Formeln für die Integration des Menschen in den göttlichen Strukturprozeß. Vgl. DW I, 198,1.2. Die Parallelstellen, auch aus der Prozeßgeschichte, sind angegeben in der Anmerkung dazu, vgl. auch DW I, 333, Anm. 5. Wir schließen uns in der Frage »Geschaffenheit oder Ungeschaffenheit des Seelengrundes« der Lösung H. Hofs an: »Scintilla animae ist intellectus inquantum intellectus, d. h. das Analogon des ungeschaffenen Intellekts, das im dynamischen Empfangen in die Seele einschwebt und hineinwirkt« (a. a. O. 206). Da der Seelengrund als Analogon vom Menschen nur »geliehen« ist, 136
möglich, weil der Seelenfunke (scintilla animae) ein Verhältnis wiedergibt und keine rein anthropologische Funktion hat. Wenn nun die Absicht der Theologie darin besteht, Gott göttlich zu nehmen, dann ist dies nur möglich durch Gleichheit mit Gott. Denn Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden.32 Also muß der Mensch seine Gottebenbildlichkeit in Gott nehmen, wo sie nichts anderes ist als Gott selbst. Das wäre bei der absoluten Distanz zwischen Schöpfer und Geschaffenen unmöglich, wäre nicht Gott sozusagen auf negative Weise in der Kreatur anwesend. Stellt man die Kreatur Gott gegenüber, so ist sie nichts, denn eigenständig kann es sie gar nicht geben.33 Also verweist alle Kreatur in ihrem Nichts, d. h. in ihrem Nicht-Sein, d. h. in ihrem Nicht-Gott-Sein auf Gott. Daraus erwächst die Erkenntnis, daß die Kreatur nur in Gott überhaupt sein kann. In Gott ist sie jedoch nicht in der Weise eines irgendwie noch einer raumzeitlichen Vorstellung entsprechenden In-seins, sondern in Gott ist sie Gott selbst. So ergibt sich gerade aus dem unüberwindbaren Seins-Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf die Einheit des Seins in Gott. Der Einheitsgrund für den Menschen und mit
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33
kommt er eigentlicher Gott zu; das schließt seine Ungeschaffenheit ein. Ein Mißverständnis kann hier nur aufkommen, wenn man die »scintilla animae»als Bestandteil eines Menschenbildes auffaßt statt als Bestandteil des göttlichen Strukturprozesses. Vgl. DW I, 49,4; 55,1 und dazu DM I, 49, Anm. 2 (über den aristotelischen Lehrsatz: »simile simili cognoscitur«). Die Gleichheit des Erkennens setzt die Gleichheit des Lebens voraus. Vgl. Pf 284,28.29.30: »Wer dise rede (Predigt über die Armut des Geistes) nicht versteht, der bekümber sîn herze niht dâ mite. Wan als lange der mensche niht gelîch ist dirre wârheit, alsô lange wirt er dise rede niht verstên ...«. Vgl. oben Anm. 7. Vgl. DW I, 69,8–70,7: »Alle crêatûren sint ein lûter niht. Ich spriche niht, daz sie kleine sîn oder iht (aliquid) sîn: sie sint ein lûter niht. Swaz niht wesens (esse) enhât, daz enist niht. Alle crêatûren hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes. Kêrte sich got ab allen crêatûren einen ougenblick, so würden sie ze nihte. Ich sprach etwenne und ist ouch wâr; der alle die werlt naeme mit gote, der anhaete niht mê, dann ob er got aleine haete. Alle crêatûren hânt niht mê âne got, dan ein mucke haete âne got, rehte glîch noch minner noch mê.« Der erste Satz gehört zu den verurteilten Sätzen (Art. 26 der Bulle; Archiv II, 639). Vergleichstellen aus den deutschen und lateinischen Werken: DW I, 70 Anm. 1. Auch hier geht es Eckhart um die ständige Abhängigkeit des Seienden vom Sein. Vgl. zum Thema Sein und Nichts H. Hof, a. a. O. 112–120; J. Kopper, a. a. O. 45.46. 137
ihm für die ganze Schöpfung ist die »scintilla animae«, das Bildsein der Seele. Vermag der Mensch diesen Grund frei zu legen, dann ist er zur Vergöttlichung erhoben. Wie muß nun eine Spiritualität aussehen, die sich eine solche Aufgabe stellt? Gibt es eine bestimmte Weise, in der die Vergöttlichung gefunden werden kann? In der bisherigen Tradition übernahm die »vita contemplativa« diese Funktion, der Aufstieg in der Schau aus einem Leben der Muße und äußeren Zurückgezogenheit, aus dem man nur um der Notwendigkeit der Liebeswerke und der Glaubensverkündigung zurückkehrt. Für Eckhart gibt es eine solche Weise nicht. Gott läßt sich nicht an eine bestimmte Spiritualitätsform binden. Weil Gott der Gott ohne eine kreatürlich erkennbare und bestimmbare Weise ist, kann das Gottfinden nur weiselos sein. Eckhart meint, wer Gott in einer Weise suche, der nehme Gott nicht göttlich, sondern kreatürlich, und das hieße, ihm einen Mantel um den Kopf zu winden und ihn unter eine Bank zu schieben.34 Gott ist in keiner Tätigkeit, in keiner Andachtsweise, und sei sie auch noch so sublim, zu finden, nicht einmal im Erkennen und Lieben.35 Erkennen und Lieben sind an die Geschöpflichkeit gebunden und damit an die »eigenschaft« des Geschöpfes. Gerade diese »eigenschaft« aber gilt es zu überwinden. Das ist nur in der radikalen Form von »abgescheidenheit« möglich, die Meister Eckhart verlangt. Wie Gott sich seiner Eigenschaft als Gott entkleidet hat, als er Mensch wurde, so soll der Mensch sich seiner Eigenschaft als konkreter Mensch entkleiden, d. h. alle Kreatürlichkeit überwinden. Eckhart nennt drei Formen dieser Kreatürlichkeit: Körperlichkeit, Zeitlichkeit, Vielheit.36 Der Körperlichkeit soll sich der Mensch entkleiden um der Reinheit des Geistigen willen, der Zeitlichkeit um der Ewigkeit willen, der Vielheit um der 34 35
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Vgl. DW I, 91,5–7; 81,11–82,10. Vgl. DW I, 122,7–123,5: »Ich spriche: noch bekantnisse noch minne eneinigt nicht. Minne nimet got selben, als er guot ist, und entviele got dem namen güete, minne enkünde niemer vürbaz. Minne nimet got under einem velle, under einem kleide. Des entuot vernünfticheit niht; vernünfticheit nimet got, als er ir bekant ist, dâ enkan si in niemer begrîfen in dem mer sîner gruntlôsicheit. Ich spriche: über disiu beide, bekantnisse und minne, ist barmherzicheit; dâ würket got barmherzicheit in dem hoechsten und in dem lûtersten, daz got gewürken mac.« Vgl. DW I, 319,5–11; Pf 230,17–25; 230,26–29: »ich erschricke ofte, sô ich von gote reden sol, wie gar abegescheiden diu sêle muoz sîn, diu zuo der einunge komen wil. Unt daz endarf nieman unmügelich dunken, es enist niht unmügelich der sêle, diu dâ gotes gnâde 138
göttlichen Einheit willen. Eckhart faßt diese Selbstentäußerung unter den Bildern des Todes und des Schlafes: »sei tot für die Welt« oder »schlafe für alle Dinge«37. Nur in einer restlosen Abgeschiedenheit, die die Verhaftung des Menschen an die Kreatur im Innersten des Menschen selbst löst, kann die wahre Natur des Menschen freigelegt werden. Diese Natur des Menschen aber ist der inkarnierte Logos. Durch die Inkarnation ist das Menschsein mit dem Gottsein in Christus verbunden. Eckhart hat bei der Inkarnation nicht ein raum-zeitliches, d. h. geschichtliches Ereignis im Blick; Inkarnation ist vielmehr von Ewigkeit her. Logosgeburt und Menschengeburt Christi fallen zusammen, wenn man sie vom Fluchtpunkt des ewigen Heilsplans her betrachtet. In diesem Heilsplan gibt es kein zeitliches Nacheinander, weil er sich in der ewigen Einheit Gottes befindet. Darum fallen, vom Heilsplan her gesehen, Schöpfungs- und Heilstheologie zusammen: indem Gott seinen Sohn von Ewigkeit her gebar, gebar er ihn zugleich als unseren menschlichen Bruder. Die Erlösung besteht darin, daß die
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hât.« Vgl. auch den ganzen Traktat »Von abegescheidenheit« DW V, 400–437. Zur Schwierigkeit der Begriffsbestimmung »abegescheidenheit« vgl. ebda, 438 Anm. 1; vgl. zur Interpretation H. Piesch, Meister Eckharts Ethik 33–39 (»Meinungsreinheit«); Vl. Lossky, a. a. O. 38 (»une voie d’abstraction ou depouillement spirituel«); B. Welte, Meister Eckart, als Aristoteliker 197–210. Ob sich nun der Begriff von »abstractio« oder »separatio« herleitet (vgl. DW V, 439), er schließt jeweils eine positive Bedeutung ein, schon bei Thomas von Aquin, wo den Begriffen die spirituelle Ausdeutung Eckharts noch fehlt; vgl. S.th. 1–2 q 36 a 2, ad 3: »separatio habet aliquam unionem adiunctam«; 2–2 q 175 a 4 resp., a 5 resp., q 173 a 3 resp. hat »abstractio« einen mystischen Sinn, gleichbedeutend mit »alienatio«, mit der Ekstase also. Die eckhartsche Fülle des »abegescheidenheit«-Begriffs läßt sich aber nicht vorher nachweisen. Wenn wir im folgenden den Begriff »Freiheit« dafür gebrauchen, so einerseits in der Absicht, die Doppelseitigkeit des Freiheitsbegriffes für die Interpretation der Abgeschiedenheit zu nützen, und andererseits, weil Eckhart selbst wohl Freiheit und Abgeschiedenheit gelegentlich synonym verwendet; vgl Pf 91,25; DW II, 76–78; vgl. auch H. Piesch, a. a. O. 90. Freiheit von allem, was nicht Gott ist, und Freiheit für alles, was Gott ist, wäre vielleicht eine knappe Bestimmung des Begriffes. DW I, 128,10 und DW II, 100,1–6: »... slâfe vor allen dingen, daz ist, daz dû noch umbe zît noch umbe crêatûren noch umbe bilde niht enwizzest ... Dar umbe, slâfent alle crêatûren in dir, sô maht dû vernemen, waz got in dir würket.« 139
menschliche Natur in Christus geadelt wurde. 38. Weil sie in einer wesensmäßigen Einheit mit Christus steht, kommt ihr alles zu, was Christus als dem Gottessohn zukommt. Wenn daher der Mensch in wahrer Nachfolge der Heilsereignisse in Christus sich seiner selbst zum eigentlichen menschlichen Sein, der allgemeinen Menschennatur, entäußert, dann ist er selbst Sohn Gottes, der allezeit aus Gott geboren wird.39 Diesen Sinn hat die ganze Abgeschiedenheitslehre Meister Eckharts. Mit dieser Abgeschiedenheit korrespondiert die Weiselosigkeit des Gottfindens. Denn jeder Weg, auf dem der Mensch Gott suchen könnte, bleibt den kreatürlichen Mitteln verhaftet und entspricht weder seiner wahren, in Christus bereits vergöttlichten Natur noch Gott selbst, der sich an kein kreatürliches Mittel binden läßt. Nun ist aber jeder Weg zu Gott an die Kreatürlichkeit gebunden. Also bliebe Gott unerreichbar, und die in Christus vorgegebene Erlösung der menschlichen Natur könnte nicht vollzogen werden. Die Lösung dieser Schwierigkeit findet Eckhart in folgendem Gedanken: Die Kreatur als Kreatur zeigte ja gerade die Weiselosigkeit des Gottfindens. Das rechte Verständnis der Kreatur beweist nämlich, daß sie nicht zu Gott zu führen vermag. Gerade dieses »Nicht« aber kann man nur an der Kreatur erkennen. Auf dieses »Nicht« kommt alles an. Die recht erkannte Kreatur sagt, was sie nicht vermag. Aber indem sie das sagt, verweist sie auf die einzige Möglichkeit des Weges zu Gott: an der Kreatur das »Nicht« zu erkennen, hinter dem die Fülle Gottes steht. Kreatur ist kein Weg zu Gott; sie ist zugleich der einzige Weg zu Gott. Also muß man diesen Weg gehen, indem man ihn nicht geht; dieser Weg ist unmöglich, aber gerade in dieser Unmöglichkeit ist er Weg. Kreatur ist Irrweg und Abweg, 38
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Vgl. Sermones n. 523 LW IV, 347: »Deus assumpsit vestem nostram, ut vere, proprie et per substantiam sit homo et homo deus in Christo. Natura autem assumpta communis est omni homini sine magis et minus. Ergo datum est omni homini filium dei fieri, per substantian quidem in ipso, in se autem adoptive per gratiam.« Vgl. Pf 306,38–40: »Wan dîn menslich nâtûre unde diu sîne hât keinen underscheit: si ist ein; wan swaz si ist in Kristô, daz ist si in dir.« DW I, 86,8.9: »got ist niht aleine mensche worden, mêr: er hât menschlîche natûre an sich genommen.« Vgl. DW II, 84,1–3: »War umbe ist got mensche worden? Dar umbe daz ich got geborn würde (als) der selbe. Dar umbe ist got gestorben, daz ich sterbe aller der werlt und allen geschaffenen dingen.« Diese beiden Sätze könnte man als Kernsätze der Theologie und der Spiritualität Eckharts bezeichnen. Der Sinn der Inkarnation ist die Vergöttlichung. Der Weg der Vergöttlichung ist das Kreuz, d. h. in der Spiritualität: die »abegescheidenheit«. 140
nimmt man sie in sich selbst als Weg, als Möglichkeit; Kreatur ist Weg und lebendiges Buch Gottes, nimmt man sie als Irrweg oder Abweg von Gott. Die existentielle Suche nach Gott muß deshalb an der Kreatur und in der Kreatur geschehen, aber in der Freiheit von jeder kreatürlichen Verfestigung an eine bestimmte Weise.40 So eröffnet gerade die Weiselosigkeit des Gottfindens die einzige Weise des Gottfindens, die keine Weise ist und deshalb nicht in ideologischer Gefahr steht. Jede Weise, die auf sich selbst vertraut, versucht Gott zu binden, der doch nicht zu binden ist. Wer Gott in einer Weise sucht, macht eine angebundene Kuh aus ihm.41 Die Weiselosigkeit des Gottfindens bedeutet aber zugleich die Befreiung aller Weisen des Gottfindens; denn von ihr her gesehen gibt es keine Rangordnung unter den Weisen, keine Rangordnung unter den Ausprägungen der Frömmigkeit, keine Rangordnung der Tätigkeiten und Berufe. Nicht die Weise entscheidet, sondern die Freiheit, die der Mensch in ihr von ihr selbst beweist. Eckhart zerstört so alle Sicherheit des Menschen, um ihm die einzige Sicherheit zu geben, die in der Loslösung von allen Sicherheiten besteht. Seine Lehre von der Abgeschiedenheit, der geistigen Armut und Gelassenheit ist zugleich eine Theologie der wahren Freiheit des Menschen für Gott. Sie entwertet alles und zugleich entwertet sie nichts. Da alles zu klein ist, um zu Gott hin zu führen, ist andererseits nichts zu klein, um zu Gott hin zu führen, wenn es in der Freiheit getan wird. Der Anspruch, den Eckhart mit einer solchen Lebenslehre stellt, wäre unerfüllbar, stünde nicht hinter ihm die Sicherung einer Theologie, die aus der Selbsterschließung Gottes in Christus die Möglichkeit dieser Lebenslehre aufweist. Man kann diese Theologie eine Theologie der Gottesgeburt nennen, denn das Geheimnis der Inkarnation ist ihr bewegender Impuls.
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Damit ist nicht gemeint, daß der Mensch keine bestimmte Lebensweise haben sollte, sondern nur, daß er sich nicht um eine »sunderlîche wîse«, d. h. um ein allgemein gültiges Rezeptbuch des Gottfindens bemühe. Vgl. DW V, 251,10–14: »Wan got enhât des menschen heil niht gebunden ze deheiner sunderlîchen wîse. Waz ein wîse hât, daz enhât diu ander niht; daz mügen hât got allen guoten wîsen gegeben, und keiner guoten wîse ist daz versaget.« DW V, 252,9.10: »Ein ieglîcher halte sîne guote wîse und ziehe dar în alle wîse und neme in sîner wîse alliu guot und alle wîse.« Vgl. auch Pf 685,14–686,16. Vgl. DW I, 274,1–9. 141
2. Gottfinden in der Gottesgeburt A. »Creatio continua« und »incarnatio continua« Man muß innerhalb der Grundgedanken Meister Eckharts vor allem den Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit beachten. In einem transzendentalen Denken, das von der Struktur Gottes ausgeht, fallen die zeitlichen Unterschiede weg. Die Ereignisse der Offenbarung in der Zeit sind deshalb in der Ewigkeit eine Einheit, eine einzige Heilszuwendung Gottes. Manche monistischen Mißverständnisse wären auszuschließen, wenn dieser »Ort« der Spekulation Eckharts gesehen würde. Eckhart betrachtet die einzelnen Ereignisse unter einem doppelten Aspekt: unter dem Aspekt der ewigen Einheit und unter dem Aspekt der geschichtlichen Projektion, in der diese Einheit sich zeitlich differenziert. So ist die Schöpfung sowohl zeitlich als auch ewig. Als Werk Gottes ist sie ewig, denn Gott kann nur Ewiges wirken, und in ihm gibt es keine Zeit, so daß Zeit erst konstituiert werden muß in eben diesem Akt der Schöpfung, der als Akt Gottes ewig ist. Als Ergebnis des Schöpfungsaktes ist die Schöpfung in der Zeit, und insofern ist die Schöpfung auch zeitlich begrenzt. Die Schöpfung kann aber keinen zeitlichen Anfang haben, da ihr keine Zeit vorausging; denn ginge ihr eine Zeit voraus, dann wäre Gott zeitlich bestimmt. Schöpfung ist also in ihrem Ursprung, d. h. in Gott, ewig.42 Damit greift Eckhart keineswegs die Kontingenz der Schöpfung an, aber diese Kontingenz kann sich nicht auf die Tätigkeit Gottes, sondern nur auf die zeitliche Qualität der Schöpfung beziehen. Die Schöpfung als konkretes Geschaffenes ist zeitlich, hinfällig und kontingent; die Schöpfung als Gottes Schaffen kann nur ewig sein. Wenn aber Gottes Schaffen sich in der Ewigkeit vollzieht, dann steht es unmittelbar zu jeder Zeiteinheit. Eckharts Konzeption schließt einen Deismus vollkommen aus; das Schöpfungswerk war nicht irgendwann einmal, sondern es ist, in diesem Augenblick ebensosehr wie zu jeder Zeit. Darum ist »creatio« für Eckhart kein geschichtlicher
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Vgl. In Joh. n 216 LW III, 181: »Concedi potest quod mundus fuit ab aeterno et iterum quod deus ipsum prius creare non potuit. Creavit enim mundum in primo nunc aeternitatis, quod ipse deus et est et deus est.« Vgl. Expos. libri Gen. n. 7 LW I, 190; Sermones n. 459 LW IV, 380,6–12. 142
Schöpfungsakt, sondern der dynamische Bezug, der immer zwischen Schöpfer und Schöpfung besteht, d. h. zeitlich ausgedrückt, »creatio continua«. Ebenso verhält es sich mit der Inkarnation der göttlichen Logos. Als Gottes Akt, der Gott gleich ist, ist sie ewige Logosgeburt, als geschichtliches Ereignis ist sie raumzeitliche Fleischwerdung des Gottessohnes. Da es in der Ewigkeit keinen Zeitunterschied gibt, gibt es auch keinen Zeitunterschied zwischen Logosgeburt, Schöpfung und Inkarnation als der einen Heilsökonomie Gottes. Eckhart achtet auf diesen Aspekt mehr als auf das geschichtliche Ereignis, das ja nur eine Projektion des ewigen Ereignisses in die Zeit ist und als solche weniger Seinsdichte besitzt als das Ereignis im Sein, d. h. in der göttlichen Struktur selbst. Dieses Ereignis im Sein ist ebenso wie das Schöpfungswerk unmittelbar zu jeder Zeiteinheit, d. h.: Inkarnation ist nicht nur einmal geschehen, sondern sie geschieht. Da in Christus die menschliche Natur zum Gottessohn erhoben ist, geschieht diese »incarnatio continua« im Menschen, der an dieser menschlichen Natur teilhat. Diese Inkarnation Gottes im Menschen, die Gottesgeburt, ist dem Menschen vorgegeben in der ewigen Dynamik des göttlichen Heilshandelns; aber sie wird vom Menschen im Leben, d. h. geschichtlich, akzeptiert und dadurch sichtbar vollzogen. Vorgegebenheit und Vollzug geben das Spannungsverhältnis wieder, auf das sich Eckharts Vollkommenheitslehre gründet. Dieses Spannungsverhältnis meint nicht ein zeitliches Nacheinander, sondern die Spannung, die zwischen Ewigkeit und Zeit besteht. Die Zeit muß für die Ewigkeit transparent werden, so wie sie im menschgewordenen Gottessohn für Gott transparent ist. Die Menschwerdung Gottes und die Vergöttlichung des Menschen gehören für Eckhart zusammen wie die beiden Seiten einer Münze.43 Wenn nun die Heilstaten Gottes zugleich ewig sind, insofern sie von Gott sind, und zeitlich, insofern sie nicht Gott sind, dann liegt die ganze Spannung dieser Theologie in dieser durch das Wort »insofern« (inquantum) charakterisierten Aspektverschiebung.44 Bevor also diese Theologie, die bisher nur kurz sichtbar gemacht wurde, näher ausgeführt werden kann, muß die Bedeutung dieses »inquantum« geklärt werden, denn darin liegt der Schlüssel der Interpretation. Mit dieser Frage werden wir an Eck-
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Vgl. In Joh. n. 106 LW III, 90. Vgl. H. Hof, a. a. O. 110. 143
harts Analogielehre verwiesen, die von H. Hof, J. Koch und J. Kopper bereits ausführlich untersucht wurde. Die folgenden Bemerkungen schließen sich ihren Ausführungen an.45 B. Eckharts Analogie-Lehre als Schlüssel der Interpretation46 Bei Thomas von Aquin ist Analogie ein »modus communitatis«, der die Mitte zwischen Äquivozität und Univozität einnimmt: »Neque enim in his quae analogice dicuntur, est una ratio, sicut est in univocis; nec totaliter diversa, sicut in aequivocis; sed nomen quod sic multipliciter dicitur, significat diversas proportiones ad aliquid
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Vgl. H. Hof, a. a. O. 80–123; J. Koch, Zur Analogielehre Meister Eckharts 327–350; J. Kopper, a. a. O. 52–63. Die wichtigste Stelle zur Analogielehre steht in Eckharts lateinischem Kommentar zum Ecclesiastes, In Eccl. n. 52.53 LW II, 280 ff.: »Distunguuntur haec tria: univocum, aequivocum et analogum. Nam aequivoca dividuntur per diversas res significatas, univoca vero per diversas rei differentias, analoga vero non distinguuntur per res, sed nec per rerum differentias, sed per modos unius eiusdemque rei simpliciter. Verbi gratia: sanitas una aedemque, quae est in animali, ipsa est, non alia, in diaeta et urina, ita quod sanitas, ut sanitas, nihil prorsus est in diaeta et urina, non plus quam in lapide, sed hoc solo dicitur urina sana, quia significat illam sanitatem eandem numero quae est in animali, sicut circulus vinum, qui nihil vini in se habet. Ens autem sive esse et omnis perfectio, maxime generalis, puta esse, unum, verum, bonum (d. h. die scholastischen Transzendentalien), lux, iustitia et huiusmodi (d. h. die »perfectiones«), dicuntur de deo et creaturis analogice. Ex quo sequitur quod bonitas et iustitia et similia bonitatem suam habent totaliter ab extra aliquo ad quod analogantur, deus scilicet ... Colligatur et formetur breviter sic ratio: analogata nihil in se habent positive radicatum formae secundum quam analogantur. Sed omne ens creatum analogatur deo in esse, veritate et bonitate. Igitur omne ens creatum habet a Deo et in Deo, non in se ipso ente creato, esse, vivere, sapere positive et radicaliter. Eckharts Analogielehre muss durch seine Univozitätslehre ergänzt werden. In der Analogielehre geht es um Beziehung in ihrer Ableitung, in der Univozität um Beziehungen in ihrer Wechselseitigkeit (Korrelationalität). Vgl. Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart, Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 57-81,und inzwischen in meinem Buch Meister Eckhart (2014), Stichwort Univozität.« 144
unum ...« 47 Analogie ist eine Form proportionaler Gleichheit: dieselbe Aussage kommt verschiedenen Dingen in verschiedener Hinsicht zu.48 Dabei setzt Thomas die Verschiedenheit der Dinge immer voraus. Auf die Seinsanalogie angewendet, bedeutet dies, daß das Sein Gott und der Kreatur in verschiedener Hinsicht zukommt: Gott als Ursache und Prinzip des Seins, der Kreatur als daraus abgeleitetem und darauf hingeordnetem seinsschwächerem Seienden.49 Als Beispiel gebraucht Thomas oft die Beziehung des Begriffes Gesundheit zu Medizin, Lebewesen und Urin: die Medizin wird als Ursache, der Urin als Zeichen der Gesundheit des Lebewesens »gesund« genannt.50 Während es Thomas um einen »modus communitatis« zwischen Verschiedenen geht, um Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen Gott und Kreatur,51 denkt Eckhart ganz aus der Einheit des Seins heraus, das Gott ist. Eckhart ist konsequenter als Thomas, dem in der Analogielehre das Sein zur Aussageweise (modus praedicandi) für verschiedene Realien (Gott-Kreatur) wird, obwohl er es zugleich für Gott beansprucht.52 Diesen Unterschied gibt es für Eckhart nicht: das Sein ist Gott, und mit ihm zusammen gebühren alle Transzendentalien nur Gott allein.53 Die Kreatur kann also nicht in sich selbst, wenn auch seinsschwächer, sein und dann in bezug auf das Sein an Gott gemessen werden. Dieses statische Verhältnis liegt Thomas’ Analogiebegriff zugrunde; es setzt die relative Eigenständigkeit der Schöpfung voraus. Wenn es für Eckhart das Sein nur als Gott gibt, dann kann es Seiendes nur in der Weise geben, daß ihm in dauernder dynamischer Beziehung Sein verliehen wird: »Docet enim naturaliter se id quod habet habere non ex se nec ut inhaerens in se, sed mendicasse et accepisse mutuo et continue accipere quasi in transitu ...«54 Die Kreatur 47
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S.th. 1 q 13 a 5 resp. Wenn man diese Stelle mit der in Anm. 46 angegebenen vergleicht, wird deutlich, daß es Thomas um Begriffszuweisung, Eckhart aber um Seinszuweisung geht. Vgl. a. a. O. Vgl. a. a. O.: »Et sic, quidquid dicitur de Deo et creaturis, dicitur secundum quod est aliquis ordo creaturae ad Deum, ut ad principium et causam, in qua praeexistunt excellenter omnes rerum perfectiones.« Vgl. a. a. O. und S.th. 1–2 q 20 a 3 ad 3. Vgl. J. Kopper, a. a. O. 61. Vgl. J. Koch, a. a. O. 331. Vgl. In Eccl. zit. Anm. 46. In Gen. II n. 25 LW I, 495. 145
hat also eigentlich kein Sein, sondern sie ist, indem sie dauernd das Sein empfängt. Analogie ist also nicht wie bei Thomas ein Bezugsverhältnis, sondern ein Abhängigkeitsverhältnis; Analogie erklärt nicht, was ist, sondern wodurch es ist. Eckhart übernimmt von Thomas das Beispiel von der Gesundheit, aber bei ihm erhält es einen anderen Klang: die abgeleiteten »analogata inferiora« (Speise, Harn etc.) haben nichts von der Gesundheit an sich, die im Lebewesen ist, »nicht mehr als ein Stein«, sondern sie weisen auf die Gesundheit im Lebewesen hin, so wie der Weinkranz am Wirtshaus, der keinen Wein enthält, aber bezeichnet (significat), daß es Wein gibt.55 Diesem Beispiel entsprechend hat die Kreatur bei Eckhart kein Sein im aktiven Sinne, sondern sie wird rein passiv im Sein gehalten. Die Auswirkungen dieser dynamischen Seinsanalogie auf das Verhältnis von Sein und Seiendem, Zeit und Ewigkeit, Schöpfer und Geschaffenem heben den Unterschied zur Lehre des Aquinaten noch mehr hervor. Thomas kennt zwei distinktive Sein: Gott, der das Sein ist, und das Geschaffene, dem es in geringerer Vollkommenheit zukommt. Für ihn ist daher die Kreatur nicht Nichts, sondern, in Gegenüberstellung zum seinsmächtigen Gott, »quasi nihil«. Eckhart kennt hingegen nur ein Sein, und, alles was lebt, lebt aus der Gnade dieses Seins, die es in jedem Augenblick zu sich rufen muß. In sich selbst ist das Geschaffene nichts, und zwar nicht wie bei Thomas »quasi nihil«, sondern »purum nihil«56. Für Eckhart ergibt sich daraus die Überlegung: es gibt nur ein Sein, aber das Geschaffene ist nicht etwa damit identisch. Obwohl dieser Unterschied dem Geschaffenen das Sein nimmt, kann doch seine Realität nicht verneint werden. Wenn auch diese Realität ganz aus Gott verstanden wird, so ist sie doch im Konkreten eine andere Realität als die Realität Gottes. Eckhart beantwortet diese Frage damit, daß zwar alles Seiende nur insofern seiend ist, als es in der Gegenwart Gottes »schwebt«,57 aber doch durch seine konkrete Individualität von ihm verschieden ist, d. h. eine andere Essenz hat.58 Diese Essenz steht 55 56 57
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Vgl. In Eccl. zit. Anm. 46. Vgl. H. Hof, a. a. O., 112–120; DW I, 69,8–70,7. Vgl. DW I, 70,6.7: »Alle crêatûren hânt kein wesen (d. h. Sein), wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes.« Vgl. In Exod. n. 18: »In omni creato aliud est esse et ab alio, aliud essentia et non ab alio.« Vgl. H. Hof, a. a. O. 115.116. 146
freilich in reiner Passivität zum Sein, sie hat einen »dynamischen Appetit« auf das Sein.59 In sich selbst ist sie nicht seiend,60 vom Sein verlassen;61 aber sie hat Realität als Prinzip,62 als reine Empfänglichkeit für die Seinsgabe. Diese Ontologie ist eine Ontologie des Spiegelbildes:63 das Bild im Spiegel existiert nur, wenn es dauernd zu seiner Existenz aktuiert wird; es ist »aktuelle configuratio«, nicht »figuratum manens«64. Von daher versteht man, daß zwar für Thomas »creatio« zugleich einmaliger Schöpfungsakt und »creatio continua« sein kann, für Eckhart jedoch nur »creatio continua«.65 Man könnte sagen, daß die Nähe Gottes zur Schöpfung in Eckharts Konzeption noch klarer zum Ausdruck kommt als bei Thomas, bei dem die »creatio continua« im Sein erhält, aber nicht in jedem Augenblick neu ins
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Vgl. In Eccl. n. 53 LW II, 282: »esuriunt quia ab alio sunt«. Vgl. dazu H. Hof, a. a. O. 117. Vgl. In Exod. n. 20 LW II, 26. Vgl. In Gen. I n. 33 LW I, 210.211. Vgl. In Joh. n. 481 (ungedruckt). Vgl. zum Spiegelbeispiel in den deutschen Werken: DW I, 154,1–5; 265–270; Pf 180,34– 38: »Ich nime ein beckin mit wasser und lege dar in einen spiegel und setze es under das rat der sunnen, sô wirfet diu sunne ûz irn liehten schîn ûzer dem rade und ûzer dem bodem der sunnen und vergêt doch niht. Das widerspilen des spiegels in der sunnen, daz ist in der sunnen sunne, und er ist doch daz (was) er ist.« Weitere Vergleichsstellen: DW I, 154 Anm. 1. Ähnlich wie das Spiegelbeispiel ist das Licht-Luft-Beispiel zu werten, vgl. dazu J. Koch a. a. O. 339–341. H. Hof, a. a. O. 119. Vgl. DW I, 154,1–4: »Man vrâget, wâ daz wesen des bildes aller eigenlîchest sî: in dem spiegel oder in dem, von dem es ûz gât? Ez ist eigenlîcher in dem, von dem ez ûz gât. Daz bilde ist in mir, von mir, zuo mir. Die wîle der spiegel glîch stât gegen mînem antlite, sô ist mîn bilde dar inne; viele der spiegel, sô vergienge daz bilde.« Vgl. H. Hof, a. a. O. 123; J. Koch, a. a. O. 341.342. J. Koch weist auf die Stelle In Sap. n. 292 (noch nicht gedruckt) hin: »... omnis creatura, quamvis perfectissima, et continue – quia non continue et semper actu – accipit esse a deo, et suum esse est in continuo fluxu et fieri secundum illud Gen. 1: ›in principio creavit deus caelum et terram‹. ›Creavit‹ inquit in praeterito; ›in principio‹ quantum ad fieri. Semper enim creatum et esse habet et esse accipit. Sic lux in medio a sole ...« Vgl. auch In Gen. II n. 25 LW I, 495: »Docet enim naturaliter se id quod habet habere non ex se nec ut inhaerens in se, sed mendicasse et accepisse mutuo et continue accipere quasi in transitu ...« 147
Sein ruft. Eckhart und Thomas unterscheiden sich »in ihrer verschiedenen Auffassung des Seinsprinzips im Geschaffenen«;66 die Abhängigkeit von Gott wird von beiden betont, jedoch ist sie bei Thomas statisch, bei Eckhart dynamisch.67 Ähnliche Konsequenzen hat Eckharts Analogielehre für die Unterscheidung von Zeit und Ewigkeit.68 Eckhart kennt ein dreifaches Prinzip der Schöpfung: den Logos als »imago idealis omnium«,69 den Intellekt als »principium totius naturae«70 und die Einheit, die immer dasselbe Jetzt der Ewigkeit umschließt.71 Die Erschaffung der Welt geschieht im ewigen Jetzt der »Ewigkeitszeit«; insofern ist sie simultan mit der Logosgeburt. Das ewige Jetzt kann wegen der Einfachheit des Seins nichts anderes sein als Gott selbst. Wie das Sein aus Gott stammt, so stammt auch die Zeit aus ihm.72 Die irdische Zeitlichkeit ist also bei Eckhart eine Projektion der punktuellen Ewigkeitszeit und steht zu ihr im dynamischen Abhängigkeitsverhältnis. Damit will Eckhart nichts über die Dauer der Welt aussagen; ihre Zeitlichkeit schließt vielmehr neben dem geschichtlichen Nacheinander auch die zeitliche Begrenzung ein.73 Daraus ergibt sich Eckharts Bestimmung der Schöpfung: als Akt Gottes ist sie ewig; als Produkt ist sie zeitlich und kontingent. Thomas ging bei seiner Betrachtung des Verhältnisses zwischen Schöpfer und Geschaffenem vor allem vom Produkt aus; Eckhart betrachtet die Schöpfung aus der Dynamik Gottes.74 Aus diesen Auffassungen lassen sich die Konsequenzen für Eckharts Inkarnationslehre ziehen. Als ewiger Akt Gottes ist die Inkarnation ein ständiges und zugleich 66 67 68 69 70 71 72
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H. Hof, a. a. O. 119; vgl. J. Koch, a. a. O. 336.342, J. Kopper, a. a. O. 60. Vgl. J. Koch, a. a. O. 342. Vgl. H. Hof, a. a. O. 120–123. Vgl. In Gen. I n. 7 LW I, 190. Vgl. a. a. O. Vgl. a. a. O. Vgl. H. Hof, a. a. O. 122: »Die Zeit als solche, tempus inquantum tempus, d. h. die Zeit in ihrem Analogon, ist nichts anderes als die Ewigkeit, terminus principalis der Analogie; ganz wie das geschaffene ens inquantum ens das ungeschaffene, das einzige Sein ist.« Vgl. a. a. O. 123; J. Kopper, a. a. O. 69–72. H. Hof spricht von einem ständigen »Ausfließen des einzigen Seins in das Nichts des Geschaffenem« a. a. O. 123. Bei allen der neuplatonischen Emanationslehre entspechenden Ausdrücken darf man jedoch nicht die Lehre des Spiegelvergleichs vergessen: Gott selbst geht nicht in den Spiegel ein. Vgl. oben Anm. 63. 148
augenblickliches Fruchtbarwerden der Logosgeburt für die Erhöhung des in der »creatio continua« ständig verliehenen Seins.75 Von der punktuellen Ewigkeitszeit her gesehen war Christus nicht »erst« Logos, um »dann« als Mensch geboren zu werden, sondern als Gott den Logos gebar, gebar er ihn von Ewigkeit her in die Zeit. In der ewigen Dynamik Gottes bilden Logosgeburt, Schöpfung und Inkarnation eine Einheit. Eckharts Analogielehre führt also zur Klarheit über seine Vorstellungen von der »creatio continua« und der »incarnatio continua«, ohne die seine Gottesgeburtslehre nicht zu verstehen ist. Bevor wir uns jedoch dieser Lehre zuwenden, bleibt zu fragen, ob bzw. inwieweit Eckhart durch seine Analogielehre und ihre Konsequenzen dem Monismus verfällt. Die Kreatur schwebt ja bei ihm dauernd zwischen Sein und Nichts, und je nachdem, in welche Richtung man sie akzentuiert, tritt die monistische Tendenz zum univoken Sein auf. Nun ist aber dieser schwebende Charakter bei Eckhart nirgends aufgehoben, sondern er ist es gerade, der seine Ontologie bestimmt und im Gleichgewicht hält. Des Monismus kann man also Eckhart nicht beschuldigen.76 Eine zweite Gefahr liegt darin, daß Eckharts Analogie als rein logische Distinktion aufgefaßt werden könnte.77 Eckhart geht es jedoch durchaus um Realdistinktionen, aber nicht um Proportionen des Seins, sondern um Seinsmodi.78 Die allgemeinen Begriffe sind für ihn nicht nur abstrakt, sondern absolut, d. h. mit dem Sein identisch.79 Man spricht mit Recht von einer »Transzendentalienhypostasierung« bei Meister Eckhart, wobei zu den Transzendentalien alle Absoluta gehören.80 Vom Pantheismus sind Eckharts Aussagen durch das »inquantum« getrennt: das Geschaffene ist Sein, insoweit es ist (esse rerum inquantum esse), es ist gut, insoweit 75
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Vgl. In Joh. n. 185 LW III, 154: »Dei sapientia sic caro fieri dignata est, ut ipsa incarnatio quasi media inter divinorum personarum processionem (d. h. Logosgeburt) et creaturarum productionem (Schöpfung) utriusque naturam sapiat, ita ut incarnatio ipsa sit exemplata quidem ab aeterna emanatione et exemplar totius naturae inferioris.« Die Schöpfung im Logos wird für Eckhart erst aus der Inkarnation verständlich. Vgl. H. Hof, a. a. O. 133–146. Vgl. H. Hof, a. a. O. 86. Vgl. In Eccl. zit. Anm. 46 und dazu J. Koch, a. a. O. 331. Vgl. J. Koch, a. a. O. 336. Vgl. H. Hof, a. a. O. 124–133. 149
es gut, gerecht, insoweit es gerecht ist.81 Aber rein in sich selber ist es weder gut noch gerecht noch seiend. Auch, wenn es im analogen Sinne (inquantum) als gut, seiend und gerecht bezeichnet wird, ist es nicht identisch mit Gott, denn durch sein jeweiliges individuelles Wesen ist es immer von Gott geschieden als ein »esse hoc«, ein »bonum hoc«, ein »dies und das«, als eine vom allgemeinen Sein getrennte Konkretion, die freilich nur aus der Projektion dieses Seins existiert. Der letzte Grund für diese Projektion oder Spiegelung des Seins liegt im Mysterium der Barmherzigkeit Gottes.82 Eckharts Analogielehre bezeichnet die Seinsstruktur, in der seine Mystik verankert ist. Die spirituelle Fruchtbarkeit der Seinsdynamik hat ihn vor allem in den deutschen Predigten und Traktaten beschäftigt. Die unendliche Gebefreudigkeit des göttlichen Seins und die unendliche Sehnsucht der Kreatur, die sich im Innersten der menschlichen Seele zusammenfaßt und ausdrückt, bilden die beiden Pole eckhartscher Mystik, die sich immer am Sein orientiert. J. Koch hat im Zusammenhang damit auf Eckharts eigenes Predigtprogramm aufmerksam gemacht:83 der Adel der menschlichen Seele und die Lauterkeit des göttlichen Seins sind die Pole, zwischen denen Eckhart seine Lehre von der Abgeschiedenheit und der Gottesgeburt entwickelt. C. »Scintilla animae« bei Meister Eckhart Gott und die »scintilla animae« Nach Eckharts Analogielehre muß Gott dem Menschen das Sein unaufhörlich leihen und zuteilen. Das gilt jedoch nicht nur für das Sein, sondern für alle Transzendentalien; ens, verum, unum, bonum sind nur in Gott Wirklichkeit. Eckhart hat diese
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Vgl. BgT, DW V, 9.10. Vgl. DW I, 121,1–12. Vgl. Pf 91,24–20: »Swenne ich predien, sô pflige ich ze sprechende von abegescheidenheit unt daz der mensche lidig werde sin selbes und aller dinge. Zem andern mâle, daz man wider în gebildet werde in daz einveltige guot, daz got ist. Zem dritten mâle, daz man gedenke der grôzen edelkeit, die got an die sêle hât geleit, daz der mensche dâ mit kome in ein wunder ze gote. Zem vierdem mâle von götlîcher nâtûre lûterkeit, waz clârheit an götlîcher nâtûre sî, daz ist unsprechlich.« Vgl. dazu J. Koch a. a. O. 346; H. Hof, a. a. O. 161. 150
Transzendentalien um die »perfectiones spirituales« vermehrt, indem er alle Tugenden in Gott hypostasierte.84 Dies gilt besonders für die »iustitia«, die dabei weniger im Sinne der Kardinaltugenden als im Sinne der paulinischen Rechtfertigung zu verstehen ist.85 Die Leihgabe Gottes besteht in diesen Transzendentalien. Als Gabe ist sie das Analogon, das die verschiedenen Analogata analogisiert. Dieses Analogon wird dem Menschen stellvertretend für die ganze Schöpfung eingesenkt. Für Eckhart gehört nicht der Mensch zur Schöpfung, gewissermaßen als auserlesenes Teilstück, sondern die Schöpfung gehört zum Menschen und besteht nur, insofern sie auf den Menschen bezogen ist. Indem Gott dem Menschen das Sein verleiht, belebt er für ihn die ganze Schöpfung. Das Analogon Gottes und damit der Transzendentalien heißt, soweit es dem Menschen zukommt – was immer als dynamisches Geschehen und nicht als rein anthropologische Ausstattung begriffen werden muß –, »scintilla animae«. Dieses »ens analogon« ist als Gabe Gottes ungeschaffen und mit Gott identisch, als Verfügung des Menschen ist es geschaffen. »Scintilla animae« ist nichts anderes als das Teilhabesein des Menschen, bezeichnet also ein dynamisches Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Dieses Verhältnis integriert sowohl die schöpfungsgeschichtlichen wie die heilsgeschichtlichen Ereignisse zwischen Gott und Mensch. Beide sind in dieser Zuwendung Gottes nicht zu trennen, denn diese Zuwendung kommt aus der Ewigkeitszeit. Eckhart betrachtet also das Verhältnis zwischen Gott und Mensch nicht in erster Linie horizontal-heilsgeschichtlich, sondern vertikalanalog. Das heilsgeschichtliche Drama ist nur eine Ausfaltung der ganzen göttlichen Heilszuwendung. Deshalb treten bei Eckhart heilsgeschichtliche Züge zurück.86 84 85
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Vgl. BgT, DW V, 9–12. Vgl. J. Koch, a. a. O. 338.342–344. J. Koch zeigt, daß sich Schöpfung und Rechtfertigung bei Eckhart nach derselben Struktur vollziehen, die in der Analogielehre zum Ausdruck kommt. Eckharts Schöpfungs- und Rechtfertigungslehre unterscheidet sich vom Occamismus Luthers dadurch, daß es sich jeweils nicht um bloße Imputationen des Seins oder der Rechtfertigung handelt, sondern um ein echtes Geben, das sich je und je neu vollzieht, sei es als Verleihen des Seins oder als Gleichgestaltung mit Gott. Vgl. das Ergebnis der Untersuchungen von B. Weiß, Die Heilsgeschichte bei Meister Eckhart 181: »Allzu leicht drohen ... die Fakten der Heilsgeschichte bei ihm (Eckhart) Symbole für das zu werden, was immer, was über aller Zeit geschieht. Auf der anderen 151
Die »scintilla animae« ist geschaffene und erlöste Gottebenbildlichkeit zugleich. Ebenbildlichkeit ist für Eckhart nie die statische Ausstattung eines Menschenbildes, sondern das dynamische Seins- und Heilsempfangen des Menschen.87 Dieses Emp-
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Seite gilt ihm die Heilsgeschichte mit ihren sichtbaren Folgen nur als äußere Vorbereitung für die innere Gottesgeburt.« Dieses Urteil ist freilich ganz aus einer Bestandsaufnahme gefällt, die sich nicht in die Konsequenz der Gedanken Eckharts hineinbegibt. Bezeichnenderweise fehlt in B. Weiß’ Übersicht Eckharts Schöpfungstheologie. Die Heilsgeschichte beginnt nicht mit der Erbsünde, wie diese Übersicht nahelegt (a. a. O. 25–42). Die Heilsgeschichte ist auch bei Eckhart nicht nur Symbol und äußere Vorbereitung, sondern sie befindet sich im Analogieverhältnis zum ewigen Heilswerk Gottes, das sich in ihr vollzieht. Heilsgeschichte und ewiges Heilswerk sind bei Eckhart nicht zwei verschiedene Sachen, von denen nun die eine verkürzt ist, sondern eine Einheit. Daß unter dem Gesichtspunkt der Einheit die Einzelheit zurücktritt, ist eine notwendige Folge, aber es bedeutet nicht, daß sie nicht in sich ernst genommen wird. Eine Heilsgeschichte, die aus Eckharts Konzeption beschrieben würde, müßte in jedem einzelnen Zug das Ganze beschreiben und dabei jeweils den besonderen Aspekt herausstellen. Eckhart lehnt deshalb den Ausdruck »kraft der sêle« ab, vgl. DW I, 333,2. J. Quint führt hier in Anm. 3 als Vergleichsstelle »zur Ablehnung der Bezeichnung ›Kraft‹« Pf 258,18– 25 und DW I, 39–41 an, aber in diesen beiden Stellen geht es nicht um »kraft der sêle«, sondern um »kraft in der sêle« (Pf 258,19) bzw. »kraft in dem geiste«, und diese Ausdrücke werden nicht abgelehnt, sondern an der »Weiselosigkeit« gemessen, d. h. an der unbenennbaren Einheit des Seins. Vgl. DW I, 42,6–43,5: »... sô rehte ein und einvaltic ist diz bürgelîn (einer der vielen Ausdrücke für die »scintilla animae«), und sô enboben alle wîse und alle krefte ist diz einic ein, daz im niemer kraft noch wîse zuo geluogen mac noch got selber ..., als verre als er sich habende ist nâch wîse und ûf eigenschaft sîner persônen.« Die negative Theologie findet auch ihre Anwendung auf den Seelenfunken. Vgl. Pf 258,22.23: »Jâ bî guoter wârheit, unde got selber der enmac dar în niht, als er nâch wîse ist.« Deshalb besteht auch keinerlei Gegensatz zwischen diesen Stellen und den vielen anderen, wo Eckhart von »kraft in der sêle« spricht, vgl. DW I, 220,4 ff., DW II, 52,12, Pf 142,38 ff., Pf 158,24.25 f., Pf 199,25. Das »in« ist hier doch wohl im Sinn der dynamischen Analogie zu nehmen. Der Ausdruck »kraft der sêle« findet sich nur DW I, 182,9 und Pf 107,34, so daß ihn Eckhart ohne größere Inkonsequenz auch an einer Stelle ablehnen kann, wo diese Ausnahme unter der Fülle der positiven Benennungen ins Auge fällt. Dieser Ausdruck ist in DW I, 333,2 ein nicht identifiziertes Meisterzitat, in dem 152
fangen bedeutet nicht nur die Spiegelung Gottes im Menschen, sondern auch die Ermöglichung der »Rückstrahlung« des Spiegels: »scintilla animae« ist die von Gott eingesenkte aktive Geistigkeit, in der der Mensch Gott sucht und erkennt. Sie ist als solche Anteil am göttlichen Intellekt: »intellectus inquantum intellectus«, d. h. »das Analogon des ungeschaffenen Intellekts, das im dynamischen Empfangen in die Seele einschwebt und hineinwirkt, die dabei durch die Gotteserkenntnis neu gebildet wird und die einfließende Gotteserkenntnis einsaugt«88. Dieser eingesenkten Geistigkeit, die mit Gott gleichförmig macht – Gleichheit ist die Voraussetzung jeder Erkenntnis89 – entspricht die Gottebenbildlichkeit als Analogon des göttlichen Geist-seins.90 In ihr liegt zugleich das tiefste Wesen der menschlichen Seele, die Gottes Struktur abbildet.91 So wie die »Gottheit« in dem Umriß des Dreiecks liegt, das Sein (Vater), Erkennen (Sohn) und Lieben (Geist) umschreiben, so liegt das Zentrum der Gottebenbildlichkeit in der »scintilla animae«, unerfahrbar in dem Bereich, den Seinsdrang (memoria), Erkenntnisdrang (intellectus) und Liebesdrang (voluntas) umschreiben, als die verborgene Einheit aller Seelenkräfte. Dort, wo die Seele »potentia pura«, reine Leere ist, dort ist die Seinsmächtigkeit der Leihgabe Gottes am größten, die Spiegelung der Gottebenbildlichkeit am klarsten. Es wird immer wieder versucht, die »scintilla animae« in der Abstraktion eines Menschenbildes organhaft festzulegen. »Scintilla animae« ist nicht die »Stelle« des Einwohnens Gottes im Menschen,92 sondern das Einwohnen in Gott selbst: sie bezeichnet mehr das »Daß« der Beziehung als das »Wie« dieser Beziehung. Jede anthropologische Festlegung zerstört den ontologischen Bezugsgedanken; Eckhart hat
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vermutlich die »scintilla animae« als rein anthropologische Qualität verstanden wird, und nicht, wie bei Eckhart, als ontologischer Bezug. H. Hof, a. a. O. 206. Vgl. DW I, 49,4; 55,1. Vgl. DW I, 265–270; vgl. H. Hof, a. a. O. 208–210. Vgl. zur trinitarischen Seelenstruktur und dem darinliegenden weiselosen, unbenennbaren Bereich der Gottebenbildlichkeit die ganze Predigt XCIX bei Pf 317–320, vor allem 318,1–15; 319,39–320,31. Vgl. DW II, 34,2.3: »Ach, wie edel diu kraft ist, diu dâ stat obe zît und diu dâ stât âne stat!« Man kann nur in übertragenem Sinne von einem »Ort« der Gottesgeburt in der Seele bei Eckhart sprechen, wie H. Hof das tut, vgl. a. a. O. 161–187. 153
nicht anthropologisch, sondern ontologisch aus der Struktur Gottes gedacht. »Scintilla animae« ist ein ontologischer Bezug, nicht ein erkenntnistheoretisches Organ,93 nicht eine Naturanlage des Menschen oder gar eine psychologisch zu verstehende Tiefenschicht der menschlichen Seele.94 »Scintilla animae« ist ein Verhältnisbegriff, der ein Geschehen umschreibt, und dieses Geschehen ist die Gottesgeburt. Schöpfung und »scintilla animae« »Intellectus enim inquantum intellectus est similitudo totius entis in se continens universitatem entium, non hoc aut illud cum praecisione.«95 Die reine Geistigkeit der »scintilla animae« erlaubt ihr, nicht nur den Gipfel der Schöpfung darzustellen, sondern auch die ganze Schöpfung in sich aufzunehmen und in sich einzuprägen. Die Kreatur wohnt deshalb geistig im Menschen, insofern sie nur durch ihn in das Geschehen des Empfangens der Seinsgabe einbezogen ist: »Alle Kreaturen tragen sich in meine Vernunft, auf daß sie geistig in mir sind.«96 Die »scintilla animae« macht 93
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Soweit in der »scintilla animae« als »intellectus inquantum intellectus« erkannt wird, muß es sich um bildloses, farbloses, wortloses Erkennen handeln, nicht um eine psychologische Erfahrung, sondern um ontologische Einheit. Vgl. H. Hof, a. a. O. 210. H. Hof, a. a. O. 173, setzt sich mit solchen Mißverständnissen bei H. Piesch, E. v. Bracken und K. Weiß auseinander. In Gen. II n. 139 LW I, 607. Pf 180,23.24: »Alle crêaturen tragent sich in mîne vernunft, daz si in mir vernünftic sint.« Hier geht es um den Gedanken der »epistrophé« zum Sein: 180,22: »Alle crêaturen verzîhent sich irs lebens (d. h. ihrer konkreten Individualität) ûf ir wesen (d. h. ihr eigentliches Sein in Gott)«. Die umgekehrte Bewegung, die Emanation vollzieht sich ebenfalls in der höchsten Geistigkeit im Menschen. Vgl. Pf 206,34–207,15: »Got ist in allen dingen, Ie mêr er ist in den dingen, ie mêr ist er ûz den dingen; ie mê er inne, ie mêr er ûze ist (eine paradoxe Formulierung der Spiegel-Ontologie). Ich hab ez etewenne mê gesprochen, daz got alle dise welt beschepfet nû alzemâle (creatio continua). Allez, daz got ie geschuof vor sehs tûsend jâren unde mêr, dô got die welt machte (also alles, was er seit Anbeginn der Welt schuf), die beschepfet got nû zemâle. Gott ist in allen dingen, aber als got götlich ist und als got vernüftig ist, sô ist got niendert als eigentlich als in der sêle ... in dem innegesten der sêle und in dem hoehsten der sêle. Unde swenn ich spriche: daz innigest, sô meine ich daz hoehste, unde swenn ich spriche: daz hoehste, sô meine ich daz innigeste ... Dâ diu zît nie în enkam, dâ nie bilde în geliuhte, in dem innigesten und 154
also aus dem Menschen den Bezugspunkt der Schöpfung, in dem sie ihr Sein empfängt, d. h. in den Seinsausfluß Gottes einbezogen wird. Dieser Seinsausfluß Gottes benimmt Gott nichts und gibt doch der Kreatur alles: »Ich nehme ein Becken mit Wasser und lege einen Spiegel hinein und setze es unter den Sonnenball; dann wirft die Sonne ihren lichten Glanz aus der Scheibe und aus dem Grunde der Sonne aus und vergeht darum doch nicht.«97 In diesem Bild Eckharts ist die Kreatur das Wasser. Es wird bestrahlt von dem Spiegel darin, d. h. von der transparenten Intellektualität des Menschen. So wird die Kreatur einbezogen in das Strahlenspiel zwischen Sonne und Spiegel. »Das Rückstrahlen des Spiegels in der Sonne ist in der Sonne die Sonne, und doch ist er das, was er ist. So ist es auch mit Gott. Gott ist in der Seele mit seiner Natur, mit seinem Sein und mit seiner Gottheit, und doch ist er nicht in der Seele. Das Rückstrahlen der Seele, das ist in Gott Gott, und doch ist sie, was sie ist.«98 Hier ist die Analogielehre Eckharts deutlich: das Geschehen zwischen Seele und Gott ist in Gott Gott selbst und in der Seele die Seele selbst. Diesen Vorgang beschreibt der Begriff der »scintilla animae«, im Bilde: das Strahlen Gottes und das Zurückstrahlen der Seele. In diesen Vorgang ist die Kreatur integriert: »Alle Kreaturen tragen sich in meine Vernunft, auf daß sie geistig in mir sind. Ich allein bereite alle Kreaturen wieder zu Gott. Schaut, was ihr alle tut!«99 Wie der Mensch in der Weiselosigkeit des Gottfindens des Mittels der Kreatur bedarf, so bedarf alle Kreatur, um zu ihrem Sein zu gelangen, des menschlichen Spiegels, der die göttliche Seinsgnade auffängt und zurückstrahlt. So wird die Schöpfung in der »scintilla animae« geschaffen und kehrt in ihr zu Gott zurück. Alles, was Eckhart über die »scintilla animae« und, in weiterem Sinne, über die menschliche Geistseele aussagt, begreift die ganze Schöpfung mit ein.
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in dem hoehsten der sêle schepfet got alle die welt. Allez daz got beschuof vor sehs tûsent jâren und allez daz got noch beschaffen sol über tûsent jâr, ob (vorausgesetzt daß) diu welt sô lange bestêt, daz schepfet got in dem innegesten und in dem hoehsten der sêle.« Pf 180,34–37, zitiert oben Anm. 63. Pf 180,37–181,1: »Daz widerspilen des spiegels in der sunnen daz ist in der sunnen sunne und er ist doch daz er ist. Alsô ist es ez umbe got. Got ist in der sêle mit sîner nâtûre, mit sîme wesenne unde mit sîner gotheit und er enist doch niht diu sêle. Daz widerspilen der sêle daz ist in gote got unde si ist doch daz si ist.« Vgl. auch Pf 180,19–22. Pf 180,22–25. 155
Christusförmigkeit der »scintilla animae«100 Die »scintilla animae« als »imago Dei« ist zugleich »conformatio«, Gleichgestaltung mit dem Sohn, dem ungeschaffenen Urbild alles Geschaffenen. Schöpfung in Christus ist bei Eckhart die Einheit der Ereignisse Logosgeburt, »creatio continua« und »incarnatio continua«. Gott schenkt seine Seinsgnade, Gott schenkt seinen Sohn, der Sohn nimmt menschliche Natur an, das alles sind Interpretationen der einen Heilszuwendung, und dies alles geschieht im Vorgang der »scintilla animae«. In diesem Geschehen ist der Mensch gleichgestaltet mit dem Sohn, den Gott von Ewigkeit her geboren hat und immer wieder in diesem Geschehen gebiert. Darin liegt der Ausgangspunkt der Theologie der Gottesgeburt bei Meister Eckhart, die zugleich Schöpfungstheologie und Heilstheologie ist. D. Die ontologische Vorgegebenheit der Gottesgeburt Die Theologie der Gottesgeburt gründet bei Eckhart einerseits in dem neuplatonischen Analogieprinzip, das das Verhältnis von Urbild und Abbild wiedergibt. Das Abbild ist so in seinem Urbild, daß es in seinem Urbild das Urbild selbst ist, und umgekehrt: das Urbild ist so in seinem Abbild, daß es in dem Abbild das Abbild selbst ist.101 Dies ist nur möglich durch die dynamische Wechselbeziehung zwischen Ursache und Verursachtem, wie wir sie im Spiegelvergleich Eckharts kennengelernt haben. Dabei liegt nur ein einziges Ereignis vor, das von Gott ausgeht und in ihn zurückkehrt: Gott erkennt sich selbst, Gott »schmeckt« sich selbst, Gott liebt sich selbst. Aber »in dem Schmecken, in dem Gott sich schmeckt, darin schmeckt er alle Kreaturen«102. Die Dynamik der göttlichen Struktur ist zugleich die Dynamik, von der die Schöpfung bewegt wird. Da es nur ein einziges Sein bei Eckhart gibt, kann es auch nur ein einziges Seinsereignis geben. 100
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Vgl. dazu: DW I, 86,11–87,8; 414,2–415,17; 420,5–11; Pf 56,13–22. Über die Problematik der Gleichheit mit dem Sohne, die davon ausgeht, daß Christus und die allgemeine Menschennatur identisch sind, vgl. B. Weiß, a. a. O. 72–75; H. Piesch, Meister Eckharts Ethik 122–127; J. Ratzinger, Die christliche Brüderlichkeit 75–78. Vgl. Johannes Eriugena, De Divisione naturae, lib. III, PL 122,638 C bis 641 D. Pf 180,9.10: »Mit dem smacke, dâ sich got inne smacket, dâ inne smacket er alle crêatûren, niht als crêatûren, mêr: crêaturen als got.« Vgl. Pf 180,4–7. 156
Dieses Ereignis ist andererseits in seiner ganzen Fülle nur aus der Offenbarung erkennbar. Nicht aus dem neuplatonischen Analogieprinzip, sondern nur aus der Offenbarung stammt der Gedanke der Inkarnation. Eckharts Theologie der Gottesgeburt ist ohne Offenbarung nicht denkbar; das Analogieprinzip stellt für den Grundgedanken der Offenbarung nur das Ordnungsgefüge bereit. In der Inkarnation findet Eckhart das Mysterium, das das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschaffenem am klarsten verdeutlicht. Auch dieses Ereignis betrachtet er freilich nicht in seiner konkreten Geschichtlichkeit, sondern in seiner dauernden ontologischen Wirklichkeit, von der Christi Auftreten in der Geschichte nur eine Projektion ist. Die Gottesgeburt ist nach Eckharts Anschauung nichts anderes »als das dynamische Ausfließen der attributiven Analogie und das Analogon-Entleihen«103. Gottesgeburt oder »incarnatio continua« wird für ihn zur Formel der Totalität der Heilszuwendung Gottes an die Kreatur, die freilich unter verschiedenen Aspekten betrachtet und gezeichnet werden kann: 1. Gottesgeburt ist die Seinsbegabung in der »creatio continua«, in der Gott als das einzige Sein sich selbst der Schöpfung im Menschen (scintilla animae) mitteilt in einem immerwährenden Geschehen, das weder Verlust an seiner göttlichen Subsistenz noch Realidentität von Schöpfer und Geschaffenem zur Folge hat. Gottesgeburt gibt also das wieder, was die Theologie seit Johannes und Paulus Schöpfung in Christus genannt hat. 2. Gottesgeburt ist die Geburt des göttlichen Logos-Sohnes aus dem Vater als göttlicher Archetyp aller Schöpfung, ungeschaffen, ewig und gottgleich. Gottesgeburt als Logosgeburt ist der göttliche Aspekt des Geschehens, das sich in der »creatio continua« widerspiegelt. 3. Gottesgeburt ist zugleich die Inkarnation des Gottessohnes, in der Gott im Menschen die Kreatur zu seinem Sohne erhöht und so die Seinsbegnadung alles Geschaffenen steigert.104 Eckhart betrachtet dabei weniger die geschichtliche Selbstentäußerung Christi als die Erhöhung der Schöpfung zum Sohne, die sie zur Folge hat. 103 104
H. Hof, a. a. O. 173. Vgl. In Joh. n. 106 LW III, 90: ».... fructus incarnationis Christi, filii Dei, primus est quod homo sit per gratiam adoptionis quod ipse est per naturam.« Vgl. In Joh. n. 117.118 LW III, 101–103; In Ioh. n. 177 LW III, 145.146: »gratia enim incarnationis ... est pro gratia inhabitationis«; Sermones n. 3 LW IV, 5; DW I, 86,8–87,8; 90,3–8; 85,6–86,1: »Swâ nû 157
4. In dieser Erhöhung zum Sohne liegt zugleich der eschatologische Aspekt der Gottesgeburt. In Christus ist geschehen, was dem Menschen aus eigener Kraft nicht möglich war: die Vergöttlichung der menschlichen Natur. Die geschichtliche Aufgabe des Menschen besteht darin, sich seiner Kreatürlichkeit so zu entäußern, wie Christus sich seiner Göttlichkeit entäußert, um so zu werden, was er in Christus immer schon ist. In diesen Prozeß ist die ganze Kreatur insofern eingeschlossen, als gerade die Überwindung ihrer »Selbständigkeit«, die ja in »Nichts« besteht, ihre Transparenz für ihr eigentliches Sein in Gott offenbar macht. Während die Theologie der Tradition vor Eckhart in der Gottesgeburt vor allem zwei Aspekte zu fassen versuchte, nämlich die Logosgeburt aus dem Herzen des Vaters und das In-Christus-sein der Gläubigen, in deren Herzen Christus in der Taufe eingesenkt wurde,105 faßt Eckhart die Totalität aller Aspekte in diesem Geschehen der Gottesgeburt zusammen, in dem Gott die Kreatur ins Sein ruft, erlöst und zu sich
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waere ein rîcher künic, der dâ haete eine schoene tochter, gaebe er die eines armen mannes sune, alle die ze dem geslehte hîrten, die würden dâ von erhoehet und gewirdiget. Nû sprichet ein meister (vgl. Thomas, S.th. 3 q 57 a 5): got ist mensche worden, dâ von ist erhoehet und gewirdiget allez menschlich künne.« DW I, 377,4–379,1 illustriert Eckhart das Inkarnationsgeheimnis mit einer »maere«, die einer Verserzählung des Herrand von Wildonie entspricht (vgl. ATB Nr. 51, hrsg. v. H. Fischer, 1–9: »Diu getriu kone«): Gott ist der Mann, der sich selbst ein Auge aussticht, um seiner durch einen Unfall (Erbsünde) einäugig gewordenen Frau seine Liebe zu beweisen. Vgl. zur Bedeutung dieser »maere« bei Eckhart und zu ihrer Übernahme bei Cusanus DW I, 158, Anm. 1. Vgl. weiter: DW II, 84,1.2; Pf 16,11.12. Vgl. H. Hof, a. a. O. 164 und vor allem H. Rahner, Die Gottesgeburt 340 ff.: Die Gnade der Taufe ist »moîra theoû«, etwas Göttliches in uns, das die Kraft zur Christusnachfolge gibt. Die Gottesgeburt ist zugleich Anfang des neuen Lebens in der Taufe und sittliche Folge der Taufgnade. Nach H. Rahner hat die Lehre von der Gottesgeburt ihren Ansatz in der urchristlichen Tauftheologie (a. a. O. 340–346), wird dann, unter dem Aspekt des sittlichen Wachstums, von Hyppolit (a. a. O. 348–351) und Origenes (352 bis 363) ausgebaut, von den Kappadoziern und Maximus Confessor dogmatisch und mystisch vertieft (364–383) und vor allem durch Johannes Eriugena ins Mittelalter tradiert (400– 405). Origenes und Eriugena, der Maximus übersetzt, dürften wohl die Hauptquellen Eckharts sein. Vgl. Origenes, Hom. in Jer. 9,4, Glossa ordinaria PL 114, 26 C; Hom. in Ps. 36 PG 12, 1357 AB; Eriugena, In Joh. PL 122, 320 C; De divisione naturae, II, 23 PL 122, 576 C; II, 33 PL 122, 611 CD; V, 38 PL 122, 999 B. 158
erhöht. Übereinstimmend mit der Tradition106 vertritt er die immerwährende Dynamik der Gottesgeburt als eines unaufhörlichen, in der Ewigkeit begründeten Geschehens, das sich in allem auswirkt, was da ist.107 Die Totalität dieses Geschehens beruht auf seiner Geistigkeit. Daher ist die Gottesgeburt Inkarnation in alles, was je geschehen ist und geschehen wird. Sie beschränkt sich nicht auf einen einmaligen geschichtlichen Kristallisationspunkt, da sie in der Dynamik der göttlichen Struktur selbst liegt. Deshalb ist Gott immerfort »gebärend in der Seele«108 und durch ihre geistige Transparenz in der ganzen Kreatur, wie schon der Spiegelvergleich zeigte. 106
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Vgl. Origenes, Hom. in Jer. 9,4, a. a. O., zitiert nach H. Rahner, a. a. O. 358: »Selig aber, wer immer aus Gott geboren wird. Nicht nur einmal, so möchte ich sagen, wird der Gerechte aus Gott geboren, sondern in jedem guten Werk wird er geboren, weil in diesem Werk Gott den Gerechten gebiert ... Wenn nun der Erlöser immerdar geboren wird ..., so gebiert Gott in ihm auch dich, wenn immer du den Geist der Kindschaft hast, immerdar in jedem guten Werk, in jedem guten Gedanken, und so geboren, bist du ein immer geborenes Kind Gottes in Christus Jesus.« Dazu zwei Eckhart-Stellen aus den deutschen Predigten zum Vergleich: Pf 147,31–148,3: »Orienes (Origenes) der schribet gar ein edel wort und sprêche ich ez, ez diuhte iuch ungeloubelich: niht alleine werden wir in geborn in dem sune, wir werden ûz geborn und wider în geborn unde werden niuwe geborn und âne mitel geborn in dem sune. Ich spriche, und ez ist wâr: in eime ieglîchen guoten gedanken oder guoter meinunge oder guotem werke werden wir alle zît geborn in gote (bis hierher Origenes, erst jetzt folgt Eckhart:) Dar umbe, als ich hân niuwelîche gesprochen: der Vater hât niht dan ein einigen sun, und als vil als wir minre haben meinunge oder ahtunge ûf ihtes iht anders denne ûffe got, und alse vil alse wir an nihte ûz luogen, alsô vil werden wir überbildet in dem sune und alsô vil wirt der sun in uns geborn und wir werden geborn in dem sune unde werden ein sun.«Pf 190,7–10: »Der vater gebirt sînen sun den gerehten und den gerehten sînen sun; wan alliu diu tugent des gerehten und ein ieclich werk, daz von tugende des gerehten gewohrt wird, enist niht anders, dan daz der sun von dem vater geborn wird.« Vgl. DW II, 98,6–8; Pf 3,2–7. Vgl. H. Hof, a. a. O. 177: »Die Gottesgeburt ist gleichzeitig unaufhörlich fortlaufend und augenblicklich.« Mit dem Präsens und mit der unbegrenzten Dauer versucht Eckhart den transzendentalen Charakter des Ereignisses zu fassen. Pf 11,7; zur ontologischen Vorgegebenheit dieses Geschehens vgl. noch DW I, 387,3.4: »Got gebirt sînen eingebornen sun in dir, ez sî dir liep oder leit, dû slâfest oder wachest, 159
Dieses Geschehen ist ontologisch vorgegeben; es vollzieht sich also vor jeder Erfahrung und jedem Handeln des Menschen. Das Heil des Menschen liegt nun daran, mit diesem Geschehen mitzuwirken, es in der Geschichte, d. h. in seinem Leben sichtbar zu machen. Der Struktur des Seins muß die Struktur des Lebens entsprechen.109 Beides verhält sich zueinander wie Blüte und Frucht.110 Die Frucht ist bereits in der Blüte vorgegeben, aber sie ist noch verborgen und muß zur Reife gebracht werden. Dies ist zugleich das Verhältnis von Eckharts Ontologie und Eckharts Lebenslehre. Eckharts Lebenslehre ist nicht von seiner Ontologie zu trennen; die Theologie der Gottesgeburt umfaßt beides. E. Die Gottesgeburt als Vollzug im Leben H. Hof stellt fest, daß Eckhart die Ethik in die Ontologie transponiere. Tugend sei bei ihm z. B. nicht eine ethische Qualität, sondern eine ontologische Größe, da sie an der Stelle des mit Gott identischen transzendentalen Seins stehen könne: »die Lehre von der Gerechtigkeit und den anderen vollkommenen Tugenden verknüpft mit der eckhartschen Lehre von der Gottesgeburt ist hier nicht Ethik, sondern Ontologie, nicht eine Anschauung über moralische Qualitäten, sondern ein rein formales, ontologisches Strukturschema«. 111 Die traditionelle Lehre von der Gottesgeburt habe nur ethisch-praktische Relevanz; Eckhart aber habe sie in die Ontologie übertragen.112 Daran ist richtig, daß Eckhart mehr als seine Vorgänger den ontologischen Charakter dieser Lehre herausstellte. Jedoch übersieht H. Hof, daß in der patristischen und in der scholastischen Theologie Ontologie und Ethik stets eine Einheit bilden und nur
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er tuot daz sîne.« Pf 179, 35.36: »Gotes nâtûre, sîn wesen unde sîn gotheit hanget dar an, daz er muoz wirken in der sêle.« Über den Zusammenhang von Sein und Leben vgl. DW I, 129,9 bis 130,4; 134,8–135,4. Danach besteht die Vollkommenheit darin, daß das Leben zum Sein wird, indem es sich selbst aufgibt, um damit zum wahren Leben zu finden »in ein êwic leben, in daz leben, dâ daz leben ein wesen ist«. Nach J. Koch, a. a. O. 345–347, ist Eckharts Ethik »folgerichtige Seinsethik«. Vgl. In Joh. n. 373 (ungedruckt); In Eccl. n. 20.21 LW II, 248.249 und dazu H. Hof, a. a. O. 178. A. a. O. 173; vgl. a. a. O. 186. Vgl. a. a. O. 179. 160
verschiedene Aspekte derselben Struktur darstellen. So stand die Gottesgeburtslehre an ihrem Anfang im Zusammenhang mit der Tauftheologie.113 Es ist ein Kennzeichen der christlichen Theologie, daß sie einerseits nicht ohne den Anspruch auf Verwirklichung auftritt und andererseits diesen Anspruch aus dem Sein herleitet und nicht als moralische Konvention vertritt. Auch für Eckhart wäre daher ein ontologisches Strukturschema ohne lebendige Verwirklichung ebenso unmöglich wie ein ethischer Anspruch ohne ontologische Grundlegung.114 Deshalb macht gerade die Nähe von Ontologie und Ethik bei Eckhart seine spirituelle Wirksamkeit möglich. Der Vollzug der Gottesgeburt im christlichen Leben als »Empfängnis« Die patristische Lehre von der Gottesgeburt lautete:115 Der Logos ist von Gott und der Jungfrau als Menschensohn geboren. In der Taufe erhält der Christ Anteil an dieser Geburt, indem er Anteil an der Sohnschaft Christi erhält. Diese existentielle Gemeinschaft mit dem Sohn kann lebendig in geistiger Weise nachvollzogen werden; wenn der Mensch in seinem Leben die Herzensreinheit gewinnt, gebiert in ihm die Kirche auf geistige Weise Christus immer wieder neu, so daß sein Christ-sein in ihm immer mehr Gestalt gewinnt. Der »Ort« dieser Gottesgeburt ist das »Herz« des Menschen, der Geburtsort aller Seelenkräfte und die »Stelle« der innewohnenden Christusbildlichkeit aus Schöpfung und Erlösung. Für diese Herzmitte des Menschen wechseln
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Bei Gregor von Nyssa ist die Taufgnade die Grundlage der Gottesgeburtsmystik; sie ist aber erst in der mystischen Vollkommenheit vollständig. Vgl. H. Rahner, a. a. O. 374. Bei Maximus Confessor tritt dann die Taufgeburt hinter die mystische Geburt zurück; beides läßt sich erstmals unterscheiden. Vgl. a. a. O. 380. H. Rahner täuscht sich jedoch, wenn er meint, dieses Zurücktreten stelle das mystische Erlebnis in den Vordergrund. Die ontologische Grundlage verschiebt sich nur von der Taufe zur ontologischen Beziehung zwischen Gott und der Seele. Dieser Transzendentalismus ist besonders bei Eckhart spürbar (vgl. Pf 41, 15.16), wo zwar von zweierlei Geburt gesprochen wird, jedoch nicht in Anspielung auf die Taufe, sondern auf das ontologische Strukturschema. Zur Behandlung der Taufe bei Eckhart vgl. allgemein B. Weiß, a. a. O. 145. Vgl. J. Kopper, a. a. O. 39.75. Vgl. H. Rahner, a. a. O. 334 ff. 161
die Ausdrücke:116 »principale cordis oder mentis«, »apex mentis«, »synderesis«, »scintilla animae«. Sie ist zugleich der Schnittpunkt von Reinheit (von seiten des Menschen) und Gnade (von seiten Gottes), in dem das christliche Leben seine größte Tiefe erreicht. Die ethische Forderung der Mystik ist daher die Herzensreinheit.117 Diese »puritas cordis« wird durch mehrere synonyme Begriffe in ihren Einzelzügen veranschaulicht: »vacatio mentis«, tranquillitas mentis«, worin das Schweigen und Leerwerden des Menschen für Gott zum Ausdruck kommt; »apatheia« oder Gelassenheit, worin die innere Unberührtheit von falschen Antrieben und Affekten gefaßt ist;118 »via purgativa«, worunter die Reinigung von Sünden und die Überwindung irdischer Affinitäten zu verstehen ist.119 Eckharts Gottesgeburtslehre geht nun nicht von der Tauftheologie, sondern von dem weiter gefaßten theologischen Strukturschema der »creatio continua« und »incarnatio continua« aus. Seine Voraussetzungen für die Empfängnis dieser göttlichen Einflußnahme sind Abgeschiedenheit, geistige Armut und Gelassenheit.120 Auch hier handelt es sich jeweils um denselben Grundzug, der durch verschiedene sprachliche Fassung in allen seinen Aspekten herausgearbeitet werden soll. Gelassenheit, Armut, Ledigkeit u. a. sind Modifikationen der Abgeschiedenheit. Abgeschiedenheit ist die Geschiedenheit von Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Vielheit, von allem also, das, in sich selbst genommen, nicht-seiend ist. Gelassenheit ist die aus dieser Geschiedenheit resultierende, von kreatürlichen Bewegungen und Regungen unberührte Geisteshaltung. Armut, von Eckhart als innere Haltung, nicht als äußerer Verzicht verstanden, bedeutet den restlosen Verzicht auf ein uneigentliches Eigendasein, d. h. auf Eigenwillen, Eigenwissen, Eigenbesitz: wahrhaft arm ist der Mensch, »der nichts will, nichts weiß und nichts hat«121. Das Uneigentliche, von dem hier geschieden wird, sind alle »analogata inferiora« der (attributiven) Analogie, denen im Gegensatz zum wesentlichen transzendentalen Sein das Analogon der Transzendentalien nur uneigentlich, 116 117
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Vgl. E. v. Ivánka, Apex mentis 147 ff. Vgl. vor allem Cassian, De institutis coenobiorum 6,9, PL 49, 278 A; Collationes 1,5, PL 49, 486 C. Vgl. Maximus Confessor, Capita de caritate 1,85, PG 90, 980 C. Vgl. Bonaventura, De triplici via, I. Vgl. dazu: »Von abegescheidenheit«, DW V, 400 ff.; DW I, 193–203 (Gelassenheit); Pf 280–284 (geistige Armut). Pf 280,24.25. 162
d. h. nicht notwendig zukommt.122 Eckhart scheidet dabei zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, jedoch nicht im heutigen Sinne von Wichtigem und Unwichtigem, sondern im Sinne der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zum Sein. »Wesentlich« heißt: dem Sein entsprechend; das mhd. »wesen« gibt hier das lateinische »esse« wieder.123 Eckharts Abgeschiedenheitslehre ist also die Freilegung der »Wesentlichkeit« des Menschen, d. h. dessen was er eigentlich in Gott durch Schöpfung und Erlösung schon ist. Der Vorgang, den die »scintilla animae« bezeichnet, wird durch die Abgeschiedenheit des Menschen akzeptiert. Es wäre ein Mißverständnis, würde man diese Abgeschiedenheit als Weltflucht oder äußere Zurückgezogenheit von den Dingen und dem Umgang mit ihnen verstehen. Eher das Gegenteil ist der Fall, wie wir noch sehen werden. Eckhart stellt keine aszetische Theorie auf; entsprechend der Weiselosigkeit des Gottfindens ist eine solche Theorie für ihn zweitrangig. Ihm geht es vielmehr um das Prinzip, das hinter allen diesen Theorien steht: um die christliche Freiheit. Entscheidend ist, daß der Mensch in allem, was er tut, frei bleibt für das Seinsereignis der Gottesgeburt. So ist die Abgeschiedenheitslehre nichts anderes als eine Lehre von der Freiheit; nur der wahrhaft freie Mensch ist »Jungfrau«, d. h. empfänglich für die Gottesgeburt: »Daß der Mensch Jungfrau ist, das benimmt ihm gar nichts von allen den Werken, die er je tat; das alles (aber) läßt ihn magdlich und frei dastehen ohne jede Behinderung an der obersten Wahrheit, so wie Jesus ledig und frei ist und magdlich in sich selbst. Wie die Meister sagen, daß nur gleich und gleich Grund für die Vereinigung ist, darum muß der Mensch Magd sein, die den magdlichen Jesus empfangen soll.«124 Nicht die Weise, sondern die Freiheit ist also entscheidend. Das heißt jedoch in zweiter Linie, daß auch die Weise von Bedeutung ist, denn die Freiheit muß sich jeweils die Weise suchen, in der sie frei sein kann. Jeder muß sehen, was er sich zumuten kann in der Verhaftung an die kreatürlichen »Bilder«; Eckhart verschweigt nicht seine Sympathie für diejenigen, die gerade inmitten der Welt die Freiheit zu bewahren vermögen.125 122 123 124 125
Vgl. H. Hof, a. a. O. 110.111. Vgl. Teil III, Anm. 28 dieser Untersuchung. DW I, 26,4–9. Vgl. vor allem in den »Reden der Unterscheidung«: DW V, 192,6 bis 193,2; 204,2–10; 207,5–9: »Diz enmac der mensche niht gelernen mit vliehenne, daz er diu dinc vliuhet 163
Der freie und ledige Mensch, gleich wo er steht und welche Lebensform er gewählt hat, »zwingt« Gott zu sich.126 Das ist nicht so zu verstehen, als könne er Gott eine Notwendigkeit auferlegen; diese Notwendigkeit liegt vielmehr im Wesen Gottes selbst, sie ist eine Eigenschaft seines Seins. Daß Gott geben muß, das liegt an seiner Gebefreudigkeit, die sein Sein ist.127 In der Freiheit vollzieht sich das Seinsereignis, das zugleich Heilsereignis ist, unaufhörlich neu. Weil es ein ewiges Ereignis ist, ist es zugleich ein immer präsentes Ereignis, das weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. Dem ontologischen »immer schon« entspricht ethisch die dauernde Bereitschaft in der Freiheit, eine Bereitschaft, die nicht in einem Bewußtsein, sondern in einer Haltung liegt.128 Der Vollzug der Gottesgeburt als »Fruchtbarkeit« Nach den »Reden der Unterweisung« ist christliches Leben tätige Nachfolge Christi, die zugleich »transfiguratio» in sein Bild bedeutet und eine fortwährende Steigerung dieser empfangenen Christusbildlichkeit.129 Ein reines Empfangen ohne Steigerung gibt es für Eckhart nicht. Deshalb darf sich die Gottsuche des Menschen nicht in einer Kontemplation verfestigen, die die Gottesgeburt in der Schau zu erfahren und zu genießen sucht. Nicht die mystische Erfahrung steht für Eckhart im Vordergrund, sondern das Fruchtbarwerden des ontologischen Ereignisses im Leben. Eine Kontemplationsmystik, die im erkennenden und liebenden Genuß der durch die Umformung der Gottesgeburt erlangten Einheit mit Gott ihr letztes Ziel sieht, widerspricht
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und sich an die einoede kêret von ûzwendicheit; sunder er muoz ein innerlich einoede lernen, swâ oder bî swem er ist (also innere Freiheit statt äußerer Weltflucht). Er muoz lernen diu dinc durchbrechen und sînen got dar inne nemen und den krefticlîche in sich künnen erbilden in einer wesenlichen wîse.« Vgl. auch DW V, 211,6–10; 275,10; 290,5 bis 291,10. Vgl. Pf 399,3.4: »... swenne der frîe geist in rehter abegescheidenheit stêt von allen dingen, sô twinget er got zuo sîme wesen ...«. DW V, 411, 1.2. Vgl. Pf 223,20.21; DW I, 121,1–12; DW I, 63,3.4: »Wan gotes wesen swebet dar an, daz er daz beste welle.« Vgl. RdU, DW V, 205,1–5. Vgl. zum ontologischen »immer schon« H. Hof, a. a. O. 177. Vgl. DW V, 259,5–11. 164
der Dynamik der ontologischen Struktur; ihr Verweilen bedeutet darum Verlust.130 Die mystische Vollkommenheitslehre Eckharts gipfelt also nicht in einer kontemplativen Erfahrung der Empfängnis der Gottesgeburt. Darin liegt Eckharts neuer Beitrag zu der mystischen Tradition. Nicht ein Stufenaufstieg zur Kontemplation, wie er bisher gelehrt wurde, sondern der lebendige Vollzug des Handelns Gottes im Leben, das Wirken aus der Wirkeinheit mit Gott ist das Hauptziel eckhartscher Mystik. Man kann daher fragen, ob der Ausdruck »Mystik« hier noch Gültigkeit besitzt, wo es weniger um die Betrachtung als um den Vollzug des »Mysterium« geht.131 Wenn man ihn beibehält, so nur mit dem Vorbehalt, daß sich die eckhartsche Mystik von der traditionellen Kontemplationsmystik unterscheidet. Entsprechend der Spiegelontologie strahlt Gott nicht nur in die Seele ein, sondern die Seele wirft die göttlichen Strahlen zurück und hält so den dynamischen Kreislauf der ontologischen Struktur in Bewegung.132 In Eckharts Lebenslehre heißt das, daß der Mensch die Chance der Empfängnis nutzen muß, um selbst Gott zu Gott wiederzugebären. Alles ist darauf angewiesen: er selbst, um nicht im statischen Verweilen
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Vgl. DW I, 27,10–28,6: »Vil guoter gaben werdent empfangen in der juncvröuwelicheit und enwerdent niht wider îngeborn in der wîplîchen vruhtbaerkeit mit dankbaerem lobe in got. Die gabe verderbent und werdent alle ze nihte, daz der mensche niemer saeliger noch bezzer dar abe wirt. Dâ enist juncvröuwelicheit ze nihte nütze, wan er niht ein wîp enist zuo der juncvröuwelicheit mit ganzer vruhtbaerkeit. Dar an lît der schade.« Vgl. dazu unten, S. 191/192. Vgl. dazu VeM, DW V, 130–136, wo Eckhart den unreflektierten Vollzug der Einheit über das ontologisch spätere, reflexe Erfahren des Erfahrens in Schauen und Lieben stellt. Während sich die Kontemplationsmystik in erster Linie auf das Erfahren der Einheit richtet, in dem für sie die Einheit erst wirklich »da« ist (vgl. etwa David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes 63–68), richtet sich Eckharts Gottesgeburtsmystik in erster Linie auf das »Daß« und das »Wie« des ontologischen Geschehens. Der Orientierungspunkt ist nicht die mystische Versenkung als solche, sondern das Mysterium selbst. Vgl. Pf 254,9–12: »Diu sêle, diu got hât, diu ist alle zît berhaft. Von nôt muoz got würken alliu sîne werc. Got ist alle zît würkende in einem nû in êwekeit und sîn würken ist sînen sun gebern; den gebirt er alle zît.« Geistliche Gottesgeburt ist Einschwingen in den ontologischen Vollzug der »incarnatio continua«: »Got gebirt sich ûz im selber in sich selber ...« (254,14). 165
seine Freiheit und Empfängnisbereitschaft zu verlieren, sich also in einer ideologischen Weise zu verfestigen, die Gott halten zu können glaubt; die ganze Schöpfung, deren Hineingehaltenheit in das Sein, das zugleich ihr Heil ist, von seinem Vollzug der Gottesgeburt mit abhängt. Deshalb muß sich das »hohle Gefäß« (J. Quint), das der Gerechte in der Empfängnis der Gottesgeburt darstellt, tatkräftig zur Schöpfung und zum Leben hinwenden. Der Mensch, der Gott in der Freiheit zu empfangen vermag, hat eine vergöttlichende Wirkung für die ganze Schöpfung. Er wirkt aus Gott mit Gott zusammen in der Freiheit eines tätigen christlichen Lebens. Diese Wirksamkeit läßt die ontologische Struktur immer wieder zu einem lebendigen Ereignis werden. Eckhart fordert also, daß sich die empfängliche »Jungfrauschaft« zur fruchtbaren »Weiblichkeit« entwickelt: »Viele gute Gaben werden empfangen in der Jungfräulichkeit, werden aber nicht in weiblicher Fruchtbarkeit mit dankbarem Lobe wieder eingeboren in Gott. Diese Gaben verderben und werden alle zunichte, so daß der Mensch nimmer seliger noch besser davon wird. Dabei ist ihm seine Jungfräulichkeit zu nichts nütze, denn er ist über die Jungfräulichkeit hinaus nicht Weib mit voller Fruchtbarkeit.«133 Deshalb ist für Eckhart ein Einsiedler zu nichts nütze.134 Jede Innerlichkeit muß vielmehr »ausbrechen« in die Wirksamkeit und so ihre Fruchtbarkeit erweisen. 135 Eckhart unterscheidet dabei zwischen Tat und Werk. »Tat« (mhd. »werc«) ist jedes Tun ohne das Zusatzmotiv Gott; »Werk« (mhd. »gewerbe«) ist die aus Gott gewirkte Tat,136 die allein wirksam ist, denn sie dient nicht einem privaten Ziel des Menschen, sondern dem Heil der ganzen Schöpfung. »Eine Jungfrau, die ein Weib ist, die frei ist und ungebunden, ohne Bindung an das eigene Ich (»eigenschaft«), die ist Gott und sich selbst allzeit gleich nahe. Die bringt viele Früchte, und die sind groß, nicht weniger und nicht mehr als Gott selbst ist. Diese Frucht und diese Geburt bringt diese Jungfrau, die ein Weib ist, zustande, und sie bringt alle Tage hundertmal oder tausendmal Frucht, ja unzählige Male, gebärend und fruchtbar werdend aus dem edelsten Grunde; noch besser gesagt: fürwahr, aus 133 134 135 136
Zit. Anm. 130. Vgl. DW I, 149,2–10. Vgl. RdU, DW V, 291,3–7; vgl. dazu unten Kap. I, 3 c und Kap. II, 1. Die Unterscheidung von »werc« und »gewerbe« findet sich nur Pf 49,21.22. Eckhart spricht sonst allgemein von »werc«. Vgl. dazu unten Kap. II, 2 d (Marthas Wirken in der Zeit). 166
demselben Grunde, daraus der Vater sein ewiges Wort gebiert, aus dem wird sie fruchtbar mitgebärend. Denn Jesus, das Licht und der Widerschein des väterlichen Herzens (vgl. Hebr. 1, 3) ... dieser Jesus ist mit ihr vereint und sie mit ihm, und sie leuchtet und glänzt mit ihm als ein einziges Eins und als ein lauteres und klares Licht im väterlichen Herzen.«137 137
DW I, 30,3–31,8: »Ein juncvrouve, diu ein wîp ist, diu ist vrî und ungebunden âne eigenschaft, diu ist gote und ir selber alle zît glîch nâhe. Diu bringet vil vrühte und die sint grôz, minner nodi mêr dan got selber ist. Dise vruht und dise geburt machet disiu juncvrouwe, diu ein wîp ist, geborn und bringet alle tage hundert mâl oder tûsent mâl vruht joch âne zahl gebernde und vruhtbaere werdende ûz dem aller edelsten grunde; noch baz gesprochen: jâ, ûz dem selben grunde, dâ der vater ûz gebernde ist sîn êwic wort, dar ûz wirt si vruhtbaere mitgebernde. Wan Jêsus, daz lieht und der schîn des veterlîchen herzen ... dirre Jêsus ist mit ir vereinet und si mit im, un si liuhtet und schînet mit im als ein einic ein und als ein lûter klâr lieht in dem veterlîchen herzen.« Man beachte die präsentischen Partizipien, die hier das ontologische »immer« der Seinsdynamik wiedergeben. – Zum Terminus »eigenschaft« vgl. J. Quint, DW I, 26, Anm. 1: »Der Terminus ›eigenschaft‹ ... ist in der Übersetzung nicht leicht und nicht immer durch ein und dasselbe nhd. Wort wiederzugeben. ›Eigenschaft‹ hat sich bei Eckhart meist noch nicht so weit von seiner Grundbedeutung ›Eigentum‹ entfernt, daß diese Grundbedeutung nicht meist noch mitschwänge, und das rein abstrakte ›Eigenschaft‹ des Neuhochdeutschen liegt meist noch nicht vor. Das Wort schillert vielmehr zwischen lat. ›proprietas‹ und ›qualitas‹, zwischen nhd. ›Eigentum‹, ›Eigenheit‹, ›Eigenschaft‹, ›Eigentümlichkeit‹, und Eckhart verwendet es im vorliegenden Falle in noch feiner nüancierten Bedeutungsschattierungen, die oft nur umschreibend verdeutlicht werden können.« – Zum Verständnis des zitierten Textes vgl. H. Rahners zusammenfassende Äußerung über die Gottesgeburt, a. a. O. 334: »Seit den Anfängen der patristischen Theologie sucht man die Lehre von der heiligmachenden Gnade, wie sie in der Offenbarung gegeben war, auch so zu fassen: die durch die Gnade gegebene besondere Einwohnung Christi im Herzen der in der Kirche zu einem Leib zusammengefügten Gläubigen ist eine geheimnisvolle Nachbildung und Fortsetzung der ewigen Geburt des Logos aus dem Vater und der zeitlichen Geburt aus der Jungfrau. In der Taufgnade wird Christus in unseren Herzen geboren und im Wachsen des gnadenhaften Tugendlebens wiederholt sich immer wieder diese Gottesgeburt.« Vgl. dazu oben Anm. 104–106. In Eckharts Jungfrauen-Geburt fehlen die Züge der Ekklesiologie und der Tauftheologie, weil das Strukturschema der »incarnatio continua« die ontologische Begründung liefert. 167
Diese Stelle zeigt deutlich, daß Eckhart im spirituellen Vollzug der Gottesgeburt dasselbe Geschehen vor Augen hat, das sich als einziges Geschehen auch im Sein vollzieht. Die ganze Ethik der Gottesgeburt besteht darin, sich in den ontologischen Grundvollzug mit einzuschwingen, der nichts anderes ist als ein Verhältnis Gottes zu sich selbst. In der Fruchtbarkeit hält der Mensch die Richtung der göttlichen Wirksamkeit ein und zieht dabei die ganze Schöpfung mit sich. Da dieses Wirken mit Gott gleichgerichtet ist, wird es von der Dynamik Gottes mitgetragen, so daß es seinem Ursprung und seinem Ziel nach ebenso göttliches wie menschliches Wirken heißen kann. Diese Wirkeinheit mit Gott ist das beglückende Ziel menschlichen Vollkommenheitsstrebens. Das Glücksstreben mündet bei Eckhart nicht wie in der Kontemplationsmystik allein im Anschauen Gottes, sondern in der Freude an der Teilhabe am innergöttlichen Leben mitten im Leben, mitten in der konkreten Tätigkeit.138 Deshalb setzt Eckharts Mystik keine »vita contemplativa« voraus, sondern sie versucht, in allen Lebensformen die vergöttlichende Wirkeinheit mit Gott zu finden.
3. Das Leben des Gerechten aus der Freiheit in Gott A. »iustus inquantum iustus«139 Eckharts Philosophie ist ein dynamischer Transzendentalismus. Es gibt nur ein transzendentales Sein; da alle Vollkommenheiten Seinsvollkommenheiten sind, sind sie ebenfalls transzendental. Die »perfectiones spirituales« gehören daher zu den Transzendentalien. Eckhart faßt sie unter dem Begriff »iustitia« zusammen.140 Die Gerechtigkeit ist in Gott mit Gott identisch; vom gerechten Menschen wird sie analog ausgesagt. Daher bezieht sich die dynamische Struktur der Seinsanalogie auch auf das 138 139
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Vgl. Pf 189,7–15; DW I, 101,1–13. Vgl. DW I, 105,2.3: »Swer underscheit verstât von gerehticheit und von gerehtem, der verstât allez daz ich sage.« Das Verhältnis von »iustitia« und »iustus«, zusammengefaßt in der Formel »iustus inquantum iustus«, ist zugleich die Offenbarung der immer schon vollzogenen Rechtfertigung aus der Seinsstruktur und der ethische Vollzug dieser Rechtfertigung im Leben. Zur Formel »iustus inquantum iustus« vgl. In Sap. n. 62 f., LW II, 390 ff. In Gen. II n. 139, LW I, 607, zur Interpretation vgl. J. Koch, a. a. O. 342–344. Vgl. In Eccl. n. 52, zitiert oben Anm. 46. 168
Verhältnis von »iustitia« und »iustus«; die Struktur bildet damit auch das Ordnungsgefüge für die Theologie der Rechtfertigung. Die Gottesgeburt, die »transformatio« des Menschen in den Sohn ist zugleich die Rechtfertigung: »Das ist ein gerechter Mensch, der in die Gerechtigkeit eingebildet und übergebildet ist.«141 Die »Gerechtigkeit« als Analogon der Seinsanalogie und zugleich als Heilszuwendung Gottes ist der gottgleiche Sohn selbst. Durch ihn ist der Mensch gerechtfertigt und, insofern er gerechtfertigt ist, ist er der Sohn selbst: »Der Gerechte lebt in Gott und Gott in ihm, denn Gott wird geboren in dem Gerechten und der Gerechte in Gott.«142 »Iustus inquantum iustus« ist also der gerechtfertigte Mensch, der am innergöttlichen Leben teilnimmt. Diese Teilnahme ist nur »inquantum« möglich, d. h. sie kommt dem Menschen nicht aus eigener Vollkommenheit zu. So wie er der dynamischen Seinsgnade Gottes bedarf, um überhaupt zu sein, so bedarf er der Heilsgnade Gottes, um an der Göttlichkeit teilzunehmen. Beides läßt sich bei Eckhart nicht trennen: das Sein des Menschen ist in jeder Beziehung ein Sein aus Gnade. Nur Gott hat sein Sein von Natur, aus sich selbst. Für Eckhart gibt es irdisch keine Natur, sondern nur Gnade. Das bedeutet, daß bei ihm das Natur-sein Gottes über dem Gnaden-sein des Geschöpfes steht. Wenn man das im Auge behält, ist die monistische Gefahr in der Lehre Eckharts immer abgewehrt. Die Vergöttlichung des Menschen vollzieht sich in demselben Prozeß, in dem ihm seine Existenz zukommt. Der ethische Vollzug der Rechtfertigung ist darum nichts anderes als der ethische Vollzug der Gottesgeburt: Wirken aus der Wirkeinheit mit Gott: »Der Gerechte lebt. Denn deshalb, weil er gerecht ist, darum wirkt er, und seine Werke leben ... Der Vater gebiert seinen Sohn als den Gerechten und den Gerechten als seinen Sohn; denn alle Tugend des Gerechten und jegliches Werk, das aus der Tugend des Gerechten gewirkt wird, ist nichts anderes, als daß der Sohn von dem Vater geboren wird.«143 Das ganze Leben des Gerechten ist Geburt und Wiedergeburt, auch in seiner geringsten Tätigkeit. Eckharts Theologie trägt also die göttliche 141
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Pf 189,6.7: »Daz ist ein gereht mensche, der in die gerehtikeit îngebildet und übergebildet ist.« (Vgl. DW II, 252,2.3.) Pf 189,7.8: »Der gerehte lebet in gote unde got in ime, wan got wirt geborn in dem gerehten unde der gerehte in gote ...«. (Vgl. DW II, 252,3.4.) Pf 189,33.34, 190,7–10, zitiert Anm. 106. 169
Dynamik in das Handeln des Menschen; auf dem Grunde dieser Theologie ist nur eine dynamische Spiritualität möglich, eine Spiritualität, die immer wieder Sein in Geschehen umsetzt und dadurch in der Welt zum Ereignis werden läßt. Diese Spiritualität läßt sich durch drei Grundzüge kennzeichnen: durch ihre Dynamik, durch ihre Verbindung von Erkenntnis und Liebe und durch ihre Stellung inmitten der Welt: Gott finden in allen Dingen. B. Dynamische Spiritualität Eine Spiritualität, die auf konkrete Lebensaufgaben des Menschen eingeht, gibt es bei Eckhart nicht. Die eckhartsche Lebenslehre trägt deshalb das Signum des Allgemeinen, Grundsätzlichen, für jede Situation Gültigen. Moralische Axiome, die sich auf praktische Situationen anwenden lassen, finden sich kaum. Man ist daher mit solchen Fragen an die Lebenslehre Johannes Taulers verwiesen, die auf das praktische Interesse der Zuhörer eingeht und Eckharts allgemeine Überlegungen konkretisiert, nicht ohne sie dabei zu verändern.144 Unverkennbar ist jedoch der aktive Zug in Eckharts Lebenslehre. So wie er die Dynamik der ontologischen Struktur herausstellt, so stellt er auch die Dynamik der christlichen Spiritualität heraus. Eine dynamische Spiritualität zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie sich nicht vor der Welt und ihren Aufgaben zurückzieht. Der mittelalterliche Weltfluchtgedanke ist daher in Eckharts Spiritualität überwunden. Schon Eckharts Erstlingswerk, die »Reden der Unterweisung«, wenden sich gegen eine weltlose Frömmigkeit, die nur ihre Ruhe von den »exteriores actiones« (Gregor) sucht, um Gott in der Schau zu begegnen. Eckhart vertritt hingegen die Aktivität des Gerechten, die aus seinem Sein in Gott stammt. Diese Aktivität hat keine Weltverachtung oder Weltflucht nötig, man muß nur »lernen, mitten im Wirken frei zu sein«145. Die Freiheit der Abgeschiedenheit ist die Voraussetzung für das weltzugewandte Wirken des Menschen. »Dies kann der Mensch nicht durch Fliehen lernen, indem er vor den Dingen flüchtet und sich von der Außenwelt weg in die Einsamkeit kehrt; er muß vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er auch sei. Er muß lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und 144 145
Vgl. Teil III, Kap. I, 3 und Kap. III, 3 und 4 dieser Untersuchung. RdU, DW V, 275,10; vgl. 211,9.10. 170
den kraftvoll in einer wesenhaften Weise in sich einbilden zu können.«146 Die Dinge lehren selbst wie nahe ihnen Gott ist, ohne den sie nicht einmal sind. Das kreatürliche Nicht-sein ist Wegweiser zum Sein in Gott, indem es von sich weg auf Gott verweist. Als Wegweiser ist es notwendig und auf den Menschen hin geschaffen. Da es zugleich im geistigen Sein des Menschen gipfelt, hängt alle kreatürliche Gestaltung vom Menschen ab und der Mensch trägt als Seinsvermittler die ganze Verantwortung für die auf ihn bezogene Schöpfung, die ohne ihn nicht sein könnte und nur durch ihn »wesentlich sein«, d. h. zugleich erlöst, vervollkomnet, vergöttlicht werden kann. Die innerweltliche Dynamik der eckhartschen Spiritualität ist an zwei Voraussetzungen gebunden: an die innerliche Gemeinschaft mit Gott und an die stetige Übung. Die innerliche Gemeinschaft mit Gott liegt in der abgeschiedenen Seins-Intention des Menschen, d. h. darin, daß sich sein Streben nicht auf die Dinge in sich selbst und nicht auf die eigene Tätigkeit in sich selbst verfestigt, sondern durch sie hindurch immer das eigentliche Sein in Gott im Auge hat. Ohne diese innerliche Intention hindern die Dinge den Menschen an seiner Heiligung im Wirken, aber »das Hindernis liegt in ihm, weil Gott ihm noch nicht alle Dinge geworden ist«,147 d. h., weil er noch nicht alle Dinge auf ihr wahres Sein in Gott bezieht. Ohne diese innerliche Intention hindern auch die Werke den Menschen, weil er seine Vervollkommnung auf sie selbst und nicht auf seine Teilnahme am göttlichen Seinsvollzug richtet. Eine Werkgerechtigkeit ist also Eckhart bei aller Betonung der Dynamik fremd: »Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein. Denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen.«148 Die 146 147 148
RdU, DW V, 207,8.9, zitiert Anm. 125 mit Vergleichsstellen. RdU, DW V, 204, 7.8. RdU, DW V, 198,1 ff.: »Niht gedenke man heilicheit ze setzenne ûf ein tuon; man sol heilicheit setzen ûf ein sîn, wan diu werc enheiligent uns niht, sundern wir suln diu werc heiligen. Swie heilic diu werc iemer sîn, sô enheiligent sie uns zemâle niht, als verre sie werc sint (d. h. in der Welt irdischer Seinsschwäche verbleiben), mêr: als verre wir heilic sint und wesen hân (eine Gleichsetzung von Heiligkeit und Sein, die der Transzendentalienhypostasierung mit Einschluß der »perfectiones spirituales« entspricht), als verre heiligen wir alliu unsriu werc, ez sî ezzen, slâfen, wachen oder swaz daz sî (vgl. 1 Kor 10,31).« Vgl. auch a. a. O. 197,6–8 und besonders Pf 72,15–73,5. Dort führt Eckhart über die Bedeutung des »Werkes« entsprechend seiner Analogielehre weiter aus: Das Werk als Werk in der Zeit hat in sich selbst keinerlei Bedeutung, weil es in der zeitlichen Kontingenz 171
innerliche Intention liegt nun nicht in einer beständigen Bewußtheit, in einem häufigen Erwecken der »rectitudo intentionis«, nicht »in einem beständigen, gleichmäßigen Darandenken«,149 sondern in der menschlichen Gesamtausrichtung, die sich in den Vollzug der Gottesgeburt einschwingt. Dieses Einschwingen liegt am »Gemüt« (mens), nicht an der Vernunft (ratio), denn »der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke daran vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen ...«150
149
150
zerfließt. Das bedeutet aber nicht etwa, daß nur in der Intention (im »bild« des Werkes) die Vollkommenheit liegt, sondern im Vollzug des Werkes wird der Mensch vom zeitlichen Zerfließen des Werkes befreit. Der Sinn des Werkes liegt darin, daß es sich seiner selbst »entledigt«, indem es geschieht, und dadurch eine befreiende Rückwirkung auf den Menschen hat und so seine Vollkommenheit steigert. »Geschiht ein guot werc von einem menschen, mit dem werke lediget sich der mensche und von der ledikeit sô ist er sînem beginne (d. h. seinem ursprünglichen Sein in Gott) glîcher unde nâher denne er vor (vorher) was, ê daz diu ledikeit geschêhe ... Dar umbe enist ez (das Werk) noch guot noch heilic noch sêlic, mêr: der mensche ist sêlig, in dem diu fruht des werkes belîbet, niht als zît noch als werc, sunder als ein guot getât, diu dâ êwig ist mit dem geiste, als der geist ouch êwig ist an ime selber und (es) ist der geist selbe«. Das Werk ist also Baustein zur Vollendung als Frucht im Menschen, nicht als zeitliches Geschehnis. – Zur Stelle in den RdU vgl. Thomas, S.th. 1–2 q 111 a 2 resp.: »primus (effectus) est esse, secundus est operatio«. Eckharts Werklehre kann man wohl allgemein als Interpretation der scholastischen Axiome »agere sequitur esse« bzw. »esse perficitur agendo« auffassen, jedoch ganz im Sinne des analogen Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit. RdU, DW V, 205,2–5: »Diz waerlîche haben gotes liget an dem gemüete und an einem inniclîchen vernünftigen zuokêrenne und meinennen gotes, niht an einem staeten anegedenkenne in einer glîchen wîse, wan daz waere unmügelich der nâtûre in der meinunge ze habenne und sêre swaere und ouch daz aller beste nicht.« A. a. O. 205,5–9: »Der mensche insol niht haben noch im lazen genüegden mit einem gedâhten gote, wan, swenne der gedank vergât, sô vergât ouch der got. Mêr: man sol haben einen gewesenden got, der verre ist obe den gedenken des menschen und aller crêatûre.« 172
Aus dieser ersten Voraussetzung, der innerlichen Intention, erwächst das Werk des Menschen »ungezwungen« als »Mitwirken mit Gott«.151 »... Man soll so wirken lernen, daß man die Innerlichkeit ausbrechen lasse in die Wirksamkeit und die Wirksamkeit hineinleite in die Innerlichkeit und daß man sich so gewöhne, ungezwungen zu wirken.«152 Innerlichkeit und Wirksamkeit sind also im Idealfall nicht zeitlich ge 151
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»mitewürken mit gote«, vgl. DW V, 291,3.11. Vgl. Thomas, S.th. 1–2 q 111 a 2 resp. über die »gratia cooperans«. Die Stelle im Zusammenhang, RdU, DW V, 290,5–291,11: »Ein mensche wölte sich in sich selber ziehen mit allen sînen kreften, inwendic und ûzwendic, und in dem selben stât er doch alsô âne einic werk, inwendic und ûzwendic (d. h. sein Inneres und Äußeres ist ganz ins Transzendentale gewendet): dâ sol man wol war nemen, ob daz sich iht ziehen welle ze im selber (ob es nicht von selbst zum Wirken hindrängt). Ist aber, daz sich der mensche niht wil ze einem werke ziehen und sichs niht an nemen, sô sol man sich brechen (gewaltsam zwingen) in ein werc, ez sî inwendic oder ûzwendic, – wan an nihte ensol sich der mensche lâzen genüegen, swie guot es schînet oder sî –, (damit) wâ er sich vindet in herticheit oder in twingunge sîn selbes (d. h. wenn er einmal in harter Bedrängnis ist), daz man mêr mac nemen, daz der mensche dâ werde geworht dan daz er (selbst) würke (in äußerster Not der Aktivität also), daz der mensche dâ (in dieser Zeit der Bedrängnis) lerne mitewürken mit sînem gote. Niht (d. h. aber nicht in der Weise), daz man dem innern sül entgân oder entvallen oder vermeinen (entsagen), sunder (vielmehr) in dem und mit dem und ûz dem sol man lernen würken alsô, daz man die innicheit breche in die würklicheit und die würklicheit inleite in die innicheit und daz man alsô gewone lediclîche ze würkenne. Wan man sol daz ouge (d. h. die Aufmerksamkeit) ze disem inwendigen werke kêren und dar ûz würken, ez sî lesen, beten oder – ob ez gebürt – ûzwendigiu werk. Wil aber daz ûzwendic werk (actio exterior) daz inner zerstoeren, sô volge man dem innern. Möhten sie aber beidiu sîn in einem, daz waere daz beste, daz man ein mitewürken haete mit gote.« Vgl. dazu Thomas, S.th. 2–2 q 182 a 1 ad 3: »... ad opera vitae activae interdum aliquis a contemplatione avocatur propter aliquam necessitatem praesentis vitae: non tamen hoc modo quod cogatur aliquis totaliter contemplationem deserere ... Et sic patet quod, cum aliquis a contemplativa vita ad activam vocatur, non hoc fit per modum subtractionis, sed per modum additionis.« In Bezug auf das Beibehalten der Kontemplation bzw. der »innicheit« stimmen Eckhart und Thomas überein, aber dem »additio«-Gedanken bei Thomas steht bei Eckhart der Einheitsgedanke gegenüber: »beidiu in einem«, vgl. Pf 18,24: »dâ enist niht denne einz ...«. Zur näheren Interpretation vgl. unten Kap. II, S. 182 ff. dieses Teils der Untersuchung. 173
trennt; vielmehr wird die Innerlichkeit an der Tätigkeit erwiesen und durch sie bestärkt. Die dynamische Spiritualität Eckharts legt die innere Gottverbundenheit so nahe an die Tätigkeit heran, daß sie keinen eigenen Lebensraum mehr beanspruchen muß. Eckhart greift also theoretisch die Existenzberechtigung einer reinen »vita contemplativa« an, nicht nur praktisch, wie es vor ihm Augustinus und Thomas taten. Gott ist für ihn im dynamischen Vollzug der Wirksamkeit zu finden, nicht in einem besonderen Bereich der Muße, der seine Existenzberechtigung aus dem Glauben herleitet, man könne von der Verhaftung an die Kreatürlichkeit innerlich frei werden, wenn man äußerlich den Umgang mit den Dingen meide. Eckharts Gedanke der Weiselosigkeit des Gottfindens verweist darauf, daß diese Verhaftung in einer selbstgenügsamen Zurückgezogenheit ebenso stark, ja sogar stärker sein kann, zumal dann, wenn man Gott in eine Technik der Gottbegegnung hineinzwingen will. Das Mysterium der Gottverbundenheit liegt für Eckhart nicht in einem kontemplativen Aufstieg, sondern im Sein des Menschen selbst, und da sich dieses Sein dynamisch entfaltet, ist es in der Dynamik der Tätigkeit vollgültiger anwesend als in beschaulichem Genießen. Die Konsequenzen dieses Ansatzes für das Modell »vita activa – vita contemplativa« sollen im Anschluß an Eckharts Predigt über Maria und Martha näher untersucht werden.153 Die zweite Voraussetzung der innerweltlichen Dynamik der eckhartschen Spiritualität ist die Übung. Eckhart betont in den »Reden der Unterscheidung« oft den Lerncharakter der Wirkeinheit mit Gott. Die Vollkommenheit der spirituellen Wirksamkeit liegt darin, daß sie aus einem »Können« kommt, sich also aus der mühsamen Schwerfälligkeit des dauernden Rekurses auf die Grundlagen befreit: »Vergleichsweise so wie einer, der schreiben lernen will. Soll er die Kunst beherrschen, so muß er sich viel und oft in dieser Tätigkeit üben, wie sauer und schwer es ihm auch werde und wie unmöglich es ihn dünke. Will er’s nur fleißig üben und oft, so lernt er’s doch und eignet sich die Kunst an. Und dazu muß er nun zuerst seine Gedanken auf jeden einzelnen Buchstaben richten und sich den oft und fest einprägen. Späterhin, wenn er dann die Kunst beherrscht, so bedarf er der Bildvorstellung und der Überlegung gar nicht mehr, und dann schreibt er unbefangen und frei. Ob es sich um Fiedeln oder irgendwelche Verrichtungen handelt, die aus seinem Können geschehen sollen: für ihn genügt es völlig zu wissen, daß er seine Kunst betätigen will; und wenn er auch 153
Vgl. Kap. II, 2 S. 186 ff. 174
nicht beständig bewußt dabei ist, so vollführt er sein Tun doch, woran er auch denken mag, aus seinem Können heraus.«154 Dieses kleine Beispiel zeigt deutlich, daß Eckharts Spiritualität sich nicht auf andächtiges Verweilen bei Gott richtet, sondern auf den gekonnten Vollzug der innergöttlichen Dynamik, von der die ganze Welt umgriffen ist. Die Übungen der Frömmigkeit sind nur Voraussetzung, aber nicht Selbstzweck; nicht in der Frömmigkeitsübung vollzieht sich die Vereinigung mit Gott, sondern in der Tätigkeit. Die Tätigkeit setzt freilich die Übung im Einzelnen voraus. Eckhart hat hier keine spirituelle Pädagogik aufgestellt, da er gegenüber allen besonderen Weisen mißtrauisch war: »Sie schieben Gott unter eine Bank, die so viele Weisen haben wollen«.155 Deshalb muß offen bleiben, was er im einzelnen unter der spirituellen Übung verstanden hat. Diese Offenheit ist ebenfalls ein Kennzeichen der eckhartschen Spiritualität: ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche liegt darin, daß sie sich vor konkreten Formen bewahrt hat. In diesem Punkt ist Johannes Tauler seinem Meister überlegen. Eckharts Spiritualität des tätigen Lebens gipfelt im gekonnten Werk. Der wichtigste Zug dieses Könnens wird von ihm »wirken âne warumbe« genannt.156 Eine Wirksamkeit, die dem Können entspringt, braucht nicht mehr zu fragen, welches ihr innerer Zweck ist. Fragte man einen guten Menschen, warum er lebe, sagt Eckhart, so würde er antworten, er wisse es nicht, aber er lebe gern.157 Nicht der reflexive Vollzug ist für seine Spiritualität kennzeichnend, sondern die Dynamik des Wirkens aus dem Können, denn diese Dynamik entspricht dem Sein, wie es sich in Gott vollzieht, gleichsam 154 155 156 157
RdU, DW V, 207,9–208,10. Vergleichsstellen zu diesem Beispiel: A. a. O. 324, Anm. 62. DW I, 82,10. Vgl. Pf 146,20–24; DW II, 80,1–3. Vgl. DW II, 27; DW I, 91,7–92,6: »... wer got suochet în wîse (d. h. in einem besonderem Erlebnis, vgl. 91,4), der nimet die wîse und lât got, der in der wîse verborgen ist. Aber swer got suochet âne wîse, der nimet in, als er in im selber ist; und der mensche lebet mit dem sune, und er ist daz leben selbe (in seinem Ursprung in Gott). Swer daz leben vrâgete tûsent jâr: war umbe lebest dû? solte ez antworten, es spraeche niht anders wan: ich lebe dar umbe daz ich lebe (d. h. das Leben versteht sich aus sich selbst). Daz ist dâ von, wan leben lebet ûzer sînem sînem eigenem grunde und quillet ûzer sînem eigen: dar umbe lebet ez âne warumbe in dem, daz ez sich selber lebet. Swer nû vrâgete einen wârhaften menschen, der da würket ûz eigenem grunde: war umbe würkest dû dîniu werc? solte er rehte antwürten, er spraeche niht anders dan: ich würke dar umbe daz ich würke.« 175
selbstverständlich und ungezwungen: es wirkt einfachhin. Die Reflexion steht hinter dieser Vorgegebenheit zurück; sie steht deshalb auch hinter dem dynamischen Vollzug zurück. Eckhart sagt deshalb, der Gerechte wirke nicht einmal um Gottes willen. 158 Das ist so zu verstehen, daß er nicht mehr nach Gottes Willen zu fragen braucht, denn indem er wirkt, wirkt Gott; sein freies, gekonntes Werk ist in die göttliche Dynamik eingeschwungen. »Wirken ohne Warum« gibt die Transparenz des freien Menschen für Gottes Heilswerk wieder, seine Durchlässigkeit für die Selbstmitteilung Gottes. Nichts anderes ist auch im Vollzug der Gottesgeburt als Furchtbarkeit ausgesagt. Die Ontologie des Spiegels gibt dafür die Struktur, das Leben in der Freiheit verlebendigt diese Struktur. Eckharts Spiritualität ist die dynamische Verlebendigung des ontologischen Geschehens in jedem einzelnen. C. Erkenntnis und Liebe Erkennen, Streben, Wollen; Glaube, Hoffnung, Liebe Das Sein ist für Eckhart unzugänglich. In der Erkennbarkeit dieser Unzugänglichkeit liegt andererseits seine Zugänglichkeit. Eckhart lehrt also eine »docta ignorantia«: »aus Wissen muß man in ein Unwissen kommen»159. Diese »docta ignorantia« ist verschieden, je nachdem sie vom »lumen naturale« des Verstandes oder vom »lumen gratiae« der göttlichen Einstrahlung getragen wird. Das »lumen naturale« gelangt dabei nur zu einer negativen Erkenntnis; ihm ist alles »zu eng und zu klein, was Gott an körperlichen Dingen je erschuf«,160 d. h. es erkennt die Seinsschwäche der Kreatur und seine restlose Abhängigkeit vom Sein. Dennoch vermag es dieses Sein in seinem Sein nicht zu erfassen, denn es erkennt bildhaft, wenn auch in den geistigsten Bildern, den Ideen. Das Sein ist aber in sich selbst bildlos und kann daher nur bildlos erkannt werden. Darum muß die Unzulänglichkeit der Erkenntnis überstiegen werden. Dies ist aber nicht dem natürlichen Erkenntnisdrang, sondern nur dem »lumen gratiae« möglich: »Daß Gott mit der Gnade in der Seele ist, das trägt mehr Licht in sich, als 158 159 160
Vgl. Pf 146,8–25. Pf 15,7. Pf 229,1–3: »Daz nâtiurlich lieht, daz got in die sêle gegozzen hât, daz ist sô edel unde sô kreftic, daz im enge unde klein ist allez, daz got ie geschuof an lîplîchen dingen.« 176
alle Vernunft aufzubringen vermöchte«161 . Im Lichte der Gnade geschieht die Erkenntnis im Erkennen Gottes selbst, und dieses Erkennen ist nichts anderes als der göttliche Logos. Diese »göttliche« Erkenntnis geschieht also in der Weise der Gottesgeburt; Empfängnis und Fruchtbarkeit der Gottesgeburt lassen sich demnach auch als Erkenntnisvorgang darstellen. Dieser Erkenntnisvorgang ist das Erleiden der göttlichen Erkenntnis in der Empfängnis des Sohnes, wobei die Seele als »potentia pura« zur Teilnahme am innergöttlichen Erkenntnisvorgang aktuiert wird.162 Erst in diesem übernatürlichen Erkenntnisvorgang wird das, was dem »lumen naturale« nur in seiner Unzugänglichkeit erschien, offenbar. So ist dieser Erkenntnisvorgang, von Gott her gesehen, seine Offenbarung, und, vom Menschen her gesehen, der Glaube. Was sich in der geschichtlichen Offenbarung vollzog, vollzieht sich daher immer wieder neu im Mysterium des Glaubens: »Wenn das göttliche Licht sich in die Seele eingießt, so wird die Seele mit Gott vereint wie ein Licht mit dem Lichte (d. h. wie der Sohn mit dem Vater). Dann heißt es ein Licht des Glaubens, und das ist eine göttliche Tugend. Und wohin die Seele mit ihren (eigenen) Sinnen und Kräften nicht kommen kann, da trägt sie der Glaube hin.«163 Auch das Licht des Glaubens ist ein transzendentaler Prozeß, in den der Mensch von Gott hineingenommen wird. Der Prozeß der Glaubenserkenntnis ist ein Aspekt der göttlichen Dynamik. Eckharts Formulierungen stehen dabei nahe an den johanneischen Formeln für die vereinigende Erkenntnis.164 Die Glaubenserkenntnis als höchste Erkenntnisform ist, vom »lumen naturale« her gesehen, blind, denn sie richtet sich auf das Nicht, das die Schöpfung ausspricht, wenn sie sich selbst das Sein abspricht, und läßt sich von der Fülle Gottes erfassen, die sich dahinter verbirgt: »Indem wir Gott erkennen und sehen, erkennen und sehen 161
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Pf 229,25–27: »Daz got mit gnâden in der sêle ist, daz treit mê liehtes in sich dan alliu vernünftekeit geleisten müge, und allez daz lieht, daz vernünftekeit geleisten mac, ist wider diesem liehte als ein einiger tropfe wider dem mer, unde noch tûsentmâl kleiner.« Vgl. Pf 15,7–11.24–40. Vgl. zum Folgenden DW II, 142–146 = Pf 171–172. Pf 171,36–40: »... swenne sich daz götlîche lieht giuzet in die sêle, sô wirt diu sêle mit gote vereinet als ein lieht mit dem liehte. Sô heizet si ein lieht des gelouben und daz ist ein götlîchiu tugent. Und dâ diu sêle mit iren sinnen noch kreften niht komen enmac, dâ treget sî der geloube hin.« Vgl. J. Mouroux, L’expérience chrêtienne dans la première épître de saint Jean 410–412. Vgl. auch oben Teil 1, S. 53–55. 177
wir, daß er uns (erst) erkennen und sehen macht«, sagt Eckhart und greift damit paulinische Formulierungen auf.165 So, wie die Glaubenserkenntnis die natürliche Erkenntnis des Menschen überformt, so überformt die Hoffnung die Strebekraft des Menschen, den »appetitus irascibilis«, eine Dynamik der Seele, die unablässig auf Steigerung bedacht ist.166 Die Hoffnung richtet diese Kraft, damit sie danach trachtet, in Gott das Sein zu finden, und nicht dem Gegenteil der Hoffnung, dem Hochmut verfällt, indem sie sich an sich selbst ausgibt, statt über sich selbst hinaus zu streben. Die Sünde ist für Eckhart fehlgeleitete Hoffnung, die sich in den seinsschwächeren Zonen der Seinsstruktur ansiedelt, und so an der eigenen Wesentlichkeit, die nur in Gott liegen kann, vorbeigeht.167 Die dritte göttliche Tugend, die Liebe, ist für Eckhart nicht eine Gefühlsbewegung, sondern eine Ausrichtung des Willens: »Die dritte Kraft, das ist der innere Wille, der wie ein Antlitz allzeit in göttlichem Willen Gott zugekehrt ist und aus Gott die Liebe in sich schöpft.«168 Auch in der Liebe geschieht Teilhabe am innergöttlichen Liebesprozeß; sie ist eine solche Willenseinheit mit Gott, daß man sowohl sagen kann, daß es Gott sei, der im Menschen liebe, wie daß es der Mensch sei, der in Gott liebe.
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Pf 38,13.14; vgl. 1 Kor 13,12; Gal 4,9. Vgl. Pf 172,1–12: »Daz ander ist diu ûfkriegendiu kraft, der werc ist daz eigenlîch, daz si ûf kriegende ist. ... An dirre kraft wirt got begriffen an der sêle alse verre (soweit überhaupt) ez der crêatûre mügelîch ist, unde sô heizet ez ein offenunge, daz ist ouch ein götlîchiu tugent. An der hât diu sêle sô grôz zuoverlâz zuo gote, daz sî dunket, daz got an allem sîme wesene niht enhabe, ez ensî ir mügelîch.« Für Eckhart gehört der »irascibilis« zu den »hoehsten kreften der sêle«. Pf 171,31–33: »Die hoehsten krefte der sêle der sint drî. Diu êrste ist bekantnüsse (intellectus), diu ander irascibilis, daz ist ein ûfkriegendiu kraft, daz dritte ist der wille.« Für Thomas ist der »irascibilis« nur »appetitus sensitivus«, der im Gehorsam zur Vernunft steht, vgl. S.th. 1 q 78 a 1 ad 3, q 81 a 2.3, q 82 a 5. – Zur Zusammengehörigkeit von »irascibilis« und Hoffnung vgl. O. Willmann, Abriß der Philosophie, Freiburg/Br. 51959, 161. Vgl. Pf 172,5.6.28–30. Pf 172,19–23: »Die dritte kraft ist der inwendige wille, der al ein antlütze alle zît zuo gote gekêret ist in götlîchem willen unde schepfet von gote die liebe in sich. Dâ wirt got gezogen durch die sêle und diu sêle wirt gezogen durch got unde sô wirt ez geheizen ein götlîch liebe und daz ist ouch götlîchiu tugent.« 178
Die Vollkommenheit des Menschen umfaßt Glaube, Hoffnung und Liebe. So entspricht es dem göttlichen Prozeß, dessen Bild der gerechtfertigte Mensch ist: Gottes Sein ist Vollzug der Selbsterkenntnis, der Freiheit zu sich selbst und der Liebe zu sich selbst; das Sein des Gerechten ist Vollzug der Glaubenserkenntnis, der Freiheit zum Sein und der liebenden Vereinigung.169 Dabei gehören Hoffnung und Freiheit zusammen; die christliche Freiheit ist für Eckhart die Verlebendigung der christlichen Hoffnung. Seine ganze Abgeschiedenheitslehre lebt von der Hoffnung auf das Sein. Wenn daher auch in den Predigttexten die Hoffnung selten thematisiert ist, so steht sie doch immer im Hintergrund der ganzen Spekulation.170 Primat der »Erkenntnis« oder Primat der Liebe? Eckharts Predigten stellen uns hier vor eine schwierige Frage, weil sie einerseits den Vorrang der »Erkenntnis« vor der Liebe, andererseits aber auch die Bedeutung der Liebe betonen.171 Man hat Eckhart in dieser mittelalterlichen Streitfrage, »Erkenntnis oder Liebe« unter die Intellektualisten eingereiht.172 In der Tat überwiegen die Stellen, an denen er die »Erkenntnis« vor der Liebe hervorhebt. Aber es geht Eckhart dabei nicht um die Frage, ob im Erkennen oder in der Liebe die eigentliche Vereinigung
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Vgl. Pf 172,23–28: »Götlîchiu sêlicheit lît an drin dingen, daz ist an bekantnüsse und an unbetwungen blîben von aller crêatûre und an vollekommener genüegde, daz er sich selber und aller crêatûre genüeget. Dar an lît ouch der sele vollekomenheit, an bekantnüsse und an begrîfenne, daz si (Akkusativ?) got begriffen hât, und an der vereinunge vollekomener liebe.« Der zeitliche Charakter der Hoffnung tritt bei Eckhart ebenso wie der zeitliche Charakter der Eschatologie zurück. Vgl. dazu J. Kopper, a. a. O. 114; B. Weiß, a. a. O. 93–95. Vgl. für den Vorrang der Erkenntnis: DW I, 52,12; 153,11.12; DW II, 191,6–8; Pf 145,1– 4; 84,13–15: »Bekantnisse ist ein gruntveste und ein pfunmunt (Fundament) alles wesennes. Minne mac niht anders haften denne in bekantnisse.« Pf 106,34; DW II, 216. Vgl. für die Bedeutung der Liebe: Pf 145,15–146,7; DW II, 41–50; PG 153,31–34; 320,14–31. Vgl. für die Gleichrangigkeit von Erkenntnis und Liebe: DW I, 113,7.8: »Mit bekenneme nime ich got in mich, mit minnenne gân ich in got«. 152,10; Pf 121,18.19: »... zwei sint bezzer dan ein. Dar umbe daz bekanntnisse treget die minne in ime.« Pf 282,16.17. Vgl. W. Völker, Kontemplation und Extase 245; vgl. unten Teil 3, Anm. 36. 179
mit Gott liege; es geht ihm nicht um affektive oder intellektive Bestimmung des mystischen Aufstiegs: »Weder das Erkennen noch die Liebe einigen.«173 Für Eckhart ist die Einheit mit Gott immer vorgegeben; sie liegt letztlich an der unerfahrbaren Seinsgnade Gottes, an jenem seinsverleihenden Strukturprozeß, der allem erkennenden und liebenden Nachvollzug vorausgeht: »Über diese beiden, Erkennen und Liebe, ragt die Barmherzigkeit (Gottes); im Höchsten und Lautersten, das Gott zu wirken vermag, dort wirkt Gott Barmherzigkeit.«174 Das Erkennen oder die Liebe können ja den göttlichen Strukturprozeß nicht erst konstituieren; sie können sich in den Vollzug des Seins zwar einschwingen, ihn aber nicht herstellen. Dieser vorgegebene Vollzug bleibt immer ein Mysterium, das Mysterium der Barmherzigkeit Gottes, das hinter seiner seinsverleihenden und erlösenden Dynamik steht. Diese barmherzige Selbstmitteilung ist die letzte Unergründlichkeit, vor der auch die begnadete Glaubenserkenntnis versagt; dieses Geheimnis hebt Gott immer über die begnadete Kreatur hinaus. 175 Deshalb »heftet« der liebende Nachvollzug des Menschen nur »zusammen, was schon vereinigt ist«, und der erkennende Nachvollzug kann Gott »niemals erfassen im Meer seiner Unergründlichkeit«.176 Die Frage nach der Vorrangigkeit von Erkenntnis oder Liebe führt also bei Eckhart zur grundsätzlichen Betonung der Vorrangigkeit des Seins. Wenn nun Eckhart Sein, Erkennen und Lieben untereinander vergleicht, so muß man dabei immer dem jeweiligen Aspekt vor Augen halten, der seine Überlegungen leitet.177 Wenn man dies 173 174
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DW I, 122,8.9; vgl. Pf 191,31–40; 282,15–20. DW I, 123,3–5: »Ich spriche: über disiu beidiu, bekantnisse und minne, ist barmherzicheit; dâ würket got barmherzicheit in dem hoechsten und in dem lûtersten, daz got gewürken mac.« Das Wirken der Barmherzigkeit meint hier nichts anderes als Gnade, vgl. 124,6. Vgl. DW I, 121,1–13; 124, 5.6. DW I, 122,3–123,3: »minne eneiniget niht, enkeine wîs niht; daz geeiniget ist, daz heftet si zesamen und bindet ez zuo. Minne einiget an einem werke, niht an einem wesene (d. h. die liebende Einheit mit Gott besteht im Wirken, nicht im Sein) ... Minne nimet got under einem velle, under einem kleide. Des entuot vernünfticheit niht; vernünfticheit nimet got, als er in ihr bekant ist; dâ enkan si in niemer begrîfen in dem mer sîner gruntlôsicheit.« Vgl. die Aspektbetrachtung von Sein, Leben und Erkennen, DW I, 129,8–130,3: »Bekantnisse ist hoeher dan leben oder wesen, wan in dem, daz ez bekennet, sô hât ez (zugleich) leben und wesen. Aber dar nâch ist leben edeler dan wesen oder bekantnisse, als der 180
beachtet, so ergibt sich, daß die Vorrangigkeit des Seins in der Vorgegebenheit, die Vorrangigkeit der Erkenntnis in der Weiselosigkeit, die Vorrangigkeit der Liebe aber im dynamischen Vollzug der göttlichen Struktur liegt. Die Vorrangigkeit der Erkenntnis liegt in der Weiselosigkeit. Eckhart nennt sie auch Farblosigkeit oder reine Geistigkeit. Die Erkenntnis ist nämlich der Liebe darin überlegen, daß sie Gott nicht wie die Liebe in der Gestalt, Farbe oder Form der Gutheit zu erfassen braucht, welche Form eben Gott nur unter einem Aspekt erreicht, sondern gerade in jener weisenlosen Unergründlichkeit, in der sich die unfaßbare Fülle seines Seins verbirgt. Diese Weiselosigkeit Gottes leuchtet nur in der Erkenntnis auf: »Liebe vereinigt im Wirken, nicht aber im Sein ... das Erkennen (aber) bricht durch Wahrheit und Gutheit hindurch und wirft sich auf das reine Sein und erfaßt Gott bloß, wie er ohne Namen ist.«178 Nur die Erkenntnis vermag die Liebe von ihren Vorstellungsgehalten, die Gott nicht adäquat sind, zu befreien, deshalb kann »Liebe nirgends anders haften als in Erkenntnis«.179 Erkenntnis und Liebe bedingen also einander in der Weise, daß die Liebe die Erkenntnis der Weiselosigkeit voraussetzt. Liebe muß also immer eine vom Glauben – nichts anderes bedeutet ja Eckharts weiseloses Erkennen – durchformte Liebe sein: »(Gott) ist ein weiseloses Sein. Darum muß die Weise, mit der man ihn lieben soll, weiselos sein, das heißt: über alles hinaus, was man zu sagen vermag.«180 Während vom Aspekt der Unergründlichkeit des Seins her gesehen, die Erkenntnis der Liebe vorausgeht, geht andererseits, vom Aspekt der Dynamik des Seins her gesehen, die Liebe der Erkenntnis voraus. Im dynamischen Vollzug ist die Liebe, vor allem als Wirken aus der Wirkeinheit mit Gott, der Erkenntnis überlegen, denn in ihr ist die lebendige Wirklichkeit des Seinsgeschehens anwesend. So bedarf wiederum
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boum der lebet; sô hât der stamm (zugleich) ein wesen (Korrektur der Lesart gegen Quint). Nû nemen wir wider wesen blôz und lûter, als ez in im selber ist; sô ist wesen hoeher dan bekantnisse oder leben, wan in dem, daz ez wesen hât, sô hât ez bekantnisse und leben.« Eine solche Struktur hat auch Eckharts Betrachtung von Sein, Lieben und Erkennen. Wenn die Liebe nichts anderes ist als Gott, dann ist sie auch eins mit Sein und Erkennen. Vgl. DW II, 42.43. DW I, 122,4–8. Pf 84,14.15, vgl. Anm. 171. q 407. Vgl. Paradisus animae intelligentis Nr. 48, S. 110. 181
die Erkenntnis der Liebe, um nie in statischer Schau nichts anderes als die Flüchtigkeit des Seins zu erfahren, sondern in dynamischer Wirksamkeit das Geschaute fruchtbar werden zu lassen, welche Fruchtbarkeit wiederum dem Sein selbst entspringt und entspricht. Erkenntnis und Liebe sind also einander unter verschiedenen Aspekten überlegen. Das Zusammenwirken dieser Aspekte mit dem Sein macht die Vollkommenheit des Menschen aus: »Daran ist der Seele Vollkommenheit gelegen: an der Erkenntnis und am Begreifen, daß Gott sie ergriffen hat, und an der Vereinigung in vollkommener Liebe.«181 Die Einheit von Erkenntnis und Liebe in Gott geht ihrer Differenzierung voraus, deshalb muß die Differenzierung immer wieder im Leben überwunden werden. Je mehr sich aber dieses Leben, von Gott her kommend, sich selbst in seinen konkreten irdischen Situationen zuwendet, um so mehr steht es unter der dynamischen Fruchtbarkeit des Seinsvollzugs. Die konkrete christliche Spiritualität vollzieht sich daher bei Eckhart in der Dynamik der Liebe. Dynamik der Liebe: vom Wesen zum Werk Eckhart unterscheidet in den »Reden der Unterweisung« zwischen Wesen und Werk der Liebe. Das Wesen der Liebe liegt in der Einheit des Willens mit Gott, nicht etwa in einem affektiven Genießen Gottes, wie es die affektive Mystik beschreibt;182 das Werk der Liebe ist die Vollendung dieser Willenseinheit in der Wirkeinheit mit Gott. So beschreibt Eckhart das Werk der Liebe als einen »Ausbruch des Wesens der
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Zitiert Anm. 169. Vgl. RdU, DW V, 218,8–223,8. Eckhart beschreibt hier, daß es inmitten der liebenden Willenseinheit weit weniger auf den Gefühlstrost als auf das Mitwirken mit Gott ankommt, bei dem der Trost manchmal aufgegeben werden müsse als Opfer der Liebe. Er zitiert dazu Röm 9,3. Die ganze Stelle ist hier im Erstlingswerk Eckharts stark angelehnt an Thomas, S.th. 2–2 q 182 a 2 resp.: »Potest tamen contingere quod aliquis in operibus vitae activae plus meretur quam alius in operibus vitae contemplativae; puta si propter abundantiam divini amoris ... interdum sustinet a dulcedine divinae contemplationis separari. Sicut apostolus dicebat, ad Rom 9: ›Optabam ego ipse anathema esse a Christo pro fratribus meis‹ ...«. 182
Liebe«183. Zwar kann auch der Affekt, das Erspüren der Willenseinheit mit Gott, Ausbruch des Wesens der Liebe sein, aber er ist kein untrügliches Kennzeichen: nirgends kann sich der Mensch so leicht täuschen als in seinen Gefühlen.184 Deshalb entscheidet über die Existenz der Liebe nicht die Empfindung, sondern das Werk. Hier wird der aktive, dynamische Charakter eckhartscher Spiritualität besonders deutlich: »Gesetzt nun, daß es voll und ganz Liebe sei (was der Mensch in affektiver Verzückung empfindet), so ist es doch das Allerbeste nicht ... Man soll nämlich von solchem Jubilus bisweilen ablassen um eines Besseren aus Liebe willen und um zuweilen ein Liebeswerk zu wirken, wo es dessen nottut, sei’s geistlich oder weltlich oder leiblich.«185 Diese Stelle zitiert den seit Augustinus gültigen von Thomas übernommenen Gedanken, daß die »necessitas caritatis« zumindest »occasionaliter« der »suavitas veritatis« vorzuziehen sei.186 Aber Eckharts Gedanken führen doch über diese occasionelle Notwendigkeit weit hinaus. Der kontemplative Charakter augustinischer oder thomasischer Spiritualität ließ es nicht zu, daß der Übergang zur äußeren Aktivität anders als aus äußerer, bedrängender Notwendigkeit geschehe, noch etwa, daß die »suavitas« kontemplativer Gottgemeinschaft gänzlich aufgegeben werde. Eckharts dynamische Spiritualität betont hingegen die innere Notwendigkeit des Übergangs zum Werk, das ja nichts anderes ist als der Vollzug des göttlichen Liebesprozesses in 183 184
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RdU, DW V, 219,4.10. A. a. O. 220,1–10: »Daz schînet sêre als innicheit und andâht und jubilieren und enist alwege daz beste niht; wan ez enist etwenne, daz man solchen smak und süezicheit hât, oder ez mac des himels îndruc sîn, oder ez mac sinnelîch îngetragen sîn. Und die des mêr hânt, daz ensint alewege die allebesten niht ... die selben, sô sie her nâch mêr minne gewinnent, sô enhânt sie lihte niht als vil vüelennes und enpfindennes und dar ane schînet wol, daz sie minne hânt, ob sie âne solchen enthalt gote ganze und staete triuwe haltent.« A. a. O. 221,1–8 (direkt anschließend): »nû sî, daz ez zemâle minne sî, sô enist ez doch daz aller beste niht; ... wan man sol solchen jubilus underwîlen lâzen durch ein bezzerz von minne (vgl. Thomas: »propter abundantiam divini amoris«) und underwîlen durch ein minnewerk ze würkenne, dâ man sîn nôt hât, geistlîchen oder lîplîchen. Als ich mêr gesprochen hân: waere der mensche alsô in einem înzucke (Ekstase), als sant Paulus was, und weste einen siechen menschen, der eines suppelîns von im bedörfte, ich ahtete verre bezzer, daz dû liezest von minne von dem und dientest dem dürftigen in mêrer minne.« Vgl. S.th. 2–2 q 182 a 1 resp.: »Secundum quid tarnen, et in casu, est magis eligenda vita activa, propter necessitatem praesentis vitae.« Vgl. a 1 ad 3, zitiert. Anm. 152. 183
der Wirkeinheit mit Gott: Ausbruch des Wesens der Liebe. Deshalb sagt Eckhart über Augustinus und Thomas hinaus: »Ist es aber so, daß es den Menschen zu keinem Werk zieht und er nichts unternehmen mag, so soll man sich gewaltsam zwingen zu einem Werk, sei’s ein inneres oder ein äußeres ... Der Mensch soll da lernen, mit seinem Gott mitzuwirken.«187 Die Willenseinheit mit Gott muß also in der Wirkeinheit mit Gott vollzogen, sie darf nicht nur in affektivem Aufschwung genossen werden; das Werk ist gleichsam die Inkarnation der Liebe. Der innerlich notwendige Übergang vom Wesen zum Werk der Liebe ist für Eckhart nichts anderes als derselbe Prozeß der Gottesgeburt, der »incarnatio continua«, dessen Struktur alles umfaßt. Die Einheit des Willens mit Gott entsteht wie die Empfängnis der Gottesgeburt in der Abgeschiedenheit, Armut und Gelassenheit, in der alles, was überhaupt gewollt werden kann, transparent werden muß auf den Willen Gottes hin. Die Einheit des Wirkens mit Gott ist die Frucht dieser Transparenz in der Freiheit, die mit innerer Notwendigkeit aus der Empfängnis des göttlichen Willens erfolgen muß.188 Diese Dynamik und Fruchtbarkeit des Liebesvollzuges bei Eckhart stellt in ihrer Konsequenz die abstrakten Differenzierungen des Modells »vita activa – vita contemplativa« in Frage. Für Eckhart gibt es im Grunde nur einen einzigen spirituellen Vollzug, der einem einzigen Seinsvollzug entspricht. Von diesem Aspekt her läßt sich der Unterschied von »vita activa« und »vita contemplativa« nicht mehr mit demselben Anspruch darstellen, wie dies noch bei Thomas von Aquin geschieht. Auf dem Grunde der Konzeption Meister Eckharts erscheint nicht mehr die Dualität des Modells als das eigentlich Ursprüngliche, sondern die Einheit von Sein, Erkennen und Handeln als Teilhabe am innergöttlichen Prozeß. Die Dualität des Modells kann jetzt nur noch insofern ihre Berechtigung bewahren, als die Einheit dieses Prozesses irdisch konkret eine vielfältige Darstellung erfährt. Mit dieser konkreten Vielfalt hat sich Eckhart selbst weniger beschäftigt als Johannes Tauler. Eckhart betrachtet mehr die Totalität, die allumfassende Bedeutung des christlichen Liebeswerkes als Einheit mit der Dynamik des Seins; sein Interesse richtet sich immer darauf, die Identität des Seins hinter seinen verschiedenen Dimensionen zu entdecken, nicht die verschiedenen Dimensionen darzustellen, in denen diese Identität sich verschieden wiederspiegelt. 187 188
RDU, DW V 290,9–291,3, zitiert Anm. 152. Vgl. a. a. O. 278,6–9. 184
D. Gottfinden in allen Dingen189 Die umfassende Bedeutung des menschlichen Liebeswerkes ergibt sich bei Eckhart aus der Struktur des göttlichen Heilswerkes. Dieses Heilswerk ist unter dem Aspekt der Schöpfung »creatio continua«, d. h. immerwährende, dynamische Seinsgabe. Alle Dinge hängen um ihres Seins willen so sehr von Gott ab, daß Gott ihnen immer näher sein muß als sie sich selbst sind, um sie ins Sein zu rufen. Die Seinsgabe Gottes nimmt ihren Weg über die gottebenbildliche Geistigkeit des Menschen. Im Menschen kulminiert die ganze Schöpfung; durch ihn bezieht sie sich auf ihr geistiges Sein in Gott. Die Schöpfung ist also für den Menschen da und auf ihn angewiesen. Im Menschen dehnt sich die Wirksamkeit Gottes auf die ganze Schöpfung aus. Darum soll der Mensch seine Wirksamkeit aus der Wirkeinheit mit Gott auf alle Dinge ausdehnen. Diese Dinge sprechen in ihrer Seins-Insuffizienz von ihrer Abhängigkeit, so daß der Mensch in seiner Wirksamkeit an den Dingen die Vorgegebenheit des Seins erfährt und so auf das eigentliche Sein in Gott verwiesen wird. In der Begegnung mit den Dingen erkennt er ihre Bezogenheit auf Gott, ihre Bezogenheit auf den Menschen und ihre Nichtigkeit in sich selbst. Im Handeln an den Dingen vollzieht der Mensch diese Bezogenheit in der Weise, daß er, frei von den Dingen und frei für Gott, die dynamische Seinsgabe Gottes vermittelt, sich selbst in seiner Gottebenbildlichkeit verwirklicht und die gesamte Schöpfung zu ihrer Wesentlichkeit, d. h. zu ihrem eigentlichen Sein in Gott, vollendet. Die Verleihung der Seinsgabe an die Kreatur ist auch unabhängig vom Willen und Wirken des Menschen gegeben, aber sie ist immer durch den Menschen gegeben. Die Aufgabe des Menschen besteht nun darin, sich in diese Seinsverleihung mit seinem persönlichen Werk einzuschwingen. Nichts ist zu gering, um nicht in der Einheit des Willens und Wirkens mit Gott, d. h. in der Liebe, vollendet zu werden. Alle Dinge und alle Tätigkeiten haben Gott zum Ziel, sofern sie in der Liebe, die die Freiheit 189
Vgl. RdU, DW V, 203,1 ff.; 205,10 ff.; 207,8; 211,8 ff.; 241,2; 277,2.3; 278,14; 289,12 ff.; DW I, 81,7 ff.; Pf 333,30; 221,30–222,5; DW II, 100–108. Der Schwerpunkt dieses immer wieder anders formulierten spirituellen Kernsatzes liegt teils auf dem allgemeinen und umfassenden Charakter des Gottfindens, teils auf der Nähe dieses Gottfindens zu einer Welt, die es von vorne herein ganz aus Gott versteht. Vgl. DW I, 156,7–9: »Der niht dan die crêatûren bekante, der endörfte niemer gedenken úf keine predige (d. h. der bräuchte auf keine Predigt zu achten), wan ein ieglichiu crêatûre ist vol gotes und ist ein buoch.« 185
voraussetzt, erstrebt und getan werden, d. h. im Durchbruch durch alle Absolutsetzung des Eigendaseins der Geschöpfe. Ein zweiter Aspekt der umfassenden Bedeutung des Liebeswerkes ergibt sich aus dem Heilsereignis in Christus, der »incarnatio continua«. In der Inkarnation geschieht die ontologische Veredelung der ganzen Schöpfung vermittels der Veredelung der Menschennatur, die der Logos mit sich vereint hat. Die Schöpfung ist in Christus zu ihrer göttlichen Wirklichkeit erhoben. Dabei handelt es sich für Eckhart nicht um ein anderes Ereignis als das, was immer schon in der »creatio continua« geschieht; vielmehr interpretiert das Heilsereignis der Inkarnation als geschichtliche Offenbarung die seinsverleihende und damit zugleich vergöttlichende Absicht Gottes, die sich letztlich nur aus der Unergründlichkeit der Barmherzigkeit Gottes verstehen läßt. Daraus ergibt sich, daß alles, was der Mensch in der Teilnahme an der »creatio continua« tut, die Veredelung der Schöpfung durch das ganze Heilswerk der Erlösung integriert. Man kann Eckharts Theologie der Gottesgeburt auch »Schöpfungstheologie« nennen, da in ihr die Menschwerdung göttliche Interpretation des sich in der »creatio continua« vollziehenden Seinsereignisses ist, das von Ewigkeit her christozentrisch ist. Die Verleihung des Seins an die Schöpfung vollendet sich also in ihrer Erhebung zum Sohn, in dem sie in die innergöttliche Struktur hineingezogen wird. Diese Sohnwerdung der Schöpfung geschieht unaufhörlich vermittels der Menschennatur. Denn einerseits gipfelt die Schöpfung in der Natur des Menschen, und andererseits hat Christus eben diese Menschennatur angenommen.190 Eckhart bezieht die Inkarnation weniger auf die konkrete Menschwerdung Christi in der Persönlichkeit Jesu von Nazareth als auf die in ihr begründete Identität des Gottessohnes und der allgemeinen menschlichen Natur, der allgemeinen Idee des Menschen, an der jeder konkrete Mensch teilhat: »Gott ist nicht nur Mensch geworden, sondern er hat die menschliche Natur angenommen.«191 J. Ratzinger bemerkt dazu: »Es handelt sich dabei von vorneherein um eine ethisierende Umdeutung der Lehre von der hypostatischen Union, bei der es darum geht, aus dem dogmatischen Satz einen ethischen Grundansatz zu 190
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Vgl. zur Menschennatur als Gipfel der Schöpfung DW I, 288,1–291,6; Pf 179,23–180,25. Vgl. zu Christus und Menschennatur DW I, 85,6–87,10; 90,3–8; 77,3–79,8; Pf 56,13–27. DW I, 86,8.9: »Got ist niht aleine mensch geworden, mêr: er hât menschlîche natûre an sich genommen.« Vgl. Pf 622,14.15; 56,24.25; Sermones n. 199, LW IV, 184. 186
gewinnen.«192 In der Tat geht Eckharts Spiritualität weitgehend von diesem Satz aus: sie stellt das Allgemeine über das Konkrete. So bedeutet die Selbstentäußerung in der Abgeschiedenheit die Freilegung des allgemeinen Menschen, der mit Christus identisch ist; die Gestaltung der Dinge aus der Abgeschiedenheit bedeutet ihre Beziehung auf die allgemeine Menschennatur und damit wiederum auf Christus; die Nächstenliebe sucht ihre konkreten Grenzen immer wieder zu einer allgemeinen Liebe zur menschlichen Natur zu übersteigen.193 Mit solchen Forderungen vertritt Eckhart zwar insofern genuin christliches Gedankengut, als sich die christliche Spiritualität immer der Absolutsetzung des eigenen Ich und seiner kreatürlichen Ziele entgegenstellt und als in dieser Konzeption besonders die umfassende Bedeutung der christlichen Sittlichkeit sichtbar wird, aber eine solche Spiritualität übersieht über ihrem totalitären Anspruch die konkreten Situationen, Möglichkeiten und Aufgaben des Menschen, die in seiner Individualität begründet liegen. So ist es Eckhart auch nicht gelungen, seine Forderung, Gott in allen Dingen und in allem Tun zu finden, über den allgemeinen Anspruch hinaus zu präzisieren. Die Bedeutung dieses Axioms liegt darum mehr in seinem grundlegenden Charakter: Eckhart zeigt die vergöttlichende Relevanz des menschlichen Handelns, in dem die Dynamik des göttlichen Heilswerkes der »creatio continua« und der »incarnatio continua« aufleuchtet. Gottes Immanenz im menschlichen Umgang mit den Dingen und
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Die christliche Brüderlichkeit 76. Vgl. Sermones n. 523, LW IV, 437. Vgl. zur Problematik H. Piesch, Meister Eckharts Ethik 122–133. H. Piesch (a. a. O. 126) beruft sich zur Rechtfertigung der Menschennaturlehre Eckharts auf die Lehre der Väter; vgl. M. J. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik, Bd. 3, Freiburg/Br. 1925, 140 ff. Doch wird hier die Menschennatur, die Christus in der Menschwerdung mit sich vermählt hat, nicht so stark wie bei Eckhart von der konkreten Personalität getrennt. Die Entäußerung von sich selbst zu Christus zerbricht bei Eckhart leicht nicht nur die eigene Ichbefangenheit, sondern jedwede Personalität des Menschen. Vgl. DW I, 420,3–11; DW V, 430,8–11; Pf 592,11–15. Bei Eckhart kann man infolge seiner Menschennatur-Lehre auch nicht, wie H. Piesch das tut (a. a. O. 111), zwischen »Menschtum« und »Gemeinschaft« unterscheiden; Eckharts »Liebeskommunismus« (H. Piesch, a. a. O.) bezieht sich ebenso wie seine ekklesiologischen Aussagen auf das Menschtum, nicht auf eine irdisch konkrete kirchliche Gemeinschaft. 187
die Transparenz dieses Umgangs für Gottes Wirken sind in der schöpfungstheologischen Konzeption Meister Eckharts sichtbarer als je zuvor.194
4. Zusammenfassung und Bewertung: Vollkommenheit bei Meister Eckhart A. Die sittlich-religiöse Vollkommenheit wird bei Eckhart im ewigen Heilswerk Gottes ontologisch begründet Im ewigen Heilswerk Gottes sind die Seinsverleihung in der Schöpfung und die Vergöttlichung dieser Seinsverleihung in der Erlösung zu einem einzigen ontologischen Ereignis zusammengefaßt. Dieses Ereignis vollzieht sich nicht entsprechend der Vorstellung eines geschichtlichen Zeitablaufs, sondern in einer »höheren Zeit«, zu der die geschichtliche Zeit in analogem Verhältnis steht. Das Ereignis ist absolut vorgegeben, unbegreifbar und umgreift zugleich alles. Letztlich ist dieses Ereignis nichts anderes als die Göttlichkeit Gottes, insofern sie in der dynamischen Entfaltung seiner unergründlichen Barmherzigkeit steht. Die höhere Zeitlichkeit, in der es geschieht, steht gleichsam »quer« zum geschichtlichen Zeitablauf. Diese eigentliche Zeitlichkeit nennt Eckhart Ewigkeit. In der Ewigkeit gibt es kein Vor und Nach, sondern nur den Augenblick, die dauernde Gegenwart.195 Ewigkeit ist die ontologische Priorität der Zeit, die eine von ihr abgeleitete Zeiteinteilung nicht erreicht. Sie drückt aus, daß immer schon geschehen ist, was als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft erscheint; sie bezeichnet ferner das unmittelbare Verhältnis des Heilswerkes zu jeder geschichtlichen Zeiteinheit. Das Heilswerk ist die punktuelle, ursprüngliche Einheit der Heilsgeschichte, in der sich diese Einheit zu verschiedenen Ereignissen differenziert. Nur von der geschichtlichen Projektion des ewigen göttlichen Heilswerkes her gesehen sind Schöpfung und Erlösung einmal geschehene, in gewisser Weise abgeschlossene Ereignisse, die dann als solche geschichtlich weiterwirken. Versteht man aber die 194 195
Vgl. DW I, 81,1–10. Vgl. DW I, 143,7–144,3: »Nime ich ein stücke von der zît, sô war ez weder (entweder) der tac hiute weder (oder) der tac gester (Text nach dem Varianten-Apparat). Nime ich aber nû, daz begrîfet in im alle zît. Daz nû, dâ got die werlt inne machete, daz ist als nâhe dirre zît als daz nû, dâ ich iezuo inne spriche, und der jüngeste tac ist als nâhe disem nû als der tac, der gester was.« (Die Textänderung ist nötig, da der von Quint angegebene Text keinen Sinn ergibt). Vgl. auch DW II, 231,7–232,1. 188
dauernde Einflußnahme Gottes auf die Schöpfung als die eigentliche »Geschichtlichkeit«, dann kann Heilsgeschichte in ihrer Gesamtheit nur erfaßt werden, wenn über den horizontalen, zur Schöpfung gehörenden Zeitablauf hinaus die höhere vertikale Zeitrichtung der schöpferischen Seinsgabe Gottes gesehen wird. Wenn man dieses Verhältnis von Ewigkeit und Zeit ins Auge faßt, kann man nicht mehr so leicht Meister Eckhart die Vernachlässigung der Heilsgeschichte in seiner Spekulation vorwerfen.196 Das Zurücktreten der heilsgeschichtlichen Einzelzüge mit Ausnahme von Schöpfung und Inkarnation erklärt sich daraus, daß Eckhart vor allem der vertikalen Selbstmitteilung Gottes seine Aufmerksamkeit widmete. Die Leuchtkraft Gottes in der Schöpfung und die Transparenz der Schöpfung für Gott ist dadurch besonders sichtbar geworden, und man kann dem Urteil H. Hofs zustimmen: »Die eckhartsche Philosophie darf als das Typenexempel für das Schönste, was der menschliche Geist über die Beziehung zwischen Ungeschaffenem und Geschaffenem erdacht hat, empfohlen werden.«197 Dieses Urteil gilt ebenso für Eckharts spirituellen Ansatz, der die ontologische Dynamik in eine spirituelle Dynamik übersetzt, und so die Gottbegegnung in der Welt, an den Dingen und im Umgang mit ihnen in den Mittelpunkt stellt, ohne die Frömmigkeit in einem Raum geistiger Absonderung anzusiedeln, in einen Ort der Zuflucht aus der Dynamik des Lebens, wie ihn die traditionelle »vita contemplativa« beschreibt. Andererseits kann man über die Tatsache nicht hinwegsehen, daß die spirituelle Fruchtbarkeit in Eckharts Ansatz durch eine christologische und zugleich ekklesiologische Verkürzung erreicht wird. Die neuplatonische Versuchung, über dem Vorrang des Allgemeinen die eigenständige Bedeutung des Besonderen allzu gründlich zu vergessen, führt bei Eckhart dazu, daß die geschichtliche Gestalt und das geschichtliche Werk Christi ebenso wie die geschichtliche Gestalt der Kirche gegenüber der allgemeinen Menschheitsidee, die zugleich die menschliche Natur Christi und seinen ekklesialen Leib ausmacht, fast völlig an Bedeutung verlieren.198 Christus und die Kirche sind die transzendentalen Fluchtpunkte des menschlichen Vollkommenheitsstrebens. Weder als irdische Gemeinschaft des Gottesvolkes noch als Heilsinstitution bestimmt die Kirche den Lebensweg des Gerechten. Seine Vollkommenheit liegt 196 197 198
Vgl. B. Weiß, Die Heilsgeschichte bei Meister Eckhart 181. Vgl. dazu oben Anm. 86. H. Hof, Scintilla animae 225. Vgl. B. Weiß, a. a. O. 124–134. 189
deshalb in dem universellen Transzendentalismus, der vor allem in Eckharts Vorstellung von der grenzenlosen Nächstenliebe zum Ausdruck kommt.199 Eckhart hat den Schritt von der transzendentalen Weiselosigkeit zu den irdisch konkreten Aufgaben zwar gefordert und begründet, indem er die Immanenz der göttlichen Dynamik im menschlichen Wirken in der Zeit aufwies, aber er hat ihn in seiner Lebenslehre nicht konsequent durchgeführt. Erst bei Johannes Tauler finden sich die Konkretisierungen des eckhartschen spirituellen Grundansatzes; dabei tritt die geschichtliche Bedeutung des Christusereignisses und der Kirche wieder in den Vordergrund.200 Deshalb läßt sich ein endgültiges Urteil über Eckharts Konzeption erst in der Betrachtung ihrer konkreten Entfaltung in der Lebenslehre Taulers fällen. Die Durchdringung von Transzendenz und Immanenz und damit die Überwindung der dualistischen Züge des Modells »vita activa – vita contemplativa« bei Meister Eckhart müssen jedoch als Voraussetzung und Ermöglichung der Gedanken Taulers hervorgehoben werden. B. Die ontologische Begründung der sittlich-religiösen Vollkommenheit wird sichtbar in der Erkenntnis von Vorgegebenheit, Weiselosigkeit und Totalität Die Vorgegebenheit der ontologischen Struktur bedeutet zugleich ihre Unerreichbarkeit in der Erkenntnis. Der Mensch vermag sich nicht in dem, was er ist, zu erfassen, und dennoch muß er daraus handeln. Er handelt damit aus einer Leere heraus. Daß diese Leere jedoch die Fülle ist, lehrt ihn die »docta ignorantia« der Glaubenserkenntnis, die sich aus dem Glauben an Gottes Selbstmitteilung in »creatio continua« und »incarnatio continua« entfaltet. Gott ist zwar nichts, was der Mensch erkennen kann; da aber Gott sein Sein als unergründliche Barmherzigkeit der dynamischen Selbstmitteilung geoffenbart hat bis zur letzten Selbstentäußerung seines Sohnes, wird in diesem Nicht-Erkennbaren die Fülle des Seins erkannt, aus der jede irdische Wirklichkeit abgeleitet ist. Die Glaubenserkenntnis vermag dies nur »weiselos« zu begreifen, d. h. indem sie es in seiner Unbegreifbarkeit beläßt und es nicht voreilig in bildhaften und begrifflichen Aussagen verfestigt. 199
200
Vgl. dazu H. Pieschs Untersuchung der Sozialethik Eckharts, a. a. O. 111–143. – Auf die transzendentale Denkweise Eckharts, die vor allem in der »Predigt aus der Einheit« sichtbar wird, hat besonders J. Kopper, a. a. O. 31–39, hingewiesen. Vgl. unten Teil 3, S. 263–270, 277–280. 190
Die Weiselosigkeit des christlichen Erkennens im Glauben setzt die Weiselosigkeit des christlichen Lebens voraus. Dem erkenntnistheoretischen Aspekt der »docta ignorantia« entspricht deshalb die existentielle Weiselosigkeit in Abgeschiedenheit, geistiger Armut und Gelassenheit. Erkenntnis erschließt durch Gleichheit mit dem zu Erkennenden.201 Diese Gleichheit wird durch totale Entäußerung von aller scheinbaren kreatürlichen Subsistenz erreicht. Hinter Eckharts Vollkommenheitslehre steht deshalb der Grundsatz: so wie der Logos sich seiner Göttlichkeit entäußerte, so soll sich der Mensch seiner Kreatürlichkeit entäußern, um der vergöttlichenden Wirkung der Selbstentäußerung des Logos teilhaftig zu werden. Diesen Vorgang beschreibt Eckharts Mystik als Empfängnis der Gottesgeburt.202 Diese Lehre von der Selbstentäußerung des Menschen in Christus hinein entspricht der Tradition bei den Vätern. Ihre Vorstellungen von der »apatheia« oder der »tranquillitas mentis« und der »puritas cordis« greift Eckhart auf.203 Dennoch unterscheidet sich seine »Weiselosigkeit« des Gottfindens von der traditionellen Mystik darin, daß sie weder einen Rückzug aus den irdischen Wirklichkeiten impliziert noch die Vorbereitung eines weltlosen mystischen Aufstiegs im kontemplativen Leben intendiert. Weiselosigkeit des Gottfindens ist vielmehr die Lehre von der Freiheit im tätigen Leben. Diese Freiheit erschließt sich an der Selbstaussage der Dinge, mit denen der Mensch umgeht; in ihrer Seinsschwäche und ihrem Verlangen nach der göttlichen Seinsgnade sind alle Kreaturen ein »Buch Gottes«, ein »Fußstapfe Gottes«, ein »Weg zu Gott«.204 Deshalb braucht der Mensch »nichts weiter als die Kreaturen zu erkennen«,205 um seine eigene 201 202 203
204 205
Vgl. DW I, 55,1: »... bekantnisse kumet von glîcheit.« Vgl. DW II, 84,1–3, zitiert Anm. 39. Als Begriffe finden sich diese Vorstellungen bei Eckhart nicht, mit Ausnahme der »puritas cordis«, vgl. DW I, 359,1–4; 80,7–17 (»reinicheit des herzen«, 359,2). Eckharts Gelassenheit und Armut des Geistes trägt jedoch die Tradition des »apátheia«-Gedankens in sich, vgl. etwa DW I, 203,2–5: »Der mensche, der gelâzen hât und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblick ûf daz, daz er gelâzen hât, und blîbet staete, unbeweget in im selber und unwandellîche, der mensche ist aleine gelâzen.« Das Neue an Eckharts Gedanken und den ihnen entsprechenden Begriffen liegt vor allem in ihrer doppelpoligen Bedeutung, da sie nicht nur Negation, sondern auch Offenheit aussprechen, wie schon an der »abegescheidenheit« sichtbar wurde (vgl. Anm. 36). Vgl. DW I, 156,7–9 (zitiert Anm. 189); Pf 11,7; 238,30. DW I, 156,7.8. 191
Dynamik in der Welt auf die immanente göttliche Dynamik zu beziehen. Nicht eine kontemplative Unmittelbarkeit, die zudem der Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnis schlechterdings unmöglich ist, sondern die Mittelbarkeit des Lebens selbst schenkt nach Eckhart »die edelste Erkenntnis«.206 Die Kreatur ist Wegweiser der weiselosen Erkenntnis, indem sie von sich weg auf die göttliche Seinsfülle verweist. Eckharts mystischer Aufschwung, die Empfängnis der Gottesgeburt, vollzieht sich daher nicht in jener unendlichen Verfeinerung der Kontemplationsstufen, die die mystischen Kontemplationstraktate des Mittelalters kennzeichnet,207 sondern im lebendigen Vollzug der christlichen Existenz mitten in der Welt. Nicht in der Beschaulichkeit, sondern in der Dynamik des tätigen Lebens, in der Fruchtbarkeit der Gottesgeburt, liegt deshalb der Höhepunkt eckhartscher Spiritualität. Der Fortschritt dieser Konzeption liegt vor allem darin, daß in ihr nicht mehr die transzendenten und die immanenten Merkmale der christlichen Existenz als verschiedene Lebensvollzüge geschieden und dann aneinder gewertet werden. Ein solcher Dualismus und eine solche Wertung liegen Eckhart völlig fern. Daher ist seine Mystik offen für jeden Menschen und für jede Spiritualitätsform, die die christliche Existenz in sich darzustellen und im Handeln an der Welt fruchtbar zu machen versucht. In dieser Offenheit liegt zugleich die umfassende Bedeutung des spirituellen Grundansatzes, die der umfassenden Bedeutung des ontologischen Ansatzes entspricht. C. Der existentielle Vollzug der weiselosen Erkenntnis, die Freiheit für Gott, vollendet sich in der Liebe, d. h. der Willens- und Wirkeinheit mit Gott Im Traktat von der Abgeschiedenheit betont Eckhart, über einem affektiven Aufschwung zu Gott stehe die Freiheit für Gott, denn bei der Vereinigung in der Freiheit sei es Gott, der wirke, nicht der Mensch; Gottes Eigenschaft sei es nämlich, daß er 206 207
Pf 48,10, vgl. unten Kap. II, 2 d. Vgl. etwa Richard von St. Viktor, Nonnullae allegoriae tabernaculi foederis (= kurze Zusammenfassung der Kontemplationsstufen des »Benjamin major«), PL 196, 191–202. Dort werden vier Vorstufen zur Kontemplation und dann innerhalb der Kontemplation weitere sechs Stufen unterschieden. Vgl. auch Thomas, S.th. 2–2 q 180 a 3. 192
überall da wirken müsse, wo nichts seine Wirksamkeit behindere.208 Die Freiheit oder Abgeschiedenheit »zwingt« also Gott zu sich, und Gottes Dynamik durchdringt dann alle Kräfte des Menschen. In dieser göttlichen Ergriffenheit erst antwortet der Mensch als Geliebter mit seinem Gefühl, aber vor allem mit seinem Willen. Denn die göttliche Dynamik sucht weniger die affektive Einheit, sie möchte nicht im »Wohlgefühl« des Menschen »stecken bleiben«;209 sie sucht vielmehr die Einheit des Willens, die unaufhörlich in die Einheit des Wirkens ausbricht. Der liebende Mensch stellt dem dynamischen Heilswerk Gottes, zusammengefaßt in der Gottesgeburt, kein Hindernis in den Weg, indem er im Genießen der Einheit verweilt, sondern er läßt es in sich und durch sich auf die ganze Schöpfung weiterwirken, indem er die nächste Aufgabe ergreift. Seine Werke sind nun transparent für Gott, weil er selbst transparent für Gott ist. So kann Gott im liebenden Menschen sich selbst als er selbst lieben und »schmecken«;210 das aber ist letzte Identität des Seins mit sich selbst, Vollzug der ontologischen Struktur. Eckharts Vollkommenheitslehre ist also ein dynamischer Prozeß, der von seiner Steigerung lebt und sich daher nicht auf Verfestigungen einläßt. Erkenntnis der Weiselosigkeit, ihr existentieller Vollzug in der Freiheit von den Dingen, Einbruch der göttlichen Dynamik in den Willen und das Wirken des Menschen: das ist der Rhythmus der vollkommenen Frömmigkeit. Dieser Rhythmus kennt kein zeitliches Nacheinander, sondern er ist der Rhythmus der vertikalen Beziehung zwischen Gott und Mensch, die zugleich »in instanti« und »unaufhörlich« sich vollzieht und in Eckharts Predigten immer wieder unter der Formel »Gottesgeburt« beschrieben wird.211 Der Doppelschritt, von der konkreten Verflechtung in den Dingen zur Freiheit in Gott und von der Freiheit in Gott zum Handeln in der Welt, liegt auch der Behandlung des Modells »vita activa – vita contemplativa« bei Thomas von Aquin und mehr noch 208 209 210 211
Vgl. DW II, 35,3–7; Pf 230,14–16; 254,9–12; 27,26–31. Pf 48,31, vgl. dazu unten S. 191/192. Vgl. Pf 180,7 ff. Vgl. H. Hof, a. a. O. 177. – Die Gottesgeburt und ihr spiritueller Vollzug stehen dabei etwa in demselben Verhältnis wie Eucharistieempfang und geistliche Kommunion. Der Vergleich mit der Eucharistie findet sich bei Eckhart selbst, vgl. Predigt Nr. 20 b, DW I, 342 ff., jedoch nur als symbolische Beziehung. (Von dem Sakramentsrealismus der »Reden der Unterscheidung« findet sich in den Predigten nichts mehr.) 193
bei Bonaventura zugrunde; der gedrängte Zusammenhang von Empfängnis der Gottesgeburt in der Freiheit und Fruchtbarkeit der Gottesgeburt im Werk ist dort jedoch noch nicht gesehen worden. Gerade das Modell mit seiner dualistischen Prägung stand einer solchen Konzeption entgegen; zwar wurde das aktive Leben als Vorbereitung und als Ausfluß der Kontemplation in das Ideal der »vita contemplativa« integriert, jedoch mit verschiedenen Einschränkungen: die Vorbereitung hatte rein aszetischen Charakter, und die Fruchtbarkeit erstreckte sich ausschließlich auf verfeinertsten Aktivitäten des Christenlebens, auf Predigt und Lehre. Der Angelpunkt der christlichen Vollkommenheit war die Kontemplation. In Eckharts Konzeption liegt dagegen dieser entscheidende Punkt in der Weiselosigkeit des Gottfindens, hinter der die Dynamik des ontologischen Ereignisses steht. Die Transparenz des Christen für diese Dynamik im tätigen Leben ist das Ziel seiner Vollkommenheitslehre. Die Auswirkungen dieser Konzeption für das Modell »vita activa – vita contemplativa« sollen nun näher untersucht werden.
194
II. DIE EINHEIT VON »VITA ACTIVA« UND »VITA CONTEMPLATIVA« 1. Die Einheit des spirituellen Aktes Das Thema »vita activa – vita contemplativa« stellt sich bei Meister Eckhart nicht als Frage nach dem Verhältnis zweier ekklesiologischer Aspekte (wie bei Augustin), noch als Frage der Klassifikation verschiedener Spiritualitätsformen (wie bei Thomas von Aquin). Es tritt vielmehr als eine Betrachtungsweise des spirituellen Prozesses der Gottesgeburt auf, in dem sich der ontologische Prozeß des göttlichen Heilswerkes ereignet. Dieser Prozeß verläuft, wie wir gesehen haben, »vertikal« zum horizontalen irdischen Zeitablauf. Er beansprucht daher für sich die Simultaneität und Einheit des Seins. Ein Geschehen, das dem Rhythmus des Seinsereignisses entspricht, kennt kein zeitliches Nacheinander und keine Differenz im Sein. Es bezeichnet die Einheit der christlichen Existenz, die von der Einheit der göttlichen Dynamik erfaßt ist. Solange Eckhart die Einheitlichkeit dieses ontologischen Geschehens betrachtet, gibt es für ihn die Differenzierung von »Weisen« oder Spiritualitätsformen nicht, die im Modell vorausgesetzt ist. Das Modell der Spiritualitätsformen tritt daher kaum in Erscheinung, wohl aber das Verhältnis von Aktion und Kontemplation im Rahmen des spirituellen Prozesses. »Kontemplation« ist dabei in sehr weitem Sinne zu fassen, nicht in dem präzisen Sinne der affektiven oder intellektiven Gottesintuition mittelalterlicher Kontemplationsmystiker, den Eckhart kaum gebraucht.212 Die »Kontemplation« Eckharts besteht im existentiellen Einschwingen in die göttliche Dynamik durch die Freiheit, nicht in einem intellektiven oder affektiven Aufstieg zur »unio
212
Mit Ausnahme der Predigt VeM (vgl. DW V, 116–118), kommt »schouwen« in den Predigten und Traktaten nur selten vor, und dabei eher im Sinne von »videre« als von »contemplari«. »Beschouwelicheit« als »terminus technicus« für die »contemplatio« fehlt ganz. 195
mystica«. Eckhart gebraucht hierfür nicht den Ausdruck Schau, sondern »inwendicheit«, »einunge«, »inneres werc«213. Diese »Innerlichkeit« steht nicht in einem Gegensatz zur Tat, sondern sie bricht in die Tat aus 214 und verhält sich zu ihr wie die Empfängnis zur Fruchtbarkeit der Gottesgeburt. Dieses Thema läßt sich an verschiedenen Stellen verfolgen, an denselben Stellen, die Freiheit, Einheit und Wirken aus der Einheit als ein und denselben spirituellen Prozeß beschreiben.215 Da nämlich die göttliche Struktur dynamisch ist, wird ihr spiritueller Vollzug notwendigerweise ebenso dynamisch; ist dies nicht der Fall, so ist der Vollzug noch nicht vollkommen, und man muß sich zur Wirksamkeit zwingen.216 Je vollkommener der Vollzug, desto einheitlicher sind Innerlichkeit und Tat, so einheitlich, wie sie im Sein Gottes selbst sind. Die Einheit geht der Differenzierung voraus; daher muß die Differenzierung immer wieder zur Einheit überwunden werden. Wenn der Vollzug »wesentlich«, d. h. dem Sein völlig entsprechend, geworden ist, lassen sich Aktion und Kontemplation nicht mehr unterscheiden; sie sind ein einziger spiritueller Akt der Vergöttlichung. Der Erfahrungsmaßstab dieses Aktes ist nicht eine affektive Erlebnisdichte, nicht die »suavitas« der Kontemplationsmystik, sondern die Fruchtbarkeit des Wirkens, die sichtbare tätige Liebe. Die biblische Fruchtbarkeit des Hörens im Tun, der Glaubenserkenntnis in Bruderliebe, des Gebetes in der Arbeit sind der Maßstab, den Eckhart von seiner ontologischen Konzeption her erreicht; die logisch konsequente Struktur 213
214 215
216
»Innicheit« und »innerkeit« werden oft im Zusammenhang mit »andaht« (devotio) gebraucht und nicht immer positiv gewertet; vgl. DW V, 220,1.2; 222,5.6; 262,9–363,1; 281,4.5; DW I, 62,1.2; 272,6; 100,5; 91,3 ff. »Inwendicheit« wird dagegen in den Traktaten positiv gebraucht; vgl. DW V, 207,3; 210,3; 276,3–12; 420,2; 422,6. Die »inwendicheit« entspricht dem inneren Menschen, vgl. DW V, 272,2; 422,1, und dem inneren Werk, vgl. 291,8. Der Mensch legt sein Innerstes frei, ordnet sich nach ihm und wirkt aus ihm: das alles ist im Ausdruck »inwendicheit« gefaßt, vgl. auch DW I, 164,5.6; 359,5–7. Dieses Innerste ist das Bildsein der »scintilla animae«; vgl. DW I, 66,6; 173,11; 304,7; 87,6; 90,7; 268,4 ff.; DW V, 44,27. – »Einunge« (unio) vgl. DW V, 273,4; 309,3–5; 269,3–5; DW I, 80,2; 119,5; 172,4; 197,6. – »Inneres werc« vgl. DW V, 38–41; 290.291. Vgl. RdU, DW V, 290,10 und 291,5.6. Vgl. BgT, DW V, 43.44; DW I, 240,4–10; vor allem: Pr. Nr. 2, DW I, 24–45; Pr. Nr. IX, Pf 48–54; Pr. Nr. 30, DW II, 43–109; Spruch 32 und Spruch 33, Pf 606,35–608,7. Vgl. Pf 607,32–608,2. 196
der Theologie der Gottesgeburt entdeckt in selbständigem Vorgang die biblische Spiritualität neu, indem sie von den Mysterien der Offenbarung, von Schöpfung und Inkarnation, ausgeht. Eckhart gelingt hier in der philosophischen Sprache seiner Zeit tatsächlich eine Vergegenwärtigung der biblischen Frömmigkeit, die vom Modell »vita activa – vita contemplativa« aus nicht erreicht werden konnte, weil dieses Modell nicht von der Einheit, sondern von der Differenz der Merkmale der christlichen Existenz ausging und sie zudem in verschiedenen Lebensformen einander gegenüberstellte. Diese abstrakte Klassifikation, deren Vereinbarung mit der christlichen Spiritualität Augustinus und Thomas zu großen spekulativen Leistungen zwang, ist in der dynamischen Spiritualität Meister Eckharts aufgehoben. Dieses Ergebnis, das aus der Untersuchung des Grundgedankens Eckharts anfällt, beinhaltet jedoch noch nicht Eckharts Stellung zum Modell »vita activa – vita contemplativa«. Dieses Modell bezieht sich auf den konkreten Lebensweg des Menschen, auf die verschiedene Eignung der Menschen zu verschiedenen Spiritualitätsformen. Die Bedeutung dieser verschiedenen persönlichen Eignung für die Einteilung des Modells hat besonders Thomas hervorgehoben: »... illi qui sunt proni ad passiones propter eorum impetum ad agendum, sunt similiter magis apti ad vitam activam propter spiritus inquietudinem ... Quidam vero habent naturaliter animi puritatem et quietem, per quam ad contemplationem sunt apti: qui si totaliter actionibus deputentur, detrimentum sustinebunt.«217 Bei aller Betonung der ursprünglichen Einheit von Aktion und Kontemplation in Christus und der Kirche (Augustinus und, wenn auch nicht in derselben Klarheit und Ausführlichkeit, Thomas von Aquin) bzw. in der christlichen Existenz als Vollzug des dynamischen Seinsereignisses (Eckhart) wird es doch im Konkreten immer verschiedene Spiritualitätsformen geben. Diese Spannung von ursprünglicher Einheit und konkreter Differenzierung scheint in der Einheit des spirituellen Aktes bei Eckhart zusammen mit den Verfestigungen der thomasischen Klassifikation beseitigt worden zu sein. Darin läge eine weitere Vernachlässigung des Konkreten über dem Allgemeinen, wie sie sich auch sonst in Eckharts Spiritualität, vor allem in der universalistischen Grenzenlosigkeit der Nächstenliebe, beobachten läßt.
217
S.th. 2–2 q 182 a 4 ad 3. 197
Nun bildet aber gerade das Thema »vita activa – vita contemplativa« hierin eine Ausnahme: nicht nur die ursprüngliche Einheit, sondern auch die konkrete Spannung in der christlichen Spiritualität wird von Eckhart behandelt. Diese Ausnahme kann ihren Grund darin haben, daß Eckhart sich mit der traditionellen »biblischen Begründung« der Lebenseinteilung auseinandersetzen mußte, sobald er in seinen Predigten die sehr geläufige Maria-Martha-Perikope berührte, bei der wegen der langen Tradition der typologischen Auslegung jeder Zuhörer an das Modell denken mußte. Die typologische Auslegung war gewissermaßen vorgegeben, und selbst Eckhart, der das »eine Notwendige« von Lk 10,42 nicht auf das beschauliche Leben bezieht, sondern sehr vielfältig interpretiert,218 mußte sie in seiner eigenen originellen Interpretation voraussetzen. So bietet seine Predigt über Maria und Martha den Schlüssel für Eckharts eigene Anwendung des spirituellen Einheitsideals in der konkreten Spannung der biblischen Typologie. Zugleich ist diese Predigt neben den Reden der Unterscheidung eine der wenigen Stellen, in denen nicht nur der spirituelle Ansatz, sondern auch seine verschiedenen Darstellungen behandelt und zudem ganz konkrete Fehlformen der christlichen Spiritualität angegriffen werden. In dieser Anwendung seines spirituellen Ansatzes zeigt sich Eckhart genauso konsequent wie in der Ableitung dieses Ansatzes aus der ontologischen Struktur des göttlichen Heilswerkes.
2. Die Einheit des spirituellen Aktes in der Differenzierung: Maria und Martha219 A. Vorbemerkungen zur Predigt über Maria und Martha Von Eckharts Predigt über Maria und Martha fehlt eine kritische Textausgabe, doch wird man ihr wohl ziemlich nahe kommen, wenn man zu dem Text bei F. Pfeiffer die 218
219
Vgl. In Joh. n. 113, 114 LW III, 97–99 (Gottförmigkeit des Lebens); Sermones n. 447 LW IV, 372 (»multitudo abicitur, unitas elegitur«); Von abegescheidenheit DW V, 401,8–10 (»einez, daz ist abegescheidenheit«); Pf 50,3–11 (Einheit in der Freiheit); Pf 51,34–39 (das eine Notwendige ist Gott). Vgl. Pf 48–53; J. Quint, Die Überlieferung der deutschen Predigten Meister Eckeharts, 168 ff. 198
Untersuchungen und Verbesserungen von J. Quint heranzieht.220 Die Echtheit der Predigt ist nicht in Zweifel zu ziehen, wenn man ihren Inhalt mit den Reden der Unterscheidung, besonders mit Eckharts Bemerkungen über das innere und äußere 220
Vgl. auch J. Quint, Meister Eckehart (Übersetzung) 280–289 und die Anmerkungen dazu 496.497. J. Quint bemerkt hier zur Predigt: »Ihr Inhalt ist stellenweise sehr schwierig, um so mehr als gewiß manche Stellen in der hsl. Überlieferung schlecht bzw. nicht unzweideutig überliefert sind« (a. a. O. 496). Vgl. vor allem Pf 50,4–11. Zwei Stellen, die J. Quint »nicht verstanden« hat (a. a. O. 497), lassen sich jedoch wohl erhellen: Pf 50,34 »iresheit« soll sicherlich »sînesheit« heißen, wie der Kontext beweist, vgl. 50,38.40; Quints Korrektur nach den anderen Handschriften (Überlieferung 176) ist dann nicht notwendig; Pf 51,16 »sunder nutzes« ist durchaus nicht »verderbt«, sondern meint »ohne Eigennutz«. Vgl. dazu folgende Parallelen: DW I, 107,10; 100,5; 69,6; 274,3.5.6. – Die schwierige Stelle Pf 50,4–11 könnte durch Änderung der Interpunktionen Pfeiffers vielleicht lesbarer werden: »Ich unde dû, eine stunde (einstunt = einmal) umbevangen mit êwigem liehte (vgl. 50,2), ist eines unde zwei. Einez ist ein brinnender geist, der da stêt ob allen dingen und under got an dem umberinge der êwicheit (vgl. 50,15–26). Der ist (zugleich) zwei, wan er âne mitel got niht ensiht (im Gegensatz zu Christus, vgl. 50,34!). Sîn bekennen unde sîn wesen oder sîn bekennen und ouch des bekantnüsses bilde, die enwerdent niemer ein, sie ensehent got, wan dâ wirt got geistes gesehen (nach Quint, Überlieferung 170) frî von allen dingen.« (Vgl. 51,3–6 und 50,34.35 sowie 51,12: diese letzte Freiheit ist nur Christus, dem absolut entrückten Menschen und der Schau im Himmel möglich. 50,1 »blôz alles mitels« und die Einschränkung 50,7 »âne mitel ... niht« widersprechen sich dabei nicht, vgl. 50,15 »frî unde doch gebunden«.) Dies ist ein Versuch, 50,4–11 ganz aus 50,15–38 zu verstehen, wo der Gedanke mit dem Stichwort »umberinc der êwicheit«, vgl. 50,12.38.39, aufgegriffen und näher ausgeführt wird. Daraus wird dann auch der Satz 50,10.11 verständlich: er setzt die Erklärung voraus, daß hier nicht nur zwei eins, sondern auch eins zwei ist, also zugleich Identität und Differenz: »Einez wirt zwei, zwei ist ein, lieht unde geist diu zwei ist ein in dem umbevange êwiges liehtes.« J. Quint scheint in seiner Übersetzung, 283.284, den Text ähnlich zu verstehen, bis auf den Anschluß des letzten Satzes. In der ganzen Predigt wird weder Maria noch Martha die letzte Einheit mit Gott zugesprochen, die in der jenseitigen Vollendung liegt. Es geht ja um irdische, nicht um jenseitige Vollkommenheit, und dabei wird Marthas Wirkeinheit mit Gott über die bloße Verzückung Mariens gestellt. Zum Verständnis der Stelle Pf 50,4–11 wäre noch Pf 170,8–24 heranzuziehen. Dort wird das Eine als die Ewigkeit, die Zweiheit als die zeitliche Differenzierung verstanden. 199
Werk, vergleicht.221 Zudem zeigt eine weitere Predigt über Lukas 10, 38, die bereits in die kritische Gesamtausgabe übernommen ist, ebenfalls Eckharts Vorliebe für den Martha-Typ, der in einem spirituellen Akt »Jungfrau« und »Weib« (Empfängnis und Fruchtbarkeit der Gottesgeburt) in sich vereinigt. Schließlich entspricht sowohl die gedankliche Struktur als auch die locker fortschreitende Schrifterklärung Eckharts typischer Predigtweise.222 Die Deutung der Perikope bei Eckhart ist trotz der traditionellen Typologie (beschauliche Maria-aktive Martha) im Hintergrund durchaus originell. Nicht Maria, sondern Martha wird in ihrer besonderen Vollkommenheit gezeigt. Man hat darauf hingewiesen, daß darin eine Weiterentwicklung der augustinischen Sympathie für Martha und Petrus zu sehen sei,223 jedoch muß hier die Betonung auf der Weiterentwicklung liegen, denn bei Augustinus bleibt die kontemplative Vorrangigkeit gewahrt. Der Gedankengang der Predigt entfaltet sich aus der Spannung zwischen der Maria, die noch in der Entwicklung steht, und der Martha, die bereits die Reife des christlichen Lebens erreicht hat. Das Ziel ist dabei, an Marthas Vollkommenheit Maria, d. h. den beschaulich lebenden Menschen, den Weg zur Vollkommenheit zu zeigen: Maria muß erst Martha werden, damit sie »wesentlich« ist, d. h. ihre eigene Existenz vollkommen in die Dynamik des Seinsereignisses einschwingt.224 221
222
223
224
Vgl. DW V, 290,291. Die verschiedenen Äußerungen Eckharts sind allgemein einheitlich, vgl. unten S. 214–223. Vgl. etwa Pr. 20 b, DW I, 340 ff. – Im übrigen berufen wir uns in der Echtheitsfrage auf J. Quint, der diese Predigt in seine Übersetzungssammlung aufgenommen hat und zu den als echt anerkannten (a. a. O. 492) und »relativ bestbezeugten« Predigten (a. a. O. 537) zählt. J. Quint bemerkt freilich, a. a. O. 492: »Die endgültige Entscheidung der Echtheitsfrage muß für diese Predigten der großen Gesamtausgabe vorbehalten bleiben.« Vgl. Th. C. van Stockum, Lukas 10,38–42, Catholice, calvinistice, mystice (zu Thomas, Calvin und Eckhart) 32–37. Vgl. den Aufbau der Predigt, der hier kurz angegeben sei: I Gegenüberstellung der beiden Frauen (Pf 47,15–25) 1. Maria (47,15–19): a) umfangen von der Güte Gottes; b) voll unaussprechlicher Sehnsucht; c) Genuß der »suavitas« Christi. 2. Martha (47,20–25): a) Reife aus der Übung des Lebens; b) Erkenntnis und Liebe; c) Christusdienst. (1. Exkurs: Was ist Genügen im Geiste? [47,26–48,3]) II Die Vollkommenheit Marthas und ihr Bei200
In dieser Predigt geht es Eckhart also um die »horizontale«, geschichtliche Entwicklung eines Lebensweges, nicht allein um die »vertikale« zeitlose Einheit des spirituellen Aktes. Die ontologische Einheit von Aktion und Kontemplation erscheint in ihrer geschichtlichen Projektion und gelangt dadurch zu verschiedenen Weisen der Darstellung: trotz der ursprünglichen Einheit stellt sich die Entwicklung der beschaulichen Maria zur wesentlichen Maria anders dar als die Entwicklung der aktiven Martha. Dennoch bleibt die Einheit gewahrt, denn in der Wesentlichkeit unterscheiden sich die beiden Schwestern nach ihrer Entwicklung nicht mehr. Durch einen Kunstgriff erreicht Eckhart, daß diese Wesentlichkeit im Verlauf der Predigt seinen Zuhörern immer gegenwärtig ist und sich so die Entwicklung an ihr orientieren kann: Marthas Entwicklung liegt bereits in der Vergangenheit, Mariens Entwicklung aber erst in der Zukunft. Die Predigt zeigt nun an der Entwicklung Mariens, daß die göttliche Dynamik auch vom beschaulichen Typ integriert werden muß, daß also auch das beschauliche Leben seine Vollkommenheit erst in der Wirkeinheit mit Gott erreicht. B. Die Verzückung Mariens Maria ist bei Eckhart nicht Symbol eines kontemplativen Endzustandes, sondern des anfangenden Menschen, der noch in der Übung steht und lernen muß.225 Das hat
225
spiel für Maria (48,3–51,34) 1. Marthas Lebenserfahrung (48,4–22) 2. Übung und Können, beispielhaft für Maria (48,23–37) 3. Marthas zweifache Vollkommenheit: Freiheit und Werk (48,37 bis 51,34); dazwischen eingeschoben zwei Exkurse: (2. Exkurs: Über die Bedeutung der zweifachen Namensnennung [48,38 bis 49,11] 3. Exkurs: Über die drei Wege der Seele zu Gott [50,12–51,9]) III Mißverständnisse des geistlichen Lebens und Mariens Vollendung zur Wesentlichkeit (51,34 bis Schluß) 1. Verweilen im Wohlgefühl (51,39.40; vgl. schon 48,27–32) (4. Exkurs: Tugend und Wille [52,4–17])2. Unberührbarkeit von Liebe und Leid; Widerlegung (52,18–40); daran anschließend: Maria muß erst Martha werden, um die wahre Maria zu sein (53,1–13) 3. Spiritualismus; Widerlegung (53,14–22) 4. Quietismus; Widerlegung (53,23 bis Schluß) (Die Übergänge sind sehr fließend und die ganze Predigt entwickelt sich locker, aber so konsequent, daß man die Ordnung durchaus spürt. Da man in der Interpretation den dialogischen Predigtstil, der dauernd Maria und Martha konfrontiert, nicht nachvollziehen kann, haben wir einen systematischeren Aufbau des Gedankens gesucht.) Vgl. Pf 53,3–7. 201
zwei Gründe: sie ist die jüngere der beiden Schwestern, und offenbar spielen bei Eckhart das Alter und die reife Lebenserfahrung eine nicht geringe Rolle für die Spiritualität;226 zudem steht sie im Zustand der ersten Verzückung, d. h. des Erlebens der Einheit mit Gott, in dem der Mensch Gott »und sich selbst in geistiger Weise in Gott« sieht.227 Gerade dieser Zustand ist aber für Eckhart nicht Maßstab der Vollkommenheit, sondern der Erweis der Einheit in der Wirksamkeit. Das Erlebnis Mariens bildet also nicht den Höhepunkt, sondern den Ausgangspunkt der mystischen Vollendung. Vom spirituellen Vollzug der Gottesgeburt her gesehen, befinden wir uns also hier an der »Stelle« ihrer ersten Empfängnis, der die Freiheit vorausgeht. Wie Eckharts Termini zeigen, ist das Erlebnis Mariens im Sinne der pseudo-dionysischen »ekstasis«-Lehre zu verstehen.228 In einem Exkurs über die drei Wege zu Gott, der den Verlauf der Predigt kurz unterbricht, wird die kontemplative Ekstatik als zweiter Weg beschrieben: ein Ergriffensein durch Gott, über alle geschaffene Fassungskraft hinaus, aber nicht zur unmittelbaren, unverhüllten Gottesschau. 229 Die Seele steht hier in einem Zwischenbereich zwischen Gott und der Kreatur, den Eckhart »Umkreis der Ewigkeit« nennt; das Medium der Sprache und damit der geschöpflichen Erfahrung bleibt hier gewahrt. 230 Dieses Erlebnis der gnadenhaften Gottnähe hat vorübergehenden Charakter, keinen »wesenhaften Bestand«.231 Gegenüber dieser Vorläufigkeit der ekstatischen »unio mystica« setzt nun in der traditionellen Theorie des beschaulichen Lebens die Vertröstung auf den himmlischen Endzustand ein, in dem die gnadenhafte Erfahrung durch ihre Dauer und
226
227 228
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230 231
Vgl. Pf 48,8–10; 47,21–23. Wichtiger als bei Eckhart ist dieses Thema bei Johannes Tauler, vgl. I. Weilner, Tauler und das Problem der Lebenswende. Pf 48,16.17. Vgl. die Stellen über die Verzückung (»zuke«) Pauli und Petri: Pf 48, 15–22; 50,18–38. Es handelt sich ganz allgemein um »ektasis« oder »raptus«; der präzise charismatische Sinn bei Thomas, S.th. 2–2 q 175, ist hier nicht gemeint. Vgl. zur mittelalterlichen EkstaseLehre U. v. Balthasar, DTA 23, 377–383. Vgl. Pf 50,21–38. Die unverhüllte Schau wird im Mittelalter Paulus nach 2 Kor 2–4 zugeschrieben, vgl. Pf 50,31 und Thomas, S.th. 2–2 q 175 a 3. Vgl. Pf 50,32.33. Pf 50,17.18. 202
durch ihre größere Unmittelbarkeit vollendet wird. 232 Die irdische Kontemplation mündet in der himmlischen Kontemplation, der »visio beatifica«. Diese Steigerung beschreibt Eckhart in dem dritten Weg der Seele zu Gott, der darin besteht, »Gott zu schauen unmittelbar in seinem eigenen Sein«,233 was kein Weg mehr, sondern ein »Zuhause-sein« ist: endgültige Teilnahme am innertrinitarischen Lebensvollzug.234 Nun kommt es aber Eckhart im Rahmen seiner Predigt nicht auf diese transzendente Vollendung, sondern auf die immanente Vollkommenheit in diesem Leben an. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Verzückung Mariens nicht als höchste irdische Vorstufe der Gottesgemeinschaft, denn sie ermangelt der Dynamik der Steigerung, die das irdische Vollkommenheitsideal kennzeichnet. Die irdische Vollkommenheit besteht nicht wie die himmlische Vollendung im ruhigen Genießen der Einheit mit Gott, sondern in der Vermittlung der Dynamik des göttlichen Heilswerkes, nicht in der Einheit der Schau, sondern in der Einheit des Wirkens. Mit dieser Unterscheidung greift Eckhart die augustinische Differenzierung vom transzendenten und immanenten Gesichtspunkt auf, und da der immanente Aspekt hier noch stärker betont wird als bei Augustinus, läßt sich verstehen, daß der schon bei Augustinus aufgewertete Marthatyp immer mehr in den Vordergrund gerät. So wie Augustinus aus dem immanenten Aspekt der Kirche die Kirchenführung des aktiven Petrus ableitet, so leitet Eckhart aus dem immanenten Aspekt der Vollkommenheit die Führung Marthas im Ideal der christlichen Vollkommenheit ab. Diesen Schritt hatte Augustinus noch nicht vollzogen; er stand der irdischen Möglichkeit eines kontemplativen Lebens nicht so skeptisch gegenüber wie Meister Eckhart, für den besonders die Gefahren einer kontemplativen Steigerung sichtbar sind. Und doch scheint hier Augustinus auf seine eigene Konsequenz gebracht, die sich aus der Unterscheidung der Aspekte ergibt, zumal er sich in der Praxis ebenso gegen die Irrwege einer kontemplativen Steigerung verwahrte, vor allem gegen die quietistische Versuchung.235 232
233 234 235
Vgl. Pf 50,39–51,9. Dort wird der himmlische Endzustand als dritter Weg zu Gott, der kein Weg mehr ist, sondern »Daheim-sein«, beschrieben. Vgl. zur Grenze der Schau in diesem Leben Thomas, S.th. 2–2 q 180 a 5. Pf 50,39.40: »... got sehen âne mitel in sînesheit!« Vgl. Pf 51,3–9. Vgl. Augustinus, De opere monachorum 17,20 PL 40, 564. 203
C. Falsche Versuche einer Steigerung oder Irrwege der kontemplativen Spiritualität Eckhart geht im Verlauf seiner Predigt der Reihe nach auf alle Mißverständnisse ein, die aus der Kontemplationsmystik entstehen konnten. Sie haben alle einen Zug gemeinsam: es sind Versuche, den an sich unentrinnbaren irdischen Verflechtungen dieses Lebens zu entkommen und einen »Schonraum« aufzubauen für die Ruhe, Unverletzlichkeit und Verfeinerung des Geistes. Diese aber sind als solche Verfestigungen gegen die Dynamik des christlichen Lebens, das niemals dem Sekuritätsgefühl nachgeben darf, wenn es sich nicht selbst verlieren will. Eckhart faßt sie deshalb allgemein in der Vorstellung des »Verweilens« zusammen, figuriert am Bild der sitzenden Maria. Verweilen im Wohlgefühl des Trostes und der Sicherheit Eckhart wendet sich gegen einen Versuch der Institutionalisierung des mystischen Erlebnisses, dessen Wesen gerade in seinem vorübergehenden Charakter liegt, der einerseits auf die himmlische Vollendung, andererseits auf ihre irdische Vorbereitung verweist. Wer dieses Erlebnis um seiner selbst willen festhalten will, beraubt es gerade seines eigentlichen Gewinnes, seiner charismatischen Bedeutung.236 Geschickt interpretiert Eckhart Marthas Mißbilligung der sitzenden Maria mit dem Verdacht, »daß sie, die liebe Maria, irgendwie mehr um des wohligen Gefühls als um des geistigen Gewinnes willen dagesessen habe. Deshalb sprach Martha: ›Herr, heiß sie aufstehen!‹, denn sie fürchtete, daß sie (Maria) in diesem Wohlgefühl stecken bliebe und nicht weiter käme.«237 Für Eckhart ist das mystische Erlebnis kein Besitz, an dem sich der Mensch länger erfreuen kann, noch ein Erweis der Einheit mit Gott. Marthas Wunsch fordert von Maria einen realen Beweis ihrer Gottesgemeinschaft, über den man sich nicht täuschen kann: »Meiner Schwester dünkt, sie könne, was sie wolle, solange sie bei dir in deinem Troste sitze. Laß sie uns erkennen, ob dem so sei, und heiß sie aufstehen und von dir gehen!«238 Die Einheit des Wollens muß sich an der Einheit des Wirkens erweisen; das innere Werk im äußeren fruchtbar sein. Das aber ist, wie wir schon gesehen haben, nur durch die Übung im Leben selbst möglich; nicht 236 237 238
Vgl. U. v. Balthasar, DTA 23, 457.458; ders., Aktion und Kontemplation 367–369. Pf 48,30–32. Pf 48,24–26. 204
die innere Gesinnung allein, sondern auch das Können entscheiden über die Vollkommenheit. An dieser Stelle geht Eckhart über den Universalismus der Intention hinaus, der sich sonst gelegentlich in seinen Predigten zeigt.239 Die allgemeine Intention wird in der Verzückung erlebt und gefestigt, aber ihr Vollzug ist an die Übung gebunden. Der immanente Aspekt der Vollkommenheit verlangt also gerade die Aufgabe des Trostes und der Süßigkeit der Schau. Dieses Aufgeben liegt im Wesen der Schau selbst, deren Sinn die Fruchtbarkeit ist: »Gott hat es in der Einheit der Schau auf die Fruchtbarkeit des Wirkens abgesehen.«240 Das konkrete Können hingegen ist nicht an die Schau gebunden; seine Erkenntnis stammt aus der Übung, aus dem Experiment des tätigen Lebens. Dies muß Maria von Martha erst lernen, wenn sie den Sinn ihrer Schau erfüllen will. Sie darf sich nicht »verzärteln«, »im Wohlgefühl schwelgen«, 241 noch versuchen, aus dem einmaligen Erlebnis eine Lebenstechnik zu machen, als sei sie nicht betroffen von der konkreten irdischen Existenz. Unberührbarkeit und Unverletzlichkeit Eine zweite Versuchung der Beschaulichkeit besteht darin, daß ihr Erlebnis den Menschen über alle Betroffenheit hinausführt. So glaubt sich der beschauliche Mensch unverletzlich, unangreifbar in seiner Einheit mit Gott. Eckharts eigene Äußerungen über die Gelassenheit des Gerechten scheinen diese Auffassungen zu bestätigen.242 239
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Vgl. auch BgT, DW V, 43.44, wo es um den Vorrang des inneren Werkes geht, das das äußere durchformt. Zum Übungscharakter vgl. RdU, DW V, 207,8–208,10. Pf 18,32.33, vgl. dazu unten S. 219–223. Vgl. Pf 51,15.16; 47,30 ff.; 48,7.8. Vgl. in derselben Predigt 47,35–48,2: »Denne ist er (der Geist) in redelîcher genüegde, sô lieb unde leit der crêatûre daz obreste wipfellîn (einer der Ausdrücke für den Seelengrund) niht geneigen mac.« Eckhart erklärt diesen Satz später bei der Widerlegung des Mißverständnisses, vgl. 52,34.40. Die Formel »unberüerlîch von liebe unde von leide« (52,19.20), in die Eckhart das Mißverständnis faßt, kommt bei ihm selbst vor, vgl. DW I, 128,1.2: »... daz wir uns halten, als ob wir tôt sîn, daz uns niht berüere weder liep noch leit.« DW I, 162,12.13. «... wan die krefte berüeret werden und berüerent, sô verliesent sie irn magetuom.« 135,4.5: »Man sol grunttôt sîn, daz uns berüere weder liep noch leit.« Vgl. auch DW V, 412,1.2: »... daz der geist alsô unbeweglich stande gegen allen zuovellen 205
Was kann den Menschen noch erreichen, der so restlos abgeschieden, sich selbst abgestorben und seiner Eigenheit entfremdet, gelassen und arm ist, so daß er »nichts will, nichts weiß, nichts hat«?243 J. Quint bemerkt dazu: »Scheint es doch, als tauge dieses leere Gefäß, das nichts will, nichts hat und nichts weiß in geistiger Armut, nur dazu, öde und tatenlos in die stille Wüste des Unendlichen zu starren.«244 Dieses Mißverständnis, das durch Eckharts eigene Abgeschiedenheitslehre provoziert werden konnte, muß es unter seinen Zuhörern gegeben haben, denn er geht ausdrücklich darauf ein: »Nun sagen unsere biederen Leute, man müsse so vollkommen werden, daß uns keinerlei Freude mehr bewegen könne und man unberührbar sei für Freude und Leid.« 245 In der Widerlegung dieses Mißverständnisses unterscheidet Eckhart zwischen der Unverletzlichkeit, die sich auf die Gemeinschaft mit Gott bezieht, und der Unverletzlichkeit durch natürliche Regungen. Das Signum des Vollkommenen liegt nun darin, daß er zwar von allen Dingen, Umständen und Regungen betroffen wird, daß aber nicht seine Einheit mit Gott davon betroffen werden kann.246 Gäbe es die Betreffbarkeit des Menschen nicht, dann wäre die Vollkommenheit nicht mehr ein menschlicher Erweis der Willenseinheit mit Gott; gerade inmitten der Betreffbarkeit muß sich diese Einheit als haltbar erweisen und für alles Betreffende fruchtbar werden. Wie Christus am Kreuz gerade in seiner menschlichen Verletzlichkeit seinen göttlichen Gehorsam erwies, so dient der Mensch in seiner Betreffbarkeit durch die Kreatur der Vermittlung des göttlichen Heilswillens an ihr. 247 Die vergöttlichende Wirkung des spirituellen Vollzugs der Gottesgeburt hebt den Menschen nicht aus den kreatürlichen Verflechtungen in verfeinerte Regionen geistiger Unangreifbar
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247
liebes und leides, êren, schanden und lasters als ein blîgîn berc unbewegelich ist gegen einem kleinen winde.« Pf 280,27; 282,3; 282,38. Einleitung q 34. Pf 52,18–20. Vgl. Anm. 242. Vgl. Pf 52,34–40: »Ach daz wirt heiligen wol, daz in nihtes niht von her ûz von gote gewegen mac, wirt joch das herze gepînget ... daz doch der wille einvalteclîche bestê in gote, alsô sprechende: herre, ich dir unde dû mir. Swaz dar in vellet, daz enhindert niht die ewige sêlde, alle die wîle ez niht vellet in daz oberste wipfellîn des geistes dort oben, dâ er stât in einikeit gotes aller liebestes willen.« Vgl. 48,1.2. Vgl. Pf 52,23–31. 206
keit, sondern sie stellt ihn gerade in die Verantwortung seiner kreatürlichen Verflechtungen hinein, um auch diese zu durchdringen. Deshalb bekämpft Eckhart besonders die verfeinerte Form des Glaubens an die Unbetreffbarkeit, die spiritualistische Versuchung. Spiritualismus Man könnte Eckharts Betonung des kreatürlichen »Nichts« und sein ungeschichtliches Verständnis der göttlichen Heilsökonomie spiritualistisch mißverstehen, wenn darin im neuplatonischen Sinne eine zweite Welt ideeller Realitäten aufgebaut werden sollte. Das ist jedoch nicht beabsichtigt, sondern Eckhart betont in seiner Analogielehre die Anwesenheit der göttlichen Dynamik in der Kreatur und die Transparenz der Kreatur für diese Dynamik. Ebenso zielt sein Ethos der Freiheit nicht auf einen Rückzug aus der Welt und der Geschichte, sondern auf ihre Einordnung in den ontologischen Prozeß der »creatio continua« und »incarnatio continua«. Es fordert keine Entsinnlichung wie die neuplatonischen Systeme, sondern Transparenz für das Sein. Auch das spiritualistische Mißverständnis begegnet Eckhart bei seinen Zuhörern: »Nun wähnen unsere biederen Leute, es dahin bringen zu können, daß das Gegenwärtigsein sinnlicher Dinge für ihre Sinne nichts mehr bedeute. Das aber gelingt ihnen nicht. Daß ein peinsames Getön meinen Ohren so wohltuend sei wie ein süßes Saitenspiel, das werde ich nimmermehr erreichen.« 248 Man spürt in diesen Sätzen freilich ein gewisses Bedauern auch bei Eckhart selbst, daß man sich der leiblichen Betroffenheit nicht entziehen kann. Ist doch für ihn der Leib nur gleichsam ein »Ausläufer« der seelischen Struktur des Menschen, denn die Gottebenbildlichkeit hat er als »Adel der menschlichen Seele« ganz in die Geistigkeit des Menschen hineinverlegt.249 Aber auch dies ist wiederum nicht so zu verstehen, als sei darin ein Leib-SeeleDualismus begründet, wobei der Leib vom Adel der Gottebenbildlichkeit ausgeschlossen bliebe. Den leiblichen Gegebenheiten wird vielmehr die Gottebenbildlichkeit durch die Geistigkeit, die überall umgreifend anwesend ist, vermittelt. Eckhart
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Pf 53,14–17. Vgl. VeM, DW V, 111,9 ff. 207
vertritt nur eine bestimmte Ordnung der Leib-Seele-Einheit, und auf diese Ordnung richtet sich sein Ethos: »Darüber soll man verfügen, daß, wenn die Einsicht es (d. h. die sinnliche Störung) wahrnimmt, daß dann ein von Erkenntnis geformter Wille zu der Einsicht stehe und sie dem Willen gebiete, sich nicht darum zu kümmern, und der Wille (dann) sagte: Ich tu’s gern.«250 Eckhart vertritt keine spiritualistische Vereinseitigung, sondern die ganzheitliche Ordnung des Menschen. Die Aufgabe des sittlichen Kampfes ist die Gleichrichtung von Einsicht, Wille und Sinnlichkeit. Auch hier wird die Übung gefordert, die dann zum Können, zur selbstverständlichen Leichtigkeit führt.251 Quietismus Die »quies« und die »vacatio mentis« gehören zur Grundstruktur des kontemplativen Lebens, das Augustinus geradezu als »vita otiosa« beschreibt.252 Das Bild der ruhenden Maria beherrschte die mystische Tradition. Freilich bezog sich diese Ruhe nur auf die »exteriores actiones«, nicht auf die inneren Akte der Kontemplation, so daß sie sich bei näherer Betrachtung selbst als »operatio« erwies.253 Die Konzentration auf die »eine notwendige« Tätigkeit läßt jedoch alle anderen Tätigkeiten verblassen. Die Empfängnisbereitschaft für die »gratia contemplationis« fordert die Ruhe von aller kleinlichen Besorgtheit um die Dinge dieser Welt. Auch Eckhart steht in seiner Lehre von Abgeschiedenheit, Armut und Gelassenheit in dieser Tradition, aber bei ihm liegt der Akzent nicht auf der Ruhe, sondern auf der Freiheit.
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Pf 53,17–20: »Aber daz sol man haben, daz ein redelich gotgeformeter wille blôz stande alles nâtiurlîchen lustes, swenne ez bescheidenheit an schouwet, daz si dem willen gebiete, sich abe ze kêrende, und der wille spreche: ich tuon ez gerne.« Vgl. Pf 53,20–22: »Sehent, dâ würde krieg ze luste, wan swaz der mensche muoz mit grôzer arbeit erstrîten, daz wirt im ein herzenfröide und denne wirt es fruhtber.« Vgl. Augustinus, Sermo 104,3,4 PL 38, 617. Bei Eckhart findet sich diese Bezeichnung nicht; die Thomas-Paraphrase Pf 324–331, in der die Ruhe des inneren Menschen mit den neun Vorrangigkeitsgründen des Aquinaten (S.th. 2–2, q 182 a 1 resp.) gestützt wird, dürfte ihm wohl kaum zuzuschreiben sein (vgl. unten 3 a). Vgl. Thomas, S.th. 2–2 q 180 a 6: »operatio intellectus, in qua contemplatio essentialiter consistit ...« 208
Seit Augustinus wurde die Muße der Kontemplation durch den Hinweis auf die »necessitas vitae« gegen quietistische Mißverständnisse abgesichert. Er stellte die »occupatio ex necessitate« der »suavitas ex caritate« gegenüber.254 Die eigentliche Erfüllung der Gottesliebe liegt in der ruhigen Freude über das »pasci a Domino«. Aber diese Ruhe darf sich der Mensch nicht überheblich selbst gestatten. Sie wird ihm gnadenhaft gewährt und entbindet nicht von den Notwendigkeiten des praktischen Liebesdienstes. So befindet sich der Fromme in der Spannung zwischen den Anforderungen des täglichen Lebens und dem Genuß der »Süße« in der Einheit mit Gott. Diese Spannung darf er nicht von sich aus leichtfertig in der einen oder der anderen Richtung auflösen; auch hinter den tätigen Anforderungen des Bruderdienstes steht Gott. Der Marthadienst bedeutet: »Dominum pascere.«255 Trotz dieser Absicherung bleibt der Quietismus immer mögliches Mißverständnis und latente Gefahr der Kontemplationsmystik, da das Modell »vita activa – vita contemplativa« immer wieder dazu führt, die Kontemplation gegenüber der Tätigkeit abzugrenzen und sie wie in der Mönchstheologie Cassians in der Beziehungslosigkeit einer »vita solitaria« anzusiedeln, deren Lob noch Thomas von Aquin angestimmt hat.256 Eckhart, der das Einsiedlertum ebenso ablehnt wie ein Verweilen in der Kontemplationsmuße, muß sich mit dieser Gefahr auseinandersetzen: »Nun wollen es gewisse Leute sogar so weit bringen, daß sie der Werke ledig werden. Ich sage: das kann nicht sein!«257 Eckhart begründet diese eindeutige Ablehnung der quietistischen Versuchung in der Maria-Martha-Predigt nun nicht wie in den Reden der Unterscheidung aus der »necessitas vitae«, sondern aus der Fruchtbarkeit der Gottesgemeinschaft, deren Dynamik sich in die Wirksamkeit fortsetzen muß. Das Mißverständnis, daß die Werke nur den »incipientes« in der Vorbreitung der Schau nützlich seien, begründet in der Präparationstheorie des Modells »vita activa – vita contemplativa«, wehrt er mit der 254 255 256
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De Civ. Dei, 19,19 PL 41, 647. Vgl. auch Thomas, a. a. O. q 182 a 1 ad 3. Sermo 103 PL 38, 613.614. Vgl. a. a. O. q 188 a 8 resp.: »... id quod est solitarium, debet esse sibi per se sufficiens. Hoc autem est cui nihil deest: quod pertinet ad rationem perfecti. Et ideo solitudo competit contemplanti qui iam ad perfectum pervenit ... Sicut igitur quod iam perfectum est, praeeminet ei quod ad perfectionem exercetur; ita vita solitariorum, si debite assumatur, praeeminet vitae sociali.« Pf 53,23.24. 209
freien Anwendung einer thomistischen Distinktion ab. Thomas hatte im Vergleich zwischen Aktion und Kontemplation zwischen zwei Verdienstarten unterschieden: ein Verdienst für den Nachlaß der Schuld und ein Verdienst für die Erreichung der himmlischen Glorie. Das erste Verdienst wird im Sühnecharakter des aktiven Lebens besser erlangt als im beschaulichen Leben, das zweite Verdienst in der Reinheit und Geistigkeit des kontemplativen Lebens besser als im »Erdenstaub« des aktiven Lebens.258 Eckhart unterscheidet ebenfalls diese beiden Verdienstarten, ohne sie jedoch auf das Modell zu beziehen; vielmehr gilt das sühnende Verdienst für die noch Lernenden, deren Vollkommenheit noch nicht wesentlich geworden ist, und zu ihnen zählt die sitzende Maria; das Verdienst für die himmlische Glorie hingegen wird von jenen erreicht, die aus ihrer wesentlichen Vollkommenheit heraus wirken, und zu ihnen zählen Martha sowie die zukünftige Maria. 259 Die thomistische Distinktion scheint hier also gegen Thomas angewendet, der gerade mit ihr die Wertüberlegenheit des kontemplativen Lebens begründen wollte, während Eckhart die Dynamik des Apostolats, sofern es aus dem Sein in Gott stammt, hervorhebt. Der Gegensatz zu Thomas ist jedoch nicht so groß, wenn man bedenkt, daß auch dieser zumindest die größere Intensität des Verdienstes jenen Aktivitäten zuspricht, die sich »mit dem Fortschritt der anderen« beschäftigen, also dem Apostolat von Predigt und Lehre, auf das Eckhart hier ebenfalls anspielt.260 So könnte Eckhart auch dem Satz zustimmen, mit dem Thomas seine Gedanken über das doppelte Verdienst abschließt: »... es scheint, allgemein gesprochen, Sache einer stärkeren Liebe zu sein, daß ein Mensch 258 259
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Vgl. Sent. d 35: 1, 4 sol. 2 und dazu U. v. Balthasar, DTA 23, 461. Vgl. Pf 53,25–36: »Dâ von dô Maria saz bî den füezen unsers herren, dô lernete si, wan si aller êrst ze schuole was gesetzet unde lernete leben. Aber dar nach dô Kristus ze himel fuor unde si den heiligen geist enpfienc, dô vienc si aller êrst an ze dienende und fuor über mer unde brediete unde lêrte unde wart ein dienerin der junger (Vorstellung von Maria als Reisebegleiterin der Missionare). Sô die heiligen ze heiligen werdent, denne aller êrst (danach erst) vâhent sie an tugende ze würken, wan denne (erst) samenent sie hort êwiger sêlden. Swaz dâ vor ist gewürket, daz giltet schulde unde leit wîze abe (gilt Schuld und Strafe ab). Des vinden wir ein geziugnüsse an Kristô. Von dem anbeginne daz got mensche wart und mensche got, dô vieng er an ze würken unser sêlikeit unz an das ende, daz er starb an dem kriuze. Enkein gelit was an sîme lîbe, ez enüebete sunderlich tugende.« Vgl. Thomas, Sent. d 35 a. a. O.; S.th. 2–2 q 188 a 6 resp.; Eckhart: vgl. Anm. 259. 210
unter Hintansetzung der Tröstung, die er in der Beschauung erfährt, die Ehre Gottes in der Bekehrung der anderen sucht.«261 Man darf jedoch nicht übersehen, daß solche Bemerkungen bei Thomas nicht die Regel sind. Eckharts Wertung der Aktion führt doch weit über Thomas hinaus: die Vollendung der Spiritualität in der Dynamik des Handelns ist für ihn nicht wie für Thomas eine Ausnahme innerhalb der allerseits betonten Vorrangigkeit der Kontemplation, und sie beschränkt sich nicht auf die vergeistigtesten Akte der »vita activa«, auf die Thomas seine Ausnahme bezieht; sie wird vielmehr mit innerer Notwendigkeit von der ontologischen Struktur gefordert, die sich in der Spiritualität vollzieht, und sie erstreckt sich auf alle Tätigkeiten des Menschen, auf sein »mannigfaches Gewerbe« in Aszese, Arbeit und Apostolat.262 Die allgemeine Forderung der dynamischen Fruchtbarkeit in der Vollkommenheitslehre ist Eckharts besondere Leistung und eine Korrektur an dem Aufstiegsschematismus von den »exteriores actiones« zum »simplex intuitus veritatis«, wie er sich sonst bei den Scholastikern findet. 263 Im Verständnis des Werkes als Zeugnis und Vollendung des christlichen Lebens liegt die notwendige christliche Aufwertung der »vita activa« und zugleich eine Abwehr der im Modell »vita activa – vita contemplativa« latent weiterwirkenden Ideologien. D. Die eigentliche Steigerung: Marthas Wirken in der Zeit Der Vollkommene Eckharts vermag Erreichtes nur zu halten, indem er über es hinaus gelangt. Deshalb muß sich der christliche Lebensweg an dem Punkt, an dem er die Welt ganz verlassen zu haben scheint und an dem der Christ wie Maria gleichsam zu Gott entrückt ist, wieder umwenden. Dabei zeigt sich, daß man die Welt, nachdem man sie gelassen hat, um so fruchtbarer gestalten kann. Im Blick der Freiheit und 261 262
263
Sent. d 35 a. a. O. Vgl. Pf 50,13.14: »mit manicvaltigem gewerbe mit brinnender minne in allen crêatûren got suochen.« Vgl. dazu oben S. 173–176. Vgl. Bernhard von Clairvaux, De consideratione 5,14 PL 182, 806 C; Richard von St. Viktor, De gratia contemplationis 1,6 PL 196, 70 B ff.; Thomas von Aquin, S.th. 2–2 q 180 a 4 ad 3. Thomas hält jedoch allgemein an der Einheit des kontemplativen Aktes fest, a. a. O. a 3 resp.; vgl. auch David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes (hrsg. v. K. Ruh). München 1965. 211
Gelassenheit wird die Immanenz der transzendenten Wirklichkeit in den Dingen sichtbar. Die Freiheit von den Dingen erweist sich so als eine Freiheit zu den Dingen. Diese Umwendung fordert Eckhart für Maria; ihren Sinn verdeutlicht er an Marthas Wirken in der Zeit, d. h. an der Vollkommenheit des aktiven Lebens. Diese Vollkommenheit betrachtet Eckhart unter drei Aspekten: der Erkenntnis, die aus der Übung des tätigen Lebens erwächst, der göttlichen Dynamik, die im tätigen Leben wirksam wird, und der Wesentlichkeit, die Freiheit und Fruchtbarkeit im spirituellen Vollzug des ontologischen Heilswerkes miteinander verbindet. Die Erkenntnis des tätigen Lebens: »Das Leben schenkt die edelste Erkenntnis«264 Eckhart stellt dem beschaulichen Erlebnis, figuriert in der ruhenden Maria, die Lebenserfahrung des aktiven Menschen, figuriert in der arbeitenden Martha, gegenüber. Im beschaulichen Erlebnis der Verzükkung erkennt der Mensch durch das »êwic lieht« (lumen supernaturale) immer nur sich selbst und Gott, nicht aber sich selbst ohne Gott. In der Einheit des Erlebnisses verblaßt nämlich die Schärfe der Ungleichheit, d. h. nur die Identität, nicht aber die Differenz zwischen dieser Identität und der irdischen Differenzierung wird gesehen.265 Die Erkenntnis dieser Differenz ist jedoch für die Vollkommenheit in diesem Leben notwendig, und sie kann nirgends genauer und besser erkannt werden als im Experiment des tätigen Lebens selbst: »Das Leben läßt Lust und Licht besser erkennen als alles, was man in diesem 264
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Vgl. Pf 48,8–22: »Marthâ bekande baz Marîen denne Marîâ Marthen, wan si lange unde wol gelebet hete, wan leben gît daz edelste bekennen. Leben bekennet baz lust unde lieht denne allez, daz man in disem lîbe under got enpfâhen mag, und etelîche wise lûterr denne êwic lieht gegeben müge. Ewig lieht (lumen supernaturale) gibet ze erkennende sich selber unde got, aber niht sich selber âne got. Dâ ez sich selber alleine siht (Änderung der Interpunktion Pfeiffers), dâ merkent ez baz, waz gelîch und un gelîch ist. Daz bewîset sanctus Paulus und ouch die heidenischen meister. Sant Paul sach in sînem zuke got unde sich selber nâch geistes wîse in got, unde was doch niht billîche wîse in im, ein ieglîche tugende ze erkennen an daz nehste, unde daz was dâ von, daz er sich an den werken niht geüebet hete. Die meister kâmen mit üebunge der tugende in sô hoch bekantnüsse, daz sie eine ieglîche tugent bildeclîche nêher bekanten denne Paulus oder dehein heilige in sînem êrsten zuke.« Vgl. a. a. O. 212
Leibe unterhalb Gottes empfangen kann, und in gewisser Weise reiner, als es das Licht der Ewigkeit zu verleihen vermag.«266 Die Lebenserfahrung nimmt also gewissermaßen eine Mittelstellung zwischen einer rein immanenten Erfahrung und der transzendentalen Einheitserfahrung ein. Sie lehrt einerseits die Freiheit, indem sie zeigt, daß nichts außer Gott letzte Bindung des Menschen sein kann; andererseits erkennt sie aber auch die Differenz zwischen dieser letzten Identität und den immanenten Aufgaben des Menschen. So verbindet sie die Gesamtschau mit der Einzelerkenntnis. In der Gesamtschau ist sie zwar dem in der Verzückung wirkenden »lumen supernaturale« unterlegen, aber die zusätzliche Einzelerkenntnis hat sie ihm voraus, weil sie aus der Übung im Konkreten erwächst. Diese Überlegenheit in der Einzelerkenntnis hat schon eine rein immanente Erfahrung: »Die heidnischen Meister ... gelangten durch Übung der Tugenden zu so hoher Erkenntnis, daß sie eine jegliche Tugend anschaulich genauer erkannten als Paulus oder irgendein Heiliger in seiner ersten Verzückung.« Daß Paulus die Tugenden nicht im einzelnen erkannte, »kam daher, daß er sie (noch) nicht in Werken geübt hatte»267. In der christlichen Lebenserfahrung sollen nun aber immanente Erfahrung und transzendentale Einheitserkenntnis zusammenwirken, und dies geschieht in der Übung des aktiven Lebens. Gegenüber allen mystischen Schwärmern hält Eckhart an der Notwendigkeit 266
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A. a. O. J. Quint, Untersuchungen I, 233, bietet für diese Stelle eine handschriftliche Parallele, in der der Gedanke klarer zum Ausdruck kommt. Der doppelte Vergleich von Pf 48,10–12 paßt nicht ineinander: einerseits soll das Leben »lust unde lieht« besser erkennen als alles »in disem lîbe«; dabei muß man den Vergleichspunkt im Erkennen sehen und sich dann fragen, worin die andere Erkenntnis »in diesem lîbe« besteht; andererseits soll das Leben »lust unde lieht« reiner erkennen als das »lumen supernaturale«. In diesem Satz scheinen eher zwei Vergleiche sich zu überlagern; einmal werden »lust und lieht« mit »in diesem lîbe under got« verglichen, und gerade dieser Vergleich ist die Leistung der Lebenserkenntnis: Leben erkennt »lust unde lieht« als besser als alles »in disem lîbe«. Der zweite Vergleich hat einen anderen Vergleichspunkt: hier geht es um die Erkenntnis, einerseits des Lebens, andererseits des »lumen supernaturale«. In der von Quint gebotenen Parallele werden die beiden Vergleichspunkte auseinander gehalten: »(Aber sprichet ein lerer:) Leben git das edelst bekennen; leben bekennet me denn lust oder lieht. Alles das man in disem lib under got enphahen mag, das git alles wol leben; und in etlich wise git leben me luter bekennen denn ewig licht gegeben múg.« Dieser Text ist klar verständlich. A. a. O. Anm. 264. 213
der aktiven Übung fest: der Paulus der ersten Verzückung mußte sich erst in Werken üben, ehe er zur Vollendung der Gottesgemeinschaft gelangte; 268 die beschauliche Maria muß erst aufstehen, den Trost des Herrn verlassen und an Marthas Dienst teilnehmen, ehe sie richtig erkennen kann, ob sie dem Herrn nicht nur im Wollen, sondern auch im Können verbunden ist.269 Die Erkenntnis des tätigen Lebens ist eine experimentelle Erfahrung, aus der Übung gewonnen und zum Können vollendet. Sie ist wohl immanent, aber das bedeutet nicht, daß sie die vorgegebenen transzendentalen Bezüge übersieht, in die das christliche Leben eingeordnet ist, sondern vielmehr, daß sie die Immanenz dieser Bezüge im Leben herausarbeitet. Sie ist wohl experimentell, aber nicht voraussetzungslos, denn sie möchte die Voraussetzungen des Lebens im Sein so in den Werken üben, daß sie sie gekonnt vollziehen kann. Die Reife der christlichen Lebenserfahrung, mit der bei Eckhart Martha ausgezeichnet ist, läßt daher das christliche Leben dem Sein entsprechend, d. h. wesentlich werden.270 Sie integriert sowohl die Freiheit von den Dingen und damit die intentionale Einheit mit Gott als auch das Wirken in der Zeit und damit die Einheit mit der göttlichen Dynamik. Die Erkenntnis in und an der Wirksamkeit ist für Eckhart die wichtigste mystische Erfahrung in diesem Leben; sie bildet, wie wir schon gesehen haben, den Maßstab für die Einheit mit Gott. Das Erlebnis in der Verzückung kann dieser Maßstab nicht sein, denn es vermag höchstens die Willenseinheit, nicht aber jene Wirkeinheit zu erweisen, auf die in Eckharts dynamischer Spiritualität alles ankommt. Die Erkenntnis des aktiven Lebens ist dabei insofern »mystisch«, als sie aus der Ergriffenheit durch das Mysterium der dynamischen göttlichen Heilsökonomie stammt; sie ist aber zugleich praktisch anwendbar, weil sie diese Dynamik immer auf das eigene konkrete Werk bezieht. So versteht man, daß Eckhart sie als »edelste Erkenntnis« bezeichnet, wenn sie zur Lebenserfahrung und zum Können ausgereift ist. Die Bedeutung dieser Erkenntnistheorie der Lebenserfahrung in Eckharts Predigt über Maria und Martha liegt darin, daß hier zum erstenmal eine Spiritualität des aktiven Lebens sichtbar wird. Vor Eckhart wurde die spirituelle Bedeutung des aktiven 268 269 270
A. a. O. Vgl. Pf 48,24–32. Vgl. Pf 51,29–34. 214
Lebens dadurch erreicht, daß es in das kontemplative Leben integriert wurde. Christliche Spiritualität ohne Kontemplation blieb immer unvollkommen; sie hatte nur sühnenden Charakter. Eckhart gelingt es nun, die aktive Lebensform in ihrer Vollkommenheit zu zeigen, indem er die ihr eigene Erkenntnis aufwertet. Diese Aufwertung ergibt sich aus der Dynamik seiner theologischen Konzeption. Solange das transzendente Sein nur in seinem unbewegten Abstand zum irdischen Wechsel gesehen wurde, mußte die Vollkommenheit in der Ruhe der transzendenten Einheit gesucht werden. Dafür bot sich die Theorie der Kontemplationserkenntnis und des kontemplativen Lebens geradezu an. Wird aber die unaufhörliche immanente Dynamik des transzendenten Seins gesehen, dann muß die Vollkommenheit die Wirkeinheit mit dieser Dynamik suchen und die »vita activa« erscheint in neuer Beleuchtung. Schon in Thomas von Aquins Lehre von der Berufsarbeit, die von der Dynamik der »creatio continua« ausgeht, zeigen sich die spirituellen Konsequenzen der ontologischen Dynamik.271 In Eckharts Ontologie tritt dieser Aspekt noch schärfer hervor und die Dynamik wird auch im spirituellen Vollzug durchweg beherrschend; auch eine kontemplative Spiritualität kann sich ihr nicht entziehen. Die Dynamik des tätigen Lebens: »Erkaufet die Zeit!«272 Eckhart unterscheidet in der menschlichen Wirksamkeit zwischen »werc« und »gewerbe«. Mit dieser Unterscheidung soll eine rein äußerliche Betriebsamkeit ohne innere Ausrichtung (»werc«) aus der Spiritualität des aktiven Lebens ausgeschlossen werden. Eckhart gebraucht dafür ein Bild: einem Menschen, »in dem« die Dinge stehen, der gleichsam innerlich von den Dingen besetzt ist, treten sie dauernd als Sorge vor Augen und behindern ihn: er ist sorgenvoll.273 Nun wurde aber gerade mit diesem Bild von Augustinus bis Thomas der Marthatadel des Herrn (Lk 10,42) interpretiert; auch Tauler faßt ihn später so auf: »Unser Herr tadelte Martha nicht um der Arbeit willen, sondern weil sie (zuviel) Sorge darauf verwandte.«274 In Eckharts Vorstellung 271 272
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Vgl. A. Auer, Christsein im Beruf 64–66. Eph 5,16. Eckhart macht diese Paulusstelle neben Joh. 12,35 zum Mittelpunkt seiner Ausführungen über das »werc und gewerbe in der zît«, vgl. Pf 49,17–50,2. Vgl. Pf 49,19: »... die stânt mit sorgen, die in (statt »âne«; nach J. Quint, Überlieferung 170) hindernüsse stânt in allem irm gewerbe.« V 178,23.24. 215
der vollkommenen Martha paßt dieser Tadel nicht hinein, er interpretiert ihn also um. Hier geht er über die Tradition der Rechtfertigung des Marthadienstes aus der »necessitas vitae« abermals hinaus. Die Umdeutung des Marthatadels geschieht in drei Schritten. Den Ansatz bildet die These der ganzen Predigt, daß Maria in der Verzückung der anfangende, lernende Mensch, Martha aber der vollkommene, wesentliche Mensch sei. In der Tradition vor Eckhart wurden die Verhältnisse genau umgekehrt gesehen, doch finden sich in der Auslegung der Perikope zwei Topoi, auf die Eckhart zurückgreifen konnte: einmal die stillschweigende Voraussetzung, daß Maria nach dem kurzen Disput selbstverständlich aufgestanden sei, um ihrer Schwester zu helfen, eine Folgerung aus der Argumentation mit der »necessitas vitae«; zum anderen wurde seit Augustinus die zweifache Namensnennung der Martha durch Christus als Ausdruck der besonderen Zuneigung Christi ausgelegt: »repetitio nominis indicium est dilectionis«.275 Eckhart bezieht sich in seiner Predigt auf eine Ausdeutung dieses augustinischen Axioms bei Isidor:276 Keiner werde je verloren gehen, den Christus je beim Namen nannte; nun aber habe er Martha gar zweimal beim Namen genannt. Daraus schließt Eckhart, daß sie die Fülle der Vollkommenheit sowohl in zeitlicher (immanenter) wie ewiger (transzendenter) Sicht besessen habe: die Vollkommenheit in zeitlichem Wirken und die Vollkommenheit der Einheit mit Gott. Beides gehört in der eckhartschen Spiritualität zusammen.277 Dies vorausgesetzt, geht nun Eckhart auf den Marthatadel selbst ein. In einer ersten Auslegung versteht er ihn nicht als Tadel, sondern als Vertröstung: Christus könne verstehen, daß Martha um ihre untätige Schwester besorgt sei, aber er gebe ihr die
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Augustinus, Sermo 103, II, 3 PL 38, 614. Vgl. auch Haymo von Halberstadt, Hom. de tempore VI PL 118, 768 C; Hugo von St. Viktor, Alleg. in Nov. Test. 4,13 PL 175, 816 C. Die Stelle bei Isidor ließ sich nicht finden. – Isidor steht in seinen Äußerungen über das Modell Gregor dem Großen nahe. Vgl. Liber differentiarum II, 34 PL 83, 90 D – 91 C; Allegoriae quaedam scripturae sacrae PL 83, 124 D – 125 A. Der kleine pseudo-isidorische Traktat, »opusculum de vita activa et vita contemplativa«, wurde bereits oben, Teil 1, Kap. III, 1 b behandelt. Vgl. Pf 49,12–17. 216
Versicherung, »daß Maria (noch) werden würde, wie sie es wünschte«.278 Diese Auslegung bewegt sich ganz im Ansatz der Predigtthese. In der zweiten Auslegung wird die Sorge Marthas um ihre Arbeit zwar akzeptiert, jedoch unterscheidet Eckhart dabei zwischen der sorgenden Verantwortung mit Gott für die Kreatur und der sorgenvollen Behinderung durch die Kreatur. Dieser Distinktion entspricht die Unterscheidung von »werc« und »gewerbe«, zwischen der unfreien Hingabe an das Vielerlei der Dingwelt und der freien Hingabe an Gott im Gestalten der Dinge. Eckhart differenziert also das Herrenwort, »du bist besorgt und bekümmerst dich um vieles«, dementsprechend: »Du stehst bei den Dingen, nicht aber stehen die Dinge in dir. Die aber stehen sorgenvoll, die in allem Gewerbe behindert sind. Hingegen stehen die ohne Behinderung, die alle ihre Werke nach dem Vorbild des ewigen Lichtes (d. h. aus der Einheit mit dem Logos und im spirituellen Vollzug der ›incarnatio continua‹) ordnungsgemäß ausrichten. Ein Werk verrichtet man von außen, ein Gewerbe hingegen ist es, wenn man sich mit verständnisvoller Umsicht von innen her befleißigt. Und solche Leute stehen bei den Dingen, nicht in den Dingen. Sie stehen (ihnen) ganz nahe und haben (doch) nicht weniger, als wenn sie dort oben am Umkreis der Ewigkeit (d. h. in der Verzückung) stünden.« 279 Marthas sorgende Verantwortung unterscheidet sich also von der irdischen Besorgtheit dadurch, daß sie die innere Freiheit voraussetzt. Die Unterscheidung von »in den 278
279
Pf 48,35–37: »Diz wort sprach Kristus niht zuo Marthen in einer strâfender wîse, mêr: er antwurte ir unde gab ir trôst, daz Marîâ werden solte als si begerte.« Pf 49,17–23: »Dâ von sprach er ›du bist sorcsam‹, unde meinte: dû stâst bî den dingen unde diu dinc stânt niht mit dir; unde die stânt mit sorgen, die in hindernüsse stânt in allem irem gewerbe. Die stânt âne hindernisse, die alliu ir werk rihtent orderlîche nâch dem bilde des êwigen liehtes. Werc üebet man von ûzen, aber gewerbe ist, sô man mit redelîcher bescheidenheit sich üebet von innen; unde die liute stânt bî den dingen unde niht in den dingen. Sie stânt vil nâhe unde habent ez niht minre denne ob sie stüenden dort oben an dem umberinge der êwikeit vil nâhe.« Vgl. auch Pf 51,10–16. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß Eckhart den Ausdruck »gewerbe« für das Wirken aus der Gottesgemeinschaft wählt, um die ständige, zielbewußte und geordnete Tätigkeit schon im rein innerweltlichen Sinne von der zufälligen Betriebsamkeit äußerer Betätigungen zu trennen. Bei Tauler wird der Gedanke dann mit dem Beruf des Christen (»ambaht«, »růff«, »ladung«) verbunden. 217
Dingen« und »bei den Dingen« entspricht der Unterscheidung von Werk und Gewerbe, von irdischer und göttlicher Sorge. Inmitten der Dinge von den Dingen nicht innerlich besetzt und beherrscht zu sein, das ist die Voraussetzung der christlichen Freiheit, die Eckhart für die Spiritualität des aktiven Lebens fordern muß. Nach dieser zweiten Rechtfertigung der Sorge Marthas aus der göttlichen Heilssorge selbst, geht Eckhart nun in einer dritten Auslegung zum Angriff auf die Kontemplation über: nicht Marthas Wirken in der Zeit ist sorgenvoll und behindert, sondern vielmehr Marias Verzükkung. Mit der exegetischen Artistik, die Eckharts ganze Predigt kennzeichnet, wird nun das »Viele«, um das sich Marthas freie, mit Gott vereinte Sorge kümmert, als Gegensatz zu dem »Einen« betrachtet, das die verzückte Seele betrüben muß: »Wenn eine Seele lauter, einfältig ohne alles Gewerbe hinaufgerichtet am Umkreis der Ewigkeit steht, dann wird sie betrübt, wenn sie durch ein Etwas als durch ein Mittel behindert wird, so daß sie nicht mit Lust dort oben zu stehen vermag.« 280 In der Unmöglichkeit der dauernden Unmittelbarkeit der Schau liegt die Sorge des kontemplativen Menschen; von einer solchen Sorge ist das aktive Leben nicht betroffen, da es Gott ja gerade in der Mittelbarkeit seiner dynamischen Anwe-
280
Pf 51,25–28. Zu Eckharts »exegetischer Artistik« ist zu bemerken, daß sie in der Methode der traditionellen Auslegung der Perikope entspricht, aber zu anderen Ergebnissen kommt. E. Winkler, Exegetische Methoden bei Meister Eckhart 69, bemerkt zwar, daß Eckhart auffälligerweise ganz auf die typologische Exegese verzichtet habe, aber dazu bildet die Predigt über Maria und Martha ein Gegenbeispiel. Auch E. Winklers Ansicht, die Vermischung von Exegese und Systematik bei Eckhart sei ein Rückschritt gegenüber Thomas und Bonaventura (a. a. O. 116), können wir nicht zustimmen. Eckharts exegetische Methode dient dazu, in den Worten einer einzigen Schriftstelle das ganze Heilsmysterium aufleuchten zu lassen. Das Mysterium ist dabei einerseits unerreichbar für seine »Gewortung«, andererseits steht es dem Wort so nahe, daß man es erfahren kann, indem man ein Wort gleichsam aufbricht und aus seiner äußeren Bezeichnung ein inneres Zeichen macht. Vgl. dazu DM I, 154,7–155,1 über das »bîwort quasi«: der Mensch als Beiwort bei Gott. Mit seiner Methode sucht Eckhart oft in einem einzigen Wort das Ganze zu fassen, indem er es für das Ganze transparent macht. Das gilt vor allem für Schriftworte. Eine Theologie des Wortes nach Meister Eckhart zu beschreiben, wäre eine lohnende Aufgabe. 218
senheit in der Kreatur sucht. Diese »Mittelbarkeit« hat Gott ungehinderter und unbekümmerter als das Erlebnis der Verzückung, so paradox dies auch klingen mag, denn ihre Mittelbarkeit besteht nur für die reflexive Betrachtung, nicht für den Vollzug selbst, in dem Gott handelnd das menschliche Wirken durchformt. Eckhart will sagen: Gott ist in der Dynamik der freien Aktivität, sofern sie frei ist, unmittelbarer anwesend als im Erlebnis der Verzückung, sofern dies gehindert werden kann, was nur zu leicht der Fall ist. Schau und Tätigkeit haben ihre je eigene Unmittelbarkeit zu Gott: in der Unmittelbarkeit des Schauens gibt sich Gott zu erkennen; in der Unmittelbarkeit des Wirkens wirkt Gott. Die Einheit beider Vorstellungen besteht darin, daß sich Gott jeweils als der Wirkende offenbart; deshalb fordert Eckhart für Maria die Vollendung in der Wirksamkeit, damit sich die Unmittelbarkeit des Schauens, die als Unmittelbarkeit nur gehalten werden kann, wenn sie sich selbst aufgibt, in der Unmittelbarkeit des Wirkens fortsetzt und steigert. Das Wesen der irdischen Vollkommenheit besteht für Eckhart darin, daß es die Unmittelbarkeit zu Gott gerade in der Mittelbarkeit suchen muß: »Es gibt zweierlei Mittel. Das eine ist jenes, ohne das ich nicht in Gott zu gelangen vermag: das ist Wirken und Gewerbe in der Zeit, und das mindert die ewige Seligkeit nicht. Das andere Mittel ist dies: eben jenes aufgeben. Denn dazu sind wir in die Zeit gestellt, daß wir durch vernunfterhelltes Gewerbe in der Zeit Gott näher und ähnlicher werden.«281 In dieser paradoxen Ausdrucksweise erklärt Eckhart die Zusammengehörigkeit von Wirksamkeit und Freiheit. Die beiden Mittel unterscheiden sich nur scheinbar. Denn das Lassen der Dinge und des Tuns kann sich irdisch nur wieder im irdischen Tun vollziehen. Die Loslösung ist eine Eigenschaft der Wirksamkeit selbst, in der es sich von aller irdischen Absolutsetzung reinigt und sich aus der göttlichen Wirksamkeit versteht. Deshalb gestaltet die Wirksamkeit nicht nur die Zeit, sondern sie bereitet die Vollendung der Zeit vor. 281
Pf 49,26–34: »Mittel ist zwifalt. Einez ist, âne daz ich in got niht komen mac, daz ist werc und gewerbe in der zît, unde daz enminret niht êwige sêlde. Daz ander mitel ist: blôz sîn des selben. Wan dar umbe sîn wir gesetzet in die zît, daz wir von zîtlîchen vernünftigem gewerbe gote nêher und gelîcher werden. Daz meinte ouch sanctus Paulus dô er sprach ›loesent die zît, die tage sint übel‹. Die zît loesen ist, daz man âne underlâz ûf ganze in got mit vernünftekeit unde niht nâch bildelîcher underscheidenheit, mêr: mit vernünftiger lobelîcher wârheit.« 219
Christliche Wirksamkeit in der Zeit ist für Eckhart »erleuchtete« Wirksamkeit, d. h. eben jenes »lumen supernaturale«, das in der Verzückung wirksam ist, ist auch im Werk wirksam. Dieses erleuchtende Licht ist Christus bzw. das vergöttlichende Ereignis, das sich durch ihn vollzieht.282 Das Werk (»gewerbe«) folgt dem Vorbild dieses Ereignisses, d. h. der Ordnung des dynamischen göttlichen Heilswerkes, und schwingt sich daher in dessen vergöttlichende Wirkung ein. Wirken als Überwindung der Zeit ist Wirken im Licht; Eckhart verbindet hier Eph 5, 16 mit Jo 12, 35: »Denn wer da wirkt im Licht, der steigt hinauf zu Gott, frei und ledig alles Vermittelnden: sein Licht ist sein Gewerbe und sein Gewerbe ist sein Licht.« 283 Freiheit, Wirksamkeit und Erleuchtung durch das Christusereignis bilden hier eine Einheit; von der Dynamik dieses Ereignisses getragen, überwindet das Werk die Zeit und trägt so zu jener Transparenz für die göttliche Struktur bei, in der zugleich die Vollendung des Menschen und der Welt geschieht. Die Wesentlichkeit des tätigen Lebens284 Wesentlichkeit ist für Eckhart in der ontologischen Struktur die Übereinstimmung von Sein, Erkennen und Leben. In der Spiritualität, die diese Struktur zu vollziehen bemüht ist, besteht sie im Zusammenwirken der Einheit der Erkenntnis mit der Einheit des Willens und der Einheit des Wirkens. Dieses Zusammenwirken wird nur durch Übung erreicht und ist erst vollkommen, wenn es zum selbstverständlichen Können geworden ist. Darum betont Eckhart die in der Lebenserfahrung gewonnene Reife und Festigkeit bei Martha als Zeichen ihrer Wesentlichkeit. Marthas Wirken in der Zeit ist deshalb wesentlich, weil es die Erkenntnis der Lebenserfahrung mit Tugend und Werk verbindet. Tugend und Willenseinheit mit Gott sind für Eckhart dasselbe, denn Tugenden vermag der Mensch nur in Gott zu erlangen, da sie transzendentale Seinsqualitäten sind. Werk (»gewerbe«) und Wirkeinheit mit Gott sind für Eckhart dasselbe, weil die göttliche Dynamik sich in der irdischen Dynamik 282 283
284
Vgl. Pf 49,39.40. Pf 49,40–50,2: »Wan wer dâ würket in dem liehte, der gât ûf in got frî unde blôz alles mitels: sîn lieht ist sîn gewerbe unde sîn gewerbe ist sîn lieht.« Vgl. Pf 51,10–52,17. 220
auswirkt, und so jedes Werk zum Mitvollzug dieser Dynamik werden kann, wenn es aus der Willenseinheit in der Wirkrichtung Gottes getan wird.285 Die Einheit von Erkennen, Wollen und Wirken vollzieht sich mitten im Wirken. Deshalb könnte man Eckharts Spiritualität des aktiven Lebens eine Lehre vom wesentlichen Werk nennen. Dieses Werk ist zwar eine ganz konkrete irdische Handlung, in Wirklichkeit aber Handlung Gottes, in der sich die Gottesgeburt, der Gleichklang von »creatio continua« und »incarnatio continua«, vollzieht.286 Der Lebemeister Eckhart gibt als konkrete Merkmale des wesentlichen Werkes Ordnung, Einsicht und Besonnenheit an. Ordnung oder Gehorsam287 ist die Ausrichtung des Werkes auf das Heilswerk Gottes, das Wirken aus der Willenseinheit; Einsicht ist die konkrete Auswahl des Werkes als eines solchen, »über das hinaus man zur Zeit nichts Besseres kennt«;288 Besonnenheit ist jener Spürsinn, der »in guten Werken die lebensvolle Wahrheit mit ihrer beglückenden Gegenwart verspürt«289. Der Gehorsam dem Sein gegenüber, die Auswahl des Bestmöglichen und der Spürsinn für die göttliche Gegenwart kennzeichnen das wesentliche Werk inmitten der äußerlichen Betriebsamkeit, die durch Sorge, Zufälligkeit und Behinderung charakterisiert ist. Die Vollkommenheit des wesentlichen Werkes braucht den Vergleich mit keiner anderen Weise der Frömmigkeit zu fürchten: »Wirken in der Zeit ist ebenso adlig wie irgendwelches Sich-Gott-Verbinden; denn es bringt uns ebenso nahe heran wie das Höchste, das uns zuteil werden kann – ausgenommen einzig das Schauen Gottes in 285 286 287 288 289
Vgl. Pf 52,12–17. Vgl. oben S. 159–164, 178–176. Vgl. Pf 51,18–20; 11–13. Vgl. Pf 51,20.21; 52,10–12. Pf 51,21.22; vgl. die Stelle im Zusammenhang: »Sunder driu puncte süllen wir haben in unsern werken. Daz ist, daz man würke ordenlîche unde redelîche unde wizzenlîche. Dem spriche ich ordenlîche, daz man in allen sînen orten (d. h. in jeder Beziehung) antwürtet dem nêhsten (d. h. dem Höchsten). Sô spriche ich dem redelîche, daz man in der zît niht bezzers bekenne. Sô spriche ich dem wizzenlîche, daz man bevinde lobelîcher wârheit mit lustiger (d. h. beglückender) gegenwürtikeit in guoten werken. Swâ disiu driu puncte sint, diu füegent alsô nâhe unde sint alsô nütze als aller der lust Marîen Magdalênen (damit ist von Eckhart wohl die Maria der Perikope gemeint) in der wüesti.« 221
(seiner) reinen Natur.«290 Das wesentliche Werk der »vita activa« ist also der »vita contemplativa« in keiner Beziehung unterlegen; wie diese hat es freilich seine obere Grenze in der unmittelbaren Gottesschau, die es in diesem Leben nicht gibt. Die Frage der Vorrangigkeit und Wertüberlegenheit, die in der Behandlung des Modells »vita activa – vita contemplativa« einen breiten Raum einnahm, ist für Eckhart nicht mehr diskutabel. Sie ging davon aus, daß die transzendenten Merkmale der christlichen Existenz der »vita contemplativa«, die immanenten Merkmale aber der »vita activa« zugeteilt wurden. Einen solchen Dualismus vertritt Meister Eckhart nicht. Das wesentliche Werk überwindet die Zeit ebenso wie die kontemplative Intuition oder die Gnade der Verzückung. Die Einheit von Transzendenz und Immanenz, die im dynamischen Seinsvollzug begründet ist, macht ja gerade seine Vollkommenheit aus. Diese Einheit ist im kontemplativen Erleben noch nicht gegeben; deshalb muß auch die kontemplative Spiritualität das Wirken in der Zeit integrieren. E. Mariens Vollendung zur Wesentlichkeit Die ganze Predigt über Maria und Martha lebt von der Spannung zwischen der noch lernenden Maria und der wesentlichen Martha. Man darf wohl annehmen, daß hinter dieser Spannung eine pädagogische Absicht steckt. Die Schwestern, die diese Predigt hörten, sahen ja wohl mit der ganzen Tradition der Ordensgeschichte ihr Vorbild in Maria, der Christus ausdrücklich die »optima pars« zugesprochen hatte. Der Verdacht, daß sich das Lob Mariens nicht auf die Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens beziehen könnte, streifte sie ebensowenig wie Thomas von Aquin, den großen Lehrer des Ordens. Auch Eckhart steht ja in der Tradition der typologischen Auslegung, so originell seine einzelnen Deutungen auch sind, und mit dem Maßstab heutiger Exegese darf man seine Aussagen deshalb kaum prüfen. Aber Eckhart verlegt die »optima pars« Mariens von der »suavitas« der Verzückung in ihre zukünftige Wesentlichkeit, deren Vorbild Martha ist. Darin liegt ein indirekter Angriff auf die Vorrangigkeit der Kontemplation, doch geht Eckhart nirgends so weit, sie durch eine allgemeine Vorrangigkeit der Aktion zu ersetzen. In den Reden der Unterweisung sagt er vielmehr: »Will das äußere Werk das innere zerstreuen, so folge man dem 290
Pf 51,11–13: »... dâ ist zîtlich werc als edel als dekein füegen in got, wan ez füeget alsô nâhe als das obreste, daz uns werden mag, ân alleine got sehen in blôzer nâtûre.« 222
inneren. Könnten aber beide in einem bestehen, das wäre das beste, auf daß man ein Mitwirken mit Gott hätte.«291 Die allgemeine Vorrangigkeit spielt aber weder in den Reden der Unterweisung noch in der Predigt über Maria und Martha eine Rolle; alle Vorrangigkeitsfragen werden hier von Eckhart konkret gestellt, nach der Maxime, das zu tun, »über das hinaus man zur Zeit nichts Besseres kennt«292. Gerade nach dieser Maxime aber muß Maria ihren Trost in der Verzückung verlassen, den sie wegen seiner Flüchtigkeit doch nicht festhalten kann, um nicht Gefahr zu laufen, daß sie im Wohlgefühl »schwelgt« oder »ertrinkt«, sich im Genießen »verzärtelt« und so den Überschwang des Gefühls für die Vollkommenheit hält, die sie erst in der Übung der tätigen Liebe erlangen kann.293 Das Gefühl mag wohl ein Maßstab des verzückten Erlebnisses sein, der Süßigkeit und des Trostes, die darin geschenkt werden, aber ein Maßstab der Vollkommenheit ist es nicht. Das Mißverständnis, die Vollkommenheit an mystischen Gefühlen zu messen, wird Eckhart ebenso wie der Spiritualismus und der Quietismus bei seinen frommen Zuhörerinnen begegnet sein. Vielleicht war manch eine von ihnen »verzärtelt durch Schmecklertum des Geistes« und leicht betrübt durch die Behinderung irdischer Dinge und Tätigkeiten. Eckhart benützt also die Figur der Martha, um jene stillen Verehrerinnen der sitzenden Maria etwas aufzuwecken in ihrem beschaulichen Wohlgefühl, so wie die Bitte Marthas – nach Eckhart »ein liebendes Wohlwollen oder eine lebenswürdige Neckerei« – die Schwester in ihrer Ruhe störte.294 Um diese pädagogische Absicht der Predigt zu erreichen, mußte Eckhart die Figur der Martha über die Topoi der traditionellen Auslegung hinaus aufwerten, indem er die seit Augustinus vorhandenen Ansätze mit seiner eigenen dynamischen Theologie der Spiritualität ausfüllte. Das eigentliche Ziel seiner Predigt liegt aber nicht in der Darstellung der Vollkommenheit Marthas, sondern in der Entwicklung Mariens. Diese hinter der Aufwertung Marthas etwas verborgene Intention darf man nicht übersehen, wenn man in der Interpretation die eigentliche Absicht Eckharts treffen will. Eckhart will nicht das Leitbild der Maria durch das Leitbild der Martha für seine 291 292 293
294
DW V, 291,9–11, zitiert oben Anm. 152. Pf 51,20.21. Vgl. Pf 48,28–30: »Wir hân sî arcwênic (d. h. wir verdächtigen sie) die lieben Marîen, si sêze etwenne me durch lust denne durdi redelîchen nutz.« Vgl. Pf 48,4–7, 23–32. 223
Zuhörerinnen ersetzen, sondern er will das Leitbild der Maria zur Wesentlichkeit steigern, indem er die »optima pars« von der ruhenden Beschaulichkeit Mariens in ihre Predigt- und Lehrtätigkeit nach Pfingsten verlegt. Das entspricht ganz der Ordenstheorie bei Thomas von Aquin, in der die Orden, die Kontemplation mit Predigt und Lehre verbinden, über die rein kontemplativen Orden gestellt werden.295 Daß dennoch in der Predigt die dynamische Spiritualität Marthas alles überstrahlt, liegt darin, daß Eckhart über seine konkrete Absicht hinaus in ihr die spirituelle Konsequenz seiner eigenen Grundgedanken gezogen hat, und diese führt über Thomas und seine Tradition hinaus. Es muß wohl offenbleiben, ob Eckhart selbst diese Diskrepanz zwischen seiner konkreten Absicht, die sich ganz in den von Thomas gesteckten Bahnen bewegt, und dem geschichtlichen Fortschritt, der in seiner Aufwertung der aktiven Spiritualität liegt, bewußt geworden ist. Die Vollendung Mariens zur Wesentlichkeit liegt in der Integration des aktiven Lebens: »Maria ist erst Martha gewesen, ehe sie Maria wurde.«296 Die wesentliche Maria unterwirft sich der Übung des Lebens und vollzieht die Willenseinheit mit Gott im 295
296
Vgl. S.th. 2–2 q 188 a 6. Eckharts konkrete Absicht in der Predigt ist gar nicht soweit von Thomas entfernt; wie an den meisten Stellen, so bildet auch hier Thomas den gedanklichen Ausgangspunkt, der dann freilich durch die Konsequenz des eckhartschen Denkens überstiegen und überwunden wird. J. Quint (Meister Eckehart 44) hat hier die geschichtliche Entwicklung übersehen, wenn er bemerkt, Eckharts Auslegung der Perikope sei »gegen die ganz und gar eindeutige Meinung des Meisters aller Meister selbst« bzw. gegen »den objektiven Sinn des Evangeliums« (a. a. O. 496). Die traditionelle Deutung der Perikope war ja bereits fragwürdig und hatte vor allem in der Mönchstheologie zu ideologischen Einseitigkeiten geführt (vgl. oben Teil 1). Von einem »objektiven Sinn des Evangeliums« kann man im Zusammenhang mit dem Modell »vita activa – vita contemplativa« nicht sprechen, da dieses Modell nicht biblischen Ursprungs ist. Von der heutigen Exegese her gesehen sind weder Augustinus noch Thomas noch Eckhart mit ihren Deutungen im Recht. Vom geschichtlichen Standpunkt aus muß man aber in Eckharts Deutung die Überwindung des Dualismus im Modell würdigen, und ganz allgemein ist zu sagen, daß die aus Eckharts Deutung erwachsende Spiritualität dem Evangelium gemäßer ist als die aristotelische Klassifikation des Aquinaten. Vgl. dazu die oben, Teil I, Kap. I, 2 aufgestellten Thesen über die Voraussetzungen für eine christliche Integration des Modells. Pf 53,3. 224
Gehorsam gegenüber dem Seinsvollzug.297 Erst durch die Übung beginnt sie, wesentliche Tugenden zu erwerben und wesentliche Werke zu wirken; Eckhart nennt Liebesdienst, Predigt und Lehre als ihre nun folgenden Haupttätigkeiten.298 Erst dann hat Maria, so schließt Eckhart, zur wahren Nachfolge Christi gefunden, wenn sie aus ihrem wesentlichen Sein wesentliche Werke zu wirken beginnt.299 Im Ziel der Predigt, der Integration des aktiven Lebens in das kontemplative Leben, folgt Eckhart der Additionstheorie und der Fruchtbarkeitstheorie bei Thomas von Aquin. Thomas hatte bei der Behandlung der Wertüberlegenheitsfrage festgestellt: »cum aliquis a contemplativa vita ad activam vocatur, non hoc fit per modum subtractionis, sed per modum additionis.«300 Die Begründung für dieses Axiom liefert ihm Augustinus mit der Betonung der »necessitas caritatis«301. In der Ordenstheorie baut Thomas diese Argumentation weiter aus, indem er drei Ordensklassen unterscheidet: die rein aktiven Orden bilden die unterste Stufe; sie beschäftigen sich mit den »exteriores actiones«, d. h. Almosen geben, Gastfreundschaft gewähren und andere Werke der Barmherzigkeit. Die mittlere Stufe bilden die rein kontemplativen Orden, die sich aller aktiven Beschäftigungen enthalten. Die oberste Stufe aber bilden die Orden, die Kontemplation mit Predigt und Lehre verbinden. Seine Begründung geht von einer Unterscheidung der Werke des aktiven Lebens aus: »Sic ergo dicendum est quod opus vitae activae est duplex. Unum quidem quod ex plenitudine contemplationis derivatur: sicut doctrina et praedicatio ... Et hoc praefertur simplici contemplationi. Sicut enim maius est illuminare quam lucere solum, ita maius est contemplata aliis tradere quam solum contemplari. – Alius autem est opus vitae activae quod totaliter consistit in occupatione exteriori: sicut eleemosynas dare, hospites recipere, et alia huiusmodi. Quae sunt minora operibus contemplationis, nisi forte in casu necessitatis: ut ex supra dictis (Additionstheorie) patet.« 302 Hier wird in der
297
298 299 300 301 302
Vgl. Pf 53,11–13: »Ich heize daz Marîâ, ein wol geüebeter lîp, gehôrsam einer wîser lêre. Daz heiz ich gehôrsam, swaz bescheidenheit gebiutet, daz des der wille genuoc sî.« Vgl. Pf 53,28–30, zitiert oben Anm. 259. Vgl. oben Anm. 148. S.th. 2–2 q 182 a 1 ad 3. De Civ. Dei 19,19, PL 41, 647. A. a. O. q 188 a 6 resp.. 225
christlichen Aktivität zwischen Seelsorgetätigkeit und sozialer Fürsorge unterschieden, zwischen »spiritualia« und »corporalia», wie Thomas an anderer Stelle zeigt.303 Die »opera spiritualia«, zu denen neben Predigt und Lehre auch die Sakramentenspendung zählt,304 stammen aus der Fülle der Kontemplation und sind ihr sozusagen verwandt; die »opera corporalia« leiten sich nur aus der irdischen »necessitas« ab, sind also nur occasionell der Kontemplation (»in casu«) vorzuziehen. Die Additionstheorie bezieht sich auch auf diese »corporalia«, während sich die Fruchtbarkeitstheorie auf die »spiritualia« beschränkt. Eckhart nimmt nun vor allem auf die Fruchtbarkeitstheorie Bezug, die er an anderer Stelle frei nach Thomas zitiert.305 Der organische Austausch von Aktion und Kontemplation, der von der höchsten Form des kontemplativen Lebens gefordert ist, bestimmt auch sein Bild von der wesentlichen Maria. Die Verlegung der »optima pars« in die Predigt- und Lehrtätigkeit des beschaulichen Menschen ist im Grunde eine thomistische Konsequenz, die der Spiritualität des Dominikanerordens entspricht. Dennoch unterscheidet sich Eckhart auch in diesem speziellen Fall, der Integration des aktiven Lebens in das kontemplative, von Thomas von Aquin, ganz abgesehen von den Unterschieden in der allgemeinen Strukturauffassung des Modells und in der Wertung des aktiven Lebens, die sich in der Behandlung des Marthatyps zeigen. Der innere Zwang der kontemplativen Vereinigung mit Gott zum Werk ist von Thomas nicht gesehen worden. Der Übergang von der Kontemplation zur Aktion ist für ihn eine Möglichkeit, die je nach dem äußeren Anspruch aktuiert wird. Für Eckhart ist er innerlich notwendig, da sonst im Verweilen des Genießens die Einheit mit Gott schwindet. Schon in den Reden der Unterscheidung bemerkt er, aus der Einheit mit Gott müsse man »sich gewaltsam zwingen zu einem Werk«, auch wenn nichts von außen oder innen dazu aufruft.306 Die Verpflichtung auch des kontemplativen Menschen zur Tätigkeit ist von Eckhart in ganz anderer Schärfe herausgearbeitet 303
304 305 306
Vgl. S.th. 3 q 40 a 1 ad 2, wo Christus vom aktiven Leben nur Predigt und Lehre, nicht aber »corporales actus« zugesprochen werden. Zu diesen äußeren Akten zählen aber nach 2–2 q 188 a 6 resp. die Werke der Barmherzigkeit, während vorher, q 187 a 1 resp., Predigt und Lehre als »spiritualia officia« davon abgehoben werden! Solche Klassifikationen belasten die Fruchtbarkeitstheorie bei Thomas doch sehr stark. Vgl. S.th. 2–2 q 187 a 1 resp. Vgl. Pf 18,21–23. Vgl. DW V, 290,10. 226
worden als von Thomas. Erst in der Fruchtbarkeit des Wirkens wird für Eckhart der Zweck der Schau eigentlich erfüllt.307 Bei Thomas bleibt der eschatologische Gesichtspunkt vorherrschend: das Wirken vollendet sich im Schauen. Deshalb bereitet der Kontemplative sich im Wirken auf die Schau vor und kehrt zur Schau zurück, wenn er seine Tätigkeit beendet hat.308 Bei Eckhart überwiegt der immanente Aspekt: das Schauen vollendet sich im Wirken. Ein zweiter Unterschied zur thomanischen Integration des aktiven Lebens besteht darin, daß sich der Übergang von der Kontemplation zur Aktion für Eckhart in der bleibenden Einheit des einzigen spirituellen Aktes der Gottesgeburt vollzieht: die Willenseinheit setzt sich in die Wirkeinheit fort. Eckhart vergleicht einmal diese bleibende Einheit mit einem Gang durch ein Haus: überall, wo man hingeht, bleibt man doch in demselben Haus und verläßt es nicht. 309 Für die Kontemplationsmystik Thomas von Aquins war die »unio mystica« eben an die Kontemplation gebunden, also an einen mystischen Erkenntnisakt. Bei Eckhart gibt es diese Bindung nicht, vielmehr liegt die mystische Einheit im gesamten Lebensvollzug des Christen. Sie ist ontologischer Vollzug, noch ehe sie erkannt ist, und dieser Vollzug läßt sich in der Einheit des Wirkens ebenso erspüren wie in der Einheit des Schauens. Schließlich zeigt sich in der Predigt über Maria und Martha noch ein dritter Unterschied zu Thomas: Eckhart akzeptiert die Unterscheidung von »corporalia« und »spiritualia« nicht für die Fruchtbarkeit der Verzückung Mariens, sondern er bezieht sie ganz allgemein auf alle Akte, Tugenden und Werke. Damit ist der versteckte Spiritualismus der thomistischen Distinktion überwunden, der nur die geistlichsten Akte des aktiven Lebens auf die Ebene der Kontemplation stellte. Welche mißlichen Konsequenzen diese Distinktion hat, zeigt sich bei Thomas, wenn er Christi aktive Lebensführung damit rechtfertigt, daß er sich wohl der Seelsorge, nicht aber der
307 308 309
Vgl. Pf 18,23–26; 607,32–34. Vgl. S.th. 2–2 q 182 a 4 ad 3. Vgl. Pf 18,28–30 und dazu Pf 608,6.7: »... daz wirkende leben wirt ein enthalt des schouwenden lebennes.« 227
Sozialfürsorge (»corporales actus«) gewidmet habe.310 Für Eckhart bedarf die Wirksamkeit Christi solcher Rechtfertigungen nicht, da sich in ihr beispielhaft die göttliche Dynamik vollzieht.311 Der dynamische, einheitliche und umfassende Charakter der eckhartschen Spiritualität setzt sich also auch an der Stelle fort, wo sie thomanische Gedankengänge aufgreift. Noch deutlicher muß der Fortschritt gegenüber Thomas in der zusammenfassenden Strukturbetrachtung sichtbar werden. Das Modell »vita activa – vita contemplativa« ist ja ein Versuch, eschatologische Transzendenz und irdische Immanenz in einer dualistischen Struktur der Spiritualitätsformen greifbar zu machen. Die Grenzen dieses Versuches wurden Eckhart in der »Weiselosigkeit des Gottfindens« sichtbar; die Einheit der christlichen Spiritualität zeigte sich in der Theologie der Gottesgeburt; wie verhält sich nun die konkrete Differenzierung der Spiritualität Marthas und Marias zu dieser Einheit und inwiefern kann man überhaupt von einer solchen Differenzierung reden, wenn die Wesentlichkeit Marias und Marthas doch im Grunde identisch ist?
3. Zusammenfassende Strukturbetrachtung A. Die Einheitlichkeit der Aussagen Eckharts über das Modell In den Aussagen Eckharts über das Modell gibt es keinen Widerspruch, wohl aber eine fortschreitende Konsequenz. Die Rechtfertigung des aktiven Lebens mit der »necessitas vitae«, die in den Überlegungen der Reden der Unterweisung über das Verhältnis von innerem und äußerem Werk noch vorherrschend war, 312 tritt immer mehr hinter die innere Notwendigkeit der Fruchtbarkeit der Gottesgemeinschaft zurück, die aber schon in den Reden der Unterweisung den Kern des Gedankens ausmacht. Die beiden Hauptpunkte der Maria-Martha-Predigt, d. h. der Vollzug der Dynamik der Seinsstruktur in der Dynamik der Spiritualität und die Einheit von Aktion und
310 311 312
Vgl. S.th. 3 q 40 a 1 ad 2. Vgl. Pf 53,33–36, zitiert oben Anm. 259. Vgl. DW V, 221,4–8; 291,9. 228
Kontemplation, lassen sich an mehreren Stellen nachweisen.313 Die »unio mystica« der Gottesgeburt besteht für Eckhart nicht in einem Erlebnis, sondern in der ontologischen Integration des Menschen in das göttliche Heilswerk, das von Gott ausgeht und in Gott zurückkehrt. Von diesem Geschehen ist alle Aktivität des Menschen ontologisch betroffen, auch die Aktivität des Sünders, die nicht den geraden göttlichen Weg, sondern den »verbogenen« kreatürlichen Weg nimmt. 314 Der Sünder findet freilich in seiner Aktivität sein Heil nicht, da er die göttliche Dynamik nicht frei empfängt; sie bleibt so für ihn persönlich unfruchtbar.315 Anders ist dies bei dem Gerechten, der in der Freiheit für Gott bleibt: »Die Seele, die Gott besitzt, ist alle Zeit gebärend. Notwendig muß Gott alle seine Werke wirken. Allezeit ist Gott wirkend in einem Nun der Ewigkeit, und sein Wirken besteht darin, seinen Sohn zu gebären; den gebiert er allezeit ... Gott wirkt alle seine Macht in seinem Sohn, und die Aufgabe der Seele besteht eben darin, damit sie sich beeile, wieder in Gott zu kommen.«316 In der Fruchtbarkeit der gottgeeinten Seele vollziehen sich »creatio continua« und »incarnatio continua«, die in dem Ereignis der Gottesgeburt zusammengefaßt sind. Gott muß hier wirken, da einerseits sein Wesen Wirken ist und da andererseits die Freiheit sein Wirken hindurchläßt, so daß es sich vielfältig ausbreiten kann, überall seine vergöttlichende Wirkung entfaltend.317 Was sich hier ontologisch vollzieht, ist zugleich die spirituelle Aufgabe des Menschen. Seine Teilnahme am Vollzug besteht in der Freiheit, auf die Eckharts Lehren von der Weiselosigkeit, der Abgeschiedenheit, der geistlichen Armut und Gelassenheit letzten Endes abzielen, und im wesentlichen Werk, das sich die göttliche Dynamik zu eigen macht. Diese Einheit in der Dynamik des Seins ist für ihn ursprünglicher als intellektives oder affektives Erfahren Gottes. Darum kommt vor aller erkennenden und liebenden Gottsuche alles auf die 313
314 315 316 317
Die wichtigsten Stellen sind, neben jenen Stellen, die sich direkt auf das Modell beziehen: Pr. 2, DW I, 24 ff.; Pr. LIX, Pf 189 ff.; Pr. 30, DW II, 93 ff.; Pr. XV, Pf 71 ff. BgT, DW V, 38 ff. Direkt auf das Modell beziehen sich neben den RdU und der Maria-Martha-Predigt noch ein Teilstück der Pr. III, Pf 18,8–19,13 und der Spruch 33, Pf 607.608. Die kurze Reminiszenz Pf 275,3–6 ist ohne Bedeutung; Pf 328,37–330,39 ist ein einziges Thomaszitat (S.th. 2–2 q 182 a 1 resp.). Vgl. Pf 11,6–13,2. Vgl. Pf 73,29.30. Pf 254,9–20. Vgl. Pf 27,20–31. 229
Abgeschiedenheit oder Freiheit an: »wo und wann Gott dich bereit findet, muß er wirken und sich in dich ergießen; ganz so, wie wenn die Luft lauter und rein ist, die Sonne sich ergießen muß und sich dessen nicht enthalten kann. Gewiß, es wäre ein großer Mangel an Gott, wenn er nicht große Werke in dich hineinwirkte und großes Gut in dich gösse, sofern er dich so ledig und und bloß findet.«318 Wenn alles so sehr auf die Freiheit ankommt, dann ist ein Mißverständnis der Kontemplationsmystik überwunden, das das Erlebnis der Einheit für die wesentliche Einheit hält, eben das Mißverständnis der Verzückung Mariens, das Eckhart mit dem Beispiel der Martha bekämpft. Marthas Wesentlichkeit ruht nicht auf dem Erleben, sondern auf dem Vollziehen. Wenn H. Piesch dazu bemerkt, Eckhart habe den Gegensatz Marthas zu Maria nicht in deren Beschaulichkeit, sondern in deren Untätigkeit gesehen, 319 so ist darauf hinzuweisen, daß die Untätigkeit (ab exterioribus actionibus quiescere) ebenso wie eine geistliche Erlebnisfreudigkeit eben ein Teil des beschaulichen Lebensideals und damit kaum von ihm zu trennen ist. Wenn die Einheit im Vollzug besteht, dann hat die Aktion ein ebenso unmittelbares Verhältnis zu ihr wie die Kontemplation. Was der Mensch auch immer erkennend, liebend und handelnd vollzieht, ist göttlicher Vollzug. Eckharts Mystik hat ihr Grundanliegen darin zu zeigen, daß das so ist, warum es so ist und wie es geschieht; für ihn ist es zweitrangig, wie das erlebt wird. Selten genug geht er darauf ein, und dann mit großer Zurückhaltung. Wenn einer fragt, wie denn nun dieses Geschehen der Gottesgeburt in seinem Leben geschehen könne, wenn er doch nichts davon verspüre, so antwortet Eckhart: »Das Verspüren (bevinden) ist nicht in deiner Gewalt, sondern in der seinen. Wenn es (Gott) paßt, so zeigt er sich; und, wenn er will, verbirgt er sich ... Du empfängst ihn und weißt doch nichts davon. Das (aber) wisse: Gott kann nichts leer und unerfüllt lassen, ... das widerspricht seiner Natur. Dünkt es dich daher, du könntest ihn nicht verspüren und seiest seiner ganz entzogen, so ist dem doch nicht so.«320 Wenn auch die Einheit nicht oft spürbar ist, so läßt sie sich doch an ihren Zeichen erkennen: in ihr bilden die Dinge kein Hindernis mehr zu Gott, weil der Mensch überall in ihnen die Dynamik Gottes sieht: »alle Dinge werden dir lauter 318 319 320
Pf 27,26–31. Meister Eckharts Ethik 94. Pf 28,8–19. 230
Gott, denn in allen Dingen beabsichtigst du nichts als Gott«321. Das eigene Leben ist also das Zeichen der Einheit. Eckharts Mystik beschreibt den Einbruch der Dynamik Gottes durch die freie Transparenz des Menschen in die Dynamik des Lebens. Zwar ist die göttliche Dynamik immer präsent, denn ohne ihre schöpferische Tätigkeit fiele alles Seiende ins Nichts zurück; aber die Freiheit erhebt den Menschen über seine in der Geistigkeit oder Gottebenbildlichkeit begründete Seinsvermittlung, die auch der Sünder leisten muß, zur fruchtbaren Teilnahme und Mittätigkeit am göttlichen Werk. Deshalb wirkt er in der Freiheit auch sein eigenes Heil. Eckharts Freiheits- oder Abgeschiedenheitslehre bezieht sich dabei auf den Weg des Kreuzes: so wie der Sinn der Inkarnation in der Vergöttlichung liegt, so liegt der Sinn des Kreuzes im »Tode« gegenüber der Kreatur. Die vergöttlichende Wirkung der Inkarnation erreicht den Menschen auf dem Weg des Kreuzes und breitet sich durch ihn auf alles aus, wenn der Mensch seine wesentlichen Werke in der Freiheit aus Gott wirkt. Wenn die christliche Existenz und mit ihr die christliche Spiritualität sich vor eine so einheitliche Aufgabe gestellt sehen, dann ist in ihr die Spannung von Aktion und Kontemplation überwunden. Der Einbruch der göttlichen Dynamik und ihr tätiger Mitvollzug sind keine verschiedenen Lebensvollzüge, zwischen denen man werten kann. Dieses Ziel steuert die Mystik Eckharts immer wieder an: die Einheit des spirituellen Aktes, der beides umschließt. Er entspricht jener vertikalen Einflußnahme Gottes, die nicht im zeitlichen Nacheinander, sondern in der Augenblicklichkeit der Ewigkeit geschieht. Die Aussagen über Spannung von innerem und äußerem Werk widersprechen dieser Einheitsabsicht nicht. Im konkreten Leben ist die Ungezwungenheit des Mitwirkens mit Gott nicht immer vorhanden. 322 Deshalb behindern sich Aktion und Kontemplation, Äußerlichkeit und Innerlichkeit. In der Maria-Martha-Predigt wird diese Behinderung auf der kontemplativen Seite gesehen, an den meisten anderen Stellen auf der aktiven Seite, dort ganz im traditionellen Sinne: will die Äußerlichkeit (exteriores actiones) zerstreuen, so folge man der Innerlichkeit.323 Das äußere Werk 321 322 323
Pf 29,6.7. Vgl. RdU, DW V, 290,9. Vgl. DW V, 291,9.10; Pf 608,3.4. 231
ist für Eckhart nämlich nicht in sich selbst wichtig, da es sich ja in der Welt der kreatürlichen Zeichen vollzieht; erst vermittels der Innerlichkeit, d. h. vermittels des Einbruchs der göttlichen Dynamik in der Freiheit oder im spirituellen Vollzug der Gottesgeburt, gewinnt es seine vergöttlichende Wirkung.324 Eckhart bleibt immer Gesinnungsethiker: der formale Werksinn steht über dem materialen Werkerfolg.325 Das Verhältnis von innerem und äußerem Werk wird außer in den Reden der Unterweisung und im Buch der göttlichen Tröstung326 noch in zwei Predigten bei Pfeiffer behandelt.327 Die eine davon (Nr. CI) ist sehr unselbständig; sie referiert grundsätzlich Thomas von Aquin, und in ihrem zweiten Teil, der sich dem Modell zuwendet, beschränkt sie sich darauf, die neun Gründe für die Wertüberlegenheit des kontemplativen Lebens über das aktive aus der »Summa theologica«, 2–2 q 182 a 1, fast wörtlich
324 325
326 327
Vgl. BgT, DW V, 40.41. Vgl. Pf 74,11–14: »Die fruht dirre werke belîbent in dem geiste, aleine diu werc unde diu zît (in der die Werke geschehen) niht êwic sint, sô lebet doch der geist, ûz dem sie geschâhen, unde die fruht der werke sunder werc und sunder zît vol genâden, als ouch der geist vol genâden ist.« Vgl. ferner Spruch 32 und 33, Pf 606,35–608,7. Vgl. Anm. 312; Pr. III, Pf 18,8–19,13; Pr. CI, Pf 328,37–330,39. 232
mitzuteilen.328 Um eine Predigt Eckharts kann es sich hier kaum handeln; die Unselbständigkeit ist gar zu groß und eine spekulative Durchdringung fehlt.329 Zudem vermißt man Eckharts Grundgedanken, der sonst in jeder Stelle über das innere und äußere Werk enthalten ist: die Einheit von Aktion und Kontemplation.330 Die andere Predigt (Nr. III) beginnt zwar auch ihre Aussage über das Modell mit einem Thomaszitat, die Auswertung geht jedoch über Thomas hinaus und entspricht Eckharts Konzeption. Das Thomaszitat ist dabei nicht genau festzulegen; es faßt das Ergebnis der Artikel 1 bis 4 der Quaestio 182 zusammen. 331 H. Urs von Balthasar 328
329
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331
Die Reihenfolge der Gründe ist dabei geändert: 1.2.6.4.3.5.7.8.9. folgen aufeinander, dann geht der Schreiber zu ad 3 über, d. h. zu der bereits erwähnten Additionstheorie. J. Quint erkennt, Überlieferung 883, nur den ersten Teil der Predigt, Pf 324,31–328,26, als Auszug aus Thomas, S.th. 1 q 15 a 1–3 (nach G. Müller, Altdeutsche Mystik, DVJS 4 [1926] 111). Er nimmt daher an, daß der zweite Teil der Predigt ursprünglich einen anderen Vorsatz gehabt habe. Da jedoch auch der zweite Teil ein Thomas-Auszug ist, dürften die beiden Teile unter dem umfassenden Gesichtspunkt der inneren Ruhe locker zusammengestellt sein, ohne ursprünglich zusammenzugehören. – Die in der ThomasÜbersetzung verwendeten Begriffe »inner mensche« – »ûzer mensche« für Kontemplation und Aktion zeigen wohl, daß der Verfasser Eckharts Termini kennt und bei der Übersetzung anwendet, so daß die Übersetzung vielleicht von einem Eckhart-Schüler stammt. Sie beweist dann, daß man Eckharts Aussagen über »innicheit« und »würklicheit« auf das Modell »vita activa – vita contemplativa« bezog. Der Verfasser nennt die »vita activa« »des ûzern menschen leben« (330,10), die »vita contemplativa« »des inern menschen leben« (330,8); eine so eindeutige Gegenüberstellung findet sich freilich bei Eckhart nicht. Vgl. J. Quint, a. a. O.: »Es ist völlig ausgeschlossen, daß Eckhart in einer Predigt eine fast wörtliche Übersetzung ziemlich umfangreicher Partien aus Thomas vorgetragen hätte.« Diese Feststellung zum ersten Teil der Predigt gilt auch für den zweiten Teil. Vgl. RdU, DW V, 291,10 »beidiu in einem«; Pf 49,12–17 (Martha hat »zemale« beides); Pf 18,23.24 »dâ enist niht denne einz«; Pf 608,8. Die Wendung »in der wirclicheit ûz giezen von minne, daz man în genomen hât an der schouwunge« (Pf 18,22.23) geht doch schon über das in der q 182 von Thomas Formulierte hinaus. Thomas sagt mit Augustinus: »suscipit necessitas caritatis« (a 1 ad 3) und spricht sonst von »sustinere« (a 2), »exercitia vitae activae subire« (a 4 ad 3). Nur an zwei Stellen findet sich das »contemplata aliis tradere«: q 188 a 6 resp. und 3 q 40 a 1 ad 2: »... vita activa secundum quam aliquis praedicando et docendo contemplata aliis tradit 233
nennt dieses Ergebnis die »ichvergessene Fruchtbarkeit« und sieht darin den »höchsten Punkt des ganzen Traktates«, weil hier der feine Egoismus und die Selbstgenügsamkeit des Beschaulichen überwunden seien.332 Unsere Predigt setzt also mit ihren Überlegungen am höchsten Punkt des thomanischen Traktates ein. Diese Überlegungen seien hier kurz referiert:333 der Anlaß ist die Frage nach der Aporie des geistlichen Lebens: einerseits soll man die äußeren Liebeswerke lassen, um die Schau in reiner Passivität zu erleiden, andererseits darf man sie aber doch nicht aufgeben, weil sie von der Liebe gefordert sind. Muß man sich also um der Übung der Werke willen der Schau entziehen?334
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(diese Einschränkung auf die »spiritualia« fehlt bei Eckhart!), est perfectior quam vita quae solum contemplatur, quia talis vita praesupponit abundantiam contemplationis.« Vgl. auch 2–2 q 182 a 2 resp. »propter abundantiam divini amoris«. Auf solche Stellen könnte sich Eckhart in der Formulierung des Zitates »ûz giezen von minne« beziehen. Aber eindeutig festlegbar ist das Zitat nicht, wie J. Quint, DW V, 368, Anm. 409, meint. Vgl. DTA 23, 461.462. Diese Überlegungen sind sehr locker in die Zusammenstellungen der Predigt eingefügt; ein Anschluß an die vorausgehende und an die folgende Frage fehlt. Das ist vielleicht ein Zeichen, daß es sich hier um eine nachträgliche Zusammenstellung verschiedener Fragen des geistlichen Lebens handelt, was nicht dagegen spricht, daß gerade diese Frage Eckharts sonstiger Behandlung des Themas kongruent ist und daher von Eckhart stammt. Die übrigen Stücke der Predigt, die J. Quint wohl mit Recht als Ganzes »der Unechtheit verdächtig« (Meister Eckehart 525) nennt, stellen den »intellectus agens« in den Mittelpunkt, was vielleicht auf Dietrich von Freiberg hinweist. Vgl. Pf 18,8–17. Die Antwort auf diese Frage im Zusammenhang, 18,18 bis 38: »Einz (vita cont.) ist gar edel, daz ander ist sêre nütze (vita act.). Marîâ was sêre gelobet, daz si daz beste hete erwelt. Sô was ouch Marthen leben gar nütze, wan si diende Kristô unde sînen jungern. (Vgl. dazu Augustinus, Sermo 103, II, 3 PL 38, 614: »utrumque officium bonum«.) Der heilige Thomas sprichet, dâ sî daz würkende leben bezzer denne daz schouwende, dâ man in der wirclicheit ûz giuzet von minne daz man în genomen hât an der schouwunge. – Dâ enist niht denne einz, wan man engrîfet niergent denne in deme selben grunde der schouwunge und machet daz fruhtber in der wirkunge, und aldâ wirt diu meinunge der schouwunge vollebrâht. Alleine beschêhe dâ bewegunge, ez enist doch niht denne einz, ez kumet ûz einem ende: got ist unde gêt wider in daz selbe. Als och ich gienge in disem hûse von eime ende an daz andere, daz wêre wol bewegunge unde wêre doch niut denne einz in eime. (Vgl. zum Haus-Beispiel: Pf 181,6.7). Alsô in dirre 234
Die Antwort lobt nun zunächst beide Lebenswege mit dem Hinweis auf das Marienlob und den Christusdienst der Martha in der bekannten Perikope. Dann wird Thomas zitiert: das aktive Leben sei dann besser als das beschauliche, wenn man den Gewinn der Schau aus Liebe in der Wirksamkeit ausschütte. Dabei liege nur ein einziger spiritueller Akt vor, weil das eine aus dem anderen hervorgehe und das eine das andere vollende. »In dieser Wirksamkeit hat man nichts anderes als eine Schau in wirclicheit enhât man anders niht denne eine schouwelicheit in gote. Daz eine ruowet in. deme andern unde vollebringet daz andere. Wan got der meinet in der einekeit der schouwunge die fruhtberkeit der würkunge (vgl. zum Fruchtbarkeitsbegriff U. v. Balthasar, DTA 23, 455.456), wan in der schouwunge dienest dû alleine dir selber, aber in den tugentlîchen werken dâ dienestû der menige. Her zuo mant uns Kristus mit allem sîme lebenne unde mit deme lebenne aller sîner heiligen, die er alle hât ûz getriben der menige ze einer lêre (hier wird wieder auf das Dominikanerapostolat angespielt).«Als Parallele zu dieser Stelle sei Pf 607,30–608,7 (Spruch 33) angegeben: »Meister Eckehart sprach, daz kein mensche in disem leben müge dar zuo komen, daz er sich nicht enüeben sule in ûzeren werken. (Das paßt zu Pf 53,23 ff., Widerlegung des Quietismus.) Wan sô der mensche sich üebet in dem schouwenden lebenne, sô mag er von rehter völli niht enbern (vgl. Thomas, S.th. 3 q 40 a 1 ad 2 »abundantia contemplationis«), er müeze ûz giezen (vgl. oben 18,23 »ûz giuzet von minne«) unde müeze sich üeben in dem wirkenden lebenne (vgl. Pf 48,24–26). Reht als ein mensche, der nihtesniht hât, der mac wol milte sîn, wan er gibet mit dem willen (allein); mêr: daz aber ein mensche vil rîchtuomes habe (in der Kontemplation) unde nihtesniht gebe, der mac niht milte geheizen. Und alsô mac kein mensche tugende haben, ez müeze sich üeben in der tugende, sô ez zît und state (staete?) hât. Und hier umbe die sich üebent in schouwendem lebenne unde niht in ûzeren werken unde sich alzemâle ûz besliezent ûzerem werc, die sint alle betrogen und den ist niht rehte. Dâ spriche ich, daz der mensche, der in schouwendem lebenne ist, der mac wol unde sol sich ledic machen von allen ûzeren werken, die wîle er ist in schouwenne; mêr: dar nâch sol er sich üeben in ûzeren werken, wan nieman alle zît und stêteclîche sich üeben mac in schouwendem lebenne (d. h. die Schau als solche kann man nicht festhalten), unde daz wirkende leben wirt ein enthalt des schouwenden Lebennes (d. h. es sorgt dafür, daß die in der Schau erworbene Einheit beibehalten wird, indem sie zur Wirkeinheit wird).« Diese Stelle bewegt sich in einer etwas konkreteren Dimension als Pf 18,8–38; deshalb werden hier Freiheit und Werk als Nacheinander erfahren, während z. B. in der Figur der Martha von Eckhart gerade die Simultaneität hervorgehoben wird, die erst die eigentliche Wesentlichkeit ausmacht. 235
Gott.« Gott selbst vollende hier das Schauen zum Wirken, damit sich der Akt nicht nur auf den schauenden Menschen, sondern auf alle ausbreite. Die These wird nun mit der Gottesgeburtslehre begründet: der in der Seele verborgene Logos spreche sich aus in die Seelenkräfte des Menschen und durch sie in das äußere Leben der Nächstenliebe. Die Einheit in der Vernunft und im Willen solle in die Werke »hinausleuchten«. Dann wird abschließend ausdrücklich mit dem biblischen Fruchtbarheitsgedanken (nach Mt 3, 10 und 13, 8) den Leuten gewehrt, die in der Beschaulichkeit die Übung der Werke überwinden wollen.335 Der Gedankengang entspricht hier der Vollendung der Maria zur Wesentlichkeit in der Maria-MarthaPredigt. Die eckhartsche Prägnanz des Fruchtbarkeitsgedankens setzt sich bereits im zusammenfassenden Thomaszitat durch. Thomas hatte seine Äußerungen doch stärker eingeschränkt: erstens durch eine abstrakte Höherbewertung der Gottesliebe in der Schau über die Nächstenliebe in der Tätigkeit; zweitens durch eine schärfere Trennung von Aktion und Kontemplation, auch im Übergangsakt aus der Liebe (Addition!); drittens durch die Beschränkung der Fruchtbarkeit auf die kontemplationsnahen Akte der Seelsorge. Das Zitat interpretiert also Thomas auf eine allgemeine Konsequenz hin. Bei Thomas kommt der Anspruch der Liebe noch von außen, hier
335
Vgl. Pf 18,38–19,13: »Sanctus Paulus sprach zuo Timotheo: ›lieber friunt, dû solt ûz predien daz wort‹ (2 Tim 4, 2). Meinde er daz ûzer wort, daz den luft sleht? Nein, sicherlîche! er meinde daz innewendig geborne unde doch daz verborgene wort, daz dâ lît bedecket in der sêle, daz hiez er in predien, daz ez den kreften kunt würde und ouch gespîset unde sich der mensche her ûz gêbe in allez daz ûzer leben, dâ ez der ebenmensche bedürfte, daz man daz allez an dir vinde nâch dîner maht vollefüerende. Ez sol in dir sîn in deme gedanke, in der vernunft, in deme willen unde sol ouch ûz liuhten an den werken. (Vgl. dazu die Predigt »Praedica verbum«, DW II, 93–108.) Alsô sprach Kristus: ›iuwer lieht sol liuhten vor den liuten‹ (Mt 5, 16). Er meinde die liute, die alleine ahtent der schouwelicheit unde niht ahtent tugentlîcher üebunge unde sprechent, sie bedürfen sîn niht, sie sîn dar über komen (vgl. Pf 53,23 ff. und oben 607,38–608,2). Die meinde Kristus niht, dô er sprach: ›der same viel in ein guot ertrîche unde brâhte hundertveltige fruht‹ (Mt 13, 8). Ez sint die, die er meinde, dô er sprach: ›der boum, der niht fruht enbringet, den sol man abehouwen‹ (Mt 3, 10).« 236
erwächst er von innen. Bei Thomas wird nicht der Gewinn der Schau »in die Wirksamkeit ausgegossen«, sondern er wird im Übergang zur Aktion geopfert. 336 Das Thomaszitat ist hier also bereits in die eckhartsche Dynamik übersetzt. In der Auswertung des Zitates wird das noch deutlicher: die Identität von Wirksamkeit und Schau findet sich bei Thomas nirgends, wohl aber in Eckharts Reden der Unterscheidung.337 Der Übergang von der Kontemplation zur Aktion ist eine einzige organische Bewegung der Fruchtbarkeit im Vollzug der Gottesgeburt, in der kein Verlust stattfindet, wie ihn Augustin und Thomas befürchten, sondern eine Steigerung. Diese Bewegung geschieht nicht einmal unbedingt in zeitlichem Nacheinander, sondern in dem einen Punkt oder Augenblick, in dem Gott vom freien Menschen Besitz ergreift und in ihm und durch ihn sein ewiges Werk in die Zeit hinein wirkt. Die Ausführungen in der Predigt Nr. III bei Pfeiffer tragen also ganz den Stempel eckhartscher Gedanken, so daß man sie gern Eckhart selbst zuschreiben möchte, doch muß dies bis zur philologischen Klärung offen bleiben.338 Die Einheit des spirituellen Aktes, der sich in der Freiheit für Gottes Heilswerk transparent macht und dann mit Gott die Gottesgeburt im Werk fruchtbar werden läßt, ist jedenfalls an keiner Stelle klarer ausgedrückt als an dieser Stelle. Mit dieser neuerlichen Betonung der Einheit sehen wir uns wieder vor die Frage gestellt, in welchem Verhältnis sie zu der geschichtlich horizontalen Differenzierung von innerem und äußerem Werk einerseits und den verschiedenen Lebensformen andererseits steht.339
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Vgl. S.th. 2–2 q 182 a 2 resp.; vgl. aber auch die Einschränkung des Opfergedankens in ad 3, wo die Beschauung als größeres Opfer für Gott gegenüber der Tätigkeit hervorgehoben wird! Vgl. DW V, 291,10.11. Wenn auch die ganze Predigt ziemlich sicher nicht Eckhart zugehört, so vielleicht doch das besprochene Stück, sollte sich das Ganze als eine Kompilation erweisen. – Im übrigen sollte das Ergebnis dieser Untersuchung unabhängig von der Echtheit einzelner Stellen aus der spirituellen Gesamtkonzeption Eckharts genügend gesichert sein. Vgl. die Strukturbetrachtung des augustinischen Modells, Teil I, S. 84 bis 96. 237
B. Die Struktur des Modells bei Meister Eckhart340 In der Strukturbetrachtung des Modells bei Eckhart muß man von der Einheit der christlichen Existenz ausgehen, die in ihrer ontologischen Integration in die Dynamik des göttlichen Heilswerkes, die Gottesgeburt, besteht, weil sie den spirituellen Vollzug erst begründet. Wie bei Augustinus, so liegt auch bei Eckhart der Ausgangspunkt des Modells nicht in einer Klassifikation der Lebensformen nach der vorherrschenden Tätigkeit des Intellekts,341 sondern im Mysterium des Heilswerkes. Diese Gemeinsamkeit in der theologischen Vertiefung gibt Augustinus und Eckhart den Vorrang vor dem aristotelischen Ansatz bei Thomas von Aquin. Während nun Augustinus die ontologische Einheit in der Einheit der beiden Naturen in Christus und der Einheit der irdischen und himmlischen Kirche vorgegeben sieht, denkt Eckhart aus der transzendenten Einheit des ganzen Heilswerkes in Gott,342 von der die christliche Existenz immer schon betroffen ist. Dieser dynamische Vollzug steht gleichsam »quer« zur zeitlichen Entwicklung in der Ewigkeit. Er erinnert an den vertikalen Aspekt bei Augustinus,343 jedoch mit dem Unterschied, daß bei Eckhart hier alles in Bewegung ist. Während in der vertikalen Betrachtung Augustins wohl die christologische und ekklesiologische Einheit, aber auch die existentielle Differenz zwischen himmlischer »vita contemplativa« und irdischer »vita actualis« sichtbar wurde, ist bei Eckhart auch diese existentielle Differenz in der vertikalen Sicht aufgehoben, denn das ewige Heilswerk, das die Spannung von Transzendenz und Immanenz als »incarnatio continua« in jedem Augenblick überwindet, vollzieht ja die Vergöttlichung des Menschen. In dieser vertikalen Bewegung ist der 340
341 342 343
Vgl. dazu H. Piesch, a. a. O. 91–96; Th. Steinbüchel, Mensch und Gott in Frömmigkeit und Ethos der deutschen Mystik 15.16; J. Quint, Meister Eckehart (Einführung) 44–50; K. Oltmanns, Meister Eckhart 157 ff. Allen diesen Ausführungen, die die Einheit von Innerlichkeit und Tat bei Eckhart festhalten, fehlt der geschichtliche Aspekt; allein K. Oltmanns hat versucht, den Fortschritt bei Meister Eckhart festzuhalten, doch nimmt sie noch an, a. a. O. 158, Eckhart lehre dem Wortlaut nach dasselbe wie seine Tradition. Ähnlich betrachtet M. Bindschedler, Zeitschr. f. dt. Altertum 83, Anzeiger S. 128, die Predigt Pf Nr. IX als im Grunde doch traditionell. Vgl. dagegen Thomas, S.th. 2–2 q 179. Vgl. oben S. 141, 147, 153. Vgl. oben Teil I S. 88–93. 238
Mensch von Ewigkeit her immer schon zu Gott erhoben, weil er an jedem Punkt der Zeitlichkeit zu Gott erhoben wird. Schöpfung und Neuschöpfung in der Inkarnation sind zwar durchaus immanente Ereignisse, aber, indem sie einmal immanent geworden sind, sind sie immer immanent, und diese zugleich augenblickliche und dauernde Immanenz macht gerade ihre Transzendenz aus. Rein immanent kann ja nur sein, was, einmal geworden, sich nun nach zeitlichen Gesetzmäßigkeiten weiterentwickelt. Was der Mensch in vertikaler Sicht schon ist, das soll er in seiner geschichtlichen Entwicklung werden. In einer geschichtlich-horizontalen Sicht tritt die Identität des göttlichen Heilswerkes und die davon betroffene Existenz auseinander. Nur hier gibt es Differenzierungen der Heilsgeschichte einerseits und des christlichen Lebensweges andererseits. Mit der heilsgeschichtlichen Differenzierung hat sich Eckhart kaum befaßt, wohl aber mit der Spiritualität des christlichen Lebensweges. Darin liegt ein Mangel, der sich auch auf die Spiritualität auswirken mußte. Eine Spiritualität, die sich unmittelbar aus dem Heilsmysterium in Gott entfaltet, geht leicht über die heilsgeschichtlichen Einzelzüge, die Kirche und die Sakramente hinweg, und tatsächlich finden sich hier bei Eckhart nur wenige Ansätze.344 Die Tradition der Gottesgeburtsmystik bot die Tauftheologie als Theologie der Spiritualität an; bei Eckhart findet sich davon nichts mehr. Eine geschichtliche Eingründung in das Heilsmysterium fehlt; so gibt es weder eine institutionelle Grenze der Kirche noch eine Grenze des Christseins.345 Daraus ist jedoch nicht auf einen rein humanitären Charakter der Spiritualität Eckharts zu schließen, sondern umgekehrt auf den christlichen Charakter jeder Spiritualität, die sich aus der Offenbarung der Gottesgeburt versteht. Die geschichtliche Entfaltung der Spiritualität des Christen ist der Weg zur Wesentlichkeit, die jenen Punkt im Lebensweg bezeichnet, an dem der Mensch völlig in die ontologische Dynamik eingeschwungen ist, ohne dies freilich in jener schauenden Vollendung zu erfahren, die in diesem Leben nicht erreichbar ist. In der Wesentlich-
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Man sollte in dieser Tatsache nicht eine Schwäche der ganzen Konzeption sehen, sondern nur eine unvollständige Durchführung. Die Untersuchung Taulers wird zeigen, daß Heilsgeschichte und Ekklesiologie durchaus mit ihr zu vereinbaren sind, wenn auch Taulers größte Wirkung in der Schöpfungstheologie liegt. Vgl. unten S. 275–281. Vgl. J. Ratzinger (a. a. O. 88–114) zur Grenze der engeren Brudergemeinde und zum wahren Universalismus. 239
keit sind Spiritualität und ontologischer Vollzug miteinander identisch. Was ontologisch eine Einheit ist, ist nun auch im spirituellen Akt eine Einheit; was in vertikaler Sicht in einer Bewegung zusammenfiel, fällt nun auch in horizontaler Sicht in einer Bewegung zusammen. An dieser Stelle sind Eckharts Einheitsaussagen über das Modell »vita activa – vita contemplativa« einzuordnen; sie betreffen beide Aspekte, weil diese sich in der Wesentlichkeit, der dem Sein entsprechenden Vollkommenheit, überschneiden. In dieser Wesentlichkeit fallen inneres und äußeres Werk zusammen und stimmen Maria und Martha miteinander überein. Solange der Mensch noch auf dem Wege zur Wesentlichkeit ist, den Vollzug der Gottesgeburt also noch übt, aber nicht in jener Ungezwungenheit, Selbstverständlichkeit und Freude kann, die dem Vollzug im Sein entspricht, solange stehen für ihn Innerlichkeit und Äußerlichkeit, inneres und äußeres Werk, in Differenz zueinander und so lange wird er von der Vorrangigkeitsfrage geplagt. In der wesentlichen Wirkeinheit mit Gott braucht er nicht mehr zu fragen; sie ist »Wirken ohne Warum«346. Eckharts Äußerungen über die jeweilige Vorrangigkeit des inneren bzw. des äußeren Werkes betreffen diese Vorläufigkeit der Übung. Der Maßstab ist hierbei die Freiheit. Tritt die Behinderung an der Einheit mit Gott von außen an den Menschen heran, so muß er die äußeren Werke lassen, vorausgesetzt, daß ihm die Not der Mitmenschen dies nicht verbietet. 347 Kommt aber die Behinderung aus dem inneren Werk selbst, sei es aus dem Entzug der Gottbegegnung im flüchtigen Vorübergang der Schau,348 sei es aus einer geistlichen Genußfreudigkeit, die die Einheit im Verweilen verliert, statt sie in der Fruchtbarkeit des Wirkens zu erhalten, dann erhält das äußere Werk der Liebe den Vorrang.349 In dieser Argumentation folgt Eckhart ganz der Struktur des Modells bei Augustinus, Gregor und Thomas von Aquin, stellt jedoch stärker heraus, daß nicht nur die Vollendung der Aktion in der Kontemplation, sondern auch die Vollendung der Kontemplation in der Aktion gesehen werden muß. Die irdische Fruchtbarkeit der Kontemplation wird bei ihm nicht vorschnell durch die himmlische Vollendung der
346 347 348 349
Vgl. oben S. 164. Vgl. Pf 49,17–25 und RdU DW V, 211,6–14; 221,1–8; 291,7–10. Vgl. Pf 608,5.6, zitiert Anm. 333. Vgl. RdU, DW V, 219,9–224,6. 240
Kontemplation verstellt, eine Gefahr, die sich durch die ganze christliche Kontemplationsmystik hindurchzieht. Die Darstellung der christlichen Vollendung in der Gestalt des kontemplativen Einsiedlers ist für Eckhart zweifelhaft. Im inneren Werk geht es ihm nicht um die Weltflucht, sondern um die Freiheit inmitten der Welt. Freiheit und Werk sind die beiden Merkmale der Wesentlichkeit. Auf dem Weg zur Wesentlichkeit lassen sich nicht nur Aktion und Kontemplation, sondern auch aktive und kontemplative Lebensformen unterscheiden. Wir haben die Predigt über Maria und Martha in den Mittelpunkt unserer Untersuchung gestellt, weil in ihr nicht nur die Einheit von Aktion und Kontemplation in der Wesentlichkeit gezeigt wird, sondern auch zwei verschiedene Lebenswege zu dieser Wesentlichkeit beschrieben werden. Man kann wohl sagen, daß die Spiritualitäten der Martha und der Maria miteinander identisch sind, insofern sie wesentlich sind; und doch unterscheiden sie sich. Denn Marthas Erkenntnis erwächst aus der Lebenserfahrung des »Wirkens in der Zeit«; Mariens Erkenntnis aber ruht im Erleiden der Schau. Bei Eckhart gibt es also verschiedene Präsenzmöglichkeiten des Vollzugs der Gottesgeburt, der doch immer derselbe bleibt. Die Einheit der christlichen Existenz und der christlichen Spiritualität stellt sich in verschiedenen Spiritualitätsformen verschieden akzentuiert dar. Darin liegt die Lösung des Problems von Identität und Differenz, das uns im Anschluß an die Aussagen Eckharts begegnete. Die Identität des Vollzuges bleibt erhalten, jedoch wird er in verschiedener Akzentuierung von den Menschen adaptiert. So wird der Marthatyp seine Wesentlichkeit immer näher an der Wirksamkeit erspüren, und der Mariatyp seine Wesentlichkeit näher an der Schau erfahren, obwohl beide sowohl die Innerlichkeit als auch die Wirksamkeit integrieren. Die dynamische Struktur der christlichen Existenz ist im wesentlichen Leben in ihrer Fülle präsent, den hinter ihr steht die Fülle Gottes, das innertrinitarische Leben, das zugleich Gottes Heilswerk umfaßt; und doch steht diese Fülle nicht im Gegensatz zur menschlichen Besonderheit. Sie zeigt sich vielmehr in jedem Einzelzug der Spiritualität, sofern diese wesentlich ist. Aus dieser Struktur erklärt sich z. B., daß Eckhart unter verschiedenen Gesichtspunkten denselben Gedanken darstellt. So sind geistige Armut, Gelassenheit, Weiselosigkeit, Abgeschiedenheit und Freiheit verschiedene Beleuchtungen derselben Struktur. Eine gewisse Eintönigkeit trotz sprachlichen Reichtums ergibt sich bei Eckhart daraus, daß er immer wieder unter einem anderen Aspekt über dasselbe spricht. Ob Eckhart beschreibt, wie man »mit mannigfachem
241
Gewerbe mit brennender Liebe in allen Kreaturen Gott zu suchen« habe350 oder ob er über den Menschen predigt, der »nichts will, nichts weiß, nichts hat«351, es sind verschiedene Seiten derselben Sache, hinter der die Identitätsformel »Gottesgeburt in der Seele« steht. Deshalb kann der Mensch unter einem Aspekt das Ganze haben. Die Weiselosigkeit des Gottfindens ist offen für alle Weisen des Gottfindens. Die Predigt über Maria und Martha bildet so den Schlüssel für die Struktur des Modells »vita activa – vita contemplativa« bei Meister Eckhart. Hier ist, ähnlich wie bei Augustinus, jedoch in noch größerer Konsequenz, eine Höhe der christlichen Integrierung des Modells erreicht, die zugleich seine Überwindung bedeutet. Denn nicht mehr die Dualität zweier Lebensformen, auf die einzelne Merkmale der christlichen Existenz festgelegt und dann am Wertmaßstab dieser Lebensformen gemessen werden, kennzeichnet nun das Modell, sondern die Präsenz der Einheit in der Vielfalt. C. Bewertung der Struktur des Modells bei Meister Eckhart Meister Eckharts Struktur des Modells ist von dreifacher Bedeutung für den Fortschritt in der Geschichte der christlichen Spiritualität: sie überwindet den in einem Modell der griechischen Philosophen begründeten Dualismus der christlichen Frömmigkeit; sie überwindet im Zusammenhang damit die abstrakte Wertung der christlichen Lebensformen in der Vorrangigkeitsfrage des Modells; sie erreicht schließlich in der Figur der Martha eine Aufwertung der Spiritualität des aktiven Lebens, die bis dahin durch die inneren Wertmaßstäbe des Modells behindert war Überwindung des Dualismus in der Frömmigkeit Im thomistischen Modell »vita activa – vita contemplativa« überschneiden sich zwei Gedanken; für den einen ist Aristoteles, für den anderen Augustinus verantwortlich. Nach Aristoteles werden die verschiedenen Eignungen des Menschen zur Aktion bzw. Kontemplation unterschieden, je nach der Vorherrschaft des praktischen bzw. theoretischen Intellekts.352 Nach Augustinus wird der eschatologische Anteil an der 350 351 352
Pf 50,13.14. Pf 280 ff. Vgl. oben Teil 1 Kap. 1, 1 a. 242
himmlischen Kontemplation der irdischen Verpflichtung zum aktiven Dienst gegenübergestellt.353 Dadurch, daß Thomas beide Gedanken zu vereinbaren sucht, ergeben sich zwei verschiedene Typen christlicher Frömmigkeit, von denen der eine in der Entfaltung seiner Begabung der kontinuierlichen und gesteigerten Fortsetzung seines Tuns im Himmel versichert ist (das ist die »optima pars« der Kontemplation), während der andere zwar in der Entfaltung seiner Begabung sich die ewige Seligkeit verdient, aber vom inneren Sinn seines Lebens nichts in die Ewigkeit hinüberrettet.354 Dabei kann der kontemplative Mensch sich gelegentlich der Aktion zur Steigerung bedienen, während der aktive Mensch dem eschatologischen Vorteil des Kontemplativen ziemlich hilflos gegenübersteht, sofern ihm die Fähigkeit zur Kontemplation abgeht. Thomas zeigt wohl, wie und wann das kontemplative Leben die Aktion zu integrieren habe, nicht aber, wie das aktive Leben seine eigene »Kontemplation« entwickeln könne. Die dualistische Zerrissenheit der Frömmigkeit ergibt sich daraus: Der kontemplative Mensch steht in der Verpflichtung, über seiner Schau nicht die »necessitas caritatis« in diesem Leben zu vergessen. H. Urs von Balthasar fragt mit Recht, wann denn diese Notwendigkeit nicht vorläge.355 Der aktive Mensch steht in der Befürchtung, über seiner vielfältigen Tätigkeit nicht die Muße zur Kontemplation zu finden. Eckharts Spiritualität überwindet diese Zerrissenheit durch die Gedanken der Fruchtbarkeit und der Freiheit. Die Aktion des kontemplativen Menschen reagiert hier nicht mehr auf die von außen bedrängende Verpflichtung, sondern sie erwächst aus der Kontemplation selbst, in der die göttliche Dynamik frei wird; die Einheit der Erkenntnis und der Liebe wird fruchtbar in der Einheit des Wirkens. Die »Kontemplation« des aktiven Menschen bedarf nicht so sehr der Muße, sondern sie besteht in der Freiheit inmitten der sorgenden Verantwortung für die Dinge; die Freiheit des
353
354
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Vgl. Sermo 104, I, 1 PL 38, 616: »A Martha convivium Domino parabatur, in cujus convivio Maria iam iucundabatur.« Vgl. Augustinus, In Joan. tractatus 124 PL 35, 1974 D: »Perfecta me sequator actio (in diesem Leben), informata meae passionis exemplo; inchoata vero contemplatio maneat donec venio.« Sermo 103, IV, 5 Pl 38, 615 B: »A te (Martha) auferetur onus necessitatis: aeterna est dulcedo veritatis.« Vgl. auch Thomas, S.th. 2–2 q 182 a 2. DTA 23, 457. 243
aktiven Menschen ist seine Transparenz für Gottes Wirken. Seine Aktion ist Mitwirken mit Gott; im zeitlichen Werk nimmt sie teil am göttlichen Heilswerk. Die Aktion ist so ebenso ihres eschatologischen Anteils versichert wie die Kontemplation, und die Kontemplation erfüllt erst in der immanenten Fruchtbarkeit ihren eigenen Sinn. Die vollkommene Frömmigkeit orientiert sich nicht mehr an der Dualität der Begabungen noch an einer ihnen entsprechenden Aufteilung der Merkmale der christlichen Existenz, sondern sie geht quer durch diese Begabungen hindurch und sieht die Fülle der Merkmale in jeder von diesen Begabungen. Überwindung der Vorrangigkeitsfrage Das Modell ist vor Eckhart durch eine Wertung bestimmt, die den eschatologischen Vorzug der Kontemplation auf den Vorrang der »vita solitaria« gegenüber der »vita civilis«, des Gebetslebens gegenüber der Arbeit, der Muße (otium) gegenüber der Beschäftigung (negotium), der beschaulichen Gottesliebe gegenüber der aktiven Nächstenliebe bezieht356 und so wesentliche Merkmale der christlichen Existenz von der irdischen Vorläufigkeit, d. h. vom eschatologischen Vorbehalt der Bibel, betroffen sein läßt. Den schärfsten Ausdruck findet diese Vorrangigkeit bei Thomas von Aquin, wenn die »vita solitariorum« über die »vita socialis« gestellt wird, weil sie ein »instrumentum perfectionis« der Kontemplation sei.357 Was bei Thomas nur »abstrakte Wesensanalyse« ist,358 ist in der Mönchstheologie Lebensregel gewesen, wie wir besonders an der Sekte der Messalianer verfolgen konnten.359 Auch wenn die abstrakte Wertung wie bei Thomas in der konkreten Anwendung mehrfach durchbrochen wird, konnte sie doch ihre Auswirkungen auf die Frömmigkeit nicht verfehlen. Bei Eckhart ist der eschatologische Vorzug der Kontemplation nicht mehr so eindeutig festzulegen, weil die Innerlichkeit, der spirituelle Vollzug der Gottesgeburt, vor 356
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Vgl. a. a. O. 454, 455: »Man wird aber bis Thomas einschließlich kaum einen Denker finden, bei welchem das evangelische Begriffspaar der Gottesliebe und Nächstenliebe nicht irgendwie gefärbt wäre von dem griechischen Schema. ... Die gradlinige Überordnung der Beschauung über die äußere Tätigkeit zieht eine ebenso gradlinige Überordnung der Gottes- über die Nächstenliebe mit sich ...« S.th. 2–2 q 188 a 8 resp. U. v. Balthasar, a. a. O. 455, Anm. 1. Vgl. oben Teil I S. 78, 81–82. 244
allem in der Abgeschiedenheit besteht. Abgeschiedenheit dokumentiert sich jedoch nicht in müßiger Zurückgezogenheit, sondern erweist sich als innere Freiheit für Gott, als Lösung von jener Ichbefangenheit, die in den kreatürlichen Verflechtungen letztlich sich selbst, nicht aber Gott sucht. Der Mangel an dieser Freiheit kann in allen Weisen den Weg zu Gott verderben; die Ichbefangenheit ist um so gefährlicher, je verfeinertere und scheinbar unirdische Formen sie sich sucht, um sich darin zu verfestigen. Der Feind der eckhartschen Spiritualität ist weder die Kreatur, noch die Umwelt, noch die Tätigkeit, sondern der Egoismus. 360 Der spirituelle Ansatz findet deshalb vor allem in einer groß angelegten Sozialethik seine Anwendung; nicht individuelle Vervollkommnung ist sein Ziel, sondern universelle Vollendung durch die liebende Wirkeinheit mit Gott. Die Gottesliebe beansprucht keinen anderen Raum als die Nächstenliebe, sondern sie vollzieht sich in ihr.361 Auch das aktive Leben hat seine eschatologische Qualität; sie besteht in der inneren Freiheit für Gott und im Wirken in der Wirkrichtung der Gottesgeburt, das aus dieser Freiheit stammt. Eine Vorrangigkeit zwischen aktiven und kontemplativen Lebensformen kann es also gerade in der Wesensanalyse nicht geben, die ja die Vollkommenheit, die Wesentlichkeit, der beiden Lebensformen voraussetzt. Wohl gibt es, wie wir gesehen haben, auf dem konkreten Wege zur Wesentlichkeit eine jeweilige Vorrangigkeit des Schauens oder des Wirkens, je nachdem von außen oder von innen Behinderung entsteht. Die abstrakte Vorrangigkeitsfrage ist jedoch in einem Modell überwunden, das von der Einheit der christlichen Existenz ausgeht und diese Einheit in den verschiedenen Weisen des spirituellen Vollzugs in ihrer Fülle präsent sieht. Aufwertung des tätigen Lebens Das tätige Leben war bisher vom Dualismus des Modells und der Vorrangigkeitsfrage am meisten getroffen und in seiner Bedeutung geschmälert worden. Eine Überwindung des Dualismus und der Vorrangigkeitsfrage mußte notwendigerweise zu seiner 360
361
Vgl. RdU, DW V, 192,6–193,2: »Swaz wir meinen, daz der mensche disiu dinc sol vliehen und jeniu suochen – daz sint die stete und die liute und die wîse oder diu menige oder diu werk – daz (alles) enist niht schult, daz dich diu wîse oder diu dinc hindernt: dû bist ez in den dingen selber, daz dich hindert, wan dû heltest dich unordenlîche in den dingen.« Vgl. H. Piesch, a. a. O. 115 ff. 245
Aufwertung führen. Eckhart hat sich mit dieser allgemeinen Aufwertung in der Struktur des Modells nicht begnügt, sondern er widmet der »vita activa« seine ganze Sympathie. Augustinus und Gregor machten aus ihrer persönlichen Bevorzugung der »vita contemplativa« kein Hehl, und die meisten Mystiker folgten ihnen darin, wenn auch die Integration des aktiven Lebens in das kontemplative Einheitsideal immer mehr Fortschritte machte.362 Eckharts Ideal liegt in der durch die Freiheit verinnerlichten »vita activa«. Das wird besonders in der Maria-Martha-Predigt deutlich, wo er der Figur der Martha wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Liebe widmet, als dies für seine pädagogische Absicht, die Vollendung Mariens zur Wesentlichkeit, notwendig wäre: Seine dynamische Ontologie erschließt die Dynamik der Spiritualität. Deshalb ist es nur konsequent, daß er den Marthatyp gegenüber der »optima pars« des Marientyps nicht nur rechtfertigt, wie das seit Augustinus immer wieder geschah,363 sondern ihn zu einem Ideal der christlichen Spiritualität umgestaltet. Die »vita activa« ist nicht nur eine vorläufige Notwendigkeit für ihn, sondern Teilnahme an jener göttlichen Dynamik, in der das innertrinitarische Leben, Schöpfung, Erlösung und Vollendung in ewiger Gleichzeitigkeit sich vollziehen. Gott lebt im Werk des Menschen, ob der Mensch es weiß oder nicht weiß, will oder nicht will, denn durch die »scintilla animae« vollzieht sich das zugleich schaffende und vollendende Werk der »creatio continua« und »incarnatio continua«. Des Menschen Heil liegt darin, dieses göttliche Werk in der Freiheit wirkend mitzuvollziehen und ihm nicht seine vergöttlichende Wirkung durch Sünde und Ichbefangenheit zu behindern. Verhindern kann es der Mensch nicht, denn Gott überwindet die Sünde, aber er kann seinen Anteil daran verlieren, wenn er das eigene Nichts anstelle Gottes sucht und findet.364 362
363
364
Zur Einstellung Augustins vgl. G. f. D. Locher, Martha en Maria in de prediking van Augustinus 86; zur Einstellung Gregors vgl. L. M. Weber, Hauptfragen der Moraltheologie Gregors des Großen, Freiburg/Schw. 1947, 71.80.127. Vgl. Augustinus, Sermo 104, III, 4 PL 38, 617: »Non ergo Dominus opus (Marthae) reprehendit, sed munus distinxit.« Beda Venerabilis, Homiliae 58, 3, PG 94, 421: »pars Marthae non reprehenditur, sed Maria laudatur«. Paulus Diaconus, Homiliae de Sanctis II PL 95, 1569: »Quis enim cognoscens Deum ad ejus regnum ingreditur, nisi prius bene operetur?« Vgl. auch Paterius, Super Ev. sec. Luc. 25 PL 79, 1062 CD; Hugo von St. Viktor, Allegoriae in Nov. Test. 4,13 PL 175, 816 C. Vgl. DW I, 187,1–6: »Ich sprach etwenne: der niht suochet, daz der (auch) niht findet, wem mac er daz klagen? Er vant, daz er suochte. Swer iht suochet oder meinet, der suochet und 246
Wie kein anderer vor ihm hat Eckhart die Nähe Gottes zum Werk herausgestellt. Man würde jedoch diese Werkfrömmigkeit mißverstehen, wenn man sie auf eine geschichtliche Gestaltung der Schöpfung beziehen wollte. Diesre horizontale Aspekt ist bei ihm nur im Übungscharakter des Werkes enthalten. Der geschichtliche Erfolg und die geschichtliche Bedeutung des Werkes für die säkulare Entwicklung der Welt sind deshalb nicht wichtig, weil alles auf die Innerlichkeit des Werkes ankommt. Das Werk ist nur gut, wesentlich und fruchtbar, wenn das Sein des Menschen gut, wesentlich und fruchtbringend ist. Das Werk hat wohl seine Fruchtbarkeit für das Sein, aber diese Fruchtbarkeit geht nach innen, nicht nach außen. Eine äußere Fruchtbarkeit der Geschichte wird von Eckhart nicht gesehen, sondern nur der vertikale Aspekt der Beziehung von Gott, Mensch und Kreatur. Der Sinn des Werkes, des inneren wie des äußeren, liegt deshalb in der Steigerung des Menschen zur Wesentlichkeit; es bezieht sich immer auf den Menschen zurück. Diese Verkürzung des geschichtlich-horizontalen Aspektes liegt daran, daß Eckhart keine relative Eigenständigkeit der Welt kennt. J. Kopper hat auf diesen wichtigen Unterschied zu Thomas von Aquin hingewiesen: Eckharts Mystik ist ganz von der Transzendenzerfahrung geprägt; die Dinge in sich selbst sind für ihn Nichtigkeit.365 Deshalb liegt die Bedeutung des Werkes ebenfalls ganz in seiner transzendenten Richtung. Das bedeutet nicht, daß es kein Wirken in der Zeit ist, sondern das Wirken in der Zeit wird immer als Vollzug der Seinsdynamik verstanden, die »quer« zum geschichtlichen Ablauf steht. Der Fortschritt der Vollendung ist deshalb nicht an einer geschichtlichen Entwicklung ablesbar, sondern er geschieht gleichsam im Gegenrhythmus zur Geschichte. So ist das Werk zwar Baustein zur Vollendung der Schöpfung, aber nicht als ein irdisch faßbares Ergebnis, sondern als Vollzug der ontologischen Einheit.366
365
366
meinet niht und der um iht bittet, dem wirt niht. Aber der niht ensuochet ... dan lûter got, dem entdecket got allez, daz er verborgen hât in sînem götlîchen herzen ...« Vgl. Die Metaphysik Meister Eckharts 60: »Das thomistische Denken erfährt die Dinge in ihrer Eigenständigkeit und begreift sie doch aus der Einheit des Seins ... Eckharts Metaphysik geht über das reallogische Verständnis des Seienden hinaus, sie versteht das Sein des Seienden rein aus der Transzendenz, die Dinge zeigen sich nicht mehr von sich selbst her, sie werden aus der Transzendenz begriffen.« Vgl. oben Anm. 148 zu Pf 72,15–73,5. 247
Man darf aus dieser Auffassung nicht auf eine Gleichgültigkeit gegenüber dem äußeren Werk schließen. Die Innerlichkeit des Werkes schließt ein, daß es nicht gleichgültig ist, was getan wird und wie es getan wird. Da ja die immanente Ordnung von ihr herstammt, umschließt sie also auch die immanente Vollkommenheit des Werkes. Das Werk ist Zeichen und Vollziehen der Vollkommenheit, und es gibt nichts noch so Äußerliches, das sich dieser Vollkommenheit entziehen darf. Eckharts Innerlichkeit im aktiven Leben ist also mehr als die gute Meinung im Handeln, der es weniger auf das Werk als auf die Absicht ankommt. Es kommt ihr sehr wohl auf das Werk und sein bleibendes Ergebnis an, aber auf ein bleibendes Ergebnis in der transzendenten, nicht in der immanenten Ordnung. Deshalb kann man ein Werk nicht an der irdischen Größe oder Geringfügigkeit messen, wohl aber muß es, auch irdisch gesehen, das sein, »über das hinaus man zur Zeit nichts Besseres kennt«367. Die Vernachlässigung des horizontalen bzw. geschichtlichen Aspektes bei Eckhart bedeutet hier wie an allen anderen Stellen seiner Konzeption keine Einseitigkeit, die nur einen Teil, nicht aber das Ganze sieht. Denn jener vertikale bzw. transzendentale Aspekt, aus dem sich Eckharts ganze Konzeption versteht, ist das Ganze, aus dem alle anderen Aspekte stammen.368 So lassen sich auch ohne Schwierigkeiten in Eckharts umfassende Heilswerkontologie alle Einzelzüge der Heilsgeschichte einbauen. Hätte Eckhart dies unternommen, so hätte er die Präsenz des ganzen Heilswerks in jedem seiner geschichtlichen Züge aufgewiesen, so wie er es tatsächlich in der Durchdringung des Inkarnationsmysteriums getan hat. Einiges von diesem horizontalen Aspekt, der so stark in Eckharts transzendentalem Denken aufgehoben ist, findet sich in der Lebenslehre des Predigers Johannes Tauler, so daß sich deren Untersuchung darin ergiebiger erweisen wird. An Johannes Tauler sind wir mit der Frage des Weiterwirkens der Struktur des Modells »vita activa – vita contemplativa« bei Meister Eckhart verwiesen.
367 368
Pf 51, 20.21. Freilich dürften die einzelnen Aspekte nicht so der Übermacht des Ganzen geopfert werden, wie das bei Eckhart geschieht. 248
Dritter Teil JOHANNES TAULERS LEBENSLEHRE UND DAS MODELL »VITA ACTIVA – VITA CONTEMPLATIVA«
VORBEMERKUNGEN In den letzten Jahren sind nur wenige Beiträge zur Taulerinterpretation erschienen. Eine umfassende Gesamtdarstellung fehlt; sie wäre um so notwendiger, als nach den Klärungen der Grundgedanken Eckharts durch die Arbeiten J. Kochs sich die Frage stellt, inwieweit nun auch Tauler in neuem Licht erscheint. K. Ruh weist darauf hin, daß vor allem noch keine befriedigende Klärung des Verhältnisses zwischen Eckhart und Tauler erbracht ist. Die Eigenständigkeit Taulers wird teils nicht gesehen, teils nur vage konstatiert, teils allein mit seiner ethischpädagogischen Orientierung und seinen terminologischen Veränderungen erklärt. Die genauesten Ergebnisse finden sich bisher in terminologisch orientierten Untersuchungen (z. B. von C. Kirmße und P. Wyser). Seit K. Ruhs Forschungsbericht (1957) hat sich noch keine wesentliche Veränderung der Situation ergeben, soweit es die Gesamtinterpretation Taulers betrifft. Freilich wurden zum Tauler-Gedenkjahr 1961 eine Reihe wichtiger Arbeiten in der Gedenkschrift (hrsg. von E. Filthaut) zusammengefaßt. H. C. Scheeben brachte Klarheit in den Lebensablauf und die Umwelt Taulers. Darüber hinaus wurden durch Materialzusammenstellungen und durch den Aufweis verschiedener Aspekte der Lebenslehre Taulers wichtige Vorarbeiten für eine »transzendente« Interpretation geleistet. Eine weitere Analyse bot im gleichen Jahr I. Weilner über den Bekehrungsweg Taulers. Weilner geht von einem psychologisch-pädagogischen Gesichtspunkt aus und analysiert die Lehre Taulers im Zusammenhang mit ihren Erfahrungsgrundlagen, berücksichtigt aber dabei auch die geschichtlichen Grundlagen und die theologischen Voraussetzungen der Lebenslehre Taulers. Die Beziehungen dieser
249
Lebenslehre zu Meister Eckhart werden jedoch nicht geklärt. Eine neue Interpretation müßte noch mehr die theologischen Grundlagen der Mystik Taulers ins Zentrum rücken. Durch die Klärung der eckhartschen Gedankengänge ist es weitgehend ermöglicht, sie in ihren Unterscheidungsmerkmalen und in ihrer Bedeutung zu erfassen. Hier kann nun nicht eine erschöpfende Gesamtinterpretation versucht werden. Die Vorrangigkeit der Sachfrage begrenzt den Aspekt der Untersuchung. Die Grundlagen der Mystik Taulers sollen jedoch unter einigen Aspekten im Zusammenhang gezeigt werden. Als Hauptunterscheidungsmerkmal gegenüber Eckharts Konzeption erweist sich dabei vor allem Taulers Ekklesiologie. Andererseits setzt Tauler gerade in der Lebenslehre die Konzeption Eckharts fort und ergänzt sie. Zunächst wird versucht, von Eckhart her ein gewisses Vorverständnis für die Predigten Taulers zu gewinnen. Danach werden die Grundlagen der Lebenslehre Taulers behandelt und nochmals mit Eckhart verglichen. Die Sachfrage nach der Bedeutung des Modells »vita activa« und »vita contemplativa« stellt sich dann nicht beziehungslos, sondern im Zentrum der Lebenslehre selbst. Die Predigten Taulers werden nach der Ausgabe von F. Vetter (V) zitiert. Neuhochdeutsche Zitatübersetzungen im Text benützen die Übertragungen G. Hofmanns.
I.
MEISTER ECKHART UND DIE LEBENSLEHRE JOHANNES TAULERS
1. Johannes Tauler als Schüler Eckharts? Nach neueren Forschungsergebnissen ist Tauler nie im direkten Sinne Schüler Meister Eckharts gewesen.1 Ein Studium Taulers in Köln zur Zeit der dortigen Wirksamkeit Meister Eckharts ist nicht nachweisbar. Während Eckharts Tätigkeit am Oberrhein kann ihn freilich Tauler als Prediger kennengelernt haben. Der vor 1300 geborene Tauler trat um 1315 in Straßburg in den Dominikanerorden ein und erhielt dort seine Ausbildung. In Straßburg hat er sicherlich von Eckhart gehört, Nachschriften seiner Predigten gelesen und vielleicht den Meister auch gesehen. Jedoch erbringt 1
Vgl. zum folgenden: H. C. Scheeben, Zur Biographie Johannes Taulers 22–36. Weitere Literatur zu Leben und Werk Taulers: vgl. Ged. 465–467. 250
die Forschung in der Frage nach einem persönlichen Kontakt der beiden Mystiker allgemein ein negatives Ergebnis Andererseits steht eine geistige Beeinflussung Taulers durch Eckhart ebenso allgemein fest. Für diese Beeinflussung ist der Nachweis persönlicher Kontakte nicht erforderlich, denn Eckharts Schriften konnten ohne weiteres in die Hände Taulers gelangen. Der Ruf des Meisters sorgte für die Verbreitung seiner Schriften. Die Sammlung des Cusaners im 15. Jahrundert beweist, daß nicht einmal die Verurteilungsbulle vom 27. März 1329 diese Verbreitung ganz verhindern konnte. Taulers Kenntnis der Schriften Meister Eckharts und ihr Einfluß auf seine Predigten schließen seine Eigenständigkeit nicht aus. Man muß bedenken, daß Eckhart nur ein Teil, wenn auch ein herausragender, im ganzen Strom der deutschen Mystik gewesen ist und daß Tauler auch anderen Lehrern verpflichtet war, so z. B. dem Dominikaner Johannes von Sterngassen. Mystische Traktate finden sich in den Werken aller großen Lehrer, sowohl im Dominikaner- als auch im Franziskanerorden. Tauler zeigt sich nicht nur seinen eigenen Ordenslehrern verpflichtet, sondern er verdankt auch viel der an die Zisterziensermystik anknüpfenden franziskanischen Tradition. Das zeigt sich bereits deutlich in der affektiven Färbung seiner mystischen Konzeption. Wenn man daher Tauler als Schüler Meister Eckharts bezeichnet, so muß das mit gewissen Vorbehalten geschehen. Es ist nicht zu erwarten, daß Tauler alle Gedanken Eckharts verwertet noch daß er nur von der Gedankenwelt Eckharts abhängig ist. Die Eigenständigkeit Taulers ist festzuhalten. Sie muß nicht nur auf seine »starke und ausgeprägte« Persönlichkeit zurückgeführt werden,2 sondern auf die Auswahl in der Überlieferung und das spirituelle Anliegen des Predigers. Nach seinem Ordenseintritt 1315 studierte Tauler sieben bis acht Jahre an der Ordensschule in Straßburg. Früher wurde angenommen, daß er anschließend das »Studium generale« in Köln besucht hat.3 Diese Annahme hat H. C. Scheeben widerlegt. Ein Studium in Köln setzte die Bestimmung zum Lektor voraus. Tauler ist jedoch niemals Lektor gewesen.4 Seine Lebensaufgabe wurde vielmehr die Predigt und Seelsorge, vor allem in den dem Dominikanerorden anvertrauten Frauenklöstern. Tauler 2 3 4
I. Weilner, Johannes Taulers Bekehrungsweg 52. Vgl. W. Preger, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter III, 93.95.96.101. Vgl. H. C. Scheeben, Zur Biographie Johannes Taulers 22. 251
ist also in erster Linie als »Lebemeister« oder Spiritual anzusehen. Darin liegt bereits ein entscheidender Unterschied zu Meister Eckhart. Eckhart war »magister sacrae scripturae« gewesen, d. h. Lesemeister. Er versuchte, seine theologische Konzeption mit seiner Lebenslehre zu verbinden bzw. sie in eine Lebenslehre ausfließen zu lassen. Er war Scholastiker und Mystiker zugleich. In der Mystik handelt es sich ja nicht um eine geheimnisvolle, subjektivistische und esoterische Überhöhung der theologischen Erkenntnis, sondern um spirituelle Auswertung der theologischen Spekulation. Mystik ist also auch Theologie der Spiritualität. Darum trifft der Ausdruck Lebenslehre auf sie zu. Jedoch ist dabei eine ganz bestimmte Art von Lebenslehre gemeint. Die mystische Lebenslehre mißt sich immer an der Verborgenheit Gottes, am »deus absconditus«. Daraus ergibt sich die »Dunkelheit« der mystischen Texte. Diese Dunkelheit darf jedoch nicht mit Ungenauigkeit verwechselt werden. Die mystische Lebenslehre wehrt nur den ideologischen Verfestigungen in Spiritualitätsrezepten und Lebenssicherungen, die »von unten her«, d. h. aus irdischen Verhältnissen und mit irdischer Weisheit aufgebaut werden. Mystische Lebenslehre ist der Versuch, »von oben her«, d. h. von Gott her, unter Einschluß seiner Unzugänglichkeit, das menschliche Leben zu begreifen. Davon legt die Konzeption Meister Eckharts ein deutliches Zeugnis ab. Meister Eckharts Konzeption läßt sich nicht ohne seine lateinischen Schriften erschließen. Bei Tauler fehlen uns solche Schriften; nur Predigttexte liegen uns vor. Diese Predigten begründeten seinen Ruf und machten ihn zum Mittelpunkt der ethisch-aszetischen Bewegung der Gottesfreunde am Oberrhein. Auch Kölner Predigten Taulers sind uns bekannt und ein Aufenthalt in Basel, als Straßburg mit dem Interdikt belegt war.5 Sein Tod ist 1361 in Straßburg bezeugt. Tauler war also im Unterschied zu Meister Eckhart kein Fachtheologe im engeren Sinne. Trotz scholastischer Elemente in seinen Predigten ist er kein Scholastiker gewesen. Das bedeutet keine Unabhängigkeit oder gar einen Gegensatz zur Scholastik. 6 Seine Predigten
5
6
Vgl. H. C. Scheeben, Der Konvent der Predigerbrüder in Straßburg – die religiöse Heimat Taulers 64. Vgl. K. Ruh, Altdeutsche Mystik 217. Vgl. zur Abhängigkeit Taulers im einzelnen: E. Filthaut, Johannes Tauler und die deutsche Dominikaner-Scholastik des XIII./XIV. Jahrhunderts 94–121. 252
bauen auf scholastischen Übungen auf, sind jedoch nicht von scholastischem Interesse getragen. Tauler war Lebemeister, Seelsorger und Spiritual, dessen ethisch-seelsorgliche Interessen der Spekulation vorgingen. Bei der Interpretation seiner Predigten ist also zweierlei zu beachten: die theologiegeschichtliche und damit auch scholastische Grundlage seiner Lebenslehre und das praktische Interesse dieser Lebenslehre. Die philosophisch-theologischen Voraussetzungen Taulers herauszuarbeiten, scheint zunächst schwieriger als bei Meister Eckhart. Bei Eckhart trifft man eine ganz bestimmte Konzeption auch unabhängig von seiner Lebenslehre an, aus der dann wiederum seine Lebenslehre zu verstehen ist. Bei Tauler ist die theologische Grundlegung in seiner Lebenslehre selbst enthalten und daraus zu eruieren. Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit bietet das Verhältnis zwischen Meister Eckhart und Johannes Tauler. Wenn Tauler in gewissem Sinne als Schüler Meister Eckharts verstanden werden kann, muß sich aus der Konzeption Meister Eckharts ein gewisses Vorverständnis für Johannes Tauler ergeben. Freilich ist zu beachten, daß es sich um ein Vorverständnis handelt. Immerhin muß nach den Zentralvorstellungen Meister Eckharts bei Tauler gefragt werden. Daraus ergibt sich ein Vergleich, der die Spannung zwischen dem grundsätzlichen Weiterleben der Konzeption Eckharts im System Johannes Taulers und Taulers wichtigsten Veränderungen an dieser Konzeption aufzeigen kann. Dabei wird sich auch die Abhängigkeit Taulers von Meister Eckhart klären lassen. Die letzte Klärung bleibt dann freilich der Einzeluntersuchung der Lebenslehre Taulers vorbehalten.7
2. Zentralvorstellungen Eckharts bei Tauler Schon H. S. Denifle stellt fest, daß Tauler die Kernpunkte der Mystik Meister Eckharts übernimmt. 8 Solche Kernpunkte sind, unter dem Aspekt unserer Fragestellung betrachtet: die negative Theologie, die Gottesgeburtslehre mit der Seelengrundspekulation und die Aufwertung des tätigen Lebens. 7
8
Eine genauere Untersuchung der Abhängigkeit Taulers von Meister Eckhart wäre Aufgabe einer eigenen Monographie. Vgl. dazu: K. Ruh, Altdeutsche Mystik 223. Vgl. Die deutsche Mystik des 14. Jahrhunderts 77. 253
Eckhart übernimmt die Vorstellung von der negativen Theologie aus der Spekulation des Pseudo-Dionysius. Diese Vorstellung besagt, daß auf affirmativem Wege eigentlich keine Aussage über Gott möglich ist, denn Gott erweist sich stets als der »Ganz-Andere«, als derjenige, den nichts anderes erreicht, der nur in sich selbst er selbst ist. Positive Aussagen sind daher nur in Analogie möglich, insofern Gott der Urgrund aller Dinge ist. Gerade dieses analoge Verhältnis erfordert jedoch Aussagen über Gott »via negationis«. Gott ist über alle sichtbaren, über alle vorgestellten und über alle begrifflich-abstrakten Dinge erhaben. Die Feststellung, was er nicht ist, faßt ihn deutlicher, als die Feststellung, was er ist.9 Die negative Theologie versucht also, alle positiven Aussagen durch den Hinweis auf die Unerreichbarkeit Gottes und seine letzte Verborgenheit zu ergänzen und zu vertiefen. Das führt freilich auch zu einer Relativierung der affirmativen Aussagen; die Unerreichbarkeit Gottes muß dabei mitgedacht werden. Eckhart hat nun diese Vorstellung nicht nur übernommen, sondern auch ausgebaut, indem er sie auf die christliche Lebenslehre anwandte. Vor Eckhart war diese Vorstellung Bestandteil der mystischen Kontemplationslehre, bei Eckhart wird sie Bestandteil des Lebens überhaupt. So wie jede Aussage über Gott ihn zugleich erreicht und nicht erreicht, so erreicht jede Lebensform, jede Weise der Spiritualität Gott und erreicht ihn zugleich nicht. Je mehr sich also eine Lebensform als der Weg zur vollkommenen Einheit mit Gott absolut setzt und Gott mit Sicherheit zu erreichen glaubt, desto weniger erreicht sie Gott. Sie vermeint dann nämlich, Gott auf sich selbst festlegen zu können. Gott ist aber nicht festlegbar. So erreicht die sich selbst absolut setzende Weise zwar sich selbst, nicht aber Gott. »Denn, wahrlich, wer glaubt, Gottes mehr zu erlangen in Innerlichkeit, in Andacht und süßer Verzückung als bei dem Herdfeuer oder in dem Stalle, der tut wie einer, der seinen Gott nähme, ihm einen Mantel um das Haupt wände und ihn dann unter eine Bank schöbe. Denn wer Gott in einer Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist.«10 Bei Eckhart erweitert sich also die Vorstellung der negativen Theologie zur Lehre von der Weiselosigkeit des Gottfindens. Daraus folgt, daß es für ihn keine Rangordnung der Lebensweisen geben kann. Die traditionelle Vorrangigkeit 9 10
Vgl. Bonaventura, De triplici via § 7,13. DW I 91,3–8. Vgl. q 180, 14–21. 254
der vita contemplativa vor der vita activa, die noch Thomas zu begründen suchte, hat für Eckhart keine Gültigkeit mehr.11 Dementsprechend kann für Eckhart die Kontemplationslehre nicht mehr Theorie der Mystik sein und die vita contemplativa nicht mehr die allein adäquate mystische Lebensform. An die Stelle der traditionellen Kontemplationslehre tritt bei Eckhart die Lehre von der Geburt Gottes im Gerechten, die freilich ebenfalls bereits Traditionsgut der mystischen Theologie war.12 Diese Lehre besagt, daß Gott in dem Menschen, der in Freiheit und Abgeschiedenheit nichts außer Gott sucht, Wohnung nimmt und die Handlungen sowie die Lebensweise dieses Menschen durchformt. Für Eckhart ist dies die Wirklichkeit des Inkarnationsereignisses im Menschen. Sie ist ontologisch vorgegeben durch Christi Annahme der Menschennatur, wird immer neu empfangen durch die freie Ausrichtung auf Gott und immer neu vollzogen durch das Wirken aus der Freiheit in Gott in der jeweiligen Lebensweise.13 Mit Eckharts Gottesgeburtslehre hängt seine Seelengrundspekulation zusammen.14 Eckhart spricht freilich nicht wie Tauler vom »Seelengrund«, sondern von einem »Funken« oder einem »Etwas« in der Seele. Diese »scintilla animae« ist nicht etwa ein Bestandteil der menschlichen Seele. Als rein anthropologisches Prinzip würde sie mißverstanden. Sie ist auch als solches in der Verurteilungsbulle mißverstanden worden, und Eckharts Behauptung ihrer Ungeschaffenheit wurde verurteilt. »Scintilla animae« ist ein Analogiebegriff, der das dynamische Verhältnis zwischen Gott und Mensch kennzeichnet. Wenn dieser Begriff statisch genommen wird, werden Eckharts Aussagen darüber unverständlich, weil man ihn dann anthropologisch »lokalisieren« muß. Wenn man das berücksichtigt, wird klar, daß in der Gottesgeburtslehre 11
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Vgl. Pf 51,11.12; q 285, 20.21: »Wirken in der Zeit (ist) ebenso adlig wie irgendwelches Sich-Gott-Verbinden.« Vgl. oben S. 198–208, S. 229–230. Vgl. H. Rahner, Die Gottesgeburt 333–419. Vgl. a. a. O. 334. H. Rahner bietet für diese Vorstellung eine Reihe von Belegstellen aus der Patristik. Die unmittelbaren Quellen Eckharts sind Origenes, Gregor von Nyssa, Maximus Confessor, Johannes Eriugena, vgl. a. a. O. 411 f. Die lateinischen Werke Eckharts haben meist die Vorgegebenheit der Gottesgeburt im Blick. Vgl. Expositio sancti Evang. sec. Joh. 106 (LW III, 90) und Sermo LII (LW IV, 437). Die deutschen Werke betonen den geistlichen Vollzug im Leben. Vgl. oben S. 132 ff. Vgl. H. Hof, Scintilla animae 161–187. 255
»scintilla animae« nicht die Lokalisation der Einwohnung Gottes, sondern die metaphysische Ermöglichung dieser Einwohnung durch die Analogie zwischen Gott und Mensch bedeutet. In Gott ist diese Möglichkeit Gottes Wesen und darum ungeschaffen, im Menschen ist sie geschaffen. Dadurch daß bei Eckhart an die Stelle der Kontemplationslehre die Gottesgeburtslehre tritt, wird das Modell »vita activa und vita contemplativa« bei ihm ersetzt durch die Vorstellung von einer einheitlichen Struktur der christlichen Existenz, die sich in den vielfältigen christlichen Lebensformen verwirklicht.15 Das Modell »vita activa – vita contemplativa« beruht ursprünglich auf einer rein philosophischen Einteilung des menschlichen Lebens nach praktischem bzw. theoretischem Intellekt. Aristoteles hat diese Einteilung eingeführt; die christliche Theologie der Spiritualität übernahm sie. Noch Thomas versah sie mit einer ausführlichen, wenn auch unhaltbaren biblischen Begründung.16 Die mit dieser Lebenseinteilung gegebene Frage nach dem Verhältnis von vita activa und vita contemplativa wurde in der Tradition vor Eckhart in drei Schritten beantwortet. In der Rangordnung entschied man sich für eine grundsätzliche Höherbewertung der vita contemplativa wegen ihrer größeren Geistigkeit und ihrer Darstellung der eschatologischen Heilsberufung des Christen. Einen Beleg fand man dafür in der fälschlich auf das Modell »vita activa – vita contemplativa« bezogenen Schriftstelle Lk 10, 38–42: die kontemplative Maria wird über die aktive Martha gestellt. Die heutige Exegese und auch bereits einige Schriften zur christlichen Spiritualität weisen nach, daß die Maria-Martha-Perikope keineswegs als Beleg für das Modell dienen kann.17 Neben die grundsätzliche Höherbewertung der vita contemplativa trat die occasionelle Höherbewertung der vita activa im Bedarfsfalle und 15 16 17
Vgl. oben S. 223–227. Vgl. S.th. 2–2 q 179 a 2. Vgl. H. Sanson, Leben mit Gott in der Welt 78–80: Christus tadelt an Martha die Sorge und lobt an Maria die Aufmerksamkeit. Vgl. auch die Ergebnisse der neueren Exegese, am deutlichsten: Norval Geldenhuys, Commentary on the Gospel of Luke, London–Edinburgh 19563: »There is here no question of such a contrast (zwischen vita activa und vita contemplativa). What we do learn here is that in our life' active service we must not be anxious and agitated, sulky and dissatisfied with our fellow-Christians or with our Master ...« Vgl. J. Schmidt, Das Evangelium nach Lukas (RNT Bd. 3)3 1955, 196. Die moderne Interpretation findet sich bereits bei Tauler: »Unser Herr tadelte Martha nicht 256
eine Rechtfertigung des aktiven Lebens aus der Notwendigkeit von Aszese und Apostolat. Der dritte Schritt war die Verbindung beider Lebensformen zu einer vita mixta, in der die vita activa teils Vorbereitung (Präparationstheorie), teils Ergänzung (Additionstheorie), teils Erfüllung (Fruchtbarkeitstheorie) der »vita contemplativa« sein sollte.18 Eckhart hat den Dualismus, der dieses Modell kennzeichnet, beseitigt, indem er alle christlichen Lebensweisen in der »Weiselosigkeit des Gottfindens« zunächst relativierte und dann in der Lehre von der Gottesgeburt auf die einheitliche Struktur der christlichen Existenz zurückführte. Gerade diese Vereinheitlichung eröffnete ihm die Vielfalt der möglichen Lebensformen. Die Rangordnung war damit bedeutungslos geworden. Jede konkrete christliche Lebensform hatte nun ihren Wert, insofern sie die ganze Struktur der christlichen Existenz auf ihre Weise repräsentierte. In dieser Konzeption Eckharts ist eine Rechtfertigung des aktiven Lebens gegenüber dem höherbewerteten kontemplativen Leben nicht mehr notwendig. Das aktive Leben erscheint aus seiner vorhergehenden Unterordnung unter die Kontemplation befreit und wird nun erst in seiner Bedeutung sichtbar. Da zur Struktur der christlichen Existenz gerade die »Fruchtbarkeit«, d. h. der tätige Vollzug der eigenen Existenz gehört, muß sich nun in gewisser Weise jede Lebensform als vita activa erweisen. Der Mensch muß Gottes Werk wirken, indem er sein eigenes Werk als Gottes Werk wirkt. Wenn er aber sein Werk als Gottes Werk wirkt, dann wirkt Gott in ihm, durchformt und vollendet ihn und mit ihm den Kosmos. So führen negative Theologie und Gottesgeburtslehre bei Eckhart zur Grundlegung der Einheit der christlichen Existenz und zur Aufwertung des tätigen Lebens. Unsere Frage bei der Untersuchung Taulers lautet nun, ob und wie sich diese Konzeption Meister Eckharts bei ihm durchhält. Eine endgültige Antwort auf diese Frage wird
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um ihrer Arbeit willen, denn die war heilig und gut, sondern weil sie (zuviel) Sorge darauf verwandte« (H 362.363). Vgl. oben S. 45–46. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2: Präparationstheorie: q 181 a 1 ad 3. Additionstheorie: q 182 a 1 resp. Fruchtbarkeitstheorie: q 188 a 6 resp. Die Fruchtbarkeit bezieht Thomas freilich nur auf Predigt und Lehre als höchste spirituelle Tätigkeiten. Das Axiom »contemplata aliis tradere« gehört zum Selbstverständnis des Dominikanerordens. Vgl. E. Filthaut, a. a. O., 108, über Johannes von Freiburg: »... aus der Fülle des in der Beschauung Erworbenen (wird) in Predigt und Lehre weitergegeben.« Bei Eckhart und Tauler wird dieser Gedanke über Predigt und Lehre hinaus allgemein auf die Fruchtbarkeit der Innerlichkeit in der Tätigkeit angewandt. 257
sich erst am Schluß der Untersuchung ergeben. Zunächst gilt es festzustellen, ob die einzelnen Elemente dieser Konzeption, die Zentralvorstellungen Eckharts, bei Tauler thematisch aufgegriffen wurden. Dies ist in seinen Predigten ohne weiteres nachzuweisen. Die Verabsolutierung einer Weise der Frömmigkeit lehnt Tauler ebenso ab wie Meister Eckhart.19 Auch er begründet diesen Gedanken in erster Linie aus der negativen Theologie und aus der Freiheit des Menschen von der Bindung an das eigene Ich, das sich in eigenwilliger Weise dem Wirken Gottes entgegenstellt: »Oder auch etliche in iren eigenen ufsetzen und in iren wisen, es si in gebette und in betrachtungen ... hant in den wisen und in den werken grossen friden und nirgent anders denne in iren wisen oder ufsetzen. ... so soll man bekennen, daz sú disen grunt selber wellent bereiten und drin wúrkent und daz Got in disen grunt nút gewurcken enkan, und dovon ist ir fride valsch und ensint nút in der worheit ufgestanden ...«20 Diese Begründung der Weiselosigkeit aus der Freiheit vom Eigenwillen findet sich bei Eckhart vor allem in seiner Abgeschiedenheitslehre, die man als Lehre von der christlichen Freiheit bezeichnen könnte. Die wahre Freiheit und damit auch die rechte Lebensweise können nur in Gott gesucht und von Gott geschenkt werden. So gibt Tauler Eckharts Vorstellungen wieder: »Aber die ... edelen menschen, die sich Gotte lassent bereiten, ... die sint erhaben úber sich selber ... wanne sú sint in einer goettelichen friheit; ... Git in Got in lidender wisen, so lident sú, git er in wúrdkender wise, so wúrckent sú.«21 Wie bei Eckhart entscheidet auch bei Tauler nicht eine bestimmte Weise der Spiritualität über den Grad der Vollkommenheit. Der einzige Maßstab ist die Berufung Gottes, nicht eine objektive Rangordnung von Lebensformen. Der Weg zu Gott ist nicht an eine bestimmte Frömmigkeitsübung geknüpft. Gott will nicht in einer bestimmten Lebensform, sondern in allen Lebensformen gesucht werden. Tauler und Eckhart wenden sich gegen die Berufung auf die magische Wirkung eines Frömmigkeitsrezeptes. Darum verlangt Tauler auch vom Gebet, daß
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Vgl. V 24,6.27; 185,10: »... noch wúrkent leben noch schouwent leben noch iubilacio noch dehein contemplacio noch das man wúrde entzukt in den dritten himmel ... Kinder, mit kurzen worten: alle die wisen und leben die man haben mag, die mugen alle wurmstichig werden ...« V 22,26 f. V 24,27 f. 258
es »wiselos« sei, damit Gott darin gesucht werde und nicht eine Weise der Selbstsicherung. Eckharts Gottesgeburtslehre und Seelengrundspekulation finden sich ebenfalls an vielen Stellen der Predigten Taulers,22 jedoch erscheinen sie bei Tauler mit gewissen Veränderungen, die sich im Verlaufe der Untersuchung zeigen werden. Der auffälligste Gegensatz Taulers zu Eckhart liegt in seiner Wiederaufnahme der Kontemplation als mystische Gebetslehre, jedoch bedeutet dies bei näherem Zusehen keine Veränderung der Konzeption in der Lebenslehre, da Taulers »Kontemplation« nicht an eine besondere vita contemplativa gebunden ist, sondern offen bleibt für alle Lebensformen. Das zeigt sich vor allem in seinen Predigten über den Sinn der Berufsarbeit. In diesen Predigten konkretisiert Tauler Eckharts Aufwertung des tätigen Lebens. Es ist also durchaus legitim, von Eckharts Konzeption aus einen Zugang zu den Predigten Taulers zu suchen. Die Zentralvorstellungen Eckharts sind auch Themen der Predigten Taulers. Dazu kommt, daß Tauler ebenso wie Eckhart der neuplatonischen und augustinischen Tradition mehr verpflichtet ist als dem thomanischen Aristotelismus. Tauler unterliegt denselben Einflüssen und nützt dieselben Quellen wie Meister Eckhart. Während jedoch dieser den Intellektualismus des Aquinaten beibehielt, schloß sich Tauler ganz der affektiven Mystik der Zisterzienser (Bernhard, Wilhelm von St. Thierry) und Franziskaner (Bonaventura) an. Unter den zitierten Meistern steht bei Tauler Augustinus an der Spitze, aber auch Proklos, Albertus Magnus (»Bischof Albrecht«) und Dietrich von Freiberg werden häufig erwähnt. Daß auch Thomas oft genug als Autorität angerufen wird, ist für einen Dominikaner selbstverständlich.23 22
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Vgl. zur Gottesgeburt bei Tauler: V 11,1 f.; 249,6; 347,20. Vgl. zur Seelengrundspekulation: V 137,1 f.; 227,23; 250,3; 266,8; 334,14. Vgl. die Übersicht über die Zitate mit Namensnennung bei Vetter 439–441. Danach werden von Tauler zitiert: Augstinus 42-, Bernhard 21-, Gregor d. Gr. 20-, Pseudo-Dionysius 15-, Thomas 9-, Albert 8-, Proklos 5mal u. a. m. Diese Zahlen geben einen gewissen Verhältniswert, wenn sie auch eine kritische Textausgabe durch den Nachweis von Zitaten ohne Namensnennung mehr oder minder korrigieren wird. Vgl. auch I. Weilner, Johannes Taulers Bekehrungsweg 50; E. Filthaut, a. a. O. 94–121; D. M. Schlüter, Philosophische Grundlagen der Lehren Johannes Taulers 122–162. 259
Wenn auch Tauler in derselben Tradition steht wie Meister Eckhart und manches von seiner Konzeption übernommen hat, so ist seine Eigenständigkeit doch unverkennbar. Daraus ergeben sich Veränderungen an der Konzeption. Nach den Ursachen dieser Veränderungen ist zunächst zu fragen.
3. Neue Gesichtspunkte bei Tauler Zur Zeit des Eckhart-Prozesses stand Tauler erst am Anfang seiner Tätigkeit. Das Ergebnis dieses Prozesses mußte bei der auf Eckhart folgenden Generation der mystischen Lebemeister einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. So ist es zu verstehen, daß Tauler sich vor mißverständlichen Äußerungen zu bewahren sucht und sich in seinen Predigten um das theologische Gleichgewicht bemüht. In seiner Einheitsspekulation vermeidet er sorgfältig alle Aussagen, die in Richtung auf ein substantielles Einswerden mit Gott mißverstanden werden könnten.24 So betont er besonders die Gnadenhaftigkeit der »unio mystica«.25
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Vgl. C. Kirmße, Die Terminologie des Mystikers Johannes Tauler 35. Kirmße spricht von einer »substantiellen Gemeinschaft«, weil die Gotteinigung zwar in und durch die Substanz geschieht, aber nicht auf einer Wesensidentität beruht, also nicht »con-substancialis« ist: »... vom Pantheismus unterscheidet sich also diese substanzielle Gemeinschaft insofern, als bei ihr die Mitteilung der Substanz des Zeugenden nicht zur ersten Konstitution des Empfangenden gehört. Des Pantheismus kann man den Mystiker nur dann beschuldigen, wenn er den Seelengrund ausdrücklich als ›ungeschaffen‹ bezeichnet und die substanzielle Gemeinschaft, statt in der Gnade, in der natûre begründet sein läßt.« Letzteres ist, wie Kirmße zeigt, bei Tauler nicht der Fall. Eckhart spricht nun zwar von der Ungeschaffenheit des Seelengrundes, aber damit ist seine ideale Identität mit Gott in Gott und nicht im konkreten Menschen gemeint. Die »gratia increata substancialis« (Kirmße, a. a. O. 35) wird auch bei ihm nur empfangen. Vgl. Tauler V 121,26 f.: »Dis nement tumbe affehte lúte fleischlichen und sprechent: sú sullent gewandelt werden in goͤ tteliche nature (d. h. in die ›essentia divina‹, vgl. Kirmße, a. a. O. 57) ... von der allerhoͤ chster, innegester, nehster einunge mit Gotte so ist noch goͤ tteliche nature und sin wesen hoch und hoch úber alle hoͤ he.« Vgl. V 335,24; 25,23: »... das der edel wunnencliche grunt (hier: Gott selbst) hat von naturen, das mag sú (die Seele) erkriegen von genoden.« Vgl. auch V 57,5: Der Mystiker 260
Eckharts Spekulation geht vom Sein, vom Einen und Ewigen aus. Daher werden alle geschichtlichen und institutionellen Elemente vernachlässigt. Sie sind für ihn nur Projektionen des ewigen Heilswerkes in die Zeit hinein. Die Heilstaten Gottes in der Geschichte, Kirche und Sakramente werden dadurch zwar nicht bedeutungslos oder sinnentleert, aber als Erscheinungsformen des einen Heilswerkes verlieren sie an Eigenständigkeit. Ebenso werden Schöpfung und Erlösung von Eckhart zusammen gesehen. Sie sind für ihn weniger in sich selbst stehende Ereignisse als das dynamische, fortdauernde Einwirken Gottes in die Geschichte: »creatio continua« und »incarnatio continua«. Diese Auffassungen Eckharts ergeben sich aus seiner neuplatonisch gefaßten Analogielehre, in der nicht das Verhältnis von relativ eigenständigen Seienden gemeint ist, sondern die Beziehung alles Seienden auf den einen Fluchtpunkt, Gott. Eckhart geht also nicht von der Eigenständigkeit der einzelnen Dinge aus, um dann die Relationen zu suchen, sondern er geht von den Relationen selbst aus. So überwindet er zwar die Gefahr einer metaphysischen Zwei-Welten-Lehre, setzt sich jedoch der Gefahr eines monistischen Mißverständnisses aus, gegen das ihn nur noch der Schöpfungsbegriff schützt. Tauler hat die Analogielehre Eckharts und die daraus folgende Denkweise nicht übernommen. Er ist überhaupt kein Metaphysiker. Wir finden bei ihm keine ontologische Grundlegung des mystischen Lebens, wie sie bei Meister Eckhart ausgeführt ist. Das bedeutet jedoch nicht, daß seine Mystik nicht auf ontologischen Voraussetzungen beruht. Diese Voraussetzungen sind bei ihm jedoch nicht in ein metaphysisches System gefaßt. Sie entstammen in erster Linie der theologischen Anthropologie. Der entscheidende Gedanke ist dabei die »Verwandtschaft« des Menschen mit Gott, die Gottebenbildlichkeit, von Gott geschaffen, durch die Sünde gestört, in Christus wiederhergestellt. Wie Eckhart spricht auch Tauler vom »Adel der menschlichen Seele«, vom »edlen Menschen« und vom »inneren Menschen«. 26 Dieser »Adel der
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gewinnt im irdischen Leben nur »... ein fürsmag und ein gefuͤ len in innewendigen gebruchende (genießen) innewendiger gefuͤ lungen der gegenwertikeit Gottes in dem Geiste ...« Tauler liebt diese abgewogene und vorsichtige Ausdrucksweise. Diese Ausdrücke sind zum Teil einfach als Auszeichnungen gemeint, vgl. V 23,8; »edele menschen«; V 23,39: »minnencliche lúte« und »edele súlen der werlte«. Wenn jedoch Tauler die »wesenlicheste ker« (V 41,2) des Menschen zu Gott beschreibt, dann zeigt er die anthropologische Struktur auf: der äußere Mensch, d. h. der Mensch in seiner leiblichen Ausrichtung auf die Kreatur, wird zum inneren Menschen, d. h. zum Menschen in 261
menschlichen Seele« bezeichnet die »Verwandtschaft« des Menschen mit Gott. Der Aufstieg zur »unio mystica« beginnt mit der Betrachtung und dem Bewußtsein dieser »Verwandtschaft«. Der Mensch ist »imago dei naturalis«27. Die wahre Substanz seiner Seele ist die Gottebenbildlichkeit. Sie ist zugleich die Möglichkeit für die Wirksamkeit der Gnade. Die Gnade allein wirkt die Vollkommenheit. Damit sie jedoch wirken kann, muß der Mensch seine Gottebenbildlichkeit freilegen. Dies geschieht durch eine »wesenliche ker«28 von der Sünde, von ungeordneter Bindung an die kreatürliche Umwelt und das eigene Ich. Danach erst wird die Vereinigung mit Gott in ihren verschiedenen Stufen und Graden möglich.29
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seiner geistigen Ausrichtung auf Gott (vgl. V 42,32). Wesentlicher Mensch ist dann der Mensch, der beides in einer gottförmigen Ordnung miteinander zu verbinden weiß (vgl. V 84,15). Zwischen äußerem und innerem Menschen besteht zwar nur bei Tauler ein gewisser Dualismus (s. u.), aber er ist dann christlich überwunden, wenn jeweils der ganze Mensch unter verschiedenen Aspekten gemeint ist. Vgl. C. Kirmße, a. a. O. 12. V 169,10; vgl. V 41,2. Der Ausdruck »weseliche ker« ist vielschichtig. Zunächst entspricht »weselich« nicht der heutigen Bedeutung: wesentlich = wichtig. Vielmehr bedeutet der Ausdruck »seinsgemäß«. »Wesen kann mhd. das lat. »esse« sowie »essentia« wiedergeben (vgl. K. Ruh, Die trinitarische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik 37; bei genauerer Unterscheidung von »esse« und »essentia« wird »essentia« mit »wesunge« übertragen, vgl. a. a. O. 33). Bei »weseliche ker« muß man einbeziehen: die Seinsgemäßheit der Umkehr, ihre Radikalität und ihre Bedeutung für die Entfaltung des Menschen zu seinem wahren Wesen (vgl. Anm. 26). J. Quint hat dies für Eckhart mit dem Axiom »werde, der du bist« erläutert (Einleitung zu q 98); damit ist der Sachverhalt genau getroffen. Diese Stufen bilden einen abstrakten Aufbau des inneren geistlichen Lebens, der der Hierarchisierung des Weltbildes bei Pseudo-Dionysius entspricht. Sehr differenziert aufgebaut ist diese Stufenwelt bei Richard von St. Viktor. Vgl. Benjamin minor PL 196,1–64 und vor allem den kleinen, aber sehr differenzierten Traktat »De gratia contemplationis« oder »Nonnullae allegoriae tabernaculi foederis« PL 196,191–202. In der deutschen Mystik vgl. David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes. Hrsg. von K. Ruh. In: Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters, Heft 1. München 1965. Bei Tauler ergibt sich die Stufenzahl jeweils aus Thema und Tradition. Bei Eckhart gibt es solche Stufenvariierungen nicht, wohl aber einen triadischen Aufbau der Gedanken. 262
Dieser anthropologische Ausgangspunkt des mystischen Aufstiegs ist auch für Meister Eckhart charakteristisch. Tauler nennt ihn an einer Stelle ausdrücklich mit Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg als Gewährsmann.30 Im Gegensatz zu Eckhart ist jedoch bei Tauler der anthropologische Ausgangspunkt nicht noch einmal durch ein metaphysisches System unterbaut. Tauler setzt also ontologisch »später« ein als Meister Eckhart. Dies wird aus seinem Hauptinteresse an der ethischpraktischen Auswertung verständlich. Während Eckharts Zentralthema das ontologische Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschaffenem ist und er darüber seine tiefsten Aussagen macht, ist Taulers Anliegen der konkrete Weg des Menschen zu Gott. Deshalb sind Taulers Aussagen geschichtlicher gefaßt. Er fragt nach dem Weg, den der Mensch im Verlauf seines Lebens durch die konkret vorgefundene Welt gehen muß, um zu einer möglichst innigen Vereinigung mit Gott zu finden. Daraus ergeben sich drei wichtige Unterschiede zu Eckharts Predigten: Bei Tauler ist die Zeit von Bedeutung. Der Mensch braucht eine gewisse Zeit, um in seiner Frömmigkeit weiterzukommen. Bei Eckhart wird dagegen die Vollkommenheit »schlagartig« gegeben. Das beruht auf seiner ungeschichtlichen Sprechweise. (Eine Ausnahme bildet dabei die Predigt über Maria und Martha.31) Tauler hingegen spricht ausdrücklich davon, daß eine bestimmte Spiritualität nur nach einer gewissen Zeit der Übung erlangt werden kann. Die entscheidende Wende im Leben ist sogar erst nach dem vierzigsten Lebensjahr möglich.32 I. Weilner hat diese interessanten Aussagen Taulers untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Erfahrung Taulers und sein eigener Lebensweg damit in Beziehung stehen.33 Taulers Mystik erweist sich nicht nur als Seinsmystik, sondern auch als Erfahrungsmystik. Neben den Zeitunterschieden kommt dies in den Stufen zur Vollkommenheit zum Ausdruck, die Tauler aus der gesamten mystischen 30
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Vgl. V 347,9 f.: »... von disem inwendigen adel, der in dem grunde lit verborgen, hant vil meister gesprochen, beide alte und núwe: bischof Albrecht (Albertus Magnus), meister Dietrich, meister Eghart ...« Tauler erwähnt zwar hier Eckhart, vermeidet jedoch sonst tunlichst die eckhartschen Ausdrücke, wohl wegen ihrer Verurteilung. So taucht Eckharts »Seelenfünklein« nur dreimal in seinen Predigten auf: V 74,28; 80,13; 322,14. Vgl. I Weilner, a. a. O. 96, und P. Wyser, Der Seelengrund in Taulers Predigten 238.239.276 f. Vgl. oben S. 186 ff. Zur Bedeutung der Zeit in der Spiritualität Taulers vgl. M. de Gandillac, Valeur du temps dans la pédagogie spirituelle de Jean Tauler. Vgl. Tauler und das Problem der Lebenswende 339. 263
Tradition, mit Ausnahme des Seinsmystikers Eckhart, übernehmen konnte. So unterscheidet Tauler zwischen »incipientes«, »proficientes«, und »perfecti«; er benützt die Einteilung in »via purgativa«, »via illuminativa« und »via unitiva«. Ebenso unterscheidet er Stufen der Meditation, der Kontemplation und des Gebetes. Diese Unterscheidung von Stufen im Aufstieg zur »unio mystica« hatte eine lange Tradition, die vor allem auf Pseudo-Dionysius zurückführte, besonders von den Viktorinern ausgebaut wurde und in Bonaventuras »De triplici via« eine ebenso klassische wie kurze Zusammenfassung fand.34 Zur Zeit Taulers muß man mit allgemeiner Kenntnis dieser Schemata bei allen religiös interessierten Menschen rechnen. Sie boten in gewisser Weise eine Hierarchie der Frömmigkeit, die von unten aufgebaut wurde und der Hierarchisierung des Weltbildes bei Pseudo-Dionysius entsprach.35 Zugleich waren sie für jeden Spiritual eine pädagogische und psychologische Hilfe. Eckhart hat auf diese Hierarchisierung verzichtet, weil er Seinsrelationen darstellen wollte und nicht die Stufen eines Weltbildes. Tauler jedoch benützt sie zur Veranschaulichung, weil er den konkreten Weg des Menschen, seinen geschichtlichen Aufstieg, darstellen will. Die geschichtliche Betrachtungsweise Taulers wirkt sich nicht nur in Zeitunterschieden und Frömmigkeitsstufen aus, sondern, bedeutsamer noch, in seiner Auffassung der Offenbarungsereignisse, der Kirche und der sakramentalen Gnadenmittel. Die geschichtlichen Fakten und institutionellen Momente werden von ihm stärker berücksichtigt als von Meister Eckhart. Darin ist weniger ein Unterschied in der theologischen Konzeption als im Gesichtspunkt zu sehen. Eckharts Konzeption wird wegen ihres zentralen Anliegens selten konkret. So ist der Gegensatz zwischen den beiden Mystikern zwar vorhanden, aber er ist relativ. Zwar kann man Taulers Mystik nicht einfach nur als moraltheologische Auswertung der ontologischen Mystik Eckharts bezeichnen, jedoch läßt sie sich in ihren Kernpunkten mit Eckharts Konzeption verbinden. Wenn das Kirchenbewußtsein und die Sakramentsfrömmigkeit bei Tauler stärker als bei Eckhart hervortreten, so bedeutet das eine notwendige Ergänzung und kann dazu dienen, die Lebenslehre der deutschen Mystik besser zu verstehen. 34
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Vgl. Anm. 29. Zusammenfassungen der verschiedenen Möglichkeiten des spirituellen Stufenbaus finden sich bei R. Garrigou-Lagrange, Mystik und christliche Vollendung 177 f.; 185,191.192. Zu Pseudo-Dionysios vgl. W. Völker, Kontemplation und Ekstase bei Ps. Dionysius Areopagita. Über seinen Einfluß vgl. vor allem 223 f. 264
Eine weitere Ursache der Modifizierungen Taulers ist in seiner Affektmystik zu sehen. Eckhart behält den thomistischen Intellektualismus bei, während Tauler der »minne« in der »unio mystica« den Vorrang gibt. Er kann sich dabei auf die besonders von Bonaventura aufgenommene augustinische Tradition berufen. In der Betonung des affektiven Aspektes für den Weg zur Vollkommenheit liegt freilich kein absoluter Gegensatz Taulers zu Meister Eckhart und Thomas von Aquin. Auch bei diesen ist die Doppelpoligkeit von Erkenntnis und Liebe nicht einseitig zugunsten des intellektiven Aspektes aufgehoben. Eckhart hält zwar am ontologischen Primat der Erkenntnis fest, betont aber den ethischen Primat der Liebe; Tauler versteht den mystischen Aufstieg als Entfaltung der Liebe, setzt aber dabei die rechte Erkenntnis voraus. Im übrigen hält er die Diskussion über Erkenntnis und Liebe für eine Streitfrage der Lesemeister, die für ihn als Lebemeister uninteressant ist.36 36
Vgl. V 349,1 f. Die aszetisch-mystische Literatur des Mittelalters ist sich zwar allgemein einig über die Notwendigkeit der Verbindung von (Glaubens-) Erkenntnis und Liebe auf dem Weg zur »unio mystica«; die Frage, welche von beiden nun höher hinauf reiche, ist jedoch umstritten. Vgl. zur Streitfrage »Affektmystik oder Intellektmystik«: W. Völker, a. a. O. 223 f. Im Grunde handelt es sich nur um die Entscheidung, ob die »unio« nun affektiv oder intellektiv erfahren werde. Thomas gibt darauf die ausgewogene Antwort: »... apostolus dixit se raptum non solum ad tertium caelum, quod pertinet ad contemplationem intellectus, sed etiam in paradisum, quod pertinet ad affectum.« (S.th. 2–2, q 175 a 2 c.) Eckhart hat die intellektuellen Färbungen bei Thomas verstärkt: »Diu bekantnisse ist besser dan diu minne. Aber zwei sint besser dan ein. Wan diu bekantnisse treget diu minne in ir ... diu minne waere blint, enwaere bekanntnisse niht.« (DW I 314,17 – 315,1.) Diese Lösung bezieht sich auf das affektive Moment, das auch in der intuitiven Erkenntnisweise des Intellektes enthalten ist. Tauler folgt weder Eckhart noch Thomas, sondern der »affektiven« Tradition, die von Hugo von St. Viktor über Wilhelm von St. Thierry und Bernhard von Clairvaux zu den Franziskanertheologen führt. Vgl. V 196,29: »dú minne dú get do in do das bekenntnisse muͦ s husse bliben.« Das entspricht Hugo von St. Viktor, Expositio in hierarchia coelestia VI. PL 175, 1038 D: »Dilectio supereminet scientiae, et intrat dilectio et appropinquat, ubi scientia foris est.« Vgl. die weiteren Belege bei: C. Kirmße, a. a. O. 43. Mit dieser Betonung der affektiven Vereinigung hängt es zusammen, daß Tauler die erkenntnistheoretischen Formulierungen der Kontemplationslehre kaum gebraucht. »Unio mystica« geschieht nicht durch das »schouwen«, das Tauler fast abwertend gebraucht, sondern durch das »bevinden« (experiri, sentire), »ein intuitiv-emotionales Erfassen« (C. Kirmße, a. a. O. 79; vgl. a. a. O. 70.78.98). Vgl. V 265
Neue Gesichtspunkte Taulers gegenüber Meister Eckhart zeigen sich auch in einer veränderten Terminologie. Dies ist besonders für den Terminus »Seelengrund« bereits ausführlich untersucht worden. 37 Tauler faßt den Seelengrund vor allem als »gemuͤ t« (mens). Das Gemüt ist für ihn der Sammelpunkt aller Seelenkräfte, die oberste aller Seelenstufen. Es ist die eigentliche Substanz der Seele, »Stelle« der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und seiner Partizipation an Gott. 38 Während »grunt« (apex mentis, ratio superior) das gnadenhafte Verhältnis zwischen Gott und Mensch wiedergibt, ist »gemuͤ t« dazu das anthropologische Pendant. Taulers Seelengrund ist das Gemüt, wenn es gnadenhaft durchformt ist, wenn es durch die »gratia adoptionis« mit Gott vereinigt wird: »Ir enkúnnent in den grunt nút komen; kement ir dar in, so fúndent ir die gnade.«39 Taulers Seelengrund heißt bei Eckhart »scintilla animae«, wenn sich auch nicht jeder Ausdruck im differenzierten Sprachgebrauch des Meisters darauf zurückführen läßt. An der Stelle des Gemütes steht Eckharts »vernünfticheit« (intellectus). Tauler selbst mißt diesem Unterschied im Sprachgebrauch keine besondere Bedeutung bei.40 Dennoch liegt ein gewisser Unterschied vor: die Termini Taulers tragen einen anthropologischen Akzent gegenüber den ontologischen Termini Eckharts. Damit gibt der Sprachgebrauch einen weiteren Hinweis auf die Wandlung des Gesichtspunktes bei Johannes Tauler. Eckharts Mystik erwächst aus der theologischen Betrachtung der Seinsstruktur, Taulers Mystik ist von der Erfahrung der Seele im Umgang mit Gott geprägt. Die Lebenslehre hat bei Tauler den Vorrang vor der ontologischen Grundlegung; die pastorale Auswertung überstrahlt die Spekulation. Auch bei Eckhart findet die spekulative Mystik eine ethische Auswertung. Tauler jedoch sichert dieser Auswertung die
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61,12: »Got ... er me hie vindet in bevindender wisen, nút in sennelicher wisen nodi in vernúnftiger wisen ...« Deshalb ist auch bei Tauler nicht »vernünfticheit« die oberste Seelenstufe (Eckhart), sondern das »gemüete«. Vgl. V 348,25 und 358,5. Die von Eckhart oft erkenntnistheoretisch formulierte Gottesgeburtslehre tritt bei Tauler zurück hinter den Gemütsaufstieg zu Gott im inneren Gebet. Vgl. Predigt 15 und 39 (V). Vgl. P. Wyser, Der Seelengrund in Taulers Predigten 217–240. Vgl. C. Kirmße, a. a. O. 32–35. V 335, 23.24. Vgl. V. 137,1: »... die sele hat einen funken, einen grund in ir ...«. 266
»absolute Vorherrschaft« gegenüber »spekulativen Neigungen« 41 . Das bedeutet jedoch nicht, daß Tauler seine mystische Lebenslehre rein aus der subjektiven Erfahrung und nicht aus dem Sein begründet. Seine Predigten sind nicht in erster Linie Wiedergabe subjektiver Erlebnisse, sondern objektive Beschreibungen des Weges zur vollkommenen Frömmigkeit des Christen. Darum kann sich Tauler auf Traditionen und Autoritäten berufen. Andererseits verbindet Tauler diese Traditionen mit der konkreten Lebenserfahrung. So geht er oft von den Lebensumständen seiner Zuhörer aus und liebt es, mit psychologischen und pädagogischen Argumenten seine Seinsethik zu ergänzen. Das psychologisch geschickte Eingehen auf die Situation seiner Zuhörer hebt seine Predigten von denen Meister Eckharts ab, der einmal gesagt hat: »Wer diese Rede nicht verstanden hat, der bekümmere sein Herz nicht damit.«42 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Tauler die Lebenslehre unter einem anderen Gesichtspunkt darstellt als Meister Eckhart, daß sich jedoch für viele seiner neuen Auffassungen bei diesem bereits Ansätze finden. Solche Ansätze finden sich für Taulers Sakramentsfrömmigkeit in den eucharistischen Betrachtungen des Meisters in den »Reden der Unterweisung«, für Taulers Affektmystik in Eckharts ethischem Primat der Liebe, für die Betonung der Erfahrung, der Zeitunterschiede und der Stufen der Frömmigkeit in Eckharts Predigt über Maria und Martha.43 Der andere Aspekt Taulers mußte freilich auch zu sachlichen Veränderungen in der theologischen Konzeption führen. Diese Veränderungen dienen bei Tauler dem theologischen Gleichgewicht, der psychologischen Sicherheit und der ethischen Auswertung der ontologischen Mystik.
II. THEOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER LEBENSLEHRE TAULERS Taulers Gedanken sind uns nur in Einzelpredigten überliefert. Ihre thematische Streuung erschwert es, aus ihnen eine Konzeption zusammenzustellen. Bei Meister Eckhart ist diese Aufgabe dadurch erleichtert, daß lateinische Werke zur Verfügung 41 42 43
I. Weilner, Johannes Taulers Bekehrungsweg 52. Pf 284,28. Vgl. q 309,8 und dazu J. Quint in der Einleitung 20.21. Pf 47–53. In dieser Predigt spricht Eckhart wärmer und konkreter als sonst. 267
stehen und daß seine Predigten im Grunde nur von einem einzigen Thema durchdrungen sind: die Geburt Gottes im Menschen und der Vollzug dieser Geburt durch den Menschen. So sind Eckharts Predigten auch von konkreten Anlässen relativ unabhängig. Das gilt für Tauler nicht; seine Predigten lassen sich nach dem Jahresfestkreis der Kirche zusammenstellen. Nach G. Hofmann haben nur sieben Predigten keinen bestimmten Platz im Ablauf des Kirchenjahres.44 Daneben sind Taulers Predigten auch von ganz konkreten Anliegen bestimmt und geben auf Fragen und Probleme der Zuhörerschaft Antwort. Die Konzeption Taulers müßte also eigentlich für jede Einzelpredigt neu bestimmt werden. Man kann jedoch, wenn man Taulers Predigten verfolgt, bestimmte, immer wiederkehrende Gedanken feststellen, die sich unter einigen objektiven Aspekten zusammenstellen lassen. Taulers Predigten haben eine eindeutige Zielbestimmung. Sie richten sich auf die Vereinigung des Menschen mit Gott, wie sie im irdischen Bereich durch die vollkommene Frömmigkeit des Christen ermöglicht wird. Jede Predigt betrachtet den Weg des Menschen zu Gott. Eckharts Predigten betrachten das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Dabei überschneiden sich das irdische und das zukünftige Leben. Bei Tauler ist beides geschieden, denn er reflektiert über den konkreten Lebensweg, den der Mensch suchen muß, um zur Vollkommenheit zu gelangen, deren vollgültige Wirklichkeit ihm dann im zukünftigen Leben zuteil wird. Grundlegung dieses Lebensweges ist die Anthropologie Taulers. In seiner Entfaltung zeigt sich dieser Lebensweg von verschiedenen Aspekten bestimmt: er ist trinitarisch, heilsgeschichtlich, ekklesial und kosmisch bestimmt. Über die Grundlegung und die verschiedenen Aspekte des Lebensweges bei Tauler wird die theologische Konzeption zugänglich sein, die seiner Lebenslehre zugrunde liegt.
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Vgl. Johannes Tauler, Predigten (H) 598–627. 268
1. Anthropologische Grundlegung des christlichen Lebensweges A. Dualistischer Ansatz Taulers Menschenbild scheint dualistisch zu sein. Er unterscheidet zwischen einem inneren Menschen, dessen ganzes Bestreben auf Gott gerichtet ist, und einem äußeren Menschen, der in die kreatürliche Vielfalt hineinwirkt.45 Der innere Mensch ist durch die Gottebenbildlichkeit gekennzeichnet, der äußere Mensch durch seine Verhaftung mit der Kreatur. Dem inneren Menschen entspricht eine innere, gottförmige Welt, dem äußeren Menschen die irdische Umwelt. Tauler folgt hierin ganz dem metaphysischen Dualismus des Neuplatonismus. So ist die irdische Umwelt die Welt der Erscheinungen, des uneigentlichen Seins, und die innere Welt die Welt des eigentlichen Seins, die Welt in Gott.46 Göttlicher und irdischer Bereich stehen deshalb zunächst in einem unvereinbaren Gegensatz zueinander. Der irdische Bereich ist hinfällig und kontingent, in Vielfalt zersplittert und von den Auswirkungen der Sünde angegriffen. Der Leuchtkraft des eigentlichen Seins gegenüber erscheint er als Nichts. Was für den irdischen Bereich gilt, gilt zugleich für den äußeren Menschen; was für den göttlichen Bereich gilt, hat auch Gültigkeit für den inneren Menschen. Daraus folgt, daß für Tauler die biblische Vorstellung vom Reiche Gottes zum inneren Menschen gehört. Er verbindet die platonische Tradition von der Gottähnlichkeit des menschlichen Geistes, der das innerste Prinzip des Menschen ist, nicht nur mit der christlichen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern auch mit einer bestimmten Gottesreichvorstellung. Für diese Verbindung bot sich als klassisches Zitat die Schriftstelle Lk 17, 21 an: »Das Reich Gottes ist in euch.« Von dieser Schriftstelle ausgehend, hatte bereits vor Tauler die neuplatonisch gefärbte Theologie der Spiritualität eine »Introversionsmystik« aufgebaut. 47 Kennzeichnend für diese Introversionsmystik ist die Einschränkung des Reich-Gottes-Gedankens auf Gott selbst, auf die in Gott mit Gott identische ideale geistige Welt und auf den inneren 45 46 47
Vgl. V 42,28; 370,23.29. Vgl. auch Anm. 26. Vgl. V 42,29.32: die »stat« und die »eigenschaft« des inneren Menschen ist Gott. Vgl. P. Wyser, Der Seelengrund 235. Vgl. zum Gedanken des inneren Gottesreiches: V 358–364. 269
geistförmigen Menschen als Träger der Gottebenbildlichkeit. So ist für Tauler Gott das wahre Reich,48 an dem der innere Mensch Anteil hat.49 Aus diesem Dualismus von göttlichem und irdischem Bereich, von innerem und äußerem Menschen, erwächst bei Tauler eine klare Zielbestimmung des menschlichen Lebensweges: Ziel dieses Weges kann nur der göttliche Bereich und letztlich Gott selbst sein. Daraus folgt, daß jede unmittelbare irdische Zielbestimmung des menschlichen Lebensweges der eigentlichen Bestimmung des Menschen nicht gerecht wird. Irdische Bestimmungen des menschlichen Lebensweges kann es nur über Gott geben und nur unter der Voraussetzung, daß die eigentliche Zielbestimmung des Menschen gewahrt bleibt. Alle äußeren Beziehungen des Menschen werden deshalb von Tauler am Maßstab ihrer Förderlichkeit zum »finis ultimus«, Gott, gemessen.50 Dieser »finis ultimus« erscheint Tauler im Bilde des Friedens. Friede und Unfriede sind bei ihm die häufigsten Metaphern für den Dualismus von innerem und äußerem Menschen, von göttlichem und irdischem Bereich.51 Vom irdischen Bereich her gesehen erscheint der göttliche Bereich als Unfriede und Ungesichertheit. Umgekehrt erscheint, vom göttlichen Bereich her gesehen, der irdische Bereich friedlos, unstet, ruhelos. So unterscheidet Tauler zwischen äußerem und innerem, wahrem und falschem Frieden.52 Wahrer Friede und wahre Ruhe sind nur in Gott möglich.53 Weitere Metaphern Taulers, die sich aus seinem anthropologischen Dualismus ergeben, sind die Unterscheidungen von breitem und engem Weg, von äußerem und innerem Werk.54 Der breite Weg ist die Zersplitterung des äußeren Menschen in der Hingabe an geschöpfliche Ziele, an irdischen Genuß und selbstsüchtiges Wollen. Ihm entsprechen die äußeren Werke des Menschen. Der enge Weg und das innere Werk 48 49 50
51 52 53 54
Vgl. V 361,30. Vgl. V 301,4 f. Vgl. V 202,28.29; 425,13 f.; 59,7: »Lieben kint, diesen orden bitte ich úch daz ir lerent von Grunde Gott minnen und alle ding also vil sú úch dazuͦ gefurdern múgent, sú sigent beschaffen, wie sú wellent.« Deshalb fordert Tauler, V 59,31: »... ein ganz wor abeker von allem dem daz Got nút enist.« Vgl. V 22; 23; 31,31; 85; 178,9; 212,19. Vgl. V 85,26 f. Vgl. V 220,11.12. Vgl. V 189,4 (enger und breiter Weg); V 401,20 (äußeres und inneres Werk). 270
dagegen sind von der alleinigen Zielbestimmung des inneren Menschen, Gott selbst, geprägt. Der Dualismus Taulers läßt sich also in seinem ganzen Sprachgebrauch nachweisen. Der Sinn dieser Denkweise und dieses Sprachgebrauchs liegt einerseits in der klaren Zielbestimmung des Menschen und andererseits in einem christlichen Vorbehalt gegenüber der konkreten Welt. Diese positive Konsequenz darf jedoch die Nachteile nicht übersehen lassen: der irdische Bereich und der äußere Mensch erscheinen nicht in ihrer Bezogenheit auf den Schöpfer; nur der innere Mensch scheint in den göttlichen Bereich hineingenommen zu sein. Die natürlichen Funktionen des Menschen werden an seiner übernatürlichen Zielbestimmung abgewertet. B. Christliche Überwindung des anthropologischen Dualismus Taulers anthropologischer Dualismus, der auf der neuplatonischen Metaphysik beruht, ist nur scheinbar ein Dualismus. Er dient als formales Schema für die Zielbestimmung des menschlichen Lebensweges. Man darf aus den dualistischen Aussagen Taulers nicht sein Menschen- oder Weltbild konstruieren, wie das teilweise geschehen ist.55 Diese Interpretation liegt zwar nahe, aber sie wäre nur dann richtig, wenn die jeweiligen doppelten Aspekte, die sich aus einer dualistischen Sprechweise ergeben, mit bestimmten Teilen des Menschen identifiziert würden. Das ist jedoch bei Tauler nicht der Fall. Die Geistigkeit des Menschen wird zwar mit dem inneren Menschen identifiziert und die Leiblichkeit mit dem äußeren Menschen; aber es handelt sich hier nicht um materiale Bestandteile eines Menschenbildes, sondern um formale Aspekte des ganzen Menschen. Die verschiedenen Bezeichnungen geben Funktionsarten und Gesichtspunkte wieder.56 Deshalb kann Tauler das ganze Wesen des Menschen als geistig bezeichnen. Eckhart hatte den Sachverhalt noch klarer ausgedrückt, wenn er verlangte, die Seele nicht als Bestandteil des Menschen oder als Innenleben des Leibes zu verstehen, sondern als das geistige Prinzip, in das der ganze Mensch, auch seine Leiblichkeit, einbeschlossen ist.57 55 56 57
Vgl. G. Schneiders, Die Askese als Weltentsagung und Vollkommenheitsstreben 186.206. Vgl. V 261,30. Vgl. DW I 264,5 f. Die Seele ist Gefäß des Leibes. In ihrem Aufstieg trägt sie Gott deshalb die Kreatur zu. Es gibt freilich auch die umgekehrte Vorstellung bei Eckhart, vgl. DW I 285,1–5. Der Leib ist dann Kerker der Seele, wenn er sie durch seine Verhaftung an die 271
Man kann bei Tauler nur von einem formalen, nicht von einem inhaltlichen Dualismus sprechen. Deshalb steht seine Anthropologie durchaus auf christlichem Boden; der Neuplatonismus ist innerlich durch die christliche Überzeugung überwunden. Nur dadurch wird es möglich, daß Tauler sich den konkreten menschlichen Tätigkeiten und ihrer spirituellen Bedeutung zuwenden kann. Nur so ist es verständlich, daß er gleichzeitig die Weltflucht und die Sinngebung der Berufsarbeit fordern kann. Der Dualismus hat nur eine bestimmte Funktion im Denken Taulers: er sorgt für eine eindeutige Zielbestimmung des christlichen Lebens und verdeutlicht den christlichen Vorbehalt gegenüber dieser Weltzeit, die noch von ihrer Vollendungsgestalt entfernt ist. In der Lebenslehre bildet der innere Mensch das spirituelle Prinzip des äußeren Menschen. Dieses Prinzip muß der Mensch in sich erkennen, um dann daraus zu leben. Dadurch wird er zum »wesenlichen menschen«58, der es versteht, seine innere Ausrichtung auf Gott in seinem äußeren Tun zum Ausdruck kommen zu lassen. Obwohl so der neuplatonische Dualismus im christlichen Ganzheitsdenken inhaltlich aufgehoben ist, muß man doch kritisch bemerken, daß Tauler der sachliche Gegensatz zwischen Neuplatonismus und Christentum nicht aufgegangen ist. Jedoch geschah dies nicht aus einer neuplatonischen Interpretation des Christentums heraus, sondern umgekehrt aus einer nachträglichen, christlichen Interpretation des Neuplatonismus. Freilich entfaltet das neuplatonische Gedankengut dennoch seine eigenständige Wirkung. Deshalb sind Taulers Predigten von der »contemptus mundi«-Stimmung geprägt, und die Weltfreude hat in ihnen keinen Platz. C. Taulers Seelenspekulation in ihrer Bedeutung für die Lebenslehre Gott ist in »das innerste, tiefste, geistigste Sein« des Menschen eingeprägt.59 Diese Tatsache begründet das Verhältnis der Ebenbildlichkeit zwischen Gott und Mensch.
58 59
Dinge beengt. Beide Vorstellungen bedingen einander: vom Aspekt des inneren Menschen her gesehen ist der Leib in der Seele, vom Aspekt des äußeren Menschen her betrachtet ist die Seele im Leib. Vgl. Anm. 26 und 28. P. Wyser, a. a. O. 219. 272
Die Metapher dafür lautet bei Tauler »grunt der sele«60. Im Gegensatz zu vielen anderen mystischen Termini hat dieser Ausdruck kein direktes lateinisches Pendant. H. Kunisch leitet ihn daher sprachlich vom »grunt der herzen« in der höfischen Literatur ab.61 P. Wyser führt ihn sachlich auf das »abditum mentis« bei Augustinus zurück, das die verborgene Einheit der Seele bezeichnet.62 Bei Augustinus findet sich ferner »abyssus«63, bei Pseudo-Dionysius »pythmen« und bei den griechischen Vätern »bathos« als Organ für den Empfang der Taufe.64 Die Vorstellung vom Seelengrund gibt das tiefste und geistigste Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder, die »participatio« des Menschen am göttlichen Bereich. Dieses Verhältnis wird sowohl in Gott als auch im Menschen gleichsam als »Organ« betrachtet, in Gott ungeschaffen, im Menschen geschaffen. Wird das Verhältnis im Leben vollzogen, dann vereinen sich Gottesgrund und Seelengrund; das ist für Tauler die kürzeste Formel der »unio mystica«65. 60
61 62 63 64
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V 262,11. Als dynamischen Verhältnisbegriff darf man den Seelengrund nicht rein anthropologisch nehmen. Man kann nicht genug auf diesen Sachverhalt hinweisen, weil sonst das Mißverständnis »Seelenteil« leicht gegeben ist. Der Mensch steht für Eckhart und für Tauler immer in dynamischer Beziehung zu Gott. Diese Beziehung ist »vertikal« zu denken, nicht »horizontal« über eine geschichtliche Entwicklung. Vgl. Eckhart DW I 349,5.6: »Das Fünklein, das da bereit steht, unseres Herrn Leib zu empfangen, steht immerfort im Sein Gottes. Gott gibt sich der Seele immerfort neu in fortwährendem Werden.« Die »scintilla animae« ist also nicht »zunächst die Geist-Seele als solche, insofern sie sich selbst als Leibesform überschreitet und in ihrem Sein wie in ihrer Tätigkeit vom Leibe unabhängig bleibt« (I. Weilner, a. a. O. 93), sondern immer das dynamische Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Dazu gehören: »participatio« und »similitudo« des Menschen gegenüber Gott, vermittelt durch die »creatio continua«; die »gratia adoptionis« zur Gleichgestaltung mit Christus, vermittelt durch das Erlösungswerk; die »uniomystica« als Teilnahme am Trinitätsleben, wenn das im Heilswerk Vorgegebene im Leben vollzogen wird. Vgl. Das Wort »Grund« in der Sprache der deutschen Mystik 11–14. Vgl. Der Seelengrund in Taulers Predigten 226. Vgl. a. a. O. Vgl. a. a. O. 221.222, und I. Weilner, a. a. O. 87 f. Vgl. auch zur Geschichte des Seelengrundes: E. von Ivánka, Apex mentis. Wanderung und Wandlung eines stoischen Terminus 129–176. Vgl. V 201,1–7. Vgl. dazu: P. Wyser, a. a. O. 224–226. 273
Im Menschen bedeutet der Seelengrund Ausdruck der Schöpfung als Gottes Ebenbild und der Neuschöpfung in Christus (vgl. 2 Kor 5, 17). Da die Neuschöpfung in Christus durch das Sakrament der Taufe den Menschen erreicht, konnten die griechischen Väter den »Grund« als Sitz der Taufe verstehen. Wird diese ontologische Wirklichkeit in Sittlichkeit und Frömmigkeit vom Menschen vollzogen, dann führt sie zur vollkommenen Vereinigung mit Gott; die ontologisch vorgegebene Wirklichkeit wird gesteigert, indem sie im Leben offenbar wird. Auf diesem Gedanken beruht die Vorstellung von der »unio mystica«. Sie ist nur möglich, wenn ontologische Vorgegebenheiten, Verhalten und Bewußtsein des Menschen zusammenwirken und eine Einheit bilden. Das ontologisch Vorgegebene ist dabei zugleich sittliches Prinzip des Handelns. Darum gehören Seelengrund und scholastische »synteresis« zusammen. Auch die verschiedenen anderen Ausdrücke für den Seelengrund, die sich bei Tauler, bei Eckhart und bei anderen Mystikern finden, sind Aspekte derselben Sache. Darum führt hier der Sprachgebrauch nicht zu sachlichen Unterschieden, wenn auch manchmal zu neuen Aspekten.66 Da der Seelengrund das tiefste und zugleich verborgene geistige Sein des Menschen ausdrückt, ordnet er zugleich alle Seelenkräfte und allgemein alle Kräfte des Menschen. Verstand, Wille und Gefühl und ihr konkreter leiblicher Ausdruck werden vom Seelengrund unerfahrbar zusammengefaßt. Da der Seelengrund ein verborgenes Sein wiedergibt, ist seine sprachliche Fassung eigentlich unmöglich; durch jede sprachliche Bezeichnung kommt eine Verfälschung hinein. Darum empfinden sowohl Eckhart als auch Tauler ihre Bezeichnungen als unzulänglich, ob sie nun vom »funken« (scintilla animae), »tolden«, »boden«, vom »gemuet«, »geist« oder der »erstekeit« (principium) sprechen. Tauler sucht aus diesem sprachlichen Dilemma einen Ausweg, indem er seine Ausdrücke häuft67 oder indem er den Seelengrund das »Nichts« des Menschen nennt.68 66
67 68
So steht die affektive Färbung des Gemütsgrundes bei Tauler der intellektiven Färbung des Seelenfünkleins bei Eckhart gegenüber. Vgl. Anm. 36. Vgl. die Sammlung der Ausdrücke bei P. Wyser, a. a. O. 218.219. Vgl. V 90,22 f. »Unio mystica« wird von Tauler oft als Einung von »Nichts« des Menschen und »Nichts« der Gottheit beschrieben. Diese negative Fassung des »Grundes«, sowohl des Gottesgrundes wie des Seelengrundes, entspricht ihrer Unzugänglichkeit und der »Weiselosigkeit des Gottfindens«, das letztlich in der »passio divina« von Gott selbst 274
Entsprechend der Seelenspekulation vollzieht sich die mystische Lebenslehre Taulers: der Seelengrund muß von aller äußeren Ungeordnetheit befreit werden, dann wirkt in ihm die gottförmig machende Gnade und durchformt den ganzen Menschen bis in seine äußerlichsten Handlungen hinein. Darin besteht Taulers formale Konzeption der Spiritualität. Der anthropologisch grundgelegte Weg des Menschen wird von Tauler jedoch auch inhaltlich beschrieben. Dabei zeigt sich seine trinitarische und heilsgeschichtliche Bestimmtheit.
2. Trinitarische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges Die göttliche Zielbestimmung des christlichen Lebensweges wird von Tauler trinitarisch gefaßt. Auf eine kurze Formel gebracht, lautet sie: der Mensch muß sich selber und die ganze Schöpfung dem Vater durch Christus im Heiligen Geiste darbringen.69 Diese Bestimmung des Lebensweges entspricht der alten Gebetsformel der griechischen Väter: »Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geiste.« Der Lebensweg soll bei Tauler Gebet sein, denn er dient der Verherrlichung Gottes, der »gloria Dei«. Tauler verwendet dafür die Formel: »alles zu Gottes Ehre«70. Die trinitarische Bestimmung des Weges zu Gott ist im innertrinitarischen Prozeß Gottes selbst vorgezeichnet. Der Sohn geht vom Vater aus (generatio), der Geist von Vater und Sohn (spiratio).71 Zugleich verbindet der Geist den Vater mit dem Sohn in der göttlichen Liebe und vollendet so den Kreislauf des innergöttlichen Prozesses. In diesen Prozeß wird der Mensch mit hinein genommen, weil er als »Miterbe Christi« daran partizipiert.72
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geschenkt werden muß. Vgl. V 176,4: »... do versinkt das geschaffen nút in das ungeschaffen nút.« V 201,6: »... do flússet das ein abgrúnde in das ander abgrúnde und wird do einig ein, ein niht in das ander niht.« Vgl. dazu C. Kirmße, a. a. O. 40. Vgl. V 63,35 f.; 47,4; 137,17–20; 157.12. Vorbild für diese trinitarische Aufopferung des Lebens ist das Meßopfer, vgl. V 318,17 f. V 70,12. Vgl. V 129,26; 149,8 und Pf 333,90: »Wer êret got? Der gotes êre meinet in allen dingen.« Vgl. K. Ruh, Die trinitarische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik 25. Die menschliche Seelenstruktur bildet diesen trinitarischen Vorgang ab: aus dem Gedächtnis (Vater) entstehen Erkenntnis (Sohn) und Liebe (Hl. Geist). Vgl. V 63,32 f. und 206,10 f. 275
Die trinitarische Bestimmung des Weges zu Gott ist zugleich im Heilswerk Gottes vorgezeichnet. Im Sohn hat Gott alles geschaffen, in ihm dem Menschen Anteil an der Erlösung gegeben, in ihm Mensch und Kosmos zu ihrer Vollendungsgestalt berufen. Durch die Geistgabe wird der Mensch befähigt, dieser Berufung zu folgen.73 Der Lebensweg des Menschen ist deshalb Nachzeichnung und Abbild des innertrinitarischen Prozesses und des göttlichen Heilswerkes. In seinem persönlichen Lebensweg soll der Mensch das göttliche Wirken offenbar werden lassen, indem er alle Hindernisse dafür beseitigt und mit der Gnade mitwirkt. Zu diesem Mitwirken ist er entsprechend seiner Gottebenbildlichkeit berufen. So kann Gott durch den Menschen letzten Endes sich selbst wollen, wie es seinem göttlichen Wesen entspricht. Gott ist »von Natur das Ende aller Dinge und jeglicher Absicht«74. Im einzelnen entfaltet sich die trinitarische Bestimmung des christlichen Lebensweges bei Tauler in drei Gedanken: Vom Vater ist alles empfangen, was wir haben; darum muß dem Vater alles wiedergegeben werden. Christus, der gehorsame Sohn und Erbe des Vaters, hat diesen Weg in seinem Erlösungswerk vorgezeichnet; zu seiner existentiellen Nachfolge sind wir berufen. Diese Nachfolge kann im Heiligen Geiste geschehen, der im reinen Herzen empfangen wird. »Der Mensch hat alle Dinge von Gott empfangen, alles, was er innen und außen besitzt: Güter der Natur, der Gnade, des Glücks. Das hat er alles darum empfangen, daß er es Gott wieder hinauftragen solle in Dankbarkeit, Liebe und Lob.«75 Tauler betont den ausschließlichen Empfängnischarakter des ganzen geschöpflichen Seins; die Güter der Schöpfung, Erlösung und Vollendung (Natur, Gnade und Glück) sind dem Menschen nur für Gott gegeben. Darum darf der Mensch diese Güter nicht genießen, sondern nur für Gott gebrauchen. Ein Genießen dieser Güter ist in Gott gestattet, wo sie ihren Ursprung und ihr Ziel haben. Alle Freude verweist Tauler auf den göttlichen Bereich, denn er sieht den irdischen Bereich nur in seiner Relation zu Gott, nicht in seiner, wenn auch relativen, Eigenständigkeit.
73 74 75
Vgl. V 93,10. Vgl. V 62,32. V 137,17–20. Vgl. 154; 221,26; 343–344. 276
Den göttlichen Bereich nennt Tauler das »Herz des Vaters«76. Dieses Herz wird von Christus den Menschen erschlossen, denn er ist das Erbe des Reiches: »Der Sohn hat vom Vater alles empfangen, was er ist und hat und kann; der Vater hat ihm alle Dinge in seine Hand gegeben. Dies brachte der Sohn dem Vater von Grund aus wieder dar ..., wie er es von dem Vater empfangen hatte, so daß er ihm gar nichts vorenthielt noch sich etwas anmaßte, denn er sucht allein den Ruhm des Vaters und nicht den eigenen. So sollen wir dem Sohn nachfolgen; ... dem Vater sollen wir so all das, was wir sind, haben und vermögen, von Grund aus darbringen ...«77 An dieser kurzen Zusammenfassung der Bedeutung des Sohnes für den Weg zur Vollkommenheit wird sichtbar, wie sehr Tauler die Vorbildhaftigkeit Christi in den Vordergrund stellt gegenüber der seinshaften Verbindung zwischen Christus und den Christen. Er argumentiert moralisch und nicht ontologisch. So spricht er vom Vorbild Christus und nicht von der Eingründung des Menschen in Christus in der Taufe, von der Nachfolge Christi und nicht von der sakramentalen Christusförmigkeit des Menschen. Deshalb muß auch hier die ontologische Begründung vorausgesetzt werden. Ähnliches gilt von Taulers Behandlung der Gottesgeburtslehre, die er nicht mehr wie Eckhart ethisch und ontologisch, sondern nur noch ethisch auffaßt.78 Die trinitarische Bestimmtheit des menschlichen Lebensweges zeigt Tauler gern an biblischen Metaphern. So ist das Herz Gottvaters der »Schafstall« (vgl. Jo 10, 1 ff.), dessen Türe Christus und dessen Türhüter der Heilige Geist ist. 79 Ebenso wendet Tauler das Bild vom Haus des Vaters (vgl. Jo 14, 2) an. Die Pforte ist Christus, der Pförtner der Heilige Geist.80 Der Empfang des Gottesgeistes ist deshalb Bedingung für den Eintritt in den göttlichen Bereich. Auch hier kommt es Tauler nicht auf eine Begründung durch das Sakrament an, sondern auf die spirituelle Erneuerung des Geistempfangs durch die »wahre Abgeschiedenheit«81. Diese spirituelle Erneuerung beruht auf der Vorstellung, daß die innere Freiheit und Ordnung des Menschen die Einwirkung Gottes ermöglicht und Anteil am innertrinitarischen Prozeß schenkt. So 76 77 78 79 80 81
V 110,25. V 63,35 f. Vgl. V 11,6 f. und 78,2 f. Vgl. V 111,3 f. Vgl. V 206,21. V 92,1. 277
vollzieht sich das Pfingstereignis »in geistlicher Weise alle Tage in all denen, die sich gründlich darauf vorbereiten«82. Der empfangene Geist durchformt dann das Herz des Menschen, treibt es an und richtet es aus auf die alleinige Zielbestimmung des menschlichen Daseins: alles von Gott Empfangene Gott durch Christus wieder darzubringen.83 Indem er so den Lebensweg des Menschen göttlich macht, vollendet er im Menschen das Heilswerk Gottes. Diese Vollendung des einzelnen Menschen schließt die Vollendung der menschlichen Gemeinschaft und des Kosmos in sich ein. Die trinitarische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges faßt die Vollendung des Heilswerkes als Vergöttlichung des Menschen. Er wird in den trinitarischen Prozeß Gottes hineingenommen. Um diese weitgehende Folgerung vor dem Mißverständnis der Identifizierung von Mensch und Gott zu schützen, betont Tauler die Gnadenhaftigkeit der Vergöttlichung. Der Mensch wird wie Gott, aber »von genoden«84, d. h. es handelt sich hier nicht um eine im Wesen des Menschen, sondern im Wesen Gottes grundgelegte Einheit. Der Mensch bleibt Kreatur. Er erreicht wohl eine substantielle Gemeinschaft mit Gott, aber keine Wesensidentität.85
3. Heilsgeschichtliche Bestimmtheit des christlichen Lebensweges Das Heilswerk Gottes soll für das christliche Leben fruchtbar werden. Das zeigte sich bereits in der trinitarischen Bestimmtheit: die Trinität offenbart sich im göttlichen Heilswerk, das sich in der Geschichte entfaltet. Der Mensch erhält Anteil an diesem Heilswerk durch die Menschwerdung und das Erlösungswerk Christi; er wird zum Miterben des Gottessohnes.86 Tauler begründet diese Anteilnahme nicht aus der sakramentalen Grundlegung der christlichen Existenz, sondern aus dem Heilshandeln Gottes selbst. Dieses Heilshandeln ist bereits in der Schöpfung begründet. Die Schöpfung im Logos intendiert das Erlösungswerk. Deshalb ist Taulers Theologie in erster
82 83 84
85 86
V 91,16. Vgl. V 111,6. V 25,23: »... das der edel wunnencliche grunt (Gott) hat von naturen, das mag sú erkriegen von genoden.« Vgl. Anm. 24 und 25. Vgl. 63,35 f. 278
Linie Schöpfungstheologie. Tauler folgt darin Eckharts Konzeption. In dieser Konzeption wird das Heilswerk Gottes weniger in seinen geschichtlichen Einzelzügen erfaßt als in seiner ursprünglichen Identität im Heilswillen Gottes. Werden aber Schöpfung, Erlösung und Vollendung von Gott her zusammen gesehen, dann sind auch im Menschen Schöpfung und Rechtfertigung kaum zu trennen. Daraus folgt, daß Taulers Lebenslehre von der Gottebenbildlichkeit im Menschen ausgeht und nicht von seinem sakramentalen Mal.87 Daraus folgt ferner, daß die Einzelzüge der Heilsgeschichte von Tauler weniger in ihrer existentiell-ontischen Bedeutung als in ihrer moralischen Bedeutung für den christlichen Lebensweg gesehen werden. Daraus folgt schließlich, daß Tauler die Sakramente weniger als Begründungen der christlichen Sittlichkeit und mehr als Institutionen der Gnadenhilfe und der geistlichen Gottbegegnung auffaßt.88 Aus diesen Konsequenzen darf jedoch nicht vorschnell auf eine rein moralisierende Betrachtung der Heilsgeschichte bei Tauler geschlossen werden. Die christliche Existenz ist ja im Heilswerk Gottes begründet, und von dieser Begründung lebt der christliche Weg zur Vollkommenheit bei Tauler. Die Begründung bezieht sich freilich auf das gesamte Heilswerk und seine Einheit in Gott und nicht auf die heilsgeschichtlichen Einzelzüge. Man muß also bei Tauler unterscheiden zwischen einer existentiellen Bedeutung des gesamten Heilswerkes, das das innerste Sein des Menschen bestimmt, und einer moralisch-vorbildhaften Bedeutung der heilsgeschichtlichen 87
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Diese Art der Grundlegung ergibt sich aus der Ungeschiedenheit von Natur und Gnade in der dynamischen Schöpfungstheologie. Vgl. I. Weilner, a. a. O. 103: »Tauler macht sich wenig Mühe, beides streng auseinanderzuhalten. Unbekümmert springt er in der Darstellung von einem zum andern über. Schließlich predigt er vor Getauften, in denen sich beide Ordnungen, die ja auch aufeinander hin geschaffen sind, in der Tat innig durchdringen.« Die Unbekümmertheit ist jedoch nicht, wie Weilner meint, rein praktisch zu erklären, sondern sie ist auch ein Merkmal der Theologie Taulers. Vgl. V 49,29: »Wider die manigvaltige hindernisse so het uns der minnencliche Got gegeben grosse helfe und trost und het uns sinen eingeborenen sun gesant, das sin heilig leben und grosse vollekomen tugent und bilde und lere und manigfaltig liden uns usser uns leite und uz us selber leite zuͦ mole, ... und er het uns die heiligen sacramente gegeben, von erst den heiligen touf und den heiligen crisemen, darnoch also wir usvallent, die heilge bihte und die penitencien, dazuͦ sinen heiligen lichamen und an dem lesten daz heilige oley.« 279
Einzelzüge. Die moralisch-vorbildhafte Bedeutung betrifft vor allem die konkret-historischen Ereignisse der Menschwerdung, des Kreuzestodes und der Auferstehung Christi. Als Zeichen des göttlichen Heilswerkes in der Geschichte sind diese Ereignisse für den nach vollkommener Gemeinschaft mit Gott strebenden Menschen Zeichen für das Heilshandeln Gottes an ihm. Die Menschwerdung Christi ist Zeichen der immerwährenden Gottesgeburt in jedem guten Menschen,89 der Kreuzestod Zeichen für das Herausgerufensein aus der Welt, die Abgeschiedenheit und Freiheit des inneren Menschen,90 Auferstehung und Himmelfahrt Zeichen der Berufung zur göttlichen Vollendung. Daneben hat vor allem der Kreuzestod bei Tauler eine moralischvorbildliche Bedeutung für das christliche Leidertragen und die Aufopferung aller Dinge für Gott.91 Die heilsgeschichtliche Bestimmtheit des christlichen Lebensweges zeigt sich am besten in Taulers Vorstellung von der Nachfolge Christi. Die existentielle Bedeutung des gesamten Heilswerkes, das in Christus den Menschen zur göttlichen Gemeinschaft beruft, ist zugleich die existentielle Begründung der Nachfolge Christi. Die Existenz des Christen ist christozentrisch, deshalb muß sein Leben christusförmig werden. Anteil an der Christozentrik erhält der Mensch durch die Eingliederung in den ekklesialen Leib Christi.92 Die existentielle Begründung aus dem Heilswerk tritt jedoch bei Tauler meistens hinter den Gedanken der Nachahmung des geschichtlichen Lebensweges Christi zurück.93 Dementsprechend behandelt Tauler die einzelnen Taten Christi mehr in ihrer moralischen Vorbildlichkeit als in ihrer existentiellen Bedeutung.94 Die existentielle Bedeutung der Heilsgeschichte muß bei Tauler ebenso wie bei Eckhart über die Schöpfungstheologie und die Gottebenbildlichkeit des Menschen erschlossen werden. Diese Schöpfungstheologie faßt das gesamte Heilswerk Gottes in seiner Bedeutung für den Menschen zusammen. Sie betont weniger die geschichtlichhorizontale Entfaltung als die vertikale Beziehung zwischen Gott und Mensch. Man 89 90 91 92 93 94
Vgl. V 11,1 f. Vgl. Pr. 51 und 65 zum Fest der Kreuzerhöhung; vgl. V 230 f. und 353 f. Vgl. V 233,26. Vgl. V 240,27 f. Vgl. V 81,15; 209,22 – 211,14. Vgl. V 294,12 f. 280
darf also »Schöpfung« und »Erlösung« bei Tauler nicht so sehr als geschichtliche Setzungen verstehen, sondern vielmehr als Bestandteile der dynamischen göttlichen Wirksamkeit am Menschen und im Menschen an der ganzen Welt. Ebenso kann die Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht nur auf das Schöpfungsereignis bezogen werden; sie ist durch die im Erlösungswerk entbundene »gratia adoptionis«95 wiederhergestellt, zur Gleichförmigkeit mit dem Sohn und zur Gemeinschaft mit Gott erhoben.
4. Ekklesiale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges Während die einzelnen Ereignisse der Heilsgeschichte von Tauler vor allem in ihrer zeichenhaften, spirituellen und moralischen Bedeutung erfaßt werden, sieht er die Kirche als konkrete geschichtliche Wirklichkeit. Die Kirche ist »Gottes heilige Christenheit«96, die von Gott geheiligte und in Christus zu einem Leibe geeinte Gemeinschaft der Christen. Tauler hält an der irdisch konkreten Gestalt der Kirche ebenso fest wie an ihrer inneren Heiligkeit, und dies in einer Zeit der allgemeinen kirchlichen Unsicherheit. Ganze Landstriche waren zeitweilig mit dem Interdikt belegt in der Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst. »In vielen Ländern kann man nicht mehr lehren, nicht predigen, nicht warnen.«97 Auch die Heimat Taulers, Straßburg, wurde vom Interdikt belegt, so daß sie Tauler zusammen mit dem Dominikanerkonvent verlassen mußte. So wundert es nicht, wenn er die »Not der heiligen Christenheit«98 beklagt. Dennoch ist für Tauler die Kirche notwendige Heilsinstitution. Das schließt für ihn die Autorität der hierarchischen Amtskirche ebenso ein wie die sakramentale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges. Darüber hinaus ist die Kirche als Leib
95 96 97 98
Vgl. V 240,30: »wir súllen sin mit erbe von gnaden.« Vgl. C. Kirmße, a. a. O. 35. V 168,4. V 394,13. V 102,10.13. Vgl. V 391,13: »Die Stadt, über die der Herr geweint hat, ist die heilige Christenheit ...« Vgl. zum Zustand der Kirche am Anfang des 14. Jahrhunderts: H. C. Scheeben, Der Konvent der Predigerbrüder in Straßburg – die religiöse Heimat Taulers 60–74; K. Bihlmeyer – H. Tüchle, Kirchengeschichte II. Paderborn 161958, 369. 281
Christi inneres Prinzip der personalen, sozialen und materialen Vollendung des Christen. A. Kirche als Heilsinstitution In einer Predigt gibt Tauler einen kurzen »Katechismus« des »rechten Christenlebens« als Ausgangspunkt für alle weiteren Bemühungen um den Aufstieg in der Vollkommenheit: »Nun merket von dem guten Maß: daß der Mensch seinen Willen zu Gott kehre, nach seinen und der heiligen Kirche Geboten lebe, und das in guter Ordnung im Gebrauch der heiligen Sakramente und im Glauben; daß ihm seine Sünde leid sei und er den festen Willen habe, sie nimmermehr zu begehen, daß er ein Leben der Buße führe, was heutzutage nur wenige tun wollen, in Gottesfurcht lebe und Gott wie auch seinen Nächsten liebe.«99 In dieser Disposition ist auf die doppelte Bedeutung der Kirche als Heilsinstitution bei Tauler hingewiesen: die Gläubigen haben die Autorität der kirchlichen Vorschriften zu achten und die in den Sakramenten angebotenen Gnadenmittel zu nutzen. Die Autorität der hierarchischen Amtskirche wird von Tauler überall vertreten.100 In ihr wird auch die Autorität der Ordensvorschriften begründet.101 Tauler erwähnt dabei vor allem den verpflichtenden Charakter der Gebetsvorschriften.102 Am deutlichsten kommt diese Haltung in der Stellung des Frommen zum Interdikt zum Ausdruck: »Auch wenn die heilige Kirche uns den äußeren Empfang des heiligen Sakramentes nehmen wollte, so sollten wir uns darein ergeben. Aber es auf geistliche Weise zu empfangen, das kann uns niemand nehmen. Alles, was die heilige Kirche uns gegeben hat, kann sie uns wieder nehmen. Und das alles sollte geschehen ohne irgendein Murren oder einen Widerspruch.«103 So soll der Mensch sich kirchenrechtlichen Maßnahmen unterwerfen, ohne nach den Gründen zu fragen; für den gehorsamen und
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V 337,9–14. Vgl. V 15,6 f. Vgl. V 58,33 f. Vgl. V 20,12; 224,25. V 255,25–28. Vgl. zu den Aufgaben und Vollmachten der Kirche bei Tauler: A. Hoffmann, Taulers Lehre von der Kirche 232–237. 282
gelassenen Menschen bleibt die innere Gottverbundenheit auch im Interdikt unverlierbar.104 Kirche und Sakramente sind für Tauler untrennbar verbunden. Deshalb vertritt er die scholastische Lehre, daß die Sakramentenspendung in der Intention der Kirche geschehen müsse.105 Die innere Beziehung von Kirche und Sakramenten wird von ihm jedoch nicht weiter ausgeführt, weil Taulers spirituelles Anliegen sich nicht auf theologische Strukturfragen, sondern auf den personalen Vollzug der Sakramente richtet.106 Diesen personalen Vollzug behandelt Tauler in seinen fünf Predigten über das Altarssakrament. 107 Seine Voraussetzungen des Empfanges entsprechen der kirchlichen Lehre: »non ponere obicem«108. Darüber hinaus verlangt er den Nachvollzug des Sakramentes im Leben als Wirken in der Richtung der im Sakrament geschenkten Gnade. Den größten Nachdruck legt er jedoch auf den spirituellen Vollzug der Sakramente durch ein Leben der Aufopferung aller Dinge in Christus für den Vater.109 So sind für ihn die Sakramente Zeichen für die Gestaltung des christlichen Lebensweges. Ihr symbolischer Charakter bedeutet ihm mehr als ihre ontische Kausalität. Für das heutige Verständnis, das beides miteinander verbunden wissen will, scheint diese Auffassung einseitig. Jedoch läßt sie sich, wie wir schon gesehen haben, auf die Schöpfungstheologie zurückführen; die Sakramente symbolisieren das ganze Heilshandeln Gottes, von dem der christliche Lebensweg ontischkausal bestimmt ist. Darauf beruht die Möglichkeit des geistlichen Vollzuges bei Tauler. Das Leben des Menschen soll das werden, was das Sakrament bezeichnet: Symbol der göttlichen Kausalität. So hat die sakramentale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges wie alle anderen Bestimmtheiten ihren Grund im Heilswerk Gottes. 104 105 106
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Vgl. V 255,29–32. Vgl. V 165,10 f. Vgl. D 854: »intentio faciendi quod facit ecclesia«. Ein schönes Beispiel dafür ist Predigt 40 bei Vetter: das Meßopfer als Vorbild des ganzen Lebens; vgl. besonders V 165,15 f. Vgl. zur Beziehung von Sakrament und Kirche: K. Rahner in: LThK 9, 241; zum personalen Vollzug: a. a. O. 229. Vgl. V 118–131; 310–321. D 849. Vgl. V 165,18: »... mit eime gesammeten gemuͤ te sol in sich selber gan und alle sinneliche ding do ussen lossen, und so do das minnencliche opfer opheren dem himelschen vatter: sinen geminten sun mit allen sinen werken...« 283
B. Kirche als Leib Christi Tauler definiert die Christenheit als ekklesialen Leib Christi. Er folgt dabei der Vorstellung des Epheser- und des Kolosserbriefes, nach der Christus das Haupt des Leibes ist, dem die Christen als Glieder angehören.110 Als Haupt des Leibes ist Christus »Führer« und »Bannerträger« der Christenheit.111 Mit ihm sind die Glieder seinsmäßig verbunden: »Kein Glied am Leibe, das nicht mit dem Haupt verbunden ist, und empfinge es nicht dessen stete Einwirkung, es verfaulte, verdürbe, und man müßte es bald abhauen.«112 Neben der Grundlegung in der Schöpfungstheologie Taulers und über diese Grundlegung hinaus findet hier die Existenz des Christen eine vertiefte theologische Begründung. Die Zugehörigkeit zum Haupte des ekklesialen Leibes bedeutet die völlige Christozentrik dieser Existenz. Daraus ergibt sich eine Vertiefung des zunächst heilsgeschichtlich begründeten Gedankens der Nachfolge Christi. Der Gedanke vom Heilserbe des Christen in Christus wird durch die seinshafte Gemeinschaft mit Christus im ekklesialen Leibe existentiell wirksam. Christus ist zugleich Grund und Vorbild der Nachfolge. Indem die Glieder dem Haupte nachfolgen,113 verwirklichen sie ihre eigene Existenz; sie werden, was sie als Glieder dieses Leibes in Christus eigentlich schon sind. Die Vorstellung vom Leibe Christi findet sich bei Tauler in zwei Predigten, die seine wichtigsten Aussagen in der Lebenslehre enthalten: das christliche Verständnis der Berufsarbeit und die organische Verbindung von Innerlichkeit und Tat. Daraus erhellt die zentrale Bedeutung dieser Vorstellung. Sie bedeutet eine notwendige Ergänzung der Schöpfungstheologie Taulers, in der die konkrete Geschichtlichkeit und die »Welt der Erscheinungen« zu leicht übergangen wird. Wird der Blick allein auf das Heilswerk in 110 111
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Vgl. Eph. 1,22; 4,15; Kol. 1,18. Vgl. V 85,12 f. Diese Ausdrücke hängen mit der Vorstellung von der »militia Christi« im Mittelalter zusammen. Noch Erasmus hat diesen Gedanken aufgegriffen. Vgl. Erasmus von Rotterdam, Enichiridon Militis Christiani. Übertr. und eingel. von H. Schiel. Freiburg/Br. 1952, besonders 144.145. V 85,18–20. Vgl. V 85,7.8: »... alle die wile daz unser houbet ist ufgefarn, so ist das zimeliche rede daz die glieder noch varent irem houbte ...« 284
Gott gelenkt, dann besteht die Gefahr einer weltfernen, subjektivistischen und spiritualistischen Frömmigkeit, in der weder die tätige Liebe noch der Weltdienst des Christen etwas bedeuten. Auch Taulers Predigten sind dieser Gefahr nicht immer entgangen. Sie enden oft in der völligen Entfremdung des mystischen Menschen von allem Konkreten und im völligen Aufgehen in einer abstrakten Innenwelt. Gerade dieser Zug zur Introversionsmystik wird durch die Vorstellung vom ekklesialen Leibe Christi korrigiert, und die personale Vollendung entwickelt sich nicht mehr gegen, sondern im Einklang mit der kosmischen und sozialen Vollendung. Die Notwendigkeit einer solchen Korrektur ergibt sich auch daraus, daß die dualistische Struktur der Anthropologie Taulers zwar christlich integriert ist, aber dennoch ihre eigenständige Kraft in seinem Denken entfaltet. Die Festlegung der Gottebenbildlichkeit auf den inneren Menschen bedeutet eine Schwächung des sozialen und materialen Aspektes der menschlichen Personalität. An den meisten Stellen der Predigten zeigen sich diese Aspekte nur noch in der negativen Form der Loslösung von allen irdischen Dingen und Werken. Die Bedeutung der Leib-Christi -Vorstellung erstreckt sich daher bei Tauler nicht nur auf eine existentielle Begründung der Christozentrik und eine ekklesiale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges, sondern auch auf die theologische Anthropologie. Aus der Zugehörigkeit der einzelnen Glieder zueinander leitet Tauler die christliche Brüderlichkeit ab. Dadurch wird der soziale Aspekt aufgewertet und vertieft. Aus den verschiedenen Aufgaben der einzelnen Glieder nicht nur in der Kirche, sondern auch in der irdischen Wirklichkeit wird sichtbar, daß die personale Vervollkommnung die materiale einschließt. Dadurch wird der Weltdienst des Christen aufgewertet und vertieft. 114 So kann Tauler schließlich die von Meister Eckhart begründete Befreiung der »vita activa« aus der fast ausschließlichen Vorherrschaft des kontemplativen Lebens in der mittelalterlichen Frömmigkeit fortsetzen und konkretisieren. Aus der Verbundenheit der Kirche mit Christus ergibt sich die Heiligkeit der Kirche. Deshalb sind auch ihre Glieder zur Heiligkeit berufen und werden von ihr geheiligt. Diese vorgegebene Heiligkeit fordert die Vollkommenheit des Lebens. Deshalb betont Tauler die Notwendigkeit der »Gottesfreunde« in der Kirche. Sie finden sich 114
Vgl. V 154–162; 176–181. 285
in allen Ständen als sichtbares Zeichen der Heiligkeit. Zugleich befruchtet ihre Heiligkeit die ganze Kirche, denn das Sein eines jeden Gliedes wirkt sich auf das andere aus. So ist nicht nur der Weg des einzelnen zur Vollkommenheit von der Kirche bestimmt, sondern auch die Kirche selbst entfaltet sich weiter durch die vollkommene Frömmigkeit ihrer Glieder, die von demselben Geist getragen ist. 115 Der Mystiker führt, nicht aus Verdienst, sondern aus Gnade, sich selbst durch die Kirche und durch sich selbst die Kirche der Vollendungsgestalt entgegen.
5. Kosmische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges Der Kosmos wird bei Tauler fast durchweg negativ thematisiert. Aus diesem Befund wäre also eigentlich die Folgerung zu ziehen, daß er eine kosmische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges ablehnen muß. Das Ergebnis wäre dann eine weltlose Frömmigkeit und eine weltlose Mystik. Taulers Lebenslehre setzt jedoch auch ein positives Weltverhältnis voraus, denn sie gelangt zu einer Aufwertung des tätigen Lebens und der Berufsarbeit. Es stellt sich daher die Frage, wie diese Spannung im Weltverhältnis zu erklären ist. A. Die negative Bewertung der Welt als Abweg von Gott Für Tauler hat die Welt als »Welt der Erscheinungen« nur uneigentliches Sein. Gemessen an der Seinsfülle Gottes ist sie daher »quasi nihil«. Soweit sie dem Menschen in einer gewissen Eigenständigkeit erscheint, ist sie als Abweg von Gott zu werten und als Gefahr für das eigentliche Sein des Menschen, das in Gott gesucht werden muß.116 Diese Auffassung entspringt einem philosophischen Dualismus. Sie ist fast für die ganze aszetisch-mystische Literatur des Mittelalters kennzeichnend und beruht darauf, daß schon für die Theologen des christlichen Altertums der Dualismus geeignet erschien, den christlichen Gedanken des eschatologischen Vorbehaltes gegenüber der Welt zu interpretieren.117 115 116
117
Vgl. V 169,28 f. Vgl. V 222,18; 222,21–23: »... sol Gotz fúrgang in uns gewerden mit der erfúllung siner geburt, so muͦ s die creature in uns verwerden.« Vgl. E. von Ivánka, Vom Platonismus zur Theorie der Mystik 163 bis 195. 286
Tauler sieht die Welt nicht als metaphysischen Begriff, sondern als konkret vorgefundene Umwelt. In ihr dokumentiert sich für ihn die Verschlechterung der Welt durch die Sünde.118 Sie zeigt sich vor allem in der Weltverfallenheit der Sinne (Wohlleben, Prachtentfaltung, Genuß) und des Geistes (selbstgerechte »Vernünftler«).119 Mit solchen Aussagen nimmt er freilich einen Topos der mittelalterlichen aszetischen Predigt auf,120 so daß sich nur schwer entscheiden läßt, ob er sich darin einer bestimmten Redeweise bedient oder nur tatsächliche Verhältnisse wiedergibt. Aus der negativen Bewertung der Welt ergibt sich die Forderung von Weltverachtung und Weltflucht. Die entsprechende Haltung des Menschen ist meistens durch stoische Termini gekennzeichnet: Gleichgültigkeit und Gelassenheit gegenüber der Welt. Tauler versteht die christliche Aszese vor allem als konkrete Weltentsagung.121 B. Die positive Bewertung der Welt als Weg zu Gott Schon der philosophische Dualismus läßt eine gewisse positive Bedeutung der Welt für die Frömmigkeit zu. Die »Welt der Erscheinungen« weist gerade in ihrer Nichtigkeit auf das eigentliche Sein in Gott zurück. So ruft ihr Wesen selbst zur Loslösung auf. Dieser Gedanke wird von Tauler wie von Eckhart vor allem für den Fortschritt vom äußeren zum inneren Menschen gebraucht. Eine größere Bedeutung der Welt ergibt sich jedoch aus dem christlichen Schöpfungsbegriff. Die von Gott geschaffene Welt ist der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit und trägt so die Spuren des Schöpfers selbst. Deshalb sind die Kreaturen ein Weg zu Gott. Der dynamische Schöpfungsbegriff Eckharts und Taulers kann diese Bedeutung besonders betonen. Schöpfung ist in erster Linie als »creatio continua« gesehen. Das ist in Eckharts Konzeption besonders ausgeprägt, findet sich jedoch auch bei
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Vgl. V 182,12. Vgl. V 184,27; 422,14. Vgl. die bündige Definition im Enchiridion Asceticum Nr. 999: »Mundus est ... animi ad peccata distractio.« Vgl. vor allem Berthold von Regensburg, Missionspredigten. Hrsg. von f. Göbel. Regensburg 1873. 215 f., 462 f., 518 f. Vgl. V 344,7; G. Schneiders, Askese als Weltentsagung und Vollkommenheitsstreben 178 f. 287
Tauler: »Es gibt kein noch so kleines Blümelein, kein Grashälmlein, der große Himmel, die Sterne, Sonne und Mond, alles wirkt und vor allem Gott durch sich selbst.«122 So verweist die Kreatur nicht auf einen deistischen Demiurgen, sondern auf den gegenwärtigen Gott, der alle Dinge gibt, damit sie wieder zu ihm zurückführen.123 Der christliche Schöpfungsbegriff beinhaltet zugleich die personale Zuordnung der ganzen Schöpfung. Die Dinge sind für den Menschen da, sie gehören zu Leiblichkeit des »äußeren Menschen«, die in die Geistigkeit der Person einbeschlossen ist. Darum steht Tauler der natürlichen Bedarfsbefriedigung positiv gegenüber.124 Die alleinige Zielbestimmung des menschlichen Lebensweges ist zwar Gemeinschaft mit Gott, aber aus dieser Zielbestimmung heraus vermag der »innere Mensch« den »äußeren Menschen« zu ordnen. Damit ordnet er zugleich die irdische Wirklichkeit.125 Nur von dieser personalen Zuordnung der Welt her läßt sich verstehen, daß Tauler die Welt als solche, sofern ihre Materialität ungeistig und apersonal verstanden wird, von der Erlösung und der Vollendung ausschließt: »Glaubt ihr, daß Gott sein Reich elenden Geschöpfen geben wolle und er darum sein kostbares Blut vergossen und sein teures Leben hingegeben habe?«126 Die Erlösung und die Vollendung der Welt kann daher nur durch den Menschen selbst geschehen. Das bedeutet keine menschliche Kausalität, sondern eine menschliche Vermittlung der Erlösung. Wenn die Schöpfung vor allem anthropozentrisch zu verstehen ist, dann ergibt sich die kosmische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges aus der personalen Zuordnung des Kosmos. G. Schneiders hat Taulers Weltverhältnis ganz auf den Dualismus zurückzuführen versucht. Deshalb kommt er zu keiner Erklärung der »gewissen Hinkehr« des Mystikers zu den Geschöpfen und vermag das Spannungsverhältnis zwischen negativer 122 123
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V 156,32 – 157,2. Vgl. V 221,26–28: »Got hat alle ding gegeben, das si ein weg zuͦ im sin ...«; H 303: »... alles grünt und blüht und (ist) Gottes voll ...« Mit Recht weist daher I. Weilner, a. a. O. 72, darauf hin, daß Pourrat irrt, wenn er meint, Kreatur sei bei Eckhart und Tauler nicht Weg zu Gott. Vgl. La spiritualité chrétienne Bd. II, 345. Vgl. V 202,28.29: »wissent, Got hat alle ding gemacht ze notdurft, und mit ze genuͤ gde noch ze lust denne sich selber.« Vgl. V 158,17–23. V 221,23.24. 288
und positiver Bewertung der Schöpfung bei Tauler nicht zu lösen.127 Die Lösung dieser Spannung liegt jedoch in Taulers Personalismus klar zu Tage: Welt ist Abweg von Gott, wenn ihre Zuordnung durch den Menschen auf Gott hin in der Weltverfallenheit nicht gesehen wird; Welt ist Weg zu Gott, wenn sie in die rechte Ordnung der menschlichen Person mit hineingenommen wird. C. Die Verbindung von negativer und positiver Bewertung in der personalen Zuordnung Die Verbindung von »äußerem« und »innerem Menschen« in der menschlichen Person bedeutet bei Tauler zugleich die Verbindung von »Himmel und Erde«128 in der Personalität des Menschen. In der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist auch die Schöpfung auf Gott hingeordnet; umgekehrt wirkt Gott in der Kreatürlichkeit des Menschen an der Schöpfung. Daraus leitet Tauler die Forderung ab: »Deinen inneren Menschen sollst du niemanden unterwerfen außer Gott; aber deinen äußeren Menschen, den unterstelle in aller Demut unter alle Geschöpfe.«129 Deshalb entfaltet sich der christliche Lebensweg bei Tauler in doppelter Richtung: einerseits Konzentration auf die Innerlichkeit des Menschen, andererseits Ordnung des »äußeren Menschen«, der die Kreatur einschließt, durch diese Innerlichkeit. »So soll auch der äußere Mensch innerlich warten, was ihm der innere gebietet, um dem auf jede Weise mit jeder Arbeit genugzutun.«130 Taulers Spiritualität ist deshalb trotz der Integrierung dualistischer Elemente nicht weltlos. Personale Vollendung und kosmische Vollendung bedingen einander. Sein Dualismus führt ihn zwar nicht zur Erkenntnis der (relativen) Eigenständigkeit der Welt, aber seine personale Zuordnung der Schöpfung vermag den christlichen Weltdienst mit Sinn zu erfüllen. 127 128 129
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Vgl. G. Schneiders, a. a. O. 186. Vgl. V 88,7.8. V 370,22–24. Vgl. V 157,5–8: »Die edele creature (Mensch) die muͦ s vil adellicher wúrklich sin wan die unvernúnftigen creaturen, als der himel. Und dise súllent ime in einer gelicheit (similitudo) nach volgen an wúrkende und schoͤ wende.« (Hoffmann 299 übersetzt das letzte Wort mit »Schauen«. Vielleicht ist aber doch hier »Schöpfen« gemeint und nur durch die Assoziation »Wirken – Schauen« verschrieben.) V 370,24–26. 289
Der Weg zur Vollkommenheit erscheint bei Tauler zunächst als Weltentfremdung. Deshalb gebrauchen die meisten Predigten das traditionelle Vokabular der Loslösung von der Welt. Diese Loslösung geschieht aber nicht nur um Gottes willen, sondern auch um der Welt willen. Tauler hat diesen Gedanken in dem kurzen Satz zusammengefaßt: »O lant alle ding so wurt úch alle ding!«131 Der personal zugeordneten Welt kann man nicht in der Verfallenheit an die Dinge, sondern nur in innerer Loslösung, und das heißt, in Freiheit, gerecht werden. Die Loslösung bringt die innere Gebundenheit der Welt an Gott zum Ausdruck, die ihr eigentliches Sein ausmacht. Durch sie wird der Mensch nicht nur frei von der Welt, sondern auch frei zur Welt. Die Weltgestaltung des freien Menschen ist zugleich Gestaltung für Gott. Deshalb sagt Tauler von den »edelen menschen«: »sú nement alle ding von Gott in demuͤ tigen vorhten und tragend sú ime zuͦ mole uf wider in einem blossen armuͤ te irs selbes in einre williger gelossenheit, und boͤ gent sich demuͤ tecliche under den goͤ tlichen willen ...«132 Loslösung von der Welt und Gestaltung der Welt werden von Tauler nie getrennt gesehen; die Loslösung geschieht in der Gestaltung, und die Gestaltung geschieht in der Loslösung. Gerade die Einheit von beidem charakterisiert den wesentlichen Menschen, der Innerlichkeit und Äußerlichkeit in sich zu verbinden weiß. Die hauptsächlich negative Thematisierung der Welt bei Tauler darf also nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch bei ihm der christliche Lebensweg kosmisch bestimmt ist. Jedoch muß man dabei festhalten, daß für Tauler die Welt nie in einer relativen Eigenständigkeit Bestimmung des Menschen sein kann. Der Gottesfreund Taulers gestaltet die Welt nicht, damit sie in sich selbst zur Schönheit gelangt, sondern damit er selbst vollkommen wird. Dabei ist zwar die Welt durch ihre personale Zuordnung einbeschlossen, aber ihre Vollendung liegt eben in dieser Zuordnung und nicht in ihrer eigenen Weltlichkeit. Die Bedeutung der Weltlichkeit der Welt für die Frömmigkeit blieb dem mittelalterlichen Menschen verschlossen.
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V 75,14. V 23,12 f. Vgl. I. Weilner, Joh. Taulers Bekehrungsweg 64: »Aus der Stellung des Menschen an der Spitze des gesamten Kosmos ergibt sich für ihn ... eine besondere Aufgabe, seine priesterliche Funktion gegenüber dem Weltganzen und allen Einzeldingen: er hat sie heimzuholen zu ihrem Schöpfer.« 290
6. Zusammenfassung und Bewertung Taulers Lebenslehre ergibt sich nicht aus seiner subjektiven Erfahrung, sondern sie ist theologisch grundgelegt. Sie beruht zunächst auf einer Schöpfungstheologie. Das bedeutet, daß das Heilswerk Gottes mehr als Heilsplan in Gott als in seiner geschichtlichen Ausfaltung gesehen wird. Es erreicht daher den Menschen weniger über die Geschichte als über die dauernde dynamische Einwirkung Gottes auf den Menschen. So ist Taulers Ausgangspunkt ein direktes dynamisches Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Dieses Verhältnis ist in Taulers Anthropologie sichtbar; es wird am tiefsten durch die Seelengrundmetapher bezeichnet. Der Lebensweg des Menschen hat daher die klare Zielbestimmung, Gottes Einwirken in sich zur Entfaltung zu bringen. Diese Entfaltung ist zunächst trinitarisch bestimmt. Der trinitarische Prozeß ist bei Tauler dreifach gestaffelt. Sein eigentlicher Vollzug geschieht in Gott selbst. Dieser Vollzug ist in Gottes Heilswerk und durch dieses Heilswerk im Menschen abgebildet. Als Miterbe des Sohnes ist der Mensch unter Führung des Heiligen Geistes zur Gemeinschaft mit dem Vater berufen. Mit dem Sohne soll er im Heiligen Geiste sich selbst und die ganze Schöpfung zu Gott, dem Ziel aller Dinge, heimholen. 133 Soweit entspricht die Konzeption Taulers der Eckhartschen Schöpfungstheologie. Sie ist jedoch bei Tauler anthropologisch und bei Eckhart ontologisch dargestellt. Eckhart suchte eine allgemeine Grundlegung des Verhältnisses von Schöpfer und Geschaffenem und bildete eine besondere Analogielehre aus, um dieses Verhältnis zu bestimmen. Tauler beschränkt sich auf die Hinordnung des Menschen zu Gott. So gelangt er schneller zu seinem konkreten Anliegen, den rechten Lebensweg des Menschen zu beschreiben. Eckharts Analogielehre läßt sich darum bei Tauler nicht nachweisen. Auch im Gedanken der personalen Zuordnung der Welt zeigen sich Gemeinsamkeit und Unterschied zwischen beiden Mystikern. Er ist bei Eckhart deutlicher expliziert als bei Tauler.134 Deshalb bringen Eckharts Predigten die positive Bewertung der 133
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Vgl. die Zusammenfassung des trinitarischen Prozesses bei C. Kirmße, Die Terminologie des Mystikers Tauler 95. Vgl. Pf 180,22–24: »Alle crêatûren verzîhent sich irs lebens ûf ir wesen. Alle crêaturen tragent sich in mîne vernunft, das si in mir vernünftig sint. Ich alleine bereite alle crêa291
Welt stärker zum Ausdruck. Seine ontologische Orientierung läßt ihn die Schöpfung auch in ihrer metaphysischen Gutheit sehen, während Taulers ethische Orientierung an der Welt, die ihm als konkrete Umwelt erscheint, das Merkmal der Sünde stärker hervorhebt. Taulers Predigten sind daher von einem gewissen Pessimismus gegenüber der geschöpflichen Wirklichkeit geprägt. So liegt bei Eckhart der Akzent auf der Annahme, bei Tauler auf der Gestaltung der Welt. Bei beiden ist jedoch auch in der positiven Bewertung die Kreatur hauptsächlich als Mittel der personalen Vervollkommnung gesehen. Diese Mittel-Funktion liegt im Wesen der Kreatur selbst; sie verlangt als »Welt der Erscheinungen«, daß sie nie als Selbstzweck, sondern nur in ihrer Beziehung zum eigentlichen Sein, zu Gott, erfaßt wird. Deshalb schließt die positive Bedeutung der Welt bei Eckhart und Tauler immer den Gedanken der Loslösung ein.135 Die Eigenständigkeit Taulers gegenüber Eckhart läßt sich nicht nur auf seine ethische Orientierung zurückführen. Ware dies der Fall, so könnte man nur von einer ethischen Auswertung der ontologischen Mystik sprechen und Taulers Mystik wäre tatsächlich nur »Geist vom Geiste Eckharts«136. Das trifft jedoch nur mit Einschränkungen zu, auf die bereits hingewiesen wurde.137 Darüber hinaus zeigt sich die Eigenständigkeit Taulers vor allem in seiner Einführung der geschichtlichen Dimension in die theologischen Grundlagen. Seine Auslegung der Heilsgeschichte und der Sakramente, vor allem aber seine Ekklesiologie stehen der geschichtlichen Wirklichkeit näher als Eckharts ontologische Struktur. Die ekklesiale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges ergänzt und verändert Eckharts schöpfungstheologische Konzeption in dreifacher Weise.
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turen wider zuo gote.« Vgl. q 273,23–26. (Die Kreaturen streben von ihrer bloßen Erscheinung zum eigentlichen Sein, das Gott ist. Dieses Sein aber ist geistig. An dieser Geistigkeit hat der Mensch von aller Kreatur allein Anteil. Darum gelangen die Kreaturen in der Geistigkeit des Menschen zu ihrem Sein.) Vgl. Pf 49,25–29: »Wan alle crêatûre die mitelent. Mitel ist zwifalt. Eines ist, âne daz ich in got niht kommen mac, das ist werc und gewerbe in der zît ..., unde daz enminret niht êwige sêlde. Daz ander mitel daz ist: blôz sîn des selben.« Vgl. q 283,11–14. J. Quint, Textbuch zur deutschen Mystik 68. Vgl. dagegen K. Ruh, Altdeutsche Mystik 223. Vgl. I 3: Neue Gesichtspunkte bei Tauler. 292
Die ekklesiale Bestimmtheit schließt eine gegenüber Eckhart veränderte Christozentrik ein. Eckharts reine Logoschristologie faßte das Christusereignis nicht geschichtlich und konkret, sondern metaphysisch in seiner Bedeutung für die Veredelung der Menschennatur.138 Tauler hingegen erkennt Christus als Haupt und Führer des ekklesialen Leibes. Er nimmt auch die Inkarnation nicht rein metaphysisch, sondern konkret: Christus ist unser Bruder geworden. 139 Seine Heilstaten sind Vorbild des christlichen Lebensweges, weil der Christ in den ekklesialen Leib eingegründet ist und als Glied dem Haupte nachfolgen soll.140 Deshalb findet sich bei Tauler auch eine »theologia crucis«, wenn in ihr auch die exemplarische Bedeutung des Kreuzes stärker herausgestellt ist als die ontologische Bedeutung.141 Tauler verbindet Eckharts Logosmystik mit einer Christusmystik. Er nähert sich damit der Jesusfrömmigkeit der Zisterzienser- und Franziskanertheologen, ohne daß sie bei ihm bereits die innigen Züge trägt, die ihr Heinrich Seuse gegeben hat.142 In Eckharts Schöpfungstheologie ist die Existenz des Christen metaphysisch begründet. Taulers Ekklesiologie gibt ihr eine zusätzliche Begründung aus der geschichtlichen Wirklichkeit der Kirche, der der Christ seinsmäßig angehört. Der Anteil des Christen am Heil in Christus, sein »Heilserbe«143, hat daher bei Tauler eine doppelte Ableitung. Mit Eckhart sieht er Schöpfung und Erlösung in dem einen Heilswerk Gottes zusammengefaßt. Die dynamische Schöpfertätigkeit Gottes (creatio continua) schließt die dynamische Heilswirksamkeit Gottes (incarnatio continua) ein: »Gott gibt sich der Seele immerfort neu in fortwährendem Werden.«144 Schöpfung und Rechtfertigung erreichen den Menschen gleichsam simultan. Natur und Gnade sind in dieser Konzeption kaum zu trennen, weil die Natur des Menschen von vorneherein gnadenhaft bestimmt ist. I. Weilner stellt bei Tauler fest, daß er Natur und Gnade in der Gottebenbildlichkeit nicht unterscheide. Er meint jedoch, dies auf eine »Unbekümmertheit« Taulers zurückführen zu können.145 Darin kann man ihm 138 139 140 141 142 143 144 145
Vgl. DW I 77,6; 86,8.9; 90,3–8. Vgl. V 11,3. Vgl. V 81,5 f. Vgl. V 230 f., 353 f. Vgl. H. Seuse, Deutsche Schriften. Einleitung 149. Vgl. V 63,33; 204,25; 206,7. DW I 349,5.6. Vgl. q 249,9. Vgl. I. Weilner, a. a. O. 103.105. 293
nicht zustimmen, wenn man Taulers Aussagen im Lichte der Konzeption Meister Eckharts betrachtet, in der die Natur des Menschen in ihrer gnadenhaften Bestimmtheit gesehen wird. Als geschaffener Mensch erhält der Mensch Anteil am Heilswerk Gottes und am Erbe des menschgewordenen Gottessohnes. Darum spielt bei Eckhart die Taufe kaum eine Rolle für die Begründung der christlichen Existenz; sie ist nur Symbol des christlichen Lebensvollzuges.146 Die Gottesgeburtslehre ist weder bei Eckhart noch bei Tauler mit der Tauftheologie verbunden, wie das noch bei den Vätern der Fall war. 147 Eine reine Schöpfungstheologie ist in der Gefahr, Heilsgeschichte, Sakramente und Institutionen symbolistisch zu werten. Dieser Gefahr ist Tauler durch seine zweite Ableitung der christlichen Existenz und des christlichen Heilserbes begegnet. Der Christ erhält die Gemeinschaft mit Christus und sein Erbe am Heil durch seine Gliedschaft am ekklesialen Leibe Christi. Aus dieser Grundlegung der christlichen Existenz ergibt sich bei Tauler dann auch ein besseres Verständnis der heilsgeschichtlichen und sakramentalen Bestimmtheit des christlichen Lebensweges als bei Meister Eckhart. Seine Konzeption hat dadurch ein größeres theologisches Gleichgewicht. Die ekklesiale Bestimmtheit integriert also bei Tauler eine gegenüber Eckhart neue Christozentrik und eine neue Begründung der christlichen Existenz. Darüber hinaus gibt sie auch eine theologisch bessere Begründung der Sozialethik. Eckhart leitete seine Sozialethik, im besonderen seinen Universalismus in der Nächstenliebe, aus der allgemeinen ideellen Menschennatur ab, die er mit Christus identifizierte. Diese Ableitung wurde durch sein unorthodoxes Inkarnationsverständnis möglich, wonach die Menschwerdung Christi nicht konkret, sondern allgemein genommen wird. Die Bedeutsamkeit der Inkarnation für alle Menschen wird von Eckhart mit der Identifizierung der Idee des Menschen mit Christus erklärt.148 Im sozialen Verhalten kann der Christ daher in jedem Menschen Christus wiederfinden. Diese Folgerung Eckharts ist zwar christlich, aber sie beruht auf einer Vereinfachung der Christologie und trägt, wie J. Ratzinger nachweist, die Gefahr in sich, die christliche Bruderliebe ihrer
146 147 148
Vgl. Pf 231,31 f.; q 290,10 f. Vgl. H. Rahner, Die Gottesgeburt 334.340. Vgl. H. Piesch, Meister Eckharts Ethik 123–127. 294
inneren Grenze und damit ihrer Konkretion zu berauben.149 Eine Ableitung der Sozialethik aus dem ekklesialen Leibe Christi steht nicht in dieser Gefahr. Sie geht auf die konkreten Beziehungen der Glieder untereinander, ihre Ordnung und ihre verschiedenen Aufgaben ein. Darum scheint Taulers Sozialethik konkreter als die Eckharts, wenn sie sich auch bescheidener gibt als der große Entwurf des Meisters. Unsere These war, daß Taulers ekklesiale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges neue Elemente in die schöpfungstheologische Konzeption Meister Eckharts hineinträgt und dadurch für Ausgeglichenheit sorgt. Nun findet sich aber auch bei Meister Eckhart die Vorstellung vom »Corpus Christi mysticum«. H. Piesch behandelt diese Vorstellung ausführlich als Grundlage der Vollkommenheitslehre und des Gemeinschaftsgedankens. 150 Jedoch besteht hier zwischen Eckhart und Tauler ein Unterschied. Ebenso wie Eckharts Inkarnationsverständnis ist auch seine Vorstellung vom mystischen Leibe allgemein, nicht konkret. So wie die konkrete Menschwerdung Christi bei Eckhart nur Erscheinungsform ihres ideellen Gehaltes ist, ist die sichtbare Kirche nur Zeichen der eigentlichen ideellen Christusgemeinschaft aller »Gutgesinnten« 151 . Das »Corpus Christi mysticum« gibt also bei Eckhart den mit Christus identischen Idealmenschen wieder, an dem die einzelnen menschlichen Personen partizipieren. 152 Diese Auffassung findet sich bruchstückhaft auch bei Tauler,153 aber meistens faßt er den Leib Christi konkreter und versteht darunter die kirchliche Gemeinschaft. Deshalb haben wir auf die institutionellen Momente in Taulers Kirchenbegriff hingewiesen und bei der Darstellung den Ausdruck »ekklesialer Leib Christi« anstelle des Ausdrucks »mystischer Leib Christi« verwandt. 154 Tauler legt nicht nur Wert auf die verborgene mystische Einheit des Leibes, sondern auch auf seine konkrete Differenziertheit und seine Geschichtlichkeit. Die Eigenständigkeit Taulers besteht also nicht nur in der ethischen Auswertung der schöpfungstheologischen Konzeption, wie sie von Eckhart ebenfalls versucht 149 150 151 152 153 154
Vgl. Die christliche Brüderlichkeit 75–78. Vgl. H. Piesch, a. a. O. 27 f., 133 f. Vgl. H. Piesch, a. a. O. 134. Vgl. H. Piesch, a. a. O. 134. Vgl. V 159,16 f. Nach R. Schnackenburg ist die Bezeichnung »ekklesialer Leib Christi« auch dem paulinischen Kirchenverständnis angemessener (Vorlesung WS 65/66). 295
wurde, sondern in seiner Einführung der geschichtlichen Dimension, die bei Eckhart fehlt, in die theologischen Grundlagen. Diese Einführung war nicht nur notwendig, um eine konkretere Fassung der Lebenslehre zu erreichen, sondern auch, um das theologische Gleichgewicht zu sichern, das durch Eckharts ungeschichtliche Einheitsspekulation gefährdet war. Eckhart hatte alle theologischen Vorgänge so sehr von ihrer Einheit in Gott her gedacht, daß ihre konkrete Differenziertheit darunter litt. Durch die Darstellung dieser Differenziertheit bei Tauler werden Eckharts Aussagen begrenzt, aber auch ergänzt. Eine theologische Grundlegung des christlichen Lebensweges muß beides implizieren: die ontologische Struktur und ihre geschichtliche Ausfaltung. Dabei ist nicht die Struktur der Maßstab, denn sie kann zur Ideologie werden, sondern die Heilsgeschichte. Man kann nun nicht sagen, daß Taulers Konzeption gegen jede ideologische Überfremdung gesichert ist. Wie bei Eckhart, so wirken auch bei ihm Elemente des neuplatonischen Dualismus nach, wenn sie auch meist durch eine christliche Interpretation überwunden sind. So sind in Taulers Anthropologie Leitlinien für ein dualistisches Verständnis enthalten. Das Konkrete wird als »Welt der Erscheinungen« genommen und die relative Eigenständigkeit der Welt übersehen. Die Gottähnlichkeit des Geistes überlagert den Glauben an die Auferstehung des Fleisches. Daneben überwiegt die symbolische Betrachtung der Heilsgeschichte über die kausale Bedeutung der Heilsereignisse und der spirituelle Nachvollzug der Sakramente über ihre ontisch-begründende Wirkung im Menschen. Der Neuplatonismus ist zwar bei Tauler christlich integriert, vermag aber gerade dadurch sein Denken in bestimmte, nicht ungefährliche Richtungen zu drängen, ohne daß es freilich den Boden der christlichen Glaubensüberzeugung verläßt. Dennoch muß man hervorheben, daß Tauler seinem konkreten ethischen Anliegen eine klare theologische Begründung gibt. Diese Begründung ist durch ihre geschichtlich-konkrete Denkweise ausgewogener als die Meister Eckharts und bedeutet daher einen Fortschritt. Man kann nicht erwarten, daß sie alle Aspekte enthält. Taulers Predigten sind kein systematisches Werk, kein »Compendium theologiae«155, sondern 155
Ein solches praktisches Lehrbuch für Seelsorger und Laien verfaßte Hugo von Straßburg. Sein »Compendium theologiae veritatis« war in deutscher Übertragung besonders verbreitet. Vgl. E. Filthaut, Johannes Tauler und die deutsche Dominikaner-Scholastik des XIII./XIV. Jahrhunderts 97. 296
Anleitungen zum mystischen Aufstieg und zur konkreten Verwirklichung der christlichen Existenz. Die theologische Begründung der Spiritualität bei Tauler zeigt zudem deutlich, daß seine Betonung der Erfahrungsmystik nicht einseitig interpretiert werden darf. 156 Auch die mystische Erfahrung beruht ebenso wie die christliche Sittlichkeit auf ontologischen Vorgegebenheiten. Die Predigten und Traktate der deutschen Mystiker setzen deshalb die scholastische Theologie voraus.157 Schließlich ist Taulers theologische Begründung der Lebenslehre offen auch für eine Spiritualität des tätigen Lebens. Trotz der Betonung des »Reiches Gottes in euch« ist sie keine reine Introversionsmystik, sondern sie weiß die äußeren Ordnungen in demselben Geist zu gestalten, in dem sie mit Gott verbunden ist. Das Leben des Mystikers ist daher bei Tauler wie bei Eckhart nicht mehr mit einer »vita contemplativa« gleichzusetzen. Es sucht die Einheit mit Gott auch im tätigen Leben. Von daher stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Modells »vita activa – vita contemplativa« in der Lebenslehre Taulers.
156 157
Vgl. K. Ruh, Altdeutsche Mystik 223. Das wird in allen terminologischen Untersuchungen deutlich. Vgl. K. Ruh, Die trinitarische Spekulation in deutscher Mystik und Scholastik; C. Kirmße, a. a. O.; P. Wyser, a. a. O. 297
III. DIE EINHEIT VON »VITA ACTIVA« UND »VITA CONTEMPLATIVA« IN DER LEBENSLEHRE JOHANNES TAULERS Aufstieg zur »unio mystica« und Lebenslehre sind bei Johannes Tauler untrennbar miteinander verbunden. Wenn also diese Untersuchung sich auch auf die Lebenslehre Taulers beschränken möchte, so werden doch immer wieder Taulers Gedanken über die mystische Gemeinschaft mit Gott darin einfließen. Jedoch ist die Erfahrung und Beschreibung dieser Gemeinschaft bei Tauler nicht unser Thema, sondern es geht uns um das Verhältnis der mystischen »Kontemplation« zum tätigen Leben. Dabei stellt sich freilich die Frage, welche Art von Kontemplation bei Tauler gemeint ist, denn die Kontemplation trägt einen erkenntnistheoretischen Akzent, der in den Predigten fehlt. Die Begriffe »Kontemplation« und »vita contemplativa« dürfen deshalb nur mit einem gewissen Vorbehalt an die Predigten herangetragen werden. Man geht daher zunächst besser von Taulers eigenen Begriffen aus. Danach ergibt sich eine Gegenüberstellung von »Innerlichkeit« und »Äußerlichkeit«, die Taulers anthropologischer Grundlegung entspricht. Innerlichkeit ist das Wesen des inneren, Äußerlichkeit das Wesen des äußeren Menschen. Dabei ist zu beachten, daß die Äußerlichkeit sich nicht auf die Leiblichkeit des Menschen beschränkt, sondern ein Aspekt des ganzen Menschen ist, insofern er weltimmanent lebt. Umgekehrt erfaßt die Innerlichkeit den ganzen Menschen, insofern er nach der Transzendenz seines innersten geistigen Seins lebt, das auf gnadenhafte Überformung durch Gott angelegt ist. Die These dieser Interpretation lautet, daß bei Tauler der Mensch den Weg von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit beschreiten muß, um zur Gottförmigkeit zu gelangen, daß aber dann diese Gottförmigkeit die Äußerlichkeit mit der Innerlichkeit in der Weise verbindet, daß die Innerlichkeit zum Prinzip alles äußeren Handelns (vita activa) wird. So sind Innerlichkeit und Äußerlichkeit in demselben Lebensweg miteinander verbunden und bilden nicht nur die Prinzipien zweier christlicher Lebensformen.158 Diese These soll an drei Stellen der Lebenslehre Taulers nachgewiesen werden: an Taulers Gebetslehre und dem Verhältnis von innerem und äußerem Gebet; an seiner Lehre von der Berufsarbeit und dem Verhältnis von innerem und äußerem Werk; an 158
Vgl. V 400,8 f. 298
seiner Lehre von der tätigen Liebe und dem Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe. Der Nachweis im Text geht von einigen wenigen Predigten Taulers aus, damit die Belegstellen in ihrem Zusammenhang erfaßt werden können. Dadurch wird die Gefahr vermieden, unzusammenhängende Textstellen zusammenzutragen, ohne den besonderen Aspekt der Aussage zu beachten. Die Ergebnisse der immanenten Interpretation, die mit Taulers Begriffen arbeitet, werden dann mit dem Modell »vita activa – vita contemplativa«, dessen Tradition bei Thomas zusammengefaßt ist, verglichen, neu interpretiert und in ihrer Bedeutung gewertet. Dabei wird sich wiederum die Frage stellen, ob und wie Tauler Meister Eckharts Konzeption fortsetzt, deren Einheitsdenken das Modell überwindet und durch die Präsenz der einheitlichen Existenzstruktur des Christen in den einzelnen Lebensformen ersetzt.
1. Taulers Gebetslehre und das Verhältnis von innerem und äußerem Gebet159 A. Gebet und »unio mystica« Tauler definiert das Gebet als »ufgang des gemuͤ tes zu got«160. Er zitiert diese Definition nach Augustinus und Anselm; »oratio est ascensus mentis in Deum«161 war eine traditionelle Formel, auf deren Autorität Tauler zurückgreifen konnte. Das Gemüt steht für Tauler höher als alle anderen Seelenkräfte; es reicht über Verstand und Wille hinaus. Deshalb bestimmt Tauler den Seelengrund näherhin als Gemütsgrund. Manchmal gebraucht er den Ausdruck »gemuͤ te« sogar synonym mit
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Vgl. die Predigten 15,39 und 78 bei Vetter: 67 f., 154 f., 418 f. V 67,23; 154,16.17; 101,13; 421,21.22; 419,31.32. Vgl. Nilus, De oratione PG 79, 1173 C: »Proseuché èstin anábasis noû pròs theón.« Vgl. Augustinus, Enn. in Ps. 3 PL 36, 77; Anselm, Homiliae et exhortationes PL 158, 612 D – 613 A; Maximus Confessor, Liber asceticus PG 90, 929 C: »... orationis autem gratia mentem Deo coniungit; eaque ipsa ratione quod Deo coniungat, a cunctis cogitationibus adiungit. Tunc nimirum mens nuda cum Deo versans deiformis evadit ... Hinc igitur est cur apostolus ›sine intermissione‹ (1 Thess 5,17) orare iusserit, ut nempe assidue Deo mentem copulantes, a terrenorum paulatim libidine abrumpamus.« 299
»grunt«162. So kann er auch die Partizipation an Gott in das Gemüt hinein verlegen, das den Koinzidenzpunkt aller Seelenkräfte und die Substanz der Seele bildet.163 Das Gebet als Gemütsaufstieg kann bei Tauler mit dem Weg zur »unio mystica« gleichgesetzt werden, denn in der Vereinigung verbindet sich der Gemütsgrund mit dem Gottesgrund. So enthält Taulers Gebetslehre zugleich seine Lehre vom mystischen Aufstieg. Das entspricht der mystischen Tradition in der Gebetslehre. Das Gebet wird der »vita contemplativa« zugeordnet,164 und die höchste Stufe des Gebetes ist mit der Kontemplation gleichzusetzen, in der sich die »unio mystica« vollzieht. So hatte es vor Tauler bereits der Franziskaner David von Augsburg auch in deutscher Sprache dargelegt.165 Anfang des mystischen Aufstieges im Gebet ist das mündliche Gebet, die feste Gebetsform und das Gemeinschaftsgebet, wie sie für die Schwestern, die Tauler betreute, verpflichtend waren.166 Darauf folgt die innere Einkehr des Geistes in verschiedenen Stufen, die Versenkung in den Grund. Diese Einkehr geschieht in der Form der Loslösung, denn der Grund des Menschen muß für die Wirksamkeit Gottes frei werden, die Tauler als Einstrahlung des göttlichen Lichtes (illuminatio), als Gottesgeburt (generatio) und Geistbegabung (inspiratio) beschreibt.167 Die innere Leere und Freiheit für Gott wird bei Tauler wie bei Eckhart durch die Loslösung von Worten, Werken und Weisen erreicht. Die Worte, die äußeren Handlungen und die verschiedenen Frömmigkeitsübungen sind nämlich an das Selbst des Menschen gebunden, und gerade von diesem Selbst muß der Mensch frei werden, damit Gott seine Lebensweise durchformen und bestimmen kann. 168 Für die Einkehr des Geistes sind daher be 162 163 164 165
166 167 168
Vgl. V 155,5; C. Kirmße, a. a. O. 54–56. Vgl. C. Kirmße, a. a. O. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2, q 180 a 3. Vgl. Die sieben Staffeln des Gebetes. Hrsg. von K. Ruh. In: Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters, Heft 1. München 1965, Nr. 400 bis 406. Vgl. V 155,19 f. Vgl. V 78,2 f., 173,4.5 (Illumination und Gottesgeburt); V 79,15 f. (Geistbegabung). Die Freiheit von der Bindung an das eigene Ich geht Tauler wie Eckhart über alle Lebensweisen. Die Aufforderung zur Vernichtung des Selbst ist die Grundforderung der Mystik und ihrer Lebenslehre überhaupt. Dementsprechend wird »der beste Teil« von Lk 10,42 von Eckhart und Tauler nicht mehr auf die »vita contemplativa«, sondern auf die innere 300
stimmte Lebenshaltungen der Loslösung und der inneren Freiheit erforderlich: Abgeschiedenheit, geistige Armut und Gelassenheit.169 Man darf diese Haltungen nicht sofort konkret nehmen; sie sind innere geistige Haltungen der Loslösung, die sich nur dann äußerlich dokumentieren, wenn konkrete Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu materiellen Dingen und zum Mitmenschen sich als Hindernis auf dem Weg zu Gott erweisen. Bei den Vätern wurde diese Vorstellung vor allem durch die Lehre von der »puritas cordis« wiedergegeben, die Herzensreinheit in allen Lebensumständen.170 In der Loslösung wirkt der Mensch mit Gottes Gnade mit; die »unio mystica« ist jedoch ein Werk der Gnade allein. Wenn man in den Grund kommt, findet man nichts als Gnade, sagt Tauler.171 Der Überformung seines Lebens durch Gott steht der Mystiker passiv gegenüber. Das ist auch der Höhepunkt des Gebetsaufstieges bei Tauler. Das »wahre« und »geistige« Gebet bestimmt nicht mehr der Mensch, sondern Gott selbst; so interpretiert Tauler die Anbetung in Geist und Wahrheit (vgl. Jo 4, 23).172 Das wahre Gebet ist für Tauler Kontemplation und »unio mystica«. Die Zuordnung des Gebetes zur Kontemplation ist traditionell. So ordnet Thomas die »oratio« mit »lectio«, »meditatio« und »auditus« als Dispositionsstufen der Kontemplation ein; dasselbe gilt für die Viktoriner und Bonaventura.173 Jedoch trägt die Kontemplation bei Tauler keinen erkenntnistheoretischen Akzent. Man gewinnt bei ihm eher den Eindruck, daß er die Kontemplation als Gebet versteht. Darum kann man bei ihm nicht wie bei Thomas von einer Zuordnung des Gebetes zur Kontemplation sprechen, sondern umgekehrt von einer Zuordnung der Kontemplation zum Gebet. Das
169 170
171 172 173
Freiheit bezogen. Vgl. V 197,1 f.: »Das eine ist das du bekennest din niht, das din eigen ist ... Liebes kint, los varn alles das ich und alle lerer ie gelerten, und alle wúrklicheit und schouwelicheit und hoch contemplacie und lerent allein dis ein, das úch das werde: so hant ir wol gearbeitet. Darumbe sprach unser herre: ›Maria hat das beste teil erwelt.‹« Vgl. oben S. 185, Anm. 218. Vgl. zu den Haltungen der Loslösung bei Tauler: G. M. Schneiders, a. a. O. 190–200. Vgl. Cassianus, Collationes 1, 5 PL 49, 486 C: »Scopos vero est puritas cordis, quam sanctificationem non immerito nuncupavit, sine qua praedictus finis non poterit apprehendi; ... Habentes quidem scopon verstrum in cordis puritate, finem vero vitam aeternam.« Vgl. V 335,24. Vgl. V 101,12 f. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2, q 180 a 3; Hugo von St. Viktor, Allegor. in Nov. Test, 3, 4 PL 175, 805 A; Bonaventura, De triplici via, Prolog. 301
entspricht Taulers Vorbehalt gegenüber der Erkenntnis, wenn dieser Vorbehalt auch nicht in allen seinen Predigten zum Ausdruck kommt.174 In Taulers Gebetslehre geht es weniger um die einmalige und vorübergehende Schau als um die innere Gebetshaltung des Menschen. Diese Gebetshaltung ist geradezu der Kernpunkt der Lebenslehre Taulers, wie er in der Formel »alles zu Gottes Ehre« zum Ausdruck kommt.175 Man muß bei Tauler unterscheiden zwischen der »unio« als Erfahrung und der »unio« als Haltung des Ein-Geist-Seins mit Gott. Aus der gottförmigen Haltung erwächst erst das Erlebnis der Einheit. Tauler nennt diese Haltung »andaht« (devotio) oder »innerlicheit«176. Darunter versteht er zugleich die innere Gottverbundenheit und die daraus erwachsende Gottförmigkeit des Lebens bis in die äußersten Beziehungen hinein: ».... wesenliche andaht das ist ein gemuͤ tlich anhangen Gottes mit einem bereiten gemuͤ te, minnen und meinen alles das Gotte zuͦ gehoͤ ret, und das man sich innerlich Gotte verbunden habe und welle und meinen in allen dingen.«177 Auf diese Innerlichkeit kommt es Tauler vor allem an. So versteht er die mystische Redeweise vom »unaufhörlichen Gebet« mit ihren klassischen Belegstellen in der Schrift (Lk 18, 1 und 1 Thess 5, 17). Unsere Frage ist nun, wie Tauler das Verhältnis zwischen dieser Innerlichkeit und dem konkreten menschlichen Verhalten bestimmt. Eine Lösung dieser Frage ergibt sich zunächst aus Taulers Bestimmung des Verhältnisses von innerem und äußerem Gebet. B. Inneres und äusseres Gebet Die Bedeutung des äußeren Gebetes, das mündliches Gebet, geformtes Gebet und Gemeinschaftsgebet umfaßt, wird von Tauler in seinen Predigten verschieden beurteilt. Zunächst steht für ihn die Vorrangigkeit des inneren Gebetes vor dem äußeren eindeutig fest, ebenso wie das innere Gebet auch allen Werken vorzuziehen ist.178 Die Begründung dieser Rangordnung liegt darin, daß nur im inneren Gebet die Vereinigung mit Gott erfahren werden kann. Tauler lehnt freilich das äußere Gebet nicht ab. 174
175 176 177 178
Vgl. V 420,35 f. Hier behandelt Tauler Glaube, Erkenntnis und Gebet in ihrer Zusammengehörigkeit. Vgl. H 105. Vgl. V 419,30.36. V 84,15–17. Vgl. V 101,12–19; 156,13; 169,5–10; 342,5 f. 302
Es ist notwendig aus kirchlicher Verpflichtung, aus den Erfordernissen der Gemeinschaft und der Notlage des Menschen heraus.179 Darüber hinaus bildet es eine unerläßliche Disposition des inneren Gebetes: »mere lesen (lectio) und gebet des mundes daz dienet zu disen (zum inneren Gebet) ettewenne, und also verre mag es lobelich sin; also min kappe und min kleider, das enbin ich nút, aber sú dienet mir, also dienet alles gebet des mundes, daz dienet ettewaz zu dem woren gebette, es enist es aber nút, sondern do muͦ s der geist und das gemuͤ te unmittelichen in got gon.«180 Das äußere Gebet beschränkt sich also auf die Vorbereitung des Gebetsaufstieges, hat aber selbst nichts damit zu tun. Daraus ergibt sich, daß es aufgegeben werden muß, wenn der Mensch das wahre Gebet, die »unio mystica« sucht. So fordert Tauler von einer Ordensschwester, daß sie den Chorgesang abbrechen solle, wenn sie die Einkehr zum Grunde suche;181 Psalter, Vigilien und »ringe stricken« sind für ihn nicht das wahre Gebet.182 Tauler scheint also das äußere Gebet auf seine Dispositionsrolle zu beschränken und allgemein die Loslösung davon für den mystischen Aufstieg zu fordern. Dem stehen jedoch andere Aussagen in seinen Predigten gegenüber, in denen eine Verbindung von äußerem und innerem Gebet nicht nur möglich erscheint, sondern sogar für eine größere Vollkommenheit verlangt wird. Tauler sagt, daß zwei Arten zu beten besser seien als eine allein.183 Wenn also das äußere und innere Gebet einander ergänzen, ist das Gebet vollkommener, als wenn es nur einseitig äußerlich oder innerlich geschieht. Diese Ergänzung von äußerem und innerem Gebet versteht Tauler nicht als äußere Addition zweier Gebetweisen, sondern als innere Verbindung, als Einheit von innerem und äußerem Gebet. Von derselben Schwester, von der er die Unterbrechung des Chorgesanges um des inneren Gebetes willen verlangte, fordert er gleich darauf, daß ihr eigentliches Ziel die Verbindung von innerem Gebet und Chorgesang sein müsse: »Könnte sie aber beides tun, das äußere (Gebet) mit dem inneren (verbinden), so wäre das besser. Der Gesang, der aus dem Grunde kommt,
179 180 181 182 183
Vgl. V 155,8–20. Vgl. 101,12–19. Vgl. V 342,5 f. Vgl. V 155,8–20. Vgl. V 68,10; 224,18 f. 303
der stiege gar hoch.«184 Hier wird die Verbindung von äußerem und innerem Gebet in der Weise verlangt, daß das innere Gebet sich im äußeren Gebet gleichsam repräsentiert und darin fruchtbar wird. Diese organische Einheit ist für Tauler besser noch als die Einkehr des Geistes im »wiselosen gebet«185, das keine Gebetsform kennt. Das wahre Gebet, die Innerlichkeit, in der die Vereinigung mit Gott erfahren wird, muß also wieder konkret werden im mündlichen und geformten Gebet des einzelnen und der Gemeinschaft. Ist dies der Fall, dann gibt es keine Vorrangigkeit des inneren Gebetes mehr vor dem äußeren, weil beides einer einzigen Gebetshaltung des Menschen entspricht. Auf die Gebetshaltung aber kommt es Tauler mehr an als auf die Erfahrung der »unio mystica«, die als ungeschuldete Gnade nur in dieser Haltung gewonnen werden kann. Die Gebetshaltung verlangt die Aufopferung aller Dinge zum Vater, von dem sie empfangen sind, »mit einem nach innen gewendeten und gekehrten Antlitz und Gemüt, das ungeteilt sein soll und einmütig«186. Darum kümmert sich diese Haltung auch um die geringsten Dinge, die aufgetragen sind, und sucht sie zum Vater zu bringen, indem sie sie von innen her ordnet. Wenn nun Tauler einerseits das äußere Gebet nur als Disposition des inneren betrachtet, von der sich das innere Gebet lösen muß, und andererseits die organische Einheit von innerem und äußerem Gebet verlangt, so liegt darin keine Inkonsequenz. Die Vereinigung mit Gott im wahren Gebet bildet hier den Mittelbegriff für beide Vorstellungen: diese Vereinigung wird nur durch Loslösung erreicht, aber sie wird nur vollkommen durch die Verbindung, d. h. indem sie wieder im äußeren Gebet ihre Fruchtbarkeit erweist. Dies scheint paradox zu sein und im Leben nicht realisierbar, zumal Tauler Loslösung und Fruchtbarkeit simultan fordert und in einem Atemzuge nennt. Um dieses paradoxe Verhältnis zu erklären, muß man wieder zwischen der Erfahrung der Einheit und der Gebetshaltung unterscheiden. Die Erfahrung und das Genießen (»gebruchen«)187 der »unio mystica« geschieht im inneren Gebet allein, d. h. in der Form der Loslösung; die Haltung der »unio« erfordert die Fruchtbarkeit im äußeren Tun und im Gebet. Wer bei der Erfahrung allein stehen bleibt, verliert auch die 184
185 186 187
V 342,8–10: »Mer moͤ cht sis beide getuͦ n, das uswendig mit dem inwendigen, das were besser. Der sang us dem grunde der gienge gar hoch.« V 67,13. V 155,10. V 156,15. 304
Erfahrung und das Genießen, wer aber die innere Erfahrung immer wieder in die Wirklichkeit umsetzt, besitzt die Haltung, aus der heraus es zu immer neuer Erfahrung kommen kann. Wer diese Haltung besitzt, bedarf der Loslösung nicht mehr: »... dis inwendige wore geistes gebet ... gat verre úber das uswendig gebet, es enwere denne, das der mensch also wol geuͤ bet were das dis uswendige mit dem inwendigen moͤ chte gestan ane alle hindernisse, und in dem were gebruchlicheit (d. h. das ruhende Genießen der Vereinigung mit Gott) und wúrklicheit (d. h. das Tun des äußeren Gebetes) ein.«188 Entscheidend für den Loslösungsgedanken bei Tauler ist das »ane alle hindernisse«. Die Loslösung ist dann notwendig, wenn das äußere Gebet als Hindernis erscheint; ist aber die innere Freiheit so groß, daß keine äußere Bindung sie gefährden kann, dann bedarf sie der Loslösung nicht, denn sie trägt sie immer schon in sich. Der innerlich freie Mensch kann in seinem äußeren Tun die Vereinigung mit Gott genießen. C. Zusammenfassung Die Untersuchung von Taulers Gebetslehre bestätigt unsere These, daß Tauler letztlich eine organische Einheit zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit anstrebt. Diese Einheit steht jedoch in Spannung von Loslösung oder innerer Freiheit einerseits und Fruchtbarkeit der Gotteinigung andererseits. Die Fruchtbarkeit ist dabei das höchste Ziel der Vollkommenheit; sie setzt jedoch die innere Freiheit voraus. Das Spiel zwischen Loslösung und Fruchtbarkeit entzieht sich der gedanklichsprachlichen Darstellung, weil diese den Vollzug nur im Nacheinander darstellen kann. Im Leben jedoch kann dieser Vollzug eine Einheit sein, wie Tauler am Beispiel des Chorgesangs der Ordensschwester zeigt. Wenn man nun die Gebetslehre Taulers mit dem Modell »vita activa – vita contemplativa« vergleicht, so muß man feststellen, daß Tauler das Verhältnis zwischen innerem und äußerem Gebet ähnlich beschreibt wie Thomas das Verhältnis von vita activa und vita contemplativa. Das äußere Gebet ist Disposition des inneren Gebetes; bei Thomas bereitet die vita activa die vita contemplativa vor.189 Das innere Gebet muß mit dem äußeren verbunden werden; bei Thomas tritt die vita activa »non modo 188 189
V 156,13–16. Vgl. S.th. 2–2, q 182 a 3 resp. 305
subtractionis sed additionis« zur Kontemplation hinzu.190 Trotz dieser Gemeinsamkeiten findet sich jedoch bei Tauler ein Unterschied bzw. eine Weiterentwicklung: zwischen äußerem und innerem Gebet besteht nicht nur eine äußerliche additive Verbindung, sondern eine organische Einheit. Kennzeichen dieser Einheit ist die Fruchtbarkeit. Dieser Fruchtbarkeitsgedanke ist bei Thomas noch nicht entwickelt. Urs von Balthasar sieht mit Recht seinen Durchbruch erst bei Meister Eckhart. 191 Zwar bietet auch Thomas einen Ansatzpunkt in der Formulierung des dominikanischen Ordensideals »contemplata aliis tradere«192, doch bezieht sich diese Formulierung – wie schon mehrfach gesagt – nur auf Predigt und Lehre, also die höchsten Stufen der vita activa, mit denen vom Modell her Christi aktive Lebensführung gerechtfertigt wird.193 Bei Eckhart und Tauler erstreckt sich hingegen der Fruchtbarkeitsgedanke auf alle Bereiche des Lebens. Mit Taulers Gebetslehre befinden wir uns im Bereich des kontemplativen Lebens. Tauler hat die organische und fruchtbare Einheit von Innerlichkeit und Äußerlichkeit auch im Bereich des aktiven Lebens dargestellt, und zwar in seiner Lehre von der Berufsarbeit. Wenn wir hierbei in der Lösung auf dasselbe Schema treffen, das sich bei der Darstellung der Gebetslehre ergab, wird sich die Frage stellen, wie diese beiden Bereiche bei Tauler zu trennen sind und ob nicht der Fruchtbarkeitsgedanke das Modell »vita activa – vita contemplativa« sprengt.
2. Taulers Lehre von der Berufsarbeit und das Verhältnis von innerem und äußerem Werk A. Arbeit und Beruf 194 Arbeit und Beruf sind bei Tauler schöpfungstheologisch grundgelegt. Diese schöpfungstheologische Grundlegung läßt sich in drei Schritten darlegen: erstens, die Ableitung der Tätigkeit des Menschen allgemein und ihre Theozentrik, zweitens, die 190 191 192 193 194
Vgl. oben S. 242/243 Anm. 18. DTA Bd. 23, 455. Vgl. oben Anm. 18. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 3 q 40 a 1 ad 2. Vgl. vor allem die Predigten 39, 42 und 53 bei Vetter: 156 f., 176 f., 240 f. 306
Ableitung und Bestimmung der verschiedenen Berufe und Aufgaben, und drittens, die personale Sinnerfüllung der Berufsarbeit. Am Bild des ekklesialen Leibes Christi verdeutlicht Tauler dann konkret den sozialen Bezug der Arbeit und ihre Ordnung auf Christus hin.195 Alle Wirksamkeit in der Schöpfung stammt nach Tauler von Gott her und muß wieder zu Gott hinführen.196 Gott selbst ist reines Wirken (actus purus), und zwar nicht nur gegenüber der Schöpfung, die er im Sein erhält, sondern auch in sich selbst. Tauler weist auf den trinitarischen Prozeß in Gott hin: Geburt (generatio) des Sohnes im Akt der Selbsterkenntnis des Vaters; Aushauchung (spiratio) des Heiligen Geistes im Akt der Liebe zwischen Vater und Sohn.197 Gott gestaltet nun die Schöpfung nach dem Gleichnis seiner innertrinitarischen Wirksamkeit. Deshalb ist die Schöpfung wie im Sein so auch im Wirken nach Gottes Abbild geordnet. Die höchste Seinstufe in der Schöpfung ist zugleich die höchste Wirkstufe; der Mensch ist in seiner Gottebenbildlichkeit »in viel vornehmerer Weise wirkend ... als die unvernünftigen Geschöpfe«198. Deshalb ist alle andere kreatürliche Wirksamkeit auf ihn hin geordnet und ihm nachgebildet. Der Mensch ist der von Gott berufene Vermittler der Wirksamkeit Gottes zu der Kreatur und der Wirksamkeit der Kreatur zu Gott. In seiner 195
196 197 198
Vgl. A. Auer, Zum christlichen Verständnis der Berufsarbeit 31. Die folgende Darlegung hält sich methodisch an diese Untersuchung des Berufsverständnisses bei Thomas und M. Luther. Im Anschluß daran zwei Bemerkungen zum Verhältnis Taulers zu Thomas und M. Luther: 1. Taulers Berufsauffassung deckt sich mit der Thomas von Aquins, abgesehen von einer gewissen Verkürzung des kosmischen Bezuges. Andere Veränderungen und Bereicherungen der thomanischen Auffassung ergeben sich aus seiner konkreteren Darlegung. 2. Mit Luther verbindet Tauler die Einführung des Berufsbegriffes (Beruf, Amt, Ladung) und ein gewisser Personalismus in der Berufsauffassung. Von Luther unterscheidet ihn, daß dieser Personalismus weniger Leitlinien für ein dualistisches Mißverständnis beinhaltet (vgl. A. Auer, a. a. O. 40.41); ferner, daß ihm Luthers Polemik gegen das Mönchtum fremd ist, und schließlich, daß die Bedeutung des Berufes auch für die Vollkommenheit bei ihm objektiv vorgegeben ist und nicht allein von der Gesinnung abhängt. Vgl. dazu und zum folgenden V 156,23 – 158,33. Vgl. Kap. II,2: Die trinitarische Bestimmtheit des christlichen Lebensweges. V 157,5: »Die edele creature die muͦ s vil adellicher wirklich sin wan die unvernúnftigen creaturen, als der himel.« 307
Vernünftigkeit steht er in der Nähe Gottes, in seiner Leiblichkeit erfaßt er die Kreatur. Die ganze göttliche Weltordnung der Wirksamkeit ist deshalb auf ihn bezogen. Die Welt ist dem Menschen zugeordnet, um im Menschen ihre Ordnung zu Gott zu finden. Daraus erwächst dem Menschen die Verpflichtung, mit Gott als Gottes Mitarbeiter mitzuwirken und alle »fúrwurfe« seiner Tätigkeit dadurch göttlich zu machen.199 In der Tätigkeit verwirklicht er seine Gottebenbildlichkeit. Er hat seine Tätigkeit von Gott, und als Gottes Ebenbild ist er tätig.200 Der Kosmos ist der menschlichen Wirksamkeit zugeordnet, sie selbst aber ist auf Gott hingeordnet. Die Wirksamkeit des Kosmos ist theozentrisch, indem sie anthropozentrisch ist. Das Wirken der ganzen Schöpfung hat in Gott seine Mitte, jedoch in der Weise, daß es diese Mitte nur in der Zuordnung auf den Menschen hin erreicht. Im Wirken des Menschen ordnen sich die Dinge hierarchisch auf Gott hin. Die Tätigkeit kommt also dem Menschen und den Dingen nicht nur akzidentell zu, sondern sie ist im Wesen des Menschen und der ganzen Schöpfung grundgelegt, sie ist vorgegeben. Das entspricht der dynamischen Seinsauffassung der deutschen Mystiker Eckhart und Tauler, es entspricht aber auch dem Verständnis der menschlichen Tätigkeit bei Thomas von Aquin.201 Der Kosmos hat eine dynamische Theozentrik, die in der Wirksamkeit des Menschen zum Ausdruck kommt. Da diese Theozentrik bereits im ontologischen Bereich vorliegt, muß jede Tätigkeit dem Schöpfungsplan Gottes entsprechen, auch wenn sie in keiner besonderen Absicht geschieht. So entspricht es der »Vollkommenheit der göttlichen Vorsehung«202. Die Differenzierung der Wirksamkeit in den Geschöpfen zeigt sich nun auch in der Differenzierung der menschlichen Tätigkeit. Der Mensch ist wirkend, »und zwar jeder nach seinem ihm zum Wirken gegebenen Gegenstand«203. Nicht nur die Wirksamkeit allgemein, sondern auch der besondere Gegenstand der Wirksamkeit ist von Gott gegeben. Tauler leitet also nicht nur die Arbeit im allgemeinen, sondern auch 199
200 201 202 203
Vgl. V 157,11.12: »Der nu alle sine fúrwurfe goͤ tlich machte und himelsch und gentzlichen den nacken kerte allen zitlichen dingen, des werk wúrden also goͤ tlich.« Vgl. A. Auer, a. a. O. 28–31. Vgl. A. Auer, a. a. O. 27.29. A. a. O. 29. V 157,9: »... iekliche in irem fúrwurf zu wúrkende, der nach ir fúrwurf ist, es si goͤ tlich oder creaturlich fúrwurf, dar in wúrkent si dar nach das in engegen getragen wirt.« 308
die Berufsarbeit im besonderen von Gott ab.204 Dabei ist zu beachten, daß Taulers Berufsbegriff zweischichtig ist. Er enthält sowohl die allgemeine Heilsberufung des Christen als auch ihre konkrete Verwirklichung im jeweiligen Beruf in Welt und Kirche. Die allgemeine Heilsberufung verwirklicht sich im konkreten Beruf, deshalb ist im spirituellen Anliegen Taulers beides nicht voneinander zu trennen. Der Mensch ist vom Vater zum Miterben und Bruder seines Sohnes berufen: »Er ist der erste und höchste unter den Brüdern und hat das angeborene Erbe von Natur; wir sollen Miterben aus Gnade sein.«205 Diese allgemeine Berufung wird vom Menschen innerlich und äußerlich erfahren. Die innere Erfahrung ist die gnadenhafte Einwirkung Gottes, die äußere Erfahrung ist die bestimmte Berufssituation, in der der Mensch steht. Beides bedingt einander: aus der Eingebung, die dem Einwirken Gottes entspricht, kommt der konkrete Beruf zustande. Auch Tauler lehrt den Einklang von göttlicher »providentia« und menschlicher »inclinatio«, wie er sich bei Thomas findet,206 bei der Berufung des Menschen. Umgekehrt beeinflußt der konkrete Beruf wiederum die allgemeine Heilsberufung, denn der Mensch muß die allgemeine Berufung zum Heilserbe des Sohnes in seiner Situation verwirklichen. In der Verwirklichung der allgemeinen Heilsberufung nennt Tauler drei Stufen: Leben nach den Geboten, Leben nach den Räten und Leben in der Gleichgestaltung mit Christus.207 Diese Ordnung ist in den kirchlichen Gemeinschaften institutionalisiert, aber jeder Mensch kann in jedem Beruf an ihr teilhaben.208 Tauler nennt als Beispiele den verheirateten jungen Mann,209 die kinderreiche Hausfrau, den Handwerker und den Mistkärrner.210 Er kennt zwar eine objektive Hierarchisierung der Stände; sie entscheidet bei ihm jedoch nicht über die jeweilige Vollkommenheit des einzelnen 204 205 206 207 208 209 210
Vgl. V 177,14 f. V 240,28–30. Vgl. A. Auer, a. a. O. 33. Vgl. V 241,24 f. (Gebot); V 242,17 f. (Rat); V 43,23 f. (Christusförmigkeit). Vgl. V 433,28 f. Vgl. V 213,4 f. Vgl. V 243,13–18: »Wissent daz manig mensche enmitten der Welt ist, und hat man und kint, und sitzet etlich mensche und macht sin schuͦ he, und ist sin meinunge (Gesinnung) zuͦ Gotte sich und sinen kint generen. Und etlich arm mensche us einem dorffe gat misten und sin broͤ tlein mit grosser surer arbeit genwinnet. Und diesen allen mag geschehen, si súllent hundert werbe bas varn und volgent einvelteklichen irem ruffe ...« 309
Menschen in seinem eigenen Beruf. Deshalb kann er den Schuhmacher, den Ackersmann und den Mistkärrner, insofern sie Gottesfurcht, Armut und Schlichtheit haben, seinen Ordensleuten als Beispiel vorstellen. »Denn jeder Dienst und jede Tätigkeit, wie gering sie auch sei, sind allesamt Gnaden, und derselbe Geist wirkt sie zu Nutz und Frommen der Menschen.«211 Die Berufsarbeit ist bei Tauler nicht nur von der Schöpfungsordnung, sondern auch von der Erlösungsordnung bestimmt. Die Welt wird im Beruf nicht nur im Sinne der Schöpfung geordnet, sondern auch im Sinne der Erlösung vollendet. Beides ist bei Tauler nicht zu trennen, weil seine Schöpfungstheologie die Erlösung intentional einbezieht. Die personale Sinnerfüllung der Berufsarbeit richtet sich deshalb zugleich darauf, durch die Gestaltung der Dinge auch die Erlösungsabsicht Gottes sichtbar zu machen. Die theozentrische Zuordnung der Arbeit schließt bei Thomas »ihren kosmischen, sozialen und personalen Bezug in sich«212. Bei Tauler wird die Arbeit in ihrem sozialen und vor allem in ihrem personalen Bezug gesehen. Der soziale Bezug wird nicht aus der Theozentrik, sondern aus der Christozentrik abgeleitet. Der kosmische Bezug erscheint verkürzt. Schönheit und Vollkommenheit der irdischen Wirklichkeiten in sich werden von Tauler nicht als Ziel der Arbeit genannt. Der kosmische Bezug kann daher nur aus der personalen Zuordnung des Kosmos erschlossen werden. Bei Tauler ist die Welt für den Menschen da und im Menschen für Gott. Schöpfung wird von ihm immer personal gesehen. Die materiale Vollendung ist deshalb nicht ausdrücklich thematisiert, sondern völlig in die personale Sinnerfüllung der Berufsarbeit integriert. Weil die relative Eigenständigkeit der Welt bei Tauler nicht oder doch nur im Menschen selbst beachtet wird, ist die Berufsarbeit nicht zunächst Weltdienst, sondern immer gleich Gottesdienst, in den freilich die Welt eingeschlossen ist. Indem der Mensch sich selbst zu Gott hinauf trägt, nimmt er alle Dinge mit, die ihn in seinem »äußeren Menschen« berühren und gleichsam seine erweiterte Leiblichkeit bilden. Die äußere Ordnung der Arbeit dient deshalb der inneren Ordnung des
211 212
V 177,16–18. A. Auer, a. a. O. 32. 310
Menschen; er muß seine Arbeit ordentlich, sachgerecht und verantwortungsvoll verrichten, damit sie ihn in seiner Gottverbundenheit nicht beeinträchtigt.213 Andererseits befähigt ihn die in der Innerlichkeit gewonnene Gottverbundenheit besonders dazu, seine äußere Wirksamkeit in Ordnung zu halten. Die personale Sinnerfüllung der Arbeit bei Tauler besteht also allgemein darin, die Tätigkeit so zu vollziehen, wie sie ontologisch vorgegeben ist. Die Ausrichtung aller Dinge auf den Schöpfer wird sichtbar gemacht, indem der Mensch alle Dinge »in dienender Liebe zu Gott« heimbringt.214 Arbeit ist für Tauler die Darbringung der Schöpfung zum Vater, von dem sie ausgegangen ist, durch den Sohn im Heiligen Geiste. Dieser Gedanke hatte sich bereits in der trinitarischen Bestimmtheit des christlichen Lebensweges gezeigt.215 Arbeit ist zugleich ein spiritueller Vollzug dessen, was sich im Meßopfer sakramental ereignet.216 Wenn die Arbeit in dieser Weise mit Sinn erfüllt ist, entspricht sie der Gebetshaltung bei Tauler. Jede Tätigkeit ist Gotteslob und Dank an Gott. Darum kann sie als Gottesdienst vollzogen werden; sie ist dann Gebet nicht im Wort, sondern in der Tat. Darum behandelt Tauler Gebet und Arbeit zugleich in einer Gebetspredigt217 und zeigt die organische Verbindung von innerem und äußerem Werk analog zur Einheit von innerem und äußerem Gebet. Zusammenfassend läßt sich an dieser Stelle sagen, daß Tauler durch seine schöpfungstheologische Grundlegung und personale Sinnerfüllung der »vita activa« die hohe Würde der menschlichen Berufsarbeit klar herausstellt. Der Mensch lebt auch in der geringsten Tätigkeit nach der »Schöpfungsgnade« Gottes: »Beginnen wir mit dem Geringsten: einer kann spinnen, ein anderer Schuhe machen, wieder andere verstehen sich gut auf andere solcher äußeren Dinge und sind darin geschäftig, und ein anderer kann das nicht. Und das sind alles Gnaden, die der Geist Gottes wirkt.«218 Die verschiedenen Dienste sind also für Tauler »Gnaden«, d. h. nicht auswechselbare Be-
213 214 215 216 217 218
Vgl. V 178,11 f. Vgl. I. Weilner, Joh. Taulers Bekehrungsweg 64. Vgl. V 63,35. Vgl. V 318,17 f. Vgl. Pr. 39, V 154 f. V 177,19–22. 311
rufungen, denen eine je besondere Würde zukommt. Deshalb darf man auch die einzelnen Berufe nicht aneinander abwerten: »Jeder soll den Dienst tun, zu dem ihn Gott bestellt hat; ein anderer könnte ihn vielleicht nicht tun.«219 Nicht nur in den geistlichen Ständen, sondern auch in der Handarbeit zeigt sich die Hoheit der göttlichen Berufung und die Möglichkeit, durch ihren Vollzug vollkommen zu werden. Tauler sagt von sich selbst: »Wisset, wäre ich nicht Priester und lebte nicht in einem Orden, ich hielte es für ein großes Ding, Schuhe machen zu können, und ich wollte es besser machen als alles andere und wollte gerne mein Brot mit meinen Händen verdienen.«220 Hier zeigt sich deutlich, daß Tauler bereits in der weltimmanenten Auffassung des Berufes eine hohe Bedeutung sieht: der Brotverdienst durch ehrliche gute Arbeit entspricht der Schöpfungsordnung. Solche Stellen finden sich bei ihm freilich seltener als Aussagen über die transzendente Auffassung des Berufes als unmittelbarer Gottesdienst: »Erfährst du in deiner Arbeit eine innere Berührung, so gib auf sie in deiner Arbeit recht acht, und lerne so Gott in deine Arbeit tragen und entziehe dich nicht allsogleich jener Berührung.«221 Ebenso wie bei Thomas gibt es bei Tauler kein »beziehungsloses Nebeneinander von Gottesdienst und Weltdienst«, keinen »arbeitsethischen Minimalismus« und kein »rein innerweltliches Verständnis der Arbeit«222. Der Würde der menschlichen Arbeit entspricht vielmehr, daß sie, in sachlicher Vollkommenheit verrichtet, die sittliche und religiöse Vervollkommnung des Menschen intendiert. Die Erfahrung der »unio mystica« zeigt dem Menschen seine Gottförmigkeit; im Handeln muß sie sich entfalten und bewähren, und zwar nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft. Die Beziehung der Berufsarbeit zur Gemeinschaft verdeutlicht Tauler am Bild des ekklesialen Leibes Christi. Den verschiedenen Gliedern sind auch verschiedene Dienste zugeordnet, die alle dem einen Leibe dienen.223 Deshalb müssen diese Dienste für alle geleistet werden. Indem sie aber allen Gliedern dienen, dienen sie auch dem Haupte des Leibes, Christus. Gerade die Christozentrik der Arbeit muß sich in ihrem 219 220 221 222 223
V 177,26. V 177,23–25. V 179,6–9. A. Auer, a. a. O. 35–37. Vgl. V 158,24 f.; 177,4 f. 312
sozialen Bezug erweisen. Dienst am Bruder ist Dienst an Christus. Christus faßt die verschiedenen Dienstleistungen in sich zusammen und trägt sie hinauf zum Vater. So dienen die kleinen Werke alle dem großen Werk Christi.224 Tauler lebt in einer christlichen Umwelt. Deshalb ist für ihn die konkrete Welt die Christenheit. Daraus läßt sich verstehen, daß bei ihm schöpfungstheologische und ekklesiologische Bestimmung der Berufsarbeit undifferenziert ineinander übergehen. Die Welt der Schöpfung ist für Tauler zugleich Welt der Kirche. Tauler hat wohl die Beziehung zwischen beidem in Christus gesehen, nicht aber die Differenz. Diese undifferenzierte Betrachtungsweise vereinfacht seine Sozialethik. Er braucht nicht zwischen christlicher Brüderlichkeit und menschlicher Solidarität zu unterscheiden. Gerade diese Vereinfachung gibt jedoch seiner Sozialethik ihre Eindringlichkeit.225 Das zeigt sich in seiner Lehre von der tätigen Liebe.226 Das Besondere der Lehre Taulers über die Berufsarbeit liegt gegenüber Thomas, abgesehen von Einzelunterschieden, darin, daß sie mitten in seine Betrachtung des Verhältnisses von innerem und äußerem Werk hingestellt ist. 227 Tauler gibt eine theologische Ableitung der »vita activa«, wenn er sich mit dem Verhältnis von Innerlichkeit und Tat beschäftigt. Das ist bei Thomas nicht der Fall. In seinen Quaestiones über das Modell »vita activa – vita contemplativa« ist die »vita activa« ganz in die Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens hineingestellt, ohne eine besondere Ableitung ihrer Würde.228 Dabei handelt es sich um eine Auswirkung des aristotelischen Modells, das nur von den verschiedenen Seelenkräften ausgeht und nicht vom ganzen Menschen. Wäre Thomas bei der Behandlung des Modells seine eigene Lehre über die Arbeit in den Blick gekommen, so hätte er die »vita activa« nicht nur als aszetische Disposition der »vita contemplativa« behandeln können. So ergibt sich bei Tauler eine 224
225 226 227
228
Vgl. V 158,29–33: »Und ein ieklichs hat sin sunder werk, und dis gehoͤ rt alles dem lichamen zuͦ und under das ein houbt. Also enist in aller der christenheit enkein werk so snoͤ de, so klein, weder geloggen noch kerzen (weder Glockenläuten noch Kerzenanzünden), es diene alzemole zuͦ disem inwendigen werke, das dis werk vollebracht werde.« Vgl. H. Piesch, a. a. O. 111–122. Vgl. V 398–403; 407–412. Vgl. V 155,22 – 158,16. Von dem Verhältnis zwischen innerem und äußerem Gebet ausgehend kommt Tauler zum Verhältnis von innerem und äußerem Werk. Vgl. S.th. 2–2 q 181 a 1–4. 313
tiefere Bestimmung des Verhältnisses von innerem und äußerem Werk, als sie Thomas bei Klassifikation und Vergleich von »vita activa« und »vita contemplativa« gelang. B. Inneres und äusseres Werk In Taulers Behandlung des Verhältnisses von innerem und äußerem Werk wird dasselbe Schema sichtbar, das auch das Verhältnis von innerem und äußerem Gebet charakterisierte. Einerseits ist das äußere Werk nur die Disposition, von der sich das innere Werk lösen muß; andererseits und mit wesentlich mehr Nachdruck wird von Tauler die organische und fruchtbare Verbindung von innerem und äußerem Werk gefordert. Das innere Werk ist mit dem inneren Gebet zu vergleichen; das äußere Werk mit der Arbeit des Menschen. Es geht also um das Verhältnis zwischen Gebet als innerer Gottverbundenheit und Arbeit als äußerem Tun. Dabei ist zu beachten, daß sich die Frage nach dem Verhältnis von innerem und äußerem Werk innerhalb des tätigen Lebens der Berufsarbeit selbst stellt. Es handelt sich also bei Tauler nicht wie bei Thomas um die Gegenüberstellung zweier verschiedener Lebensformen, sondern um den Bezug zweier Prinzipien im Gebetsleben und im tätigen Leben. Dieser Bezug ist von den beiden Gedanken der Loslösung und der organischen Verbindung geprägt. Der Gegensatz ist nur zu lösen, wenn man mit Tauler die Loslösung nicht äußerlich versteht. Ein Leben der Loslösung ist nach Tauler kein »abseitiges Leben«229, sondern ein Leben in der Welt, das in jeder Lage und in jedem Zustand Gott zu gewinnen sucht. Dieser Gedanke findet sich auch bei Eckhart. Der Mensch darf sich selbst und den Dingen nicht verfallen sein. Verfallenheit an sich selbst und an die Dinge bedeutet Sorge und Behinderung.230 Deshalb sind sowohl Eckhart wie Tauler der Meinung, daß Christus an der tätigen Martha nicht die Arbeit getadelt habe (vgl. Lk 10, 41), sondern die Sorge. Klassisch und heute noch gültig ist die Formulierung bei Tauler: »Unser Herr tadelte Martha nicht um ihrer Arbeit willen, denn
229
230
H 227. Vgl. V 119,36: »Nu ensol man dis nút also verston als vile lúte wenent, das man dis (d. h. die Freiheit der Loslösung) nút múge haben, man muͤ sse alle ding begeben und lidig sin zuͦ mole und muͤ sse eine rehte sunderliche wise herzuͦ haben ...« Vgl. Eckhart, RdU DW V 207,5 f. Vgl. Pf 49,17 f. 314
die war heilig und gut, sondern weil sie (zuviel) Sorge darauf verwandte.«231 Der Gedanke der Loslösung bedeutet also nichts anderes als die Überwindung einer ungeordneten Anhänglichkeit an die Dinge durch ein Vertrauen auf Gott, das zu innerer Freiheit führt. Der sorgenvolle Mensch ist nach Eckhart ganz mit sich selbst und mit den Dingen ausgefüllt, seine freie Zuwendung zu Gott ist gestört. Deshalb fordern die Mystiker die innere Leere des Menschen, die nichts anderes ist als die Freiheit für das Einwirken Gottes. Das »non ponere obicem« der Sakramentenlehre gilt auch für die mystische Lebenslehre. Die Loslösung darf also nicht äußerlich verstanden werden. Wohl aber muß sie sich auch äußerlich dokumentieren, wenn eine Behinderung des gottförmigen Lebens nicht anders beseitigt werden kann. Deshalb bedarf sie der aszetischen Übung. Ohne diese Übung wird die Fähigkeit nicht erreicht, Gott überall zu begegnen, in der Tätigkeit ebenso wie in der Ruhe.232 Die Loslösung will also gerade der organischen Verbindung von innerem und äußerem Werk dienen, wie sie in der christlichen Berufsarbeit geschehen sollte. Diese organische Verbindung zeigt sich nun bei Tauler in dreifacher Weise: erstens, der Mensch wird durch seine Tätigkeit zur inneren Einkehr bei Gott gerufen; zweitens, der Mensch wird durch seine innere Einkehr bei Gott zur Tätigkeit gerufen; drittens, in der Arbeit des gottförmigen Menschen sind innere Einkehr und äußere Tätigkeit eins. Der Mensch wird durch seine Tätigkeit zur inneren Einkehr zu Gott gerufen. Die schöpfungstheologische Grundlage zeigte, daß die Wirksamkeit des Menschen in einer inneren Beziehung zur göttlichen Wirksamkeit steht. Darum kann der Mensch in seiner Tätigkeit Gott begegnen.233 Diese Begegnung ist seinsmäßig vorgegeben, in der Glaubenserkenntnis wird sie wahrgenommen. Die Erkenntnis zeigt, daß die Tätigkeit nicht ohne Gott und nur in der Absicht Gottes geschehen soll. Die Frage nach der Absicht Gottes wird im Gebet gestellt. Darum bedarf nach Tauler der Mensch des 231 232
233
V 178,23.24. Vgl. V 238,26–29: »... alsus so sol der mensche etwenne wúrken, etwenne rasten nach dem das er von innen von Gotte getriben und vermant wird, und denne ein ieklicher nach dem das er bevint, das in aller meist zuͦ Gotte reissen mag, es si in wúrklichkeit oder in stillin.« Vgl. A. Auer, a. a. O. 26; V 238,30 f. 315
Glaubens, der Erkenntnis und des Gebetes.234 Aus ihrem Wissen sollen die Werke des Menschen fließen, »wie Früchte dem Baum entstammen«235. Zunächst aber muß dieser Baum wachsen: »Im Grunde innerlichen Lebens wächst dieser Baum ... Denn durch inneres (dem Grunde) zugewandtes Erleiden entdeckt und erkennt der Mensch den Weg und das Verhalten, das zu Gott führt.«236 Die Gottbegegnung in der Tätigkeit ruft also gerade zur Innerlichkeit. Wir haben schon am Beispiel der Gebetslehre Taulers gezeigt, daß die »unio mystica« in dieser Innerlichkeit geschieht. Ist nun diese »unio mystica« ein außerordentliches Phänomen? Vom Erlebnis her betrachtet, ja; vom Geschehen und seiner Wirkung her betrachtet, nein. Die Mystiker Tauler und Eckhart werden nicht müde zu betonen, daß nur die innere Einkehr des Geistes in Abgeschiedenheit, Armut und Gelassenheit gefordert ist, damit die Vereinigung mit Gott geschieht. Ob die Erlebnisfähigkeit des Menschen nun so groß ist, daß sie diese Vereinigung auch »bevinden« kann, ist eine andere Frage. Der Vollzug der »unio mystica« ist jedenfalls auch ohne besonderes Erlebnis da. Diese Erkenntnis scheidet die Seinsmystik von einer rein psychologischen Mystik, wie sie sich weder bei Eckhart noch bei Tauler findet. Beiden kommt es in erster Linie auf das Geschehen und seine Wirkung an. Deshalb sagt Tauler: »... sooft des Tages diese Einkehr geschieht, ... so oft geht eine Erneuerung vor sich. Und stets werden mit dieser Einkehr neue Lauterkeit, neues Licht, neue Gnade, neue Tugenden geboren.«237 Dabei ist vorausgesetzt, daß der Mensch der Gnade kein Hindernis in den Weg legt. Deshalb handelt es sich nicht um eine erkenntnistheoretische Versenkung, sondern Erkenntnis und sittliche Haltung suchen den Einklang mit der Gnade. In der inneren Einkehr möchte der Mensch seiner seinsmäßig vorgegebenen Gottbegegnung in der Arbeit, um die er im Glauben weiß, auf die Spur kommen. Daß in der inneren Einkehr die Gottbegegnung erspürt werden kann, steht für die Mystiker fest; wie dieses Erspüren geschieht, vermögen sie nicht gedanklich darzulegen, sondern nur zu beschreiben. Der Seelengrund ist der »Ort« und das »Organ« dieses Erspürens, gewissermaßen der innere Spürsinn des Menschen für die Gottbegegnung. Der Entwicklung dieses Spürsinns gilt der ganze Lebensweg des Menschen bei Tauler. 234 235 236 237
Vgl. V 420,1 f. V 417,6. V 416,5 f. V 61,19–23. 316
Dazu bewegt sich der Lebensweg zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit hin und her, immer in der Versuchung, das eine zugunsten des anderen aufzugeben, und immer dazu aufgerufen, sich nicht in einer bestimmten Weise zu verfestigen. Darum wenden sich Eckhart und Tauler gegen die »vita contemplativa« als ein bestimmtes Rezept für die intuitive Erfassung der Gottbegegnung, das sich das Sekuritätsbedürfnis des mittelalterlichen Menschen geschaffen hat. Sie vertreten die Weiselosigkeit des Gottfindens, die Unmöglichkeit der Rezepte, die Erkenntnis der Nichtigkeit der Versuche, sie glauben, daß Gott sich nur dieser Haltung erschließt, und rufen deshalb immer wieder zum Experiment des tätigen Lebens auf, in dem sich die Fruchtbarkeit der Gottbegegnung erweist.238 Die innere Einkehr zu Gott erkennt man an ihrer Fruchtbarkeit. Deshalb wird der Mensch durch sie immer wieder zur Tätigkeit gerufen. Es ist für Tauler wie für Eckhart ein schlechtes Zeugnis, wenn ein Mensch in völliger Untätigkeit verharren will. Die Untätigen »haben einen kleinen Teufel bei sich wohnen«239, der sie in einem falschen Frieden schlafen läßt, »damit er sie später mit sich führen könne in ewigen Unfrieden«. Der Mensch muß Gott die Entscheidung über Ruhe und Wirksamkeit überlassen; so soll er »bisweilen wirken, bisweilen rasten, je nachdem er innerlich von Gott getrieben und ermahnt wird, und ein jeglicher nach dem, was, wie er empfindet, ihn am meisten zu Gott zieht, sei es im Wirken, sei es in der Stille«240. Auch hier ist also dieser verborgene Spürsinn des Menschen von Bedeutung. Er ruft zur Einkehr, wenn sich die Tätigkeit zu veräußerlichen droht; er ruft zur Tätigkeit, sobald sich in der Innerlichkeit eine quietistische Gefahr zeigt. Der Gedanke der Fruchtbarkeit der Innerlichkeit im tätigen Leben erfüllt die »vita activa« mit neuem Sinn. Sie ist Zeichen der Gottverbundenheit des Menschen, wie die Früchte am Baum Zeichen der Lebenskraft des Baumes sind. An der tätigen Liebe erkennt man, ob der Mensch »Gott in seinem Innern habe«241. Das innere Werk bedarf des äußeren Werkes nicht nur als Disposition, sondern auch als Vollendung seines eigenen Sinnes. Die mystische Vereinigung wird bei Eckhart und Tauler nicht 238
239 240 241
Vgl. V 423,16: Der Mensch, der seine Gemeinschaft mit Gott erfahren will, »sol sich me halten und lossen zuͦ der wúrcklicher minne.« V 218,14–18. V 238,26–29, zit. Anm. 232. Vgl. V 416,18.19. 317
nur um ihrer selbst willen, sondern auch um ihrer Fruchtbarkeit im tätigen Leben willen angestrebt. Ihre Lebenslehre ist darum von aller kontemplativen Esoterik philosophischer Provenienz getrennt. Nach Thomas folgte Aristoteles in der Lehre von der inneren Selbstgenügsamkeit der »theoria«242. Diese Lehre ist in der Mystik Eckharts und Taulers durchbrochen. Sofern man bei ihnen noch von einer »Kontemplation« sprechen kann, so setzt sie eine »vita mixta« im Sinne Augustinus’ voraus.243 Eine Folge des Fruchtbarkeitsgedankens und zugleich die größte Vollkommenheit der Tätigkeit besteht nach Tauler darin, daß Innerlichkeit und Tat in der Tätigkeit zusammentreffen und eine Einheit bilden. Durch die Fruchtbarkeit des inneren Werkes erhält nämlich das äußere Werk Anteil an der Vergöttlichung. Man kann daher von einer Vergöttlichung der Tätigkeit durch den gottförmigen Menschen bei Tauler sprechen. Die darin vorliegende Einheit von Innerlichkeit und Tat begründet Tauler aus dem Wesen Gottes. In Gott sind Genießen und Wirken eins. Das Genießen liegt in der Einfachkeit seines Seins, das Wirken in seinem trinitarischen Prozeß. So sind in seinem Wesen innere Ruhe (Genießen) und Wirksamkeit identisch.244 Darin besteht seine Vollkommenheit. Diese Vollkommenheit soll nun der Mensch gemäß seiner Gottebenbildlichkeit anstreben, wenn ihm auch die völlige Identität nicht gelingt. Mit seiner Innerlichkeit erspürt er Gott, und nach außen hin wirkt er. Die Innerlichkeit ist dabei der »Werkmeister« der Wirksamkeit, d. h. der innere Mensch ordnet in der Wirksamkeit den äußeren Menschen: »... mit dem Licht seiner Vernunft überblickt er rasch die äußeren Kräfte und unterweist sie für ihre Wirksamkeit; inwendig ist er versunken und verschmolzen in genießendem Anhängen an Gott und bleibt in Freiheit, ungehindert durch seine Tätigkeit.«245 Inneres und äußeres Werk bilden bei 242 243
244 245
Vgl. U. von Balthasar, DTA Bd. 23, 455. Vgl. Augustinus, De Civ. Dei 19,19 PL 41, 647: »... otium sanctum quaerit caritas veritatis; negotium iustum suscipit necessitas caritatis.« Vgl. V 156,28.29. V 158,17 f.: »Also tuͦ t der inwendige verklerte mensche: der ist inwendig in sinem gebruchende, und mit dem liehte siner redelicheit so úbersicht er gehelingen die uswendigen krefte und berichtet die zuͦ irem wurklichen amte, und inwendig ist er versunken und versmolzen in seinem gebruchlichen anhangende an Gotte, und blibt in siner friheit ungehindert seines werkes. Doch disen inwendigen dienent alle die uswendigen werk, das enkein so klein werk enist, es diene alles her zuͦ .« 318
Tauler eine Einheit, wenn die Tätigkeit des Menschen ganz von seiner inneren Verbindung mit Gott durchdrungen wird. Dann hat auch die Tätigkeit ihren tiefsten Sinn erreicht, denn sie geschieht nun bewußt in der Richtung der Wirksamkeit des Schöpfers selbst. Man darf sich nun diese Einheit von innerem und äußerem Werk bei Tauler nicht so vorstellen, als sei dabei das innere Werk immer präsent. Das ist in der Hingabe, die die Arbeit verlangt, nicht möglich. Tauler argumentiert hier anschaulich mit dem Bild des »Werkmeisters«: er kommt nur selten, um die Arbeit zu besehen.246 Seine Präsenz liegt weniger im Bewußtsein als in der Gestaltung der Tätigkeit selbst, denn er ist und bleibt ihr Meister und es ist »eigentlicher sein (Werk) denn derer, die die Arbeit durchgeführt haben«247. Das bedeutet nichts anderes, als daß in der Tätigkeit des gottförmigen Menschen die letzte Ursächlichkeit Gottes zum Ausdruck kommt. Die Innerlichkeit vermittelt Gottes Wirksamkeit zu den Geschöpfen, indem sie in der Tätigkeit fruchtbar wird. C. Zusammenfassung Auch Taulers Lehre von der Berufsarbeit und dem Verhältnis von innerem und äußerem Werk bestätigt die These, daß Tauler für die vollkommene Frömmigkeit des gottförmigen Menschen eine organische Verbindung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit fordert. Um ein Mißverständnis der Begriffe zu verhindern, sei nochmals darauf hingewiesen, daß es sich bei Innerlichkeit und Äußerlichkeit um zwei Aspekte des ganzen Menschen handelt, Innerlichkeit betrifft den Menschen, insofern er auf die Schöpfung ausgerichtet ist. Folglich kann die Geistigkeit des Menschen durchaus als Äußerlichkeit betrachtet werden, wenn sie sich an geschöpfliche Ziele ausgibt, und umgekehrt die Leiblichkeit als Innerlichkeit, wenn sie zu Gott gewendet ist. Deshalb kann auch die ganze Tätigkeit des Menschen »innerlich«, d. h. gottförmig werden. Innerlichkeit und Äußerlichkeit sind zunächst wertneutrale Begriffe. Eine Wertung 246
247
Vgl. V 158,8–16: »So úbersicht das inwendig das uswendig gar kurtz, als ein werkmeister der vil junger und amtlúte under im hat, die wúrkent alle nach der anwisunge des meisters, und (er) enwúrket selber nút; er kumet och selten dar, denne gehelingen so git er in ein regele und ein forme, und darnach wúrkent si denne alle ire werk, und heisset doch von derselben anwisunge und meisterschaft alles das si hant gewúrket ...« V 158,18. 319
kommt immer nur dann hinein, wenn Tauler vor allem die Äußerlichkeit nicht nur als »in-der-Welt-sein«, sondern als Weltverfallenheit versteht. Diese Wertung vermag dann leicht die ganze Vorstellung vom äußeren Werk zu durchdringen. Taulers Lehre von der Berufsarbeit ergibt ferner, daß zwischen innerem und äußerem Werk dasselbe Verhältnis besteht wie zwischen innerem und äußerem Gebet. Gebet und Arbeit fordern also vom Menschen ein ähnliches Verhalten. Dieses Ergebnis wird dadurch bestätigt, daß Tauler Gebet und Arbeit im Einklang behandelt und in innerem Zusammenhang sieht. Erst dann, wenn der Mensch es versteht, sich von seiner Arbeit zum inneren, geistigen Gebet zu wenden und hier den Sinn seiner Arbeit zu erfassen, wird die Arbeit für seine Vervollkommnung fruchtbar,248 denn sie hilft damit »zur Vollendung des inneren Werkes«249. So lehrt Tauler einen organischen Austausch von Gebet und Arbeit, eine gegenseitige Befruchtung. So wie der Mensch das rechte Verständnis zu seiner Arbeit nur in der inneren Gebetshaltung finden kann, so kann auch seine Innerlichkeit nur echt sein, wenn sie von der Tätigkeit immer wieder bezeugt und vorbereitet wird. Die Arbeit kann ebenso wie das Gebet zur Gottförmigkeit des Menschen führen, wenn der Christ die göttliche Wirksamkeit in der Weise abbildet, daß er alle ihm aufgetragenen Tätigkeiten »göttlich und himmlisch macht«250 und sie zum Schöpfer wieder hinaufträgt »mit einem nach innen gewandten Blick und einem Geist, der ungeteilt und eins ist«251. Die Bedeutung dieser Auffassungen Taulers liegt darin, daß in ihnen der Dualismus in der Frömmigkeit überwunden ist, den das von der Philosophie in die Spiritualität übertagene Modell »vita activa – vita contemplativa« begründet hatte. Es handelt sich dabei um den dreifachen Dualismus zwischen sich selbst genügender Gottesschau und praktischem Tun, zwischen Beziehung zu Gott und Beziehung zur Welt, zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe. Gerade der letzte Gegensatz wurde durch den
248 249 250 251
Vgl. V 157,12 f. V 156,10; 158,21.22. V 157,12. V 155,10.11. Der tätige Mensch hat ebenso seine Gebetshaltung wie der betende Mensch, sie vollzieht sich nur in anderer Weise. Das Gebet des betenden Menschen manifestiert sich als innere »conversatio cum Deo«; das Gebet des tätigen Menschen vollzieht sich in seinem äußeren Tun. 320
Schematismus des Modells vor allen Dingen gefördert.252 Tauler überwindet ihn in seiner Lehre von der tätigen Liebe.
3. Taulers Lehre von der tätigen Liebe und das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe253 Tauler beschreibt die Vereinigung mit Gott als Vereinigung der Liebe. Er sagt, daß die Pariser Lehrmeister nichts von dieser Liebe verstehen.254 Die Liebe ist nicht zu disputieren, sondern zu leben.255 Sie ist allgemein und betrifft alle Lebensbereiche.256 Für Tauler spielt daher die Diskussion um die Vorrangigkeit von Erkenntnis oder Liebe in der »unio mystica« keine Rolle. Die Intuition Gottes ist bei ihm affektiv, nicht intellektiv gefärbt. Eine solche Intuition der Liebe »enbedarf keine großen subtilen bekenntnisse«257. Die Erkenntnis hat bei Tauler die Funktion, zum rechten Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit zu führen, zur inneren Passivität gegenüber dem im Grunde wirkenden Gott. Darüber hinaus vermag sie nichts zu erreichen; die Wirkung Gottes wird erspürt, nicht erkannt.258 Eckhart hatte noch den ontologischen Vorrang der Erkenntnis vor der Liebe behauptet, da sie der reinen Geistigkeit Gottes am nächsten komme. Die Liebe, sagt er, nehme Gott »unter dem Mantel der Gutheit«,
252 253 254
255 256 257 258
Vgl. U. von Balthasar, DTA Bd. 23, 454–456. Vgl. vor allem die Predigten 74 und 76 bei Vetter, V 398–403; 407–412. Vgl. V 431,29 f.: »... die minne (ist) so nohe, so inrelich, so heimelich, so frúntlich, so minnenclich, daz daz zuͦ male úbertrifft alle verstentnisse, und aller kúnsten riehen meistere zuͦ Paris mit alle ire behendigkeit enkúnnen nút her bi komen, und wolten si hin abe sprechen, sie muͤ sten zuͦ male verstummen, und ie si hin abe me wolten sprechen, ie sins minre kunden und minre verstunden ...« Vgl. V 349,1 f. Vgl. V 367,18.19: »Die gemeine minne die slússet al in sich.« V 349,1; vgl. V 196,28. Vgl. oben S. 251, Anm. 36. Vgl. V 61,12: »... do er Got in der worheit inne vindet wonende und wúrkende, und er me hie vindet in bevindender wisen, nút in sinnelicher wisen noch in vernunftiger wisen ...« 321
nur die Erkenntnis fasse ihn »lauter in sich selbst«259. Um diese Erkenntnis zu ermöglichen, muß aber auch Eckhart letztlich auf die Liebe Gottes verweisen. So bewegt sich seine Spekulation hier im Kreise. Tauler sind solche Spekulationen fremd. Für ihn ist Gott die Liebe, und alle Geschöpfe haben gemäß ihrer Stufe in der Schöpfungsordnung daran teil. 260 Darum müssen alle Geschöpfe, um der Vollkommenheit der Liebe willen, wieder zu Gott zurückstreben. Das vollzieht sich in der Gottesliebe des Menschen, die darin besteht, daß er in den Bereich des göttlichen »Liebesfeuers« gelangen will, um ganz von ihm erfaßt zu werden und alle Bereiche damit zu durchdringen.261 Der intellektiven Färbung der »unio mystica« bei Eckhart entspricht ihre Darstellung als Geburt des Sohnes in der »scintilla animae«, die zugleich »intellectus inquantum intellectus« ist.262 Nach der trinitarischen Spekulation der Mystiker ist nämlich die Sohnesgeburt ein Erkenntnisvorgang in Gott. In diesen Erkenntnisvorgang soll der »Gerechte« Eckharts hineingezogen werden, freilich auf gnadenhafte Weise. Tauler spricht nun zwar ebenso wie Eckhart von der Gottesgeburt in der Seele, aber er hat Eckharts entsprechende Erkenntnis-Spekulation nicht übernommen. Gottesgeburt ist für ihn die gnadenhafte Ausfüllung und Überformung durch Gott; sie ist ein Bild der »gratia adoptionis«, das selten näher ausgeführt wird.263 Tauler versteht die Gottförmigkeit öfter als Geistbegabung. Das entspricht nun genau seiner affektiven Färbung der »unio mystica«, denn nach der trinitarischen Spekulation ist der Geist die Liebe zwischen Vater und Sohn. In diese Liebe wird der »Gottesfreund« Taulers hineingezogen; als Miterbe des Sohnes bringt er in Gemeinschaft mit Christus alle Dinge in der Liebe, d. h. im Heiligen Geiste zum Vater zurück. Taulers Pfingstpredigten sind deshalb zugleich Predigten der Liebe. Der Heilige Geist treibt
259
260
261 262 263
DW I 153,6. Vgl. insgesamt 150,3 (»Vernünfticheit ist der tempel gotes«) bis 154,6. Vgl. oben S. 167–170. So entspricht es dem Partizipationsverhältnis, vgl. V 277,8–10: »Alle creaturen hant wol guͦ t, hant wol minnen: si entsint nût guot noch minne etc. ...« Vgl. V 102,18–20. Vgl. H. Hof, Scintilla animae 206. Vgl. V 11,1 f. 322
den Menschen, 264 und er führt ihn nicht zu einer unfruchtbaren Liebessehnsucht, sondern zu den Werken der Liebe.265 Die Lehre von der tätigen Liebe verbindet Tauler wieder mit Meister Eckhart. Auch Eckhart vertritt, trotz seiner Erkenntnisspekulation, im konkreten Leben den Primat der Liebe und sieht die Verwirklichung dieser Liebe vor allem in der Tätigkeit. Für beide Mystiker ist die Liebe unter zwei Aspekten tätig: sie verwirklicht die christliche Bruderliebe, und sie bezeugt die Gottesliebe. Die tätige Liebe erscheint also unter dem Aspekt der brüderlichen Verpflichtung und unter dem Aspekt der Fruchtbarkeit. A. Christliche Brüderlichkeit266 Tauler leitet ebenso wie Eckhart die christliche Brüderlichkeit aus der Inkarnation und dem ekklesialen Leibe Christi ab.267 Er faßt jedoch beides konkreter auf als Eckhart, für den die Menschennatur Christi mit der allgemeinen Idee des Menschen identisch war und der Leib Christi deshalb einen geistlichen Organismus aller Gutgesinnten bildete.268 Für Tauler ist Christus unser Bruder geworden, und der Leib, den er als Haupt regiert, ist auch die sichtbare, nicht nur die unsichtbare Kirche.269 Aus Eckharts Vorstellung ergibt sich ein grenzenloser Universalismus der Brüderlichkeit; er betont die »Fernstenliebe« mehr als die Nächstenliebe. Tauler hingegen wahrt die innere Grenze der christlichen Bruderliebe. Deshalb wirkt sie bei ihm realistischer und konkreter als bei Meister Eckhart, ohne daß er sich dem Universalismus der christlichen Nächstenliebe verschließt.270 Christus und die Kirche sind in den christlichen Gemeinschaften präsent. Deshalb kann Tauler das Bild vom ekklesialen Leibe Christi in den Gemeinschaften, die er 264 265 266 267 268 269
270
Vgl. V 111,6 f. Vgl. V 309,25–34. Vgl. dazu: J. Ratzinger, Die christliche Brüderlichkeit, besonders 75–78. Vgl. V 240,27 – 241,4 und V 177,4 f. Vgl. H. Piesch, Meister Eckharts Ethik 134. Vgl. zum Inkarnationsverständnis bei Tauler: V 11,2; 29,11; 123,6; 293,21. Zum Kirchenverständnis s. o. Kap. II,4: Ekklesiale Bestimmtheit des christlichen Lebensweges. Vgl. zum Universalismus der Nächstenliebe bei Tauler: V 223,4 f.; 367,16 f.; 313,12–24: »Nút sol dine minne alleine sin uf die von diner stat (Stand) oder von diner wise sint: die uzgenomenheit das heissent secten, die die heiligen also sere verwerffent.« 323
spirituell betreut, konkret anwenden. Die Glieder der Gemeinschaft sind in Christus miteinander verbunden. Jedes Glied ist dem Haupte, Christus, in besonderer Weise zugeordnet und dient zugleich in seiner Weise allen anderen Gliedern, in denen es Christus wiederfindet. Diese Beziehung der Glieder untereinander, die Beziehung jedes einzelnen Gliedes und der Gesamtheit der Glieder zu Christus ist vorgegeben. Die Liebe ist in Christus immer schon da; Aufgabe der einzelnen Glieder ist es, sie sichtbar zu vollziehen. Die tätige Bruderliebe ist also eine Verpflichtung aus dem Sein zum Sollen. Gott wird darüber Rechenschaft fordern, ob jeder das, was er letztlich von Gott anvertraut erhielt, an seinen Bruder weitergibt.271 Vom Dienst der tätigen Liebe gilt das, was Tauler für die verschiedenen Berufe, Ämter und Gnaden forderte: jeder muß in der ihm eigenen und ihm besonders möglichen Weise seinen Beitrag zum Wohl der einzelnen Glieder und ihrer Gesamtheit leisten. Tauler nennt aber auch eine Reihe von allgemeinen Haltungen der Bruderliebe: brüderliches Bewußtsein,272 Annahme des Bruders ohne Unduldsamkeit, Vorurteil und Standesdünkel, 273 gegenseitige Verantwortung und Fürsorge 274 und vor allem Dienst am Heil des Bruders, dem der Gottesfreund Taulers »das Himmelreich mehr gönnt als sich selbst«275. Diese Haltungen der Bruderliebe bei Tauler entsprechen ganz den neutestamentlichen Forderungen.276 Wo Tauler von der Liebe spricht, sieht er sie immer in besonderer Beziehung zur Tätigkeit. Die nüchterne Tatkraft der Liebe muß ihre Präsenz im Menschen erweisen. Umgekehrt durchformt die Liebe die Tatkraft des Menschen. Wenn aber die Liebe ein besonderes Verhältnis zur Tätigkeit hat,277 wie steht es dann mit ihrer scholastischen Zuordnung zur Kontemplation?278 Thomas hatte die Frage gelöst, indem er die Nächstenliebe der »vita activa« und die Gottesliebe der »vita contemplativa« zuwies. 271 272 273 274 275 276 277 278
Vgl. V 178,1 f. Vgl. V 209,11–15. Vgl. V 194,9.10; 270,9–12; 367,16; 408,32–36. Vgl. V 270,13–18; 340,8. V 410,30. Vgl. Lk 17,3; Jo 15,12; Kol 3,12 f. u. a. Vgl. H. Sanson, Leben mit Gott in der Welt 21.25. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2 q 182 a 2 resp.: »Vita autem contemplativa directe et immediate pertinet ad dilectionem Dei.« 324
Dadurch hatte er jedoch den Dualismus dieses Modells in die christliche Liebe getragen; die Gottesliebe vollzieht sich in beschaulicher Zurückgezogenheit, die Nächstenliebe in tätiger Hingabe.279 Der Mystiker Tauler hingegen sieht auch die Gottesliebe in einer besonderen Beziehung zur Tätigkeit, weil sich die Gottesliebe in der Bruderliebe bezeugt.280 Tauler kennt keine Zuordnung von Gottes- und Nächstenliebe zu verschiedenen Lebensformen. B. Gottesliebe und Nächstenliebe281 Das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe ist bei Tauler durch den Fruchtbarkeitsgedanken geprägt. Die Innerlichkeit des ganzen Menschen und die Liebe zu Gott sind für Tauler identisch.282 Die Bewegung zur Innerlichkeit ist Bewegung der Liebe zu Gott, denn Innerlichkeit hat ja nichts anderes im Sinn als gesammelte Ausrichtung aller Kräfte des Menschen, mit Einschluß seiner Beziehungen zu den innerweltlichen Dingen, auf Gott allein. Zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe besteht nun dieselbe Beziehung wie zwischen innerem und äußerem Gebet und zwischen innerem und äußerem Werk. Die innere Gottverbundenheit bezeugt sich im konkreten Tun, sei es in konkreten Gebetsformen, in der Gestaltung der Dinge oder in der Bruderliebe. Sie ist nicht echt, wenn sie sich beziehungslos in eine »vita solitaria« zurückzieht; sie ist nur echt, wenn sie den Menschen in allen Bereichen zur tätigen Liebe drängt: »... es ist ebenso unmöglich, daß der Mensch Gott in seinem Innern habe und ohne Liebe sei, wie daß er ohne Seele lebe, er mag es nun wissen oder nicht.«283 Wenn darum Tauler zwischen innerer und äußerer Wirksamkeit der Liebe im Sinne von Gottes- und Nächstenliebe 279 280 281
282 283
Vgl. a. a. O. und dazu U. von Balthasar, DTA Bd. 23, 459.460. Vgl. 1 Jo 4,20.21. Vgl. vor allem V 400,20 f.; 408,12 f.: »Nu die minne die hat zwei werg, ein innerlich werg und ein usserlich werg. Das usser werg ist gekert zuͦ dem nehsten, und das inre werg get in Got sunder mittel.« Vgl. Thomas von Aquin, a. a. O. Tauler hat denselben Ansatz wie Thomas und kommt doch zu etwas anderen Ergebnissen, weil er das soziale Moment nicht als äußeren Zusatz, sondern als notwendige Folge der Innerlichkeit auffaßt. Vgl. die kritischen Bemerkungen U. von Balthasars zu Thomas, a. a. O. 460. Vgl. V 273,11–25. V 416,18.19. 325
unterscheidet,284 so nur, um ihre fruchtbare Verbindung in der tätigen Liebe zu erweisen: »Die wahre göttliche Liebe, die sollst du in deinem Innern haben, (aber) du sollst sie erkennen und wahrnehmen an der Liebe, die du nach außen zu deinem Nächsten hast; denn nicht eher liebst du Gott, als bis du findest, daß du deinen Nächsten liebst ...«285 Die Liebesbewegung ist also bei Tauler eine Bewegung von außen nach innen und von innen nach außen, ein organischer Austausch zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe. Ohne die Nächstenliebe kann sich die Gottesliebe nicht entfalten, und die Entfaltung der Gottesliebe wird in der Nächstenliebe fruchtbar. Eine abstrakte Gegenüberstellung von Gottesliebe und Nächstenliebe, wie sie Thomas das Modell »vita activa – vita contemplativa« aufzwingt,286 ist Tauler fremd. Näher steht seine Lösung dem Verhältnis zwischen »caritas« und »virtus« bei Thomas, jedoch hat Thomas seine Lehre von der »caritas« als »forma virtutum« bei der Behandlung des Modells nicht verwertet.287 C. Zusammenfassung Auch in Taulers Lehre von der tätigen Liebe und der organischen Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe ist der Dualismus des Modells »vita activa – vita contemplativa« überwunden. Die Gottesliebe ist nicht an eine beschauliche Lebensform gebunden, sondern sie hat eine besondere Beziehung zur tätigen Bruderliebe. Sie wird deshalb auch nicht in der Kontemplation aufgespürt, sondern im aktiven Leben des Dienstes; sie wird »außen« wahrgenommen, nicht »innen«: »... du sollst sie erkennen und wahrnehmen an der Liebe, die du nach außen zu deinem Nächsten hast!« Nach Thomas und Augustinus wird die Gottesliebe nur occasionell zur tätigen Liebe, wenn
284 285
286 287
Vgl. Anm. 281. V 208,20. Tauler kommt an dieser Stelle zu einer wesentlich organischeren Auffassung, als sie Thomas der abstrakte Wertvergleich von Gottesliebe und Nächstenliebe gestattet. Vgl. U. von Balthasar, a. a. O. 460. Vgl. S.th. 2–2 q 23 a 8 resp.: »... per caritatem ordinantur actus omnium aliarum virtutum ad ultimum finem. Et secundum hoc ipsa dat formam actibus omnium aliarum virtutum.« 326
es die Notwendigkeit des Lebens erfordert.288 Nach Tauler muß sich die Gottesliebe in der tätigen Liebe entfalten, um sich selbst gerecht zu werden. Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung für die Vorrangigkeitsfrage des Modells. Die Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens war von Thomas auch mit dem größeren Verdienst der beschaulichen Gottesliebe begründet worden.289 Durch Taulers Beziehung der Liebe zur Tätigkeit wird diese Argumentation durchbrochen. Taulers Lehre von der tätigen Liebe führt konsequenterweise zu einer Aufwertung des tätigen Lebens. Das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe bei Tauler bestätigt also unsere früheren Ergebnisse. Außerdem zeigt sich, daß sich bei Tauler Gebet, Arbeit und Liebe organisch miteinander verbinden. Die Vermittlung dieser Verbindung leistet sein Innerlichkeits-Begriff. Der Ort dieser Verbindung ist die Tätigkeit des Menschen. Das Schema »Innerlichkeit – (äußere) Tätigkeit« läßt sich bei Tauler in allen Bereichen verfolgen. Es ersetzt also das Modell »vita activa – vita contemplativa«, ohne sich mit ihm zu decken. Taulers Schema begründet keine verschiedenen Lebensformen, sondern zeigt die Spannung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit in der Verwirklichung der christlichen Existenz. Diese Spannung ist in einer organischen Einheit präsent. Die verschiedenen Lebensformen des Christen werden von Tauler dagegen aus dem Berufsgedanken abgeleitet. Für alle diese Lebensformen gilt die Spannungseinheit der Lebenslehre Taulers, seien sie »wúrkend« oder »schouwent«290. 288
289 290
Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 2–2, q 182 a 1 ad 3. Thomas zitiert dort Augustinus, De Civ. Dei 19,19: »Quam sarcinam si nullus imponit, percipiendae atque intuendae vacandum est veritati. Si autem imponitur, suscipienda est, propter caritatis necessitatem. Sed nec sic omnino veritatis delectatio deserenda est: ne subtrahatur illa suavitas, et opprimat ista necessitas.« Vgl. S.th. 2–2 q 183 a 2. Tauler gebraucht »wúrken und schouwen« auch synonym mit »wúrken und liden«, »wúrken und gebrúchen«. Vgl. V 62,25 f.; 185,9 f.; 157; 179,19; 197,8; 423,38. Auf den intellektiv vorgeprägten Ausdruck »schouwen« legt er weit weniger Nachdruck als auf das Erleiden und innere Verkosten Gottes, das in jeder Lebensweise möglich ist und nicht in einem Gegensatz, sondern in einer organischen Beziehung zur Tätigkeit steht. Vgl. vor allem V 400,8 f.: »Unde obe nu der mensche ist inwert geruffet zuͦ dem edeln 327
Die Untersuchung der Lebenslehre Taulers führt also zu einer Differenz zwischen den Kategorien Innerlichkeit und Tätigkeit einerseits und den im Modell festgehaltenen verschiedenen Lebensformen »vita activa« und »vita contemplativa« andererseits. Diese Differenz ist der entscheidende Fortschritt der Lebenslehre Taulers gegenüber Thomas von Aquin und seiner Tradition. Thomas geht von zwei verschiedenen Lebensformen aus und spezialisiert danach die innere Gottverbundenheit und die äußere Tätigkeit des Menschen. Tauler hingegen geht von zwei Kategorien aus und zeigt ihren fruchtbaren und organischen Austausch in allen Lebensbereichen und allen Lebensformen. Die Bedeutung des Fortschrittes, der in diesem Unterschied enthalten ist, wird uns nur bewußt, wenn wir noch einmal einen Blick auf die Entwicklung des Modells »vita activa – vita contemplativa« werfen und die darin enthaltenen ideologischen Elemente herausstellen.
stillen swigende in das goͤ tteliche vinsternisse, wollte er darumb allewegent sunder minne werg sin, ... dem entwurt nicht rehte.« 328
IV. ZUSAMMENFASSENDE DARSTELLUNG DES ERGEBNISSES 1. Geschichtlicher Rückblick A. Das philosophische Modell291 Das von Aristoteles begründete philosophische Modell geht von zwei Kategorien aus, der »theoria« als höchster philosophischer Denkoperation, die in sich selbst ruht und ihren Zweck in sich selbst findet, und der ordnenden Verstandeskraft, die sich einerseits auf die Sittlichkeit des Handelns und andererseits auf das schöpferische Werkschaffen des Menschen richtet. 292 Die Vorrangigkeit der »theoria« als höchster Steigerung der menschlichen Geistigkeit und damit auch der menschlichen Personalität steht bereits seit Platon unerschütterlich fest. Diese Vorrangigkeit ist jedoch abstrakt und prinzipiell zu verstehen, im konkreten Leben befindet sie sich immer im Austausch mit »praxis« und »poiesis«, d. h. mit sittlichem Handeln und schöpferischem Werkschaffen. Aristoteles hat nun nach diesen Kategorien der menschlichen Denkoperation das Leben eingeteilt, jedoch nicht, indem er die Kategorien auf zwei Lebensformen sachlich verteilte, sondern indem er die Lebensformen nach ihren Hauptakzenten differenzierte. Das bedeutete nicht, daß der Austausch zwischen den beiden Kategorien sich nun nicht mehr auf beide Lebensformen erstreckte. Das Spiel zwischen beiden Kategorien blieb in beiden Lebensformen erhalten, wenn sie auch nach ihrem Hauptakzent differenziert wurden. Dieser Vorbehalt der Einteilung wird jedoch in einer sich daraus begründenden Systematik leicht übersehen. Er ist von Aristoteles selbst in seiner Ethik übersehen worden.293 Die Folge davon ist ein ideologisches Moment: die »vita contemplativa« 291
292
293
Vgl. A. J. Festugière, Contemplation et vie contemplative selon Platon 61.357.398.402– 408; J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, 33 f.; C. Wirtz, Das kontemplative Leben nach Thomas von Aquin 19–21; 35–44. Vgl. oben, Teil 1, S. 30–44. Vgl. die knappe und klare Definition in: Herders Kleines philosophisches Wörterbuch. Hrsg. von M. Müller und A. Halder. Freiburg/Br. 21959, 177. Vgl. EN I,3; X,7. 329
(theoria) wird als beziehungslose »vita solitaria« verstanden; das beschauliche Leben des Philosophen entfernt sich von den Beziehungen zu Welt, zur Gesellschaft und zur Tätigkeit, und um des Vorranges der Kontemplation willen werden diese Beziehungen in der »vita civilis« abgewertet. Der Neuplatonismus baut diesen Ansatz weiter aus, und die Leib-, Welt- und Tatfeindlichkeit des philosophischen Ideals degradiert das sittliche Handeln der »vita activa« (praxis) zur bloßen Präparation der Schau und vernachlässigt, vom künstlerischen Bereich abgesehen, die Bedeutung des schöpferischen Werkschaffens. Die ideologische Gefahr besteht also darin, daß die formalen Kategorien mit einseitigen Lebensvorstellungen inhaltlich ausgefüllt werden. B. Die Übernahme des Modells in die christliche Spiritualität294 Die Begriffe »theoria« und »contemplatio« sind aus dem religiösen Bereich in die Philosophie eingewandert. Die Theorie ist schon vom Begriff her »Gottesschau«295, die Kontemplation setzt die Himmelsbetrachtung der Auguren voraus.296 Schon bei Platon zeigt sich, daß die Kontemplation nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch religiöse Bedeutung hat. Sie setzt die Sittlichkeit voraus und bezieht sich nicht nur auf die höchste Wahrheit, sondern auch auf das höchste Gute. 297 Ihre innere Selbstzweckhaftigkeit entspricht dem Wesen des Göttlichen. Deshalb ist die von ihr geprägte Lebensform Gemeinschaft mit Gott. Zwischen der höchsten philosophischen Denkoperation und der Gottesgemeinschaft besteht also gleichsam eine »prästabilierte Harmonie«. Die Lehre von der Kontemplation wurde von den christlichen Theologen, vor allem von den Alexandrinern, 298 als Theorie der Gottesgemeinschaft übernommen. Die Eingründung des Christen in Christus und durch Christus in den göttlichen Bereich, 294
295 296 297 298
Vgl. Origenes, Scholia in Lucam PG 31, 1325 A; Gregor von Nazianz, Orationes PG 35, 649 B; Evagrius Ponticus, Capita practica ad Anatolium PG 40, 1232 B – 1233 C. Vgl. oben Teil 1, S. 68–75. Vgl. A. J. Festugière, a. a. O. 13. Vgl. J. Ritter, a. a. O. 37. Vgl. A. J. Festugière, a. a. O. 233. Vgl. G. Bardy, Clément d’Alexandrie 246 f.; 297 f.; W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus 403–445; W. Völker, Das Vollkommenheitsideal des Origenes 91–144. 330
wie sie Paulus und Johannes darlegen, bildet den Ausgangspunkt der Spekulation. Kontemplation wird der Ausdruck für die Glaubenserkenntnis, die pneumatische Gemeinschaft und das »schon« der eschatologischen Vollendung in diesem Leben. Wenn man von den Differenzierungen der einzelnen Theologen absieht, kann man allgemein sagen, daß durch den Kontemplationsbegriff die erkenntnistheoretische Bestimmung in den Vordergrund tritt; freilich bleibt sie immer in Verbindung mit ethischen und ontologischen Vorstellungen. Das Modell »vita activa – vita contemplativa« wird bereits bei Origenes ausgewertet. Er versieht es auch mit einer biblischen Begründung aus der Maria und MarthaPerikope.299 Der Schwerpunkt liegt bei ihm eindeutig auf dem kontemplativen Leben, für das »to praktikon« als »poiein ta dikaia« nur Ausgangspunkt und Disposition ist.300 Danach »ist es die einzige Tätigkeit derer, die bei Gott sind, die zu ihm gekommen sind durch den Logos, der bei ihm ist: Gott zu erkennen, so daß alle, so geformt durch das Erkennen des Vaters, in Wahrheit sein Sohn werden, denn allein der Sohn erkennt den Vater«301. Bei solcher Ausdrucksweise hängt viel davon ab, wie »Erkenntnis« verstanden wird, ob hier der breitere Erkenntnisbegriff der Bibel oder eine philosophische Denkoperation zugrunde liegt.302 Diese Differenz ist bei den christlichen Neuplatonikern nicht immer beachtet, und so konnte im Kontemplationsbegriff Biblisches und Platonisches harmonisch zusammenfließen. Durch die Übernahme des Modells wurden Kontemplation und Aktion zu Kategorien der inneren Gottverbundenheit und eschatologischen Ausrichtung auf Gott allein einerseits und der sittlichen Lebensgestaltung andererseits. Das schöpferische Werkschaffen und die Gestaltung der Welt, die ursprünglich zur »vita activa« gehörten, wurden im Gleichklang mit der Philosophie vernachlässigt und bildeten keine Kategorie der Spiritualität. Ebenfalls im Einklang mit der Philosophie wurde durch die Festlegung der Kategorien in den beiden Lebensformen das Spiel und der organische Austausch von Aktion und Kontemplation in jeder dieser beiden Lebensformen gestört; er beschränkte sich fast ausschließlich auf die »vita contemplativa«, weil diese die Sittlichkeit des aktiven Lebens voraussetzte. 299 300 301 302
Vgl. Scholia in Lucam 10.42 PG 17, 351–353. Vgl. Joh. Komm. 1,1 n 16 PG 14, 49 C. Joh. Komm., a. a. O. Vgl. C. Tresmontant, Biblisches Denken und hellenische Überlieferung 74. 331
Die Einschränkung des aktiven Lebens auf die Tugenden und die guten Werke mit dem Akzent der Selbstheiligung zeigt sich vor allem in der Mönchstheologie.303 Das aktive Leben wird eigentlich nur aus der Perspektive der Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens betrachtet. Diese Perspektive muß allerdings immer wieder durchbrochen werden; der eindeutige Auftrag des Neuen Testamentes zur tätigen Liebe führt zu einer gelegentlichen Rechtfertigung des aktiven Lebens.304 Man kann nun nicht sagen, daß die Übernahme des philosophischen Modells vorbehaltlos geschah. Der Vorbehalt erstreckte sich dabei auf die Vorrangigkeitsfrage. Daß die Vorrangigkeit der Kontemplation vor der Aktion zugleich die Vorrangigkeit der »vita solitaria« vor der »vita civilis« sein sollte, ist christlich nicht immer anerkannt worden. Solche Festlegungen geraten nur unterschwellig über die philosophische Argumentation in die christliche Spiritualität hinein, werden aber immer wieder durch die Bruderliebe aufgehoben. Vorbehalte in der Vorrangigkeitsfrage zeigen sich vor allem bei Chrysostomus, Gregor von Nazianz, Basilius und Ephräm dem Syrer. Bei Chrysostomus und Ephräm durchbricht der Vorrang der Liebe das philosophische Modell, 305 bei Basilius und Gregor ist nur die Ergänzung beider Lebensformen wahrhaft christlich. 306 Gregor setzt sich vom philosophischen Zeitverständnis des Modells ab, wenn er sagt: »... bei uns (Christen) aber werden sie beide geschätzt, weil sie sich vervollständigen«307. 303
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Vgl. Cassian, Collationes I, 8,2 PL 49, 491 B: »Videtis ergo principale bonum in theoria sola, id est, in contemplatione divina, Dominum posuisse. Unde ceteras virtutes, licet necessarias et utiles bonasque pronuntiemus, secundo tarnen gradu censendas esse decernimus, quia universae huius unius patrantur obtentu.« Vgl. S. Marsili, Giovanni Cassiano ed Evagrio Pontico. Dottrina sulla carità e contemplazione 105–159. Vgl. Johannes Chrysostomus, In Ioannem homil. 44,1 PG 59, 249; Augustinus, Sermo CIV PL 38, 617: »Non ergo Dominus opus (der aktiven Martha) reprehendit, sed munus distinxit.« Vgl. Laien und christliche Vollkommenheit, hrsg. von G. Thils und K. V. Truhlar, 183–185. Vgl. Basilius, Constitutiones asceticae, C 1, n 1 PG 31, 1325 A; Gregor von Nazianz, Orationes 14,4 PG 35, 864 A. Orationes 4, 113 PG 35, 649 B: »... apud nos utraque alterius ope atque adiumento floret. Ut enim contemplationem ascensus ad caelestia comitem adsciscimus, ita vicissim actio nobis ad contemplationem gradus ac velut scala est. Neque enim fieri potest, ut sapientae 332
Im allgemeinen war jedoch die Vorrangigkeitsfrage seit Origenes, durch die Festlegung des Modells auf Lk 10, 38–42, auch in der christlichen Spiritualität entschieden. Nur die jeweilige Wertüberlegenheit im konkreten Leben konnte noch diskutiert werden. Dabei standen die Notwendigkeit und die größere Wirksamkeit der tätigen Liebe auf Seiten der »vita activa«, die ganze philosophische Argumentation sowie die eschatologischen Züge der christlichen Existenz auf Seiten der »vita contemplativa«. Die daraus folgende Diskussion über die Wertüberlegenheit hat großen Schaden angerichtet, weil sie verschiedene Züge der christlichen Existenz gegeneinander stellte und aneinander wertete, statt ihren organischen Zusammenhang aufzuweisen. Noch heute kommt kaum ein Buch über die christliche Spiritualität um diese Fragestellung herum. Dabei leidet selbst eine so ausgewogene Lösung, wie sie H. Sanson im Anschluß an P. Guibert bietet,308 an ihrer Belastung durch den Ausgangspunkt von dem ideologisch festgefahrenen Modell. Die Wertüberlegenheit in verschiedenen Ordnungen, die schon Thomas gesehen hat, d. h. Beschaulichkeit als Verkündigung, Tätigkeit als Vorbereitung der eschatologischen Herrlichkeit, Beschaulichkeit als unmittelbare Vorwegnahme, Tätigkeit als zeitliche Vermittlung der Endzeit, 309 ist zwar vom Modell her befriedigend, spielt aber wiederum verschiedene Strukturen der christlichen Existenz formal gegeneinander aus, die eigentlich in jeder Form des christlichen Lebens präsent sein müßten. Eine bessere Lösung wäre vielleicht doch
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compotes sint, qui sapienter non vixerint.« (Lat. Übersetzung nach Enchiridion Asceticum Nr. 300.) Gregor von Nazianz schätzt nicht nur die Zuordnung der beiden Lebensformen, sondern auch die jeweilige Lebensform als Ausdruck der christlichen Existenz. Vgl. Orationes 14,4 PG 35, 864 A: »Pulchra res est contemplatio, pulchra item actio: illa hinc assurgens atque ad sancta sanctorum contendens, mentemque nostram ad id, quod ipsi cognatum est, reducens; haec vero Christum exipiens, eique inserviens, ac vim amoris per opera indicans.« (Enchiridion Asceticum Nr. 303.) Bei Gregor ist also eine inhaltliche Verchristlichung des Modells deutlich spürbar. Sie erstreckt sich vor allem auf eine tiefere Sinndeutung des aktiven Lebens als Christusdienst und Darstellung der christlichen Liebe. Vgl. Th. Camelot und I. Meunessier, Aktives und kontemplatives Leben (Die katholische Glaubenswelt Bd. 2) 968. Vgl. J. de Guibert, Leçons de théologie mystique. Toulouse 1930, 266 bis 280; H. Sanson, Leben mit Gott in der Welt 85–91. Vgl. H. Sanson, a. a. O. 88. 333
von der Lebenslehre der deutschen Mystik aus möglich: ausgehend von einer einheitlichen Struktur der christlichen Existenz müßte ihre verschieden akzentuierte, aber dennoch vollständige Präsenz in verschiedenen Lebensformen gezeigt werden. Eine solche Grundlegung der Spiritualitätsformen könnte sich von der Belastung des Modells befreien und ihm zugleich seinen richtigen Platz zuweisen. Bei Augustinus findet die Übernahme des Modells in der Patristik ihren Höhepunkt und zugleich einen Überwindungsversuch. Er ist der Hauptvermittler des Modells für das Mittelalter. Bei ihm finden sich alle Elemente: die Festlegung verschiedener philosophischer und christlicher Kategorien auf das Modell, die Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens, die dispositive Rolle des aktiven Lebens und die christliche Rechtfertigung der sozialen Seite des aktiven Lebens aus der Notwendigkeit der Nächstenliebe.310 Darüber hinaus bietet er im Ideal der »vita mixta« einen Versuch, die im Modell festgelegten Kategorien nun doch wieder in ihrem organischen Austausch zu zeigen. Der Nachteil dieses Ideals besteht vor allem darin, daß die Verbindung stufenweise aufgebaut wird und letztlich doch auf ein kontemplatives Leben hinausläuft, in das das aktive aus Notwendigkeit, aber doch mit gewissem Bedauern, integriert wird.311 Von Augustinus aus läßt sich die inhaltliche Verwandlung des Modells durch seine christliche Interpretation zeigen.
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Vgl. Augustinus, De consensu evangelistarum L 1, c 5, n 8 PL 34, 1045; Sermo CIV, 3.4 PL 38, 617; Sermo CIII PL 38, 613–616; De Civ. Dei, 19,19 PL 41, 647. Die Deutung Augustins orientiert sich meist an Lk 10,38 bis 42. Vgl. Sermo CIII, Sermo CIV und dazu: G. Locher, Martha en Maria in de prediking van Augustinus 65–86. Die beiden Lebenswege werden aber auch durch Rachel und Lea, Johannes und Petrus biblisch typologisiert; vgl. De consensu evangelistarum a. a. O. Von einigen Ausnahmen abgesehen ist die Darstellung bei Augustinus für die mittelalterliche Theologie bis zur Aristotelesrezeption und darüber hinaus gültig, meist in der breiteren Form, in der sie Gregor der Große ausgeschrieben hat. Vgl. Gregor d. Gr., Hom. in Ez. 2,2 PL 76, 953 A; Beda Venerabilis, Hom. LVII, lib. III PL 94, 420.421. Vgl. dazu ausführlicher oben Teil 1, S. 84–96. Vgl. De Civ. Dei 19,19. Zur Kritik an der »vita mixta« vgl. H. Sanson, a. a. O. 83–85. 334
C. Der Gehalt des Modells in der christlichen Spiritualität Die christliche Integrierung erbringt zunächst keine formale Änderung des philosophischen Modells, sondern nur inhaltliche Umwandlungen.312 Es sei darauf hingewiesen, daß die von H. Sanson genannten Umwandlungen, mit Ausnahme des Einklanges von Gebet und Kontemplation, sich bereits in der religiösen Seite des philosophischen Modells nachweisen lassen. Die Gegenüberstellung von »Schau des Himmels und Tätigkeit hienieden«313 und das Verständnis der »vita activa« als Tugendübung sind bei Platon und Aristoteles grundgelegt.314 In der christlichen Spiritualität versucht das Modell den eschatologischen Vorbehalt gegenüber der Welt zu fassen, indem es Gottverhältnis und Weltverhältnis voneinander scheidet, die verschiedenen Zielbestimmungen der Liebe zu klassifizieren, indem es die Gottesliebe der Kontemplation, die Nächstenliebe der Aktion zuordnet, und die Spannung zwischen Gebet und Tätigkeit zu erklären, indem es sie auf die beiden Lebensformen verteilt. Da zugleich die philosophischen Merkmale und die philosophische Argumentation des Modells erhalten bleiben, besteht die Gefahr, daß Gebet und Gottesliebe mit höchster Denkoperation und »vita solitaria« gleichgesetzt werden und daß Welt-, Leib- und Gesellschaftsfeindlichkeit des philosophischen Ideals den eschatologischen Vorbehalte spezifizieren. Aber auch dann, wenn das philosophische Modell nicht mit seinen ganz bestimmten Ausfüllungen, sondern nur rein formal übernommen wird, verhindert seine dualistische Aufspaltung eine freudige Hingabe des Christen an die Welt und ihre Gestaltung in tätiger Liebe. Die christliche Hingabe ist geteilt. In der Sprache Augustins wird das deutlich sichtbar als Schwanken zwischen »otium« und »suavitas« der Schau und »negotium« und »necessitas« der Tätigkeit.315 312 313 314 315
Vgl. Gregor von Nazianz, Orationes, zit. Anm. 306. H. Sanson, a. a. O. 83. Vgl. A. J. Festugière, a. a. O. 405–408; Aristoteles, EN X, 9. Vgl. De Civ. Dei, 19,19 PL 41, 647. Die Tätigkeit zeichnet sich in Augustinus’ Gegenüberstellungen durch eine negative Begrifflichkeit aus (»nec – otium«), und ihre Vorläufigkeit wird besonders betont. Vgl. Sermo CIV, 3.4. PL 38, 617: »... in his duabus mulieribus (Maria und Martha) duas vitas esse figuratas, praesentem et futuram, laboriosam et quietam, aerumnosam et beatam, temporalem et aeternam.« Das aktive Leben ist von irdischer Beschwernis gekennzeichnet: »laboriosa et aerumnis plene, timoribus castigata, 335
Trotz solcher Gefahren geschah die Rezeption des philosophischen Modells in der christlichen Spiritualität nicht ohne Berechtigung. Das Modell enthielt ja nicht nur eine intellektualistische Leibenseinteilung, sondern die Vorstellung von der transzendenten und der immanenten Bestimmung des Menschen. Der Mensch ist über diese Weltzeit hinaus zu einer göttlichen Lebensweise berufen; andererseits ist ihm diese Welt anvertraut, und seine Aufgabe ist die Gestaltung der Dinge. Diese Erkenntnis drückt sich in der philosophischen Lebenseinteilung aus. Darin liegt der innere Grund für die christliche Integrierung. Hier war ein natürliches Vorbild der eschatologischen Spannung in der christlichen Existenz gegeben, die zugleich »nicht von der Welt« und »in der Welt« ist. Das religiöse Phänomen, das die Philosophie vor allem des Platonismus enthielt, bildete den missionarischen Ansatzpunkt für die christlichen Theologen. Unter Ablehnung des Intellektualismus und des Egoismus der philosophischen Lebenslehre versuchten sie das Modell christlich umzuprägen, es unter Beibehaltung der Form mit christlichen Gehalten auszufüllen. So wurden die Merkmale der Heilsberufung aus der Welt der Kontemplation, die Merkmale der Heilsverwirklichung in der Welt der Aktion zugeordnet, und beides wurde in einem organischen Austausch gesehen. Das christliche Modell steht nun in der gleichen Gefahr wie das philosophische Modell. Heilsberufung und Heilsverwirklichung müssen sich in jeder christlichen Lebensform durchdringen. Dabei bleibt unbestritten, daß es Lebensformen gibt, die sich mehr der Darstellung der Heilsberufung aus der Welt widmen und so die kommende Vollendung bezeugen, und daß es Lebensformen gibt, die sich stärker der Heilsverwirklichung in der Welt zuwenden und so die kommende Vollendung vorbereiten.316 Jedoch darf diese Akzentuierung nicht darüber hinwegtäuschen, daß in jeder Form die Fülle der christlichen Existenz präsent sein muß. Wird das nicht gesehen, dann entwickelt das Modell eine dualistische Sprengkraft. Werden die Merkmale der Heilsberufung und der Heilsverwirklichung völlig zwei verschiedenen Lebensformen zugeordnet, dann wird die Frage der Vorrangigkeit zu einer Bedeu-
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tentationibus sollicita.« Hier wird die Gefahr deutlich, daß christliche Hingabe an die Heilsverwirklichung in der Welt an Sorge, Angst und Versuchung gemessen wird statt an Ordnung, Dienstbereitschaft und Verantwortung. Vgl. oben S. 89, Anm. 221. Vgl. H. Sanson, a. a. O. 88–91. 336
tung erhoben, die ihr von der Offenbarung her nicht zukommt, dann besteht die Gefahr der Einseitigkeit, die schon das philosophische Modell kennzeichnete und der, historisch gesehen, auch die christliche Spiritualität nicht entgangen ist. D. Das Modell als Ideologie Die ideologische Gefahr besteht in den dualistischen Festlegungen des Modells, wie sie die philosophische Lebenslehre der Griechen vorgeprägt hatte. Solange man das Modell rein formal nimmt, ist die Gefahr gering. Man geht von verschiedenen Kategorien der menschlichen Existenz aus, zeigt ihre jeweilige Verbindung in den verschiedenen Lebensformen und stellt dann fest, daß die eine Lebensform mehr nach dieser, die andere mehr nach jener Seite hin akzentuiert ist. Wenn man aber von verschiedenen Lebensformen ausgeht und ihnen dann nachträglich die Kategorien zuordnet, ist die organische Verbindung gestört; die Kategorien, die ursprünglich einander korrelativ zugeordnet waren, sind nun dualistisch festgelegt. So kann man allgemein feststellen, daß diejenigen theologischen und mystischen Traktate, die das Spiel von Aktion und Kontemplation im Leben beschreiben, der ideologischen Gefahr eher entgehen als solche, die von einer Lebenseinteilung ausgehen und nach ihr die einzelnen Elemente der Spiritualität klassifizieren. Letzteres ist aber in besonderem Maße in der Hochscholastik der Fall. Die Problematik wird dabei noch dadurch verschärft, daß es sich um eine Lebensteilung handelt, die rein von den Verstandeskräften des Menschen ausgeht und weder die seelischen Veranlagungen noch die leiblichen Fähigkeiten des Menschen berücksichtigt. Von heute her gesehen, erscheint es nicht mehr möglich, die eschatologische Existenz des Christen und seine innere Gottverbundenheit an den spekulativen Verstand zu binden. Dies geschah jedoch in der Aristoteles-Rezeption der Scholastik noch stärker als in der patristischen Integrierung des Modells. In der patristischen Integrierung hatten intuitivekstatische Gottesschau, affektive Gottessehnsucht und mystisches Gebet dem ursprünglichen Intellektualismus des Modells Widerstand geleistet. Durch die neuerliche Bindung des Modells an Aristoteles, wie sie z. B. bei Thomas von Aquin geschieht, kann daher die im Modell bereits vorhandene ideologische Gefahr nur
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verstärkt werden, auch wenn alle Aussagen im »katholischen Gleichgewicht« (U. v. Balthasar) bleiben.317 U. v. Balthasar macht das Unternehmen des Aquinaten daraus verständlich, daß die Hochscholastik zwischen der patristischen Schriftdeutung, vor allem von Lk 10, 8–42, und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles »eine fast wundersame prästabilierte Harmonie«318 konstatierte, eine wunderbare Ergänzung von übernatürlicher und natürlicher Ordnung, von Philosophie und Theologie. So ist Thomas »Hauptanliegen ... das Ineinanderarbeiten der philosophischen und theologischen Tradition; ... die Dienstbarmachung der philosophischen Ordnungsbegriffe an einer in ihrer theologischen Ursprünglichkeit nicht angetasteten theologischen Sphäre« 319 . Thomas war es nicht bewußt, daß die patristische Schriftdeutung »bereits unter dem Vorzeichen der griechischen Philosophie vor sich gegangen war«320. Die Fragwürdigkeit des theologischen Ursprunges konnte nicht gesehen werden. Deshalb und wegen der erneuten Rückbindung des Modells an die Philosophie bei Thomas muß Balthasar in seinem Thomas-Kommentar auf »gewisse Gefährdungen des theologischen Gutes«321 hinweisen. Er stellt vor allem zwei Gefährdungen heraus: erstens die Prägung der Gottesliebe und Nächstenliebe durch ihre jeweilige Zuordnung zur »vita contemplativa« bzw. »vita activa«, welche bereits durch den aristotelischen Gegensatz von »vita solitaria« und »vita civilis« und durch den mönchstheologischen Gegensatz von Tugendleben (»theoria praktike«) und Kontemplation (»theoria physike« und »theologike«) bestimmt sind; zweitens die Zuordnung des Fruchtbarkeitsgedankens zur »vita activa«, wobei das kontemplative Leben in den Verdacht der aristotelischen Selbstgenügsamkeit gerät.322 Die erste Prägung führt zu einer Unterbewertung der Nächstenliebe, die nun von allen historischen Einschränkungen des aktiven Lebens betroffen ist; die zweite Prägung übersieht die innere Fruchtbarkeit und soziale Funktion der christlichen Gebetskontemplation. 323 Die Untersuchung Taulers hat gezeigt, wie 317
318 319 320 321 322 323
Vgl. zur ideologischen Gefahr bei Thomas: U. von Balthasar, DTA Bd. 23, 432.433.454.455.460. U. von Balthasar, a. a. O. 433. A. a. O. A. a. O. 432.433. A. a. O. 433. Vgl. a. a. O. 454.455. Vgl. a. a. O. 455.456. 338
diese Gefährdungen durch die Gedanken der Fruchtbarkeit des inneren Werkes und der organischen Verbindung von Innerlichkeit und Tätigkeit überwunden werden können. Balthasar hat auf diese Möglichkeit in der deutschen Mystik hingewiesen.324 Eine weitere Verbesserung sieht er in der spanischen Mystik: die Erleidung der Gottesschau als »Indifferenz in den allein verfügenden Willen Gottes«325 und als stellvertretende Hingabe für die Brüder. Solche Vorstellungen finden sich jedoch auch bereits bei Eckhart und Tauler. Der Gerechte Eckharts wirkt »ane warumbe« aus der Gemeinschaft mit Gott, d. h. ohne selbstsüchtige Festlegung auf bestimmte Lebensformen und Gegenstände allein in der Wirkrichtung Gottes. Der Gottesfreund Taulers bezeugt seine Innnerlichkeit in der Bruderliebe und gönnt dem Bruder das Himmelreich mehr als sich selbst.326 Es ist also nicht notwendig, »sich damit (zu) begnügen, die Daten der Tradition« auf eine Deutung des Johannes vom Kreuz »durchsichtig werden zu lassen«327. Wenn auch bei Johannes vom Kreuz vieles stärker erlebt ist, so sind doch die Grunderkenntnisse schon in der deutschen Mystik geleistet. Die äußerliche additive Verbindung von Aktion und Kontemplation bei Thomas wird zu einem organischen Austausch vertieft, und in diesen Austausch sind im Gegensatz zu Thomas alle äußeren Funktionen des Menschen einbegriffen, nicht nur Predigt und Lehre. Balthasar diskutiert die ideologischen Gefahren und ihre Überwindung innerhalb des Modells. Man muß jedoch auch die ideologische Gefahr des Modells selbst sehen. Diese Gefahr liegt darin, daß »man die beiden Leben im antiken Sinn als äußerlich umrissene Lebensformen auffaßt«328. Nimmt man diese Formen und nicht die ihnen zugrunde liegenden Kategorien als Prinzipien, dann werden die christlichen Tugenden dualistisch aufgespalten, aneinander gewertet und von ihren Festlegungen rückwirkend geprägt. Nur so läßt sich die abstrakte Vorherrschaft des kontemplativen Lebens über Jahrhunderte hinweg in der Kirche erklären. Deshalb muß die Lösung 324 325
326 327 328
Vgl. a. a. O. 455. A. a. O. 457. Vgl. E. Schering, Mystik und Tat. Therese von Jesu, Johannes vom Kreuz und die Selbstbehauptung der Mystik. München–Basel 1959, 170 f., 184 f. Vgl. V 410,30. U. von Balthasar, a. a. O. 457. A. a. O. 457. Balthasar weist darauf hin, daß in diesem Falle leicht das kontemplative Leben in Selbstgenügsamkeit statt in Selbstenteignung und Apostolat erwählt wird. (A. a. O. 458.) 339
der christlichen Tugenden von bestimmten Lebensformen immer wieder geleistet werden. Eine solche Leistung liegt in der deutschen Mystik vor: sie geht von der grundsätzlichen Weiselosigkeit des Gottfindens aus. Das bedeutet umgekehrt ebenso grundsätzlich, daß jede Weise offen ist für die Darstellung der christlichen Existenz, sofern sie sich nicht bereits in einer unchristlichen Lebenshaltung verfestigt hat. Deshalb ist aus der Konzeption Eckharts und Taulers eine Aufwertung des tätigen Lebens möglich. Das Modell »vita activa – vita contemplativa« kann also nicht nur inhaltlich, sondern auch formal zur Ideologie werden. Dabei hängt viel vom »modus procedendi« ab. Geht man von jeweils äußerlich umrissenen Lebensformen aus und legt darauf die Spannung von Immanenz und Transzendenz im philosophischen, bzw. die Spannung von eschatologischer Heilsberufung und Heilsverwirklichung in der Welt im theologischen Sinne dualistisch fest, dann entsteht eine Ideologie. Macht man aber die Spannungseinheit von Immanenz und Transzendenz zum Ausgangspunkt und betrachtet die verschieden akzentuierte Präsenz dieser Spannungseinheit in den verschiedenen Lebensformen, dann behält das Modell sein inneres Gleichgewicht. Jede Form der Spiritualität muß in sich die Fülle der christlichen Existenz sichtbar machen, wenn auch in verschiedener Akzentuierung. Eine Theologie des Gebetes muß diese Fülle in anderer Weise darstellen als eine Theologie der Tätigkeit. Verschiedene Betonungen brauchen nicht zu sachlichen Verkürzungen zu führen. Diese methodische Sicherung darf nun nicht dialektisch aufgefaßt werden, wie es in der Vorstellung von der »vita mixta« meist geschieht. Es handelt sich nicht um Antithesen, die dann in einer Synthese überwunden werden. Ausgangspunkt ist die ursprüngliche Spannungseinheit, und diese muß in jeder Lebensform, nicht in einer besonderen Lebensform nachgewiesen werden. Das Vorgehen Taulers ist hier vorbildlich: in Gott sind »Gebruchen« und »Wúrken« identisch; der Mensch erfährt ihre Differenz; er darf nun diese Differenz nicht überwinden, indem er sie vereinseitigt oder in eine besondere Lebensform ausweicht; er muß sie in sich austragen und so den »Genuß« Gottes im Wirken für Gott finden. Bei Tauler soll der Mensch in seinem Tun die innere Freiheit der Loslösung wahren, dann trägt er sich selbst und alle Dinge durch sein noch so äußerliches Tun zu Gott empor. Was den Philosophen und vielen von ihnen abhängigen christlichen Denkern ein Ideal war, die Sicherung der inneren
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Freiheit für das höchste Gut durch die Muße, durch einen autarken Raum der Selbstzwecklichkeit, ist für Tauler eine der größten Versuchungen: »eine innere, nichtige, blinde Muße ohne wirkende Liebe«329. Abschließend seien noch einmal die Tatsachen zusammengestellt, die in einer ideologischen Fassung des Modells übersehen werden: 1. Eschatologische und immanente Existenz des Christen vermögen zwar verschiedene Lebenswege zu akzentuieren, müssen jedoch in jedem Lebensweg integriert sein. Sie dürfen also nicht schematisch auf zwei Lebensformen verteilt werden. 2. Der Kontemplationsbegriff kann nur durch Veränderung im Sinne der christlichen Glaubenserkenntnis, Gebetshaltung und Gottesliebe in die christliche Spiritualität übernommen werden. Die innere Gottverbundenheit ist nicht in der Spekulation des Geistes, sondern in den theologischen Tugenden da. 3. Der eigentliche Ort der Gottesliebe ist nicht eine beschauliche Zurückgezogenheit und Distanz, sondern die Hingabe an den Nächsten (vgl. 1 Joh 4, 20.21). 4. Der eschatologische Vorbehalt der christlichen Existenz ist weder mit der Tätigkeit des Menschen, noch mit Leib-. Welt- und Gesellschaftsfeindlichkeit gleichzusetzen. 5. Die Bedeutung der »vita activa« darf nicht aus einer anderen Lebensform abgeleitet werden. Die verschiedenen Theorien der Präparation, der Addition und der »vita mixta« können ihr nicht gerecht werden, weil sie eine kontemplative Lebensform voraussetzen. Ihre eigentliche Ableitung ist eine Theologie der Tätigkeit, in der gezeigt wird, in welcher Weise die »vita activa« die Fülle der christlichen Existenz repräsentiert. E. Die Bedeutung der Lebenslehre Taulers für das Modell Die Lebenslehre Taulers kann als Kritik der ideologischen Verfestigungen des Modells aufgefaßt werden. Das Modell und seine scholastische Klassifikation ist Tauler durchaus bekannt,330 und die thomanischen Theorien finden Erwähnung. Aber sein Innerlichkeitsbegriff deckt sich nicht mit dem scholastischen Kontemplationsverständnis. Er umfaßt den ganzen Menschen in seiner Ausrichtung auf Gott und läßt 329
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V 422,33.34: »Die ... bekorunge ist ein innewendige itele blinde lidekeit sunder wúrklich minne und begerunge ...« Vgl. V 62,25; 24,23 f.; 179,19; 185,9 f.; 197,8; 400,8 f.; 423,38. 341
sich nicht auf eine äußerlich umrissene kontemplative Lebensform festlegen. Vielmehr findet sich diese Innerlichkeit in der Tätigkeit der Berufsarbeit und der Bruderliebe ebenso wie in der Gebetshaltung. Innerlichkeit ist ein Prinzip, das in jeder Lebensform des Menschen zum Ausdruck kommt. Auf diese Innerlichkeit muß sich die Äußerlichkeit des Menschen ausrichten; umgekehrt bezeugt sie sich wiederum in der Äußerlichkeit. Die Einheit des menschlichen Lebens umfaßt Innerlichkeit und Äußerlichkeit. Beides muß sich deshalb in jedem Lebensweg organisch verbinden, wenn auch in verschieden akzentuierter Weise. Deshalb ist die Verbindung, die die Ordensschwester in ihrem Chorgesang leistet,331 eine andere als die Verbindung, die der Ackermann leistet, wenn er seine Arbeit »zur Ehre des Blutes Christi« verrichtet.332 Tauler nivelliert die Berufungen nicht, er betont die verschiedenen Dienste und Gnaden, aber er 331 332
Vgl. V 342,5–10. Vgl. V 179,20 f.: »Ich weis einen der aller hochsten frunt gotz, der ist alle sine tage ein ackermann gewesen me denne vierzig jor und noch ist. Und er fragte einest unseren heren ob er wolte das er das begebe und in die kilchen gienge sitzen (d. h. sich einem beschaulichen Orden anschließen solle). Do sprach er (Christus): nein, er ensolt es nút tuͦ n; er sollte sin brot mit sinem sweisse gewinnen sinem edelen túren blute ze eren. Der mensche sol under nacht und tag iemer ein gute zit nemen, und in der sol er sich in senken in den grunt, ein ieklichs nach siner wise. Die edele menschen die mit luterkeit und an bilde und an formen sich in Got kúnnen keren, die sollen tuͦ n nach ir wise (Kontemplation). Und die anderen nach ir wise (Tätigkeit) súllent sich da ein gute stunde inne uͤ ben, ein ieklichs nach siner wise, wan wir enmûgen nút alle ogen (beschauliche Menschen) gesin.»Vgl. auch V 400,8 f.: »Wir súllent ... warten unsers ruͦ ffes, wie, war und in weler wise uns der herre geruͤ ffet hat: den einen in ein innerlich schouwen, den andern in ein wúrken, den dirten verre úber alle beide in ein minnenclich innerlich rasten, in einem stillen swigende anzuͦ hangende in einikeit des geistes dem goͤ ttelichen vinsternisse. Und ouch diesen selben ruͦ ffet er ettewenne usswert und ettewenne inwert, also es ime fuͤ get ... Und obe nu der mensche ist inwert geruͤ ffet zuͦ dem edeln stillen swigende in das goͤ ttliche vinsternisse (d. h. zur höchsten Kontemplationsform der ›passio divina‹) wolte er darumb allewegent sunder minne werg sin ... dem enwurt niht rehte.« Der Ackermann leistet also bei Tauler eine Verbindung von Innerlichkeit und Tätigkeit, bei der die Tätigkeit das Richtmaß gibt; der beschauliche Mensch bedarf dieser Verbindung ebenfalls, jedoch ist sein Richtmaß die Innerlichkeit des Gotterleidens. 342
zeigt in jeder dieser Berufungen die Fülle der christlichen Existenz und sieht sie nicht in einseitiger Verkürzung. Die Untersuchung der Lebenslehre versuchte die verschiedenen Durchdringungen in den Lebensbereichen aufzuzeigen. In der Gebetshaltung, die vor allem die Ordensleute darstellen, durchdringen sich innere Vereinigung mit Gott und äußeres Gebet in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft. In der Berufsarbeit des Laien besteht ein organischer Austausch von innerem Werk, d. h. »Loslösung in der Tätigkeit«333 und innere Freiheit für Gott, und äußerem Werk, d. h. Hingabe an die konkrete Arbeit. Im sozialen Bereich, der beiden, Ordensleuten und Laien, zugeordnet ist, zeigt sich die besondere Präsenz der Gottesliebe in der Bruderliebe. Der fruchtbare Austausch ist also in jeder Lebensweise auf verschiedene Art vorhanden. Die Lebensbereiche werden nicht aneinander gewertet; über die Akzentuierung entscheidet die Berufung Gottes, über die Vorrangigkeit die größere Liebe. Die Innerlichkeit stellt sich in jeder Lebensform anders dar: im Gebetsleben ist sie das innere Gebet, im Berufsleben das innere Werk. In dieser Konzeption ist der dreifache Dualismus des Modells überwunden. Schau und Gebet sind nicht mehr vom Apostolat, die innere Gottverbundenheit nicht mehr von der Hingabe an die Welt, die Gottesliebe nicht mehr von der Bruderliebe zu trennen. Damit entgeht Tauler den ideologischen Gefahren, die vom Inhalt des Modells her gegeben waren und die sich noch auf Thomas’ Darstellung auswirken konnten. In dieser Konzeption liegt jedoch nicht nur ein neues inhaltliches Verständnis, sondern auch eine formale Veränderung des Modells vor. Hier stehen sich nicht mehr zwei Existenzformen gegenüber, die gleichsam »nachträglich« mit je verschiedenen Gehalten gefüllt werden, sondern die Spannungseinheit der christlichen Existenz stellt sich in verschiedenen Berufungen je verschieden dar. Jede Berufung enthält auf verschiedene Weise die Spannung von eschatologischer Heilsberufung und immanenter Heilsverwirklichung. Diese formale Veränderung wirkt sich in dreifacher Weise aus. Zunächst tritt die Vorrangigkeitsfrage in den Hintergrund. Wenn die verschiedenen Lebensformen Darstellungen der Fülle der christlichen Existenz in ihrer Weise sind, dann verliert die Frage nach ihrer Wertüberlegenheit ihren Sinn. Daraus folgt wiederum, daß das aktive Leben in seiner eigentlichen Bedeutung erfaßt werden kann. Tauler zeigt dies 333
V 400,27: »Wúrklicheit in der abegescheidenheit«. 343
in seiner theologischen Begründung der Berufsarbeit. Daraus folgt schließlich eine größere Offenheit für die Laienfrömmigkeit. Trotz einer Verkürzung des kosmischen Aspektes zeigt Tauler die besondere Würde des Weltberufs. Er erfaßt sie vor allem in ihrer personalen und sozialen Bedeutung. F. Herkunft und Weiterwirken der Veränderungen Taulers Die Konzeption des Modells »vita activa – vita contemplativa« ist bei Johannes Tauler durchbrochen und ihre ideologische Gefahr überwunden. In der Frage der Herkunft dieser Veränderungen werden wir an Meister Eckhart verwiesen. Zwischen Tauler und Eckhart hatten sich zwar eine Reihe von Unterschieden im Gesichtspunkt und im theologischen Ansatz ergeben, aber in ihrer Haltung gegenüber dem Modell »vita activa – vita contemplativa« ist eine grundsätzliche Übereinstimmung festzustellen. Bei Tauler sind jedoch die konkreten Folgerungen für die einzelnen Lebensformen stärker herausgestellt und differenzierter behandelt. Eine gewisse Differenz ergibt sich freilich aus der Verschärfung des Innerlichkeitsbegriffes bei Tauler. Eckharts ontologische Konzeption nimmt eine objektivere Stellung zur Kreatur ein und betont die Transparenz der sichtbaren Dinge für den Schöpfer. Die Kreatur ist ein Buch Gottes, das göttlicher Zeichen voll ist.334 Taulers anthropologischer Personalismus wendet sich weniger der äußeren Schöpfung als dem Innenleben des Menschen zu. So tritt die Naturfreude der Predigten Eckharts bei Tauler hinter die ethische und psychologische Betrachtung des menschlichen Selbst zurück. Daraus ergibt sich eine Verschärfung des Innerlichkeitsbegriffes. Wenn aber alle Aspekte sich auf die Innerlichkeit der menschlichen Person konzentrieren und in ihr ihren sittlichen Höhepunkt erreichen, liegt die Gefahr nahe, daß die Frömmigkeit sich zur subjektiven Selbstheiligung verengt. Bei Tauler ist dieser Gefahr durch eine Theologie der Tätigkeit und des sozialen Verhaltens ihre Grenze gezogen. Dieses theologische Gleichgewicht ist in der »Imitatio Christi«, dem meistverbreiteten Frömmigkeitsbuch der Neuzeit, nicht mehr gewahrt. Darin ist der Innerlichkeitsbegriff derart vereinseitigt, daß fast alle Aussagen sich auf die Selbstheiligung 334
Vgl. DW I, 155–158; q 200,3–5: »Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennen würde, der brauchte an keine Predigt zu denken, denn jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch.« 344
beziehen. Die »vita activa« ist nur noch Aszese im Dienste dieser Selbstheiligung.335 Wenn es also stimmt, daß die deutsche Mystik über die »devotio moderna« zur »Imitatio Christi« vermittelt wurde,336 so ist darin weniger ein Weiterwirken als eine Verengung der mystischen Lebenslehre zu sehen.
2. Sachliches Ergebnis: Die Spannungseinheit der christlichen Existenz und ihre verschieden akzentuierte Präsenz in den Spiritualitätsformen Eckhart und Tauler gehen von einer Spannungseinheit in der christlichen Existenz aus, die sich im konkreten Leben darstellen muß. Der Mensch soll in jeder Lebensform Innerlichkeit und Wirksamkeit zur Wesentlichkeit vereinigen, um zu werden, was er seinem tiefsten Sein nach immer schon ist: »man (soll) so wirken lernen, daß man die Innerlichkeit ausbrechen lasse in die Wirksamkeit und die Wirksamkeit hineinleite in die Innerlichkeit und daß man sich so gewöhne, ungezwungen zu wirken« 337 . So sagt Eckhart in den »Reden der Unterweisung«, deren konkreter Gesichtspunkt den Predigten Taulers am nächsten steht. Es geht den beiden Mystikern nicht um eine äußere Verbindung von Innerlichkeit und Wirksamkeit, wie sie in der Additionstheorie des Aquinaten zum Ausdruck kommt, sondern um den organischen, ungezwungenen Austausch in jeder Lebensweise. Für Eckhart und Tauler ist eine Lebenseinteilung nach Innerlichkeit und Wirksamkeit sekundär, weil beide immer in der Ergänzung gedacht werden müssen. Bei Eckhart findet sich in den deutschen Predigten und Traktaten keine (echte) direkte Aussage über die beiden Lebenswege »vita activa« und »vita contemplativa«338. Bei
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Vgl. Imitatio Christi II, 1,2: »Lerne deine Umwelt zu verschmähen und dich an deine Innenwelt hinzugeben.« I, 11,2: »Wie sollte einer lange in Frieden leben können, der außerhalb seiner selbst nach Betätigung sucht ...?« Vgl. St. Axters, Johannes Tauler in de Nedelanden 359–368 und die Untersuchung von M. A. Lücker über Meister Eckhart und die devotio moderna. DW V, 291; vgl. insgesamt RdU 23, DW V, 290–309. Vgl. Teil 2, Kap. II,3. Wo bei Eckhart das Thema auftritt, steht es unter dem Gesichtspunkt der Einheit. In der Predigt über Maria und Martha wird das Modell nicht einmal erwähnt, und, obwohl sich in den beiden Frauen verschiedene Typen einander gegenüber stehen, 345
Tauler werden sie zwar gelegentlich erwähnt,339 jedoch nicht in einer Predigt thematisiert. Dagegen ist der organische Austausch von Aktion und Kontemplation an vielen Stellen behandelt, bei Eckhart vor allem in der Predigt über Maria und Martha, bei Tauler in den Gebets- und Arbeitspredigten.340 Man muß immer wieder darauf hinweisen, daß diese Betrachtungsweise Eckharts und Taulers weder die Ablehnung noch die Nivellierung verschiedener Spiritualitätsformen einschließt. Jedoch bildet nicht die Differenz den Ausgangspunkt der Konzeption, sondern die Einheit. Die verschiedenen Spiritualitätsformen sind dann verschieden akzentuierte Darstellungen dieser Einheit. Daraus folgt, daß die verschiedenen Merkmale der christlichen Existenz zwar nicht auf zwei verschiedene Lebenswege festgelegt werden können, aber doch diese Lebenswege in verschiedener Weise akzentuieren. Eschatologische Heilsberufung und immanente Heilsverwirklichung spezifizieren zwar verschiedene Lebenswege des Christen, sind aber in jedem Lebensweg miteinander verbunden, wobei in der einen Verbindung mehr die Heilsberufung aus der Welt, in der anderen Verbindung mehr die Heilsverwirklichung in der Welt hervortritt. So versucht jeder Lebensweg die Fülle der christlichen Existenz darzustellen, wenn auch in verschiedener Weise. Wie sieht nun diese Darstellung der Verbindung von Innerlichkeit und Wirksamkeit einerseits im kontemplativen Aufstieg zur »unio mystica« und andererseits im tätigen Leben aus? H. Urs v. Balthasar weist darauf hin, daß die organische Verbindung von Aktion und Kontemplation im kontemplativen Aufstieg ihren Ursprung in der »passio divina« hat, in der »leidenden Nicht-Schau« des Gregor von Nyssa und des Pseudo-Dionysius.341 Er betont jedoch, daß dieser Ursprung unerkannt geblieben sei, »mehr gelebt als begriffen« wurde. 342 Diese Auffassung läßt sich nicht auf die deutsche Mystik beziehen. Zwar führt auch bei Tauler das Erlebnis der mystischen Verlassenheit dazu, den Gott, der sich in Gebet und Schau entzieht, in der tätigen
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besteht zwischen ihnen keine grundsätzliche Differenz. Der Dualismus der thomistischen Einteilung ist überwunden. Vgl. Anm. 329. Vgl. V 143,25 – 144,9; 400,8 f. (zitiert Anm. 331). Vgl. DTA 23, 457. A. a. O. 457. 346
Liebe zu erspüren.343 Das ist jedoch nicht nur erlebt, sondern auch verstanden worden. Der Höhepunkt der Gottförmigkeit besteht bei Eckhart und Tauler nicht in einem inneren »Genießen« Gottes, sondern im Wirken in der Wirkrichtung Gottes, in der Gottförmigkeit alles menschlichen Tuns. Die beschauliche Maria darf nicht im Wohlgefühl ihres Erlebnisses stecken bleiben, sondern sie muß sich erst der wirkenden Martha angleichen, um die wesentliche Maria zu werden.344 Die Aktion ist als wesentliche Verbindung von Wirksamkeit und Schau Höhepunkt der Mystik Eckharts. Bei Tauler ist das nicht anders: der Mystiker ist das Abbild der Einheit von »Genießen« und Wirksamkeit in Gott.345 Deshalb lehren Eckhart und Tauler die Einheit von innerem und äußerem Gebet, Tätigkeit und Schau, Gottesliebe und Nächstenliebe im Leben des kontemplativen Menschen. Die beschauliche Maria bleibt dabei durchaus sie selbst, sie wird nicht mit Martha identisch; sie verbindet nur auf ihre Weise Innerlichkeit und Wirksamkeit. Auch der tätige Mensch muß eine analoge Verbindung leisten, bleibt aber dabei er selbst. Seine Aufgabe ist das »Wirken in der Zeit, (das) ebenso adelig (ist) wie irgendwelches Sich-Gott -Verbinden«346. Seine Wirksamkeit verlangt aber die Innerlichkeit in der Form der inneren Freiheit für Gott. Deshalb schließt sie die Loslösung ein, vor allem die Loslösung von ängstlicher Sorge.347 Jeder Lebensweg soll also die organische Verbindung von Innerlichkeit und Wirksamkeit leisten, aber jeder auf seine Weise. So betont das kontemplative Leben die Innerlichkeit, sucht aber auch ihre Fruchtbarkeit im Werk; das aktive Leben betont die Hingabe an die Tätigkeit, sucht aber darin die innere Freiheit für Gott zu bewahren. Durch seine formale Veränderung in der deutschen Mystik kann also das Modell »vita activa – vita contemplativa« auch inhaltlich anders verstanden werden. Es bedeutet nun keine dualistische Abgrenzung mehr, sondern die Möglichkeit, die Darstellung der christlichen Existenz in verschiedenen Lebensformen als jeweils anders akzentuierte Verbindung von eschatologischer Heilsberufung und immanenter
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Vgl. V 251 f.; 400 f. Vgl. Pf 48–53. Vgl. V 156,19–22. Pf 51,11.12. Vgl. Pf 51,28.29; V 178,23.24. 347
Heilsverwirklichung zu beschreiben. Die Vorrangigkeitsfrage tritt zurück; das aktive Leben kann sich nun selbständig ohne kontemplative Bevormundung entfalten. Ein Kennzeichen der heutigen Spiritualität ist es, die Gottbegegnung so nahe wie möglich an die Tätigkeit heranzutragen. Teilhard de Chardin lehrt eine welthafte Frömmigkeit und eine Spiritualität auch des tätigen Lebens. Dazu sind auch Ansätze in der deutschen Mystik vorhanden. Jedoch konnte von ihr, der die neuplatonische Metaphysik das Ordnungsgefüge bereitstellte, noch nicht die Bedeutung der Weltlichkeit der Welt und des materialen Werkerfolges für die Frömmigkeit gesehen werden. Das Wort »Gott ist in der Arbeit ertastbar« kann zwar ebenso für Tauler gelten wie für Teilhard,348 aber es hat bei beiden einen anderen Klang. Für den Mystiker Tauler ist die Gestaltung der Welt noch nicht eine so drängende Aufgabe wie für den Mystiker Teilhard. Tauler sieht mehr die Welt im Menschen als den Menschen in der Welt. Deshalb betont er die Innerlichkeit vor der Hingabe auch im Leben des tätigen Menschen. Die Innerlichkeit der deutschen Mystik ist freilich nicht mehr die reine Beschaulichkeit des kontemplativen Menschen. Darin besteht der Fortschritt ihrer Lebenslehre. Eine »Mystik des tätigen Lebens« wird dann möglich, wenn Mystik nicht mehr allein Beschaulichkeit meint, sondern Gottverbundenheit. 349 C. Butler konnte noch den »Western Mysticism« von Augustinus bis Bernhard von Clairvaux als Kontemplationslehre beschreiben.350 Bei Eckhart und Tauler ist das nicht mehr möglich. Der Gedanke von der »Weiselosigkeit des Gottfindens« begrenzt die alleinige Gültigkeit der Kontemplation und eröffnet dem tätigen Menschen seine Möglichkeit der Darstellung der christlichen Existenz.
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Vgl. Teilhard de Chardin, Der göttliche Bereich. Ein Entwurf des inneren Lebens. Olten und Freiburg/Br. 21962, 49; V 178,23.24. Vgl. H. Sanson, a. a. O. 270–273. Vgl. Western Mysticism 2. 348
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364
REGISTER I
Verzeichnis der zitierten Autoren aus Altertum und Mittelalter
(Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten, die Hochzahlen auf die Anmerkungen des Buches) Ambrosius:
4558, 75158
Albertus Magnus:
245, 248
Alulfus:
105
Anselm von Canterbury:
76165, 283
Aristoteles:
30–44, 83, 108, 113, 114, 227, 243, 301, 311– 312, 320
Augustinus:
42, 4558, 58109, 75158, 76, 78, 80, 84–96, 97, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 107, 108, 110, 114, 171, 182, 185, 187, 190, 191, 195, 196, 202, 203, 211, 223, 225, 228, 231, 245, 258, 283, 284, 310, 316, 318
Basilius:
69130, 72, 75157, 77, 315
Beda Venerabilis:
105, 231362, 316309
Bernhard von Clairvaux:
106, 111, 114, 198263, 245, 25136
Bonaventura:
74, 113340, 114, 151119, 182, 2409, 245, 249, 250, 285
Cassianus:
4558, 71143, 75158, 76, 78, 81, 97, 106–107, 151117, 314302
Chrysostomus:
46, 69130, 75, 77, 78, 79, 82, 83, 315
Clemens von Alexandrien:
46, 69, 70, 71, 77
Cyrill von Alexandrien:
45, 69130, 77
365
David von Augsburg:
154131, 198263, 24829, 284
Dietrich von Freiberg:
220332, 245, 248
(Pseudo-) Dionysius:
107, 124, 189, 239, 24829, 249, 258, 328
Ephräm der Syrer:
69130, 77, 78, 79, 315
(Johannes Scotus) Eriugena:
146101, 148105
Evagrius Ponticus:
71, 74, 75157, 77, 78, 106312, 107
Godefridus Admontensis:
76165, 87211
Gregor der Große:
42, 78, 101–106, 110, 225, 231, 316309
Gregor von Nazianz:
72, 79, 85, 105, 315
Gregor von Nyssa:
107, 150113, 328
Haymo von Halberstadt:
203275
Hieronymus:
75158, 76
Hugo von St. Viktor:
105, 203275, 231362, 25136, 285
Hugo von Straßburg:
281155
Hyppolit:
148105
Isidor von Sevilla:
105–106, 110, 203
(Pseudo-) Makarius:
81
Maximus Confessor:
148105, 150113, 151118, 283161
Messalianer:
78–81, 82, 85, 112, 229
Nilus von Ankyra:
76, 283161
Origenes:
45, 64, 69, 70, 75, 76, 80, 81, 84, 85, 148105/106, 313
Paterius:
105, 231362
Paulus Diaconus:
76165, 105299, 231362
366
Platon:
30, 31, 39, 40, 43, 44, 83, 110, 312, 313
(Julianus) Pomerius:
97–100, 110
Richard von St. Viktor:
74, 106, 107323, 180207, 198263, 24829
Rupert von Deutz:
105
Silvanus:
79177, 82
Thomas von Aquin:
3111, 5075, 5278, 58109, 62, 63117, 77165, 78, 93, 97, 103, 106, 107, 109326, 110, 111, 112, 113–117, 12520, 12936, 134, 135, 136, 147104, 161148/151, 162152, 166166, 170182, 171, 180207, 182, 185, 189228/229, 190232, 195253, 196, 197, 198, 202, 210–214, 218–222, 225, 228, 229, 240, 245, 250/25136, 284164, 285, 289–290, 292–297, 301, 308–311, 320
Wilhelm von St. Thierry:
105, 108, 245, 25136
367
II Begriffs- und Sachverzeichnis Abgeschiedenheit (»abegescheidenheit«) (vgl. Freiheit)
129, 130, 14085, 151, 152, 153136, 159, 179203, 185218, 230, 325
»actio exterior« (vgl. äußeres Werk)
101, 105, 109, 116, 162152, 195, 198, 216, 218
Affektmystik (vgl. Liebe)
250, 25136, 304–305
Analogielehre
134–140, 276
»andâht« (»devotio«) negativ positiv
171184, 183213; 286
Anthropozentrik
144–145, 194, 273 bis 275, 292, 294
»apatheia« (»tranquillitas mentis«) (vgl. »gelâzenheit«)
70, 95, 151, 179
Armut
151, 152
Barmherzigkeit (als göttlicher Seinsgrund bei Eckhart)
12935, 168
»bekantnisse« (»ratio« oder im engeren Sinne »intellectus«) Eckhart Glaubenserkenntnis Lebenserkenntnis Tauler (vgl. »vernünfticheit« und »lieht«)
12935, 166166, 167169, 168, 169177 165–166, 179 199–202 25136, 252, 305
368
»bevinden« (»experire«) Eckhart Tauler
216–217; 25136, 300, 305258
»bilde« Gottebenbildlichkeit der Seele »imaginatio« »intentio«
127, 13764; 13037, 165; 160148
»caritas« (vgl. »Liebe«)
86, 91, 92, 105, 108
»creatio«, »creatio continua«
132, 133, 137, 147, 173, 174, 246, 272, 278
»compassio fraterna«
105–107
»contemptus mundi«
153125, 159, 257, 272
Dualismus: in der Frömmigkeit: anthropologischer Dualismus: in der Weltbetrachtung: Dynamik:
»eigenschaft« (bei Eckhart): »einunge« (bei Eckhart): (vgl. »unio mystica«) »erbe« (bei Tauler): Christus: Mensch als Miterbe Christi: Heilserbe des Menschen:
208, 227–229, 230, 304; 254–257; 272–274 54, 55, 136–140, 141 bis 145, 157–164, 170– 173, 177, 181 bis 182, 189–190, 199, 201– 207, 210–211, 215, 217, 218, 222, 223, 231 129, 155, 156137 12936, 154, 183, 215
262; 261, 263, 26695, 269, 293, 306; 276, 278
369
Erkenntnis: (vgl. »bekantnisse«)
52–56
Ewigkeit: Ewigkeit und Zeit bei Eckhart: Umkreis der Ewigkeit:
86; 132–134, 138;
Freiheit (»ledikeit«, »frîheit«): (vgl. Abgeschiedenheit)
12936, 132, 152, 155, 156137, 159, 160, 167, 180, 204–206, 215–216, 244, 274, 275, 287– 289, 298, 299 244, 255, 301
Friede: (»fride« – »unfride« bei Tauler) Fruchtbarkeit: (»vruhtbaerkeit«): biblisch: allgemein: Unfruchtbarkeit der Kontemplation – Fruchtbarkeit der Aktion: Fruchtbarkeit der Kontemplation: Gebet: Gebet und Kontemplation: inneres – äußeres Gebet: wahres Gebet: weiseloses Gebet: Gebet und Arbeit:
186, 187220, 204, 205
62–64; 110 bis 111, 153–157, 184, 192, 199, 221 bis 222, 243, 288–290, 300–303; 42, 90, 96, 101, 105;
40, 51, 109 56–59, 78, 244, 283–290; 55, 284; 286–289; 287, 289; 288; 94, 112, 295, 297, 299, 303, 304
370
»gebruchen« (ruhen, genießen bei Tauler): bei Gott: beim Menschen: »gebruchlicheit« – » wúrklicheit«:
302; 24625, 288, 302; 289, 322
»gelâzenheit«: (vgl. »apatheia«)
151, 179203
Gemüt (»gemüete«, »mens«): synonym mit Seelengrund: mit Innerlichkeit:
161149, 251, 283; 284; 286 bis 288
Glaube:
55, 166
»glîcheit« (»similitudo«):
12732, 179201
Gnade (»gratia adoptionis«): Gnade und Natur: Berufsgnade:
24, 12936, 147104, 24624/25, 247, 266, 285, 306; 158; 295
Gott: »got« und »gotheit« bei Eckhart:
124–128, 302, 24624; 126
Gottesgeburt: 132 ff., 146–147, 156137; 305–306; bei Tauler: Gottesgeburt und Kontemp- 240 bis 241 lation: (vgl. »incarnatio continua«) Grund (der Seele): Grund Gottes:
127, 156, 24625, 251, 252, 258–260; 275; 26384
»gruntlôsekeit«: Gottes (bei Eckhart):
12935, 169176
Heiligkeit:
160
371
Hoffnung:
55, 58, 87, 166–167
Identität und Differenz (des christlichen Gebens):
51, 54, 55, 65 bis 66, 183–186, 188, 199, 214– 227
»incarnatio continua«: (vgl. Gottesgeburt)
130, 132 bis 134, 139, 146, 147, 154132, 174, 246, 278
Innerlichkeit: »innerlicheit«: »inwendicheit«: »innicheit«: »innerkeit«: Innerlichkeit und Frömmigkeit: Innerlichkeit und Kontemplation: Innerlichkeit und Tat: Innerlichkeit und Äußerlichkeit: innerer und äußerer Mensch:
160148; 161152, 183; 162157, 171184; 183213; 286;
»inquantum« (»als verre«): (vgl. Analogielehre)
134, 139, 140, 142
»irascibilis« (»ûfkriegendiu kraft«):
143, 166
»iustitia/iustus« (Rechtfertigung):
140, 141, 157–158
»juncvröuwelicheit«: (vgl. Freiheit)
152, 154130, 155, 156137
Kontemplation (»theoria«): »theoria praktike«: »theoria physike«: »contemplatio inchoata«:
34, 36, 39, 50–51; 71, 106, 112; 106, 108; 73 bis 75;
324; 301–303; 217 bis 218, 275, 282, 289, 301–303; 247, 254–257, 272–274
372
Eckhart und die Kontemplationslehre: Kontemplation und Gottesgeburt: Tauler und die Kontemplationslehre: (abe-)»ker« (bei Tauler):
153, 154, 183–186, 190, 195–196; 240–241; 282–286 247, 255
Kirche:
87–88, 93, 250, 266–270, 277–281
Kreuz:
265, 277
Kreatur: Loslösung von der Kreatur: Zuordnung der Kreatur zum Menschen: Kreatur als Weg zu Gott: Mittelfunktion der Kreatur:
128, 146; 13037, 131, 167169, 271116, 272, 274, 277; 144–145, 147, 274–275, 294;
Leben (bei Eckhart):
14496, 149, 169177, 199 ff.
Leib Christi:
65, 66, 268–270, 280, 296
Leib und Seele:
129, 256–257
Liebe (auch »minne«):
52–56, 91, 108, 129, 167–169, 170–174, 250, 300; 92, 105, 115, 308–309;
Gottesliebe und Nächstenliebe: Universalismus: »lieht« (der Erkenntnis): natürliche Erkenntnis: übernatürliche Erkenntnis (»êwic lieht«, »lieht des glouben«): Mittelbarkeit – Unmittelbarkeit: (vgl. Transparenz)
173, 180, 272–275; 205 bis 207, 276, 277
173–176, 306–307 165160, 166; 165, 166, 186220, 199
131, 180, 205–207
373
Menschwerdung Christi:
24, 130, 133, 147, 174–175, 264–265, 306
Monismus:
123, 124, 139
Muße (»otium«):
37, 94, 105, 109, 195–198, 228, 323
Mystik und Spiritualität: (vgl. »unio mystica«)
23–25, 123 bis 124, 153–154, 238
Nachfolge Christi:
265, 269
Natur: göttliche menschliche
14083, 130, 131, 175
negative Theologie: (Unzugänglichkeit Gottes, Weiselosigkit des Gottfindens)
124–132, 1427, 139–240
Nichts: von Gott: von der Kreatur von Gottesgrund und Seelengrund:
126; 128, 131; 259–260
»optima pars« (Lk 10, 42):
45, 76, 112, 209, 210, 212, 228, 231
»perfectiones spirituales«:
139–141, 157
»praxis«: Tätigkeit in der Schrift:
32, 43, 74; 55–65
»puritas cordis« (»reinicheit des herzen«):
151, 179203, 285
Quietismus:
195–198
Sakramente:
264, 267–268
374
»scintilla animae« (Seelenfunke, Seelengrund usw.): (vgl. Grund)
127, 128, 140 bis 145, 151, 183213, 241, 258– 260
Seelenstruktur und Lebensformen:
30–32
Sorge:
46, 51, 60, 298, 329
Spiegelontologie:
137, 142, 144, 145, 154
»spiritualia« (Predigt und Lehre) – »corporalia« (Sozialfürsorge):
212, 214
»suavitas« (»süezicheit«) – »necessitas«:
89–92, 95, 102, 171184, 172, 184, 196, 209, 212, 240
»sweben«: (vgl. Analogielehre)
137, 139, 153127
Transparenz:
25, 144, 147 172, 176, 180, 205–207, 217
Transzendenz und Immanenz:
44, 84, 92–96, 104, 115, 176, 178, 190, 200, 202–203, 208, 223–224, 233, 322 126, 143, 260–263
Trinität
148106, 149, 150;
Tugend (»perfectio spiritualis;« bei Eckhart): göttliche Tugend:
166–167
»unio mystica«: als inneres Gebet: als Erleiden: Erspüren der »unio«: affektiv oder intellektiv:
190, 215, 246, 247, 250, 258, 259, 282, 285; 287–288; 299; 216, 217, 300; 25036, 304–305
375
»unum necessarium« (Lk 10,42):
76, 90, 185, 284168
»uzwendicheit:« (vgl. Innerlichkeit)
153125, 161152
»via purgativa«: »illuminativa«, »unitiva«:
151, 249; 249
»visio beatifica«:
90, 97, 104, 116, 117, 190
»vita«: »activa« und »contemplativa« siehe Inhaltsverzeichnis; »actualis«: »mixta«:
90, 97, 101, 104;
Vollkommenheit:
167169, 176–182
Weise (»wîse«):
13140, 14287, 152, 153, 164157, 230359, 244, 298229
44, 76165, 93–96, 101–106, 109, 112, 114, 242
Weiselosigkeit: Erkenntnis Gebet
124–132, 169, 170, 179 240, 244, 288
Welt:
59–60, 271–277
Werk, Wirken, Wirksamkeit, Tätigkeit: »guotes werc«: Sinn des Werkes: »inwendiges – uzwendiges werc«: als Werk der Liebe: als Beruf: Wirkeinheit mit Gott: losgelöstes Wirken: Mitwirken mit Gott: Wirken ohne Warum: »gewerbe«:
148106, 155; 160; 161152, 183, 218–223, 256, 296224–304, 308281, 325; 170–173; 296; 173–174, 181 bis 182, 192; 325; 161; 164; 155, 202–207;
376
»wesenliches werc«: Frucht des Werkes: »wercmeister« = Innerlichkeit: »wúrken – schouwen«: »wúrken – lîden«:
207 bis 208; 218, 232–233; 302; 274129, 284168, 310, 324331; 244
»wesen« (esse):
14496, 149109, 152, 160148, 169177
»wesenlich sîn«:
152, 160, 188, 207 bis 208, 226, 247, 257
Wille:
12518, 166166;
»inwendiger«: Willenseinheit: »gotformiger«:
167; 170 f., 181; 195250
Zeit (vgl. Ewigkeit); in der Frömmigkeit:
248, 249
Zeugnis:
63–64
377
Anhang
Meister Eckharts Predigt 86 über Maria und Martha »Intravit Iesus in quoddam castellum«
Intravit Iesus in quoddam castellum etc.
Intravit Iesus in quoddam castellum etc.
[1] Sant Lukas schrîbet in dem êwangeliô, daz unser herre Jêsus Kristus gienc in ein kleinez stetlîn; dâ enpfienc in ein vrouwe, hiez Marthâ; diu hâte eine swester, hiez Marîâ; diu saz ze den vüezen unsers herren und hôrte sîniu wort; aber Marthâ gienc umbe und dienete dem lieben Kristô.
[1] Sankt Lukas schreibt im Evangelium, daß unser Herr Jesus Christus in ein kleines Städtlein ging. Dort empfing ihn eine Frau, die Martha hieß. Diese hatte eine Schwester namens Maria: sie saß zu den Füßen unsres Herrn und hörte seine Worte. Martha aber ging umher und diente dem geliebten Christus.
[2] Driu dinc tâten Marîen sitzen bî den vüezen Kristî. Daz eine was, daz diu güete gotes umbegriffen hâte ir sêle. Daz ander was unsprechelîchiu begirde: si begerte, si enwiste wes, und wolte, si enwiste waz. Daz dritte was süezer trôst und lust, den si schepfete ûz den êwigen worten, diu dâ runnen durch den munt Kristî.
[2] Drei Gründe ließen Maria zu den Füßen Christi sitzen. Der erste war, daß die Güte Gottes ihre Seele umgriffen hatte. Der zweite war eine unaussprechliche Sehnsucht: sie sehnte sich, sie wußte nicht wonach, und wollte, sie wußte nicht was. Der dritte war ein süßer Trost und Lust, die sie aus den zeitlosen Worten schöpfte, die da rannen durch Christi Mund.
379
[3] Marthen zugen ouch driu dinc, diu sie tâten umbegân und dienen dem lieben Kristô. Daz eine was ein hêrlich alter und ein wol geüebeter grunt ûf daz allernæhste; dâ von dûhte sie, daz niemanne daz werk als wol ze tuonne wære als ir. Daz ander was ein wîsiu | verstantnisse, diu daz ûzer werk wol gerihten kunde in daz allernæhste, daz minne gebiutet. Daz dritte was grôziu wirdicheit des lieben gastes. [4] Die meister sprechent, daz got einem ieglîchen menschen bereit sî nâch redelîcher genüegede und nâch sinnelîcher ûf daz hœhste, des er begert. Daz unsgot genuoc sî nâch redelicheit und daz er uns ouch genuoc sî nâch sinnelicheit, daz hât underscheit an den lieben vriunden gotes. Genuoc sîn nâch sinnelicheit, daz ist, daz uns got gibet trôst, lust und genüegede; und hie inne verwenet sîn, daz gât abe den lieben vriunden gotes nâch den nidern sinnen. Aber redelîchiu genüegede, daz ist nâch dem geiste. Ich spriche dem redelîche genüegede, daz von allem luste daz oberste wipfelîn der sêle niht enwirt geneiget her abe, daz ez niht ertrinke in dem luste, ez enstande gewalticlîche ûf im. Danne ist er in redelîcher genüegede, sô liep und leit der crêatûre daz oberste wipfelîn niht geneigen enmac her abe.
[3] Martha trieben auch drei Gründe, die sie umhergehen und dem geliebten Christus dienen ließen. Der erste war ihr überlegenes Alter und ein bis zum Allerhöchsten gut geübter (Seelen-) Grund: deshalb dachte sie, niemanden stünde der Dienst so gut an wie ihr. Das zweite waren Vernunft und Weisheit, die das äußere Werk gut auf das Allerhöchste ausrichten konnten, das die Liebe gebietet. Der dritte war die große Würde des lieben Gastes. [4] Die Meister sagen, daß Gott für jeden Menschen bereit sei, für sein geistiges und sinnliches Genügen bis zum Höchsten, das er begehrt. Daß uns Gott in geistiger Hinsicht genug sei und daß er uns auch in sinnlicher Hinsicht genug sei, das zeigt einen Unterschied an den lieben Freunden Gottes. Genügen in sinnlicher Hinsicht heißt, daß uns Gott Trost, Lust und Erfüllung gibt; und darin verwöhnt zu sein, das lenkt die lieben Freunde Gottes von den niederen Sinnen (= Bedürfnissen) ab. Aber geistige Erfüllung, die richtet sich nach dem Geist. Ich nenne das geistige Erfüllung, wenn der oberste Wipfel der Seele nicht abwärts geneigt wird von aller Beseligung, so daß er in dieser Lust nicht ertrinkt, sondern machtvoll darüber steht. Dann ist die Beseligung eine geistige Erfüllung, wenn Liebe und Leid des Ge-
380
»Crêatûre« heize ich allez, daz man en- schöpfes den obersten Wipfel nicht abpfindet und sihet under got. wärts neigen können. “Geschöpf” (aber) nenne ich alles, was man unterhalb Gottes sieht und empfindet. [5] Nû sprichet Marthâ: »herre, heiz, daz si mir helfe«. Diz ensprach Marthâ niht von hazze, mêr: si sprach ez von einem minnegunste, von dem wart si betwungen. Wir suln im sprechen einen minnegunst oder einen minneschimpf. Als wie? Daz merket! Si sach, daz Marîâ umbegriffen was mit luste nâch aller irsêle genüegede.
[5] Nun sagt Martha: »Herr, heiß sie, mir zu helfen!« Martha sagte dies nicht aus Mißgunst, sondern sie sprach es aus der Liebesgunst, von der sie bezwungen war. Wir sollten es eine Liebesgunst oder einen liebevollen Tadel nennen. Wieso? Gebt acht! Sie sah, daß Maria mit Beseligung zur Erfüllung ihrer ganzen Seele umfaßt war.
381
[6] Marthâ bekante baz Marîen dan Marîâ Marthen, wan si lange und wol gelebet hâte; wan leben gibet daz edelste bekennen. Leben bekennet baz dan lust oder lieht allez, daz man in disem lîbe under gote enpfâhen mac, und etlîche wîsbekennet leben lûterer, dan êwic lieht ge | geben müge. Êwic lieht gibet ze erkennenne sich selber únd got, aber niht sich selber âne got; aber leben gibet ze erkennenne sich selber âne got. Dâ ez sich selber aleine sihet, dâ merket ez baz daz, waz glîch oder unglîch ist. Daz bewîset sant Paulus und ouch die heidenischen meister. Sant Paulus sach in sînem zucke got únd sich selber nâch geistes wîse in gote, und enwas doch niht bildelîche wîs in im eine ieglîche tugent erkennende an daz næhste; und daz was dâ von, daz er sie an werken niht geüebet enhâte. Die meister kâmen mit üebunge der tugende in sô hôch bekanntnisse, daz sie eine ieglîche tugent bildelîche nâher bekanten dan Paulus oder dehein heilige in sînem êrsten zucke.
[6] Nun kannte aber Martha Maria besser als (umgekehrt) Maria Martha, denn sie hatte lange und recht gelebt; denn das Leben gibt das edelste Erkennen. Leben erkennt besser als Lust oder Licht. Alles, was man in diesem Leibe, abgesehen von Gott, erfahren kann, das gibt das Leben alles recht, und in mancher Weise gibt das Leben ein klareres Erkennen, als es das Licht der Ewigkeit geben kann. Das Licht der Ewigkeit läßt immer sich selbst und Gott erkennen, aber nicht sich selbst ohne Gott; das Leben jedoch läßt sich selbst ohne Gott erkennen. Wenn es sich selbst alleine sieht, merkt es besser, was gleich oder ungleich ist. Das beweisen Sankt Paulus und auch die heidnischen Meister: Sankt Paulus sah in seiner Verzückung Gott und sich selbst in geistiger Weise in Gott, und doch erkannte er nicht auf anschauliche Weise in ihm jede Tugend mit größter Genauigkeit; und das kam davon, daß er sie nicht in Werken geübt hatte. Die (heidnischen) Meister erreichten mit der Tugendübung eine so hohe Erkenntnis, daß sie eine jede Tugend anschaulicher und genauer erkannten als Paulus oder irgendein Heiliger in seiner ersten Verzückung.
382
[7] Alsô stuont ouch Marthâ. Dâ von sprach si: »herre, heiz, daz si mir helfe«, als ob si spræche: »mîne swester dunket, si vermüge, swaz si welle, die wîle si bî dir in dem trôste sitzet. Nû lâz sie schouwen, ob ez alsô sî, und heiz sie ûfstân und von dir gân«. Daz ander was ein lieplich minnen, wan daz si ez spræche ûz dem sinne. Marîâ was sô vol girde: si gerte, si enwiste wes, und wolte, si enwiste waz. Wir hân sie arcwænic, die lieben Marîen, si sæze etwenne mê durch lust dan durch redelîchen nutz. Dâ von sprach Marthâ. »herre, heiz sie ûfstân«, wan si vorhte, daz si blibe in dem luste und niht vürbaz enkæme.
[7] So stand auch Martha da. Deshalb sprach sie: »Herr, heiß sie, mir zu helfen!« – als hätte sie sagen wollen: “meine Schwester meint, sie könne, was sie wolle, während sie bei dir getröstet sitzt. Nun (also): laß sie sehen, ob es so ist, und gebiete ihr, aufzustehen und von dir zu gehen.” Ferner war es zärtliche Liebe, es sei denn, sie hätte es sinnlos gesagt. Maria war so voll Sehnsucht: sie sehnte sich, sie wußte nicht wonach, sie wollte, sie wußte nicht was. Wir haben sie im Verdacht, die liebe Maria, sie säße mehr um des Lustgewinns als um des geistigen Gewinnes willen da. Deshalb, sprach Martha: »Herr, heiße sie aufstehn!« denn sie befürchtete, daß sie in der Lust verharre und nicht weiter käme.
[8] Dô antwurte ir Kristus und sprach: »Marthâ, Marthâ, dû bist sorcsam, dû wirst betrüebet umbe vil. Des einen ist nôt. Marîâ hât den besten teil erwelt, der ir niemer enmac benomen werden«. Diz wort ensprach Kristus niht ze Marthen in einer strâfenden wîse, mêr: er antwurte ir und gap ir trôst, daz Marîâ werden sölte als si begerte.
[8] Da antwortete ihr Christus und sprach: »Martha, Martha, du bist besorgt und bekümmert um vieles. Davon ist eines notwendig. Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nicht mehr genommen werden kann.« Dieses Wort sprach Christus nicht zu Martha, um sie zu tadeln, sondern mit seiner Antwort tröstete er sie, daß Maria so werden würde, wie sie es begehrte.
383
[9] Warumbe sprach Kristus: »Marthâ, Marthâ« und nante sie zwirunt? Isidôrus sprichet: ez ist âne zwîvel, daz got vor der zît, daz er mensche wart und nâch der zît, daz er mensche wart, nie mensche genante mit namen, daz ir dehein ie verlorn würde. Die er niht ennante mit namen, umbe die stât ez in zwîvel. »NennenKristî« heize ich sîn êwigez wizzen, unbetrogenlîche stân êwiclîche vor geschepfede aller crêatûren in dem lebenden buoche »vater-sun-und-heilic-geist«. Swaz dar inne genennet was und Kristus den namen mit worten her ûz sprach, der menschen enwart keinez nie verlorn. Daz bewîset Moyses, ze dem got selber sprach: »ich hân dich mit namen erkant«, und Nathanaêl, ze dem der liebe Kristus sprach: »ich bekante dich, dô dû læge under den bletern des vîcboumes«. Der vîcboum bezeichent got, in dem sîn name êwiclîche geschriben was. Und alsô ist bewîset, wie der menschen keiner noch niemer enwart noch enwirt verlorn, den der liebe Kristus durch menschlichen munt ûz dem êwigen worte ie genante.
[9] Warum sagte Christus »Martha, Martha« und nannte ihren Namen zweimal? Isidor sagt: zweifellos rief Gott, bevor und nachdem er Mensch wurde, nie Menschen mit ihrem Namen an, von denen auch nur einer verloren gegangen wäre. Es steht zweifelhaft um die, die er nicht mit Namen angerufen hat. “Anrufen-Christi”, das nenne ich sein ewiges Wissen, untrüglich vor Erschaffung der Welt im lebendigen Buche “Vater, Sohn und heiliger Geist” (verzeichnet) zu stehen. Was darin verzeichnet ist und von den Menschen, deren Namen Christus selbst wörtlich aussprach, ging keiner je verloren. Das bezeugt Moses, zu dem Gott selbst sagte: »Ich habe dich mit Namen erkannt« (Ex. 33, 12), und Nathanael, zu dem der liebe Christus sprach: »Ich erkannte dich, als du unter den Blättern des Feigenbaumes lagst« (Ioh. 1, 48). Der Feigenbaum bezeichnet Gott, in dem sein Name von Ewigkeit her eingeschrieben war. Und so ist erwiesen, daß keiner von den Menschen je verloren wurde oder wird, den der liebe Christus durch seinen menschlichen Mund aus dem ewigen Wort heraus anrief.
384
[10] Wâ von nante er Marthen zwirunt? Er meinte, allez, daz zîtlîches und êwiges guotes wære und daz crêatûre besitzen sölte, daz daz Marthâ zemâle hâte. An dem êrsten, dô er sprach Marthâ, dô bewîsete er ir volkomenheit zîtlîcher werke. Ze dem andern | mâle, dô er sprach Marthâ, dô bewîsete er, allez, daz dâ hœret ze êwiger sælde, daz ir des niht enbræste. Dâ von sprach er: »dû bist sorcsam«, und meinte: dû stâst bî den dingen, und diu dinc enstânt niht in dir; und die stânt mit sorgen, die âne hindernisse stânt in allem irm gewerbe. Die stânt âne hindernisse, die alliu iriu werk rihtent ordenlîche nâch dem bilde des êwigen liehtes; und die liute stânt bî den dingen und niht ín den dingen. Sie stânt vil nâhe und enhânt es niht minner, dan ob sie stüenden dort oben an dem umberinge der êwicheit.
[10] Warum aber nannte er Martha zweimal? Er meinte damit, daß Martha alles, was es an zeitlichem und ewigem Gut gibt und ein Geschöpf besitzen soll, vollends besaß. Beim ersten Mal, als er »Martha« sagte, da bezeugte er ihre Vollkommenheit in zeitlichen Werken. Beim zweiten Mal, als er »Martha« sagte, da bezeugte er, daß ihr nichts von all dem fehlte, was zur ewigen Seligkeit gehört. In diesem Sinn sagte er »du bist besorgt« und meinte damit: “du stehst bei den Dingen, aber die Dinge besetzen dich nicht, und diejenigen sorgen sich recht, die in all ihrem Gewerbe unbehindert bleiben.” Diejenigen stehen unbehindert, die alle ihre Werke genau nach dem Vorbild des ewigen Lichtes ausrichten; und diese Leute stehen bei den Dingen und nicht in den Dingen. Sie stehen ganz nahe (bei der Wirklichkeit) und haben doch deswegen nicht weniger, als wenn sie dort oben am Umkreis der Ewigkeit stünden.
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[11] »Vil nâhe«, spriche ich, wan alle crêatûren die mittelnt. Mittel ist zwîvalt. Einez ist, âne daz ich in got niht komen enmac: daz ist werk und gewerbe in der zît, und daz enminnert niht êwige sælde. Werk ist, sô man sich üebet von ûzen an werken der tugende; aber gewerbe ist, sô man sich mit redelîcher bescheidenheit üebet von innen. Daz ander mittel daz ist: blôz sîn des selben. Wan da umbe sîn wir gesetzet in die zît, daz wir von zîtlîchem vernünftigen gewerbe gote næher und glîcher werden. Daz meinte ouch sant P a u l u s , dô er sprach: »lœset die zît, die tage sint übel«. »Die zît loesen« ist, daz man âne underlâz mit vernünfticheit ûfgâ in got, niht nâch bildelîcher underscheidenheit, mêr: mit vernünftiger lebelîcher wârheit. Und dâ »sint die tage übel«, daz verstât alsô: tac bewîset naht. Enwære kein naht, sô enwære und hieze ez ouch niht tac, wan ez wære allez éin lieht; und daz meinte Paulus, wan ein liehtez leben ist alze kleine, bî dem noch iht vinsternisse gesîn mac, daz einen hêrlîchen geist bewîlet und beschatewet êwiger sælde. Daz meinte ouch Kristus, dô er sprach: | »gât, die wîle ir daz lieht hât«; wan, swer dâ würket in dem liehte, der gât ûf in got, vrî und blôz alles mittels: sîn lieht ist sîn gewerbe, und sîn gewerbe ist sîn lieht.
[11] “Ganz nahe”, sage ich, denn alle Geschöpfe “vermitteln”. Es gibt zweierlei “Mittel”. Das eine, ohne das ich nicht zu Gott kommen kann, das ist das Werk und das Gewerbe in der Zeit, und das vermindert die ewige Seligkeit nicht. “Werk” bedeutet, daß man sich äußerlich in Werken der Tugenden übt; aber “Gewerbe” bedeutet, daß man sich im Geist und Vernunft von innen her übt. Das zweite (Mittel) ist: sich davon unbeeinflußt zu halten. Denn darum sind wir in die Zeit gestellt, daß wir durch vernunfterhelltes Wirken in der Zeit Gott näher kommen und (ihm) ähnlicher werden. Das meinte auch Sankt Paulus, als er sprach: »Erkauft die Zeit, die Tage sind übel!« (Eph. 5, 16). »Die Zeit erkaufen« bedeutet, daß man ohne Unterbrechung mit der Vernunft in Gott aufsteige, nicht nach unterschiedlichen Vorstellungen, sondern in vernunftgemäßer, lebensvoller Wahrheit. Und »die Tage sind übel«, das versteht (sich) folgendermaßen: der Tag verweist auf die Nacht. Gäbe es keine Nacht, so gäbe es keinen Tag und keine Rede von ihm, denn alles wäre ein Licht; und das meinte Paulus, denn ein lichtvolles Leben wäre allzu gering, bei dem es noch irgendeine dunkle Stelle geben könnte, die einem Geist voll Leuchtkraft die ewige Seligkeit verschleiert und verschattet. Das meinte auch Christus, als er sagte: »Gehet voran, solange ihr das Licht habt« (Ioh. 12, 35). Denn, wer da wirkt im Licht, der steigt zu Gott hinauf, frei und ledig von allem Mittel: sein Licht ist sein Gewerbe, und sein Gewerbe ist sein Licht.
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[12] Alsô stuont diu liebe Marthâ. Dâ von sprach er ze ir: »des einen ist nôt«, niht zwei. Ich und dû, einstunt umbevangen mit êwigem liehte, ist einez, und zweieinez ist ein brinnender geist, der dâ stât ob allen dingen und under gote an dem umberinge der êwicheit. Der ist zwei, wan er âne mittel got niht ensihet. Sîn bekennen und sîn wesen oder sîn bekennen und ouch des bekantnisses bilde diu enwerdent niemer ein. Sie ensehent got, wan, dâ wirt got geistic gesehen, vrî von allen bilden. Einez wirt zwei, zwei ist ein; lieht und geist, diu zwei ist éin in dem umbevange êwiges liehtes.
[12] So stand die liebe Martha da. Daher sprach er zu ihr: »Des Einen ist not«, nicht zweierlei. Ich und du, einmal umfangen vom ewigen Licht, das ist Eines und Zwei. Eines ist ein brennender Geist, der über allen Dingen steht und unter Gott am “Umkreis der Ewigkeit” weilt. Der ist (zugleich) Zwei, weil er ohne Mittel Gott nicht sieht. Sein Erkennen und sein Sein oder sein Erkennen und auch seine Vorstellung davon, die werden niemals zu Einem. Sie sehen Gott nicht, es sei denn dort, wo er geistig, das heißt frei von allen Vorstellungen, gesehen wird. Eines wird Zwei, Zwei ist Eins; Licht und Geist, die beiden sind Eins, umfangen vom Licht der Ewigkeit.
[13] Nû merke, waz umberinc sî der êwicheit. Diu sêle hât drî wege in got. Der eine ist: mit manicvaltigem gewerbe, mit brinnender minne in allen crêatûren got suochen. Daz meinte der künic S a l o m ô n , dô er sprach: »in allen dingen hân ich ruowe gesuochet«.
[13] Nun merke, was der “Umkreis der Ewigkeit” sei. Die Seele hat drei Wege zu Gott. Der erste ist: mit vielerlei Gewerbe, mit brennender Liebe in allen Geschöpfen Gott suchen. Das meinte der König Salomon, wenn er sagte: »in allen Dingen habe ich Ruhe gesucht« (Eccli. 24, 11).
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[14] Der ander wec ist wec âne wec, vrî und doch gebunden, erhaben und gezucket vil nâch über sich und alliu dinc âne willen und âne bilde, swie aleine ez doch weselîche niht enstâ. Daz meinte K r i s t u s , dô er sprach: »sælic bist dû, Pêter! Vleisch und bluot enliuhtent dir niht«, mêr: »in-die-vernunft-erhaben-sin«, in dem dû mir sprichest »got«: »mîn himelscher vater hât ez dir geoffenbâret«. Sant Pêter ensach got niht blôz; er was wol über alle geschaffene redelicheit mit des himelschen vaters kraft gerucket an den umberinc der êwicheit. Ich spriche, daz er was begriffen von dem himelschen vater in | einem lieplîchen umbevange mit stürmiger kraft, unwizzende in einem ûfkapfenden geiste, der entzücket ist über alle redelicheit in des himelschen vaters vermügenheit. Dâ wart sant Pêtrô îngesprochen von obenân nider mit einem süezen geschaffenen dône, blôz doch alles lîplîchen gebrûchennes, in einvaltiger wârheit gotes und menschen einicheit in der persône des himelschen vater-sunes. Ich spriche getürsticlîche: hæte sant Pêter got âne mittel gesehen in natûre, als er dar nâch tete und als Paulus, dô er in den dritten himel gezucket wart, im wære des obersten engels gespræche alze grop gewesen. Sus sprach er manicvaltigiu lieplîchiu wort, der der liebe Jêsus niht enhæte bedorft, wan er sihet in herzen und in geistes grunt, dâ
[14] Der zweite Weg ist ein wegloser Weg, frei und doch gebunden, hoch über sich selbst und alle Dinge ohne Willen und ohne Vorstellung entrückt und erhaben, wenn dies auch noch keinen wesentlichen Bestand hat. Den Weg meinte Christus, als er sprach: »Selig bist du, Peter! Fleisch und Blut erleuchten dich nicht, sondern es ist ein Erhobensein in die Vernunft, in dem du zu mir (Gott) sagst: mein himmlischer Vater hat es dir geoffenbart« (Matth. 16, 17). Sankt Peter sah Gott nicht unverhüllt; er war wohl über alle geschaffene Einsicht durch des himmlischen Vaters Kraft an den “Umkreis der Ewigkeit” gestoßen. Ich sage: er wurde vom himmlischen Vater mit stürmischer Kraft in liebevoller Umarmung umfangen; ohne es zu wissen, schaute er im Geiste, der über alle Einsicht in die Macht des himmlischen Vaters entrückt ist. Dort wurde (das Wort) Sankt Peter von oben eingegeben, (und kam) herab mit einem süßen irdischen Ton, doch frei von allem leiblichen Genießen, in der einfaltigen Wahrheit der Einheit Gottes und des Menschen in der Person des Sohnes des himmlischen Vaters. Ich sage ungescheut: hätte Sankt Peter Gott ohne Mittel in seiner Natur geschaut, wie er es später tat und wie Paulus, als er in den dritten Himmel entrückt wurde, ihm
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er âne allez mittel stât vor gote in vrîheit wârer iresheit. Daz meinte sant Paul, dô er sprach: »ez wart ein mensche gezucket in got und hôrte heimlîchiu wort, diu unsprechelich sint allen menschen«. Dâ bî verstât, daz sant Pêter stuont an dem umberinge der êwicheit und niht in einicheit got sehende in sînesheit.
wäre (selbst) des obersten Engels Sprache zu grob gewesen. So aber sprach er vielerlei lieblich klingende Worte, deren der liebe Jesus gar nicht bedurft hätte, denn er sieht in die Herzen und in des Geistes Grund, dort wo er ohne Mittel vor Gott in der Freiheit ihrer wahren Gemeinschaft steht. Das meinte (auch) Sankt Paulus, als er sagte: »Ein Mensch wurde in Gott verzückt und hörte geheimnisvolle Worte, die für alle Menschen unaussprechlich sind« (II Cor. 12, 3f.). Darunter versteht, daß Sankt Peter am “Umkreis der Ewigkeit” stand und nicht in der Einheit Gott in sich sah.
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[15] Der dritte wec heizet wec und ist doch heime, daz ist: got sehen âne mittel in sînesheit. Nû sprichet der liebe K r i s t u s : »ich bin der wec und diu wârheit und daz leben«, ein Kristus ein persône, ein Kristus ein vater, ein Kristus ein geist, driu ein, driu »wec, wârheit und leben«, ein der liebe Kristus, in dem ez allez ist. Ûzerhalp disem wege um | beringent und vermittelnt alle crêatûren. In got in disem wege geleitet mit sînes wortes liehte und umbevangen mit ir beider geistes minne: daz ist über allez, daz man geworten mac. Nû lose wunder! Welch wunderlich stân ûze und innen, begrîfen und umbegriffen werden, sehen und sîn diu gesiht, enthalten und enthalten werden: daz ist daz ende, dâ der geist blîbet mit ruowe in einicheit der lieben êwicheit.
[15] Der dritte Weg heißt “weg von hier” und ist doch daheim, das bedeutet: Gott ohne Mittel in seiner Selbstheit zu sehen. Nun spricht der liebe Christus: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Ioh. 14, 6), im einen Christus die eine Person, in einem Christus der eine Vater, in einem Christus der eine Geist, drei als eins, drei “Weg, Wahrheit und Leben”, eins der liebe Christus, in dem dies alles ist. Außerhalb dieses Weges gilt die Umkreisung und Vermittlung durch alles Geschaffene. In Gott, d. h. innerhalb dieses Weges, geleitet vom Lichte seines Wortes (= Christus) und vom Geist ihrer beider Liebe umfangen: das geht über alles, was man in Worten ausdrücken kann. Lausche nun auf das Wunderbare! Welch wunderbares Stehen draußen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und das Geschaute selbst sein, es in sich haben und zugleich hinein gehalten werden: das ist die Vollendung, wo der Geist voll Ruhe in der Einheit der lieben Ewigkeit (für immer) bleibt.
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[16] Nû kêren wider ze unser rede, wie diu liebe Marthâ und mit ir alle gotes vriunde stânt mít der sorge, niht ín der sorge, und dâ ist daz zîtlich werk als edel als dehein vüegen in got; wan ez vüeget als nâhe als daz oberste, daz uns werden mac, âne aleine got sehen in blôzer natûre. Dâ von sprichet er: »dû stâst bî den dingen und bî der sorge« und meinet, daz si was wol mit den nidern sinnen betrüebet und bekümbert, wan si niht alsô verwenet stuont in geistes süeze. Si stuont bî den dingen, niht in den dingen; si stuont sunder und ez sunder.
[16] Nun kehren wir wieder zu unserer Aussage zurück, wie die liebe Martha und mit ihr alle Freunde Gottes mit Sorge, aber nicht in Sorge dastanden, und dort (in diesem Zustand) ist das zeitliche Werk ebenso edel wie irgendein Aufstieg in Gott, denn es läßt uns so hoch aufsteigen wie das Höchste, das uns zuteil werden kann, ausgenommen allein die Schau Gottes in (seiner) reinen Natur. Deshalb sagt er (Christus): »Du stehst bei den Dingen und bei der Sorge«, und er meint damit, daß sie wohl mit ihren niederen Sinnen betrübt und bekümmert war, weil sie nicht ebenso verzärtelt in geistigem Wohlgefühl stand (wie ihre Schwester Maria). Sie stand bei den Dingen, nicht in den Dingen, sie stand (von ihnen) abgesondert, und sie (= die Dinge) standen von ihr gesondert.
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[17] Driu dinc suln wir haben in unsern werken. Daz ist, daz man würke ordenlîche und redelîche und wizzentlîche. Dem spriche ich ordenlîche, daz in allen orten antwürtet dem næhsten. Sô spriche ich dem redelîche, daz man in dér zît niht bezzers enbekenne. Sô spriche ich dem wizzentlîche, daz man bevinde lebelîcher wârheit mit lustiger gegenwürticheit in guoten werken. Swâ disiu driu dinc sint, diu vüegent als nâhe und sint als nütze als aller der lust Marîen Magdalênen in der wüeste.
[17] Drei Merkmale sollen wir in unseren Werken beachten. Diese sind: daß man nach der Ordnung, – nach der Einsicht und nach der Weisheit wirke. Dem spreche ich “Ordnung” zu, das in jeder Hinsicht dem Höchsten entspricht. Ebenso spreche ich dem Einsicht zu, über das hinaus man zur Zeit nichts Besseres kennt. Ebenso spreche ich dem Weisheit zu, worin man die lebendige Wahrheit mit ihrer beglückenden Gegenwart in den guten Werken erspürt. Wo diese drei Merkmale vorhanden sind, da lassen sie ebenso hoch steigen und sind sie ebenso förderlich wie die ganze Wonne Maria Magdalenens in der Wüste.
[18] Nû sprichet Kristus: »dû bist betrüebet umbe vil«, niht umbe einez. Daz ist: sô si lûter einvaltic stât âne allen gewerp, hin ûf gerihtet an den umberinc der êwicheit, sô wirt si betrüebet, sô si von sache gemittelt wirt, daz si niht enmac stân mit luste dort oben. Der mensche wirt betrüebet in der sache, der dâ versinket und stât bî der sorge. Aber Marthâ stuont in hêrlîcher, wol gevestenter tugent und in einem vrîen gemüete, ungehindert von allen dingen. Dâ von begerte si, daz ir swester in daz selbe gesetzet würde, wan si sach, daz si niht weselîche stuont. Ez was ein hêrlîcher grunt, ûz dem si begerte, daz si stüende in allem dem, daz dâ gehœret ze êwiger sælde.
[18] Nun sagt Christus: »Du bist um vieles betrübt, nicht um Eines«. Das heißt: wenn sie in reiner Einfalt ohne alles Gewerbe bleibt, hinaufgezogen an den “Umkreis der Ewigkeit”, dann wird sie betrübt, wenn ein Etwas als Mittel dazwischen tritt, so daß sie nicht lustvoll dort oben verweilen kann. Der Mensch wird durch ein Etwas betrübt, der dort versinkt und (doch) bei der Sorge steht. Martha aber stand im leuchtenden Schmuck wohl gefestigter Tugend und in der Freiheit des Gemüts, das von allen Dingen unbehindert bleibt. Deshalb forderte sie, ihre Schwester solle in den gleichen Stand gesetzt werden, denn sie sah,
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Dâ von sprichet K r i s t u s : »eines ist nôt«. Waz ist daz? Daz ist daz eine, daz ist got. Daz ist nôt allen crêatûren; wan, züge got daz sîne an sich, alle crêatûren würden ze nihte. Züge got daz sîne abe der sêle Kristî, dâ ir geist geeiniget ist an die êwige persône, Kristus blibe blôze crêatûre. Dâ von bedarf man des éinen wol. Marthâ vorhte, daz ir swester behaftete in dem luste und in der süeze, und begerte, daz si würde als si. Dâ von sprach Kristus, als ob er spræche: gehap dich wol, Marthâ, »si hât den besten teil erwelt«; diz sol ir abegân. Daz næhste, daz crêatûre werden mac, daz sol ir werden: si sol sælic werden als dû.
daß diese (noch) nicht wesentlich dastand. Es war der Glanz ihres Grundes, aus dem heraus sie forderte, daß sie (Maria) in all dem gefestigt werde, das zur ewigen Seligkeit gehört. Deshalb sagt Christus: »Eines ist not«. Was ist das (Eine, das notwendig ist)? Das ist das Eine, das ist Gott! Das tut allen Geschöpfen not, denn, zöge Gott das Seine an sich, würden alle Geschöpfe zu Nichts. Zöge Gott das Seine aus der Seele Christi, wo ihr Geist mit der ewigen Person (in der Trinität) vereint ist, so bliebe Christus als bloßes Geschöpf zurück. Deshalb bedarf man dieses Einen sehr. Martha befürchtete (nun), daß ihre Schwester an Lust und Süße haften bliebe, und forderte, daß sie würde wie sie selbst. Das Wort Christi ist also als Erklärung gemeint: Tröste dich nur, Martha, »sie hat (schon) den besten Teil erwählt«, dies (ihr Mangel) wird sich verlieren. Das Höchste, das einem Geschöpf zuteil werden kann, das wird (auch) ihr zuteil werden: sie soll ebenso selig werden wie du!
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[19] Nû nemet lêre der tugende. Tugenthaft leben hât drî puncte an willen. Daz eine ist: den willen ûfgeben in got, wan daz muoz sîn, daz man daz volbringe, daz man dâ bekennet, ez sî danne abelegen oder zuonemen. Ez ist drîerleie wille. Der eine ist ein sinnelîcher wille, der ander ist ein redelîcher wille, der dritte ein êwiger wille. Der sinnelîche wille gebiutet lêre, daz man hœre wâre lêrære. Der redelîche wille daz ist, daz | man die vüeze setze in alliu diu werk Jêsû Kristî und der heiligen, daz ist: daz man glîche schicke wort, wandel und gewerp, an daz næhste geordent. Sô diz allez volbrâht wirt, sô gibet got ein anderz in der sêle grunt, daz ist: ein êwiger wille mit lieplîchem gebote des heiligen geistes. Danne sprichet diu sêle: »herre, sprich in mich, daz dîn êwiger wille sî«. Sô si alsus genuoc ist dem, als wir hie vor gesprochen hân, gevellet ez danne gote wol, sô sprichet der liebe vater sîn êwigez wort in die sêle.
[19] Nun laßt euch über die Tugenden belehren! Tugendhaftes Leben hängt an drei Kennzeichen des (guten) Willens. Das erste ist: den Willen in Gott aufgeben, denn, was man dabei einsieht, das muß man vollbringen, es sei Einschränkung oder Entfaltung. Es gibt (nämlich) dreierlei Willen. Der erste ist ein sinnlicher Wille, der zweite ein vernunfterhellter Wille, der dritte ein ewiger Wille. Der sinnliche Wille bedarf der Unterweisung, also daß man wahrhaftige Autoritäten höre. Der vernunfterhellte Wille verlangt, daß man in die Fußspuren aller Werke Christi und der Heiligen trete, das heißt, daß man Wort, Wandel und Gewerbe in gleicher Weise, auf das Höchste ausgerichtet, gestalten soll. Wenn dies alles vollbracht wird, dann senkt Gott etwas anderes in der Seele Grund, das ist ein ewiger (beständiger) Wille, (erfüllt) mit dem liebevollen Gebot des Heiligen Geistes. Dann betet die Seele: »Herr, gib mir ein, daß dein ewiger Wille geschehe«. Wenn sie also dem genügt, was wir vorher angesprochen haben, und wenn dies dann Gott wohlgefällt, dann spricht der liebe Vater sein ewiges Wort in die Seele.
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[20] Nû sprechent unser guoten liute, man sül alsô volkomen werden, daz uns kein liep bewegen müge und daz man unberüerlich sî von liebe und von leide. Sie tuont im unrehte. Ich spriche, daz heilige sô grôz nie enwart, er enmöhte beweget werden. Sô spriche ich ouch dâ wider: daz wirt heiligen wol in disem lîbe, daz in nihtes niht her abe von gote gewegen mac. Ir wænet, alle die wîle wort wegen mügen in liep und in leit, sô sît ir unvolkomen. Des enist niht. Kristus enhâte sîn niht; daz bewîsete er, dô er sprach: »mîn sêle ist trûric biz ûf den tôt«. Kristô tâten wort als wê, und wære aller crêatûren wê gevallen ûf éine crêatûre, daz enwære als grôz niht gewesen, als Kristô wê was; und daz was von adel sîner natûre und von der heiligen vereinunge götlîcher und menschlîcher natûre. Dâ von spriche ich, daz heilige nie enwart noch niemer erkriegen enmac, pîne entuo im wê und liep entuo im wol. Daz beschihet etwenne von liebe und minne und von gnâde: der kæme und spræche, er wære ein ketzer oder wie man wölte, sô der mensche mit der gnâde übergozzen wære, sô stüende er wol glîch in liebe und in leide. | Aber daz wirt heiligen wol, daz in nihtes niht her ûz von gote gewegen mac, wirt joch daz herze gepînget, ob der mensche in der gnâde niht enist, daz doch der wille
[20] Nun sagen unsere biederen Leute, man solle so vollkommen werden, daß uns keine Freude mehr erregen kann und daß man von Freude und Leid unberührt bleibe. Sie werden der Sache nicht gerecht. Ich sage: kein Heiliger wurde je so groß, daß er nicht erregt wurde. So spreche ich auch dagegen: wohl geschieht es Heiligen in diesem Leben, daß nichts sie von Gott abkehren kann. Ihr meint (nun), solange Worte euch zu Freude und zu Leide erregen können, solange seiet ihr unvollkommen. Dem ist nicht so. Christus war das nicht eigen; das bezeugte er, als er sprach: »Meine Seele ist betrübt bis auf den Tod« (Matth. 26, 37). Christus taten Worte so weh, und wäre aller Geschöpfe Weh auf ein (einziges) Geschöpf gefallen, es wäre so tief nicht gegangen, wie es Christus weh war; und das kam vom Adel seiner Natur und von der heiligen Vereinigung göttlicher und menschlicher Natur. Aus diesem Grund behaupte ich, daß es einem Heiligen nie geschah noch daß es je einer erreichen kann, daß Pein ihn nicht schmerzte und Gutes ihm nicht wohltäte. Gelegentlich kann es aus tiefer Liebe und durch die Gnade mit einem geschehen: da kommt einer und sagt, man sei ein Ketzer – oder eine andere beliebige Beleidigung –, wenn dann der (betroffene) Mensch mit
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einvalticlîche bestâ in gote, alsô sprechende: »herre, ich dir und dû mir«. Swaz dar în vellet, daz enhindert niht êwige sælde, alle die wîle ez niht envellet in daz oberste wipfelîn des geistes dort oben, dâ ez stât in einicheit gotes allerliebesten willen.
der Gnade übergossen wäre, so änderten Liebes und Leides nichts an seinem Zustand. Das aber mag einem Heiligen wohl geschehen, daß ihn überhaupt nichts von Gott abbringen kann; wird zwar das Herz (vom Vorwurf) gepeinigt, ob der Mensch nicht in der Gnade sei, so besteht doch der Wille einfach in Gott, indem er sagt: »Herr, ich gehöre dir und du mir«. Was darin einbricht, das hindert die ewige Seligkeit nicht, solange es nicht den obersten Wipfel des Geistes dort oben befällt, wo er in Einheit mit Gottes von Liebe erfülltem Willen steht.
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[21] Nû sprichet K r i s t u s : »umbe vil sorge wirst dû betrüebet«. Marthâ was sô weselich, daz sie ir gewerp niht enhinderte; werk und gewerp leitte sie ze êwiger sælde. Si wart wol etwaz gemittelt: ez stiuret wol edeliu natûre und stæter vlîz und vor genante tugende. Marîâ was ê Marthâ, ê si Marîâ würde; wan, dô si saz bî den vüezen unsers herren, dô enwas si niht Marîâ: si was ez wol an dem namen, si enwas ez aber niht an dem wesene; wan si saz bî luste und bî süeze und was allerêrst ze schuole gesetzet und lernete leben. Aber Marthâ stuont sô weselîche, dâ von sprach si: »herre, heiz sie ûfstân!«, als ob si spræche: »herre, ich wölte gerne, daz si dâ niht ensæze durch lust; ich wölte, daz si lernete leben, daz si ez weselîche besæze. »Heiz sie ûfstân«, daz si durnehte werde«. Si enhiez niht Marîâ, dô si bî Kristî vüezen saz. Ich heize daz Marîâ: ein wol geüebeter lîp, gehôrsam einer wîsen sêle. Daz heize ich gehôrsam: swaz bescheidenheit gebiutet, daz des der wille genuoc sî.
[21] Nun sagt Christus: »Durch viele Sorge wirst du betrübt«. Martha war so wesentlich, daß sie ihr Gewerbe nicht hinderte; Werk und Geschäftigkeit führten sie zur ewigen Seligkeit. Sie wurde wohl gefördert durch bestimmte Mittel: eine hohe Veranlagung, beständige Übung und bereits genannte Tugenden. Maria war erst Martha, ehe sie Maria wurde; denn, als sie bei den Füßen unseres Herrn saß, da war sie nicht Maria: wohl war sie es mit Namen, sie war es aber nicht im Sein. Denn sie saß da wegen Lust und Süße und war erst einmal in die Schule genommen und lernte leben. Aber Martha stand so wesentlich da und sagte deshalb: »Herr, heiße sie aufstehn!« Als ob sie hätte sagen wollen: “Herr, ich möchte gern, daß sie nicht wegen der Lust dort säße; ich wünschte, daß sie leben lernte, damit sie es wesentlich zu eigen hätte! Heiße sie aufstehn, daß sie vollkommen werde!” Sie (Maria) hieß nicht (zu Recht) Maria, als sie zu Christi Füßen saß. Ich nenne das (eine vollkommene) Maria: einen wohlgeübten Leib, der einer weisen Seele gehorsam ist. Dies nenne ich (Gehorsam): daß der Wille das ausführt, was die Einsicht gebietet.
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[22] Nû wænent unser guoten liute erkriegen, daz gegenwürticheit sinnelîcher dinge den sinnen niht ensî. Des engât in niht zuo. Daz ein pînlich gedœne mînen ôren als lustic sî als ein süezez seitenspil, daz erkriege ich niemer. Aber daz sol man haben, daz ein | redelich gotgeformeter wille blôz stande alles natiurlîchen lustes, swenne ez bescheidenheit aneschouwet, daz si dem willen gebiete, sich abe ze kêrenne, und der wille spreche: ich tuon ez gerne. Sehet, dâ würde kriec ze luste; wan, swaz der mensche mit grôzer arbeit muoz erstrîten, daz wirt im ein herzenvröude, und danne wirt ez vruhtbære.
[22] Nun meinen unsere biederen Leute, es so weit zu bringen, daß die Gegenwart sinnlicher Dinge für ihre Sinne nichts mehr bedeute. Das gelingt ihnen (aber) nicht. Daß ein peinigendes Gedröhne meinen Ohren ebenso angenehm sei wie ein süßes Saitenspiel, das erreiche ich niemals. Aber das soll man erstreben: daß ein vernünftiger, gottförmiger Wille von allem natürlichen Lustgewinn unbeeinflußt bleibt, daß, wenn die Vernunft es ansieht und dem Willen gebietet, sich davon abzuwenden, der Wille dann antwortete: ich tu es gern! Seht, da würde (innerer) Kampf zur Lust; denn, was der Mensch mit großer Anstrengung erkämpfen muß, das wird ihm zur Herzensfreude, und dann bringt es Frucht.
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[23] Nû wellent etelîche liute dar zuo komen, daz sie werke ledic sîn. Ich spriche: ez enmac niht gesîn. Nach der zît, dô die jünger enpfiengen den heiligen geist, dô viengen sie êrste ane, tugende ze würkenne. »Marîâ saz bî den vüezen unsers herren und hôrte sîniu wort« und lernete, wan si allerêrst ze schuole was gesetzet und lernete leben. Aber dar nâch, dô si gelernete und Kristus ze himel gevuor und si den heiligen geist enpfienc, dô vienc si allerêrst ane ze dienenne und vuor über mer und predigete und lêrte und wart ein dienærinne und ein wescherinne der jünger. Sô die heiligen ze heiligen werdent, danne allerêrst vâhent sie ane, tugende ze würkenne, wan danne samenent sie hort êwiger sælde. Swaz dâ vor ist gewürket, daz giltet schulde und leitet wîze abe. Des vinden wir geziucnisse an Kristô: von dem anbeginne, daz got mensche wart und mensche got, dô vienc er ane, ze würkenne unser êwigen sælicheit unz an daz ende, daz er starp an dem kriuze. Kein glit was an sînem lîbe, ez enüebete sunderlîche tugent. Daz wir im gewærlîche nâchvolgen an üebunge wârer tugende, des helfe uns got. Âmen.
[23] Nun wollen gewisse Leute es dahin bringen, daß sie ohne Werke auskommen. Ich sage: das kann nicht sein! Nachdem die Jünger den Heiligen Geist empfingen, fingen sie an, erst einmal Tugenden zu wirken. »Maria saß zu den Füßen unseres Herrn und hörte seine Worte« und lernte (dabei), denn sie war erst einmal in die Schule genommen und lernte leben. Aber danach, als sie gelernt hatte und Christus zum Himmel auffuhr und sie den Heiligen Geist empfing, da fing sie allererst an zu dienen und fuhr über das Meer und predigte und lehrte und wurde eine Dienerin und eine Wäscherin für die Jünger. Wenn die Heiligen zu Heiligen werden, dann fangen sie allererst an, Tugenden zu wirken, denn dann sammeln sie einen Schatz für die ewige Seligkeit. Was vorher gewirkt ist, das büßt Schuld und wendet Strafe ab. Davon finden wir an Christus ein Zeugnis: von Anbeginn, da er Mensch wurde, fing er auch an, für unser ewiges Heil zu wirken bis an das Ende, als er am Kreuze starb. Kein Glied war an seinem Leibe, das nicht besondere Tugend geübt hätte. Daß wir ihm getreulich in der Übung wahrer Tugenden nachfolgen, dazu helfe uns Gott. Amen.1
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Eigene Übersetzung entnommen aus: D. Mieth (Hg.), Meister Eckhart. Die Einheit im Sein und Wirken, zuerst Olten 1979, zuletzt in der Neuauflage Düsseldorf 2002, S. 156– 169. 399
Zur Frage der Echtheit Nachdem der Herausgeber Josef Quint dieser Predigt mit der handschriftlichen Zuweisung an Meister Eckhart zunächst einen revolutionären Touch gegeben hatte (1955),2 bemühte ich mich darum, aufzuzeigen, daß sie sich in der Kontinuität einer Entwicklung bewegt, die sowohl die Auslegung der Maria-Martha-Perikope (Lk 10, 38 – 42) als auch die Konzeption des Verhältnisses von aktivem und kontemplativen Leben seit Origenes genommen hatte.3 Nicht als Widerspruch zum Evangelium, das Marthas Sorge tadelt und Marias Zuhören lobt, ist diese Predigt zu verstehen, auch stellt sie keinen radikalen Bruch zur Tradition der Theorien des guten Lebens dar; schon gar nicht verbirgt sich in ihr, wie Quint zunächst nahelegte, modernes Tatmenschentum bzw. eine Konzeption der vita activa, wie sie Hannah Arendt, insbesondere bei Karl Marx, kritisch beleuchtet hatte.4 Diese Predigt verbindet nur, das glaube ich, nachgewiesen zu haben, eine Konzeption, wie sie Meister Eckhart an unzählbaren Stellen über das wirkende Sein und das wirkende Wort bzw. auch über die Gottesgeburt im Wirken (im Anschluß an Origenes) verdeutlicht hat, mit der schon bei Albertus Magnus vollzogenen Aufwertung der Marthafigur, die von der vita mixta des Augustinus bis hin zum contemplata aliis tradere des Thomas von Aquin bereits systematisch grundgelegt war, ohne daß freilich jene »Harmonie« des e i n e n guten Lebens, von dem Eckhart spricht, dabei erreicht wurde. Die Zuweisung der Predigt 2
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Vgl. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. u. übers. v. J. Quint, München 1955, Einleitung S. 44–49. Quint nennt die Predigt Eckharts “Weisheit letzter Schluß” und behauptet, sie sei “gegen die ganz und gar eindeutige Meinung des Meisters selbst.” (44). Er spricht in diesem Kontext vom “harten Lebenskampf” (45) vom “Stempel unendlicher Werde- und Tatenlust” und schießt hier über das Ziel hinaus. Vgl. D. Mieth, Die Einheit von Vita activa und Vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler, Regensburg 1969. Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1960, 6. Aufl. 1998; Original: The Human Condition, Chicago 1958; und dazu: C. Schnabl, Das Moralische im Politischen, Hannah Arendts Theorie des Handelns im Horizont der theologischen Ethik, Frankfurt a. M. 1999, S. 103ff. Weitere Texte zur Vita activa: D. Mieth und R. Walter (Hgg.), Vom tätigen Leben (Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 35, Quellenband 5), Freiburg, Basel, Wien 1984. 400
an Meister Eckhart habe ich (1969) zunächst aus systematischen Gründen zu erhärten versucht,5 später (1975) habe ich die philologischen Einwände untersucht,6 zu denen inzwischen kaum neue getreten sind.7 Die neuerdings verschärfte Auseinandersetzung mit der Echtheitsfrage8 geht freilich von einem konzeptionellen Zwiespalt zwischen Meister Eckhart und dieser Predigt aus; wie mir scheint, ohne meine systematischen Ausführungen zu Eckharts 5 6
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Vgl. eBd. [Anm. 4], S. 119–182. Vgl. Die Einheit von Theorie und Praxis als Lebensform. Zur Diskussion um die Einordnung der Predigt Pfeiffer II, Nr. IX, in: P. Kesting (Hg.), Würzburger Prosastudien II, Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters, Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, München 1975, S. 271–286. In diesem Aufsatz habe ich die philologischen Einwände aber auch die auf die Echtheit verweisenden Textparallelen untersucht. Ferner habe ich u. a., einem Hinweis Heribert Fischers folgend, eBd. S. 278 f., einen Text aus Alberts des Großen ʿLukaskommentarʾ, hg. v. A. Borgnet (Opera omnia 23), Paris 1894, S. 87–89, bes. 89, herangezogen, der bereits die Umdeutung des Marthatadels zum Lob enthält und der Predigt 86, DW III, S. 483, 19f. im Text sehr nahe ist. Vgl. auch meine übrigen Texte zu Predigt 86: D. Mieth, Christus – das Soziale im Menschen, Texterschließungen zu Meister Eckhart, Düsseldorf 1972, S. 75–87; ders. [Anm. 1], S. 156–170 (knapp kommentierte Übersetzung); ders., Gotteserfahrung – Weltverantwortung, Über die christliche Spiritualität des Handelns, München 1982, S. 69–154, (innerhalb der Ausführungen über Eckharts Einheitsdenken und seine Ethik bzw. Sozialtheologie); ders., Kontemplation und Gottesgeburt, in: W. Haug und D. Mieth (Hgg.) Religiöse Erfahrung, München 1992, S. 205–228. (Hier geht es um die Gesamtkonzeption.) Vgl. S. Hummler, Sprache als Medium der mystischen Erfahrung. Über das Verhältnis von Aktion, Kontemplation und Sprache in Eckharts Interpretation von Lk 10, 38, in: J. Janota (Hg.), Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger I, Tübingen 1992, S. 363–387; G. Stachel, Stammt Predigt 86 Intravit Jesus in quoddam castellum von Meister Eckhart? In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 125 (1996), S. 392–403; ferner mit dem prätentiöseren Titel, Die Predigt über vita activa und contemplativa (Martha-Maria-Predigt; Q. 86) stammt nicht von Eckhart, in: G. Stachel, Meister Eckhart, Beiträge zur Diskussion seiner Mystik, Würzburg 1998, S. 49–59; vgl. auch K. Ruh, Maria und Martha bei Johannes von Sterngassen und Meister Eckhart, in: Festschrift für Kurt Gärtner; Ms. vom Autor direkt erhalten. Ich bin insbesondere G. Stachel dankbar, daß er nochmals die Argumente gesammelt hat. Dadurch hatte ich Gelegenheit, die inhaltlichen Bezüge nochmals zu verstärken und besonders die Übereinstimmung von Eckharts Frauenfiguren herauszuarbeiten. 401
Konzeption überhaupt zu berücksichtigen, die ja methodisch zunächst n i c h t auf dieser Predigt beruhen. Auf der einen Seite fällt es mir nicht ganz leicht, mich angesichts meiner mehrfachen Auslegungen dieser Konzeption und ihrer Spiegelung in der Predigt 86 so sehr wiederholen zu müssen; auf der anderen Seite kann ich, nach über dreißig Jahren, ein ideologiekritisches Erkenntnisinteresse einklammern, an welchem ich zwar festhalte, das jedoch eher mit der A u s w e r t u n g des Befundes zu tun hatte. Diese Unterscheidung zwischen systematischer Ideologiekritik und historischer Aufarbeitung war mir selbstverständlich auch vor dreißig Jahren bewußt. Das systematische Erkenntnisinteresse meiner Schrift über »Die Einheit von vita activa und vita contemplativa« richtete sich auf eine in Theologie und Kirche nicht unübliche Figur: eine Unterscheidung einzuführen, dann diese Unterscheidung hierarchisch zu bewerten und schließlich von oben nach unten innerhalb dieser Hierarchie zu diskriminieren. Die Wertüberlegenheit des kontemplativen Lebens wurde so als unanimis consensus patrum dogmatisiert – mit durchaus praktischen Folgen noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Zu zeigen, daß dieser Konsens historisch nicht besteht, ist freilich die eine Sache; die Auslegung von Predigttexten im Zusammenhang mit der philosophisch-theologischen Konzeption Meister Eckharts eine andere. Die Untersuchungen, die sich teils direkt wie Volker Leppin, teils indirekt (Haas, Wackernagel u. a.) mit unserer Predigt beschäftigen9, gehen von der Echtheit der Predigt aus und befinden sich auch nicht im Widerspruch zu meinen inhaltlichen und 9
Vgl. A. M. Haas, Die Beurteilung der vita contemplativa und activa in der Dominikanermystik des 14. Jahrhunderts, in: B. Vickers (Hg.), Arbeit, Muße, Meditation, Zürich 1985, S. 109–131; Wackernagel [S. 104, Anm. 29], S. 167–178. Obwohl er meine Arbeit zitiert, achtet Wackernagel nicht darauf, daß ich eBd. [Anm. 3], S. 218, Anm. 327, die Predigt Pfeiffer CI als Thomasübersetzung, die nicht von Eckhart stammt, nachgewiesen habe, und zitiert sie eifrig. Vgl. auch M. de Gandillac, Deux figures eckhartiennes de Marthe, in: Métaphysique. (Festschrift Fernand Brunner), Neuchâtel 1981, S. 119–134. V. Leppin, Die Komposition von Meister Eckharts Maria-Martha-Predigt, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), S. 69–83. Eine kompetente Äußerung zu Eckharts Position in der Lebenslehre findet sich bereits bei H. Delacroix, Essai sur le mysticisme spéculatif en Allemagne au quatorzième siècle, Paris 1900, S. 216–218. Die Forschung hat dieses Buch, das sich im wesentlichen gegen H. Denifle richtet, nicht beachtet. Schließlich hat 402
konzeptionellen Erwägungen. Die Vorschläge Leppins zum Bauprinzip der Predigt finde ich nachvollziehbar, und die Einordnung O. Langers sowie schon M. WehrliJohns in die Auseinandersetzung mit der Nonnen- bzw. Beginen-Spiritualität habe ich aufzunehmen versucht.10 Bevor aber darüber zu sprechen sein wird, sind die eher inhaltlich orientierten Einwände gegen die Echtheit der Predigt zu prüfen, die neuerdings, zunächst von Susanne Hummler, sodann von Günter Stachel erhoben worden sind. Ebenfalls in Erwägung zu ziehen ist die Beleuchtung, die diese Predigt durch eine Predigt des Johannes von Sterngassen erfährt, auf die Kurt Ruh in diesem Zusammenhang aufmerksam macht. Bei all diesen Bedenken ist zu beachten, daß die Echtheitsfrage den Beteiligten letztlich nicht über die philologische Auseinandersetzung als entscheidbar erscheint, deren Für und Wider ich 1975 erörtert habe und die Stachel in seinem Beitrag rezipiert, um sie von seiner systematischen Vorentscheidung her anders zu pointieren. Aber hier hängt offensichtlich viel von den Vorentscheidungen ab, wie Meister Eckhart unter Berücksichtigung seiner konzeptionellen Kohärenz zu lesen sei. Wer Einwände gegen die Echtheit erhebt, muß zunächst die These vertreten, daß die Predigt 2, die sich ebenfalls ausführlich mit der Marthafigur dieser Perikope beschäftigt, eine andere Martha aufzeige als die Martha der Predigt 86.11 Dies erscheint weder auf einen ersten noch auf einen letzten Blick als einleuchtend. Denn in Predigt 2 wird die Marthafigur eindeutig als Einheit von Freiheit und Loslösung (»Jungfrausein«) einerseits und Fruchtbarkeit (»Weibsein«) andererseits gekennzeichnet. Damit ist sowohl exegetisch – in der Aufhebung oder Umdeutung des Marthatadels – als auch in der
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M. Wilde, Das neue Bild vom Gottesbild. Bild und Theologie bei Meister Eckhart (Dokimion 24), Freiburg/Schweiz 2000, S. 298–305, noch einmal die Übereinstimmung von Theorie und Praxis bei Meister Eckhart an einer anderen Predigt (16b) aufgezeigt. Vgl. M. Wehrli-Johns, Maria und Martha in der religiösen Frauenbewegung, in: Ruh (Hg.) [S. 22, Anm. 31], S. 354–367 und dazu D. Mieth, Die Spannungseinheit von Theorie und Praxis, Theologische Profile, Freiburg/Schweiz – Freiburg i. Br. 1986, S. 42. M. Wehrli-Johns, in: Ruh (Hg.) [S. 22, Anm. 31], S. 361, macht u. a. deutlich, “daß die Predigt sehr viel stärker der Tradition verpflichtet ist, als man bisher angenommen hat”. Vgl. auch O. Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie, zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München – Zürich 1987, S. 200–230. So zuerst Hummler [Anm. 8], S. 378 f. 403
Lehre vom guten und richtigen Leben die gleiche Position erreicht, die in der Predigt 86 dargestellt wird. Wenn Susanne Hummler den Umgang mit den biblischen Vorgaben für ungewöhnlich, gar für radikal hält, dann übergeht sie die Entwicklung, die ich für die Auslegungsgeschichte von Lk 10, 38–42 nachgewiesen habe12 – ganz abgesehen davon, daß das biblische Original nicht so auszulegen ist, wie eine vom Modell Aktion-Kontemplation eingefärbte Brille es sehen mag. Die Abschwächung bis Umdeutung des Marthatadels war bereits, wie gesagt, bei Albertus Magnus vor Meister Eckhart vollzogen. Hummlers Bedenken gegen eine in dieser Predigt zum Ausdruck kommende “Relevanz der Diesseitigkeit”13 bzw. gegen die Berechtigung zur menschlichen Sorge um die Kreatur sind auf der Basis von Annahmen konstruiert, die zu einem mittelalterlichen Denker, der ein nietzscheanisches “Diesseits” gar nicht kennt, nicht passen. Und die “Sorge” wird ja auch von Eckhart, darin ganz biblisch, weiterhin negativ thematisiert: gerade der Befund, daß Martha n i c h t von der Sorge erfaßt ist, während sie ihre Tätigkeit vollzieht, macht diese Figur ja aus, und dies entspricht durchaus dem in der Predigt 2 vorgelegten Modell der Vereinbarkeit von Loslösung und Fruchtbarkeit. Eckhart kennt kurze, gebündelte Predigten, in welchen er auf eine kurze Wortfolge eingeht, entsprechend seiner Voraussetzung, daß aus jedem Wort das Ganze ausgelegt werden kann. Dies trifft auf Predigt 2 zu. Demgegenüber liest sich die Predigt 86 eher wie eine Explizitierung. Sie ist ungewöhnlich lang, ähnlich wie die Predigt »Vom edlen Menschen« und wie die Predigt 4914, nur die berühmte Armutspredigt (52) sowie die sehr dialogische Predigt über den 12jährigen Jesus im Tempel (103) weisen 12
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Vgl. eBd. [Anm. 3], S. 29–118. Dem sind die Beobachtungen von Wehrli-Johns in: Ruh (Hg.) [S. 22, Anm. 31], S. 365 hinzuzufügen, wonach bereits Aelred von Rivaulx (gest. 1176) davon überzeugt ist, daß die Gottesmutter Maria sowohl Martha als auch “Maria” in sich vereinigt. Aelred verweist dazu auf das Christus = Nächster – Kriterium von Mt. 25. Nach Wehrli-Johns und Largier (s. u.) wechselt die Predigt 86 passagenweise in eine mariologische Auslegung – dafür gibt es aber keinen Beweis. Vgl. Hummler [Anm. 8], S. 381. Stachel, Stammt [Anm. 8], der die Länge der Predigt als Unechtheitsbeweis anführt (S. 400), mutet der Pr. 49 Unechtheit zu, weil Eckhart, was er häufig tut, einen Bibelvers paraphrasiert, statt wörtlich zu übersetzen. Ansonsten bietet er Geschmacksurteile (“geschwätzig”, “pedantisch”). So kommt man nicht zu objektivierbaren Aussagen! 404
darüber hinaus ähnliche Längen auf. In manchen Predigten findet sich ein implizierter Dialog mit abweichenden Auffassungen, der auf pädagogische bzw. pastorale Absichten verweist, welche durchaus den Erkenntnissen entsprechen, die das Verhältnis zwischen Eckhart und der Nonnenspiritualität betreffen. Damit wäre auch jene von Hummler “psychologisch”15 genannte Komponente zu erklären, womit sie das Eingehen auf die Zuhörerinnen meint; ich denke, daß Predigten bei Eckhart durchaus auch sonst Collatio-Elemente aufgreifen; sie sind keineswegs alle auf Monologe ausgerichtet, denen der »Opferstock« als stummer Widerpart genügt. Auch Hummlers Besorgnis angesichts der “verhängnisvoll gestufte(n) Bewertungsweise der 86 Predigt”16 vermag ich nicht zu teilen. Wer die Predigt genau liest, wird feststellen, daß Martha zwar in actu der Maria voraus ist, keineswegs aber in der angestrebten Leitfigur. Denn Maria bleibt ja nicht hinter Martha zurück, sondern sie erreicht ihre Vollendung in der Missions- und Predigttätigkeit. Die Marthafigur wird hier als Katalysator für eine Marienfigur eingesetzt, deren Wert nicht gemindert, die aber als Zielfigur der Frauenspiritualität bereichert werden soll. Es geht in dieser Predigt nicht um die Wertüberlegenheit der vita activa, weil es überhaupt nicht um Hierarchisierungen geht. (Wobei man beachten muß, daß auch gestufte Betrachtungsweisen Eckhart nicht fremd sind. Man vergleiche dazu die Predigt »Vom edlen Menschen« und die lateinische Predigt »Estote misericordes«)17. Es geht vielmehr um die Möglichkeit, und dies nicht nur auf eine einzige figürliche Weise, losgelöste Einheit mit Wirken zu verbinden. Und dies ist in Eckharts Formel “Wirken ohne Worumwillen” vielfältig so beschrieben, daß eben das eigene Werk Vollzug des Wirkens Gottes ist. Wie Gott selbst – unter Verwendung der aristotelischen Formel actus purus – als “lauteres Wirken” bezeichnet werden kann, so ist es die tätige Haltung (die “Tugend”) des Gerechten, in der sich dieses Wirken nicht wie an einem Hindernis staut, sondern durch ihn hindurch fortsetzt. Deshalb kommt es bei Eckhart überall darauf an, in den Werken “ungehindert” zu sein, und diese Linie läßt sich bereits in den »Reden der Unterweisung« aufzeigen. Der Versuch von G. Stachel, zwischen diesen »Reden« und 15 16 17
Hummler [Anm. 8], S. 373ff. Hummler [Anm. 8], S. 384. Vgl. Mieth [Anm. 1], S. 98–112 sowie 293–309. 405
der Predigt 86 einen konzeptionellen Unterschied zu konstruieren,18 läßt eher Stachels Deutung der »Reden« in Zweifel ziehen. Diese Deutung steht wie manches andere bei G. Stachel unter dem Vorbehalt, daß er den mystischen Lebenslehrer Meister Eckhart dem systematischen Anspruch, den Eckhart zweifellos an sich selber stellte, entziehen möchte. Die Folie, auf der dann gelesen wird, scheint mir mit den philosophischen und theologischen Voraussetzungen des mittelalterlichen Denkers wenig zu tun zu haben. Dennoch ist zu fragen, was von Stachels expliziter Bestreitung der Autorschaft Eckharts bleibt. Dabei muß man sich bewußt sein, daß die Beweislast nicht so zu verteilen ist, daß erst die Echtheit vor dem Verdacht der Unechtheit zu beweisen wäre. Vielmehr ist die handschriftliche Zuweisung zunächst als ein Indiz zu sehen, gegenüber welchen die Absprache der Autorschaft begründungspflichtig ist. Stachel bemerkt mit Recht, daß meine Untersuchung von 1969 nicht auf die Echtheit der Predigt angewiesen ist,19 aber er übersieht, daß das inhaltliche Ergebnis meiner Untersuchung der Konzeption Meister Eckharts, wie sie, völlig unabhängig von Predigt 86 zunächst einmal erstellt wurde – denn, was die Echtheit anbelangt, wollte ich das philologische Urteil offen lassen – es kaum ermöglicht, die Predigt von Eckharts philosophischtheologischem Denken abzuheben – weshalb ja auch Stachel eine Unerheblichkeit dieses Denkens zu reklamieren versucht. Als Beispiel sei hier nur aufgeführt, daß Stachel die Tugendethik für “eckhartfremd” erklärt. 20 Da bekommt man Zweifel, ob man es wirklich mit einem “geübten Eckhart-Leser” zu tun hat. Das Wort “Tugend” ist für Eckharts Ethik zentral, ohne daß dies nun in seiner Zeit exzeptionell wäre. Exzeptionell ist nur, das er die Tugenden durchweg als perfectiones spirituales betrachtet. Die Gegenwärtigkeit der Inwendigkeit, die Eckhart lehrt, läßt sich mit der MarthaFigur keineswegs, wie Stachel das insinuiert, in Gegensatz bringen. Das “Mitwirken” mit Gott kann nicht, wie Stachel das tut, als rein passiver Vorgang erläutert werden. Der dialektische Charakter von Eckharts Werklehre wird völlig verkannt. Man braucht im übrigen nur die Predigt 32 über die hl. Elisabeth heranzuziehen (s. u.), um 18 19 20
Vgl. Stammt [Anm. 8], S. 51–54. Vgl. Stammt [Anm. 8], S. 402, Anm. 11. Vgl. Stammt [Anm. 8], S. 53. Stachel spricht von einer “eckhartfremden Ethik” (S. 58) der Tugendübung. Vgl. dagegen D. Mieth, Die theologische Transposition der Tugendethik bei Meister Eckhart, in: Ruh (Hg.) [S. 22, Anm. 31], S. 63–79. 406
die Vereinbarkeit von innerem und äußerem Werk zu verdeutlichen.21 Diese Predigt endet mit der c a r i t a t i v e n Wirkung der eingegossenen theologischen Tugenden, die Predigt 86 mit einer dominikanischen Pointe (Predigt und Lehre). Daß die Predigt sich auf die Einzelheiten des Modells Aktion-Kontemplation nicht explizit einläßt, ist keine neue Erkenntnis. Die sog. i n h a l t l i c h e n Gründe geben also nicht viel her – dazu müßte man nun wirklich einen Gegensatz zu Eckharts Werk- und Tugendlehre – noch einmal: die Gottesgeburt liegt ja in jedem »Werk« des Gerechten – nachweisen. Die f o r m a l e n Einwände, auf die ich mich ja auch (1975) nachdenklich eingelassen hatte und auf die Stachel mit Recht, wenn auch, wie es scheint, in gewisser Abhängigkeit von S. Hummler,22 hinweist, sind durchaus ernst zu nehmen, wenn auch nicht neu. Ich denke aber, daß man die Wortwahl und den Duktus der fortlaufenden Auslegung einer ganzen Perikope mit dialogischen Momenten – dies würde das häufige und gelegentliche ironische Aufgreifen des Wortes “lieb” erklären23 – und mit pastoralen Absichten verdeutlichen kann. Stachels Schlußfolgerungen sind von seiner eigenen, wie seine Bemerkung zur Armutspredigt zeigt, Eckhart stark verkürzenden Deutung geprägt: wie kann man vom “Wirken in Gott” reden und dann meinen, dies hätte mit der von Eckhart doch so klar anvisierten F r u c h t b a r k e i t nichts zu tun? Gewiß muß man, und ich habe das zur Genüge getan, darauf aufmerksam machen, daß für Eckhart die “Frucht schon in der Blüte” (Flores mei fructus) aufscheint,24 so daß hier keine äußeren Konten des Erfolges gebucht und gezählt werden können. Alles dies sei gerne geschenkt. Ebenso sei geschenkt, daß Eckhart – mit ihm aber auch diese Predigt 86 – “das Problem einer vita activa gegen vita contemplativa überboten
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Auf die Elisabeth-Figur hat Wehrli-Johns [Anm. 10], S. 354f., eindrücklich verwiesen. Pr. 32 knüpft an die Verbindung Aktion – Kontemplation an, die sich schon bei Cäsar von Heisterbach für Elisabeth findet. Vgl. A. Huyskens (Hg.), Die Schriften des Cäsarius von Heisterbach über die heilige Elisabeth von Thüringen, Bonn 1937, S. 329–390. Die Motive “Psychologie” und “Exegese” finden sich als Einwände bereits bei S. Hummler. Ich verweise zudem auf die Maria Magdalenen-Predigt 55, wo “lieb” ähnlich verwandt wird. (s. u.). Vgl. Mieth [Anm. 6] (1975), S. 284 zu LW II, S. 249–256, und S. 22, verglichen mit Pf., Pr. XV, S. 72f. 407
und hinter sich gelassen hat”. Ich habe das nur, der Entwicklung der Tradition entsprechend, anders pointiert: Eckhart hat das Problem, die vita contemplativa gegen die vita activa auszuspielen, hinter sich gelassen. Vieles, was Stachel vorbringt, sind Geschmacksurteile eigener Prägung. Eckharts Sprache (“herzlich, aber herb”) vergleicht er mit der Sprache der Predigt 86 (“stellenweise simpel, unklar und unschön”).25 Wenn, wie Stachel dann doch wieder zugesteht, die Position Eckharts ein Wirken aus Gottes Wirken einschließt, dann weiß ich nicht, was ihn an der Predigt 86 überhaupt stört. Kurt Ruh gegenüber, der in seinem neuen Beitrag über Maria und Martha bei Johannes von Sterngassen und Meister Eckhart erneut auf die Predigt 86 eingeht, 26 möchte ich zunächst einmal festhalten, daß der Predigtschluß, gerade im Vergleich zur Elisabeth-Predigt 32 und unter Einbeziehung des dominikanischen Topos “Predigen und Lehren”, der zu dem contemplata aliis tradere des Thomas Aquin gehört, nur schlecht als Indiz für Unechtheit gelten kann. Ruhs Satz “Das unablässige Martha-Lob auf Kosten der Maria widerspricht so sehr dem Evangelientext, wie man es Eckhart nicht zumuten kann”, vernachlässigt die Interpretationsgeschichte der Perikope gänzlich. Außerdem wird mit einem solchen apodiktischen Urteil übersehen, daß es hier um die Vorzeichnung des Weges der wahren Maria geht. Die Konzeption des gottgeeinten Wirkens, dessen Fruchtbarkeit schon Predigt 2 bezeugt, wird außer acht gelassen. Gegensätze zwischen einem Marienlob bei Sterngassen, in welchem, wie in manchen Ausführungen Eckharts, Hören und Schweigen im Mittelpunkt stehen, vermag ich nicht zu sehen, da ja auch an der Martha-Figur gerade die Gottesverbindung als eine stete und dauerhafte gelobt wird. So kann ich auch keinen
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Vgl. Stachel, Die Predigt [Anm. 8], S. 59. Stachel behauptet auch: “Im Unterschied zu Thomas v. A. war E(ckhart) ein für systematische Theologie wenig ergiebiger Prediger und Autor”. Das ist, angesichts der philosophischen und theologischen Eckhart-Literatur, eine schon beinahe unglaubliche Behauptung! Vgl. Anm. 8. Da der Text Ruhs kurz ist und ich ihn nur als Ms. habe, zitiere ich im folgenden ohne weitere Angabe. Es erscheint in der Festschrift Kurt Gärtner. 408
Gegensatz zu Predigt 104 A sehen,27 welche sich zwar zunächst in klassischen, thomanischen Bahnen bewegt, dann aber doch darüber hinaus geht: da sei “nichts als eines” und man gehe “im selben Hause” hin und her.28 Das ist wesentlich deutlicher als der thomanische Ansatz. Kurt Ruhs Verweis auf Quints Schwierigkeiten als Herausgeber mit dieser Predigt vermag ich durchaus zu teilen. Gerade in der inhaltlichen Zuordnung zum Tatmenschentum hatte Quint ja ebenso falsch gelegen wie in seiner Betonung des anti-jesuanisch Revolutionären an der Predigt. Ich denke doch, daß meine Auslegung, sowohl Eckharts als auch dieser Predigt, erheblich komplexer konstruiert ist. Deshalb bietet sie auch eher die Möglichkeiten, die Zusammenhänge zu differenzieren und zugleich zu integrieren. Kurt Ruh macht auch darauf aufmerksam, daß das Wort “adelig” in Predigt 86 Marthas Wirken zugeordnet wird, während es – ich ergänze die Beobachtung – in Predigt 104 A zur Kontemplation gehört und in Predigt 55 zu Maria Magdalena im Sinne der Loslösung gebraucht wird. Aber Martha, das muß man immer wieder verdeutlichen, steht bereits “drinnen”, wenn sie “draußen” ist, der Adel “des sich GottVerbindens” kommt ihr im Wirken zu, weil es (im Sinne der Anforderungen an die Kontemplation) “unbehindert” ist. Niemand kann mit letzter Sicherheit behaupten, ob ein Text, der in seinen speziellen Eigenheiten diskutiert wird, von Meister Eckhart stammt oder nicht. Aber ich denke, man sollte von dem Versuch loskommen, hier inhaltliche Abweichungen von Meister Eckhart zu unterstellen oder gar Eckhart mit Geschmacksurteilen auf bestimmte Eindeutigkeiten von Motiven festlegen zu wollen. Wenn man i n n e r h a l b der Quintschen Vorurteile über Meister Eckhart betreffs der richtigen Bibelauslegung und dergleichen argumentiert, kann einen die Verführung zur Unechtheit nicht überraschen. Aber dazu ist man nicht gezwungen. Man 27
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Vgl. G. Steer, Meister Eckharts Predigtzyklus von der êwigen geburt. Mutmaßungen über die Zeit seiner Entstehung, in: W. Haug und W. Schneider-Lastin (Hgg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang, Tübingen 2000, S. 253–281. Georg Steers Einführung in den Zyklus hat das hier veröffentlichte Symposium überzeugt. Vgl. Pr. 104 A, DW IV, S. 578, 149 – 581, 182. Einheit der Schau und Fruchtbarkeit des Wirkens sind ununterschieden, wenn auch nicht unbewegt: die Bewegung geht im gleichen Hause vor sich. 409
kann sich getrost in dem Rahmen bewegen, den Georg Steer in seinen Aufbereitungen der Predigt 104 A gesteckt hat – dann wird einem die Maria-Martha-Predigt keineswegs befremden. Ich wiederhole meine These: Eckhart hat hier nicht der Bibel widersprochen, sondern er hat eine Auslegung, wie sie zuletzt bei Albertus Magnus zu beobachten ist, weiter geführt, die den Marthatadel abschwächte und das Lob für Martha ergänzte. Er hat, ohne im geringsten an der Marien Magdalenen-Figur etwas, was die Verehrung betrifft, schmälern zu wollen, versucht, deren Vereinseitigung zu verhindern. Er hat sich dabei der Einheit von Loslösung und Fruchtbarkeit bedient, die er auch sonst lehrt. Er hat mit der Ausdeutung der Martha-Figur nichts von dem aufgehoben, was er über die innere Distanz zur Welt gesagt hat. Er hat in der Martha-Figur eine Parallele zur Elisabeth-Figur in Predigt 32 geschaffen, für die ebenfalls kennzeichnend ist, daß sie Armen und Kranken aktiv dient und dabei in dem gleichen “Haus” der Kontemplation verbleibt. Er hat das in actione contemplativus vorausgenommen. Er hat sich dabei von dem Dominikaner Thomas von Aquin nicht entfernt, insofern er an der traditio contemplationis festhält. Er hat aber stärker pointiert, dâ enist niht denne einez, d. h. er formuliert nicht mehr im Dualismus des Modells. Dies als unbiblisch zu bezeichnen, wäre ein Widerspruch zur expliziten biblischen Botschaft, der Einheit von Hören und Tun, Gebet und Tätigkeit, Erkenntnis und Nächstenliebe, über die ich genügend und mit Zustimmung geschrieben habe.29 Eher als in der Predigt 86 geht er in der Predigt 32 über die dominikanische vita activa von Predigt und Lehre hinaus. Thomas hätte diese Elisabeth-Figur vielleicht nicht so darstellen können. Die Predigt 32 bemüht überdies wie Predigt 86 die Hausmetapher, die in Predigt 104 A ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Die Predigt 2 stellt die Grundelemente der Martha-Figur dar. M. E. gerät derjenige, der die Predigt 86 von Eckhart entfernt, in die Gefahr, auch Predigt 2 mißzuverstehen: denn auch diese Predigt ist unbekümmert über den Marthatadel, von dem wir doch annehmen müssen, daß jede Zuhörerin ihn im Kopf hatte. Und Elisabeth, die “unmüßige” (negotium – man vergleiche “mit mannigfachem Gewerbe” in Predigt 86), ist doch zugleich die mit Gott in rechter Erkenntnis Vereinte. Wie kann G. Stachel solche Texte übersehen wie: Elisabeth, die “ihre Vollkommenheit nicht aufgab ... begehrte danach, kranke und schmutzige Menschen 29
Vgl. Mieth [Anm. 3], S. 45–67. 410
waschen und pflegen zu dürfen mit reinem Herzen. Daß auch wir ebenso die Stege unseres Hauses ableuchten und unser Brot nicht müßig essen ...” (!) Als systematischer Theologe und theologischer Ethiker finde ich die Konzeption Meister Eckharts souverän, und an der Predigt 86 stört mich dabei nichts. Im Gegenteil: Eckhart kehrt nur, ich wiederhole es, zu einer biblischen Grundaussage zurück, die der Tradition auf halsbrecherische Weise verloren zu gehen drohte. Alle inhaltlichen Einwände gegen die Echtheit der Predigt setzen sich also dem Problem aus, daß sie mit den Positionen in Widerstreit geraten, die Eckhart an anderer Stelle entwickelt hat, sei es z. B. in Predigt 2 oder in Predigt 32. Zieht man sich aber auf die formalen Einwände zurück, etwa auf die an sich geringfügigen Probleme abweichender Wortwahl, dann muß man dem Meister unterstellen, daß er selbst nicht an einer Stelle anders vorgehen kann, als er das meistens tut. Die Vorgehensweise selbst läßt sich ganz gut aus der in der Predigt aufscheinenden pastoralen Absicht erklären. Und hätte Eckhart keine solchen Absichten gehabt, er hätte nicht zu predigen brauchen, um, wie er am Schluß des »Buches der göttlichen Tröstung« sagt, “Ungelehrte” zu belehren. Dieses Programm, begleitet von der Musterpredigt »Vom edlen Menschen«, in welcher, übrigens ganz im Sinne unserer Predigt, eingeschärft wird, man soll nicht auf die Schau das Glück setzen, sondern auf die Einheit im Sein, sollte man doch ernst nehmen.30 Zur Komposition der Maria-Martha-Predigt Im Gegensatz zu der Unterstellung Leppins, ich hätte den Aufbau der Predigt als “wenig systematisch”31 beurteilt, muß ich darauf hinweisen, daß ich von einer “konsequenten” Entwicklung und von einer spürbaren “Ordnung” gesprochen habe. Zugleich habe ich aber auch den inneren Dialog der Predigt mit einem widerspruchsbereiten implizierten Hörer oder Leser hervorgehoben. Ich habe nur darauf verwiesen, daß die Systematik einer gedanklichen Darstellung eine andere ist als die eines Predigtaufbaus. Sieht man einmal davon ab, dann finde ich Volker Leppins Nachvollzug der Komposition sehr hilfreich. Während ich von der Zuordnung dreier Elemente ausging – 30 31
Vgl. Mieth [Anm. 1], S. 107–109. Demnach liegt die Seligkeit nicht im Schauen! Vgl. ebd., S. 69. 411
Schrifterklärung, ausbauender Kommentar, Exkurs –, hat er aufgezeigt, daß Texte und Exkurse auf eine bestimmte Weise verschachtelt sind, so daß die “drei Wege zu Gott” ein Zentrum bilden, zu dem die Aufwertung der Marthafigur hinführt, während gleichsam nach diesem Aufstieg im korrespondierenden Abstieg der Lernprozeß Mariens insinuiert wird. Eine solche Form habe ich auch an der lateinischen Predigt über das doppelte Liebesgebot herauszudestillieren versucht.32 Wenn ich dennoch Leppin nicht folge, so deshalb, weil er den Unterschied zwischen Textauslegung und Exkurs aufhebt. Es gibt eben nicht nur Textparaphrase und Exkurse in dieser Predigt – das ist die duale Voraussetzung, mit der Leppin operiert –, sondern nur die eingeschobenen systematischen Belehrungen sind, in Abhebung von der textnahen Auslegung m. E. als Exkurse zu kennzeichnen: Was ist Genügen in Gott; die Bedeutung der zweifachen Namensnennung; die drei Wege der Seele zu Gott; das Verhältnis von Tugend und Wille. Mir scheint daher weiterhin der von mir vorgeschlagene Aufbau der Predigt33 schlüssig zu sein. Er sei hier nochmals mit den entsprechenden Veränderungen, die sich aus Gründen der Verdeutlichung ergeben haben, vorgestellt:
I. Gegenüberstellung Marthas und Mariens Die drei Gründe Mariens [2] Die drei Gründe Marthas [3] Exkurs (Genügen in Gott) [4]
II. Die drei Gründe für Marthas Bitte an den Herrn Besorgnis [5] Lebenserfahrung [6] Mariens Weiterkommen [7]
III. Die Vertröstung durch Jesus 32 33
Vgl. ebd., S. 335–345 zu Sermo XXX,1–2 n. 306–321, LW IV, S. 271–281. Vgl. Mieth [Anm. 3], S. 188, Anm. 224, (in meiner Übersetzung sind entsprechende Überschriften). 412
Die Deutung des Wortes Jesu an Martha [8] Exkurs über die zweifache Namensnennung [9] [10] Marthas Loslösung in der Tätigkeit [11] Zweiheit und Einheit, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit [12]
IV. Die drei Wege zu Gott (Exkurs) Der Weg der tätigen Liebe [13] Der Weg der vorübergehenden Entrückung [14] Der weglose Weg im göttlichen Bereich [15]
V. Anwendung auf Martha Sie ist auf dem rechten, dem weglosen Weg [16] Dieser entspricht auch den Anforderungen an das Wirken in der Zeit [17]
VI. Mariens Zukunft Wodurch entsteht Behinderung und wie wird sie beseitigt? [18] Der Aufstieg in den drei Willen zur wahren Tugend [19] Exkurs zum ersten Einwand: man solle unberührbar bleiben von Liebe und Leid; Widerlegung [20] Maria muß erst Martha werden, ehe sie die wahre Maria wird [21] Exkurs zum zweiten Einwand: Ablegung der Sinneswelt, Widerlegung [22] Exkurs gegen den Quietismus: erneute Darlegung der Lehre von der eingegossenen Tugend; darin eingeschlossen: Die Zukunft Mariens als Predigerin und Lehrerin sowie als Dienerin und Wäscherin (dies wäre mit dem Schluß der Elisabeth-Predigt zu vergleichen) [23] Da die Frage auch gestellt worden ist, wo sich Parallelen für die hier verwandte exegetische Technik der Begleitung des Textes einer ganzen Perikope finden, sei auf Predigt 20 in beiden Fassungen verwiesen (was ich bereits 1969 getan habe, ohne daß es
413
von den Skeptikern beachtet wurde).34 Dort wird Lk 4, 16–24, also eine ähnliche Textmenge, hier die “Einladung zum Gastmahl”, ebenfalls entlang der Textabfolge behandelt. Eingefügte Exkurse gibt es auch dort zur Genüge. Ich muß erneut sagen, daß mich ein gewisser Unmut darüber befällt, wie wenig Argumente im einzelnen zur Kenntnis genommen werden, die doch mit einiger Umsicht und Mühe erarbeitet wurden. Daß die tätige Martha bei Johannes von Sterngassen keine Erwähnung findet, da er nur spekulative Absichten hat, scheint mir erheblich weniger gewichtig als die Kontinuität, die sich zwischen Alberts Auslegung der Perikope und Meister Eckhart herstellen läßt sowie die eindeutige Parallele zwischen der Elisabeth- und der Martha-Figur. Ein konzeptioneller Unterschied zu einschlägigen Texten Eckharts läßt sich nicht begründen.
Zur Interpretation der Predigt Die Predigt kann dreifach interpretiert werden: e r s t e n s , von ihrer Form und ihrer Methode her. Dabei muß man die beschriebene Komposition mit Leben erfüllen, um die für diese Predigt typische Einrechnung von Widerständen bei den Hörerinnen zu verdeutlichen, welche m. E. auch zureichend die Intensität erklären, mit welcher die Marthafigur, sozusagen gegen den Strich der Erwartung, in den Vordergrund gestellt wird. Zum anderen ist die exegetische Methode – die Predigten gehören ja bei Eckhart in den Bereich der Schriftauslegung und im weiteren Sinne, in den »liber expositionum« – genauer zu betrachten und, wie schon angedeutet, mit ähnlichen Verfahren bei Eckhart zu vergleichen. Ferner kann die Interpretation, in Kontinuität zu diesem ersten Ansatz, bei den pastoralen und spirituellen Absichten ansetzen, die mit der gewählten Form zusammenhängen. Der Zusammenhang mit der Maria-Magdalena-Legende und mit der spirituellen Figur, die deren Rezeption entspricht, ist ja offenkundig. Einem Autor, der ohne weiteres Predigtmärlein erzählen kann,35 darf man nicht, wie Kurt Ruh das 34
35
Vgl. ebd., Anm. 222. Vgl. auch, was ich dort nicht angemerkt habe, die Parallelen zur Textauslegung in Pr. 27 und 55 (s. u.) Vgl. etwa die Mär vom reichem König in Pr. 5b oder die Geschichte von den Tieren im Wasser in Pr. 51. 414
tut, die kritische Auseinandersetzung mit Legenden absprechen wollen, deren Kenntnis ihm sicher nicht fehlt. Natürlich ist er weder ein erzählender Prediger noch ein Legendenmacher, aber die Auseinandersetzung mit spirituellen Figuren kann man ihm wohl zutrauen. Ist denn nicht z. B. die Armutspredigt 52 eine Auseinandersetzung mit den Spiritualen unter den Franziskanern? Etwa in dem Sinne: ich zeige den Radikalen, daß die Armut noch radikaler zu verstehen ist? Ein z w e i t e r Interpretationsansatz stellt die Predigt in den Kontext der unbestrittenen Grundgedanken Meister Eckharts. Von den Motiven ist die Seelengrundlehre ebenso anwesend wie die Tugend- und Werklehre. Es dürfte wirklich schwerfallen, hier auch nur eine Abweichung oder einen anderen Klang zu vernehmen. Die für Eckharts scheinbar ungewöhnlichen, aber doch vom Sprachduktus der Predigt 55 nicht so fernen Klänge sind leicht, wie ich schon sagte, durch ironische Reprisen von Sprachgebräuchen seiner Zuhörerinnen zu erklären, oder aber durch seine Methode, zwischen den Predigten durchaus auch einmal seine Perspektive zu wechseln. Zu diesem Interpretationsansatz paßt dann ein Vergleich mit der Elisabeth-Figur der Predigt 32, welche die tätige Liebe aus den theologischen Tugenden hervorgehen läßt. “Welch wunderbares Stehen, draußen wie drinnen”36 – diese Botschaft des »dritten Weges«, die sich auch sonst bei Eckhart findet (“Fragte mich jemand: Bruder Eckhart, wann ginget Ihr aus dem Hause? So bin ich darin gewesen.”)37 und die auch dem Hin und Her im selben Haus der Predigt 104 A entspricht, habe ich vielleicht in meinen bisherigen Interpretationen, ebenso wie die Rezipienten, zu wenig beachtet. Die “drei Wege zu Gott” sind nämlich nichts anderes als die vita activa (die Gottessuche im “Gewerbe” [negotium]); vita contemplativa (im Sinne der ekstatischen Kontemplation) und der »weglose Weg«, Eckharts eigenes Ideal der Einheit: dâ enist niht denne einez. Es ist mir unverständlich, wie der Bezug zu Aktion-Kontemplation, welcher der Maria-Martha-Perikope als automatische Referenz unterstellt werden muß, zumal bei deren figürlicher Bedeutung für die Spiritualität, von Interpreten geleugnet werden kann. Hier ist nämlich in einem d r i t t e n Interpretationsansatz zu zeigen, wie Meister Eckhart sich zur Tradition dieses bekannten Modells verhält. Ich betrachte hier seine Aussagen als einheitlich, und ebenso klar scheint er sie mir auf dem 36 37
LE II, S. 146, 38. Vgl. Mieth [Anm. 1], S. 193 (Übersetzung zu Predigt Pfeiffer LVI, S. 179–181.) 415
Hintergrund dieser Tradition, auch gegenüber Thomas von Aquin, zu profilieren. Dennoch hat seine Deutung der Martha-Figur weder das Odium eines rüden Bruches mit der Tradition oder gar mit dem Evangelium, noch ist diese Dialektik von “Innen und Außen” von “Oben und Unten”, für Eckhart untypisch. Offensichtlich, um mit der Predigtform und mit der exegetischen Methode zu beginnen, wählt Eckhart hier nicht die Auslegung einer bloßen Wortfolge. Es ist aber bei ihm nicht unüblich, wenn auch seltener, daß er nicht nur einen Satzteil oder einen Satz, sondern eine ganze Perikope seiner Auslegung zugrunde legt. So kann man im Vergleich feststellen, daß er in seiner lateinischen Predigt Homo quidam erat dives wirklich nur die Worte “Ein Mensch war reich” auslegt,38 während er in der deutschen Predigt 20, die in zwei Varianten überliefert ist, durchaus die ganze Geschichte von der Einladung zum Gastmahl in der Folge ihrer Verse auslegt. Wer zur Prüfung dieser Sachlage den Unterschied zwischen Predigt 2 und Predigt 86 heranzieht, wird feststellen, daß er ähnlich zu sehen ist wie der Unterschied zwischen der lateinischen und der deutschen Predigt über den reichen Mann, der zum Gastmahl einlud. Wenn nun Meister Eckhart nachweislich zu einem biblischen Motiv auf zweifache Weise, einmal in Wortfolge –, ein andermal in Satzfolge-Auslegung sprechen konnte, so haben wir keinen Grund, die Echtheit der Maria-Martha-Predigt von daher zu bezweifeln. Man wird auch sonst fündig, wenn man sucht. So legt die Predigt 27 drei Sätze einer Johannes-Perikope aus. Auch die Predigt 55 bezieht eine ganze biblische Szene mit ein (s. u.). Manchmal bilden die Schriftworte ohnehin nur einen Anlaß und nicht den Gegenstand für die Ausführungen der Predigt. Man sollte also den Prediger nicht in ein Bett pressen, das er sich nicht ausgesucht hat. Eine dialogische Form, die Auffassungen und Fragen aufgreift, um sie zu widerlegen und um sie zu beantworten, ist bei Eckhart nicht unüblich. Diese Form findet sich z. B. in Predigt 29 sowie in Predigt 104 A. Aber auch sonst finden wir das Frageund Antwortspiel, dialogische Elemente, um die Hörerinnen abzuholen, aufmerksam zu machen oder um sie zu provozieren. Die Formel “Nun meinen manche Leute” taucht oft auf. In dieser Hinsicht fällt die Predigt 86 keineswegs aus dem Rahmen. Auch die dabei angezogenen Motive gegen den Spiritualismus und Quietismus sind bei Eckhart nicht ungewöhnlich: es gibt bei ihm keinerlei Reduktion der Bedeutung von Tugend und Werk, wohl aber eine Polemik gegen die Äußerlichkeit des Werkes 38
Vgl. ebd., S. 317–328 zu Sermo XXII n. 206–216, LW IV, S. 190–203. 416
und – z. B. in Predigt 86 am Schlusse – gegen die Bindung des religiösen Verdienstes an das Werk. Stets geht es um die Weise des Umgangs mit dem “Außen”, nie um die reine Innerlichkeit als solche. “Herdfeuer und Stall” können ebenso Orte der Gottesbegegnung sein wie explizite Formen des Gebetes und der Zurückgezogenheit. Dies alles ist in der Eckhart-Literatur längst zum selbstverständlichen Topos geworden. Neben der Exegese, die an einer narratio der Perikope festhält und neben den dialogischen Momenten sind auch die f i g ü r l i c h e n Momente hervorzuheben. Zusätzlich zur Ekstase der Maria Magdalena – die “Wonne in der Wüste”, ein Spiel mit der Legende, aber auch mit der Eckhart eigenen Wüstenmetapher – wird auch die Ekstase des Petrus (angeschlossen an Mt. 16, 17) und die Ekstase des Paulus (nach 2 Cor 12, 3 – 4) herangezogen. Dazu gehören, wie bei Eckhart üblich, weitere biblische Subtexte, insbesondere zur Martha-Figur (Eph. 5, 16 und Ioh. 12, 35), in welchen die Einheit von innerer Erleuchtung und Wirken zum Ausdruck gebracht wird. Selbstverständlich handelt es sich hier zunächst um das innere Werk, die Ausrichtung des eigenen Werdens auf das Wirken Gottes; das “vernunfterhellte Wirken in der Zeit” ist aber hier so wenig wie auch sonst bei Eckhart ausgeschlossen, denn es meint ja das bindungsfreie Wirken in der Schöpfung. Daß die Predigt die Legende der drei biblischen Marien, die in Maria Magdalena vereint sind (der Sünderin, der Maria von Bethanien und der Maria von Magdala), kennt, bzw. mit deren Kenntnis durch die Zuhörerinnen spielt, darauf haben Wehrli-Johns, O. Langer, V. Leppin u. a. ebenso hingewiesen wie der Herausgeber N. Largier.39 Diese Legendenkenntnis und Verwertung findet sich auch in einer anderen Eckhart-Predigt über Maria Magdalena, der Predigt 55. In dieser Predigt wird ebenfalls die gesamte narratio der Perikope ausgelegt. Es handelt sich um die Begegnung der Magdalena mit Christus nach der Auferstehung. Von der “zärtlichen” Ansprache der Magdalena durch Jesus ist hier ebenso die Rede wie von Jesus als “ihrem lieben Haupt (= Vorgesetzter)”. Insofern ist die “berührende” Nähe in beiden Predigten nicht weit voneinander entfernt. Freilich geht es hier um Maria und nicht um Martha. In der Form werden sie aber ganz ähnlich beschrieben. In beiden Fällen wird das “Stehen” (beim Grabe, beim Tische) zur Metapher. In der Magdalenen-Predigt sagt Eckhart, daß er verschieden über “Sitzen” – als 39
Vgl. die kommentierte, zweisprachige Ausgabe [S. 12, Anm. 2], II, Frankfurt a. M. 1993, S. 742. 417
Haltung der Demut – und über “Stehen” gepredigt hat: “ich habe gelegentlich gesagt: ein Mensch, der stünde, der wäre Gottes empfänglicher”. Das “Stehen” steht hier gleichsam für die Durchlässigkeit für Gott. Ähnlich wie in Predigt 86 gehört zum Stehen die Nähe zu Gott. Nun könnte man gewiß fragen: warum wird in zwei verschiedenen Predigten in ähnlicher Weise über verschiedene Figuren gesprochen? Mir scheint dies keineswegs ein Widerspruch – sehen wir einmal davon ab, daß es dem Meister des Perspektivismus, der Eckhart nun einmal ist, nichts ausmacht, seine Äußerungen zu korrigieren und zugleich zu behaupten, daß er weiterhin dasselbe im Blick habe. Die “stehende” Martha und die ebenfalls “ganz nahe” stehende Maria – das ist zugleich Empfängnis und Demut auf der einen Seite (im Bilde des Sitzens besser ausgedrückt), und Gerichtetheit in das Werden aus dem Wirken andererseits. Daß aber Maria in der Predigt 86 noch nicht als die gestandene Auferstehungszeugin behandelt wurde, das war den Zuhörerinnen so ungewohnt nicht: war doch Maria Magdalena auch die Sünderin nach Lk 7, 47, worauf die Magdalenen-Predigt ausdrücklich verweist. Wie schön, angesichts engführender Kritiker in diesem Kontext bei Eckhart zu lesen: “ich habe gelegentlich gesagt ..., jetzt aber sage ich anders ...”. Die Figur der Elisabeth von Thüringen in der Predigt 32 kommt der Martha-Figur der Predigt 86, wie schon mehrfach erwähnt, am nächsten. Die Predigt beginnt mit der Haus-Metapher, die Eckhart offensichtlich liebt, um das Drinnen und das Draußen als einander zugehörig beschreiben zu können. Gleich am Anfang finden wir ein Motiv, daß auch in Predigt 86 zentral ist: das Zwei-Eine. “Ein alter Meister sagt, daß die Seele gemacht ist zwischen Einem und Zweien. Das Eine ist die Ewigkeit, die sich allzeit allein hält und einförmig ist. Die Zwei aber, das ist die Zeit, die sich wandelt und vermannigfaltigt. Er will sagen, daß die Seele mit den obersten Kräften die Ewigkeit, das ist Gott, berührt; mit den niedersten Kräften berührt sie die Zeit, und dadurch wird sie dem Wandel unterworfen und körperlichen Dingen zugeneigt, und dabei wird sie entadelt”.40 Daraus wird nun die Folgerung gezogen, die “Mängel” und den “Wandel” zu bessern, statt bloß Werke der Frömmigkeit zu verrichten. Das heißt, die Entadelung zu verhindern, ist eine e t h i s c h e Aufgabe (vgl. auch Pr. 33!). Diese ethische Ordnung von innen nach außen und von oben nach unten wird in der Predigt 86 genauso angesprochen. Auch hier geht es um dieses Zwei-Eine. Elisabeth lebt aus den eingegossenen theologischen Tugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe. Zugleich 40
Pr. 32, DW II, S. 133, 1–134, 4. 418
entspricht diesen Tugenden die Erkenntnis (Glaube), das Aufbegehren (Hoffnung) und der Wille (Liebe). Ausfluß dieser Tugenden ist die wahre innere Armut, die mit äußerem Reichtum einhergehen kann. Die Vollendung der in die Seelenkräfte eingegossenen Tugenden liegt aber eindeutig in der tätigen Liebe: “Sie begehrte danach, kranke und schmutzige Menschen waschen und pflegen zu dürfen mit reinem Herzen”.41 So deutet Eckhart übrigens die Epistel des Elisabeth-Tages: sein Brot nicht müßig essen (Spr. 31, 27). Eine ganz ähnliche Ethik findet sich in Predigt 33. Was Form und Figur der verhandelten Predigt 86 betrifft, so findet sie nicht nur in der vollendeten Magdalena und in Elisabeth ihren Halt und Gegenhalt, sondern sie kann auch Meister Eckhart als Meister der “Dekonstruktion” aufzeigen. N. Largier hat darauf aufmerksam gemacht. 42 Da mir hier der Raum fehlt, auf Largiers Vorschläge näher einzugehen, möchte ich mich darauf beschränken, Eckharts Methode der “Gegenwendigkeit” zu erläutern, welche mit “Paradoxie” vielleicht zu hilflos umschrieben ist. Für Eckhart ist kennzeichnend, daß er einen Gedanken bis zum Äußersten anstrengt und bis zum schärfsten Profil treibt. Zugleich aber hat er in seinen Predigten anerkannt, daß die Rezeption, statt den Gedanken nachzuvollziehen, nur seine Spitze sieht und diese dann als “passe-partout” einzusetzen versucht. Was aber im Vollzug des Gedankens richtig ist, wird falsch, wenn man es als Lehrsatz nach Hause trägt. Eckhart bleibt dann nichts übrig, als das Gleiche auf eine andere Weise zu sagen. Damit aber wiederholt er die Dekonstruktion, die er analysierten geläufigen Meinungen zukommen läßt, bei sich selbst. Dies macht die Lebendigkeit seines Denkens aus, denn es ruht in der Gleichzeitigkeit von Gewißheit und Änderungsbereitschaft – nicht in der Sache, wohl aber in der F o r m der Annäherung, die wegen des Entzugs der Sache selbst nur bleibend “dekonstruktiv” sein kann. Einen z w e i t e n Interpretationsansatz kann ich hier nur in einer “reprise” meiner Ausführungen über Tugend- und Werklehre, damit über die Ethik Meister Eckharts, kurz vorstellen. Ich habe nachgewiesen, daß Eckhart alle Tugenden, die theologischen wie die kardinalen (federführend die Gerechtigkeit) als eingegossene Tugenden 41 42
Pr. 32, DW II, S. 147, 6f. Vgl. N. Largier, Repräsentation und Negativität, Meister Eckharts Kritik als Dekonstruktion, in; C. Brinker, U. Herzog, N. Largier und P. Michel (Hgg.), Contemplata aliis tradere, Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität (Festschrift für A. M. Haas), Bern – Frankfurt u. a. 1995, S. 371–390. 419
betrachtet.43 Manche schreiben diese grundsätzliche Theologisierung bereits Thomas von Aquin zu;44 ich sehe die Verhältnisse bei diesem anders. Auf jeden Fall aber führt die schon früher (Josef Koch, Hans Hof) bemerkte Gleichsetzung von perfectiones spirituales und Tugenden dazu, daß das zentrale, von Eckhart mehrfach zitierte Wort der origenischen Gottesgeburtlehre, das “In-Gott-durch-Tugenden-und-WerkeWiedergeboren-werden”, Gottesgeburt und Ethik aneinander bindet, nicht so, als ob der ethische Vollzug die Gottesgeburt bewirke, aber so, daß er als ihr Zeichen betrachtet werden kann: Loslösung und Eingießung entsprechen sich ebenso wie Wirken aus der Einheit ohne Warum und Fruchtbarkeit (welche man nicht mit äußerer Effizienz verwechseln darf: Flores mei fructus). Ebenso ist die Werklehre Eckharts zunächst eine Verneinung des – vor allem: des religiösen – Werkes als Mittel der Annäherung an Gott. Eckhart ist m. E. hier radikal vorprotestantisch: keine Rechtfertigung aus den Werken. Aber ebenso wie im Protestantismus und seiner Geschichte bedeutet dies merkwürdigerweise nicht eine Distanz zum Wirken (die Passivität ist eher katholisch). Denn aus dem wirkenden Worte Gottes stammt ja mein Werden im Wirken. An die Stelle der Garantie durch das Werk tritt der Ausdruck des Garantierenden und des Garantierten im Wirken: das geprägte Siegel. Das heilige Sein, aus dem schon in den »Reden der Unterweisung« bei Eckhart das rechte Tun hervorgeht, wird am Ende der Predigt 86 ausdrücklich noch einmal erwähnt: “Wenn die Heiligen zu Heiligen werden, dann erst fangen sie an, Tugenden zu wirken ...”. Mir ist unerfindlich, warum G. Stachel die entsprechenden Parallelen mißachtet hat, sogar zwischen den “Reden” und der Predigt Unterschiede zu konstruieren versucht. Dazu ist zu sagen: es gibt keine. Was das “Süpplein” in den »Reden« ist, das ist der Tischdienst Marthas in Predigt 86 und der Krankendienst Elisabeths in Predigt 32. Und Eckhart unterscheidet hier, im Gegensatz zu Thomas, nicht zwischen den “höheren” Werken von “Predigt und Lehre” (bei Thomas alleiniger Gegenstand des contemplata aliis tradere) und den “niederen”, caritativen Werken. Der Adel der Seele ist ohne Privileg, ein Gedanke, der es möglich macht, daß Maria Magdalena den Aufer-
43 44
Vgl. Mieth, Die theologische Transposition [Anm. 20]. Vgl. E. Schockenhoff, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik Thomas von Aquins, Mainz 1987. 420
standenen noch v o r den Aposteln sieht, obwohl sie doch, wie Eckhart, vielleicht augenzwinkernd zu seinen Zuhörerinnen, bemerkt, “eine Frau war, und die, die da Männer waren ..., sich fürchteten”. Die Figur der Martha sammelt also in sich nur ein, was Eckhart über das Zugleich von Einheit und Tugend bzw. Werk zu sagen pflegt, und sie reklamiert diese Einheit keineswegs, Maria ausschließend, bloß für Martha. Eckhart hat mit seinen Zuhörerinnen, wenn auch in liebenswürdiger Auseinandersetzung mit ihnen, Marias Zukunft an der Seite der Apostel fest im Auge. Es scheint oft so, als ginge es nur vordergründig um Martha, im Hintergrund aber um die Frage nach der “wahren” Maria. Aber geht es nicht doch um Martha, und mit ihr um die vita activa? Nein, denn diese vordergründige Assoziation wird aufgehoben, Martha ist die Figur des weglosen Weges, die aus dem gottgeeinten Grund tätig ist. Sie ist nicht die Frau des Aufstiegsweges, die erst, im Sinne der Tradition der “vita activa”, “übt”. Die Übung liegt nämlich hinter ihr, und es ist ebenso eine Übung des Dienstes wie der Loslösung: “bei”, nicht “in” den Dingen. Indem Eckhart mit den Assoziationen des Modells spielt, hat er es zugleich auch schon dekonstruiert. Er hat es damit nicht abgelehnt oder beiseite geschoben. Er hat es vielmehr so in sein Denken integriert, wie er es an anderen Stellen, etwa über “Lea und Rachel”45 oder in seinen Thomas-Reminiszenzen tut: er hebt es nicht auf, sondern hinauf. Indem er Thomas in der traditio contemplationis recht gibt, beschwört er doch nicht das thomanische Nebeneinander und Nacheinander, vielmehr gibt es für ihn ein Miteinander, eine wechselseitige Durchdringung: dâ enist niht denne einez. Was die Aufwertung der Martha betrifft, so sei noch einmal auf Albertus Magnus verwiesen. In einer Paraphrase seiner Auslegung zeichne ich den Gedanken des Albertus46 nach: Der Herr tritt in die Mitte der beiden Frauen, beendet ihre Auseinandersetzung, indem er drei Dinge tut: er lobt Marthas Dienst (schon Augustinus hatte darauf Wert gelegt), er zeigt, was zum Leben notwendig ist (ohne Spitze gegen Martha!), und er legt fest, was als das beste jenseits dieses Lebens bleiben wird (die Schau im Himmel). Mit Augustinus (Eckhart nennt 45
46
Vgl. Pr. 75, DW III, S. 301, 10–302, 2: “ein wahres Leben der Lia, das bedeutet ein wirkendes Leben, das im Grund der Sache von der Berührung des Hl. Geistes bewegt sei.” Dies gehört nach Eckhart “notwendigerweise” (S. 301, 9) dazu. Vgl. die Textangabe bei Mieth, Die Einheit [Anm. 6], S. 278f. 421
noch Isidor) legt Albertus fest, daß die zweifache Namensnennung gegenüber Martha ein Zeichen der liebenden Annahme ist; der Herr gibt Martha Trost (fast wörtlich in Predigt 86 aufgenommen), ja er zeigt seine compassio mit der Belastung der Martha! Schon für Albertus ist das notwendige Eine oder die optima pars Mariae der Martha zum Trost für Mariens Zukunft gesagt (hier sieht Albertus eine andere Meinung bei Augustinus). Der Vorzug Marthas liegt, wie bei Augustinus, in der Notwendigkeit der Liebe, der Vorzug Marias im eschatologischen Plus der Schau. Aktion und Kontemplation sind einander in verschiedenen Ordnungen überlegen. Deshalb kann von einem Verweis an Martha keine Rede mehr sein – nur noch von Lob und Trost. Diese Ebene war spätestens im 13. Jahrhundert mit Albertus Magnus erreicht. Eckhart knüpft m. E. hier an, ohne dabei stehen zu bleiben. Er hebt die Dualität der beiden Ordnungen in ein Drittes hinauf, eben in den “weglosen Weg”. Um dies zu erreichen, profiliert er in Predigt 86 die Figur der Martha, in Predigt 55 die Figur der Maria Magdalena und in Predigt 32 die Figur der Elisabeth. Wohl dem, der sich an dieser Einheit in der Vielfalt nicht ärgert!
Schluß Die Predigt über Maria und Martha ist mit Recht berühmt. Nicht nur ich, sondern auch Eckhartforscher wie A. M. Haas haben hier einen wesentlichen Punkt der Entfaltung von Eckharts Spiritualität gesehen. Man muß Eckharts Konzeption nicht von dieser Predigt her erläutern, aber auch, wenn man sie von andern Texten her deutet, erscheint diese Predigt als eine Veranschaulichung. Die Tradition weist bereits in Eckharts Richtung. Aber er gibt dieser Entwicklung die Form, die auch heute noch aufregen kann. Wer Eckhart dieses Kleinod aus der spirituellen Krone brechen möchte, muß Gründe haben, die den Meister weder einengen noch verfälschen.
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