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German Pages 254 Year 2015
Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen
m e dien· k u 1tu r · an a 1y s e I herausgegeben von Reinhold Görling I Band 1
Trias-Afroditi Kolokitha, geb. 1973, hat 2004 an der Universität Hannover im Fach >>Deutsche Literaturwissenschaft>Deutsche Literaturwissenschaft«, 2004
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Godard, Jean-Luc und ECM Records. 1999. Histoire(s) du cinema. Band 3· München: ECM Records, 101. Lektorat & Satz: Thas-Afroditi Kolokitha Druck: Majuskel Medienpr oduktion GmbH. Wetzlar ISBN 3-89942-342-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
INHALT
Einleitung 11 Literaturwissenschaftliche Auslassungsdiskurse
23 Zwischenräumen, Leerstellen und Lücken auf der Spur
23 Die Leerstelle im Verständnis rezeptionsästhetischer Analysen
33 Die Leerstelle im Verständnis strukturalistischer Analysen
49 Zwischenräume und Leerstellen in visuellen Medien
55 Leerstellenfunktionen und Zwischenräume in Bildern der Malerei und der Wahrnehmungsphysiologie
55 Der Zeit-Zwischenraum in der Photographie und im Film und die kinematographische Bewegung
62 Zwischenräume und Leerstellen im kinematographischen Erzählraum
68 Godards Analytik des Bildes 93 Die vorgetäuschte Negation der Differenz und die Negation dieser vorgetäuschten Negation der Differenz 93 Die Negation der vorgetäuschten Negation der Differenz in der Kinematographie Jean-Luc Godards 101
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Heterotopien und Chronotopien im kinematographischen Erzählraum
108 Intermedialität als >Differenz-Form des Dazwischen
falsche< Schnitte verwendet. Dieses Buch ordnet sich indieneueren Forschungsansätze zur Relevanz intermedialer, visueller, akustischer und textueller Zwischenräume ein. Die aktuelle medientheoretische Forschung wird durch die zahlreichen Untersuchungen zu Intermedialität bis heute in einer Weise erkenntnisreich geprägt, die mich davon absehen lässt, mich ausschließlich der Erforschung intelmedialer Übergänge zu widmen. Vielmehr sollen Perspektiven von Übergängen und Zwischenräumen, von Durchlässigkeiteil und Verflüssigungen illustriert werden, die ein einzelner Forschungsgegenstand, wie bspw. >lntermedialität< ihn darstellt, alleine nicht abzudecken vermag. Veranlasst durch diese Lücke möchte dieses Buch die sich in Übergängen etablierenden veränderten Formen von Wahrnehmung und Artikulation in verschiedenen Bildern von Übergängen und Zwischenräumen umrahmen und in einen Dialog zueinander setzen, der einen sowohl thematisch als auch konzeptionell eigenständigen Rahmen bilden wird. Dabei werden die Ausgangshypothesen und terminologischen Differenzierungen auf Teilaspekte der sprachwissenschaftlichen, rezeptionsästhetischen und literaturtheoretischen Forschungsergebnisse zur Bedeutung von Leerstellen sowie auf bereits existierende Publikationen über die medientheoretische Relevanz der Filme Godards aufbauen und ihnen unter anderem im Kontext einer abschließend zu konturierenden visuellen Denkfigur eine abrundende Reflexion verleihen. Zentral hierfür ist das Kapitel über Godards 1992 gedrehten Film Helas pour moi: Dieser Film wurde innerhalb der Forschung bis heute nur marginal registriert und untersucht, bietet sich aber gerade aufgrund der Zusammenkunft unterschiedlichster Zwischenräume und Übergänge dafür an, die herausgearbeiteten Forschungsergebnisse und Hypothesen am Beispiel zu bündeln und gleichzeitig wichtige Fragen über Rahmenanordnungen in Zwischenräumen und Übergängen zu stellen.
Inhaltsübersicht Das vorliegende Buch rahmt Bilder von Zwischenräumen und Übergängen in sieben nachfolgend zu benennenden Kapiteln: Thematisch vorangestellte Reflexionen zum Phänomen des Zwischenraums, der Leerstelle und der Lücke, in denen unter anderem allgemeine Forschungsstandpunkte sprachwissenschaftlicher Leerstellen-
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ZWISCHENRÄUME, ÜBERGÄNGE UND DIE KINEMATOGRAPHIE JEAN-LUC GODARDS
Theorien zu skizzieren sind, dienen als Voraus-Gedanken und als Einleitung des ersten, literaturtheoretisch ausgerichteten Kapitels, in dem textuelle Zwischenbereiche im Vordergrund stehen. Um das Phänomen des Zwischenraums als nicht klar systematisierbaren Bereich zu umrahmen, in dem sich die Vieldeutigkeit der Erscheinungen auf keinen singulären Begriff reduzieren lässt, werden die wichtigsten Inhalte der Iiteraturwissenschaftlichen Leerstellen-Theorien zusammengetragen. Im Rahmen rezeptionsästhetischer (Roman Ingarden, Wolfgang Iser) und strukturalistischer (Jurji M. Lotmann, Michael Titzmann) Leerstellen-Konzepte sollen die Schwierigkeiten einer strukturell begriffenen Unterscheidung der Leerstelle von der Nicht-Leerstelle erörtert und die Notwendigkeit der Berücksichtigung eines Übergangsmomentes herausgearbeitet werden. Von einer den Begriffen des Zwischenraums, der Leerstelle und der Lücke inhärenten Grenz-Porosität ausgehend folgen im zweiten Kapitel Überlegungen zu Zwischenräumen in Bildern. Neben der Skizzierung des rezeptionsästhetischen Ansatzes des Kunsthistorikers Wolfgang Kemp am Beispiel von Jean-Leon Gerömes Der Tod des Marschall Ney werden Figurationen bidirektionaler Bedeutungsbewegungen in der Rubin 'sehen Vase sowie in der Hermann 'sehen Kontrasttäuschung pointiert. Um Figuren einer Bewegung geht es auch bei den Überlegungen zum Zeit-Zwischenraum in der Photographie. Den Ausführungen zur Bedeutung des photographischen Zeit-Zwischenraums für das filmische Bild sowie für den kinematographischen Erzählraum schließen sich Überlegungen zu Zwischenräumen im kinematographischen Erzählraum an. Die das dritte Kapitel einleitenden Ausführungen zum Illusionscharakter des konventionellen Kinos widmen sich ebenso der Akzentuierung von Zwischenräumen im kinematographischen Erzählraum. Hierzu wird insbesondere Godards Prinzip der Negation der vorgetäuschten Negation der Differenz konturiert. Da die Methodik des UND und des DAZWISCHEN ein bestimmtes Raumverständnis entwirft, lassen sich die bisherigen Überlegungen mit Foucaults Begriff der Heterotopie, mit Bachtins Konzept der Chronotopie sowie mit den wichtigsten Forschungsergebnissen zur Intermedialität abrunden. Nachdem die Vorstellung heterotoper, chronotoper und intermedialer Übertragungsbewegungen Anwendung auf das kinematographische Bild gefunden hat, soll die für die Kinematographie Godards prägnante Denkfigur der Vielheit im vierten Kapitel zeigen, inwieweit auch die Termini >Dokument< und >Fiktion< bei Godard nicht klar voneinander zu trennen sind. Um die Bedeutung dieser begrifflichen Verflüssigung für das rezeptive Bildverständnis des Zuschauers und für die Geschichten, die Godard erzählt, hervorzuheben, schließen sich Reflexionen über das Sehen und
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EINLEITUNG
den Blick an. Die Ausführungen zum subjektiven, fragmentarischen Erfassen von Bildern sollen in diesem Kontext dem Aspekt der Kontingenz des Blicks für Variationen des Sehens gesonderte Bedeutung beimessen. Im fünften Kapitel werden die bisherigen Ergebnisse und Hypothesen auf Godards Film Helas pour moi angewandt und die Variabilität der zwischen Dokumentarizität und Fiktionalität zirkulierenden Geschichten als Variationen des Sehens beschrieben, die den Blick als kontingente Variable inszenieren. Dabei eröffnet die Zusammenkunft der unterschiedlichen Variationen von Bildern und Geschichten bedeutende Fragestellungen über die Wiederholung selbstreferentieller Verweise in dem filmischen Werk von Godard. Das sechste Kapitel knüpft an visuelle Markierungen an, die Text und Bild im Übergang zueinander kennzeichnen. Es geht um Schrift-Bilder, um Denk-Bilder und um Schwarz-Bilder und deren Bedeutung für die Kinematographie Jean-Luc Godards . Schließlich soll im siebten Kapitel der titelgebenden Rahmenfunktion sowie dem Zwischenraum zwischen Innen und Außen, zwischen Rahmen und Nicht-Rahmen eine letzte Konturierung verliehen werden. Die zu skizzierenden Rahmenanalysen befassen sich zunächst mit Rahmenformen in der Malerei und im Film. Hinsichtlich der Vielheit des Rahmens und der Erzeugung von Zwischenräumen steht im Vordergrund, verschiedenartigen Rahmenbedingungen eine eigene Bedeutung beizumessen. Im Übergang von der Malerei zum Film zeigen Filmbeispiele von Jean-Luc Godard und Peter Greenaway, inwieweit durch die Inszenierung intermedialer Transformationsprozesse die Bilder aus ihren ursprünglichen (narrativen) Rahmengebungen und Rahmenformationen herausgehoben und in einen neuen, im Bereich der Rezeptions- und Medienästhetik Aktualität verzeichnenden Kontext integriert werden. Zuletzt geht es um die Bedeutung des Parergons für die Frage nach einer Vielheit von Rahmen. Diese in verschiedenen Rahmen und im Zwischenraum von filmischen Bildern skizzierten Erkenntnisse bilden schließlich den Übergang zu einer abschließenden Reflexion, die zumindest das Ende dieses Textes darstellen wird.
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LITERATURWISSENSCHAFTLICHE AUSLASSUNGSDISKURSE
Zwischenräumen, Leerstellen und Lücken auf der Spur Der Versuch, Zwischenbereiche, zu denen nachfolgend Zwischenräume, Leerstellen und Lücken zählen sollen, als das zu definieren, was sie dem Anschein nach sind, wird sich aufgrund zahlreicher zu skizzierender Diskursunsicherheiten als lückenhaft erweisen. Bereits das Denken über Zwischenbereiche illustriert, welchen Schwierigkeiten eine begriffliche Verortung unterworfen bleibt, die den Anspruch erhebt, konkretisierend und systematisierend zu sein, solange die Grenze zwischen dem, was vermeintlich oder vermutlich abwesend und dem, was anwesend ist, als hermetisch gedacht wird. Aus diesem Grund bietet es sich an, in Nahtstellen zwischen Leerstellen und Nicht-Leerstellen nicht eine undurchlässige Blockierung zu sehen, sondern vielmehr im Dazwischen eine Bewegung mitzudenken, in der der Übergang selbst als ein Bild oder eine Figur beschreibbar wird. Die sich aus dieser Bewegung abzeichnende Paradoxität kann schließlich die Diskursproblematik von Zwischenräumen, Leerstellen und Lücken erklären, jedoch nicht vollständig aufklären. Beim Beschreiben von Zwischenbereichen werden Prozesse, Verläufe und Übergänge sichtbar, die im Kontext ihrer Bewegungsformen wichtige Parallelen aufweisen: Im Sprachgebrauch werden Zwischenräume, Leerstellen und Lücken zwar unterschiedlich verwendet, dennoch ist ihnen eine bestimmte Bewegung im Übergang zu solchen Stellen gemeinsam, die nicht Zwischenraum, nicht Leerstelle und nicht Lücke sind. Da ihre Gemeinsamkeiten für das Aufspüren einer Übergangsbewegung von größerer Relevanz sind als ihre Unterschiede, sollen in erster Linie die Parallelen betrachtet werden. Insofern ist die Differenzierung zwischen den Begriffen nicht primär darauf ausgerichtet zu zeigen, an welchen Aspekten sich die Differenz von Zwischenräumen, Leerstellen und Lücken verortet, sondern stattdessen im Wechsel zwischen verschiedenen Topologien zu illustrieren, worin sie sich ähneln.
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ZWISCHENRÄUME, ÜBERGÄNGE UND DIE KINEMATOGRAPHIE JEAN-LUC GODARDS
Wie sich am Beispiel des Begriffes der Lücke zeigen lässt, resultieren die Schwierigkeiten, die sich während des Versuchs einer Definition ergeben, aus dem Begriff selbst; genauer: Sie resultieren aus dem, was mit diesem Begriff zu bezeichnen versucht wird. Das Problem ist somit in erster Linie dadurch bedingt, dass Gegenstand der Reflexion etwas ist, was sich in einer flächenhaften Abwesenheit darstellt, diese Abwesenheit sich sprachlich aber nur allzu ungenau spezifizieren lässt. Das hängt damit zusammen, dass das Denken oder Sprechen von bzw. über Lücken impliziert, etwas Lückenhaftes im wörtlichen Sinne zu assoziieren, denn der Begriff >Lücke< bezeichnet nur unpräzise die Abwesenheit von etwas in der Realität. Anders formuliert: Er bezeichnet die Abwesenheit von etwas in einer von uns als Realität gedachten Realität, die als Wirklichkeit bzw. als ein Teil der Wirklichkeit wahrgenommen wird. 1 An dieser Stelle soll es nicht um die innerhalb der Philosophie hinsichtlich der begrifflichen Differenzierung zwischen >Realität< und >Wirklichkeit< existierenden erkenntnistheoretischen Streitigkeiten, als vielmehr um den Aspekt des Topos und die hieran anknüpfenden Fragen gehen; denn wenn das, was mit dem Begriff der Lücke umrahmt wird, nur als Abwesendes anwesend ist, wie ist es dann möglich, dieses Abwesende auf eine Weise zu beschreiben, als sei es anwesend und im Sinne von Gegebenem seh- und wahrnehmbar? Das Problem einer Definition, welches in verschiedenen Forschungsansätzen bis heute nur brüchig gelöst werden konnte, ergibt sich im weitesten Sinne also aus der Frage, was in der Lücke ist. Der Wechsel zwischen Topologien wird zeigen, inwieweit den in verschiedenen Disziplinen existierenden Zwischenraum-, Leerstellenund Lücken-Diskursen eine ähnliche Paradoxität zugrunde liegt. Diese Paradoxität vermag in den Grundstrukturen ein physikalisches Konzept zum Vorschein zu bringen, aufwelches Jurij M. Lotman (1972) hinsichtlich der Bedeutung von Nullpositionen für die Struktur von Texten verweist: .. Die moderne Molekularphysik benutzt den Begriff des •Loches', der durchaus nicht das gleiche meint wie eine einfache Abwesenheit von Materie. Es ist vielmehr die Abwesenheit von Materie an einer Stelle der Struktur, die eigentlich ihre Anwesenheit voraussetzt. Unter diesen Umständen benimmt sich
Der Begriff ·Realität, bezieht sich hier auf ein Moment der unmittelbaren Erfahrung, d.h. auf die Bestimmung eines einzelnen, äußeren (z.B. materiellen) Seienden im Sinne von Gegebenem im Unterschied zur bloßen Erscheinung von etwas. Demgegenüber umfasst das, was hier als Wirklichkeit benannt ist, die Gesamtheit der überhaupt wahrnehmbaren oder erfahrbaren Gegebenheiten.
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LITERATURWISSENSCHAFTLICHE AUSLASSUNGSDISKURSE
das >Loch, derart materiell, daß man sogar sein Gewicht messen kann - versteht sich, in negativen Werten.« (157)
Analog zu dieser physikalischen Verfahrensweise versucht Lotman die Bedeutung von Löchern in Fom1 von so genannten gewichtigen und weniger gewichtigen Minus-Prijoml auch für die Struktur literarischer Texte zu erforschen. Demzufolge stellen extratextuelle Elemente zwar subjektiv und soziologisch veränderliche, aber dennoch real implizierte Komponenten textimmanenter Strukturen dar. Ohne diese Komponenten jemals vollständig benennen zu können, sind sie in ihrer strukturellen Gesamtheit dennoch Bestandteil jedes literarischen Werkes. Lotmaus Beispiel ist auf die hier geführte Diskussion insofern beziehbar, als es für die Betrachtung von Zwischenbereichen im übertragenen Sinne erklärt, aus welchem Grund auch in Zwischemäumen, Leerstellen oder Lücken nicht einfach nichts ist. Denn innerhalb der Molekularphysik wird die Abwesenheit von Materie- hier: die Abwesenheit von Materie in Löchern - als messbare Größe mit messbarem (negativem) Gewicht systematisiert, wodurch das Loch in seiner messbaren Struktur nicht mehr strukturlos erscheint. An ähnliche Erscheinungsformen des Sichtbaren und des Unsichtbaren anknüpfend, befasst sich Jean-Frans;ois Lyotard (1985) in seiner Ausstellung >lmmaterialien< im Centre Georges Pompidou vom 28. März bis zum 15. Juli 1985 mit Informationseinheiten, Datenübermittlungen und rezeptiven Wirkungsweisen medialer Nachrichtensysteme.3 Da mediale Kodier- und Dekodiersysteme in der Zeit der Postmodeme mehr und mehr als Realitäten erfahren werden, »die auf neue Weise ungreifbar« (11) erscheinen, wird auch Materie zunehmend zu einem Zustand zwi-
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Ein Prijom (Mehrzahl: Prijomy) ist ein innerhalb eines Textes verwendetes Kunstmittel bzw. eine im künstlerischen Aufbau des Textes verwendete Verfahrensweise. Prijomy treten nicht als isolierte materielle Gegebenheiten in Texten auf, sondern als Funktionen mit mehreren Komponenten, wobei deren künstlerische Wirkung immer Resultat einer Relation ist. ··Außerhalb einer solchen Relation existiert die künstlerische Wirkung einfach nicht.« (Lotman 1972, 144/145) Als Minus-Prijomy bezeichnet Lotman Prijomy in ihrer •negativenImmaterialverschwindenLeer-Unbestimmtheitsstelle< ist da. Bei einem realen Gegenstande sind [ ... ] derartige Leerstellen nicht möglich.« (Ingarden 1972, 265) Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Lücke. Zwar verwendet ihn Irrgarden hier nur an einer Stelle, allerdings in exemplarischer Weise. Und ebenso wie die Verwendung des Begriffes der Leerstelle nicht näher ausgeführt wird, bleibt auch die Verwendung des Begriffes der Lücke undifferenziert in seinem Bezug zum Begriff der Unbestimmtheitsstelle stehen. Über die nicht vollständig bestimmbaren dargestellten Gegenständlichkeiteil schreibt Irrgarden (1972): »Und doch könnte uns jemand einwenden- spüren wir bei der Lektüre keine >LückenUnbestimmtheitsstellen< in den dargestellten Gegenständen.« (167) Aus dieser begrifflichen Unschärfe leitet sich ein zweiter Kritikpunkt ab: Schwierig an der synonymen Verwendung der Begriffe ist in erster Linie nicht die Verwendung selbst, sondern ihre nicht erfolgte Thematisierung bzw. Problematisierung. Denn damit weist Irrgarden nicht darauf hin, welche Schwierigkeiten eine Definition von Leer- oder Unbestimmtheitsstellen zwangsläufig mit sich bringt. Ein solcher Hinweis
18 Ebenso wie lngarden geht es auch lser nicht primär um eine Klassifizierung oder Systematisierung verschiedener Zwischenbereiche, wobei er es anders als lngarden zumindest für möglich hält, dass sich ein gesamter Katalog von Schnitttechniken entwickeln ließe (lser 1975, 237): Einen Bezug zu Leerstel· len weisen Schnitttechniken darin auf, dass auch sie eine Beteiligung des Le· sers einfordern. Die Unterbrechung von Handlungsabläufen bspw. bewirkt, dass " wir die im Augenblick nicht verfügbare Information über den Fortgang des Geschehens vorzustellen versuchen. Wie wird es weitergehen? Indem wir diese und ähnliche Fragen stellen, erhöhen wir unsere Beteiligung am Vollzug des Geschehens. Dickens hat von diesem Sachverhalt schon gewußt; seine Leserwurden ihm zu 'Mitautoren'. " (237)
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würde Ingarden aber zumindest vor der Kritik der begrifflichen Ungenauigkeit bewahren. 19 Der dritte Kritikpunkt an dem Konzept Ingardens ist zugleich der erste und wichtigste an dem Konzept Isers: Er bezieht sich auf die Vorstellung, dass die textspezifische Relevanz von Unbestimmtheitsstellen und Leerstellen nur dann vollständig erfasst werden kann, wenn die unbestimmten Stellen geschlossen, aufgefüllt und damit beseitigt werden. Wenn Leerstellen aber nur durch ihre Beseitigung das Textverständnis zu vervollständigen vermögen, dann liegt ihre Bedeutung auch im rezeptionsästhetischen Sinne nicht in ihrem Vorkommen, sondern paradoxerweise in ihrer Entfernung. Auch wenn es hier keinesfalls darum geht, Zwischenräume, Leerstellen und Lücken mit Bedeutung aufzufüllen und damit zu entfernen, ist dennoch hervorzuheben, dass Isers Negations- und Negativitätsverständnis einen wichtigen Beitrag zum Wechselverhältnis von negierten und nicht-negierten Inhalten und Bestimmungen in literarischen Texten darstellt. Indem er in einem großen Umfang die verschiedensten Funktionen und Darstellungsweisen von Leerstellen in Texten aufzeigt, erweitert er Ingardens Konzept außerdem um den bedeutsamen Aspekt der interaktiven Dynamisierung. In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass Iser nicht ausschließlich Romantypen berücksichtigt, die Leerstellen abbauen oder bewusst einfügen, sondern ebenso solche, in denen Leerstellen thematisiert und referentialisiert werden. 20 Zwar geht auch Iser weder explizit auf die Schwierigkeit einer Thematisierung noch 19 Die Analysen haben gezeigt, dass sich eine Unschärfe in der Definition von Leer- und Unbestimmtheitsstellen, von Lücken, Zwischen- und Freiräumen und eine Vernachlässigung des Momentes des Übergangs durch weite Teile der literaturwissenschaftliehen und -theoretischen Leerstellen-Forschung zieht. Auch Bernhard J. Dotzlers (1999) Überlegungen zu Leerstellen in Iitera· rischen Texten (am konkreten Beispiel von Goethes Die Leiden des jungen Werther) vermögen die verschiedenen Zwischenbereiche nicht als Topologie des Übergangs zu umrahmen. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass sich Dotzler ebenso wenig wie lngarden und lser den für diesen Kontext relevanten Fragen widmet, auf welche Weise etwas abwesend sein kann, was bereits beinhaltet ist. Auch Dotzler berücksichtigt weder das Moment der Paradoxität noch das des Übergangs. Einen weiteren wichtigen Grund für die Unklarheit innerhalb der Terminolo· gie nennt Dotzler selbst: Dass eine sowohl syntaktische und semantische als auch pragmatische Gesichtspunkte berücksichtigende Typologie von Leerstellen bezeichnenderweise bislang nicht vollständig entwickelt wurde, führt er auf den Begriff selbst zurück: "Man kann das schlicht für ein Versäumnis halten, ein Desiderat, dem eines Tages noch abzuhelfen sein wird. Klüger dürfte indessen sein, diesen Mangel selber als Leerstelle aufzufassen: als Lücke, die bezeichnend ist.« (Dotzler online) 20 Als Beispiel führt lser (1976) lvy Camptan-Burnett an, der seine Protagonisten in Dialogsequenzen Leerstellen artikulieren und auf diese Weise referentiali· sieren lässt (298-301 ).
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auf den Aspekt des Übergangs ein; das Moment des Übergangs ist in seinem Leerstellen-Konzept allerdings zumindest im Ansatz bspw. an der Stelle impliziert, an der er die Relationen zwischen der text- und der vorstellungsspezifischen Relevanz von Leerstellen als korrelativ und unzertrennlich konstatiert. Bei allem Verdienst, der diesen innerhalb der literaturwissenschaftliehen Rezeptionsästhetik entwickelten Denkmodellen zukommt, bleibt über die aufgeftihrten Aspekte hinaus die Frage ungestellt, wie die Relation von Rezeption und Interpretation zu bewerten ist. Diese Frage wurde innerhalb der Rezeptionsästhetik allenfalls in Ansätzen diskutiert (Wünsch 1981 ). Ein zentraler Grund dafür, weshalb weder Ingarden noch Iser diese Fragestellung gesondert fokussiert haben, resultiert gewiss nicht zuletzt aus einer Schwierigkeit, die sich aus dem Begriff der Interpretation selbst herleitet: In der Literaturwissenschaft wird er zwar relativ einheitlich zur Benennung von Tätigkeiten verwendet, die ftir die Auslegung, Erklärung und Deutung von Text(segmenten) bedeutend sind, doch bedienen sich solche Tätigkeiten unterschiedlicher Verfahrensweisen, die nicht immer einen literaturwissenschaftliehen textanalytischen Anspruch erheben. 21 Der Verweis auf die zwischen der Textanalyse und der Rezeption vorliegenden Relationen vermag innerhalb des Leerstellen-Diskurses aber gerade in diesem Punkt einen Moment des Übergangs zu markieren.22 So wie ein Übergang zwischen Zwischenbereichen und solchen 21 Obwohl jede Interpretation, die in Anlehnung an Michael Titzmann (1977) als Textanalyse zu bezeichnen ist, einen Akt der Rezeption darstellt, lassen sich diese beiden Begriffe dennoch in einem spezifischen Punkt voneinander unterscheiden. Marianne Wünsch (1981) zufolge ist eine Rezeption ein Umgang mit Texten, der nicht in wissenschaftlicher Absicht und mit wissenschaftlichem Anspruch stattfindet, obwohl er vielleicht im Einzelnen die Bedingungen für Textanalysen erfüllt, oder der die Bedingungen für Textanalyse nicht erfüllt, obwohl Absicht und Anspruch vielleicht durchaus wissenschaftlich sind (198). Eine gezielte Unterscheidung der Textanalyse von der Rezeption ist demnach dann möglich, wenn beide als kulturell etablierte, an verschiedenen Normen orientierte Praktiken verstanden werden, die durchaus " untereinander deskriptiv verglichen, normativ aneinander aber nur gemessen werden können, wenn sie ihre Grenzen überschreiten, d.h. wenn etwa die Textanalyse verbindliche evaluative und affektive, oder die Rezeption verbindliche textanalytische Aussagen" (Wünsch 1981 , 199) erfüllt. 22 Verwiesen sei kurz auf eine Unterscheidung dreier Rezeptionsakte, die Wünsch anhand einer experimentellen Untersuchung ausgearbeitet hat: a. Bedeutungszuordnungen, die der Rezipient an dem Text vornimmt; b. kognitive, evaluative und affektive Einstellungen des Rezipienten zum Text; c. Einstellungsveränderungen des Rezipienten durch den Text. Interessanterweise besteht nur in dem ersten Aspekt eine Übereinstimmung zwischen Merkmalen der Textanalyse und der Rezeption, wobei diese Übereinstimmung nicht einer Austauschbarkeit gleichkommt. Auch wenn die Textanalyse ebenso wie die Rezeption nach Bedeutungszuordnungen des Rezipienten an den Text verlangt, bedeutet dies keineswegs, dass die Rezeption die Textanalyse in diesem Punkt ersetzt, bestätigt, widerlegt oder dass die
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Stellen, die nicht als Zwischenbereiche bezeichnet werden, markierbar ist, lässt sich auch ein für die rezeptive Erfassung von Leerstellen bedeutsamer Übergang zwischen der Rezeption und der Interpretation beobachten.23
Die Leerstelle im Verständnis strukturalistischer Analysen Innerhalb der Literaturwissenschaft wurden vor allem in den 70er Jahren Versuche unternommen, die definitorischen Ungenauigkeiten in der Erfassung von Leer- und Unbestimmtheitsstellen, Lücken und Freiräumen in Texten unter Berücksichtigung strukturalistischer Gesichtspunkte zu beseitigen. Formen bedeutungstragender Absenz und auffälliger Kohärenzlücken wurden bereits innerhalb des russischen Strukturalismus unter anderem mit dem Begriff >Minus-Prijom< umschrieben. Da dieser Begriff auf eine allgemeinere Problematik hinweist, hat Jurij M. Lotman (1972) etwa zeitgleich mit den Untersuchungen Isers in seinen Überlegungen zur Struktur literarischer Texte über die Bedeutung von Minus-Prijomy hinaus auch nach der »konstitutiven Rolle bedeutungstragender Nullpositionen (>zero-problemeEntre-images< zwischen den Gesichtern. Joachim Paech (1994), der der Rubin 'sehen Vase im Schreiben über Zwischenbilder gesonderte Beachtung geschenkt hat, merkt hierzu an: »Das >L'Entre-images< ist hier eine operative Grenze, die nach beiden Seiten interdependente figurative Effekte hervorruft; die Gestalt der Vase ist ein Zwischenbild oder >Bild zwischen den BildernFilmWerden< nicht denkbar ist. Jede Bewegung verändert das Ganze. In unserer Wahrnehmung von der Wirklichkeit sind wir selbst als Bild enthalten. Deleuze entwirft aus Bergsons Vorstellung eines BilderUniversums ein Denk-Modell für das Kino und schlussfolgert, dass Bewegungsbilder Wahrnehmungsbilder sind und umgekehrt. In seiner Kinotheorie gibt uns die Kinematographie nicht unbewegliche Bilder und dazu ein Verfahren, das Bewegung hinzufligt, sondern sie gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild.
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Damit ist jedes Bild Bewegung und jede Bewegung Bild.9 Als Kritik wendet Paech (2002a) nun ein: Wenn Bild und Bewegung identisch und vorausgesetzt sind, »dann ist ein Unterschied zwischen Bild und Bewegung nicht mehr möglich, bzw. dann gibt es keine Bilder mehr, denen es in ihrer figurativen Darstellung gerade um das Heraustreten aus der Bewegung geht, das sich auch gegenüber dem Film im Begehren des L' arret sur l'image oder im Photogramm äußert.« (156) Verhindert deshalb die Bewegung nicht eher das Bild? Kann eine Bewegung zum Bild werden? Wenn nicht, wie kann man eine Bewegung denken, die sichtbar ist? Paech bietet folgende Erklärung an: 10 Demnach sind Bild und Bewegung »in einem Prozeß der Figuration aufeinander bezogen, wobei jede Seite Medium für den Formprozeß der anderen Seite sein kann, je nachdem, ob wir das >Bild der Bewegung, oder die ,Bewegung des Bildes, beobachten: Die >Bewegung des Bildes, erschließt sich uns im Medium der Form und ihrer raum-zeitlichen Veränderungen, zu denen ein >Bild der Bewegung,, nämlich die Differenzfigur zwischen den Bildern, als Form des Mediums Bewegung komplementär ist." (157)
Über das Verhältnis von Bild und Bewegung schreibt Bergsan (1919) in Materie und Gedächtnis: »Wir wollen uns einen Augenblick vorstellen, daß wir weder von den Theorien über die Materie, noch von den Theorien über den Geist, noch von den Streitigkeiten über die Realität oder Identität der Außenwelt irgendetwas wüßten. Da sehe ich mich denn umgeben von Bildern - [...]. Da sind also die äußeren Bilder, alsdann mein Leib und endlich die Modifikationen, die mein Leib an den ihn umgebenden Bildern bewirkt. Ich verstehe die Art des Einflusses, den die äußeren Bilder auf das Bild, welches ich meinen Leib nenne, ausüben: sie übertragen Bewegung auf ihn. Ebenso verstehe ich den Einfluß meines Leibes auf die äußeren Bilder: er gibt ihnen Bewegung zurück. Mein Leib ist also in der Gesamtheit der materiellen Welt ein Bild, das sich wie die anderen Bilder betätigt: Bewegung aufnimmt und abgibt, mit dem einzigen Unterschiede vielleicht, daß mein Leib bis zu einem gewissen Grade die Wahl zu haben scheint, in welcher Form er das Empfangene zurückgeben will." (1, 3) 10 Als Alternative zu Deleuzes Definition des Bewegungs-Bildes bindet Paech (2002a) zwei Begriffe in seine Argumentation ein, die auch Deleuze in seinen Überlegungen zur Malerei Francis Bacons verwendet: den Begriff der Linie und den des Diagramms. »Das Diagramm der Bewegung ist ein Bild des SichSchreibens als Linie, die die Beziehung zwischen den Punkten darstellt." (158) Paech (2002a) sieht in dem Bild eines Diagramms ein größeres Potential für die Erfassung kinematographischer Relat ionen als in Deleuzes Idee des Bewegungs-Bildes: »Weil das Diagramm nicht das Bewegungs·Bild ist, kann es Bild und Bewegung als diejenige polare Relation behaupten, die allen medialen Formen als Differenz inhärent ist." (161) Damit beschreibt Paech das Durchschnittsbild als eine »diagrammatische Figuration (des Ereignisses) einer Linie [...], deren Bewegung durch die Bilder hindurch, die sie in Beziehung setzt, das Bewegungsbild konstituiert." (135)
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Bild und Bewegung können also nicht gleichzeitig wahrgenommen werden, stattdessen kann aber ihre Relation gedacht werden. Die von Paech markierte Verbindung zwischen Bewegung und Bild bezieht sich vordergründig auf die Erkenntnis, dass die filmische Bewegung im Intervall ist, womit abschließend noch einmal die Bedeutung des Zwischenraums fiir das Kino unterstrichen ist: Als >Differenz-Form des Dazwischen< (Paech in: Helbig 1998, 16) ist der Zwischenraum zwischen den Bildern unerlässlich und konstitutiv für eine Kontinuität, die immer technisch als Filmtransport gegeben und als solche neutral ist, da diese Kontinuität auf der Ebene des Dargestellten Brüche etc. in der filmischen Erzählung erzeugt, ohne selbst an gleichmäßigem Fortgang einzubüßen. Dass die durchlaufende Bewegung des Filmbandes auf der Ebene des Dargestellten nicht angehalten werden kann, darauf verweist auch Deleuze (1998) ausdrücklich zu Beginn seines ersten Bergson-Kommentars in seiner Kino-Schrift Das Bewegungs-Bild: Man mag »noch so sehr zwei Punkte in Raum oder Zeit bis gegen unendlich einander annähern: die Bewegung wird sich immer in dem Intervall zwischen ihnen ergeben, also hinter unserem Rücken«. (13)
Zwischenräume und Leerstellen im kinematographischen Erzählraum »Es hat da etwas gegeben: ein Bild; ein Bild, das nur Bewegung war nicht ein Bild, wie wir es im Fernsehen sehen, das nur Ankunft oder Abfahrt zeigt, niemals aber, was sich zwischen beiden ereignet und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.« (Godard 1996, 63) Wem Filme von Godard vertraut sind, der weiß, dass dieses Bild ein Verständnis vom kinematographischen Bewegungs-Bild darlegt, das den Zwischenraum voraussetzt und dabei zugleich Zwischenräume markiert, die für das Kino charakteristisch sind. Zwischenräume, Leerstellen und Übergänge finden sich in der Kinematographie neben der technisch-apparativen Ebene auf verschiedenen anderen ästhetischen Ebenen. Will man ihre Interaktion zur Erreichung bestimmter Effekte beschreiben (wie beispielsweise der Erzeugung des für das Kino signifikanten illusionären Realitätseindruckes), dann müssen sie in ihrer Funktion auseinandergehalten werden. So wird die Illusion (mit)erlebter Realität über das Bewegungsmoment und die Erzeugung von Kontinuität als Abfolge älmlicher Bilder hinaus auch durch die räumliche Anordnung des Kinosaals mitgestaltet. Als Raum ist das Kino Bedingung dafür, dass Projektionen auf der Leinwand sichtbar werden können. In der Anordnung von Leinwand und Sitzplätzen errichtet das Kino einen Raum, der sich als Zwischen-
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raum zwischen zwei Wirklichkeiten platziert: einer ästhetischen und einer sozialen. Zwischen diesen beiden Wirklichkeiten ist der Zuschauer den filmischen Bildern nah, zugleich ist er in räumlicher Distanz zur Leinwand angeordnet. In diesem Zusammenhang hebt Joachim Paech (1990) hervor, dass erst diese >siimliche Nähe von Distanz< den ästhetischen Raum der Filmprojektion sowie die mit der Filmprojektion hergestellten illusorischen Realerfahrungen gewährleistet. Denn sobald das Gesehene kein isoliertes Ereignis mehr darstellt, wie etwa beim Fernsehen oder beim Video, ist der ästhetische Raum des Kinos fragmentiert. »Das Paradox der >sinnlichen Nähe von Distanz< und deren Bedeutung für den >effet de realite< der Filmprojektion sind konstitutiv für die kulturelle Rolle des Kinos I Films in der Modeme, wenn darunter der Prozeß der allmählichen Substitution der Realerfahrung (der >DingeSutureNaht< bzw. >Nahtstelle< bedeutet, in die Psychoanalyse integriert, um die für die Identitätstindung konstitutive Spaltung des Subjekts zu markieren: >Suture< nennt Lacan (1978) in seinen Überlegungen zum Bild die im Augenblick des Sehens offenbar werdende Nahtstelle zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen. »Der Augenblick des Seheus kann hier nur als Nahtstelle auftreten, als Verbindung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen, er wird wiederaufgenommen in einer Dialektik, in jener Art zeitlichem Progreß mit dem Namen Hast, Elan, Vorwärtsbewegung, die sich über demjascinum schließt.« (125) 11 In der psychoanalytischen Bedeutung dieses Begriffes wird das grundsätzliche Problem des Subjekts aufgezeigt, seine Identität aufgrund seiner 11 Im Original heißt es: »L'instant de voir ne peut intervenir ici que comme Suture, jonction de l'imaginaire et du symbolique, et il est repris dans une dialectique, cette sorte de progn!s temporel qui s'appelle la hate, l'elan, le mouvement en avant, qui se conclut sur le fascinum. « (Lacan 1973, 107)
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Beziehung zu einem sprachlich strukturierten System ausschließlich über eine Spaltung errichten zu können. Diese Spaltung hat im Spiegelstadium begonnen und begleitet das Subjekt durch die symbolische Ordnung. »Die Sprache bzw. die Gesamtheit der symbolischen Systeme ist damit nicht länger ein Mittel, das einem stabilen und identischen Subjekt sich andient, etwa um, auf Basis der Identität, nun luxurierend auch noch Kommunikation zu ermöglichen; das Subjekt selbst verdankt sich der Sprache und muß seine Einheit im Medium der Sprache sich immer wieder bestätigen.« (Winkler 1992, 55) Dem Imaginären und dem Symbolischen der sprachlichen Ordnung verhaftet, bleibt das Subjekt den Signifikanten unterworfen: Somit ist die Identität des Subjekts eine an eine Kette von Signifikanten gebundene, hergestellte Identität; einzig über den Umweg eines dem Ort des Anderen entsprechenden Ab- bzw. Trugbildes vermag das Subjekt seinen Ort als Ich zu bestimmen. 12 1969, wenige Jahre nachdem Lacans Schüler Jacques-Alain Miller eine konzeptionelle Ausarbeitung des Begriffes >Suture< vorgenommen hat, bezieht ihn Jean-Pierre Oudart (1969a, 1969b) in das Feld der Filmtheorie ein: 13 Um die Bedeutung des kinematographischen Erzählraums für die Subjektkonstitution des Betrachters analysieren zu können, bestimmt er die Positionierung des Zuschauers als integrativen Bestandteil der filmischen Abbildung. In ihrer filmtheoretischen Relevanz erscheint die Suture nun als ein filmsprachliches Struktur- und Organisationsprinzip, das das sprachliche Repräsentationssystem >Film< in einen Kontext mit dem Prozess der Subjektempfindung setzt. Als Strukturprinzip ist die Suture eine von der Repräsentation freigelassene Leerstelle, die das 12 Nach Lacan (1975) ereignen sich im Spiegelstadium, welches sich in den Zeit· raum vom sechsten bis zum achtzehnten Monat datieren lässt, die ersten Ich· Prüfungen (•recolement du moi•) und entsprechend die Gestaltung der ·for· mation du je•, der ersten Ich-Bildungen (67). Unabhängig davon, dass das Kind beim Anblick im Spiegel zu diesem Zeitpunkt über ein nur grobmotorisches Koordinationsvermögen verfügt, begreift es sich und seinen Körper als eine Einheit. Über den Umweg des Trugbildes und durch die Identifizierung mit dem Bild des Ähnlichen vollzieht sich eine imaginäre Vereinheitlichung des eigenen, als unvollkommen empfundenen Bildes mit dem falscherkannten Bild im Spiegel. Obgleich sich das infans-Stadium, die ursprüngliche, primordiale Form des Ich »in der Dialektik der Identifikation mit dem andern•• objektiviert, »bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion des Subjektes wiedergibt•• (64), bleibt die Beziehung des Kindes zu sich selbst und zu seiner Umgebung durch eine ursprüngliche Zwietracht gekennzeichnet, welche zunächst in Gesten des Unbehagens und der motorischen Inkoordination zum Ausdruck gebracht wird und sich schließlich in der Konstituierung eines alter ego widerspiegelt. Der primäre Identifikationsvorgang im Spiegelstadium, der Lacan zufolge allen folgenden sekundären Identifikationen zugrunde liegt, basiert folglich auf einem Prozess des Verkennens. 13 ln den 80er Jahren beschäftigten sich auch Daniel Dayan und Stephen Heath (1981) intensiv mit der Bedeutung der Suture für den Zuschauer im Kino (zum Unterschied der Theorien vgl. Silverman 1983).
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Subjekt während des Schauens imaginär bindet; sie markiert ein fehlendes Element oder einen Mangel, der aber als Ersatz von etwas gekennzeichnet ist. Oudart sieht die Grundstruktur der Lacan'schen Subjektkonstituierung im Film in folgender Weise realisiert: Seines Erachtens bewegt sich der Zuschauer in einem Spannungsverhältnis zwischen einem Triumph über das Bild (Triumph, das Bild zu >besitzenleer< gelassenen Raumes erst durch eine Verschleierung der technisch-apparativen Seite des Mediums herzustellen weiß. Mit
14 Im Kino dienen die filmischen Bilder als Identifikations· und Projektionsfläche und ermöglichen eine Inszenierung des ·Eigenen im Ähnlichentoleriert< oder >erträgtRaum< und >Masse< abhängige und somit relative Größe ist. Newtons Vorstellung einer absoluten Zeit, die für alle gleich ist, ist damit nicht mehr haltbar. Auch wenn die Richtung der Zeit durch das Streben von Ordnung zu Unordnung vorgegeben zu sein scheint, so gibt es dennoch bis heute keine allgemein gültige Definition darüber, inwiefern Zeit die Regelmäßigkeit aufweist, von der wir ausgehen. Aufgrund dieser thematischen Komplexität beziehen sich die folgenden Ausftihrungen ausschließlich auf Zeit im Film und damit auf solche Zwischenräume, die in der zeitlichen Entwicklung von filmischen Handlungsprozessen sowie in unserer subjektiven Erfassung dieser Entwicklung entstehen. Ohne die zeitlich begrenzte Kontinuität (Filmbeginn I Filmende) zu unterbrechen, ist es im Film möglich, bestimmte zeitliche Abläufe des Geschehens auszulassen, sie zu überspringen (Zeitraffung) oder aber sie auszudehnen und zu verlängern (Zeitdehnung). Während die Zeitdehnung im Film eher selten eingesetzt wird, kommt kaum ein Film ohne die Raffung von zeitlichen Ereignisabläufen aus, denn die erzählte Zeit ist in der Regel deutlich umfangreicher als die der Erzähldauer einer Filmhandlung entsprechende Erzählzeit 32 Bei zeitlichen Zwischenrätm1en handelt es sich demnach um Zwischenräume, die aus Brüchen der filmischen Diegese, d.h. aus Kausalitätsbrüchen innerhalb der Narration und ihrer räumlich-zeitlichen Dimension entstehen. So lässt die Fragmentierung einer narrativzeitlichen Linearität durch Auslassungen, durch Zeitdehnung und Zeitraffung im Bild und in der Imagination des Zuschauers Zwischenräume entstehen, die nicht losgelöst von der Erzählhandlung vorstellbar sind: Folgt die Narration keiner sich dem Zuschauer aus dem Plot offenkundig erschließenden kausal-linearen Entwicklung, so ist sowohl die Erzählhandlung als auch die erzählte Zeit in ihrer Linearität verzögert und un32 Über die Formen des zeitlichen Rückgreifens (z.B. mit Rückblenden; häufiges Genre: Historien- und Dokumentarfilme) und die Formen des Wechsels der Zeiten im filmischen Erzählen hinaus existiert im Film auch die Möglichkeit des Vorgreifens von zeitlichen Ereignissen (häufiges Genre: Science Fiction).
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terbrochen. Da eine filmische Geschichte getrennt von einer zeitlichen Dimension nicht möglich ist, existiert eine sich gegenseitig vermittelnde Zirkularität, durch die jeder Bruch auf der Ebene der Diegese eine (narrative) Unterbrechung der zeitlichen Dimension des Films erzeugt. Dasselbe gilt für Zeitsprünge, Zeitverzögerungen und Zeitausdehnungen: Sie bewirken stakkatoartige Stockungen und Einschnitte innerhalb der narrativ-zeitlichen Kausalität. Auf diese Weise können zwischen den einzelnen übersprungenen, verzögerten oder durchbrochenen narrativen Elementen aufunterschiedlichen Ebenen Zwischenräume in der erzählten Zeit entstehen. Die in der Filmgeschichte einzigartige und berühmte Stau-Szene aus Godards Week-end (1967) visualisiert eine solche Bewegung des sich Schneidens, Kreuzens, Beschleunigens und Verzögems verschiedener Räume und Zeiten auf bezeichnende Weise: In der siebenminütigen schnittlosen Kamerafahrt entlang einem Stau, der den Weg des Ehepaars Corinne und Roland vormittags um 11 .00 Uhr blockiert, vermischen sich Real-Zeit und Erzähl-Zeit, Verzögerungen und Beschleunigungen in einer ohrenbetäubenden Geräuschkulisse: Corinne und Roland müssen sich beeilen und ein Überholmanöver unter Beschleunigung beginnen, um nicht an Zeit zu verlieren, denn der im Sterben liegende Schwiegervater ist so vermögend, dass die beiden seinem Ableben mit Gift im Kartoffelbrei schon seit fünf Jahren nachzuhelfen versuchen. »Für sie bildet der Stau eine Verzögerung, die sie paradoxerweise daran hindem wird, den Lohn einer heimtückischen Beschleunigung zu kassieren.« (Schneider in: Roloff und Winter 1997, 85) Mit der Zeitdauer des (narrativen) Staus wächst sowohl die Zeitverzögerung ihrer Reise als auch die Bedrohung, dass der Sterbende von der Mutter aus dem Krankenhaus abgeholt wird, um rechtzeitig vor seinem Ableben das Testament abändern zu lassen - und zwar zum Nachteil von Corinnes und Rolands Erbwunsch. Durch Einblendungen im Bild erfährt der Zuschauer, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem Corinne und Roland den Stau zu umfahren versuchen: Nach knapp 2 Y, Minuten Erzählzeit sind bereits 2 Stunden und 40 Minuten filmisch-szenisch erzählter Zeit verstrichen. Wenige Sekunden später folgt die Einblendung eines weiteren Inserts: 14 H 10. Auch als Corinne und Roland die Wagenkolonne endlich überholt haben, ist ihre Reise nach Oinville eine immer wieder Verzögerungen erleidende, achronologische raumzeitliche Irrfahrt. Nachdem sie ihren Wagen zu Schrott gefahren haben, beginnt eine neue Zeitrechnung, in der sie verschiedene historische, literarische, mythische und fiktive Räume der Vergangenheit durchstreifen. Erst nach einer einwöchigen Odyssee errei-
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chen sie ihr Ziel; zu spät, denn der vermögende Schwiegervater ist den Folgen des mit Gift verfeinerten Kartoffelbreis bereits erlegen. Es fällt auf, dass die in Week-end skizzierte Zeit weder einem modalen Zeitbegriff, welcher Zeit als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft denkt, noch einem rein metrischen Zeitbegriff entspricht, der jede zeitliche Relation durch >früher als< oder >später als< kennzeichnet. Stattdessen werden die Ereignisse in Week-end in verschiedenen Zeiten verräumlicht, wodurch auch der Raum, in dem die Ereignisse stattfinden, in verschiedenen (narrativ-diegetischen Zwischen-)Räumen verzeitlicht wird. Damit ist in Week-end auf beispielhafte Weise jede Idee einer auf linearen Prinzipien basierenden Kausalität dekonstruiert, die zu einem >gegenwärtigen< Zeitpunkt in der Geschichte als folgerichtig einzuordnen wäre. Der Stau in diesem Film ist also ein narrativer Stau in heterogenen diegetischen Zeit-Räumen, der das Medium selbst aber unberührt lässt, während er die Erzählung bestimmt und sich der Wahrnehmung des Zuschauers mitteilt. Somit finden sich auch die zeitlichen Zwischenräume, die zwischen den verschiedenen Zeit-Räumen entstehen, immer auf der erzählend darstellenden und nie auf der medialen Ebene.
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Die vorgetäuschte Negation der Differenz und die Negation dieser vorgetäuschten Negation der Differenz Das bewusste Hervorheben von Zwischenräumen optischer, akustischer, textueHer und narrativ-zeitlicher Art sowie das Einfügen von Sprüngen, Absenzen und Wahrnehmungslücken im Film resultiert in der Kinematographie Jean-Luc Godards aus dem Bemühen, filmische Bilder dadurch vor einem diaphanen Vorüberziehen im rasenden Bewegungsfluss einer indifferenten Bilderkette zu >bewahrenblockierenBlockierung< ist allerdings nur dann die Rede, wenn filmische Produktionsapparaturen (wie zum Beispiel die Kamera oder der Schneidetisch) im Film nicht lediglich gezeigt, sondern wenn sie in einen diskursiven, die Differenz als konstitutives Element des Mediums des Films berücksichtigenden Kontext integriert werden (Paech in: Helbig 1998, 22). Auch Christian Metz (1997) hat bezweifelt, dass das Verfahren des theoretisierenden Zurschaustellens des kinematographischen Apparates von sich aus eine kritisch-aufklärerische, subversive Funktion haben kann. Als Grund führt Metz an, dass solche reflexive Markierungen in den meisten Filmen selbst nur im Enunziat zugänglich sind (69). Obwohl er dieses Argument mit Blick auf den jeweiligen Film modifiziert wissen will,4 hält er fest, »daß die filmische Operation, die mit dem heute wohl etablierten Label >das Dispositiv zeigen< versehen wurde, in Wirklichkeit allerdings nur selten DAS Dispositiv, d.h. sein eigenes, zeigt, sondern sich in der Regel gern damit begnügt, EIN Dispositiv zu zeigen, nämlich das von anderen Filmen, seien diese nun rein virtuell oder wirklich in der Erzählung.« (Metz 1997, 70) Sobald aber mehr als bloß auf das Dispositiv angespielt wird, sobald zum 4
Als Beispiel führt Metz Godard an, wobei er hervorhebt, dass »es auch ihm [Godard, Anm. d. Verf.] passiert, zu schießen ohne zu zielen" . (70)
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Beispiel die Differenz zwischen der Form- und der Medienseite zu einer semantischen Figur wird, besteht zumindest prinzipiell die Möglichkeit, dass der Zuschauer das kontinuierliche Vorbeiziehen der Bilder als Illusion enttarnt.
Die Negation der vorgetäuschten Negation der Differenz in der Kinematographie Jean-Luc Godards In seinen Überlegungen zu Wassilij Iwanowitsch Surikows Bild Bojarin Morosowa zeigt Eisenstein (1961), wie Surikow die Aufmerksamkeit des Betrachters in stärkstem Maße an eine im Bild plastisch nicht dargestellte Stelle bindet: an das Gesicht der Bojarin Morosowa oder vielmehr an die »Worte des flammenden Aufrufs, die aus ihrem Munde erschallen« (225). Der Goldene Schnitt geht scheinbar durch die Luft, hinein in eine Leere, die keineswegs ins Leere läuft. Im Gegenteil: Der Goldene Schnitt streift durch das Bedeutsamste, bezeichnenderweise aber plastisch nicht Darstellbare hindurch, nämlich durch die nicht hörbaren Worte der Bojarin Morosowa. Eisenstein sieht an dieser frei gelassenen Stelle einen Übergang zwischen den einzelnen kompositorischen Dimensionen markiert, durch die eine ausschließlich anschauliche Darstellungsart durchbrechen wird (224). Damit konzipiert Surikow laut Eisenstein einen kompositorisch-konstitutiven Durchgangsort, um »das wahrnehmbar zu machen, was allein mit den Mitteln der plastischen Darstellung nicht gezeigt werden kann.« (225) Eisensteins Verständnis vom Goldenen Schnitt, vom Nullpunkt (223) und von der Montage liegt eine dialektische Konzeption zugrunde, die »durch das Hinausgehen über sich selbst und eine Reihe von aufeinanderfolgenden Sprüngen und Explosionen« (lshaghpour 2001, 74) die Idee eines organischen Werkes zum Ausdruck bringt. Selbst wenn sich die Filme Godards mit keinen vergleichbaren organisch übergeordneten Prinzipien oder Ideen decken lassen, so haben Eisensteins filmisches Werk ebenso wie seine kunstwissenschaftliehen Schriften die Entwicklung der Kinematographie Godards doch maßgeblich beeinflusst: Eisenstein ( 1977), der sich insbesondere in seinen Überlegungen zu den Bildern El Grecos mit der Bewegung und dem Prinzip der >rasenden Leidenschaft< (113) befasst, sieht die Geschichte des Films als eine Fortsetzung der Geschichte der Malerei an. Beider Geschichte ist durch das Kinematische charakterisiert, d.h. durch einen Ausdruck, der das wesentlichste Merkmal künstlerischer Repräsentation darstellt und - wie Paech ( 1989b) formuliert - »den medialen, oft auch historischen Status
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des Kunstwerks übersteigt, worin es über sich hinausgeht, indem es auf Entwicklungen in der gesellschaftlichen Realität reagiert; aber es verweist nicht unmittelbar voraus aufs Kino [... ], sondern umgekehrt stellt der Film von nun an, wie Eisenstein meint, das Modell für das Verstehen der Künste bereit [ ... ].« (30) In diesem Sinne sind die Prinzipien der >inneren Dynamik< (Eisenstein 1977, 115), der >ekstatischen Explosion< (115) sowie des >leidenschaftlichen Rasens< (119) Bewegungen, die sowohl für die Malerei als auch flir den Film charakteristisch sind. Der Gestus des leidenschaftlichen Rasens spielt besonders in Godards Passion eine wichtige Rolle. Passion ist ein Film, der weitgehend ohne >Vor-SchriftenVor-Bildern< (Paech 1989b, 8) abendländischer Künstler arbeitet, dem Kinematischen in Malerei und Film nachspürt (Müller 1993): Da das konkrete Gemälde als materielles Objekt im Film selbst nicht anwesend ist, sind die dargestellten Bilder der Künstler Rembrandt, Goya, Ingres, Delacroix, El Greco und Watteau in aufeinander folgenden Sequenzen als filmisch-szenisch >reproduziert< bzw. >transformiert< zu bezeichnen. Durch die filmisch-szenische Transformation der einzelnen Gemälde entstehen so genannte Tableaux vivants 5, >lebendige< Bilder, die mit den filmischen Bildern eine Bewegung der Bedeutung eingehen. In der Anordnung der Tableaux vivants geht es Godard nicht darum, das Medium Malerei im Kontext des Films zu visualisieren, sondern vielmehr darum, der Bewegung zwischen Malerei und Film bildlich nachzuspüren und - so formuliert Paech ( 1989b) - zu zeigen, dass sich »die Spuren der Kinematographie nicht in der Abbildung von Bewegung, sondern in der bewegten Abbildung, in dieser bestimmten Art künstlerischer Produktivität« (33) festgeschrieben haben. Godards Markierungen von in dieser bewegten Abbildung offenkundig werdenden Zwischenräumen zwischen den Medien Malerei und Film sind in ihrem Ausdruck besonders: Indem er in Passion die medialformalen Produktionsbedingungen eines Films im Film zum Gegenstand einer a-narrativen Analyse erhebt und dabei verschiedenartige visuelle 5
Bei Tableaux vivants handelt es sich »Um die Wiedergabe mehrfiguriger Kunstwerke durch lebendige Personen." (Langen 1968, 234) Die Entstehung und Verbreitung von so genannten •lebendigen• Bildern ist bis in die Zeit des europäischen Klassizismus zurückzuverfolgen. Das, was im 18. Jahrhundert als literarisches Bildungsspiel begonnen hat, bezieht sich später auf die Re· konstruktion von gemalten Bildern als ·lebendige•, von Menschen nachgestellte Bilder. Die filmisch-szenische Inszenierung eines Gemäldes als Tableau vivant bedeutet, »daß die Teile des Ensembles, die Objekte und Figuren, getreu dem flächigen Vorbild im Raum angeordnet und ausgeleuchtet werden. " (Schuster 1998, 69) Von einer Reproduktion oder Rekonstruktion ist auch dann zu sprechen, wenn die ursprüngliche Bildkomposition in ihrer filmisch -szenischen Anordnung modifiziert wurde.
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und akustische Ebenen übereinander legt, um sie gegeneinander zu verschieben, gelingt es ihm, die ftir den klassisch narrativen Film signifikante vorgetäuschte Negation der Differenz durch die Negation dieser Negation zu referentialisieren. Mit dem Umkehrungsprinzip der negierten Differenz diskursiviert Godard auf der formalen Ebene des Films Zwischenräume, Leerstellen und Übergänge auf eine Weise, die den rezeptionsästhetisch-interaktiven Aspekt von Leerstellen um den Aspekt der Selbstreferentialität, der Selbstbezüglichkeit, erweitert. 6 Da selbstreferentielle Gesichtspunkte sowohl in der Suture-Theorie als auch in der Rezeptionsästhetik weitgehend unberücksichtigt bleiben, eignen sich weder Oudarts noch Ingardens oder Isers Überlegungen allein, um die Funktion und Wirkungsweise von Zwischenräumen und Leerstellen in den Filmen Godards hinreichend erfassen zu können. Denn bei Godard ist das >Zwischen-den-Dingen< nicht ausschließlich ein interaktiver, rezeptionsästhetisch relevanter Raum; weiterhin ist das >Zwischen-denDingen< nicht ausschließlich ein Raum, in dem ideologische Kodierungen topologisiert werden können. Jenes >Zwischen-den-Dingen< ist in der Kinematographie Godards je nach Betrachtung vielleicht auch ein rezeptionsästhetisch interaktiver und vielleicht sogar auch ein (kritisch betrachteter) diskursiv-ideologisch kodierter Raum. In erster Linie aber ist es weder das eine noch das andere. Denn anstatt Ideologien zu errichten, dekonstruiert Godard sie vielmehr, und anstatt Zwischenräume durch die Imagination des Zuschauers auszufüllen und zu schließen, lässt er sie vielmehr für sich stehen. In diesem Sinne ist in Zwischenräumen, Leerstellen und Übergängen das Nicht-Geschlossen-Sein als ein gewisses Offen-Bleiben festgesetzt. Bilder des Dazwischen versuchen nun jene >Ästhetik des Verschwindens< (Virilio 1986; Weibel 1994; Krämer 1996) zu verzögern, die das Zusammenwirken von Bildern und Tönen im konventionellen narrativen Kino weitgehend bestimmt. Im filmischen Werk Godards ereignet sich Bedeutungsproduktion deshalb gerade im Zwischenraum zwischen den Bildern, zwischen den Tönen und zwischen den Geschichten. Im Dazwischen stellt sich ein neuer Ort der Wahrnehmung ein, der nicht als einfache Verknüpfung oder Anziehung von Bildern und Geschichten, d.h. als Wirkung fassbar wird, vielmehr als >Ursprunge Das einzelne Bild als Ursprungsort des Bildes auszuweisen bedeutet, die 6
Kay Kirchmann bezeichnet die Selbstreferentialität in den Filmen Godards als dekonstruktivistisch: "Im Sinne Brechts versteht sie sich als Ideologiekritik, als Entmystifizierung des Ästhetischen, wobei diese im Ästhetischen vorgenommen werden muß, weil Vergleichbares im Außerästhetischen längst verstellt ist. ln der Offenlegung des Kunstwerks als Gemachtes, ggf. auch als ideologisches Produkt manifestiert sich ein wesentlichen Aspekten der Moderne durchaus trotzender - Glaube an die Unterscheidbarkeit von Sein und Schein. « (32)
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Aufeinanderfolge der Bilder zu diskursivieren, Zwischenräume, Übergänge und Sprünge innerhalb des Bild-Ton-Gefüges zu erzeugen und auf diese Weise zu zeigen, dass das filmische Bild immer mehr ist, als unsere Wahrnehmung unmittelbar zu erfassen vermag. Folglich schaffen Zwischenräume auch Raum für eine veränderte Form des Sehens. Gleichzeitig sind sie die Voraussetzung, der >Ursprung< und das Zentrum des Bildes selbst, welches, wie Godard in Hellmuth Costards Der kleine Godard (1978) aus dem Off äußert, seit Beginn des Tonfilms zu verdrängen versucht wird: »Des qu'il y avait le cinema parlant il n'y avait plus de rapport entre les images. C'est c,:a ce qu' il fallait tuer.« 7 Doch, so schreibt Godard ( 1981 ), ist gerade dieses Dazwischen konstitutiv: »Ich glaube gerade dieses zwischen ist das, was existiert. [.. . ] Film heißt nicht: ein Bild nach dem anderen, sondern ein Bild plus ein Bild, woraus ein drittes Bild entsteht.« (43/44) Dieses dritte Bild entsteht beim Zuschauer im Moment des Sehens. Da sich die filmischen Bilder bei Godard für gewöhnlich aber einer narrativen Unterhaltsamkeit entziehen, ist auch der aus dem so genannten dritten Bild entstehende imaginäre Raum kein klassisch imaginärer Raum mehr, wie er ftir das konventionelle Erzählkino prägend ist. In den Filmen Godards befinden wir uns vielmehr in einem Raum voller Leerstellen und Übergänge, in einem dekonstruierten zwischenräumlichen und a-narrativen Erzählraum. Obgleich dieses Dazwischen - oder, wie es bei Deleuze ( 1997) heißt, >L 'entre-deux< (234) - in der Kinematographie Godards die grundlegende Essenz der Bilder und Töne verkörpert, sind die Zwischenräume und Zwischenbilder in seinen Filmen keinesfalls eigenmächtig; Godard zentriert sie dort, wo sie ihren Platz haben, nämlich im Zwischenraum zwischen den Bildern und Tönen. Er zentriert sie im Zwischenraum, um die Differenz zwischen den Dingen zu markieren, d.h. um ein DifferenzPrinzip zu diskursivieren, welches, wie Deleuze unterstreicht, ftir das Bewegungs-Bild wesentlich ist: .. Es handelt sich hier nicht um eine Operation der Verknüpfung, sondern, wie die Mathematiker sagen, der Differenzierung oder, wie die Physiker sagen, der Disparation: zu einem gegebenen Potential muß man ein anderes, aber nicht irgendeines wählen, und zwar derart, daß sich eine Potential-Differenz zwischen beiden herstellt, die Produzent eines dritten oder von etwas Neuem ist. [... ] Mit anderen Worten: Der Zwischenraum kommt der Verbindung zuvor; die Differenz, auf die die Verteilung der Ähnlichkeiten zurückgeht, ist unhintergehbar. Die Spalte ist das erste geworden, und aus diesem Grunde weitet sie sich aus." (Deleuze 1997, 234) 7
Im Untertitel heißt es: »Als der Tonfilm kam, gab es keine Beziehungen zwischen den Bildern mehr. Genau das musste beseitigt werden."
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Eine Negation der vorgetäuschten Negation der Differenz im Film vorzunehmen, bedeutet bei Godard also, diegetische Verknüpfungen zu verlassen und der Methode des ZWISCHEN und der Verwendung des UND zu folgen; als Zuschauer also demjenigen Prinzip nachzuspüren, welches die Nahtstellen zwischen zwei Bildern, zwischen zwei Wahrnehmungen, zwischen zwei Tönen etc. hervorhebt, ohne das eine vom anderen zu trennen oder das eine vom anderen als Begriffspaar zu unterscheiden. Jenes UND ist immer zwischen Bildern und Tönen. Es bestimmt deren Beziehung zueinander, indem es die Relationen der begrifflich vordefinierten Identität und des innerhalb unseres Sprachsystems rigide definierten Gegensatzes aufzuheben versucht. Dennoch so Deleuze (1993a) -sei Godard kein klassischer Dialektiker, der Gegensätzlichkeiten und Widersprüche innerhalb der Verbindung von Schrift, Sprache, Gesellschaft und Kino entlarvt, um auf höherer Ebene eine Synthese innerhalb jener Gegensätze und Widersprüche zu formulieren. .. was bei ihm zählt, ist nicht 2 oder 3, oder wieviel auch immer, sondern UND, die Konjunktion UND. Die Verwendung des UND bei Godard ist das Wesentliche. [...] [D]as UND ist nicht einmal mehr eine besondere Konjunktion oder Relation, es reißt alle Relationen mit sich fort, es gibt so viele Relationen wie UNDs, das UND bringt nicht nur alle Relationen ins Wanken, es bringt das Sein ins Wanken, das Verb ... etc. Das UND, >Und ... und ... und,, ist genau das schöpferische Stottern, der fremde Sprachgebrauch, im Gegensatz zum konformen und herrschenden Sprachgebrauch, der sich auf das Verb >Sein· stützt." (67 /68)
Wenn nun alles durch ein UND miteinander verbunden ist, kann das eine nicht einfach zum anderen werden. Denn ein solcher Übergang würde voraussetzen, dass eine begriffliche Trennung des einen vom anderen durch sich selbst möglich wäre, dass das eine als rigider Begriff also ebenso existierte, wie das andere begrifflich fixierbar wäre. Da Godard die Dinge allerdings nicht nach dichotomen Kategorien beschreibt, sondern vielmehr nach der Differenz, die zwischen ihnen liegt, folglich nach dem Zwischenraum, der sie zusammenhält, ist dasjenige, was die Bilder und ihre Bewegung im Wesentlichen ausmacht, in jenem UND ausgedrückt. Dieses UND bedeutet Vielheit, Vielfalt, kurz: Verschiedenartigkeit. Es ist eine Figur der Verbindung, durch die Beziehungen zwischen Einstellungen und Szenen artikuliert werden und für die Godard in seinen Filmen sogar eigene Bilder eingeführt hat: In Ici et ailleurs (1970-75) bspw. fügt er zwischen zwei Bildern das ET als Insert ein und betont mit diesem Verfahren die so gut wie unsichtbare Grenz-
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linie, auf der sich im Film die Beziehung der Bilder zueinander kennzeichnet und die in der Projektion 24-mal in der Sekunde eine Kontinuität von Sichtbarkeit schafft (Deleuze 1993a, 68; Paech 1980). Damit ist dieses Bild (ET) mehr als nur ein einfaches narrativ-diegetisches Bild. Es formuliert eine mediale Form und verweist dadurch reflexiv auf das Medium selbst und dessen Methodik, Bilder in Beziehung zueinander zu setzen. In einem Kommentar zu den Dreharbeiten an One plus One (1968) betont Godard die Bedeutung dieses Verfahrens. In der Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos (1984) schreibt er: »Das machte one plus one, eins und eins, das ist der Versuch, zwei zu machen. Und dam1 habe ich erst hinterher gemerkt, daß es etwas gibt, das das Mehr oder das Weniger zwischen zweien ist. Es gibt niemals nur zwei. Es gibt drei oder was anderes, aber immer drei.« (295) Sobald der einfache Gegensatz zwischen zwei Dingen nicht mehr existiert, weil es immer mehr als zwei Dinge gibt, die zusammengehören (der Zwischenraum zwischen den Dingen), gilt anstelle des Prinzips der Dualität nunmehr das der Heterogenität und der Dissonanz. Deleuze (1997) zufolge will dieses Prinzip das »Ununterscheidbare, das heißt die Grenze sichtbar machen (6 fois 2). Das Ganze unterliegt einer Mutation, weil
es nicht mehr länger das Eine/das Sein
ist, um das für die Dinge konstitutive ,und' zu werden, das für die Bilder konstitutive Dazwischen [l'entre-deux]. Somit vermischt sich das Ganze mit dem, was Blauehot die Kraft der >Verstreuung des Außen' oder den ,Taumel der Verräumlichung' nennt: diese leere ist nicht mehr ein motorischer Teil des Bildes, insofern es sie überwindet, um seinen lauf zu nehmen: statt dessen ist sie die radikale Infragestellung des Bildes [ ...]. So gewinnt der Fehlanschluß, indem er zum Gesetz wird, einen neuen Sinn. " (234/235)
Der Fehlanschluss fungiert in den Filmen Godards nun als ein konstitutives Differenz-Prinzip. Die so genannten >falschen< Schnitte setzen an Stellen an, die eigentlich nach einer narrativen Bestimmung, d.h. nach einer sinnhaltigen Zuordnung verlangen. Während narrative, durch unmerkliche Übergänge aneinander gefügte Einstellungen zulassen, dass sich die Ensembles aufeinander beziehen, bedingen dissonante, stolprige Einstellungswechsel das Gegenteilige. Wohlgemerkt aber durchbricht der >falsche< Anschluss, der immer nur diegetisch >falsch< sein kann, nie den Anschluss an sich. Stattdessen erzeugt er Leerstellen und Sprünge im Film, die auf den Zuschauer wie diskontinuierliche Brüche in der narrativen Ereignis- und Erzählfolge wirken können. Jede Diskontinuität trägt
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aber eine Form von Kontinuität in sich: die Kontinuität des Diskontinuierlichen. In den Filmen Godards artikulieren falsche (so genannte >irrationalefalschen< Anschlüssen oder >irrationalen< Schnitten bringt auf diese Weise Kontext-Veränderungen hervor, die das gesamte Bild-Ton-Gefüge betreffen.8 Godard trennt das Akustische vom Visuellen, indem er eine neue und veränderte Verbindung des Akustischen mit dem Visuellen erzeugt. Er schafft akustische Bilder, indem er dissonante und asynchrone Tonfolgen aufeinander legt und zwischen den einzelnen Tonebenen Risse entstehen lässt, die wiederum Raum für Zwischenraum innerhalb und außerhalb des Bildbereichs und in der Imagination des Zuschauers eröffnen. Solche akustischen Bilder deuten auf eine Vielsprachigkeit hin, durch die das Zusammenspiel von Bildern und Tönen eine Reflexion des Gesehenen mit dem Gehörten erfordert. So hat Godards Analytik des Bildes die Auffassung des Films als geschlossene, homogene und benennbare Einheit ausgelöscht, und zwar »zugunsten eines Außen, das sich zwischen sie einfligt« (Deleuze 1997, 243). Der häufige Einsatz von Objekt- und Kamerabewegungen und die Ergänzung des sichtbaren Raumes durch eine im Außerhalb befindliche Akustik ergänzt wiederum den akustischen Raum durch dieses Außerhalb, wodurch sich auch der Bereich des virtuellen Raumes ausweitet. Das Off als die akustische Figuration außerhalb des Bildbereichs wird so zu einer eigenen Gestalt; sie erzeugt Differenzen, indem sie den Bereich zwischen akustischen und optischen Bildern um die ihnen zugrunde liegende Differentialität des Außen als Bestandteil des Ganzen erweitert.
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Besonders deutlich wird dieses Prinzip in Godards Eloge de l'amour: Dort stellt Godard Kontext-Veränderungen auch auf der narrativen Ebene her, indem er das Bild entgegengesetzt zum konventionellen Kino a-narrativ besetzt. Zu dem Verfahren, die Gegenwart nicht in Farbe zu drehen, äußert Godard (2002): »Ich bin einfach ein eigensinniger kleiner Junge geblieben: Jeder würde die Gegenwart in Farbe und die Vergangenheit in Schwarzweiss zeigen, also mache ich das Gegenteil. " (63)
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Heterotopien und Chronotopien im kinematographischen Erzählraum In La Chinoise (1967) begeben sich fünf junge Franzosen mit MaoBibeln in eine gutbürgerliche Wohnung, deren Besitzer auf Reisen sind, und gründen die Sommerkommune Aden-Arabie. Dort diskutieren sie über Mao, über den Marxismus und über den Imperialismus, über die Klassengesellschaft, über Gewaltakte, Terror und über die Revolution, über Theater, Film und über Malerei, über den Versuch, die Gesellschaft zu verändem, sowie über die Idee, die Universität zu sperren und einige Professoren und Studenten mit Sprengsätzen umzubringen, um die Kommilitonen zur Revolte gegen die herrschenden Verhältnisse zu bewegen. Obwohl die Kommune mit ihren gesellschaftspolitischen Aktivitäten Großes vorhat, zeigt sich schon bald nach Beginn des Films, dass es Godard in La Chinoise weniger um eine politische Stellungnahme zum Marxismus geht, als vielmehr darum, die Utopien der 68er durch den Bruch gewohnter Wahmehmungsmuster in verschiedene heterogene Räume zu überführen: 9 Denn die Protagonisten befassen sich auf eine Weise mit literarischen und historischen Figuren (wie Brecht, Shakespeare, Dostojewski, Mao und Che Guevara), die den Raum der Kommune, die gutbürgerliche Wohnung, zu einem Ort verwandelt, der eigentlich einen Nicht-Ort - einen non-lieu - oder anders formuliert: einen a-kohärenten Anders-Ort markiert. In ihm brechen sich Utopien, um die Revolten in heterogenen Geschichten und Raum-Vielheiten aufzulösen (Lommel in: Roloffund Winter 1997). Inwieweit in der Abwesenheit eines kohärenten Raumes eine Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem möglich wird, in der sich eine dissonante a-kohärente Vielfalt verräumlicht, zeigt Michel Foucault (1990) in seinen Ausführungen zu den variierenden Raum-Konzepten der letzten Jahrhunderte: Während im 19. Jahrhundert die Geschichte, d.h. die Vergangenheit in Entwicklung und Verlauf, bedeutungstragend ist, kann das nachfolgende 20. Jahrhundert als Epoche des Raumes bezeichnet werden: des Simultanen, der Juxtaposition, des Nahen und des Femen, des Nebeneinander und des Auseinander. Die Welt erfährt sich nicht mehr durch ihre Geschichte, vielmehr durch den Raum von nebeneinander gestellten, einander entgegengesetzten, ineinander enthaltenen Relationen und Konfigurationen in einer bestimmten Zeit. Das Ver9
Als Andrew Sarris (1994) Godard in einem Interview als einen Marxisten bezeichnet (»You were considered a Marxist activist at one time«), antwortet Godard: "Qh no." »You were never a Marxist?•• "1 never read Marx." "ßut you talked about Marx." »Yes, but only as a provocation, mixing Mao and CocaCola and so forth [in Made in USA, 1966].«
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ständnis von Räumen im Mittelalter als hierarchisiertem Ensemble von Orten - profanen und sakralen Ortungsräumen - wurde bereits im 17. Jahrhundert mit dem Werk Galileis geöffnet. Denn nicht die Entdeckung, dass sich die Erde um die Sonne dreht, ist nach Ansicht Foucaults Galileis wichtigste Erkenntnis, vielmehr die Konstituierung eines unendlichen und somit unendlich offenen Raumes, wodurch sich die Ortschaft des Mittelalters allmählich auflöst. Auf diese Weise entwickelte sich mit Galilei aus der Ortung die Ausdehnung und aus der Ausdehnung im 20. Jahrhundert die Lagerung bzw. Platzierung von Relationen (36): Relationen werden gespeichert, zugeordnet, markiert, codiert und gelagert; sie werden gestapelt, in Umlauf gebracht und klassifiziert. 10 Von besonderem Interesse für eine medientheoretische Anwendbarkeit des Foucault'schen Raumkonzeptes ist seine Unterscheidung zwischen dem Raum des Innen und dem des Außen: Dieser Differenzierung zufolge erscheint der Raum des Innen als der Raum »Unserer ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaften [...]; es ist ein leichter, ätherischer, durchsichtiger Raum, oder es ist ein dunkler, steiniger, versperrter Raum; es ist ein Raum der Höhe, ein Raum der Gipfel, oder es ist im Gegenteil ein Raum der Niederung, ein Raum des Schlammes; es ist ein Raum, der fließt wie das Wasser; es ist ein Raum, der fest und gefroren ist wie der Stein oder der Kristall." (37138)
Der Raum des Außen wiederum konturiert sich dort, wo sich die >Erosion< unseres Lebens ereignet; er ist ein heterogener Raum mit Beziehungen, die zumeist unvereinbare, nicht aufeinander zurückfuhrbare Platzierungen definieren. Doch unter diesen heterogenen Platzierungen existieren auch solche, »die die sonderbare Eigenschaft haben, sich auf alle anderen Plazierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren.« (38) Räume dieser Art, die miteinander verbunden sind, zugleich aber unabhängig von diesen Verhältnissen bestehen und sich im Moment ihrer Verbindung widersprechen und widersetzen, lassen sich im Wesentlichen zwei Raumtypen zuordnen: den Utopien und den Heterotopien. Foucault zufolge sind Utopien unwirkliche Orte, weil sie die Perfektionierung oder die Kehrseite der Gesellschaft voraussetzen; sie sind Orte, deren Platzierungen ein Verhältnis umgekehrter Analogie mit 10 Foucault verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die unterschiedlichen Lagerungsräume im 20. Jahrhundert noch nicht vollends entsakralisiert sind. Noch immer seien die Räume von Entgegensetzungen wie privat I öffentlich, familiär I gesellschaftlich gekennzeichnet, die wie stumme, ungeschriebene Gesetze den Handlungsspielraum von Institutionen und Praktiken leiten (37).
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den so genannten wirklichen Räumen der Gesellschaft herstellen. Demgegenüber bezeichnet Foucault wirkliche Orte als Heterotopien: Heterotopien sind in der Gesellschaft wirkliche und wirksame Orte, die zugleich aber »ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen.« (38) In gewisser Weise ist die Heterotopie ein Anders-Ort, der sich aber als real existierender Ort im Innenraum einer Ordnung befindet, ohne dort sichtbar markierbar oder als Koordinate festlegbar zu sein. Die Heterotopie ist ein Ort ohne Ideologie, Topographie, Geographie, Biographie oder Logik. Weil sie aber dennoch überall ist, figuriert sie als Ort der Vielfalt eine sich in einer Vielzahl von Formen zum Ausdruck bringende Konstante jeder menschlichen Gemeinschaft: 11 Heterotopisch ist also alles, was in verschiedenen Räumen gebildet wird, d.h. was unter Umständen auch am vermeintlich falschen Ort erscheinen kann, ohne jemals die heterogene Beschaffenheit, die ineinander verlaufenden und sich zugleich auseinander bewegenden Platzierungen und Beziehungen zu nivellieren. 12 Wie lässt sich Foucaults Raum-Verständnis nun auf das kinematographische Raum-Zeit-Gefüge beziehen? Sehr treffend arbeitet Vittoria Borso (1994) in Bezugnahme auf die Bedeutung von Intermedialität in den Filmen Luis Bufiuels und ausgehend von Lautreamonts Prinzip des Schönen als Ausdruck des oder Begegnung mit dem Heterogenen heraus, inwieweit sich der Begriff >Heterotopie< eignet, um in Anwendung auf die Kinematographie den Diskurs der epistemologischen Instanz verlassen zu können. In diesem Zusammenhang bezieht Borso Jean-Frans;ois Lyotards medienphilosophische Überlegungen zur Visualität auf ein medienmaterialistisch ausgerichtetes Verständnis von Intermedialität: Sie hebt hervor, dass Lyotard auf der Suche nach dem Besonderen an der Visualität der Modeme die erkenntnistheoretische Seite dieses Diskurses beiseite legt, um »die andere Seite von diskursiven, an das linguistische Zeichen gebundenen Argumenten zu erfassen, jene Seite, die [... ] das Eigentliche der Kunst ausmacht und nur jenseits vom Diskurs gesehen und erkannt werden kann.« (168) So ist das Lesen eines Bildes nicht
11 Foucault betont, dass innerhalb verschiedener Gesellschaften unterschiedli· ehe Formen von Heterotopien existieren. Ein und dieselbe Heterotopie kann je nach Gesellschaft und Kultur anders funktionieren . 12 Zwischen den Utopien und den Heterotopien sind Mischverhältnisse und Mi· scherfahrungen möglich, wie bspw. im Spiegel. Der Spiegel ist insofern heterotopisch, als er den Hineinblickenden sichtbar und wirklich mit dem Umfeld verbindet, in dem er sich bewegt. Zugleich ist der Spiegel utopisch, denn er bildet das hineinschauende Subjekt an einem Ort ab, an dem es nicht ist: nämlich gegenüber, auf der gegenüberliegenden Seite. Weil sich das Spiegelbild an einem gewissermaßen ortlosen Ort befindet, ist der Ort des Subjekts in dem reflektierten Bild unwirklich, virtuell.
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mehr als semiotischer Vorgang zu begreifen, sondern als ein Prozess, der sich zwischen den diskursiven Dimensionen situiert. Zwischen den Diskursen materialisiert sich die Stille im Sinne eines Stillstandes des diskursiven Denkens, ohne dass der Diskurs an der Stille teilhaben könnte, denn die Stille verhält sich konträr zum Diskurs; in dieser Stille ist »die materielle Spur zu sehen, die die Welt beim Betrachter hinterläßt, eine Spur, die nicht aufscheint, solange die Sprache als Bedeutungs- und Erkenntnisinstrument benutzt wird, die gleichwohl von der Sprache zerstört werden kann.« (168) Einen solchen Eindruck der materiellen Stille im diskursiven Denken hinterlassen insbesondere heterotopische Bilder, da sie unserer Erkenntnis allenfalls aufindirekte Weise zugänglich werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen sich auch in den Filmen Godards zum Teil diskursive, zum Teil a-diskursive Geschichten und Bildzusammenhänge erkennen, die jeder Idee eines logischen Diskurses entzogen sind und sich in diesem Entzug dichotomen Bestimmungskategorien entgegenstellen. Da die Räume, in denen reflektiert wird, andere sind als diejenigen, die sie reflektieren, erscheinen die Bilder bei Godard mitsamt ihren Zwischenräumen und Übergängen zunehmend heterotopisch. Entgegen bspw. bildtheoretischen Annahmen des Realismus besitzen sie keine einfachen ikonischen Bindungen mehr; insofern reflektieren sie als Heterotopien das Kino nicht nur als Raum des Dazwischen, sondern auch als Raum unserer ersten Wahrnehmung, als Raum unserer Träume, unserer »Leidenschaften und Phantasmen: ein verwirrendes Beziehungssystem, das durch Simultaneität, Überlagerungen und Transformationen gekennzeichnet ist, ein Ort, in dem die vertrauten Oppositionen von Fiktionalität, Kreation und Rezeption, Innenwelt und Außenwelt, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Bewegung und Immobilität nicht mehr gelten.« (Roloff in: Roloff und Winter 1997, 5) Die durch unsere Träume und Leidenschaften besetzten Räume sind Räume ohne kohärenten Raum; es sind Räume, in denen das Gleichzeitige und das Ungleichzeitige koexistieren, in denen, wie La Chinoise zeigt, die Parole neben dem Theater, der Kommentar neben dem Vortrag, das Zitat neben dem Attentat und der Film neben der Malerei steht, in denen das Bezeichnete auf das Unbezeichnete verweist, weil sich hier das Sichtbare und das Unsichtbare begegnen. Dem Verständnis heterotoper Räume vermag das Bachtin'sche Konzept der Chronotopie einen weiteren Akzent zu verleihen (Bachtin 1986, 262464). In seinen ursprünglich auf die Literaturtheorie bezogenen texttheoretischen Schriften entwickelt Michail M. Bachtin eine Idee von Räumlichkeit, die von einer an die Zeit gekoppelten Identität des Bildes mit Bewegung und Materie ausgeht. Auf diesem Raum-Verständnis basie-
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rend entwirft er einen Bild-Begriff, das »künstlerische Bild einer Sprache« (Bachtin 1986, 189), in dem das Bild als eine an die Zeit gelmüpfte Aussage erscheint, die in einer untrennbaren Verbindung mit dem Raum steht. Zur Untermauerung dieser raumzeitlichen Wechselbeziehung führt Bachtin den aus der Relativitätstheorie entlehnten Begriff der Chronotopie in einen literaturtheoretischen Kontext ein: Unter dem Terminus >Chronotopos< begreift er den Ausdruck raumzeitlicher Interferenzen in einer künstlerischen, ästhetischen und kontemplativen Gestaltung. »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert." (263)
Hervorzuheben gilt hier, dass der Chronotopos keineswegs ein sichtbares Ereignis von Raum und Zeit in einem Bild darstellt. Im Gegenteil: Der Chronotopos liefert vielmehr die Grundlage für die Abbildung und Darstellbarkeit von Ereignissen. 13 Ohne chronotopische Anordnungen wäre ein Bild nicht möglich, als Nicht-Bild wäre es leer, ohne Profil, ohne >Fleisch und Blut< 14 • Erst durch die Verdichtung und Konkretisierung von Raum und Zeit in Chronotopoi werden Bilder für den Betrachter fassbar. Bachtins Vorstellung von Raumzeitlichkeit verlässt sehr bald den Horizont der Literaturtheorie und erfahrt eine Anwendung auf verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen. Die Idee, dass ein an Intensität gewinnender Raum in die Zeit und die Geschichten hineingezogen wird (Bachtin 1986, 263), verdeutlicht die Bedeutung dieses Chronotopie-Konzeptes auch flir die Filmwissenschaft. Hierbei schlägt Karl Sierek (1994) vor, Bachtins Denkfigur nicht als scharf definierte Kategorie, sondern als Prinzip methodischer Annäherung anzusehen (169): Im Ver13 Hierzu schreibt Bachtin (1986): .,Der Chronotopos nun liefert die entscheidende Grundlage, auf der sich die Ereignisse zeigen und darstellen lassen. Und das eben dank der besonderen Verdichtung und Konkretisierung der Kennzeichen der Zeit - der Zeit des menschlichen Lebens, der historischen Zeit - auf bestimmten Abschnitten des Raumes. Dadurch wird es auch möglich, die Darstellung der Ereignisse im Chronotopos (um den Chronotopos herum) aufzubauen. " (455) 14 Während die Zeit ihren sinnlich-anschaulichen Charakter annimmt, gestalten sich auch die Sujetereignisse; sie .,werden im Chronotopos konkretisiert, mit Fleisch umhüllt und mit Blut gefüllt. " (Bachtin 1986, 455)
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ständnis Siereks begegnet uns der Kino-Chronotopos als das »verdichtete und (imaginär) konkretisierte Ereignis, irgendwo zwischen, hinter, vor der Leinwand, bezugnehmend auf die Vorstellungen von geschichtlichem und sozialem Leben, [ ... ] realisiert durch das sehende und hörende Subjekt in der kinematographischen Rede.« (167) Im Kino korrelieren verschiedene Chronotopoi auf folgende Weise: Der offene Innenraum des Kinosaals verbindet sich raumzeitlich mit der inneren Öffnung des Privaten; beide Innenräume verlaufen ineinander und durchqueren sich in der Öffentlichkeit des Kinosaals. Hinzu kommen die inneren Chronotopoi des Lebens fiktionaler Figuren, die wiederum ebenso eine Verbindung mit den übrigen Chronotopoi eingehen. Die Zusammenkunft dieser einzelnen Räume zeigt Godard sehr schön in einer Szene seines Films Les Carabiniers (1962): Michel-Ange, einer der Carabinieri, betritt einen KinosaaL Bevor er sich neben eine Frau setzt, überprüft er durch das Abtasten ihrer Schultern und ihrer Haare, ob die Zuschauerin auch echt ist. Als der Kurzfilm mit dem Titel Le bain de la .femme du monde beginnt, ist der Carabiniere so sehr angetan von der sich auf der Leinwand langsam entkleidenden Frau, dass er sich, wenn sie den Raum außerhalb des Bildfeldes betritt, auf die äußeren Sitze drängelt, um besser sehen zu können, wo die Schöne hingegangen ist und was sie dort tut. Während die Schauspielerirr ihre Baderobe abstreift und ein Bad zu nehmen beginnt, wird Michel-Anges Lust am Schauen von dem Bedürfnis ergriffen, selbst an der Szene - und dadurch an der Frau - teilzuhaben. Hastig steigt er über die Sitzreihen hinweg und stellt sich direkt vor die Leinwand. Als er merkt, dass es ihm weder durch Springen gelingt, besser in die Badewanne schauen zu können, noch dass das Streicheln der Leinwand seiner Lust, die Schöne anzufassen, zu einer Befriedigung verhilft, versucht er schließlich, um die Projektion Wirklichkeit werden zu lassen, in den inneren filmischen Chronotopos hineinzusteigen und reißt dabei die Leinwand kaputt. An den inneren Chronotopos der »Raumzeit des dargestellten Lebens« (Bachtin 1986, 317) binden sich also, wie die Handlungen von Michel-Ange auf groteske und amüsante Weise illustrieren, der äußere Chronotopos zum einen des fremden und zum anderen des eigenen Lebens: So projiziert der Zuschauer in den inneren fiktionalen Chronotopos nicht zuletzt auch Teile des Inneren seiner eigenen privaten Welt hinein. Zwischen diesen beiden Chronotopoi ereignet sich somit eine Verbindung, durch die beide Räume unabdingbar ineinander verzahnt und dennoch voneinander getrennt sind. An der Nahtstelle zwischen den inneren und den äußeren raumzeitlichen Anordnungen entsteht nun Raum für chronotope Zwischenräume, in denen sich Heterotopien und Heterochronien zu Chronotopien sowie umgekehrt auch Chronotopien zu
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Heterotopien und Heterochronien entwickeln und als filmisches Bild fassbar werden. Unabhängig von diesem Ineinanderlaufen der einzelnen inneren und äußeren Räume stellt aber jede Kadrienmg an sich immer schon einen Chronotopos dar, denn die Zeit nimmt durch die Kadrierung einen sinnlich-anschaulichen Charakter in einem Raum ein. Eng verbunden mit dem Konzept der Chronotopie ist Bachtins Prinzip der Dialogizität (Bachtin 1986, 77-261 ). Die innerhalb des Bildes durch die Raumzeitlichkeit sich entwickelnden Chronotopoi gehen untereinander ebenso wie mit ihren äußeren Rahmenbedingungen und Rahmenanordnungen eine korrelative Verknüpfung ein. Auf dem Boden der gegenseitigen Einflussnahme von internen und externen Beziehungen entsteht so eine Dialogizität, in der sich chronotope Verbindungen in ihrer Vielfalt begegnen. Diese Begegnung aber - und hierin liegt zum einen die Besonderheit des Dialogizitätsgedankens und zum anderen seine Beziehung zu dem Chronotopie-Konzept - erfolgt losgelöst von festgeschriebenen, dichotomen Begriffshierarchien: So können die wechselseitigen Interrelationen tmd Interferenzen heterogen, dissonant, divergent, a-linear, a-logisch und ungegliedert zugleich sein, ohne den Prozess der Dialogizität zu behindern oder gar zu verhindern. Das Gegenteil ist der Fall: Denn ganz im Sinne Foucaults ist es das Wesen von Heterotopien und Heterochronien, scheinbar unvereinbar nebeneinander bestehen zu können. In verschiedensten fiktionalen Ebenen, Paradoxien, Verfremdungen und Modulationen vermögen sich auf diese Weise auch unterschiedliche Chronotopien in Bildern festzuschreiben. Damit gilt für die Denkfigur der Chronotopie und für das Prinzip der Dialogizität gleichermaßen, dass das Gleichzeitige und das Ungleichzeitige, das Verständliche und das Unverständliche im Film koexistieren. Wie Sierek (1996) sehr treffend formuliert, hat dies zur Folge, dass Dialogizität auch die »lineare Kausalität vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Hörbaren zum Unhörbaren und vom Sichtbaren zum Hörbaren auf[bricht] . Als Forschungshorizont zur Untersuchung kinematographischer Textualität entwickelt sie eine Sensibilität gerade gegenüber diesen Grenzbereichen diegetischer Wahrscheinlichkeit und Transparenz. Sie bleibt nicht an der phänomenalen Oberfläche hängen, sondern integriert die ,verdunkelnden Dunstschleier' der umstrittenen und verdrängten Aspekte der Vorstellung des Laufbilds in die zeiträumlichen Vorgänge des Zeigens und Hörens: in die chronotopischen Prozesse der Äußerung. " (37 /38)
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist auch in der Kinematographie Godards eine Bewegung zwischen Bildern und Tönen akzentuiert,
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in der sich die Zusammenkunft verschiedener Räume und Zeiten auf unterschiedlichen Ebenen äußert: Indem die (Erzähl-)Räume immer auch als Zeit-Räume figurieren, besteht eine enge Verbindung zwischen der Heterotopie und der Chronotopie. Dadurch, dass die Heterotopien unter zeitlichen Aspekten Heterochronien manifestieren, die an Zeitschnitte gebunden sind, ohne aber die zu erwartende Reihenfolge der Entwicklungsvorgänge einzuhalten (Foucault 1990, 43), setzen sich in den Filmen Godards eine Vielzahl chronotoper Verschiebungen heterotoper Geschichten gegenüber der Norm fest. Und zwar auf eine Weise, in der sprachliche, optische, akustische, textuelle und narrativ-zeitliche Zwischenräume in heterotope und chronotope Bild- und Bedeutungszusammenhänge verwoben sind und dort eine zentrale Bedeutung im Gesamtkontext des Films einnehmen. Die Ausführungen zu Hetas pour moi im nachfolgenden Kapitel werden dies am Beispiel vorführen.
lntermedialität als >Differenz-Form des Dazwischen< Im Herbst 1990 hat im Pariser Centre Georges Pompidou eine Ausstellung mit dem Titel Passages de l 'image stattgefunden, in der analoge und digitale Bilder, Fotos, Filme und Videoinstallationen so angeordnet wurden, dass die Gänge Durchgänge bildeten. Die Wege führten den Betrachter vorbei an den Bildern, aber auch zwischen den Bildern der verschiedenen Medien hindurch. Was die Anordnung der Bilder damit zeigte, ist, dass sich im Zwischenraum zwischen ihnen »ein (vielleicht gar nicht mehr so) neuer Spielraum medialer Einbildungen hergestellt hat«, durch den »eine paradoxe Schnittstelle zwischen den Medien der Bilder, den Bildern der Medien und dem (Bild des) Betrachter(s) für die Medien installiert« wurde (Paech 1994, 163). Um diese Schnittstelle zwischen den Bildern und zwischen den Medien geht es Joachim Paech (1994), der seine Aufzeichnungen zu Zwischenbildern mit Ausführungen zu dieser Ausstellung begonnen hat. Bei dem Versuch, den oder die historischen und systematischen Ort(e) von Zwischenbildern aufzufinden, beschreibt er das Zwischenbild unter anderem am Beispiel der Rubin 'sehen Vase als einen Ort der Paradoxie, der zugleich multipler Raum und Bild ohne Bilder, zugleich »strukturierte Abwesenheit und materiale Gegenständlichkeit, energetisches Feld und schwarzes Loch, bezeichnende Leere und leeres Zeichen« ist (164). So erscheint das sich im Zwischenraum manifestierende Zwischenbild als eine Art Verräumlichung, als ein verräumlichender Innenraum, der eine operative Grenze der Bilder zwischen den Bildern herstellt. Dieses an Raymond Bellour
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(1990) anknüpfende Konzept des >entre-imagesZwischen-den-BildernWirklichkeit< gleichgesetzten Idee von Wahrheit. Die Entweder-Oder-Dualität wird ausgetauscht gegen das Verfahren des UND, in dem das Variieren vordergründig ist. Konstmktionen unterschiedlichster Variationen von Bild-, Ton-, Erzähl- und Zeitebenen errichten so eine Komplexität, die den Blick selbst zu einerkontingentenVariablen werden lässt.
Was sehen? Sergejs in La Chinoise aus dem Off vorgelesenen, prophetischen Worte, die Realität habe vielleicht bis heute noch nie jemand wirklich zu Gesicht bekommen, leiten zu einer wichtigen Frage über: Was sehen wir, während wir ein Bild anschauen? Im Sinne von Blanchots (1959) Reflexionen über das Bild bedeutet Sehen, in Distanz zu sein; Sehen impliziert eine trennende Bestimmtheit, »die Fähigkeit, nicht in Kontakt zu kommen und im Kontakt die Verwirmng zu vermeiden.« (41) Dennoch ist Sehen eine Trennung, eine unausweichliche Spaltung, die das Gesehene von dem trennt, was uns anblickt, und die Begegmmg und Berührung 2
Wie im vorangegangenen Kapitel ist der Dialogauszug inklusive Schreibweise und fehlender Interpunktion auch hier dem gleichnamigen Buch zum Film entnommen (Godard 1998, 24/25). Die aus dem Off gesprochene Übersetzung in der Originalversion mit deutschem Untertitel lautet: »Ist der Erzähler nicht in einer unmöglichen, schwierigen und einsamen Position, heute mehr denn je? Ich glaube ja. Aber dennoch muss er da sein, abwesend und anwesend, schwankend zwischen Dokument und Fiktion."
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sein kann; ein >Kontakt auf DistanzAnordnung des Sehens< (Paech 1989a, 69) bestimmt, weshalb sich das Bild als der Domäne des Blicks zugeordnet bezeichnen lässt (Paris 1992, 67). Sobald das im Blick bzw. vom Blick Erfasste zu einer Berührung wird, vollzieht sich eine Selektion des zu sehen Möglichen. Da bewusstes Wahrnehmen immer nur unter Abzug dessen möglich ist, was keine Wichtigkeit, kein Interesse oder kein Bedürfnis besitzt, ist es das Wesen des Wahrnehmens, subtrahiert zu sein: »[W]ahmehmen heißt: vom Bild das abziehen, was uns nicht interessiert; es gibt immer weniger in unserer Wahrnehmung.« (Deleuze 1993a, 65) Während die Dinge (Bilder) im Verständnis Deleuzes (1998) totale und objektive Erfassungen darstellen, sind Wahrnehmungen »partielle und parteiische, subjektive Erfassungen« (94). Entweder die Bilder wirken oder sie verschwinden wirkungslos. Ganz im Verständnis Husserls, der darauf hinweist, dass die Unvollständigkeit des Blicks evidenter sei als seine Vollständigkeit,3 löst auch Maurice Merleau-Ponty (1994) jeden Glauben an eine alles erfassende Wahrnehmung auf, ohne dabei einen ontologisch-anthropologischen Verlust zu proklamieren (Tholen 1999, 158). Inmitten der vom Blick erfassten Bilder erliegen wir immer wieder der Täuschung, etwas als Gegebenes anzunehmen, das es in Wirklichkeit in dieser Form nicht gibt; »wenn wir uns, ohne es zu merken, aus der Wahrnehmungswelt zurückziehen können, so beweist uns nichts, daß wir jemals in ihr sind, daß das Beobachtbare jemals ganz in ihr ist oder daß es aus einem anderen Gewebe gefertigt ist als der Traum; [... ).« (Merleau-Ponty 1994, 20/21) Diese 3
Hierzu schreibt Husserl (1991 ): »Die Einseitigkeit der äußeren Wahrnehmung, der Umstand, daß sie das Ding nur in einer Seite zu eigentlicher Darstellung bringt, daß ihr das Ding nur durch das Medium eines Erscheinungsreliefs gegeben ist, ist eine radikale Unvollständigkeit; sie gehört zum Wesen der Wahrnehmung überhaupt.« (51)
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Täuschung resultiert aus dem unüberwindbaren Spalt zwischen dem Auge und dem Blick, zwischen dem Blick und dem Bild ebenso wie aus dem subtrahierenden Charakter unserer Wahrnehmung und unserer Vorstellung.4 Da der Rahmen des Bildfeldes des zur Berührung gewordenen Bildes die Grenzen unserer Vorstellung nicht vollständig zu bestimmen vermag, entspricht bekanntermaßen das Gesehene nicht notwendigerweise dem tatsächlich zu Sehenden. Das Vorgestellte und der Akt der Vorstellung werden vielmehr eins (Kötz 1986, 122), denn das dem Betrachter an Bildern Vorgestellte- Vorgestellte im Sinne von Gezeigte oder zu Sehende - entspricht den Ausdrücken bzw. der Wirkung dieses Vorgestellten in der Vorstellung des Betrachters. 5 Begrenzende und erweiternde Momente bedingen sich somit gegenseitig: Das Moment des Erblickens unterliegt sowohl einer Expansion des zu sehen Möglichen durch das zusätzlich Imaginierte in der Vorstellung des Betrachters als auch einer Reduktion des zu sehen Möglichen durch die Auswahl des zu Erblickenden. Wenn sehen also unabschließbar, gespalten und offen wahrnehmen bedeutet und der Blick das Sehen voraussetzt wie das Sehen das Auge, so ist der Blick, der sich wiederum in einer variablen Anzahl von Blickwinkeln manifestiert, eine Form reduktiven Wahrnehmens. Weil er stets nur eine unvollständige und dementsprechend reduzierende Auswahl des zu sehen Möglichen zu erfassen vermag, ist er in einem gewissen Sinne als kontingent zu bezeichnen. Auf eine Aussage bezogen bedeutet Kontingenz zunächst Folgendes: Kontingent ist eine Aussage dann, wenn weder die Aussage noch ihre Negation notwendig sind. Eine notwendige Aussage wiederum ist eine, die wahr sein muss, wobei dieses Muss nach einer logischen - oder auch epistemologischen, physikalischen oder metaphysischen - Notwendigkeit verlangt. Ist eine Aussage also kontingent, so kann sie wahr oder falsch sein. Mit anderen Worten: Weder muss sie wahr noch muss sie falsch sein (The Oxford Campanion to Philosophy 1995, 163). Bezogen auf den Blick soll Kontingenz nun ausdrücken, dass das vom Blick Erfasste durch das zu sehen Mögliche nicht notwendig festgelegt ist. Arnheims (1983) Aussage »Die Sehwelt ist endlos« (50) erklärt angewandt auf die Bezeichnung >Kontingenz des BlicksWeh mir< ist eine Äußerung des Schreckens, des Schmerzes und des Leides, die sich wie ein Leitfaden durch die zahlreichen Neuschreibungen des Amphitryon-Mythos webt (Moliere 1964, 120). Nach diesem Mythos nimmt Zeus die Gestalt des Sterblichen Amphitryon, künftiger Gemahl der jungfräulichen Alkrnene, an, der die Ermordung der Brüder seiner teuren Gattin rächen muss, bevor diese ihm die eine Hochzeitsnacht verspricht. An dem Tag des Feldzugs Amphittyons steigt Zeus in Begleitung von Hermes herab auf Erden, um sich Alkmene zu nähern. »Die Ehe wurde vollzogen, von Zeus an Stelle des irdischen Siegers, in einer Nacht, von der behauptet wird, sie sei dreimal so lang geworden als andere Nächte.« (Kerenyi 1997, 109) Verführt von Zeus, zeugte Alkmene Herakles. »Üb nun Amphitryon noch während der gleichen Nacht heimkehrte oder erst in der nächsten, Alkmene wurde mit Zwillingen schwanger, einem Sohn des Zeus und einem des Amphitryon, namens Iphikles [... ]. « (Kerenyi 1997, 109) In Amieis Vision erscheinen weder der Zeugungsakt noch die Geburt des Herakles, vielmehr die Verwandlung von Zeus in Amphitryon, hier: von Gott in Simon: 8 Gott, auf Erden herabgestiegen, um Rache! zu begehren, nimmt an dem Tag, als Sirnon Rache! verlässt, um gemeinsam 5 6 7
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Klimt: »Ich glaube nicht, dass es einfach ist. Es gibt Bilder und es gibt Ikonen. (< Benjamin: "Ich hörte, Sie bringen ein schönes Buch heraus. Wahrscheinlich fehlen Seiten, da, wo sie nötig sind,« Amiel: »Denn die Wahrheit, von der hier zwischen uns die Rede ist, sie hat alle möglichen Eigenschaften, aber ganz gewiss nicht die, übertragbar zu sein.•• Weitere Bestandteile ihrer Vision sind die Gespräche zwischen Rachel und Gott in Gestalt Simons nach ihrer gemeinsam verbrachten Nacht.
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mit Paul ein gewisses Hotel d'Italie anzuschauen, in einer ironischallegorisch inszenierten Weise die Gestalt Simons an. In einem Gespräch mit Abraham Klimt leitet Amiel die Verwandlung mit den Worten ein: »Nul ne connait le ehernirr tout entier. Le moindre pas suffit a nous aveugler. [... ) Voila ce que je sais: Un homme etait la. Je l'ai vu. Deux hommes, mon dieu.« Klimt: »Jusque la je n' apprends rien. Je sais seulement qu'il y a l'homme aux yeux bleus.« Amiel: »Non, celui-la ne compte pas. Sirnon et son seigneur.«9 Nachdem Amiel dem Verleger von den zehn historischen Sätzen über das alte Testament und von der Unmöglichkeit, die Wahrheit zu übermitteln, erzählt hat, erfolgt eine Rückblende, mit der sich ein Wechsel der zeitlichen Erzählebene ankündigt. Der Zuschauer wird nun den Blicken Amieis in die Vergangenheit folgen. Das Bild, zunächst noch verschwommen, wird allmählich klar. Solange es verschwommen ist, figuriert es als Bild in der Erinnerung, mit zunehmender Klarheit wird es zum Bild des Erinnerten in einer Ereignisfolge: Amiel sitzt auf einer Mauer, ein roter Ball springt vor ihr. Gottes Begleiter Max Mercure aus dem Off: »Allez, encore un essai de voix, monsieur. Le psaume habituel.« 10 Gott, ein groß gewachsener Mann mit blondem Haar in Schulterlänge, Mantel und Hut, antwortet mit Computerstimme: »Tout est dans l'un et l'autre est dans l'un.« 11 Während Simon, gespielt von Gerard Depardieu, in der nächsten Einstellung im vorderen Bereich des Bildes zu sehen ist, wird im Hintergrund Gott das Haar auf Kinnlänge gekürzt. Gott, der nun eine ähnliche Haarfrisur trägt wie Sirnon und mittlerweile auch Simons Stimme angenommen hat, tritt an Sirnon heran, um ihm seinen Hut aufzusetzen. Max wendet aus dem Off ein: »L'impermeable de dieu.« 12 Als Gott Sirnon den Trenchcoat reicht, den sich Sirnon über den Arm legt, ist die Einverleibung Gottes in Sirnon vollendet. Gott ist nun im Körper Simons, Sirnon überlässt Gott sozusagen seinen Körper. Und indem Gott denselben wieder an Sirnon zurückgeben wird, ist Simon, analog zur Bedeutung seines Nachnamens >Donnadieuder Gott< seinen Körper >gibtWahrheit< aufschiebenden Variationen zu erkennen geben, bilden die einzelnen Erinnerungsstücke eine Metapher für ein Verfahren oder Ereignis, das das Lückenhafte voraussetzt und unabdingbar mit sich trägt. Der Mangel, der unter anderem in den verlorenen Romanseiten, sprich der Unvollständigkeit des Romans symbolisiert ist, stellt somit selbst die Dynamik her, aus der sich die Geschichten des Films in Fragmenten, Konstellationen und Variationen entwickeln. In diesen Geschichten entsteht ein lückenhaftes Gewebe aus Erinnerungen, Mythen 20 Klimt: .. und ich werde nur sagen, dass es nichts anderes zu sagen gibt über das Leben von Simon und Rachel. Der Rest hat sich jenseits der Bilder und Geschichten abgespielt.« 21 Amiel: »Nachts, wenn ich aufstehe, weiß ich, dass es sich weder um Nähe noch um Ferne noch um ein mir gehöriges Ereignis noch um eine Wahrheit handelt, die sprechen kann. Das ist keine Szene, auch nicht der Beginn von etwas." Klimt: »Ein Bild.'' Amiel: .. Ja, ein Moment, aber nutzlos, jemand, für den ich nichts bin und der mir nichts bedeutet. Ein Punkt. Und außerhalb dieses Punktes gibt es nichts auf der Welt, das mir fremd wäre.« Während Amiel die letzten Worte noch spricht, wendet Klimt ein: »Ein Gesicht. '' Amiel: .. Ja, aber des Namens beraubt, ohne Biographie, das die Erinnerung verweigert, das nicht erzählt werden will, gegenwärtig, aber es ist nicht da, abwesend und doch nirgendwo anders.« Klimt: »Ganz außerhalb des Wahren also?!camera-stylowiederhole< sich der Gestus des Schreibens im Gestus des Filmens (Paech 2002b, 73); es ist demnach die Vorstellung eines sich im Bild einschreibenden filmischen Gestus', der zwar unabhängig ist von geschriebenen I literarischen Vorlagen, der literarischen Schrift aber dennoch ähnelt. Paech (2002b) hebt in seinen Überlegungen zur Szene der Schrift und zur Inszenierung des Schreibens im Film die Unhaltbarkeit der
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Gleichsetzung von literarischer und filmischer Schrift hervor, denn weder schreibt sich der Gestus des literarischen Schreibens im Film fest, um sich dort in einen filmischen Gestus zu verwandeln noch ist die Geste des Schreibens in Literatur und Film, also die Bewegung eines Stiftes und die Bewegung einer Kamera dieselbe (73). Integriert ein Film eine Szene des Schreibens, wie bspw. Wim Wenders zu Beginn seines Films Der Himmel über Berlin (1986/87), dann ist laut Paech (2002b) vielmehr ein Übergang zwischen den Schriften markierbar: »Wenn die Metapher von der camera-stylo nicht nur eine Metapher sein soll, die den Wunsch nach der Unabhängigkeit des Films von den Vor-Schriften der Literatur bedeutet, in dem paradoxerweise der Film selbst ,Literatur, wird, dann verweist sie in der gefilmten Szene des Schreibens auf die Gleichzeitigkeit zweier verschiedener Gesten des Schreibens, die sich im Moment ihrer gegenseitigen Realisierung begegnen und auf die Szene des Übergangs von der einen Geste des Schreibens zur anderen Geste des Filmens." (73)
In der Kinematographie Godards ist die Vorstellung der Kamera als Federhalter und als Pinsel (camera-pinceau 1) in dem Maße bedeutend, dass Godard seine filmische Arbeit als eine Tätigkeit des Maiens begreift: »Ich spreche eher als Maler oder Romancier, denn als Dramatiker zu Ihnen. Aber die Romanciers unter Ihnen werden lächeln, wo ich doch nicht einmal Pinsel habe, sondern nur eine Zeitmaschine und Zeiten des Verbs, um die Farben auszulegen.« (Godard 1981, 25) Weiter schreibt er: »Wenn man van Gogh betrachtet oder liest ... , wo die Maler ihre Staffelei hingestellt haben, und wann sie das taten ... , zu welchem Zeitpunkt sie sich dazu entschlossen, ihre Staffelei an dieser oder jener Stelle aufzubauen, dann wird einem klar, daß es beim Filmen um die gleiche Sache geht, bloß in einer ganz anderen Weise. Die Festlegung des Bildausschnitts I cadre I ist ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Malerei. Alle großen Maler waren Meister im Kadrieren. [ ...] Heutzutage weiß kaum noch jemand, wie man einen Bildausschnitt festlegt. ln drei Viertel der Filme wird er mit dem Kamerafenster verwechselt. " (59)
Das im Kontext der politique des auteurs verfasste Konzept der camera-styto weist Ähnlichkeiten zu dem Begriff der camera-pinceau auf. Die camerapinceau ist ebenso wie die camera-stylo eine kinematographische Ausdrucksform, die sich aber nicht an der Form des Ausdrucks von Schrift, sondern an der der Malerei orientiert (Paech 1989b, 59).
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SCHRIFT-BILDER, DENK-BILDER UND SCHWARZ-BILDER IN KORRELATION
Godards Vorsatz, »wie ein Maler zu arbeiten« (71), wird bereits in Filmen wie A baut de soujfli und Pierrot le Fou (1965) umgesetzt und findet in Passion seinen vorläufigen Höhepunkt (Bauer in: Korte und Zahlten 1990): Schon die Bewegung, in der sich Godards Kameramann Raoul Coutard in Passion den szenisch und filmisch dargestellten Tableaux vivants annähert, trägt den Ausdruck des (Auf-)Zeichnens und des Maiens (camera-pinceau) in sich. Besonders deutlich ist dieser Ausdruck in der Eingangssequenz, die sich aus sieben Einstellungen zusammensetzt und von Ravels Klavierkonzert filr die linke Hand begleitet wird: Die erste Einstellung in der Totalen zeigt einen weißen, sich in langsamer Bewegung vom rechten unteren in Richtung des linken oberen Randes abzeichnenden Kondensstreifen eines nicht zu sehenden Flugzeugs am leicht bewölkten Himmel. Die zweite Einstellung zeigt Isabelle in der Fabrik: Sie ist rechts im Bild zu sehen, wie sie einen Wagen vor sich herschiebt. In der dritten Einstellung wird wieder ein Bild vom Himmel eingeblendet, dieses Mal ohne Kondensstreifen. In der vierten Einstellung sieht der Zuschauer, wie Isabelle mit dem Fahrrad neben einem Auto herfährt, an dessen Steuer Jerzy sitzt. Die fünfte Einstellung zeigt eine weitere Aufnahme des mit einem Kondensstreifen durchzogenen Himmels in der Totale. Sechste Einstellung: Michel und Hanna befinden sich gemeinsam im Hotel. Hanna streicht beim Ankleiden ihre Bluse zurecht, Michel schaut in das Bad. Ravels Klavierkonzert steigert sich in seiner Intensität und erreicht in der siebten und letzten Total-Aufuahme des Himmels mit Kondensstreifen seinen musikalischen Höhepunkt. 3 Die sieben einführenden Bilder wirken zunächst wie zeitliche und diegetische Unterbrechungen des Beginns einer Geschichte; die vier Aufuahmen des Himmels stellen vordergründig keinerlei Bezug zu den drei Einstellungen her, in denen die Protagonisten des Films in unterschiedlichen Situationen und Positionen >vorgestellt< oder besser: gezeigt werden. Auf den zweiten Blick aber entwickelt sich aus diesen von Godard mit der Handkamera selbst gedrehten Himmel-Bildern eine organi-
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ln der feministischen Filmtheorie wurden insbesondere die Kameraeinstellungen von Patricia Francini vor einem Portrait Renairs umstritten diskutiert. Laut Gabriete Jutz (1991) stellt diese Einstellungsfolge einen phallozentristischen Diskurs dar, da die Inszenierung der Frau hier nach dem oppositionellen Grundsatz männliche Stimme I weibliches Bild erfolge: Die männliche Stimme Michel Poiccards alias Laszlo Kovacs aus dem Off markiere als körperlose Stimme die Frau als stummes Bild, wodurch eine Transformation der Opposition Stimme I Bild in Sprache I Schrift stattfinde, die bestätige, dass es in A bout de souffle eine starke phallozentristische Assoziation der Frau als fragmentarisches Bild gäbe (zur feministischen Diskussion von Filmen Godards vgl. Rall1988; Mulvey 1996). Ähnliche Himmelaufnahmen wiederholt Godard in Soigne ta droite.
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sierende Funktion für das Erzählte. 4 Denn während sie als Introduktion und Exposition eine Übersicht schaffen, kennzeichnen sie die FilmTextur auf (mindestens) zwei Ebenen: Die erste Ebene unterteilt sich in die Ebene des Schreibens und in die des Malens bzw. (Auf-)Zeichnens. Zum einen >schreibt< sich die Kamera (im Sinne Derridas) in den Himmel ein, zum anderen >malt< oder >zeichnet< sie am Himmel eine Spur, die genau genommen natürlich nicht von ihr selbst, sondern von einem Kondensstreifen stammt. Hierin drückt sich die Paradoxität der Begriffe camera-stylo und camera-pinceau aus. Denn weder im medial-apparativen noch im formalen Sinne ist es möglich, mit der Kamera eine Linie zu ziehen, die einen Vergleich zu einer gemalten oder gezeichneten Linie auf einem Blatt Papier zulässt. Grund hierfür ist die 24-fache Aufeinanderfolge von Bildern pro Sekunde und die Unterbrechung, die sich (in der Projektion unsichtbar) zwischen den Bildern verräumlicht Die sich einzeichnende Linie am Himmel, wie sie sich in der beschriebenen Eingangssequenz aus Godards Passion zeigt, wird demzufolge erst durch die Unterbrechung der auf die Leinwand projizierten, (illusionäre) Kontinuität vermittelnden Bilder zu einer Bilder-Schrift, die im Bewegungs-Bild eine Bild-Textur (Linie I Strich am Himmel) sichtbar werden lässt. 5 Betrachtet man diese Bild-Textur aber im Kontext des gesamten Films, also im Kontext einer Inszenierung von Malerei im Film, dann scheint es so, als würde die Kamera die Linie nicht nur aufzeichnen, sondern selbst zeichnen. Hiermit ist eine Bild-Textur auch auf einer zweiten Ebene hergestellt: Im Moment des Zeichnens akzentuieren die Himmel-Bilder eine Bewegungslinie zwischen den Protagonisten und werden dadurch zu Zwischenbildern, die die Protagonisten als miteinander verbunden vorstellen. Auf diese Weise fungieren die Zwischenbilder (des Himmels) als verbindendes Element zwischen Malerei und Film einerseits und zwischen den Geschichten der Protagonisten andererseits. Über die Vorstellung der Kamera als Federhalter bzw. Pinsel hinaus existieren weitere Möglichkeiten, Schrift entweder als ein Element im filmischen Bild zu integrieren oder aber Schrift grundsätzlich als integrativen Bestandteil des filmischen Bildes zu begreifen. Hierauf verweist auch 4
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Über die Aufzeichnung der Himmel-Aufnahmen in Passion berichtet Raoul Coutard in einem Interview mit Jürgen Heiter und Hans-Heinz Schwarz (1983): " Eines Tages richteten wir gerade etwas ein, und Jean·Luc sah ein Flugzeug und sagte: Schnell, schnell, ein Flugzeug!, und schon war er am Su· eher und hat draufgehalten. Und wir haben ihm schnell die richtige Blende eingestellt, damit er seine Einstellung drehen konnte, und um ihm zu beweisen, daß nicht alle Kameramänner Idioten sind." (339) Zur Figur der Unterbrechung in der Inszenierung des Schreibens im Film vgl. Paech 2002b, 74/75.
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Joachim Paech (in: Roloff und Winter 1997a), der in seinen Überlegungen zur Spur der Schrift und zum Gestus des Schreibens im Film verschiedene Formen von Schrift im Film analysiert. Im Wesentlichen lassen sich die einzelnen Schrift-Formen in drei Punkten zusammenfassen: 1. In der vor-filmischen Szene lässt sich eine Form von Schrift markieren, die vor der Kamera geschrieben wird; der Film schreibt das Geschriebene ins Bild ein, wodurch die Schrift im Bild als Spur erscheint, was dem Film wiederum »einen ontologischen Status des Aufhebens der Spur zu verleihen vermag.« (Paech in: Roloff und Winter 1997a, 42) In diesem Sinne sind Kinoleinwand und Monitor »Schauplätze der Schrift vor allem in dem allgemeinen Sinne, daß sich auf ihren Oberflächen die Spur >der Geschichte(n) einschreibttechnische Stenographie< der Geschichte(n) schreibbar und lesbar bleibt.« (42) Im Kontext dieser Aussage verweist Paech in der Fußnote auf Derridas Aufsatz Freud und der Schauplatz der Schrift. Selbst wenn er Derridas Schrift-Theorie im Weiteren nicht näher ausführt, ist der hier skizzierte Schrift-Begriff sowohl losgelöst von alphabetischer Schrift als auch losgelöst von andersartig kodierter Schrift zu denken. 2. Dem Film geht für gewöhnlich Schrift als Szenarium, d.h. als Drehbuch, voraus, um in das Medium Film visuell und akustisch >überführt< und dort neu >geschrieben< zu werden. Liegt einem Film ein Drehbuch zugrunde, welches sich an eine literarische Vorlage anlehnt, so spricht man von Addition, von verfilmter Literatur, Literaturverfilmung oder vom literarischen Film. Da Literatur in diesem Fall im Film weder anwesend noch abwesend sein kann, »weil ihre Beziehung durch die Differenz ihrer Medien des Erzählens, durch Schrift auf der einen und Bilder und Töne auf der anderen Seiten, und nur eine gewisse Gemeinsamkeit des Erzählens bestimmt ist,« (43) verlangt die Markierung dieser Gemeinsamkeit nach einem Ort, der beide Medien gleichermaßen einschließt. Offenkundig wird dieser Ort im UND, indem man also zwischen Literatur und Film ein UND schreibt. Ein solcher Ort ist im Sinne Deleuzes ein Ort der Nicht-Identität und Verschiedenheit, ein Ort, der beide Medien durch das UND miteinander verbindet, sie zugleich aber voneinander trennt, indem es ihren jeweiligen Ort als verschiedenartig beschreibt. Diese Bewegung des gleichzeitigen Einschließens und Ausschließens durch das UND deutet bereits an, weshalb Literatur im Film nicht als Schrift, sondern allenfalls als Spur von Schrift anwesend sein kann: Das Geschriebene geht als Spur des Erzählten in die Erzählung des Films über.
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An dieser Stelle soll zwischen der Schrift als Form und der Schrift als Medium unterschieden werden. Da das Medium und die Form zwei untrennbare, aber sich dennoch voneinander unterscheidende Elemente darstellen, .. repräsentiert die Schrift (das ·UND·) einmal die (geschriebene) Form des Mediums Literatur, und zum anderen ist sie Medium ihrer Form (eine Figur), die gemeinsam mit anderen (stilistischen) Elementen den Film charakterisiert. Die Schrift (wie das ·UND•) figuriert also einmal intermedial an der Schnittstelle von Literatur UND Film im Film (oder der Literatur); zum anderen figuriert sie formal (und im Film selbst) zwischen Schrift-Bild und Bilderschrift." (Paech in: Roloff und Winter 1997a, 45)
Die hier beschriebene, von der Literatur ausgehende und in den Film übergehende Bewegung stützt sich auf ein bereits skizziertes Verständnis von Intermedialität, welches nicht die einfache Anwesenheit eines Mediums in einem anderen denkt, sondern - so Paech - »die Wiederkehr der Form eines Mediums in der Form eines anderen.« (45) Das bedeutet, dass verfilmte Literatur immer nur Film sein kann, in dessen Medium bestimmte Formelemente der Literatur im Sinne einer Spur übergehen, um sich schließlich mit Formstrukturen des Films zu verbinden. »Das >UND< der Schrift erweist sich als intermedialer Gestus des Verbindens des Heterogenen, als Spur des Übergangs und der Herstellung von Beziehungen zwischen verschiedenen Medien, Formen, Figuren w1d Fragmenten von Sinn.« (45/46) 3. In jedem Film gibt es eine Szene der (geschriebenen I literarischen) Schrift, die sich im Vorspann und im Abspann, in Zwischentiteln, Inserts oder Untertitelungen6 mal als Schreibmaschinen- oder Computer-Schrift, mal als Hand-Schrift zu lesen gibt. Während die Bedeutung von Schrift im Vorspann derjenigen im Abspann ähnlich ist und weitgehend extradiegetisch funktioniert, können Einblendungen von Inserts sowohl fiktionalen als auch nicht-fiktionalen und zitierenden Charakter haben: Unter dem Begriff >Insert< ist das Einfügen von bspw. Schrifttafeln im Film zu verstehen, in denen eine optische Verbindung zwischen Text und Bild hergestellt wird. Die Aufeinanderfolge der Bilder wird durch die zusätzliche Verwendung von Schrift im Bild in ihrer illusorischen Wirksamkeit und in ihrer Mitteilungsebene zugleich verzögert und erweitert: Der Eindruck von Verzögerung entsteht dadurch, dass bei der Einblendung von Inserts das Gefühl aufkommen kann, als sei der Fluss der Bilder unter6
Der Ort der schriftlichen Darstellung von Dialogen ist die Oberfläche des Films, genauer gesagt: die materiale Fläche des Filmbandes. Die Bild-Ebene beeinträchtigen können Untertitelungen dann, wenn sie Teile des Bildes verdecken.
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brochen, als sei hier also keine Bewegung mehr anwesend. Solange der Film aber nicht reißt oder die Projektion unterbrochen ist, bewegt sich das Filmband ununterbrochen weiter. Dasselbe gilt für den extradiegetischen Vorspann (Paech 2002b, 68), sofern er nicht, wie im klassisch narrativen Film üblich, an den Anfang des Films platziert ist, sondern immer wieder >zwischengeschaltet< wird, während die diegetische Filmhandlung bereits begonnen hat. Demgegenüber wird das Bild durch das Einfügen von Inserts in seiner Mitteilungsebene dadurch erweitert, dass Inserts einen intermedialen Übergang zwischen verschiedenen optischen Bildern markieren, die häufig von der akustischen Ebene als losgelöst zu betrachten sind. Umgekehrt entstehen durch die optischen Bilder akustische Bilder, die sich von der optischen Ebene losgelöst haben. Damit wird die intermediale Einschreibung des >UND< dort am deutlichsten, wo geschriebener Text als textuelies Bewegungs-Bild figuriert, wobei in diesem Zusammenhang zwischen Schriftzügen im visuellen Bild (Bücher, Zeitungsausschnitte, Briefe etc.) und textuellen Elementen wie Schrifttafeln oder Zwischentiteln zu unterscheiden ist.
Schrift- und Denk-Bilder in der Kinematographie Jean-Luc Godards Auf Ishaghpours Unterscheidung, Kino sei eine Form der Zeit, während das Buch eine Form des Raumes sei, antwortet Godard: »Ich denke, da ist beides. Gerade zwischen Text und Bild gibt es einen Raum, gibt es eine wahrhaftige Arbeit. Ich habe dem Bild und dem Ton meine Ehre erwiesen, meine Ehrerbietung, oder wenn man so will: meinen kindlichen Respekt vor jenen Bildern und Tönen, die vor mir da waren . Aber die gleiche Ehre, den gleichen Respekt, die gleiche Ehrerbietung habe ich auch dem Buch und der Literatur erwiesen, und gleichzeitig auch der Kritik, so wie ich sie verstehe. Meiner Ansicht nach finden wir in den Filmen das Schauspiel der Geschichte, die nahezu lebendige Geschichte. Mit einem Wort: Das ist es, was Kino macht - es ist ein lebendiges Bild vom Ablauf der Geschichte und von der Zeit der Geschichte." (lshaghpour 2001, 66)
Zwischen Bild und Text finden in den Filmen von Godard nun verschiedene Verbindungen statt, ohne dass die Schrift oder der Text das Bild ersetzen würde: Vielmehr tritt der Text in das Bild hinein und ergänzt es durch die Bildung einer Textur, die sich im Sinne Barthes' generativ in
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die Entwicklung der Bilder flicht. Und da das Bild nie für sich allein ist, existiert im Verständnis Godards auch der Text losgelöst vom Bild nicht: »Benjamin sagt, am Anfang steht das Verständnis, das heißt sowohl das Hören als auch das Sehen. Meines Erachtens sind das zwei verschiedene Dinge, die jedoch zusammengehören und untrennbar miteinander verbunden sind. Ge· nauso gibt es, schlicht und einfach gesagt, Bild und Text. Für mich waren beide von Anfang an gleichberechtigt. Gegebenenfalls kann das eine vor dem anderen kommen, das eine kann kurzzeitig stärker sein als das andere, aber ohne Ungleichgewicht zu Beginn und am Ende." (lshaghpour 2001, 65)
Dass in den Filmen Godards beides, das Bild ebenso wie der Text, in demselben Maße Platz findet, zeigt sich vor allem in dem wiederholten Einsatz von Inserts. Bevor der Fokus aber auf deren Bedeutung im filmischen Gesamtkontext gerichtet werden soll, sei zunächst auf den zweiten der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Schrift-Einsätze verwiesen: auf die Drehbuch-Schrift. Godards Tendenz, die Dreharbeiten seiner Filme ohne zuvor ausgearbeitete Drehbücher zu beginnen, existiert bereits seit den späten 50er Jahren. »Ich schreibe meine Drehbücher nicht, ich improvisiere bei den Dreharbeiten. Diese Improvisation kann aber nur die Frucht einer[ ... ] inneren Arbeit sein, und sie setzt Konzentration voraus. In der Tat mache ich nicht nur Filme, wenn ich drehe, ich mache meine Filme, wenn ich träume, wenn ich esse, wenn ich lese, wenn ich mit Ihnen spreche.« (Godard in: Grafe 1971, 176) Über A baut de souffle schreibt Godard (1984) rückblickend: »Ich kann mich noch gerrau an den Tag erinnern, an dem ich mir gesagt habe: Ich schreibe nichts mehr, ich fange einfach an mit dem, was ich habe, und dann sehen wir weiter. [ ... ] Und seit damals habe ich keine Drehbücher mehr geschrieben. [... ] Ich habe meine Filme eher so gemacht wie zwei, drei Jazzmusiker arbeiten: Man gibt sich ein Thema, man spielt, und dann organisiert es sich von selbst.« (40/41) Ein Drehbuch schreiben, wie es sich Godard vorstellt, bedeutet eher »ein paar Notizen und Fotos zusammenfassen« (Godard 1984, 144) oder eine Darstellung zu wählen, die keine Inhaltsangabe ist und damit keine in schriftlicher Form erzählte Ansicht des Films darstellt (Godard 1984, 243-247). 7 So verwundert es nicht, dass auch für Passion keine schriftliche Vorlage in Form eines akribisch ausgearbeiteten Drehbuchs existiert, sondern vielmehr eine 41-seitige Einflihrung zu einem Drehbuch, ein Protokoll, das Godard vor Drehbeginn seinem Produktionsteam aushändigte. Es enthält neben einem im 7
Aus dieser Tendenz heraus erklärt sich, weshalb die vereinzelt publizierten und mitunter als Drehbücher bzw. Protokolle ausgewiesenen Bücher zu den Filmen Godards zum Teil erst nachträglich erarbeitet wurden (Godard 1966).
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Gegensatz zur endgültigen Filmfassung stark abweichenden inhaltlichen Handlungsverlauf (andere Personen und veränderte Schauplätze) zum Teil kommentierte Abbildungen von Gemälden (Godard 1983). Über die Dreharbeiten zu Passion äußert Godards Kameramann Raoul Coutard: »Godard hat nie nach Drehbüchem gearbeitet. [... ]Es war immer nur ein Blatt, nie ganz beschrieben, immer nur an einer Ecke etwas.« (Heiter und Schwarz 1983, 332). Während die Bilder in der Kinematographie Godards also nur in geringfügigem Umfang durch Vor-Schriften wie ein ausgearbeitetes Drehbuch, eine Dialogliste oder einen feststehenden Plot beeinflusst wurden, spielt Schrift über den Einsatz von Inserts hinaus in seinen Filmen eine bekanntetmaßen nicht wegzudenkende Rolle. Eine Retrospektive zeigt, dass die Integration von Schrift im Bild auch in Godards Film Eloge de l'amour (2001) noch immer ein vielfach angewandter Bestandteil seines Drehverfahrens mit unterschiedlichen diskursiven Mitteilungsebenen darstellt: In Une femme est une femme bspw. dient Schrift noch vordergründig einer narrativen Ergänzung bzw. Unterstreichung des Bildinhalts, indem sie angelehnt an den Stummfilm das sich innerhalb des Films ereignende Geschehen kommentiert. Um ein Beispiel zu nennen: Als Emile und Ange!a über Ange!as Kinderwunsch streiten, erscheinen Worte geschrieben in Versalien wie Stummfilm-Untertitel im Bild: C'EST PARCE QU'ILS S'AIMENT QUE TOUT VA TOURNER MAL POUR EMILE ET ANGELA, QUI ONT LE TORT DE CROIRE QU'ILS PEUVENT ALLER TROP LOIN A CAUSE DE CET AMOUR AUSSI RECIPROQUE QU'ETERNEL - UND GERADE WEIL SIE SICH LIEBEN, WENDET SICH ALLES FÜR EMILE UND ANGELA ZUM SCHLECHTEN. DENN SIE IRREN, WENN SIE GLAUBEN, SIE KÖNNTEN ZU WEIT GEHEN, WEIL SIE SICH LIEBEN, UND IHRE LIEBE EWIG ZU SEIN SCHEINT. Bevor zum Ende des Films vereinzelt Inserts eingeblendet werden, erfolgt in einer Szene auch die Kommunikation zwischen Angela und Emile, noch immer zerstritten wegen Angelas Kinderwunsch, über Schrift: Sie nehmen Bücher aus dem Regal, um sich gegenseitig mit Ausschnitten aus Buchtiteln zu ärgern. So hält bspw. Emile Angela zwei Bücher, das eine von Claude Mauriac und das andere von Antoine Dominique, mit den Titeln bzw. Titelauszügen >Toutes les femmes< >Au poteau< entgegen. In einer Szene aus Unefemme marüie, auf die immer wieder verwiesen wird, haben die eingesetzten Untertitel wiederum die Funktion, den Dialog zwischen der verheirateten Frau und zwei Teenagern schriftlich zu übersetzen: Die verheiratete Frau sitzt hinter zwei Mädchen und belauscht sie bei ihrem Gespräch über die ersten Erfahrungen in der Liebe. Bezeichnenderweise sind die Worte der Mädchen nicht zu hören. Statt-
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dessen werden sie in schriftlicher Form eingeblendet, wodurch die Schrift als Substitut für Sprache erscheint. Seit den Fernseh- und Videoproduktionen der 70er Jahren dient Schrift nicht mehr in erster Linie einer narrativen Bezugnahme. Die eingeblendeten Inserts bilden vielmehr einen eigenen, mal diegetischen, mal außerdiegetischen Rahmen innerhalb der Bilder. Selbst wenn die verschiedensten Variationen von Geschriebenem in den Filmen Godards immer wieder den Anschein erwecken, die Bilder verdrängen bzw. sie zugunsten von Schrift zurücktreten lassen zu wollen, so ist ihre eigentliche Funktion dennoch, Schrift als Bestandteil von Bildern zu konstatieren. In diesem Sinne erscheinen Inserts als Schrift-Bilder, die filmische Bilder be-schreiben, sie aber auch über-schreiben. Erst die Visualisierung einer bildliehen Zwischen-Bewegung (zwischen Bild und Schrift) durch Bilder mit Schrift ermöglicht es Godard, wie in Numero deux, Schrift als eigenständigen diskursiven und figurativen Ort zu referentialisieren, neue Verbindungen und neue Bahnungen zu formen, also mit Bildern neue Begriffe zu formulieren, denen in gewisser Weise ein vor-kinematographisches Denken zugrunde liegt. Solche Bilder dienen nicht schlichter metaphorischer Bezugnahme, sondern sie stellen Denk-Vielheiten dar. Die Rede ist von dialektischen Bildern und von Denk-Bildern, wie wir sie von Benjamin und von Deleuze beschrieben finden: Bilder des Denkens drücken ein bestimmtes Visualitätsverständnis aus, welches das Bild unabhängig von seiner Abbildung als Orientierung und Dynamismus begreift, nicht aber ohne im Moment des Denkens den Einschnitt, die Unterbrechung beinhaltet zu sehen. Nach Benjamin (1983) nämlich ist das geschichtliche (Denk-)Bild, welches sich in der Sprache antreffen lässt und sich somit vordergründig auf eine literarische Prosaform bezieht, ein dialektisches Bild:»[ ... ] Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand.« (578) Damit figuriert es als eine Zäsur in der Denkbewegung, es ist markierter Ausdruck des Zusammenwirkens von Stillstand und Bewegung. Im Zeitdifferential von Gewesenem und Jetzt treffen (scheinbar) einander widersprechende Wirklichkeiten aufeinander, um Bilder entstehen zu lassen, die rein bildlieher Natur sind und sich mit Deleuze (1993b) gesprochen »im Denken orientieren« (215): »Ein verborgenes Bild des Denkens inspiriert durch seine Entwicklungen, Verzweigungen und Mutationen immer wieder die Notwendigkeit, neue Begriffe zu schaffen, nicht in Funktion einer äußeren Determinierung, sondern in Funktion eines Werdens, das die Probleme selbst mitreißt.« (217) So wird das Bild zu einem Bildraum, der erzählt, übertragen auf das Kino zu einem kinematographischen Erzähl-
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raum, in dem Bilder die Reflexion mit sich tragen und auf diese Weise zu Denk-Bildern avancieren. In einer gewissen aufklärerisch-didaktischen Absicht sind DenkBilder Bilder in besonderer Dichte. In der Kinematographie Godards sind sie in ein Geflecht aus Verschiebungen, Vermittlungen und Rückkopplungen verwoben und initiieren auf der Formseite eine Zusammenführung verschiedener Sinnes- und Kommunikationselemente: Erinnern wir uns an eine Einstellungsfolge aus Nouvelle vague, so wird am Beispiel deutlich, in welcher Weise in den Filmen von Godard auch Schrift-Bilder als Denk-Bilder figurieren: Auf das Insert mit den (in der Originalversion signifikantetweise falsch geschriebenen) Worten EIN, ZWEI, DREI, DIE KUNST IST FREI lässt Godard eine Einstellung folgen, in der unscharfe, verschwommene und abstrakte bunte Punkte so lange im Bild flackernd aufleuchten, bis das Bild allmählich schärfer wird und in den Farbpigmenten Scheinwerfer von Autos im Abendverkehr erkennbar werden. In der Aufeinanderfolge dieser beiden Bilder erscheinen die bunten Punkte als Erweiterung des mit dem Insert eingeleiteten Diskurses einer künstlerischen Freiheit; die Punkte reflektieren sozusagen den Ausdruck desjenigen freien künstlerischen Habitus, der mit dem Insert diskursiviert wurde. Als weiteres Beispiel zeigt auch Helas pour moi, inwieweit SchriftBilder zu Denk-Bildern werden, und zwar in einem Kontext, in dem Schrift ohnehin das zentrale Verbindungsglied der im Film erzählten und erinnerten Geschichten darstellt. Anders als in dem Großteil der Filme Godards, in denen die Schrift in den Bildern bereits >gefunden< worden zu sein scheint, ist in Helas pour moi die Suche nach der eigentlichen Schrift der Geschichten, d.h. nach der Schrift auf dem Papier (die Buchseiten) und nach der Schrift der Erinnerungen (die Schrift-Spuren der Bilder, wie sie sich einst in den Blicken der Protagonisten festgesetzt haben) nicht abgeschlossen. Da das in den verlorenen Buchseiten Niedergeschriebene bis zuletzt nicht wiederzufinden ist, erfährt der Zuschauer in nur unbestimmtem Maße, um was ftir ein Buch es sich gerrau handelt: Außer dem Datum (23. Juli 1989), dem Schauplatz (Genfer See) und den Namen der Protagonisten (Simon und Rache! Donnadieu, Nelly, Madame Monod etc.) erfährt der Zuschauer nicht viel zu den Rahmenbedingungen der Geschichten und zur Zeit, zu der der Roman spielt. Vollständig unerwähnt bleibt der Name des Autors und der Titel des Buches; ungewiss sind auch die Ereignisse vor und nach dem 23. Juli 1989, der Seitenumfang des Romans sowie dessen Erscheinungsjahr bzw. Erscheinungsort. Abraham Klimts Antwort aufNellys Frage, was genau für ein Buch dies sei, unterstreicht diese Ungewissheiten, in denen sich die Va-
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riationen von Geschichten bewegen, in exemplarischer Weise: »Ni sur le fond, ni sur la forme.« 8 Die Vorstellung eines Buches, in dem weder der Inhalt noch die Form im Vordergrund stehen, weil in ihm die Vielheit pulsiert, erinnert in Ansätzen an eine Beschreibung des Buches von Deleuze und Guattari (1977): »Ein Buch hat weder Objekt noch Subjekt, es ist aus den verschiedensten Materialien gemacht, aus ganz unterschiedlichen Daten und Geschwindigkeiten. Sobald man das Buch einem Subjekt zuschreibt, vernachlässigt man die Arbeit der Materialien und die Äußerlichkeit ihrer Beziehungen. [ ...] Wie überall, so gibt es auch in einem Buch Linien der Artikulation oder Segmentierung, Schichten und Territorialitäten; aber auch Fluchtlinien, Bewegungen der Deterritorialisierung und Entschichtung. Entsprechend diesen Linien gibt es Fließgeschwindigkeiten, mit denen Phänomene relativer Verzögerung und Zähigkeit oder im Gegenteil, der Überstürzung und des Abbruchs einhergehen. [ ...] Es ist eine Vielheit (multiplicite), aber man weiß noch nicht, was das Viele impliziert, wenn es nicht mehr zuschreibbar ist[...]. " (6)
In einem vergleichbaren Kontext geht es auch in Helas pour moi um ein nicht klar zuzuschreibendes Buch mit einer Schrift, die Spuren der Vielheit hinterlassen hat; als Gedächtnis-Schrift ganz gewiss in den Erinnerungen der Protagonisten, darüber hinaus aber auch als eine in Buchteile I livres I unterteilte Schrift. Da die Schrift dieser B(r)uchteile selbst nur als Spur anwesend ist, wird der Zuschauer das Buch in seiner materiellen Beschaffenheit nie zu Gesicht bekommen. Dieser Umstand ist letztlich darauf zurückzn:fiihren, dass Abraham Klimt nicht im eigentlichen Sinne auf der Suche nach den verlorenen Seiten ist, sondern auf der Suche nach den Spuren dieser verlorenen Seiten, deren Inhalt nur noch durch die Spuren des Vergangenen zum Ausdruck verholfen werden kann. Wie durch das als Zitat von Hitchcocks I Confess (1953) zn deutende Insert LA LOI DU SILENCE - DAS GESETZ DES SCHWEIGENS9 zn Beginn des Films angekündigt wird, unterliegt das Geheimnis dieser verlorenen Seiten bis zuletzt einem Gesetz, das die Rekonstruktion einer vollständigen und kohärenten Geschichte unmöglich macht. Aus diesem Grund bleibt Abraham Klimt nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach Schrift-Spuren der Erinnerung, also nach Erinnerungsspuren von Bildern und Geschichten zn begeben, die der vergangene Blick im Gedächtnis der Protagonisten festgeschrieben hat. In Helas pour moi geht es 8 9
Klimt: »Weder über den Inhalt noch über die Form." Während Hiteheecks I Confess in der französischen Fassung mit La loi du silence übersetzt wurde, lehnt sich der Titel der deutschen Synchronisation Ich beichte enger an den Originaltitel an.
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also um eine abwesende Schrift, die vorgibt, von der Zeit unabhängig zu existieren, um außerhalb ihrer Temporalität als Abwesendes anwesend zu sein, sich damit unabhängig von Zeit als Geschichte(n) in den Erinnerungen der Romanfiguren und den Recherchen des Verlegers fortzusetzen. Obgleich die gesuchte Schrift im eigentlichen Sinne losgelöst von Zeit nicht sein kann, so operiert sie in gewissem Sinne dennoch Zeit übergreifend und entzieht sich damit jeder linearen Auffassung von Zeit: Der 23. Juli 1989, das einzige fixe und nicht dekonstruierbare Zeitmoment im Film, wird, weiter als es vom Datum aus möglich wäre, in die Vergangenheit zurückversetzt: hinein in einen Mythos, der seinerseits wiederum in umgekehrter Richtung eine Projektion in die Zukunft erfahrt. Auf der Suche nach der verlorenen Geschichte vermengen sich zwei zeitlich weit auseinander liegende Momente, um in der Suche eins zu werden und zwischen den Teilen der Bücher I livres I zu zirkulieren. Angekommen im Amphitryon-Mythos wird nun mit den verlorenen Seiten des Buches auch die verlorene Geschichte mystifiziert. In diesem Sinne verräumlichen die Schrift-Bilder (Inserts) in Helas pour moi eine Gedächtnisproblematik, die als textuelle Ebene der optischen und akustischen Ebene hinzutritt und damit selbst als Bestandteil der Bild-Ton-Spur figuriert. Ihre Funktion ist weniger kommentierender als vielmehr in zweierlei Hinsicht reflektierender Art: zum einen als autoreflexives, selbstreferentielles, rekursives, von den Geschichten unabhängiges Element; zum anderen als die Geschichten begleitendes Element. Zwischen, wie es in Inserts eingeblendet wird, TRES HAUT SEHR HOCH und ICI-BAS - HIENIEDEN beginnen sich die Geschichten mitjeder Erinnerungsspur neu zu schreiben. Wenn im Film das erste Insert mit der Aufschrift D' APRES UNE LEGENDE - NACH EINER LEGENDE eingeblendet wird, welches aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Legende verweist, die auch Elie Wiesel in seinem Roman Die Pforten des Waldes beschreibt und die Abraham Klimt als Erzähler aus dem Off spricht, dann ist die Funktion dieser Erzählart bereits festgeschrieben. Nach einer Legende führen die Schrift-Bilder die Neuschreibung eines Mythos im Kontext einer Geschichte von Erinnerungsspuren vor. Insofern >denken< die Schrift-Bilder sowohl ihre eigenen zitierenden und rekursiven Geschichten als auch die an die Bilder angelehnten Geschichten, wodurch aus ihnen Denk-Bilder werden: Zuletzt sind es Geschichten, wie sie das Kino schreibt, um von unseren Blicken aufgefangen zu werden und in unsere Erinnerung überzugehen. Doch was wir erinnern, nachdem wir den Erinnerungsspuren in Hetas pour moi gefolgt sind, erscheint selbst nur als die Reflexion dieser Erinnerungen, die sich dem Kreis des Weiterverweisens als Variabilität der Geschichten zwischen Schrift-Bildern und Denk-Bildern eingeschrieben hat.
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Das extradiegetische und das diegetische Schwarz- Bild Kein anderes Medium als der Film vermag mit einer vergleichbaren Wirkung jenen Zauber zu versprühen, in dem sich die Sehnsucht und die filmischen Bilder im Blick des Rezipienten begegnen, um sich in diesem Blick als stellvertretende Wirklichkeit des Imaginären festzuschreiben. Und kein anderes Medium weiß wie der Film diesen Zauber inmitten seiner eigenen Bilder mit >falschen< Schnitten, mit der Erzeugung von Zwischenräumen, Sprüngen und Übergängen sowie mit dem Einsatz von Schrift-Bildern, Denk-Bildern und vor allem Schwarz-Bildern zu irritieren. Denn wenn der Zuschauer erst noch von den Bildern erfasst wird, plötzlich aber nur noch das pure Schwarz auf der Leinwand sieht, dann kann aus seiner Illusion so lange eine Irritation werden, bis das SchwarzBild wieder von anderen Bildern abgelöst wird. Werfen wir einen gerraueren Blick auf das Schwarz-Bild, wie es in zahlreichen Filmen Godards verwendet wird, dann stellt sich die Frage, was genau der Rezipient erblickt, wenn er umgeben vom Dunklen des Kinosaals auf die Leinwand schaut, um die Bilder in seine Imagination hineintreten zu lassen, als filmisches Bild aber plötzlich und unvermittelt das pure Schwarz sieht, welches zunächst nichts abzubilden scheint als sich selbst in einer sich am Grund nicht abzeichnenden Tiefe. Nähern wir uns dieser Frage über die technischen Komponenten an, um im SchwarzBild auf Variationen von Sinn konstituierenden und selbstreferentiellen Geschichten zu treffen. Das Schwarz-Bild ist im ursprünglichen Sinne seiner Bedeutung ein schwarzes Bild. Im Film ebenso wie in der Videotechnik ist es ein schwarzes, bei geschlossener Apparaturblende ohne Licht aufgezeichnetes einzelnes Film- bzw. Video-Bild. Abgesehen von digitalen Medien, bei denen Schwarz-Bilder Bildstörungen der digitalen Übertragungssysteme symbolisieren können, sind Schwarz-Bilder analoger Medien nicht mit Bildstörungen zu verwechseln. Dennoch können jene SchwarzBilder, die nicht als Bestandteil des Vor- oder Abspanns eingeblendet, sondern innerhalb der Kontinuität der filmischen Bilder ohne klar zuzuordnenden narrativen Bezug oder symbolische Funktion >zwischengeschaltet< werden, ebenso als eigenständige funktionelle Parameter verstanden wie auch als differentielle, die Bilder spaltende, auseinander reißende Elemente ohne Bildinhalt, als einfache Leere, missverstanden werden. Ungeachtet dessen, ob das Schwarz-Bild auf den Zuschauer manchmal wie ein leeres Bild wirkt, fest steht, dass es die Abfolge der Bilder nur zu unterbrechen scheint. Im technisch-apparativen Sinne ist
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die Aufeinanderfolge der Bilder im Schwarz-Bild weder blockiert noch verhindert, denn das schwarze Bild verkörpert kein im wörtlichen Sinne leeres Bild, sondern lediglich eines, welches bei geschlossener Blende ohne Licht aufgezeichnet wurde. Demzufolge symbolisiert es nie einen Unfall, ein Einrasten oder einen Stau, in dem das Weiterziehen der Bilder für einen Augenblick verzögert, aufgeschoben oder verhindert wäre. Wie jedes andere filmische Bild auch ist das Schwarz-Bild somit ein Bewegungs-Bild; mit dem für die Rezeption bedeutsamen Unterschied, dass im Schwarz-Bild die Bewegung verkannt wird, weil sie sich hier nicht in der Prozessualität von Situationen oder Ereignissen abbildet. Diese vermeintliche Bewegungslosigkeit ist notwendig für seine Wirkungsweise. Ohne den möglichen Eindruck des Zuschauers, das Schwarz-Bild stelle ein Bild ohne Bewegung dar, könnte es nicht mit derselben Wirkung zwischen die Bilder gesetzt werden: Denn wenn das Schwarz-Bild als (extradiegetischer) Verweis auf die Form des Films als Medium dient, dann referentialisiert es die pure Bewegung und absolute Differenz der Bilder zueinander. Damit erinnern solche Schwarz-Bilder, die keinen narrativen Bezug aufweisen, an die technisch-apparativen Voraussetzungen des Films und als solche an die dem Film zugrunde liegende Montagetechnik Chris. Maker hat in der Eingangssequenz seines Films Sans soleil (1982) diese beiden Aspekte mit dem Einsatz von Schwarz-Bildern hervorgehoben. 10 So symbolisiert das erste eingesetzte Schwarz-Bild laut Beilenhoff ( 1991) ..zunächst das fotochemische Gedächtnis des Films, jene lichtempfindliche Tafel, in die Lichtspuren eingehen können. Schwarz, das bedeutet •sans soteil ' , einen Zustand des Mangels, zugleich auch: Das SCHWARZE QUADRAT als Metabild und tabula rosa, Katastrophe aller Bilder, auch des auf Bilder ange-
10 Marker integriert in der Eingangssequenz seines Films Sans Soleil insgesamt drei Schwarz-Bilder, die als eine Art Prolog fungieren: Der Film beginnt mit einem eingeblendeten Zitat aus T.S. Eliots Ash-Wednesday: »Because I know that time is always time And place is always and only place..." Es folgt ein erstes Schwarz-Bild, begleitet von einer weiblichen Stimme (gesprochen von Alexandra Stewart) aus dem Off. Sie liest die Briefe des Kameramanns Sandor Krosna: »The first image he told me about this is three children on a raod in leeland in 1965." Der Ton setzt aus, es folgt ein Bild von drei blonden Mädchen, die sich an der Hand halten und einen Landweg entlanggehen, während sie einige Male in die Kamera schauen. Ein zweites Schwarz-Bild wird eingeblendet. Aus dem Off heißt es weiter: " He said that for him it was the image of happiness and also that he had tried several times to link it to other images." Im direkten Anschluss folgt eine Aufnahme zweier Militärflugzeuge. Die einsetzenden Worte »But it never worked. He wrote me:", leiten zu einem dritten Schwarz-Bild über. Weiter heißt es: .. one day l' ll have to put it all along at the beginning of a film with a long piece of black Ieader. lf they don't see happiness in the picture, at least they'll see the black." Schnitt. Der eigentliche Vorspann beginnt.
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wiesenen Gedächtnisses. Indem dieses fotochemische Gedächtnis zu einem Negativ-Bild wird, wird die Leinwand aus einem instrumentell untergeordneten zu einem autonomen Ort, zur eigentlichen Tafel, auf der etwas eingetragen werden kann, oder zum Schwarzen Loch, das alle Bilder in sich aufnimmt. [...] Schwarz, das ist der Balken, der zwei Fotogramme trennt, die sogenannte Transportphase, ein vom Auge nicht mehr wahrnehmbarer Zeitbruchteil (1 /48 Sek.)." (453)
Indem jedes für sich dazwischen ist und eingeschoben zwischen zwei Bildern das Bild ihrer (vorgetäuscht negierten) Differenz erinnert, verweist es als ein Zwischenbild damit zugleich auf jenen Ort, von dem aus sich die Aufeinanderfolge der Bilder ereignet. Hier erscheint das Schwarz-Bild als die Topologisierung des konstitutiven kinematographischen Zwischenraums, in dem Anwesenheit und Abwesenheit zugleich und in eins existieren: Da das Schwarz des Filmstreifens gewissermaßen den Ursprung jedes Bildes darstellt, ist den filmischen Bildern die strukturelle Ununterscheidbarkeit (auf dem Filmstreifen) gleichsam ursprünglich; ihr Unterschied ist in der Form zu sehen. In dieser ursprünglichen Ununterscheidbarkeit wird ein Bruchteil der BilderDifferenz flir den Zuschauer in dem Moment sichtbar, in dem ein Stück des unbelichteten Film-Streifens auf die Leinwand projiziert wird. Zwischen Abbildung und Nicht-Abbildung situiert ist das Schwarz-Bild aber weder das eine noch das andere, sondern beides zugleich: Denn vergleichbar mit dem vollständig weißen Bild, das »das Potential zu aller Gestaltung« (Spielmann 1994, 142) enthält - oder als Pendant dazu mit dem in Godards Eloge de l 'amour einige Male eingeblendeten Buch, dessen Seiten unbeschrieben sind - enthält auch das Schwarz-Bild das Potential zu aller, also auch zu keiner Gestaltung. Die extradiegetische Schwärze stellt einen Bruch in der Narration dar: Sie ist eben nicht diegetisch, wird als Störung empfunden, nicht zuletzt weil sie in der Regel entweder über keinen Ton verfügt oder aber von Musik, Off-Kommentaren etc. begleitet wird, die ebenso extradiegetisch fungieren. Zugleich lässt die extradiegetische Schwärze den Eindruck entstehen, als sei hier die Zeit im Gegensatz zu den übrigen Bewegungs-Bildern gewissermaßen >entkodiertc Für einen kurzen Augenblick von dem filmischen Handlungsraum >gelöstaußerhalb< des filmi schen-narrativen Rahmens. Die beiden Dimensionen Raum und Zeit scheinen hier gegeneinander verschoben zu sein, denn das Schwarz-Bild vermag dem filmischen Bild-Raum keine Plastizität, keine figurative Darstellung und insofern auch keine Darstellung von Veränderlichkeit zu verleihen. Erst
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in der Projektion von Bildern mit klarem narrativem Bezug wird die figurative Bewegung für den Zuschauer wieder sichtbar gemacht. Denn: »Das einzelne Photogramm ist zuerst eine Pose - die Kinese manifestiert sich an anderer Stelle, im Unterschied eines Bilds zum nächsten; und im Augenblick dieses Unterschieds, wenn kein Lichtstrahl die Leinwand trifft und ein isoliert nicht wahrgenommenes Schwarzbild die Pose ablöst, wohnt die eigentliche Bewegung: das Kino. Das Intervall als Keim ist unabdingbar, weil es den Unterschieden im figurativen Ensemble des einen Bildes zum nächsten gestattet, eine Engführung mit dem Moment der Bewegung im Projektor einzugehen und schließlich auf der Leinwand in ein Bewegungsbild zu münden. " (Meurer online)
Weil Zeit erst durch das bewusst erfassbare Zusammenwirken von Prozessualität, Veränderung und Dauer wahrzunehmen möglich ist, erklärt sich von selbst, weshalb für den Zuschauer beim Betrachten insbesondere eines ohne Ton eingeblendeten Schwarz-Bildes der Eindruck entstehen kann, als bewege sich Zeit hier außerhalb des Rahmens einer sich räumlich ereignenden Geschichte. In Wirklichkeit natürlich behält dieser Eindruck nicht Recht. Denn wie Sierek (1994) über das filmische Bild schreibt, wird die Zeit selbst diesen Irrtum aufzuklären wissen: "Jedes Bild auf der Leinwand, und sei es noch so sehr in sich geschlossen , verweigere es sich einer Zuweisung zu Gegenständen bis dort (d. i. über den Filmtext) hinaus, weist am Vektor der Zeit über sich selbst hinweg. Es benötigt in jedem Fall die Dauer, es unterliegt immer der Veränderung und Reihung. Und genau in dieser Hinsicht hat das Filmbild etwas zu erzählen: etwas und erzählen. Es spricht von sich als einem Etwas, und es erzählt von seiner Dauer und Veränderung." (163)
Auch dem extradiegetischen Schwarz-Bild ist es in diesem Sinne möglich, etwas zu >erzählenAura< laut Schuster »nicht mehr die unmittelbare, materielle Gegenwatt des einmaligen Objekts zur Grundlage, sondern betrifft eine durch ein Medium (mittels einer szenischen, filmischen und fiktionalen Aufbereitung) in der Imagination des Betrachters geschaffene Aura.« (66) Bevor in den nachfolgenden Abschnitten unterschiedliche filmische Rahmenanordnungen an Beispielen dargestellt werden, seien einige grundsätzliche Überlegungen zu Bildern der Malerei vorweggeschickt, die den Rahmen aus zwei verschiedenen Positionen heraus definieren: Auf die eine Weise wird der Rahmen als eine das Bild primär eingrenzende, auf die andere als eine das Bild zugleich entgrenzende Markierung analysiert. Da das entgrenzende Rahmenverständnis das eingrenzende kritisch reflektiert, sei mit einer (eingrenzenden) >Meditation< des spanischen Philosophen und Kulturanthropologen Jose Ortega y Gasset (1996) begonnen: In seinem Essay zum Rahmen sinnt er über zwei Photographien und über ein kleines Gemälde nach - die Gestalt der Gioconda auf der einen Seite, ein Portrait des Hombre con Ia mano al pecho auf der anderen Seite-, die seine Wände schmücken. Da sich über keines der Bilder nur eine einzige Seite schreiben lässt, meditiett Ortega y Gasset über einen Teil des Gemäldes, über den Rahmen, und nennt die Beziehung des Rahmens zum Bild eine >physiologische Bedürftigkeit< (211): Das eine Element bedürfe des anderen, allein sei es unvollkommen. Dennoch hüllt der Rahmen das Bild weder ein wie ein Kleid den Körper noch schmückt er es; der Rahmen stellt das Bild seiner Ansicht nach vielmehr zur Schau. »Anstatt den Blick anzuziehen, begnügt der Rahmen sich damit, ihn zu sammeln und sogleich auf das Bild zu lenken.« (213) Er grenzt das Bild von seinem äußeren Bereich ab und isoliert es von seinem Untergrund, um sich mit dieser Begrenzung zugleich dem Bild selbst entgegenzusetzen. Ortega y Gasset zufolge markiert der Rahmen diejenige Begrenzung eines Bildes, welche zu verhindern vermag, dass das Bild über seine Grenzen hinausgeht, in seine Umwelt verläuft, um
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sich in ihr aufzulösen, mit ihr eins zu werden. 2 Ohne diese Abgrenzung würde das Bild an >Anmut und Verftihrungskraft< (214) verlieren. Erst der Rahmen verhindert die Auflösung des Bildes in seine Umgebung, indem er das Bild von dem trennt, was es nicht ist, nämlich von seinem Außen. 3 Da sich der Ausdruck eines Gemäldes im Gegensatz zum filmischen Bild diesem Verständnis nach im Zentrum, also in der Mitte des Bildes anordnet, ist man geneigt, den Rahmen hier als zentripetal zu bezeichnen: Die kompositorischen Elemente ebenso wie die Imagination des Betrachters verbleiben im Rahmen. Auch im Verständnis Simmels (1922) ist es das Wesen des Kunstwerks, »ein Ganzes für sich zu sein, keiner Beziehung zu einem Draußen bedürftig, jeden seiner Fäden wieder in seinen Mittelpunkt zurückspinnend.« (46) Erst jener Ausschluss erlaubt es, das Kunstwerk als eine sich ihrer Umgebung gegenüber autark verhaltende, hermetische Einheit bezeichnen zu können. Die Paradoxie dieser Ausschlussbedürftigkeit besteht Simmel zufolge darin, dass der Rahmen das Kunstwerk einerseits von seiner Umgebung und somit von seinem Betrachter abzugrenzen veranlasst ist, um andererseits erst durch den Blick des Betrachters zum rezeptiven und darstellenden Gegenstand erhoben werden zu können.4
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Auch Lotmans (1972) Gedanken zum Rahmen als kompositorischer Bestandteil des Gesamtkunstwerks basieren auf einem vergleichbaren Grundverständnis. Seine Überlegungen betreffen vor allem die innere strukturelle Beschaffenheit des Rahmens im Verhältnis zu seinem Außen. Laut Lotman kennzeichnet sich die Grenze eines Buches durch seinen Anfang und sein Ende. Ähnliches gilt für das Bild, das durch den Rahmen des Bildes begrenzt wird: Alles, was sich außerhalb dieses eingrenzenden Rahmens befindet, bleibt von der Betrachtung des Kunstwerks ausgeschlossen. »Was jenseits dieser Linie liegt, gehört nicht zur Struktur des Werkes: es ist entweder kein Werk oder ein anderes Werk. « (300) Louis Marin (1979) hebt in seinem Essay zum Rahmen als über den Aspekt der Begrenzung hinausgehendes Merkmal hervor, dass das Bild durch den Rahmen ökonomisch, historisch, sozial und kulturell definiert wird. »The frame encloses the image in an external way [ ...] by constituting it not only as a privileged perceptual object but also as a precious and valuable object: the frame is not only a requirement of the use-value of the picture but also a sign (a marker) of its possible exchange-value, a sign which is overdetermined in certain historical moments and in certain cultural places and which transforms the enclosed picture into a sign of wealth and culture. A diachronic study of the frame as a sign of the enclosed value of its image could provide indications of its economic, social, and cultural displacements." (777/778) Die Bedeutung des Rezipienten für das Kunstwerk berücksichtigt auch Marin (1979) in seinen Überlegungen zum Rahmen, indem er drei Räume (spaces) voneinander unterscheidet, auf die der Rahmen verweist. Neben dem •space of representation< (er umfasst Formen, Farben und Linien auf der Leinwand) und der •representation of space< (sie entspricht der mimetischen oder amimetischen Repräsentation im Bild) existiert ein dritter Raum, den Marin als ·space of representability< bezeichnet: Er ist der Raum des Betrachters, »the space from which the picture is looked at [ ... ],« (778) Diese drei inhomogenen
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Jedes ästhetische Erfassen setzt diesem Verständnis nach eine Distanz voraus, von der aus sich der Blick des Betrachters auf das innerhalb des Rahmens Abgebildete richtet, wobei die Beziehung des Bildes, die es zu sich selbst einnimmt, ebenso auf den Bildmittelpunkt ausgerichtet ist. Wird bei dem Rezipienten während des Blickens ein bestimmter ästhetischer Affekt ausgelöst, so erhebt der Blick des Rezipienten das Kunstwerk zum Subjekt, wodurch es den reinen Charakter seines An-SichSeins verliert. Somit ist das Kunstwerk »in der eigentlich widerspruchsvollen Lage, mit seiner Umgebung ein einheitliches Ganzes ergeben zu sollen, während es selbst doch schon ein Ganzes ist; [. .. ].« (Simmel 1922, 53) So viel zu der in der Forschung verbreiteten Auffassung vom Rahmen in der Malerei. 5 Dass diese innerhalb der Kultur- und Kunstwissenschaft weit vorgedrungene Ansicht insbesondere in Aspekten wie der Abgrenzung von Innen und Außen, der Distanz des Bildes zu seinem Umfeld und der für die Rezeption notwendigen Ausschlussbedürftigkeit uneingeschränkt gültig ist, lässt sich nicht bestreiten. In welchen Bereichen ein ausschließlich eingrenzendes Rahmenverständnis aber nicht allgemein anwendbar ist, zeigen Bilder der Konkreten Malerei, insbesondere die Kasimir Malewitschs, der um 1913 in Russland den Suprematismus begründet hat. Das Aufgeben herkömmlicher Prinzipien und Verfahrensweisen durch den Suprematismus, die seit der Renaissance die Formgeschichte der Malerei beeinflusst haben, hat sich auch subversiv auf die Bedeutung und die Funktion des Rahmens sowie auf das Verständnis von Grenzen ausgewirkt. Was zuerst als Abgrenzung des Bildes von seinem Außen und dann über eine lange Zeit als Schutz- und Schmuckeinfas-
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Räume beziehen sich wechselseitig aufeinander und konstituieren damit spezielle, für die Rezeptivität des Bildes bedeutsame Rahmenanordnungen . Neben den vordergründig kunstwissenschaftliehen Rahmenanalysen existieren auch im Bereich der Soziologie wichtige Untersuchungen zu Rahmen. Ver· wiesen sei in diesem Kontext insbesondere auf die Rahmen-Analyse von Erving Goffman, die erstmals 1974 unter dem gleichnamigen Titel Frame Analysis erschienen ist (1980). Goffman, der den Rahmenbegriff von Gregory Bateson aus den 50er Jahren aufgreift, geht in seinem Konzept davon aus, dass jedes Individuum soziale Ordnungsprinzipien für Ereignisse und Situationen des Alltags aufstellt und damit ein kognitives Wissenskonstrukt errichtet, das ihm dazu verhilft, diese Ereignisse, Situationen und Erfahrungen zu verstehen, einzuordnen, zu interpretieren und auf sie zu reagieren. Elemente, die für die Errichtung solcher Ordnungsprinzipien notwendig sind, nennt Gaffman ·Rahmen·; der Begriff ·Rahmen-Analyse· dient somit als »Kurzformel für die entsprechende Analyse der Organisation von Erfahrung« (19). Während sich Batesons Untersuchungen (bspw. in seiner double bind- Theorie) vor allem auf die (sozial)psychologische Entwicklung von Rahmen richten, setzt Gaffman in seiner Rahmen-Analyse den Fokus auf die Organisation von Wissen und Erfahrung in Alltagssituationen und damit auf die Form, Funktion und Anwendung von Rahmen.
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sung diente, 6 wird Anfang des 20. Jahrhunderts programmatisch durch eine Aufhebung seiner ursprünglich angenommenen Funktionszuweisungen ersetzt: Anstelle einer verzierenden, schmückenden oder umrahmenden Bildbegrenzung ist der äußere Rahmen der Bilder, sofern ein eigenständiger Rahmen verwendet wird, häufig entgrenzend und durchlässig für eine Form und Grund verdichtende oder invertierende Bewegung, in der die Medium-/Form-Relation der Rahmenanordnungen geöffnet, entkoppelt, verflüssigt erscheint. Am Beispiel zeigen sich diese invertierenden und zugleich entgrenzenden Bewegungen in Malewitschs Schwarzem Quadrat auf weißem Grund (siehe Abb. 6 im Anhang), jenem Bild, in dem der Vordergrund in seinem zunehmend vordergründig werdenden Hintergrund leicht ein- und wieder aufzutauchen, zwischen Form und Grund leicht vor- und zurückzusetzen scheint (Wendt und Mertin online). Wie Gerd Steinmüller ( 1991) in seiner Analyse der Bilder Malewitschs hervorhebt, wird diese Form-Ausdehnung, die den Eindruck entstehen lässt, das Quadrat >bewege< sich langsam auf der Bildfläche, während in der Tiefe zugleich minimale Dreh- und Kippbewegungen hervorgerufen werden, durch das zwar nur geringfügig, aber dennoch punktasymmetrisch zum Untergrund angeordnete schwarze Quadrat innerviert (71-75). Ein sich gegenseitig konterkarierendes und destabilisierendes Wechselverhältnis zwischen Form und Grund führt zu einer visuellen Mobilität der Binnenform. Es hebt die Fixität der Form-Anordnung in sich auf, wodurch das FormGrund-Spannw1gsverhältnis Steinmüller zufolge »eine Vielzahl von Stadien zwischen Identität und Differenz, zwischen Ordnung und Kontingenz durchläuft. Die Binnenelemente erscheinen infolgedessen als ·perpetua mobilia', als unfestgestellte energetische Einheiten, die in ihrem Aufeinander-Zu, Voneinander-Weg und Nebeneinander-Her - sei es durch Auslassungen und Hinzufügungen, durch Veränderungen ihrer Formund Farbgebungen, oder sei es durch wechselnde Aufhängungen des betreffenden Gemäldes- auch nachträglich noch modifiziert werden können. Ähnli ches gilt für die weiße Bildfläche. Sie •entgrenzt, sich im Zuge der Farbfarmbewegungen und erscheint selber als eine dynamische, sich sowohl in axialer als auch in lateraler Richtung ausdehnende Entität." (123/124)
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Das sich im Europa des 15. Jahrhunderts zunehmend etablierende Einrahmen von Bildern markiert Arnheim (1983) zufolge den Ausdruck einer sozialen Veränderung: Während Kunstwerke bis dahin in Auftrag gegeben wurden, um sie an einem bestimmten Ort unveränderbar zu platzieren, wodurch sich das Bild unmittelbar als Teil seiner Umgebung begreifen ließ, wurden Bilder während der Renaissance für alle sozialen Schichten öffentlich gemacht. Um sie auf Kunstmärkten auszustellen und unabhängig von ihrer Umgebung zu einem eigenen Gegenstand werden zu lassen, ließ man sie rahmen (59/60).
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Anders als bei der Hermann 'sehen Kontrasttäuschung führt das leichte Vor- und Zurücksetzen des Formelements gegenüber dem Grund zu keiner optischen Täuschung, denn in ihrer beweglich erscheinenden Anordnung haben beide Elemente einen definierten Platz im Bild. Stattdessen unterstreicht die invertierende Bewegung die Wichtigkeit der Frage, an welcher Stelle des Bildes eine Rahmenverflüssigung zu erkennen ist Oder anders formuliert: Wo im Schwarzen Quadrat auf weißem Grund befindet sich der Rahmen? Unabhängig davon, ob ein Kunstwerk gerahmt oderungerahmt ist, es besteht kein Zweifel daran, dass die äußere Umrandung oder Einrahmung eines Bildes in der Regel entscheidet, was dem begrenzten Ganzen zugehörig ist D.h. die Leinwand als Fläche mit festgelegten Begrenzungen bietet allein schon insofern einen in Größe und Format definierten Raum der Darstellung, als sie das Bild nach vorne hin öffnet und zu den Seiten von dem Untergrund abgrenzt Bevor die Frage nach dem Rahmen im Schwarzen Quadrat auf weißem Grund aber beantwortet werden kann, stellt sich eine weitere: Worin unterscheidet sich der äußere Rand einer Leinwand von einem Rahmen? Bei ungerahmten Bildern ist es unzutreffend, den Rand der Leinwand stellvertretend als Rahmen des Bildes zu bestimmen. Gerrau genommen sind ungerahmte Bilder Bilder ohne (äußeren, hinzugefügten) Rahmen, aber mit Begrenzung durch den äußeren Rand der Leinwand. Unabhängig von einem äußeren hinzugefügten Rahmen sind dennoch sowohl in gerahmten als auch in ungerahmten Bildern rahmende Formanordnungen innerhalb des Bildes markierbar, die sich aus der Darstellung ergeben. Aus diesem Grund bedeutet der Verzicht auf einen eigenständigen Rahmen nicht zwangsläufig, dass jedes ungerahmte Bild über seine Grenzen hinausreicht Weiterhin sagt allein die äußere Begrenzung eines Bildes, ob mit Rahmen oder ohne, zunächst nichts darüber aus, ob das Gewicht des Bildes in die Mitte oder in das Außerhalb verlagert ist Ganz bestimmt fuhrt der Verzicht auf einen äußeren Rahmen aber dazu, dass das ungerahmte Bild direkt und ohne Unterbrechung eines sich zwischen Bild und Umgebung platzierenden Rahmens durch die äußere Umrandung der Leinwand von seinem Umfeld abgegrenzt wird. Im Hinblick auf den Aspekt des Sich-Abgrenzens ist ein Rahmen also nicht zwingend erforderlich. Dass er dennoch vielfach verwendet wird, resultiert aus einem einfachen Umstand: Mit Rahmen erscheint ein Bild geschützter und isolierter als ohne Rahmen; umgekehrt wirkt ein ungerahmtes Bild offener als ein gerahmtes - wohlgemerkt nicht in den rahmenden Formanordnungen, die innerhalb des Bildes markierbar sind, sondern lediglich in der äußeren Rahmengebung.
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Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung ist das Schwarze Quadrat auf weißem Grund ein im eigentlichen Sinne der Bedeutung gerahmtes, auf Leinwand gemaltes Bild. In der Ausstellung Kasimir Malewitsch: Das Spätwerk, die die Kunsthalle Bielefeld vom 20. Februar bis zum 21. Mai 2000 zeigte, war zu sehen, dass der Rahmen unscheinbar, schmal und aus weiß gestrichenem Holz ist. Interessant verhält es sich mit dem Wirkungsverhältnis der markierbaren rahmenden Formanordnung innerhalb der Darstellungsfläche zu diesem äußeren Rahmen. Beim Betrachten des Bildes zeigt sich, dass sich das Formelement >schwarzes Quadrat< auf eine Weise auf dem weißen Grund >bewegtKräftefeldes< zu verstehen ist, wie Arnheim ( 1983) es insbesondere bei architektonischen Bauten und Plastiken beschreibt (55, 70): Arnheim zufolge wird dem wngebenden Rawn von Plastiken, Rahmen etc. eine der eigenen Struktur entsprechende Form auferlegt. 7 Demnach verfügen Gegenstände verschiedener Art über ein 7
Über das Kräftefeld oder Kräftezentrum von architektonischen Bauten schreibtArnheim (1983): »Je nach seinem visuellen Gewicht und der Richtung
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Kräftefeld, welches verhindert, dass die visuelle Wirkung an ihren Grenzen aufhört. »Doch hängt die Reichweite dieser Wirkung von Form und Größe des Dinges ab, das als Träger der visuellen Dynamik dient.« (70) Diesen Aspekt gilt es vor allem bei Rahmendefinitionen zu berücksichtigen, die das Moment des Übergangs und der Durchlässigkeit auslassen. Bezogen auf gerahmte und ungerahmte Bilder der Malerei erklären die Überlegungen von Arnheim, weshalb zentripetale Bilder nicht zwangsläufig durch eine Beziehungslosigkeit zu ihrer Umgebung gekennzeichnet sein müssen. 8 Weiterhin erklären sie, weshalb demgegenüber zentrifugale Bilder in ihrer Form nicht automatisch stärker auf die Umwelt wirken müssen als zentripetale. Unabhängig davon, ob die Konzentration eines Bildes in der Bildmitte oder im Bildäußeren liegt, besteht grundsätzlich auch hier kein Zweifel daran, dass insbesondere bei Bildern, die einen Betrachter einfordern, im Außerhalb des Bildes ein bestimmtes Kräftefeld errichtet wird, indem sie bspw. eine Illusion erzeugen. 9 Auch Malewitsch hat mit der außergewöhnlichen Hängung des Schwarzen Quadrates auf weißem Grund bewirkt, dass das Bild der Umgebung eine seiner Struktur entsprechende Form gibt und mit diesem Verfahren auf seine Umwelt (das Museum I die Galerie) in einem bestimmten diskursiven Zusammenhang (Ausstellung) anspielt: In der Letzten futuristischen Ausstellung 0,1 0, die 1915116 in Petrograd stattfand, hing das Schwarze Quadrat über Eck unmittelbar unterhalb der Decke (Steinmüller 1992, 87) und »nahm damit jenen prestigeträchtigen Platz ein, der in einem orthodoxen russischen Privathaushalt der Ikone gebührt, vor der sich der Gast bekreuzigt.« (Riese 1999, 59) Trotz der Bedeutung dieser Hängung sei dahingestellt, ob es Malewitsch ausschließlich darum ging, auf seine Umwelt zu wirken, und wenn ja, ob er sie als ein >Kräftefeld< oder >Kräftezentrum< in dem Sinne definiert hätte, wie Arnheim es später in einem anderen Zusammenhang tat. Denn bevor das Schwarze Quadrat auf weißem Grund auf seine Umgebung hindeutet oder wirkt, tut es vor allem eines: Es stellt die Frage nach einem möglichen Rahmen. Als Erweiterung und gleichzeitige Zusammenfassung der vorangegangenen Bilder von Malewitsch folgt die kalkulierte Suprematistische Entleerung des konventionellen gegenständlichen Kunstwerks : das Weiße
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seiner Vektoren verlangt ein Gebäude etwa eine bestimmte Offenheit um sich, vorn zumeist mehr und hinten weniger. Ein zylindrischer Turm schafft ein symmetrisches Feld um sich, während ein keilförmiges Gebäude Platz für seinen konzentrierten Vorstoß braucht." (55) Das gilt vor allem für Kunstwerke, die aus mehreren Teilen bestehen. Hier ist das Kunstwerk sowohl notwendiger Teil des Ganzen als auch unabhängig in sich selbst (Arnheim 1983, 52). Dass der Betrachter umgekehrt auf das Kräftefeld des Bildes wirken könnte, ist nicht möglich.
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Quadrat aufweißem Grund (siehe Abb. 7 im Anhang). Malewitschs Bild zeigt ein weißes schräg gestelltes Quadrat, das sich nur noch geringfügig von der Farbe seines Untergrundes unterscheidet. 10 Insofern weisen die Farb- und Formkontraste zwischen der Feldfarbe und Formfarbe zunehmend minimaler werdende Differenzen auf (Steinmüller 1991, 15/16). Dennoch lenkt das nur durch geringe Farbnuancen verhinderte Ineinanderübergehen von Form und Grund die Aufmerksamkeit des Betrachters weniger auf die fein konturierte Linie zwischen Figur und Grund, als vielmehr auf die Auflösung oder die Reduktion des Figurativen, oder anders formuliert: auf die bis »ins infinitesimale tendierende Bildwirkung« (Steinmüller 1991, 114). Durch die Reduktion des Figurativen stellt sich wieder die Frage nach dem Rahmen. Wie beim Schwarzen Quadrat aufweißem Grund sind die beiden Formen auch beim Weißen Quadrat auf weißem Grund auf eine Weise zueinander angeordnet, die verhindert, einen einzigen Rahmen in dieser Anordnungen definieren zu können. In gewisser Weise rahmt die äußere Linie des weißen Quadrates sich selbst ebenso, wie das weiße Feld das Quadrat einzurahmen andeutet. Dennoch sind diese beiden möglichen Rahmen nur in dem Sinne rahmengebend für die Beantwortung der Frage, dass sie in der in ihrer Farbgebung akzentuierten Offenheit eine weitere Offenheit zum Ausdruck bringen. Wieder lässt es das Bild selbst zu, die Frage nach dem Rahmen mit einer gnmdsätzlichen Offenheit beantworten zu können. Somit liegt das Offene auch beim Weißen Quadrat auf weißem Grund in der Möglichkeit, beim Betrachten des Bildes einen Rahmen, keinen Rahmen oder mehrere Rahmen mitzudenken, ohne dabei den Rahmen als feststehende, undurchlässige Grenze zu definieren. Die Verbindung einer Inversionzweier Formen mit einem offenen Rahmenbegriff ist über die Kunst hinaus für eine hier zu skizzierende Rahmen-Vielfalt in einem weiteren Sinne von Bedeutung: Denn wenn sich die Formen im Verhältnis zueinander auf dieselbe Weise (für eine Bewegung) durchlässig verhalten, wie sich auch der Rahmen zu sich selbst und im Verhältnis zu seinem Außerhalb anordnet, so erscheint die Funktion des Rahmens innerhalb der Malerei im Vergleich zur Auffassung eines eingrenzenden Rahmenverständnisses zunehmend entgrenzt und dem Außen gegenüber >geöffnetdurchdringt< und >öffneteinzuschreibenhöheren Rechtfertigung< (35), selbst wenn diese Rechtfertigung die Visualisierung eines >leeren Ästhetizismus< darstellt. In welcher Bewegung beziehen sich nun die äußeren und internen Rahmurrgen auf das Außerhalb des Bildfeldes? Um sich dieser Frage anzunähern, gilt es festzuhalten, dass ein Bildfeld alles das einschließt, was im Bild sichtbar ist, d.h. alle Kulissen, Requisiten und Darsteller. Auf diese Weise konstituiert das Bildfeld ein relativ und künstlich geschlossenes Ensemble, das sich aus verschiedenen Teilen bzw. Elementen zusammensetzt, die - folgt man der Kinotheorie von Deleuze - ihrerseits wiederum eigene Subensembles bilden. Innerhalb dieser einzelnen Subsysteme bewegt sich das Bildfeld zwischen seiner Sättigung (mehrere
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Szenen, Haupt- und Nebenszenen ereignen sich gleichzeitig, so dass eine Priorität der Szenen nicht mehr zu erkennen ist) und seiner Verlmappung (gegenstandsarme Bilder, deren Höchstmaß an karger Abstraktion im Schwarz- oder Weißbild erreicht zu sein scheint) (Deleuze 1998, 27). Wie in den Ausführungen zu akustischen Zwischenräumen im kinematographischen Erzählraum bereits beschrieben wurde, schließt eine Kadrierung immer auch das ein, was dem Bild von seinem >Außen< zugefügt wird, seien es optische oder akustische Elemente. 13 Paradigmatisch hierfür ist der Kameraschwenk: Wenn die Kamera bei unverändertem Standpunkt in vertikaler, horizontaler oder diagonaler Achse durch den Raum fährt, dann wird der Bildraum durch den sich verschiebenden Bildausschnitt erweitert. So geht der Ausschnitt des Gezeigten bei dem Kameraschwenk ebenso wie bei der Kamerafahrt in den bisher noch außerhalb des Bildfeldes angeordneten Bereich über. Im Hinblick auf vergleichbare technische Mittel ist es im Film möglich, das Nicht-Gezeigte als dem Geschehen verzögert bereits dazugehörig zu bezeichnen. Obgleich die Kadrierung das Bildfeld also begrenzt, ist im nichtsichtbaren Raum das Sichtbare tendenziell auf dieselbe Weise anwesend wie das Nicht-Sichtbare im Sichtbaren. Damit bewegen sich die unterschiedlichen Rahmenanordnungen der filmischen Bilder nicht in einer definierten Unterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen, vielmehr in einer gewissen Ununterscheidbarkeit, die durch die Beweglichkeit der Bildbegrenzung hergestellt wird: Wenn das im Bildfeld Erfasste in das noch eben vom Bild Ausgeschlossene übergeht, um durch diese Bewegung ein neues Bildfeld sichtbar werden zu lassen, welches seinerseits wiederum für einen kurzen Augenblick ein neues Außerhalb konstituiert, bis dieses Außerhalb wieder zu einem Innerhalb wird, dann sind filmische Bilder allein deshalb Bewegungs-Bilder, weil es ihre Voraussetzung ist, in dieser Dualität zu changieren, d.h. zwischen ihr zu sein. 14 13 Über die visuelle und akustische Dimension eines Bildfeldes hinaus verweist Deleuze (1998) auch auf geometrische und physikalische Komponenten, die für die Kadrierung des Bildfeldes und die Szenenaufgliederung der Einstellun· genrelevant sind (28). So kann bspw. auch das Licht einer geometrischen Op· tik unterworfen sein (28-30). 14 ln seinen Überlegungen zum hors-champ geht Deleuze (1998) weniger davon aus, dass es einen konkreten Raum gibt, das Bild-Innere, und einen imaginären Raum, den Bereich außerhalb der Bildbegrenzung, der seinerseits immer dann konkret wird, wenn das Nicht-Sichtbare sichtbar, d.h. in die Kadrierung einbezogen wird. Vielmehr differenziert Deleuze zwischen einer relativen und einer absoluten Komponente: Durch die relative Komponente ist es einem geschlossenen System (dem Bildinneren) möglich, auf ein nicht sichtbares Ensemble zu verweisen, welches, sichtbar geworden, wiederum ein neues nicht sichtbares Ensemble hervorbringt; demgegenüber öffnet der absolute Aspekt das geschlossene System der Dauer des Ganzen, in dem es weder Ensembles noch Sichtbarkeit mehr gibt (34). Je nach intendierter Funktion des Offs können beide Aspekte ineinander greifen: Das Off ist dazu in der
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Die Präsenz dieses nicht-sichtbaren Außen im Film selbst zu diskursivieren, zählt bekanntermaßen zu einem wichtigen Merkmal der Kinematographie Godards. Indem die akustische Umgebtmg außerhalb der Bildkadrierung bspw. durch Kommentierungen aus dem Off in das Bildfeld mit einbezogen wird, ist es möglich, die einzelnen akustischen und optischen Mitteilungsebenen voneinander zu trennen, sie gegeneinander abzusetzen, um in dieser Bewegung ein Rahmenverhältnis der Ununterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem zu markieren. In Godards Alphaville etwa ist es die Stimme des Computers Alpha 60, die kommentierend die Geschichte und das Geschehen des Films festschreibt und das Verhalten der Menschen im totalitär übetwachten Staat Alphaville kontrollierend diktiert: Alpha 60 aber ist eine Stimme ohne Körper, eine Stimme ohne Bewusstsein, Gewissen oder Seele, »ein Diskurs ohne Subjekt« (Speck in: Roloff und Winter 1997, 62), der sich im Symbolischen ereignet, um von diesem Ort aus Antworten und Aussagen aus ihrer mathematischen Beweisbarkeit heraus zu simulieren, die bestimmend auf die Geschichten einwirken. Gesprochen von einem Mann mit Aphonie bei zerstörten Stimmbändern, der erst mit einer künstlichen Membrane wieder sprechen lernte (Silverman und Farocki 1998, 77), ist Alpha 60 der über Alphaville waltenden Präsenz jenes nicht-sichtbaren Außen zugehörig, in der die Suche nach Professor von Braun alias Leonard Nosferatu, dem Schöpfer von Alpha 60, ihren Ursprung gefunden hat. Indem Alpha 60 das Geschehen aus dem Off dokumentiert, wird der Bereich des Bildfeldes programmatisch um den Bereich außerhalb der Bildkadrierung erweitert, wodurch der Raum des Innen selbst zum Raum des Außen wird - und umgekehrt. Demgegenüber zeigt die Eingangssequenz von Alphaville, inwieweit auch solche Kadrierungen das Verhältnis des Bildes zu seinem Außerhalb verändern, die sich auf das Bildinnere konzentrieren: Der Film beginnt mit einer Naheinstellung. Zentriert im ansonsten schwarzen Bild ist eine große kreisförmige flackernde Lichtquelle zu sehen, die, wie sich im Folgenden herausstellen wird, als Symbolisierung des Computers Alpha 60 fungiert. Durch die Nahaufnahme dieses Motivs im Inneren des Bildfeldes wird das Bild auf eine Weise begrenzt, die den Bereich außerhalb des Bildfeldes für die Dauer der Einstellung marginalisiert. Selbst die das Flackern der Lichtquelle aus dem Off begleitende Musik erinnert nicht mehr in erster Linie an ein mögliches Außen; stattdessen sind das Bild Lage, dem (Bild- )Raum weiteren Raum, d.h. Beziehungen zu weiteren Ensembles hinzuzufügen, um die künstliche Abgeschlossenheit des Bildfeldes zu verstärken, es von seinem Außerhalb zu isolieren. Darüber hinaus vermag es aus dem geschlossenen Bild ein raumübergreifendes, mentales Bild hervorgehen zu lassen, welches eine virtuelle Beziehung zum Ganzen eingeht, um sich mit dem Ganzen zu durchflechten.
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und die Musik als geschlossenes Ganzes eingerahmt und im Rahmen verräumlicht Gewissermaßen neutralisiert diese Kadrierungsart also das Außerhalb, ohne dabei aber den äußeren Bereich vollständig zum Verschwinden zu bringen. Denn analog zum Deleuze'schen Grundsatz, jede Kadrierung determiniere ein Off (Deleuze 1998, 32), besteht zwischen dem visuellen und dem akustischen Feld eine solche Koinzidenz, die auch die Begriffe >Präsenz< und >Absenz< aus einer gewissen Ununterscheidbarkeit heraus denkt; 15 Präsenz und Absenz im Sinne von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bilden in diesem Zusammenhang eine jedem filmischen Bild zugrunde liegende untrennbare Dualität, die in aller Vollständigkeit ausschließlich in der Bewegung von Prä- und Absenz zueinander fassbar wird.
Das Parergon oder: Die Vielheit von Rahmen Peter Greenaway erzählt in seinem vielfach diskutierten Film The Draughtsman 's Contract die Geschichte eines Künstlers aus dem 17. Jahrhundertnamens Mr. Neville, dem die Adlige Mrs. Herbert den Auftrag erteilt, binnen zwölf Tagen zwölf Bilder des Anwesens Compton Anstey ihres verreisten Gatten zu zeichnen. Nach anfangliebem Zögern willigt Mr. Neville in den Vertrag ein, >>Unter der Bedingung, daß er für diese Zeit tatsächlich den Platz des Hausherrn einnehmen kann, insbesondere, was die Beziehung zu dessen Ehefrau angeht.« (Görling 2002, 192) In einem Geflecht aus Verrätselungen und Intrigen, in denen der Zeichner und Verführer Mr. Neville zuletzt der Ermordung von Mr. Herbert beschuldigt wird und durch diese Anschuldigung selbst als der Verführte erscheint, konturiert Greenaway ästhetische Mittel der Bildkunst, der Bildkomposition und des Photogramms auf eine Weise, in der sich ein selbstreferentieller Bezugsrahmen um die Abwesenheit und das Ableben von Mr. Herbert webt: In diesem Bezugsrahmen analysiert Greenaway die Bedingungen malerischer und filmischer Bilder, um die Historizität von Bildtechniken in einen Kontext vielfaltiger Diskurse über den Rahmen, das Sehen und die Sichtbarkeit zu setzen. Im Zentrum dieser Erörterungen stehen sich zum Teil an der Grenze der Sichtbarkeit situierte Kompositionstechniken über die >Regeln< der Kunst, der Darstellung und über die Darstellbarkeit dieser >Regeln< im Medium des Films gegenüber (Schuster 1998; Spielmann 1994; Meurer online). 15 So wie es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, durch Bildkadrierungen das Off zu entwerfen, verweisen umgekehrt auch unterschiedliche Formen des Offs auf besondere Arten der Bildkadrierung. Zwischen dem Bildinneren und dem Bildäußeren situiert sich auf diese Weise ein verschiedenartig definierbares Wechselverhältnis.
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Innerhalb solcher Kompositionstechniken bewegen sich die Bilder in The Draughtsman 's Contract offenkundig im Rahmen: Sie bewegen sich im Rahmen perspektivisch angeordneter Bildfelder ebenso wie im Rahmen eines Zeichengerätes, durch das Mr. Neville hindurchschaut, um die Motive des Anwesens Compton Anstey naturgetreu abzubilden: Dass er dabei Gesichter durch ein weißes Oval unausgefüllt lässt, womit er bei den Bewohnern des Anwesens auf Empörung stößt, verweist eben auf die Variabilität an Möglichkeiten, mit welchen Techniken Bilder hergestellt werden können. Zwischen unbewegten Kadrierungen entwirft Greenaway auf diese Weise variierende Ansichten von Bildern, die über die verschiedenen Rahmengebungen hinaus signifikante Unterschiede zwischen der Komposition filmischer Bilder und der Komposition gemalter I gezeichneter Bilder aufzeigen: Während die moderne Kunst die durch illusorische Raumwirkung gekennzeichneten Darstellungen der klassischen Malerei überwindet, indem sie Fläche und Linie akzentuiert, bleibt der konventionelle Film seinen Kompositionstechniken weitgehend verhaftet (Spielmann 1994, 135). Im Vortäuschen einer Negation der Differenz wird die reine Oberfläche bzw. Flächigkeit des Filmbildes mit den Mitteln der Tiefenschärfe sowie mit verflüssigten medial-formalen Rahmenanordnungen zu verbergen versucht, um den Eindruck eines dreidimensionalen Raumes herzustellen. Indem sich die Kompositionstechniken in The Draughtsman 's Contract zwischen einer illusorischen Raumwirkung und einer Akzentuierung der faktischen Zweidimensionalität der Kinoleinwand bewegen, werden die Bilder immer wieder in einen symmetrischen, mit zentralperspektivischer Kameraführung aufgezeichneten Bildaufbau gesetzt, um sie als gerahmte Plan-Tableaux mit zentripetaler Bildfeldgestaltung den klassischen kinematographischen Kompositionsformen entgegenzusetzen. Denn, so konstatiert Yvonne Spielmann in ihrem Essay znr Kinematographie Greenaways: »Sichtbar gemachte Bildgrenzen und die Abgeschlossenheit der Einstellung fördern den Kontrast zwischen Tafelbild und Filmbild in allen Schärfen zutage. Der zentripetale Bildaufbau und die Konzentration auf den Rahmen zeugen von einer mathematischen, geometrischen Auffassung der Bildbegrenzung, die sich in bildinternen Unterscheidungen fortsetzt. Im Unterschied zu einer dynamischen Grenze [... ] begreift Greenaway das Bildfeld als Raumkomposition aus Koordinaten. Seine geometrischen Unterteilungen schließen an das perspektivische Fenster an. " (Spielmann 1994, 140)
Ungeachtet der Diskursivierung verschiedener Bildtechniken bricht Greenaway in den monolithisch angeordneten Plan-Tableaux dennoch weder die traditionellen Kompositionsregeln der Malerei noch die des
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Films irreversibel auf. Stattdessen beharrt er in einer changierenden Bewegung und unverwechselbaren Ironie zwischen ihnen; er bewegt sich zwischen ihnen, geht in denjeweiligen Formelementen wechselseitig auf und verschiebt mit den sich verändernden Rahmenbedingungen der Bildkomposition auch ihre Grenzen. Die Frage nach dem Rahmen und seinen Grenzen stellt sich in The Draughtsman 's Contract bereits zu Beginn des Films. Während der Vorspann unter Einsatz der Musik Michael Nymans läuft bzw. während der Vorspann den erwarteten Beginn der fiktiven Filmhandlung immer wieder verzögert, erscheinen in einem introduzierenden Wechsel zum einen vertonte, fiktionale Szenenausschnitte des Films und zum anderen Inserts mit denjeweiligen fiktiven und realen Namen der Schauspieler sowie der übrigen Produktionsmitglieder im Bild, wodurch der Übergang des nicht fiktiven Vorspanns zur fiktiven Filmhandlung in seiner Härte gemildert wird. 16 Die Verbindung zwischen dem extradiegetischen Vorspann und der diegetischen Filmhandlung erfolgt durch die aus dem Off eingespielte Musik, deren Lautstärke mit der Einblendung der Szenenausschnitte abnimmt. Die Art und Weise, wie die Bilder durch die Inserts abgelöst werden, ist in verschiedener Hinsicht einrahmend: Greenaway >rahmt< die fiktiven und realen Namen der Protagonisten und die realen Namen der Produktionsmitgliederebenso in den Vorspann >ein< wie zuletzt den Filmtitel, um in der seriellen Abfolge der Bilder auch die Figuren in den Titel sowie in die filmische Handlung >einzurahmenVor-Bildesinnen< und >AußenSichtbarkeit< und >Unsichtbarkeit< als diskursive Referenzbereiche gelockert; das Ganze ist nicht mehr das Geschlossene und der Ton keine vom Visuellen abhängige Variable mehr. Innerhalb vielfaltiger chronotoper Rahmengebungen markieren das Optische und das Akustische nun gleichermaßen denjenigen Blickpunkt, von dem aus sich der Zwischenraum als chronotope Nahtstelle des (bidirektionalen) Übergangs darstellt: Weil es charakteristisch flir chronotope Rahmenanordnungen ist, die Gewissheit des Sehens immer wieder von neuem hinauszuschieben, verbleibt die Kongruenz der Geschichten bis zuletzt diskongruent Die raumzeitlichen Einheiten werden nun innerhalb verschiedener, zwischen Bildern und Geschichten zirkulierender Rahmenanordnungen verdichtet und verschoben, verzögert und wiederholt - so lange bis Godard auch in Helas pour moi alldiejenigen Geschichten von Bildern, Mythen und Visionen erzählt hat, die er erzählen wollte. Gerade wenn das Kino in seiner dispositiven Anordnung des Sehens also als seinen Effekt den Realitätseindruck behauptet, dann sollten wir uns immer an die wunderbaren Worte Abraham Klimts aus dem Off erinnern, welche lauten: »Il faudrait quand meme savoir s'il y a des choses impossibles a voire.«24 Der Abspann läuft, ein letztes Bellen des Hundes Fido und die abschließenden Worte Amieis aus dem Off: »Si on me demande, je reponds, alors il n'y apersonne pour me le demander.« 25 Ende.
24 Abraham Klimt: »Ich finde, man müsste trotzdem wissen, ob es Dinge gibt, die man unmöglich sehen kann.« Der Verleger äußert diese Worte, nachdem er Nelly in der Videothek aufgesucht hat. 25 Amiel: .. wenn man mich fragt, antworte ich, also gibt es niemanden, der mich danach fragen könnte."
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ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Bei den Analysen zu Zwischenräumen und Übergängen in Texten sowie in Bildern der Photographie, der Malerei und des Films hat sich gezeigt, dass die Forschungsergebnisse der literaturwissenschaftliehen Rezeptionsästhetik zwar einen wichtigen Eingang in den Gegenstand der Auseinandersetzung gewährt haben, sich aufgrund ihres Versuchs einer rigiden Definition von Zwischenbereichen sowie der fehlenden Hinweise auf das Moment des Übergangs aber nur bedingt auf die Markierung von Zwischenräumen in Bildern anwenden lassen. Auch die wegweisenden Versuche it111erhalb des literaturtheoretischen Strukturalismus, Zwischenbereiche unabhängig von ihrer rezeptionsästhetischen Relevanz als differentielle, strukturelle Bestandteile von Texten zu ket111zeichnen, sind dadurch, dass auch sie das Moment des Übergangs weitgehend unberücksichtigt lassen, nur bedingt anwendbar. Trotz dieser eingeschränkten Beziehbarkeit der beiden Leerstellen-Theorien auf den Forschungsgegenstand haben sie die Analysen dennoch in einem entscheidenden Punkt geprägt: Sie haben die Durchlässigkeit der Grenzen von Zwischenbereichen erkennen lassen und damit die Notwendigkeit einer Loslösung von rigiden Definitionsversuchen vorgefuhrt. Anstelle einer apodiktischen, mit dichotomen Unterscheidungsprinzipien operierenden Definition ist eine Annäherung an das Phänomen des Zwischenraums und das Moment des Übergangs aus diesem Grund aus einer anderen Bewegung heraus erfolgt: Sie hat an denjenigen Stellen begot111en, an denen jeder Versuch einer strikten Unterscheidung zwischen den fokussierten Zwischenbereichen in ihrem Verhältnis zu ihrer strukturellen, räumlichen Umgebung obsolet wird, weil sich dieses Verhältnis als von Bewegungen des Übergangs gekennzeichnet erwiesen hat. Die Analysen im Wechsel von einer Topologie zur anderen gingen dementsprechend von der Ausgangshypothese aus, dass nicht das Medium selbst die Botschaft ist, sondern Bedeutungszuweisungen erst durch Übergänge, Übertragungen, Rückkopplungen und Rückwirkungen ermöglicht werden. Um weiterhin zu zeigen, dass Sinn und Bedeutung weder ausschließlich durch Kommentierung, Illustration oder Dar-
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stellung noch durch die Vorstellung von Text und Bild als isolierbaren Zeichen entsteht, ist statt des Unterschieds zunehmend das verbindende Element von Text und Bild, nämlich der Zwischenraum zwischen ihnen, in den Vordergrund gerückt. Diese Verbindung ist in einer Übertragungsbewegung medialer Formen erkennbar, die, wie es Deleuze sinngemäß in seiner Filmtheorie formuliert hat, in ihrem vollständigen Ausdruck erst in einer Lektüre des gegenseitigen Hin und Her fassbar wird. Der Wechsel von der Bedeutung des Zwischenraums für Bilder der Malerei und der Wahrnehmungsphysiologie zur Bedeutung des ZeitZwischenraums der Photographie für die Kinematographie sollte dem Blick auf Zwischenräume und Übergänge im kinematographischen Erzählraum eine umfassendere Kontur verleihen. Um diese Kontur noch zu schärfen, wurden zahlreiche Bild-Beispiele aus Filmen von Godard gewählt, die ein unvergleichbares Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Differenz und Identität vorführen. Insbesondere die für die Kinematographie Godards charakteristische Integration von SchriftBildern und Schwarz-Bildern in a-narrative Geschichten schreibt aufbeispielhafte Weise eine veränderte Form von Wahrnehmung und Artikulation in Bildern und Texten fest und unterstreicht damit die Bedeutung des Zwischenraums und des Übergangs fiir eine Analytik des Bildes, die sich grundsätzlich auf mehr stützt als auf bloße Darstellung und Kommentierung. Ein für seine Filme signifikantes zugleich ein- und entgrenzendes Rahmenverständnis verschiebt, verändert, kehrt Bedeutungszuweisungen um und erweitert auf diese Weise den filmischen Raum um Aspekte wie die der Diskursivität und der Selbstreferentialität. Die Rückwirkung dieses immer auch Prozessualität, Bewegung und Differenz markierenden Verfahrens auf die Medientheorie ist beträchtlich, um nicht zu sagen, dass die Intermedialitätsforschung im Bereich der Filmwissenschaft von der Kinematographie Jean-Luc Godards vielleicht sogar die prägnantesten, unter medienwissenschaftlichen Gesichtspunkten progressivsten und subversivsten Inspirationen erhalten hat. Für die Literaturwissenschaft sind diese Inspirationen insofern bedeutend, als Godard in seinen Filmen ein Wirkungsverhältnis von Text und Bild darlegt, welches mit dem Begriff der Ekphrasis nicht länger beschrieben werden kann. An die Stelle der Ekphrasis tritt nun die Intermedialität von Text, Schrift und Bild sowie im weitesten Sinne auch von Literatur und Film. Während die Beziehungen zwischen Literatur und Film, zwischen Schrift und Bild sowie zwischen Text und Bild ausgiebig diskutiert wurden (Paech 1988, 2002b), lässt Godards Analytik des Bildes in der Bewegung der einzelnen (visuellen, akustischen, textuellen und narrativzeitlichen) Ebenen zueinander eine noch nicht vollständig beschriebene
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ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
visuelle Denkfigur erkennen. Diese Denkfigur beschreibt und analysiert mediale und formale Verhältnisse des Films, ohne sich selbst darzustellen. Für die im filmischen Werk von Godard entworfenen Topographien nimmt eine solche Denkfigur eine wichtige Rolle ein, insbesondere hinsichtlich der Frage, welches Visualitätsverständnis und welche Art der Rezeption ein verändertes Verständnis der topographischen Leistung des Films hervorbringt. Godards Verfahren, neben dem Gezeigten das NichtSichtbare zum eigenen Diskurs werden zu lassen, unterstreicht dies. In Helas pour moi bspw. beginnt die Einführung in die Geschichten in einer unversöhnlichen Differenz von Raum und Zeit, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Darstellbarkeit w1d Nicht-Darstellbarkeit. Die für dieses Buch gewählte Überschrift >Im Rahmen< soll auf eben jenes der Einrahmung begegnende und mit ihr dialogisierende Moment der Entrahmung, der Rahmenverflüssigung, des Übergangs zwischen Innen und Außen, zwischen Bild und Nicht-Bild verweisen; denn in dem filmischen Werk von Godard löst sich die Dominanz des Visuellen allmählich auf, wodurch sich zum einen der Ton und zum anderen dieses NichtSichtbare dem Bild in einer Weise gegenüberstehen, die das Sichtbare nun nicht mehr als den mächtigsten Modus der Wahrnehmung wirksam werden lassen. Was aber gerrau meint die Formulierung >visuelle Denkfigur