Im Hörraum vor der Schaubühne: Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller [1. Aufl.] 9783839429082

Spatial hearing experience: Dramatics and musicology approaches to acoustic design in the dramas of Robert Wilson and He

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German Pages 242 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Im Hörraum vor der Schaubühne. Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn) und Heiner Müller (Leigh Landy)
Über die Arbeiten mit Robert Wilson. Klang im Raum: Sprache, Musik und Geräusch als Teil der theatralen Raumerfahrung
His Master’s Voice(s)? Sound und Audio-Vision in Robert Wilsons Theater. Zum Beitrag Hans Peter Kuhns
Über die Zusammenarbeit mit Heiner Müller. »The idea is to feed, furnish and let the space speak for itself« (Antonin Artaud)
Dokument: “Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht, Den Mißlaut meiner Schmerzen deinem Ohr.”. A Composer’s Work with Philoktet (February 1987)
Landscape & Soundscape. Postanthropozentrische Ästhetik bei Robert Wilson und Heiner Müller
Klangkunst als Landschaft?. Überlegungen anlässlich Kuhns Arbeiten nach dem Theater
Auf der Suche nach dem verlorenen Klang. Zur Schauspielmusik vor Robert Wilson und Heiner Müller
Dokumentation, Rekonstruktion, Re-Enactment, Neu-Inszenierung oder doch lieber »das Museum im Kopf«?. Abschlussdiskussion
Zu den Zeichnungen von Robert Wilson
Der Kontext der Grafiken. Vom Bild zum Sehen und Hören in Alceste, Alkestis und Dr. Faustus
Autorinnen und Autoren
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Im Hörraum vor der Schaubühne: Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller [1. Aufl.]
 9783839429082

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Julia H. Schröder (Hg.) Im Hörraum vor der Schaubühne

Theater | Band 68

2015-01-27 09-57-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 019a388751901822|(S.

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4) TIT2908.p 388751901830

2015-01-27 09-57-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 019a388751901822|(S.

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Julia H. Schröder (Hg.)

Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller

2015-01-27 09-57-02 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 019a388751901822|(S.

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Dieser Band ist im Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der Freien Universität Berlin entstanden und wurde auf Veranlassung des Sonderforschungsbereiches unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Das Foto auf dem Buchumschlag zeigt einen Ausschnitt aus der Installation von Hans Peter Kuhn »undefined landscape II« während des Musikfestivals Inventionen 2008 in der Villa Elisabeth in Berlin. Lektorat: Irene Lehmann Transkriptionen: Dr. Nina Jozefowicz Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2908-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2908-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Vorwort | 9 Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn) und Heiner Müller (Leigh Landy)

Julia H. Schröder | 11 Über die Arbeiten mit Robert Wilson Klang im Raum: Sprache, Musik und Geräusch als Teil der theatralen Raumerfahrung

Hans Peter Kuhn | 51 His Master’s Voice(s)? Sound und Audio-Vision in Robert Wilsons Theater Zum Beitrag Hans Peter Kuhns

Helga Finter | 71 Über die Zusammenarbeit mit Heiner Müller »The idea is to feed, furnish and let the space speak for itself« (Antonin Artaud)

Leigh Landy | 89 Dokument: ›Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht, Den Mißlaut meiner Schmerzen deinem Ohr.‹ A Composer’s Work with Philoktet (1987)

Leigh Landy | 113 Landscape & Soundscape Postanthropozentrische Ästhetik bei Robert Wilson und Heiner Müller

Matthias Dreyer | 119

Klangkunst als Landschaft? Überlegungen anlässlich Kuhns Arbeiten nach dem Theater

Sabine Sanio | 147 Auf der Suche nach dem verlorenen Klang Zur Schauspielmusik vor Robert Wilson und Heiner Müller

Ursula Kramer | 163 Abschlussdiskussion Dokumentation, Rekonstruktion, Re-Enactment, Neu-Inszenierung oder doch lieber »das Museum im Kopf«?

Referentinnen und Referenten sowie Gäste | 199 Zu den Zeichnungen von Robert Wilson

Julia H. Schröder | 219 Der Kontext der Grafiken Vom Bild zum Sehen und Hören in Alceste, Alkestis und Dr. Faustus

Irene Lehmann | 221 Kurzbiografien | 233

Robert Wilson, Doctor Faustus Lights the Lights, Berlin 1992. Charcoal, graphite and pencil on Schoeller Durex paper. 28 5/8" x 40" (72.8 x 101.5 cm). © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Geoffrey Clements

Vorwort J ULIA H. S CHRÖDER

Als ich Leigh Landy nach einem seiner Vorträge 2012 persönlich kennen lernte und er von seiner Theaterarbeit für Heiner Müller erzählte, fiel mir die berühmte Zusammenarbeit von Hans Peter Kuhn und Robert Wilson als parallele Konstellation derselben Zeit ein. Beide Komponisten zur Arbeit im Theater der frühen achtziger Jahre befragen zu können, war ein Glücksfall. Sie erklärten sich rasch bereit, so dass nur noch Experten für eine wissenschaftliche Rahmung gefunden werden mussten, die meine musikwissenschaftlichen Interessen im theaterwissenschaftlichen Bereich ergänzen würden. Auf die Geschichte von Theatermusik spezialisiert ist Ursula Kramer, deren Lehrstuhl und Forschungsprojekt in Mainz dieses Feld neu bestellt. Als Koryphäe auf dem Gebiet der Theaterstimmen konnte die Theaterwissenschaftlerin Helga Finter gewonnen werden. Dass ihr Kollege Matthias Dreyer sich mit Müllers und Wilsons Theater beschäftigt hat, zeigt die weiterreichenden Verbindungen unserer Untersuchungsgegenstände. Nach der anregenden Tagung erklärte sich die Musikphilosophin Sabine Sanio zu einem Beitrag bereit, was mich besonders freut. Ebenso gewinnbringend ist, dass Irene Lehmann als Musiktheaterspezialistin sich bereit erklärt hat, die Zeichnungen zu Aufführungen von Robert Wilson zu kommentieren, die Wilson großzügigerweise für diesen Band zur Verfügung gestellt hat. Das vorliegende Buch ist der Tagungsband zu dem Symposium »Im Hörraum vor der Schaubühne. Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn) und Heiner Müller (Leigh Landy)«, das am 29. und 30. November 2013 in den Räumen des Masterstudiengangs Sound Studies der Universität

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der Künste Berlin stattfand. Veranstalter war die Freie Universität Berlin, Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«, Teilprojekt B4 Musikwissenschaft unter der Leitung von Prof. Dr. Albrecht Riethmüller, Konzept und Leitung: Dr. Julia H. Schröder. Die Tagung wurde unterstützt von dem Berlin Career College, Universität der Künste Berlin, Masterstudiengang Sound Studies sowie Klangzeitort, Institut für Neue Musik der UdK Berlin und HfM Hanns Eisler. Mein Dank gilt den Referentinnen und Referenten, die als Autorinnen und Autoren hier vertreten sind, den Symposiumsteilnehmerinnen und -teilnehmern für ihre Beiträge und die wunderbaren Diskussionen, die teilweise in die Texte auf- und eingegangen sind, den Verantwortlichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Freien Universität und des Sfb 626, da diese Institutionen das Symposium und die Publikation finanziert und bewilligt haben, Prof. Dr. Martin Supper und seinen Mitarbeiterinnen des Masterstudiengangs Sound Studies an der Universität der Künste Berlin für die Ausrichtung des Symposiums in ihren Räumlichkeiten und für die Bereitstellung der Mehrkanal-Studiotechnik für die Präsentation der Klangbeispiele und Kompositionen, Miriam Akkermann für die audiotechnische Betreuung, Irene Lehmann für ihre fachliche Expertise und Einfühlsamkeit im Lektorat, Dr. Nina Jozefowicz für die Transkription und teilweise Bearbeitung der Vorträge von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy sowie der Abschlussdiskussion und Liisa Lanzrein für die Recherche in Basel. And many thanks to Robert Wilson for his wonderful drawings which enrich this book.

Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn) und Heiner Müller (Leigh Landy) J ULIA H. S CHRÖDER

Mit dem Titel »Im Hörraum vor der Schaubühne« ist zuerst die sinnliche Rezeption angesprochen, das Hören und Sehen oder das Zuhören und Zuschauen. Im Sinne einer Rezeptionsästhetik wird nach dem gefragt, was das Publikum gehört und gesehen hat, als es in den achtziger Jahren im Theater saß. Neu mag gewesen sein, dass die Besucher sich im Hörraum befanden, mit Klang aus Lautsprechern von hinten, vorne, oben und den Seiten. Das visuelle Geschehen war hingegen althergebracht vor dem Publikum auf der Schaubühne verortet.1 Mit »Schaubühne« ist hier der altmodische Begriff für Theater schlechthin gemeint und nicht das Berliner Theater »Schaubühne am Lehniner Platz«, in dem Hans Peter Kuhn tatsächlich einige Jahre als Tonmeister arbeitete, 2 als es noch »am Halleschen Ufer« 3 lag.

1

Die argumentative Polarisierung von auditiver gegen visuelle Wahrnehmung nennt Jonathan Sterne »audiovisual litany« und kritisiert sie. Im Titel dieses Bandes wird tatsächlich in diese »Litanei« eingestimmt. Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham: Duke University, 2003, S. 15–19.

2

Hans Peter Kuhn arbeitete fest 1975–79 an der Schaubühne, bevor er als freier

3

Von 1970–79 war die Schaubühne am Halleschen Ufer gelegen und zog dann an

Komponist an Produktionen beteiligt war. den Lehniner Platz um.

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Implizit ist dem Titel ein rezeptionsästhetisches Interesse. In den Kunstwissenschaften ab den siebziger Jahren zeigen vermehrte Beiträge zu »ästhetischer Erfahrung« ein allgemein neu erwachendes Interesse.4 Kurz darauf entstanden die Inszenierungen, die in diesem Band betrachtet werden. Möglicherweise lässt sich eine Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis herleiten. Gleichzeitig beginnt eine Blütezeit der später sogenannten Klangkunst, deren Arbeiten von Helga de la Motte-Haber und anderen Musikwissenschaftlern in vielen Fällen als nicht mehr repräsentierend, sondern präsentierend beschrieben wurden.5 Es geht vielen der Kunstschaffenden darum, kein Kunstwerk, sondern eine sinnliche Erfahrung herzustellen, die beispielsweise eine Klanginstallation vermitteln kann. Damit wird die Kunst ebenso ephemer wie Theateraufführungen. Helga de la Motte-Habers Beschreibungen der Arbeiten von Hans-Peter Kuhn bringen die Implikationen des Buchtitels noch einmal anders zum Ausdruck: »Wenn man in [Hans Peter Kuhns] Installationen umhergeht, wirken sie mit ihrem selbstagierenden Licht-Klang-Spiel distanziert, obwohl man regelrecht davon eingehüllt sein kann. Aufschlussreich beim Nachdenken über diese Besonderheiten ist ein Theaterstück (Golden Windows, 1982), das Kuhn für Robert Wilson akustisch gestaltete. Er stellte 30 Lautsprecher in den Saal und verteilte die Stimmen der vier auf der Bühne zu sehenden Schauspieler im Saal. Die Besucher befanden sich in einer Situation, die von der Dialektik des Eingeschlossen- und Ausgeschlossenseins bestimmt war. Sie waren einerseits im Stück drinnen und hatten gleichzeitig die 6

Rolle des Betrachters vor der Bühne.« (Helga de la Motte-Haber, 2005)

4

Stellvertretend sei hier auf die prominenten Texte zur Rezeptionsästhetik mit literaturwissenschaftlichem Hintergrund von Jauß verwiesen. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Band 1: Versuche im Feld der ästhetische Erfahrung, München: Wilhelm Fink, 1977.

5

Helga de la Motte-Haber, »Ästhetische Erfahrung: Wahrnehmung, Wirkung, Ich-Beteiligung«, in: dies. (Hg.), Musikästhetik, Laaber: Laaber, 2004, S. 408– 429.

6

Helga de la Motte-Haber, »Im Wechsel-Spiel der Sinne. Gedanken zu den Installationen von Hans Peter Kuhn«, in: Hans Peter Kuhn, Odense, Katalog mit Photographien von Gerhard Kassner, hg. von Odense Bys Kunstfond, Heidelberg: Kehrer, 2005, S. 51–63, 61f.

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Im Untertitel »Theatersound für Robert Wilson und Heiner Müller« wird der Theater-Sound hervorgehoben, der keine Zwischenmusiken meint, sondern eine Gestaltung der akustischen Ebene: Verstärkte Stimmen, Geräusche und texturartige Musik. Die akustische Ebene ist eigentlich eine elektroakustische und ohne die elektroakustischen Möglichkeiten der frühen achtziger Jahre nicht denkbar. Zwar wird das Tonband in der akusmatischen Musik schon seit den fünfziger Jahren genutzt, aber Sampling ist eine Technik, die sich in den siebziger Jahren erst anfängt zu entwickeln. Auch Funkmikrofone und Mehrkanal-Soundsysteme werden für die Theater zu dieser Zeit erst erschwinglich. Den zeitlichen Rahmen geben die achtziger Jahre vor, eine Zeit, die heute mit dem Begriff des »postdramatischen Theaters« verbunden wird.7 In den frühen achtziger Jahren treten zwei gegensätzliche Theaterkonzepte hervor: Robert Wilsons »Bildtheater« bedarf eines Sounddesigns und Musik so notwendig wie eines Lichtdesigns. Ohne mikrofonverstärkte Stimmen sind viele seiner Stücke nicht denkbar. Hingegen ist es in Heiner Müllers »Sprechtheater« schwer, Platz für Musik zu finden. Es gibt viele Inszenierungen seiner Dramen, die mit minimalem Bühnenbild und gänzlich ohne Musik auskommen. Musik fungiert hier meist als strukturierendes Element, das einen Akt vom nächsten trennt. Die Herausforderung für Hans Peter Kuhn und Leigh Landy war es also, Musik und Klang für ein Theater zu schaffen, das entweder – im Fall von Wilson – musikalisch mit dem Sprachklang vor der Bedeutung von Sprache arbeitet, das Sprache musikalisiert, oder – im Falle von Müller – die Sprache dermaßen mit Bedeutung auflädt, dass ablenkende akustische Elemente sie unverständlich werden lassen. Denn Robert Wilson ist vor allem als Theatermacher berühmt geworden, der Stücke ohne Textvorlage inszenieren kann. Heiner Müller gilt dagegen als Dramatiker, der Texte verfasste. »[Robert Wilson] hat zu Texten zunächst ein ganz anderes Verhältnis. Ihn interessiert, was zwischen den Worten, zwischen den Silben ist – oder zwischen den Lauten sogar. Dass dann diese Art des Umgangs mit Texten, den Text als Material zu behandeln, genau wie Bühnenbildelemente oder Musik, dass das dem Text unge-

7

Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, 2008.

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heuer helfen kann, weil es nicht interpretiert, weil es den Text direkt als Material 8

transportiert ans Publikum«. (Heiner Müller über Robert Wilson, 1985)

Interessant ist schließlich die Überkreuzstellung des amerikanischen Theatermachers Wilson, der in Berlin-West mit dem westdeutschen Tonmeister und Komponisten Kuhn arbeitete, gegenüber dem Dramatiker Müller aus Ost-Berlin, der mit dem amerikanisch-holländischen Komponisten Landy ins Gespräch kam. Ihr Theaterschaffen kann als symptomatisch für die achtziger Jahre angesehen werden. So unterschiedlich beider Theaterschaffender Werk auch sein mag, wurden doch wechselseitige Einflüsse aufeinander beobachtet. Ein überraschendes Ergebnis der hier dokumentierten Tagung war außerdem, dass die Komponisten Landy und Kuhn ganz ähnliche Ideen in ihrer Theaterarbeit umsetzten, obwohl sie sich damals nicht begegnet sind. Offenbar lassen sich einige musikalische Praktiken an den audiotechnologischen Möglichkeiten und einem kompositorischen Zeitgeist festmachen. Das sind neben der Anbringung von Lautsprechern im Zuschauerraum für eine Rundum-Beschallung, die Arbeit mit Samples, beispielsweise mit Aufnahmen von knackenden Neonröhren, und mit den Schnitt- und Montagemöglichkeiten von Tonband beziehungsweise Sampler.

8

Heiner Müller in: »Robert Wilson und die Civil warS«, ZDF/BBC-FernsehDokumentation von Howard Brookner, Hamburg 1985, 90 min.

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A KUSTISCHE A TMOSPHÄREN UND S PRACHKLANGRÄUME (H ANS P ETER K UHN ) Hans Peter Kuhn (*1952) ist Klangkünstler und Komponist.9 Mit dem Theatermacher Robert Wilson arbeitete Kuhn von 1978 bis 1998 in insgesamt 32 Projekten zusammen. Nach den hier behandelten frühen Theaterarbeiten schrieb Kuhn beispielsweise die Operette Saints and Singing (1997) auf einen Text von Gertrude Stein und erarbeitete die Erstinszenierung gemeinsam mit Wilson. Zu weiteren Zusammenarbeiten der beiden kam es in Installationen wie Memory/Loss, auf der Biennale Venedig 1993 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.10 Robert-Wilson-Stücke mit Hans Peter Kuhn (Auswahl) Death Destruction & Detroit I (Schaubühne Berlin, 1979) The Man in the Raincoat (Schauspiel Köln, 1981) Die goldenen Fenster (Kammerspiele München, 1982) The CIVIL warS (1982–85) In den hier betrachteten frühen Zusammenarbeiten mit Robert Wilson entwickelte Hans Peter Kuhn eine neue Form von Bühnensound, der über die bis dahin üblichen Musikeinlagen in Theaterstücken hinausgeht. Durch die Personalunion von Tontechniker und Theatermusiker konnte Kuhn eine Klangebene entwerfen, die Wilsons Bildgestaltung entsprach und sie ergänzte. Neben neuen akustischen Ebenen in der Bühnenmusik und der Integration von zugespielten Geräuschen bot Kuhn Wilson eine neue Möglichkeit der Arbeit mit der Stimme, die Stimmverstärkung und -verräum lichung.

9

Siehe: http://www.hpkuhn-art.de. Speziell zur Theaterarbeit siehe: Michael Erdmann, »Der Sound-Meister von Robert Wilson & Co. Was man mit nur zwei Ohren alles hören kann, wenn man hören kann. Ein Portrait des Theater- und Filmmusikers Hans Peter Kuhn in Berlin«, in: Theater heute (10/1990), S. 34– 37.

10 Außerdem z. B.: Robert Wilson & Hans Peter Kuhn, H.G. (1995), DVD, Regie: Mike Figgis, Artangel 2006.

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Sprachklangräume mittels Lautsprechern im Theaterraum Über den Einsatz von Funkmikrofonen, sogenannten Mikroports,11 konnten die Stimmen der Schauspieler verstärkt werden, ohne deren Beweglichkeit zu behindern. Bei Einsatz eines verkabelten Mikrofons sind die Schauspieler an fixierte Bühnenpunkte gebunden oder durch das Mikrofonkabel in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. »[Die Inszenierung der Golden Windows von Wilson] hat vor allem ungeheuer viel mit der Technik zu tun, der Bühnentechnik. Davon haben wir auf den ersten Proben noch nicht so viel gemerkt, obwohl er schon sehr viele Scheinwerfer aufgestellt hat überall und viele Lautsprecher; alles geht ja über Mikroport. Man hat ‘ne Batterie in der Hosentasche. Man muß sich auch das Sprechen abgewöhnen, also das Sprechen, was darauf zielt, daß man über eine gewisse Entfernung verstanden wird. Was der Zuschauer mitkriegt, das wird ihm durch Lautsprecher vermittelt. Dafür werden 21 Lautsprecher in den Kammerspielen [München] eingebaut, überm Rang und so. Und wenn ich etwa ›Guten Tag‹ sage, kommt ›guten‹ von da – und ›Tag‹ von da hinten, aber warum er das macht, das träumt er sich.«12 (Peter Lühr, 1982)

Für Golden Windows (Münchner Kammerspiele, 1982) arrangierte Kuhn 30 Lautsprecher im Saal, für die extra eine Verteilermatrix gebaut wurde.13 Über diese Lautsprecher wurden die Schauspielerstimmen verteilt, so dass sich die sichtbare Sprecherposition an einem Punkt der Bühne von der Ort und Richtung wechselnden Stimme unterschied, die ihrerseits durch den Zuschauerraum flatterte – je ein Satzteil aus einem anderen Lautsprecher. Der Bühnen- und Bildraum wird durch eine Entkopplung von der im Zuschauerraum zu verortenden Stimme in eine neue Beziehung zum Hörraum gesetzt. Zwar gibt es viele Momente, welche die heutigen Theaterbesucher aus den Kino-Surround-Sound-Verfahren kennen, die auf Immersion abzie-

11 »Mikroport« ist ein Markenname, der sich für kabellose Mikrofone in der hier betrachteten Zeit verselbständigt hatte. Ab 1958 wurden diese »Mikroports« von Telefunken vertrieben, nachdem sie ein Jahr zuvor von Sennheiser und dem Norddeutschen Rundfunk entwickelt worden waren. 12 Peter Lühr »Über die Arbeit mit Bob Wilson an Golden Windows« [UA 29.5.1982, Münchner Kammerspiele], in: Theater heute (5/1982), S. 25–27, 26. 13 Damit waren 20 Konstellationen möglich.

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len, doch stimmen die Lokalisation von offensichtlicher Schallquelle (Schauspieler) und Hörereignis (wechselnd und näher am Zuschauer) nicht überein, wodurch sich wieder ein Irritationsmoment einstellt.14 Der sichtbare Ort, an dem plausiblerweise die Sprache produziert wird, die Position des Schauspielers, stimmt nicht mit den wechselnden Orten überein, von denen die Sprache im Raum gehört wird. In Death Destruction & Detroit I (Schaubühne 1979)15 gab es für die Sprachübertragung vier Lautsprecherzeilen im Saal (zwei hinten sowie an

14 Lehmann spricht hier von locus agendi (Handlungsort) und locus parlandi (Sprachort), die nicht übereinstimmen, was im Elektroakustischen in etwa der Unterscheidung von Schallquelle (Ort er Hervorbringung des Klangs) und Phantomschallquelle (scheinbarer Ort der Hervorbringung) bzw. Schallereignis und Hörereignis entsprechen mag: »Das Verhältnis von Körper und Stimme wurde auch ein eigenes Spielfeld der elektronischen Theaterästhetik: […]; Herstellung eines Klang-Raums, bei dem Locus agendi und Locus parlandi getrennt werden; Audio Landscape: Stimmen ohne Körper, häufig Off-Stimmen, verbinden sich und interferieren mit anderen Stimmen, die in den Körpern wohnen (live), und mit aufgezeichneten Stimmen der Akteure selbst. Robert Wilson wurde besonders bekannt dafür, daß er locus agendi und locus parlandi auseinanderriß und so die Wahrnehmung einer einheitlichen Persona unterminierte. Das Mikroport machte es möglich, daß die Stimme des Akteurs, den man auf der Bühne als Gestalt erblickt, aus dem Irgendwo des Theaterraums zu kommen scheint. So platziert die Technik des Mikroports die Stimme als Element in den Raum einer Be-Stimmung, die nicht mehr vom autonomen, seine Stimme beherrschenden Subjekt bestimmt wird, sondern wo der Klangraum und eine auditive Struktur zu allererst dies sagen: Nicht Ich, sondern ›Es‹ spricht, und zwar durch/als ein komplex maschiniertes ›Agencement‹ (Deleuze).« Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, 2008, S. 279f. Kursivierung im Original. Zu »ortlosen Stimmen«, ebd., S. 282. 15 Robert Wilson, Death Destruction & Detroit I, »A Play with Music in 2 Acts / A Love Story in 16 Scenes, Additional texts by Maita di Niscemi, Music by Alan Lloyd, Keith Jarrett, and Randy Newman, [Sound by Hans Peter Kuhn]«, Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin (Uraufführung am 12.2.1979). Die Schreibweisen von DD+D variieren, mal wird es mit Komma oder gar Kommata geschrieben, mal ohne. Außerdem gibt es das »and« auf englisch, deutsch oder als Zeichen. Nach Wilsons eigener Website steht ein Komma zwischen den

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den jeweiligen Seiten), zudem zwei Lautsprecher auf der Bühne und zwei unter der Decke (von oben). Die Schauspieler trugen Funkmikrofone, über die ihre Sprechstimme abgenommen und dann im Raum verteilt wurde – konträr zu ihrer körperlichen Bühnenposition. In diesen Stücken greift Kuhn in die Sprachdarbietung ein, indem er sie verräumlicht, sie im Zuhörerraum umherbewegt und sie näher an die Zuhörer bringt als die Schauspieler, die auf der Bühne bleiben. Weitergehend kann man Wilsons Ein-Personen-Stück The Man in the Raincoat fast eine musikalische Komposition nennen: Der Schauspieler, bei der Uraufführung Wilson selbst, spricht zu – beziehungsweise mit – einer Tonbandkomposition, die Hans Peter Kuhn aus Wilsons Sprachaufnahmen komponiert hat. Das Stück basiert also auf einem von Kuhn komponierten Zeitrahmen, der Einsätze für die Darsteller-Aktionen gibt. »Allein der gesprochene Text schafft den sonoren Raum: einen Außen- und Innenraum, das Außen des Alls und das Innen des Alps, das Außen politischer Mythen und das Innen von Märchen- und Medienmythen. Gesprochen wurde auf der Bühne, und Gesprochenes kam mit Wilsons Stimme aus den drei Lautsprechern des Zuschauerraums. Damit wurde der Bühnenraum (5 x 10m) auf den Zuschauerraum als Sprechraum erweitert und schuf einen durch die Wortsprache gezeichneten Raum, wo sich sehr schnell die Wortsprache als unendlich erweisen sollte.«16 (Helga Finter, 1982)

Helga Finter analysiert diese »sonoren Räume« zu Beginn der achtziger Jahre als innovativ: »Neue Räume entstehen aus neuen Beziehungen von sonoren, sichtbaren Körpern und audiovisuellen Environments.« 17

ersten beiden Wörtern: http://www.robertwilson.com/death-destruction-anddetroit (Zugriff: 2.5.2014). Hier wurde die Originalschreibweise beibehalten. 16 Helga Finter, »Die soufflierte Stimme. Klang-Theatralik bei Schönberg, Artaud, Jandl, Wilson und anderen«, in: Theater heute (1/1982), S. 45–51, 50. Zu der Sprach-Musik in The Man in the Raincoat: »Wilson auch selbst-redend vom Band: Sätze, abgebrochene Erzählungen, Versatzstücke, Worte, Wortcollagen, bis zum minimal-music-Effect repetierte Silben, Laute usw.« Michael Erdmann, »Am Ende ein Wilson-Solo«, in: Theater heute (8/1981), S. 12. 17 Ebd., S. 49f.

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Akustische Atmosphären In Hans Peter Kuhns installativen Arbeiten, ob mit Licht oder Klang, finden sich in den folgenden Jahrzehnten möglicherweise Fortführungen dieser frühen Zusammenarbeiten mit Theatermachern. Die Gestaltung eines dezentralisierten, atmosphärisch aufgeladenen Raumes wie in seiner Lichtund Klanginstallation undefined landscape 2 18 kann als Fortsetzung und Erweiterung der akustischen Gestaltung in Geräuschtexturen und Atmosphären eines sich dem herkömmlichen Zeitverlauf widersetzenden Bildtheaters von Robert Wilson gelesen werden. Kuhn gestaltete mit undefined landscape 2 den großen Saal eines alten Ballhauses in Berlin. Dabei betonte er Vorgefundenes, wie die merkwürdig grüne Stirnwand, indem er einen großen gelben Teppich davor legte, auf den die Besucher ohne Schuhe treten durften. Auf dieser warm strahlenden ›Sonnenfläche‹ standen 19 Lautsprecherkonusse, die von Schreibtischlampen angeleuchtet wurden, und auf der Raumempore waren weitere Lautsprecher ohne Boxen angebracht, deren Ausrichtung zur Saaldecke die diffuse Schallabstrahlung verstärkte. Kuhn verwandte keine direkte Klangabstrahlung, sondern erzeugte eine ›undefinierte Landschaft‹ aus teils unverständlichen Sprachfetzen, Verkehrsrauschen, hin und wieder niederflatternden Vögeln und einem fernen Hauch von Musik. Auch aus den Lautsprechern auf dem Teppich, an die man sein Ohr legen konnte, erklangen entfernte Geräusche und kurze bewegte Klangmuster, die hin und wieder über den Boden huschten. Viele Besucherinnen legten sich tatsächlich in diese Klanglandschaft, um – zwischen den Licht- und Lautsprecherobjekten – zuzuhören. Kuhn setzte also die atmosphärische Klang- und Lichtgestaltung von Wilsons und seinen

18 Hans Peter Kuhn, undefined landscape 2, im Rahmen des Festivals Inventionen, im Juli 2008 in der Villa Elisabeth, Berlin. Eine frühere Version, undefined landscape (2007) wurde im Tokushima Modern Art Museum installiert, siehe: Hans Peter Kuhn, Frozen Heat [Katalog zur Ausstellung 27.1.–11.3.2007], hg. von The Tokushima Modern Art Museum, 2007. Siehe außerdem Bericht: Julia H. Schröder, »Inventionen 2008 – Berliner Festival für elektroakustische Musik«, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik 77 (2008), S. 56–57. Vgl. die Dokumentation zur Licht-Klang-Installation: Hans Peter Kuhn, Landschaft (2001) in der Singuhr, im Katalog: Carsten Seiffarth, Markus Steffens (Hg.), Singuhr – Hoergalerie in Parochial. Sound Art in Berlin. 1996 bis 2006, Heidelberg: Kehrer, 2010, S. 90f. sowie Audiotrack 38.

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früheren Theaterarbeiten fort, dehnte sie aber ins Räumliche aus. Wenn in den achtziger Jahren das Publikum zwar im ›Hörraum‹ aber vor der Bühne saß, konnten sie sich dreißig Jahre später als Einzelne frei durch Kuhns Installation bewegen. Die Aktion war nun von den Schauspielenden ganz auf die Rezipienten übergegangen. Es mag sogar gewinnbringend sein, aus diesen späteren Arbeiten Kuhns die neuartigen Aspekte in seiner Theaterarbeit mit Wilson zurückzuschließen. Wilsons Theaterarbeit bringt ausgedehnte Tableaux auf die Bühne, die jeweils von einer sich langsam verändernden Lichtstimmung dominiert werden. Ergänzend gibt es auch eine akustische Atmosphäre, die ebenso wie das Licht komponiert ist, aber nicht in allen Fällen eine musikalische Komposition im engeren Sinne sein muss. Für ›akustische Atmosphären‹ wird auch der Begriff Sonosphäre verwendet, 19 vielleicht in Anklang an Finters »sonore Räume«. Gedacht ist eine Klanglandschaft, eine Soundscape. »Text, Stimme und Geräusch verschmelzen in der Idee einer Klanglandschaft […]. Berühmt ist die naturalistische Version akustischer Landschaften in den ČechovInszenierungen Stanislavskijs, der mit ausgefeilten Klangkulissen (Geräusche von Grillen, Fröschen, Vögeln usw.) die Realität des abgegrenzten Fiktionsraums durch eine ›auditive‹ Bühne verstärkte – und sich damit eine sarkastische Kritik des Autors 20

einhandelte. Roubine prägte die Begriffe ›paysage auditive‹ und ›paysage sonore‹, auditive Landschaft und Klanglandschaft. […] Demgegenüber bildet die postdramatische ›Audio Landscape‹, von der Robert Wilson spricht, keine Realität ab, sondern stellt einen Assoziationsraum im Bewusstsein der Zuschauer her. Die ›auditive Bühne‹ um das Theaterbild herum öffnet nach allen Seiten ›intertextuelle‹ Verweise oder ergänzt das szenische Material

19 Siehe: Vito Pinto, Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film, Bielefeld: Transcript, 2012, Kapitel 1.2, S. 38–44. Ich danke Martina Fuchs für den Hinweis auf Pintos Forschung. Außerdem sei verwiesen auf: Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld: Transcript, 2012. 20 Jean Jacques Roubine, Théâtre et mise en scène 1880–1980, Paris 1980, S. 166 und 168.

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durch musikalische Klang- oder ›konkrete‹ Geräuschmotive.«

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(Hans-Thies

Lehmann, 1999)

Hans Peter Kuhn erinnert sich, dass in Death Destruction and Detroit I kaum eine Minute ohne Ton vorkam. Darin zeigt sich eine Parallele zum Tonfilm, in dem die durchgehenden Hintergrundgeräusche für jeden Raum und Filmort als »Atmo« konstruiert werden. Genau dieses Herstellen von Atmosphären, wie es auch im Filmton, im Sounddesign gemacht wird, ist das Charakteristische an Wilsons Arbeit: Aus den verschiedenen Inszenierungsteilen, aus dem Licht, dem Ton, dem Bühnenbild und der Anordnung der Schauspieler im Bühnenraum, werden atmosphärisch dichte Räume konstruiert. Der hörbare Teil, die Klanglandschaften, sind durch Hans Peter Kuhn konstruiert und zusammengesetzt. Sie sind nicht naturalistisch, sondern in ihren Einzelteilen, also den separierbaren Klängen, erkennbar.

Klangarchiv In den erhaltenen Video-Dokumentationen von Wilsons Theaterstücken, zu denen Kuhn den Ton beigesteuert hat, kann man bestimmte Klänge immer wieder finden. Es gibt eine Reihe von vielleicht 15 Samples, die wiederholt vorkommen, zum Beispiel ein Hundebellen, Glocken und ein analoges Telefonklingeln. Durch seine Arbeit mit wiederkehrenden Samples aus seinem Klangarchiv entsteht ein Wiedererkennungseffekt. Inzwischen höre ich die Klänge auch in anderen Kompositionen von Kuhn und erkenne sie dadurch als Kuhns Komposition. Die Arbeit mit bestimmten Samples wird zu einer Art musikalischen Personalsprache. Es könnte sich auf diese Weise in Kuhns Zusammenarbeit mit Wilson eine bestimmte ›Sprache‹ und auditive Wiedererkennbarkeit ausgeprägt haben. Sogar eine Parallele zu Wilsons Selbstreferenzialität mag man feststellen. In den ikonischen Bildern Wilsons, die er immer wieder selbst zitiert, kann man eine Analogie zu den Klangikonen Kuhns finden. Ich spreche von »Klangikonen«, weil die Samples tatsächlich separiert, als Einzelklang in der Komposition erkennbar bleiben. Dadurch sind sie den sparsam eingesetzten Bühnenrequisiten Wilsons vergleichbar. Wilsons übergroße Glühbirne könnte mit Kuhns Telefonklingeln verglichen werden. Gerade in den Arbeiten der

21 Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, 2008, S. 273 (siehe Fn. 14).

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siebziger bis neunziger Jahre unterscheidet das Kuhns Sound-Environments von Sounddesigns, die eine Verschmelzung der einzeln zusammengesetzten Klänge anstreben. Auch Kuhns Kompositionen fügen sich zusammen, doch ohne ein Ideal von Naturalismus. Hans Peter Kuhn arbeitete mit einem Klangarchiv, einer Sammlung von Tonaufnahmen, die Standardklänge für die Arbeit als Sounddesigner ebenso umfasste wie außergewöhnliche Geräusche. Die meisten dieser Klänge vom Telefonklingeln bis zu verschiedenen ›Rauschen‹ hat Kuhn selbst aufgenommen. Sein Archiv bestand aus etwa 3000 Klängen. Trotz dieses Umfangs zeichnen sich einige davon durch Wiedererkennbarkeit aus und werden auch in den wenigen zeitgenössischen Berichten, die auf den Ton eingehen, genannt. Helga Finter hebt in ihrer Analyse von The Man in the Raincoat einige sich wiederholende, das Stück strukturierende Klänge hervor: »Das Ganze mit einem wie von einem Echo wiederholten wait wait … durchzogen, basso continuo zum ansteigenden Miauen, dem Telephonklingeln und Wilsons multiplizierte Stimmen […]. Dabei verstärkt sich das Geräusch eines Brummens, 22

das Flüstern der Worte 69, das Miauen und das Telephonklingeln«.

(Helga Finter,

1982)

Dieses Telefonklingeln findet sich ebenfalls in anderen Theaterstücken, in Tonbandkompositionen, wie Completely Birdland,23 das als Musik für ein Tanzstück entstand, und in Kompositionen für Ausstellungen oder Installationen gemeinsam mit Wilson, die mit selbstreferenziellen Bild- und Musikzitaten spielen. Ein Beispiel ist Memory/Loss (1993),24 eine Installation für die Biennale in Venedig, in deren »Soundtrack« – eine Komposition von Kuhn – Wilsons Stimme, das Telefonklingeln, das entfernte

22 Finter, »Die soufflierte Stimme«, in: Theater heute (1/1982), S. 50f. (siehe Fn. 16). 23 Hans Peter Kuhn, Completely Birdland, Tanzstück für Laurie Booth und Rambert Dance Company (1991), veröffentlicht auf der CD zum Katalog: Hans Peter Kuhn, hg. vom Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1992. 24 Hans Peter Kuhn, Memory/Loss (1993), veröffentlicht auf der CD zum Katalog: Hans Peter Kuhn, Licht und Klang / Light and Sound, Heidelberg: Kehrer, 2000, 2004.

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Hundegebell, Störgeräusche, Gewitter, Tropfen und eine Streichermelodie in verschiedenen Entfernungen eine »Klanglandschaft« mit räumlicher Tiefenwirkung konstruieren, die aus ähnlichen Elementen wie die Musik für das Tanzstück gebaut ist. Für eine andere retrospektive Installation, Wilson’s Vision, schuf Kuhn mit dem Klangmaterial – also mit Schauspielerstimmen (Textrezitation und andere Artikulationen wie Lachen), mit Klangsamples wie dem Hundebellen und mit Musik aus seinen Theatersound-Arbeiten für Wilson – Kompositionen, die in den unterschiedlichen Ausstellungsräumen gespielt wurden. In der Dokumentation listet er dabei die verwendeten Klänge und ihre Herkunft aus den Theaterstücken auf, beispielsweise folgendermaßen für den vierten Raum: »4. Room III 15'37'' Melody ›Machinery‹

the CIVIL warS, Cologne

Man whistling

King Lear, Frankfurt

Ringing telephone

Death Destruction and Detroit I, Berlin

Boatswain whistle

King Lear, Frankfurt

Dog barking

Alcestis, Cambridge (Massachusetts)

Altered cymbal sound

Orlando, Berlin

Text (Marianne Hoppe)

King Lear, Frankfurt« (Hans Peter Kuhn, 1990)

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Demnach stammt das Telefonklingeln aus Death Destruction & Detroit I und das Hundebellen aus Alcestis. Sie sind hier aber Teil einer Komposition, die ganz ähnlich wie die beiden vorher besprochenen Stücke konstruiert ist. Dieses Archiv von Klangsamples ermöglichte Kuhn, in der Probenphase mit Wilson, in der die Stücke entwickelt wurden, verschiedene Klänge anzubieten oder auszuprobieren. Wilson legte meist Bühnenbild und Choreografie fest, indem er sich auf Bildmaterial stützte, und entwickelte Text und Szene mit und an den Schauspielern.

25 Hans Peter Kuhn, The Night Before the Day (1990), veröffentlicht auf der CD zum Katalog: Trevor Fairbrother (Hg.), Robert Wilson’s Vision. An exhibition of works by Robert Wilson with a sound environment by Hans Peter Kuhn, hg. vom Museum of Fine Arts, Boston, New York: Harry N. Abrams, 1991, S. 143.

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Über die Zusammenarbeit Vielen seiner Theaterstücke gab Wilson selbst eine musikalische Gattungsbezeichnung, so ist auch The CIVIL warS als »Opera« kategorisiert. 26 Daraus könnte man den Trugschluss ziehen, Wilson zielte auf eine Integration der Aufführungsteile im Sinne der Inszenierung einer Opernpartitur – was durchaus für seinen späteren Opernregie-Arbeiten gilt – oder sogar im Sinne des Wagnerschen Gesamtkunstwerks, nach dem ein Autor alle Elemente autorisiert. Dem ist aber nicht so, wenn man die Theaterarbeiten betrachtet. Wilson betont dafür die Unabhängigkeit von der Erarbeitung der Bild- und Klangebene. Er sieht sich hier eventuell in der Tradition von John Cage, in dessen künstlerischen Projekten mit mehreren Kunstformen alle Teile unabhängig voneinander erarbeitet werden sollten. Kuhn bestätigt dieses autonome Vorgehen in ihrer Zusammenarbeit, das Wilson folgendermaßen beschreibt: »We [Kuhn and Wilson] generally agree on a structure, 1st something abstract that is coded in numbers and then we work separately. […] It is always very curious how the world I have imagined and created can be turned upside down by the added independent element of Kuhn’s world. I like this very much because often what I have done takes on a completely different meaning and when it works best these independent stratified layers reinforce each other creating something that can only be 27

experienced by the spectator.« (Robert Wilson, 2000)

26 Im Programmheft zur Uraufführung des Kölner Teils: »der deutsche Teil von The CIVIL WarS: A Tree Is Best Measured When It Is Down, opera von Robert Wilson, Mitarbeit: Heiner Müller, Musik: Philip Glass, elektronische Kompositionen: von Hans Peter Kuhn, Schauspiel Köln« (Uraufführung am 19.1.1984), hg. von Schauspiel Köln, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. 27 Robert Wilson (2000), in: Kuhn, Licht und Klang, 2000, 2004, S. 30f. Interpunktion ergänzt (siehe Fn. 24). [Wir, also Kuhn und Wilson, einigen uns normalerweise auf eine Struktur, erstmal auf etwas Abstraktes, das in Nummern kodiert ist, und dann arbeiten wir jeder für sich. (…) Es ist immer merkwürdig, wie sich die Welt, die ich mir ausgedacht und dann geschaffen habe, vollkommen auf den Kopf gestellt werden kann durch das unabhängige Element aus Kuhns Welt. Das gefällt mir sehr, weil meine Arbeit damit eine völlig andere Bedeutung bekommen kann. Am Besten ist es, wenn diese voneinander unab-

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Ebenso äußert sich Kuhn über die Zusammenarbeit mit Wilson: »We developed, relatively early [in our 18 years of collaboration] a way of collaborating that depends on the concept of two separate worlds, one is the visual and one is the aural world, and we both worked pretty much independent of each other. By that [I mean that] the music is not illustrative with the piece but rather parallel to the 28

other parts of the piece.« (Hans Peter Kuhn, 1995)

Vielleicht führt diese Unabhängigkeit dazu, dass Kuhn in seinen Sprachkompositionen ganz ähnliche Verfahren anwandte wie Wilson: Montage und Dekonstruktion zeichnen auch Wilsons Textbehandlung aus und finden sich optisch in den typographischen Gedichten des autistischen Dichters Christopher Knowles, der an vielen zentralen Theaterstücken von Wilson beteiligt war. 29 Auch dass Wilson als junger Mann stotterte, wird in diesem Kontext oft betont. Die Wahl von Gertrude-Stein-Texten als Libretto zu den gemeinsamen Operetten-Projekten Wilsons und Kuhns, Doctor Faustus Lights the Lights (1992) und Saints and Singing (1997), ist vor dem Hintergrund der Sprachdekomposition durch Wiederholung und Fragmentierung

hängigen Schichten einander verstärken und dadurch etwas herstellen, das nur vom Betrachter wahrgenommen werden kann.] 28 Hans Peter Kuhn in: Robert Wilson & Hans Peter Kuhn, H.G. (Regie: Mike Figgis) 1995 [DVD Artangel 2006, ca. 0:03]. Transkribiert von JHS. [Wir haben relativ früh (in unserer 18 Jahre langen Kooperation) eine Form der Zusammenarbeit entwickelt, die auf dem Konzept der zwei separaten Welten basiert: eine ist die visuelle Welt, die andere die auditive Welt, und wir arbeiten ziemlich unabhängig voneinander jeder in der seinen. Damit meine ich, dass die Musik niemals illustrativ für das Theaterstück ist, sondern eher parallel zu den anderen Teilen der Inszenierung läuft.] 29 Auf die Bedeutung von Knowles’ Sprachcollage, mittels Kassettenrecorder hergestellt, Emily likes the TV aus The Life and Times of Joseph Stalin (1973), weist auch Nikolaus Müller-Schöll hin, der auch das Hören als Ausgangspunkt für Wilsons Arbeiten betont: Nikolaus Müller-Schöll, »Polyphonie und Aphonie bei Heiner Goebbels und Robert Wilson«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Gunter Narr, 2002, S. 93–107, 99.

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unmittelbar einleuchtend, da es sich um ein Verfahren handelt, mit dem Gertrude Stein selbst ebenfalls arbeitete. In Kuhns experimentellen Sprachkompositionen wie Experience (Stimme: Wolfgang Rennert, 1983)30 wird ein Wort, hier »Experience« von einer Männerstimme gesprochen, zum Material der Komposition, es wird fragmentiert, wiederholt und am Ende sogar rückwärts abgespielt. Ganz ähnlich spricht in He Whom He Praises (Stimme: Sheryl Sutton, 1982)31 eine Frauenstimme ein Satzfragment aus Wilsons CIVIL warS, das montiert wird. Die Montage erwirkt ein artifzielles »Stottern« und in der Fragmentierung von Lauten bewirkt sie auch die Entsemantisierung der Wortäußerung. Ganz geht der Sinn jedoch nie verloren, es bleibt ein Spiel zwischen Wortbedeutung und musikalisierter Artikulation. Als innovativ hervorzuheben sind also Kuhns räumliche Klangarbeiten für Wilsons Theaterstücke, die zum einen die Sprachdekonstruktion auch räumlich erfahrbar machen, indem die Sprechstimmenlokalisation von der Schauspielerin getrennt wird, und die zum anderen das Publikum in einen klanglichen Erfahrungsraum holt, der die Erfahrung von installativen Arbeiten Kuhns vorweg nimmt, in denen das Publikum sich frei bewegen darf. Die Raumexperimente an der Schaubühne am Halleschen Ufer in den siebziger Jahren, bei denen die Spielfläche und der Zuschauerraum in jeweils neue Beziehungen gesetzt wurden beziehungsweise versucht wurde beide aufzulösen, 32 hatten sicherlich eine Auswirkung auf die tontechnische Arbeit von Hans Peter Kuhn, der das Auditorium ja auch mit Klang füllte, statt ihn nur vor dem Zuschauerraum auf der Bühne zu verorten.

30 Hans Peter Kuhn, Experience, Stimme: Wolfgang Rennert (1983), veröffentlicht auf der CD zum Katalog: Hans Peter Kuhn, hg. vom Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1992. 31 Ebd. 32 Siehe u. a., »Die Schaubühne am Halleschen Ufer«, in: Bühnentechnische Rundschau, Sonderheft »Offene Spielräume. Aufbrechen traditioneller Theaterformen in der Bundesrepublik seit 1945« (1983), S. 29–30.

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T HÉÂTRE SONORE – »H OW

MIGHT WE SONOROUSLY FURNISH THE THEATRICAL SPACE ?« (L EIGH L ANDY )

Leigh Landy (*1951) ist Komponist und Musikwissenschaftler mit einem Schwerpunkt auf elektroakustischer Musik.33 Er lernte Heiner Müller 1979 oder 1980 kennen, vertonte in Folge Texte von Müller (Müller-Lieder, Uraufführung durch Roswitha Trexler, München 1982), war Müller freundschaftlich verbunden und komponierte schließlich zu drei Inszenierungen von Müller-Stücken die Bühnenmusik. Heiner-Müller-Stücke mit Leigh Landy Bildbeschreibung (Regie: Ginka Tscholakova, Steirischer Herbst, Theater Graz, 1985), Quartett (Regie: Dimiter Gotscheff, Köln, 1986), Philoktet (Regie: Dimiter Gotscheff, Basel, 1987). Kompositionen von Leigh Landy auf Heiner-Müller-Texte B für Frauenstimme und 3-Spur-Tonband (1986) verwendet Textfragmente aus Müllers Bildbeschreibung. Eine der Sprechstimmen auf dem Tonband ist eine Aufnahme von Heiner Müller. No Water Music mit einem Originaltextbeitrag von Müller, (radiophon oder 2-Spur-Band und männliche Sprechstimme, 1983).

Musik in dramaturgischer Funktion In einem als Entwurf erhaltenen Programmbuchbeitrag von 1987 widmet sich Landy vielen für diesen Band relevanten Themen. In dem Text »›Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht. Den Mißlaut meiner Schmerzen deinem Ohr.‹ – A composer’s work with Philoktet«. entwickelt Landy poetische und ästhetische Überlegungen zu einer zeitgemäßen Theatermusik.

33 Siehe: Martin Supper, Eintrag: »Landy, Leigh« in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. von Ludwig Finscher, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Supplement, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/ Metzler, 2008, Spalten 457–459. S. a.: http://www.mti.dmu.ac.uk/~llandy/ perfs.html.

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Die Musik solle eine dramaturgische Funktion im Theaterstück übernehmen können. »My interest […] is not that of an opera composer, nor that of a ›theatre composer‹, […] but instead that of a music dramaturge, someone who attempts to integrate 34

music as one of the Hauptrollen-Spieler of a given dramatic performance.« (Leigh Landy, 1987) [Mein Interesse ist es weder als Opernkomponist noch als Theatermusik-Komponist zu arbeiten, sondern als Musik-Dramaturg, als jemand, der versucht, Musik als eine 35

der Protagonistinnen in eine szenische Aufführung zu integrieren.]

Neben der Frage nach den Umsetzungsmöglichkeiten von Musik als dramaturgischem Bestandteil einer Theaterinszenierung wäre noch zu erörtern, ob dieses Konzept in abstrahierter Form auch in der ›akustischen Szene‹ in einigen Richtungen elektroakustischer Musik eine Parallele hat. 36 Tatsächlich findet sich Musik als ›dramaturgischer Gegenstand‹ gedacht unmittelbar nach der Niederschrift dieser Überlegungen durch Landy, die er Müller zur Verfügung stellte.37 Auf einer Skizzenseite von Heiner Müller, die wahrscheinlich aus dem Kontext seiner eigenen Inszenierung seines Theaterstücks Der Lohndrücker 1988 am Deutschen Theater in Berlin stammt, 38 sind »japanische Musik laut« und »amerikanischer Schlager –

34 Leigh Landy, »›Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht. Den Mißlaut meiner Schmerzen deinem Ohr.‹ – A composer’s work with Philoktet« (Amsterdam, Basel 2/87), als Text [Typoskript] im Heiner-Müller-Archiv-Nr.: 7775 der Akademie der Künste Berlin. Das redigierte Original ist in diesem Band wahrscheinlich zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. 35 Übersetzung der Auszüge von JHS. 36 Landys theoretische Schriften könnten hier als Vergleichsmaterial herangezogen werden, z. B.: Leigh Landy, Understanding the Art of Sound Organization, Cambridge, London: MIT Press, 2007. 37 Die einzige Typoskript-Kopie von Landys Text ist in Müllers Nachlass erhalten (siehe Fn. 34). 38 Skizzenblatt von Heiner Müller aus dem Heiner Müller Nachlass in der Akademie der Künste Berlin: SAdK 3496, reproduziert und transkribiert in: Hans-

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underground (fast unverständlich)« als polare Gegensätze notiert. Interessanterweise ist der lauten japanischen Musik in Klammern »(dog civilwars)« hinzugefügt, also ein Verweis auf Wilsons Theaterprojekt The CIVIL warS: A Tree Is Best Measured When It Is Down, an dessen deutschem Teil 1984 Müller mitgearbeitet hatte. Die Sprachmischung aus deutsch und englisch sowie der Hinweis auf Wilsons Theaterstück lassen tatsächlich den Schluss zu, dass sich Müller hier von Wilsons Arbeitsweise, die eben auch Klang einbezieht, inspiriert zeigt. Müller könnte mit dem Gedanken gespielt haben, Musik als Inszenierungsbestandteil oder sogar als dramaturgisches Mittel zu verwenden, so meine Interpretation. Mit dem »Hund« aus den CIVIL warS mag sogar der einprägsame akustische Hund, der durch ein fernes Gebell evoziert wird, aus Hans Peter Kuhns Klangarchiv gemeint sein, der wiederholt in Wilsons Stücken zu hören war. Doch sind das Spekulationen über spätere Entwicklungen von Müllers Denken über Klang im Theater. Vor diesem Zeitpunkt verhielt sich Müller dem Einsatz von Musik und Geräuschen im Theater gegenüber eher gleichgültig. Heiner Müller, so Landy in seinem Text von 1987 weiter, lasse den Komponisten Freiheit, da er keine spezifischen Anweisungen an Komponist oder Sounddesigner gebe. Er habe nur einmal eine Abneigung zu akustischer Verdopplung des Texts geäußert. 39 Für Landy ist Theater eine audio-visuelle Kunstform, deren Möglichkeiten 1987 noch nicht zu Ende gedacht waren. »How might we sonorously furnish the theatrical space? Those acquainted with important advances in recent experimental music, are aware of the evolution of music which earlier consisted of notes and now includes all sounds, as well as the liberation of the dimension of spaciality in music (in terms of stereo and quadrophonic recordings, of spatially placed musicians and loudspeakers in live performance).«40 (Leigh Landy, 1987)

Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hg.), Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2003. 39 Landy: »(He told me in a typical late-night nihilistic mood that the true theatre composer was he who does not let the bells toll when the text calls for them.)«, Leigh Landy, »A composer’s work with Philoktet«, 1987, S. 2 (siehe Fn. 34). 40 Ebd., S. 3.

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[Wie könnte man den Theaterraum klanglich ausstatten? Diejenigen, welche mit den bedeutenden Fortschritten der gegenwärtigen experimentellen Musik bekannt sind, wissen um die Evolution der Musik, die sich vordem aus Noten zusammensetzte und gegenwärtig alle Klänge und Geräusche umfasst, ebenso wie die Befreiung der räumlichen Dimension in der Musik (hinsichtlich stereophoner und quadrophoner Aufnahmen sowie räumlich verteilten Musikern und Lautsprechern in LiveAufführungen).]

Die Frage nach der klanglichen Ausstattung des Theaterraums beantwortet Landy 1987 mit dem Hinweis auf die räumlichen Möglichkeiten der für Lautsprecherwiedergabe komponierten Tonbandmusik, sowie auf die an verschiedenen Punkten des Aufführungs- und Zuschauerraums positionierten Musikern. Spatialisiert werden soll dann eine Komposition aus erweitertem musikalischen Material, das auch Geräusche einschließt. So ging er in der akustischen Gestaltung der Philoktet-Inszenierung (1987)41 vor: »As sound is temporal, special care was taken in the choice of continuous elements which must harmonize with the activities of the actors, and shorter, discrete elements which ›interrupt‹ the time continuity. Another form of interruption was choreographed with Gotscheff [the director], namely the points when the Müller text is interrupted or repeated. […]. The chosen melody that is sung and whistled from time to time exemplifies such an interruption (a Swiss soldier’s tune) fulfilling Müller’s desire that allusions be made to the ›Krieg[s]geschichte, vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg‹. Finally a good deal of time was spent at rehearsals focusing on the development of the vocal timbres unique to Müller’s Lemnos.«42 (Leigh Landy, 1987) [Da Klang zeitlich ist, wurde besonderen Wert auf die Wahl kontinuierlicher Elemente gelegt, die mit den Aktionen der Schauspieler in Einklang gebracht werden müssen, sowie kürzere, vereinzelte Elemente, die diese zeitliche Kontinuität unterbrechen. […] Eine Melodie, die hin und wieder gesungen und gepfiffen wird (ein Schweizer Soldatenlied), ist ein Beispiel für solch eine Unterbrechung, die Müllers Wunsch erfüllt, es mögen Anspielungen an die »Kriegsgeschichte, vom Trojanischen

41 Philoktet von Heiner Müller, Regie: Dimiter Gotscheff, Theater Basel (Uraufführung am 20.3.1987). Siehe dazu außerdem Landys Beitrag in diesem Band. 42 Leigh Landy, »A composer’s work with Philoktet«, 1987, S. 5f. (siehe Fn. 34).

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bis zum Japanischen Krieg« gemacht werden. Schließlich wurde viel Probenzeit darauf verwendet, die Entwicklung der vokalen Klangfarben in den Blick zu nehmen, die für Müllers Lemnos einzigartig sind.]

Heiner Müllers Theaterstück Philoktet ist ein Drei-Personen-Drama, das an den antiken Stoff angelehnt ist und sich auch in der Reimform am klassischen Drama orientiert. Statt der von Müller geforderten Bildzitate von Kriegsszenen setzte Landy gepfiffene Kriegslieder ein, über deren Text, der beim Pfeifen allerdings nicht artikuliert wird, ›Krieg‹ als Motiv referenziert wird. Hinzu kam eine Geräuschkomposition aus Tonaufnahmen, die im Theatergebäude gemacht wurden. Sie wurde über Lautsprecher, die unter der Decke des Zuschauerraums angebracht waren, wiedergeben und ›regnete‹ gleichsam auf die Hörenden herab. Offenbar war diese collageartige Komposition nicht nur als Fläche konzipiert, sondern auch von hervortretenden akustischen Ereignissen durchsetzt, die Akzente setzten. Das Klangmaterial kam von Neonröhren, die beim Warmwerden leise KlickGeräusche machen, und von Fahrstuhlgeräuschen. Aus diesen Aufnahmen komponierte Landy ein Stück, das meines Verständnisses während der Text gesprochen wurde das Bühnengeschehen begleitend zu hören war. Diese Informationen sind einzig auf die Erinnerungen des Komponisten als Zeitzeugen zurückzuführen.43 Denn aufgrund der fehlenden – oder bislang noch nicht aufgefundenen – Video-Dokumentationen der betreffenden Aufführungen müssen andere Quellen herangezogen werden. Das kann Aufführungsmaterial und andere Dokumente aus Archiven sein, wie der zeitgenössische Text, der in Heiner Müllers Nachlass entdeckt wurde, und Zeitzeugen, wie die Komponisten, können befragt werden. Zu Philoktet, erinnert sich Landy beispielsweise, habe er hauptsächlich field recordings herangezogen, also UmweltTonaufnahmen, die er im Theatergebäude gemacht hatte, und so das gesamte Basler Theater gleichsam klanglich auf die Bühne geholt. Drittens sind zeitgenössische Theaterkritiken heranzuziehen. Erstaunlicherweise wird darin in den seltensten Fällen auf die Bühnenmusik eingegangen. Eine Ausnahme stellt folgender Bericht über Ginka Tscholakowas Inszenierung von Heiner Müllers Bildbeschreibung dar, der sich allerdings auf zwei beschreibende Wörter beschränkt:

43 Siehe Leigh Landys Beitrag in diesem Band.

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»Zum Takt eines Metronoms, der minimalistischen Musik von [Leigh] Landy, vollführen die Figuren kleine Schritte, langsame Bewegungen, bis an den Rand des feinmaschigen Netzes, mit dem Spielfläche und Zuschauerraum voneinander abgeteilt sind.«44 (Frankfurter Rundschau, 1985)

Tonbandstimmen Bildbeschreibung ist ein Prosatext von Heiner Müller, der zum Zeitpunkt seiner Erstinszenierung wohl in keiner Weise als Theaterstück darstellbar erschien. 1985 hat Ginka Tscholakowa ihn dennoch inszeniert. 45 Dabei ordnete sie die Schauspieler in verschiedenen Tableaux an, als Einzelne, die im Text beschriebene Situationen darstellten, sowie in einem Chor. Im ersten Teil wurde der gesamte Text, von Heiner Müller ohne Betonungen auf Tonband eingesprochen, über Lautsprecher wiedergegeben. Aus diesem Material schöpfte Landy dann wahrscheinlich für seine Tonbandkomposition B. Im zweiten Teil der Bühnenfassung von Tscholakowa wurde der Text von den Schauspielern auf der Bühne gesprochen, dekonstruiert und neu geschaffen. Im dritten Teil tanzten die Schauspieler zu zweit Menuett, dazu wurden Texte aus anderen Müller-Stücken deklamiert. Die Schauspieler wurden nacheinander »eliminiert« und zum Schluss explodierte der Kubus, in dem alles spielte.46 Eine Explosion ist auch in Landys Komposition B zu hören, die er mit Stimmmaterial von Heiner Müller nach dem Text Bildbeschreibung kom-

44 Paul Kruntorad, »Ins Leere getroffen. Heiner Müllers Bildbeschreibung uraufgeführt«, in: Frankfurter Rundschau (11.10.1985). 45 Bildbeschreibung von Heiner Müller, Regie: Ginka Tscholakowa, Musik: Leigh Landy, Steirischer Herbst, Theater Graz (Uraufführung am 6.10.1985). Eine Beschreibung in: Ginka Tscholakowa, »›Ein Schlüssel, der mit den Flügeln schlägt‹. Bericht zur Uraufführung von Bildbeschreibung beim steirischen herbst 1985 in Graz mit Schauspielern des Grazer Theaters«, in: Ulrike Haß (Hg.), Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung (Theater der Zeit: Recherchen 29), 2005, S. 33–36. 46 Das erinnert an Müllers eigene Inszenierung von Quartett am Berliner Ensemble 1994. Dort wurde ein Lied von Schubert und am Ende die Todesarie aus Puccinis Tosca eingespielt – man vermutet den Musikeinsatz als dramaturgisches Mittel –, bevor der Bühnenraum einstürzte.

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ponierte. »Wie um zu verhindern, daß er zusammenbricht«, wird von verschiedenen Stimmen unisono gesprochen, worauf ein Explosionsgeräusch folgt. Auf Nachfrage erinnerte sich Landy, für den Tonbandpart neues Material verwendet zu haben, also nicht auf Klangmaterial aus der Theaterinszenierung zurückgegriffen zu haben. Allerdings könnte es durchaus ähnliche Elemente in der Komposition wie für den Theatersound gegeben haben. In der erhaltenen Komposition ist ein drone, ein durchgehender Liegeklang, zu hören, wie er in einer so abstrakten Inszenierung gut akustischen Zusammenhalt schaffen könnte. Der Text läuft linear aber fragmentiert in verschiedenen Stimmen ab; einige sind aufgezeichnet, ein Part wird von einem Performer live aufgeführt. Die Stimmbehandlung reicht von verschiedenen Sprechweisen, wie Flüstern, Sprechen, auf verschiedenen relativen Tonhöhen Sprechen, bis zum Summen beziehungsweise bis zum Artikulieren von Konsonantengeräuschen. Die geräuschhaften Sprachklänge wie Frikative werden also als musikalisches Material einer Geräuschkomposition verwendet. Andere Elemente sind ausgehaltene Klänge, auch rhythmisierte, wie wiederholte und resonierende Glockenklänge, drones, welche die Sprachfetzen zusammenhalten, die montiert sind, als Fragmente wiederholt, entweder über Tonbandschnitt oder vom Performer gesprochen. Der anschwellende Liegeklang endet vor dem letzten, wiederholten Wort »Ich«. Landy hat – diesem letzten Wort zufolge, das nicht das letzte Textwort ist, – eine Auswahl aus dem Müller-Text getroffen, nicht den vollständigen Text vertont, wie auch die Regisseurin der ersten Theaterfassung, Ginka Tscholakowa, die Szenen aus dem Text herausgeschält hatte, die sie dann darstellen ließ, wie das Wort »Tanzschritt«, das zu einer Menuettszene wurde.

»Klangorganisation« Im Programmheft zu Dimiter Gotscheffs Quartett-Inszenierung von 1986 wird angegeben, Leigh Landy sei für »Musik und Klangorganisation« verantwortlich.47 Den Begriff hat Landy selbst für das Programmheft vorgeschlagen. Es ist eine Übersetzung des englischen organised sound, der wahrscheinlich vom französischen son organisé herstammt. Edgar Varèse

47 Quartett von Heiner Müller, Regie: Dimiter Gotscheff, Schauspiel Köln (Uraufführung am 26.1.1986).

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hatte diesen Begriff für seine mit perkussivem Material und später auch Tonaufnahmen geschaffene Musik eingeführt und schnell auch Komponisten wie John Cage dafür begeistert. Komponisten wie Landy verwandten ihn in der Folge offenbar für elektroakustische Musik und Geräuschkompositionen.48 Landy erinnert sich, dass er für Quartett hauptsächlich mit Tonaufnahmen gearbeitet hat, also mit Samples.49 Damit unterscheidet sich diese Form des Theatersounds grundlegend von einer mit traditionellen Musikinstrumenten aufgeführten oder eingespielten Musik. Die Grenzen zum Sounddesign sind dafür fließend. Dadurch konnte der zugespielte Klang über längere Zeiträume eingesetzt werden, ohne das Schauspiel zu stören. Aus diesem Grund, vor allem der Sprachverständlichkeit, waren die herkömmlichen Zwischenmusiken im Theater auf ihre Scharnierposition reduziert gewesen. Außerdem erlaubt das Zuspiel von aufgenommenen Klängen, mit deren Referenz zu spielen. Obwohl der »Gründer« der Musique concrète ab den späten vierziger Jahren, Pierre Schaeffer, von der Befreiung der Verweisfunktion auf die Herkunft der Tonaufnahme ausging, nachdem sie als musikalisches Material eingesetzt und manipuliert wurde, sind doch solche Soundsamples im Theater, wo das Publikum von zu entschlüsselnden Reizen ausgeht, sowohl zeichenhaft als auch entsemantisiert musikalisches Material.

Heiner Müller und Musik Dieser Band behandelt ebenso wenig die Vertonungen von Heiner Müllers Texten durch Heiner Goebbels oder Wolfgang Rihm, die sicherlich zu den Bekanntesten und Interessantesten gehören, wie die Zusammenarbeit von Philip Glass und Robert Wilson in Einstein on the Beach (1976). Er versucht vielmehr, der Musik in Theaterinszenierungen der achtziger Jahre auf die Spur zu kommen. Das erweist sich aus den oben angeführten Gründen, wie fehlenden Quellen, als problematisch. Dabei zeigte sich Müller durchaus interessiert für experimentelle zeitgenössische Musik, deren Experi-

48 Die von Leigh Landy seit 1996 herausgegebene Zeitschrift Organised Sound. An International Journal of Music and Technology ist elektroakustischer Musik gewidmet. 49 »Quartett war hauptsächlich Sampleplunder«. Leigh Landy in einer Email an JHS (7.3.2013).

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mentalcharakter sich eben auch im neuen Einsatz von Musik und in Gattungsgrenzen sprengenden Verbünden zeigte. Ich vermute, dass für den oft sparsamen Musik-Einsatz in HeinerMüller-Inszenierungen auch eine Gattungstradition eine Rolle spielt. In dem leichten, also komischen Filmgenre Musical oder Musical Comedy findet die Operette als Nachfolgerin der Opera buffa mit vielen Gesangsnummern eine historische Linie. Im ernsten Genre des Dramas und der Tragödie – das musikalisch angereicherte Melodram ist eine Ausnahme – verlässt die Musik Film und Theaterinszenierungen weitgehend. Hingegen gibt es eine Tradition von ernster bis dramatischer Musik, die sich im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert jedoch oft der Bühne verweigert, wie Luigi Nonos »tragedia dell’ascolto« (Hörtragödie), Prometeo aus den achtziger Jahren. Auf szenische Darstellung verzichtet der Komponist Nono und reduziert die Vermittlung des Tragischen auf die Musik und vertonte sowie gesprochene Texte. Heiner Müller war in einer Aufführung des Prometeo einer der zwei Sprecher. Müller und Nono planten ebenfalls in den achtziger Jahre ein szenisches Konzert, das nie realisiert wurde: »In unserer letzten Begegnung erwähnte Luigi [Nono] einen Plan für eine spezielle Komposition für den Kammermusiksaal, die er zusammen mit Heiner Müller entwickeln wollte. Dabei sollte der Pianist Maurizio Pollini auf dem Flügelaufzug etwa 3 m über die Grundhöhe des Podiums hinaufgefahren werden, dort musizieren und durch besonders aggressiv gerichtete Lautsprecher-Einspielungen von den Raum50

musik-Emporen und der Decke attackiert werden.« (Edgar Wisniewski, 1993)

In diesem Konzept ist die Raumnutzung interessant: zum einen der vertikal ›verschobene‹ Flügel, zum anderen das Lautsprecher-Zuspiel aus verschiedenen Saalrichtungen, also hinter dem Publikum gelegen, welches in der Berliner Philharmonie um das Musizierpodium herum auf weinbergartigen Terrassen angeordnet ist. Unklar bleibt in dem Bericht aus zweiter Hand, was Müllers Anteil gewesen wäre. Festzuhalten ist, dass Müller spätestens in den achtziger Jahren Anregungen aufnahm, in eine musikalische

50 Edgar Wisniewski, Die Berliner Philharmonie und ihr Kammermusiksaal. Der Konzertsaal als Zentralraum, Berlin: Gebr. Mann, 1993, S. 205, in der Bildlegende.

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Richtung hin zu arbeiten, die möglicherweise auch auf seinen Kontakt mit Wilson zurückgehen könnten.

Müller und Wilson Müller und Wilson arbeiteten ab 1983 zusammen, sie hatten sich aber schon 1977 in Kalifornien kennen gelernt. Ab diesem Zeitpunkt wurden Wilsons Inszenierungen zunehmend textorientiert, wie Christel Weiler feststellt.51 Allerdings sind nur wenige und kurze Texte Müllers explizit für Wilson entstanden. Der deutsche Teil von Wilsons internationalem Theaterprojekt, the CIVIL warS: a tree is best measured when it is down, sollte von Heiner Müller dramaturgisch begleitet werden. Letztlich steuerte Müller zur Uraufführung 1984 in Köln nur eine Textcollage aus eigenen Stücken bei und hat darüber hinaus nur als Ideengeber für die Gestaltung anderer Szenen gewirkt. Auch zu Wilsons Death Destruction and Detroit II (1987) steuerte Müller einen kurzen Text, den »Brief«, bei. Später übernahm Wilson Teile von Müllers Medeamaterial für ein Stück und inszenierte verschiedene von Müllers Stücken, wie Hamletmaschine und Quartett, außerdem inkludierte er den Müller-Text Bildbeschreibung in sein Alkestis-Projekt. 52 Trotz der beinah gegensätzlichen Arbeitsweise bestand also ein Austausch zwischen beiden Theatermachern, auf den auch in der Theatertheorie eingegangen wird. Hinsichtlich der Wahrnehmung von Musik und musikbezogenen Arbeitsweisen im Theater der achtziger Jahre lohnt sich ein Überblick.

51 Christel Weiler, »Zusammenarbeit mit Robert Wilson«, in: Lehmann; Primavesi (Hg.), Heiner Müller Handbuch, 2003, S. 338–345, 338 (siehe Fn. 38). 52 Ebd., S. 339. Siehe auch den Beitrag von Matthias Dreyer in diesem Band.

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»P OSTDRAMATISCHES T HEATER «, »C OMPOSED T HEATRE «, »M USIKALISIERUNG DER T HEATERSTIMMEN « Eine Musikalisierung des Theaters der achtziger Jahre stellen verschiedene Theoretiker fest und fassen das Phänomen in unterschiedlicher Weise. Unter dem Sammelbegriff des postdramatischen Theaters findet sich nachträglich auch eine Würdigungen der Arbeit mit Klang im Theater.53 Zum postdramatischen Theater zählt Hans-Thies Lehmann neben vielen Tanzund einigen Musiktheaterschaffenden zuerst Robert Wilson und unter »Autoren, deren Werk mindestens teilweise dem postdramatischen Theater verwandt ist: im deutschsprachigen Raum zumal Heiner Müller«.54 Den Zeitraum gibt Lehmann mit grob siebziger bis neunziger Jahre an.55 »Die Theatermittel emanzipieren sich im postdramatischen Theater gleichsam aus ihrer jahrhundertealten, mehr oder weniger stringenten Verlötung. Sie verselbständigen sich, so als sei die tradierte kohärente Ganzheit aus Elementen, als die wir uns die Form des dramatischen Theaters denken können, gleichsam auseinandergeplatzt. […] Woraus sich das Theater zusammensetzte (Körper, Gesten, Organismen, Raum, Objekte, Architekturen, Installationen, Zeit, Rhythmus, Dauer, Wiederholung, Stimme, Sprache, Klang, Musik…) – all dies hat sich nun verselbständigt, befindet sich im Moment der Aufnahme in unterschiedlicher Entfernung vom Zeit-Ort der Explosion, ist in unterschiedliche Richtungen auseinandergejagt, referiert auf seine Herkunft mehr oder weniger deutlich, geht aber zugleich neue fragmentarische 56

Beziehungen ein.« (Hans-Thies Lehmann, 2005)

Eine ähnliche Kategorie beschreiben David Roesner und Matthias Rebstock mit dem Begriff des »komponierten Theaters«, womit sie das auf außermusikalische Parameter erweiterte Komponieren meinen, das als »experimentelles Musiktheater«, beispielsweise von Dieter Schnebel und Mauricio Kagel, schon früher bekannt geworden ist. Im »composed theatre« liege der

53 Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, 2008, S. 155f. (siehe Fn. 14). 54 Ebd., S. 24f. 55 Ebd., S. 27. 56 Ebd., darin: »Vorwort zur 3. Auflage« (2005), [S. 7] (siehe Fn. 14).

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Fokus auf der Komposition von Aufführung und Inszenierung, aber eben auch in der Anwendung musikalischer Vorgehensweisen im Schaffen von Theatermachern wie Robert Wilson, Christoph Marthaler oder Einar Schleef. 57 »In the case of Wilson, it is arguable that he should be seen as a practitioner of Composed Theatre. Obviously the precision and the formal character of movements, lights and choreographies make his theatre very musical. But this seems to be true in a metaphorical way rather than a literal sense. Wilson’s artistic strategies and his thinking might more usefully be related to visual thinking than to compositional 58

thinking.« (Matthias Rebstock, 2012)

Interessanterweise interpretiert Rebstock hier die Behandlung sichtbarer Parameter in Wilsons Theater als musikalisch, ohne auf die hörbaren Anteile einzugehen. Er konzediert, dass es sich um andere Strategien als musikalische handeln könnte. Hingegen weisen andere Forschende gerade auf die Musikalisierung der Stimmen bei Wilson hin. Helga Finter hat als eine der ersten Theaterwissenschaftler die musikalische Stimmbehandlung im Theater analysiert und damit die Nähe von gesprochenem Text und Musik aufgezeigt. »Doch trotz Dramatikern wie Brecht, Müller, Bernhard, Jandl, Jelinek oder auch Achternbusch, die einen dramatischen Text vorschlugen, der in der poetischen Stimme das Andere der Sprache hören lässt, schien und scheint das Verhältnis zur Theaterdichtung, zum deutschsprachigen poetischen Text auf der Bühne lange Zeit heillos gestört. Eine Wende hat sich schließlich in den letzten zwanzig Jahren mit Theatermachern angedeutet, die den (Dramen-)Text in Bezug zur Musik setzten: Die Ebene des Sinns tritt dabei zurück, während die musikalische Ebene des Textes als

57 David Roesner, »Introduction: Composed Theatre in Context«, in: Matthias Rebstock, David Roesner (Hg.), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: Intellect, 2012, S. 9–14, 11. 58 Matthias Rebstock, »Composed Theatre: Mapping the Field«, in: ebd., S. 18–51, 46.

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Rhythmus und Klang ausgestellt wird, so bei Robert Wilson und Einar Schleef«. (Helga Finter, 2009)

Im Hinblick auf die Klangarbeiten für das Theater von Wilson und Müller durch Kuhn und Landy ist also der generelle Wandel des Theaterschaffens – wenigstens eines Teils – bedeutsam, zu einem größeren Gewicht von Klang. Da dieses neue Theaterschaffen in Folge von Arbeiten der frühen achtziger Jahre von Kuhn und Landy beschrieben wird, möchte ich behaupten, dass beider kompositorische Theaterarbeit dazu beigetragen hat. Musikhistorisch und audiotechnologisch haben sich zu dieser Zeit Geräusche als musikalisches Material endgültig etabliert und sind in elektroakustischer Musik oder daraus abgeleiteter Geräuschmusik für akustische Musikinstrumente, wie Helmut Lachenmanns Musique concrète instrumentale, verwendbar. Neuartig ist ihr Einsatz in Geräuschkompositionen durch Kuhn und Landy im Theater, womit sie zwischen Sounddesign und Bühnenmusik liegend eine neue Form von Theatersound schaffen. Zur Veranschaulichung dessen folgt ein kursorischer Überblick.

59 Helga Finter, »Mit den Ohren sprechen«, in: Nikolaus Müller-Schöll, Heiner Goebbels (Hg.), Heiner Müller sprechen, Berlin: Theater der Zeit, 2009, S. 62– 72, 68.

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G ERÄUSCHE : A UDIOTECHNOLOGIE IM T HEATER Eine Geschichte der Theatergeräusche würde von den frühen Geräuschmaschinen und Perkussionsinstrumenten zu Audio-Speichermedien wie Schallplatten, Tonbändern und Digitaltechnik führen.60 Zunächst erschwert die Theatergeschichte eine Fokussierung, da historisch nicht ohne weiteres in Sprech- und Musiktheater unterschieden werden kann 61 und die Theatereffekte, akustische wie optische, in Opern wie Sprechtheater gleichermaßen eingesetzt wurden, woran sich die neuen Gattungen wie Radiohörspiel und Film anschlossen. Ende des 19. Jahrhunderts stellte ein Bruiteur oder effects worker die Geräusche im Theater hinter der Szene62 oder im Stummfilm neben der Leinwand als Ergänzung zur Instrumentalmusik her. Die als Vorläufer des Kinofilms angesehenen Panoramen, Laterna-Magica-Projektionen oder Schattenspiele wurden oft von Musik oder eben Geräuschemachern begleitet, um die Illusion zu verstärken. Soundeffekte wurden live im Theater, im Radio der Vor-Tonband-Zeit, 63 im Stummfilm und im frühen Fernsehen eingesetzt, bevor sie auf Speichermedien wie Schallplatten und Samplern verfügbar waren oder auf Tonbändern und Computern selbst aufgenommen und bearbeitet werden konnten.

60 Eine Geschichte der Audiotechnologie im Theater bleibt ein Forschungsdesiderat. Eine Bibliographie von 1982 listet zwar Einträge, die von akustischen Problemen bis zu Soundeffekten reichen und zwischen dem 19. Jahrhundert und etwa 1980 erschienen sind, stellt aber nur eine Quellenauswahl dar, die nicht ausgewertet wird: John T. Howard, Jr., A Bibliography of Theatre Technology. Acoustics and Sound, Lighting, Properties, and Scenery, Westport, London: Greenwood, 1982, S. 15–31, Eintrag-Nr. 163–511. 61 Siehe dazu Ursula Kramers Beitrag in diesem Band. 62 In seinem 1917 aufgeführten Theaterstück Les Mamelles de Tirésias integrierte Apollinaire ganz avantgardistisch den Geräuschemacher samt Geräuschetisch in die Handlung. Adrian Curtin, »Noises On: Sights and Sounds in Apollinaire’s The Breasts of Tiresias«, in: Lynne Kendrick, David Roesner (Hg.), Theatre Noise: The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2011, S. 124–138. 63 Robert L. Mott, Radio Sound Effects. Who Did It, and How, in the Era of Live Broadcasting, Jefferson, London: McFarland, 1993, 2005.

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Ebenso problematisch wie die Trennung in Gattungen und Genres, in denen Geräusche eingesetzt werden, erweist sich die Trennung der Geräusche von der Musik, wie sie theoretisch und anhand von Berufen im Theater und Musiktheater ebenso wie im Film zeitweilig vorgenommen wurden. Letztlich haben Geräusche und Musik die Tendenz, zusammengeführt zu werden, wie die Arbeiten von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy zeigen und wie es in den großen Hollywood-Filmscores ab den neunziger Jahren beobachtet werden kann, in denen die Geräusche teilweise in der Filmmusik aufgehen. Historisch kann man ebenso argumentieren, da mit der Theatermaschinerie der Barockoper zwar Donnergrollen64 synthetisiert wurde, es sich aber ebenso von Musikinstrumenten nachgeahmt in den Partituren finden lässt. Solche Effektgeräte waren um 1980 noch in unrenovierten Theatern zu finden. »Interessant ist ein Donnerwagen, ein Resonanzkasten, der mit seinen holprigen Rädern über die Galerie gerollt wird und dabei durch seine Spezialfüllung ein rollendes Donnergeräusch hervorruft. Die Regenmaschine, mit Sand gefüllt und wel65

lenförmigen Blechaußenkanten versehen, erzeugt ein äußerst echtes Geräusch.« (Karl Kronberg, 1982)

Im zwanzigsten Jahrhundert wurden dann auch die neuen Schallspeichermedien schnell im Theater eingesetzt, so dass die Geräusche nun teilweise von Schallplatten eingespielt wurden: »Neuerdings [1936] stellt die Schallplattenindustrie den Bühnen Originalgeräusche auf Schallplatten zur Verfügung. Sie führen zu einer beträchtlichen Verstärkung der Illusion des Zuschauers, sich nicht im Theater zu befinden. […] Unsres Wissens

64 Insbesondere zur »Kultur des Geräuschs« und der Wirkung von Geräuschen in Philosophie (Burke) und Literatur, vgl.: Florian Nelle, »Theaterdonner – Geräusch und Illusion um 1800«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Gunter Narr, 2002, S. 493–506, 498ff. 65 Karl Kronberg, »Historische Theater – moderne Technik? Kongreß in Reggio Emilia im November 1982« [Bericht der Besichtigung von Theatern in Modena und Reggio Emilia in Italien 1982 mit Fotografien der Effektgeräte], in: Bühnentechnische Rundschau (1983/2), S. 10–14, 11.

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geschah die erste Verwertung von Schallplatten durch Piscator. Er verwertete das neue Mittel vollkommen richtig. Bei der Aufführung des Stückes Rasputin [Uraufführung am 10.11.1927 an der Piscator-Bühne, Theater am Nollendorfplatz] wurde eine Schallplatte mit der Stimme Lenins vorgeführt. […] Es ist richtig, die Schallplatte ebenso wie das Orchester sichtbar zu plazieren. Wenn jedoch eine solche Maßnahme das Publikum allzusehr schockieren würde oder zu 66

großes Amüsement erregte, unterließe man sie lieber.« (Bertold Brecht, 1936)

Brecht plädiert in diesem Zitat für die Offenlegung der Quelle: eine Tonaufnahme. Normalerweise sollte diese Klangquelle natürlich versteckt werden, um eine Illusion hervorzurufen: das akustisch Wiedergegebene sollte als pars pro toto eine optisch nicht vorhandene Person repräsentieren, die scheinbar real und live anwesend sein müsse, so vermittelt es die Stimme. Über die Illusion hinaus geht der Einsatz von Klang als Mittel einer Überwältigungsästhetik: Ebenso von Schallplatte ließ Antonin Artaud in Les Cenci in Paris 1935 Geräusche und skandierende Stimmen einspielen. Bei Artaud waren für die Wiedergabe sogar vier Lautsprecher in den Ecken des Saals aufgestellt, 67 so dass das Publikum von Klang umringt war, was für die Zeit außergewöhnlich ist. Dabei waren die Aufnahmen höchstwahrscheinlich unsynchronisiert. Nach der Schallplatte wurde in den späten vierziger Jahren das Magnettonband als Schallspeichermedium auf den Markt gebracht. Schon in einem 1949 verfassten, ein Jahr darauf erschienenen Theaterlexikon wird neben der Schallplatte auch das Magnetophon für die Wiedergabe von Bühnenmusik oder Geräuschen aufgeführt:68 »Magnetophon, Gerät zur Wiedergabe

66 Bertolt Brecht, »Beschreibung der Kopenhagener Uraufführung [vermutlich: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, UA 4.11.1936]« (1936) [in: Gesammelte Werke 17, S. 1087–1096], zitiert nach: Joachim Lucchesi, Ronald K. Shull (Hg.), Musik bei Brecht, Berlin-Ost: Henschelverlag, 1988, S. 168–170. 67 Nach: Erika Fischer-Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen, Basel: Franke, 1997, S. 32. 68 Eintrag: »Elektroakustische Anlagen«, in: Walther Unruh, ABC der Theatertechnik. Sachwörterbuch (Theatertechnische Bücher, Bd. 1, hg. von dems.), Halle/Saale: Carl Marhold, 1950, S. 53. S. a. »Glocken«, ebd., S. 65.

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von Tonstreifen bei elektroakustischen Anlagen im Theater und Rundfunk«.69 »Elektroakustische Anlagen, im Theater: Übertragungsanlagen für Ton und Sprache, die sich der Mittel der elektroakustischen Schallübertragung bedienen, das sind Mikrophon, Verstärker und Lautsprecher; weiterhin Telefon-, Klingel-, Hupen- und ähnliche Signal- oder Alarmanlagen. Elektroakustische Übertragung wird benutzt für Tonverstärkung für szenische Zwecke, z. B. Glocken, Geräusche, Musik, für mechanische Tonerzeugung durch Schallplatten, Magnetophon usw. und für Tonverbesserung, das ist die Ausfüllung 70

schallarmer Raumteile im Saal.« (Walther Unruh, 1950)

Offenbar hat sich innerhalb der nächsten Jahre nicht allzu viel verändert. Hinzu gekommen ist in der Auflistung der tontechnischen Möglichkeiten die Klangbearbeitung und Manipulation, die Stereophonie und die Klangbewegung im Stereopanorama. In einem Bühnenhandbuch von 1966 heißt es: »Im modernen Theater werden Geräusche fast ausnahmslos mit Hilfe der elektroakustischen Anlage (Ela-Anlage) erzeugt […]. Man nimmt dazu Mikrophon, Schallplatten und Tonbänder und ist in der Lage, mit mehreren Lautsprecherkreisen natürliche und unnatürliche Töne und Geräusche in beliebiger Tonstärke und von beliebigen Stellen des Zuschauer- oder Bühnenraumes aus ertönen, ja sogar stereophonisch im Raum herumwandern zu lassen, zu verzerren, ihren Nachhall zu verändern und anderes mehr. Die Überblendung der Umbaupausen mit Bühnenmusik und 71

elektroakustischen Geräuschen ist damit im Schauspiel stark in Mode gekommen.« (Walther Unruh, 1966)

69 Ebd., S. 84. 70 Eintrag: »Elektroakustische Anlagen«, in: ebd., S. 53. Hervorhebung im Original. 71 Walther Unruh, »Theaterbau und Bühnentechnik«, in: Martin Hürlimann (Hg.), Das Atlantisbuch des Theaters, Zürich, Freiburg/Breisgau: Atlantis, 1966, S. 100–168, 140.

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1960 stellte Stereophonie die elektroakustische Höhe der Technik der Zeit dar.72 Eingespielt wurde der Klang von den Speichermedien Tonband oder Schallplatte und über Mikrofon. Künstlicher Nachhall wurde über Hallplatten oder Laufzeitverzögerungen in Lautsprecherketten erzeugt.73 In dem Jahrgang der Bühnentechnischen Rundschau finden sich eine Reihe von Beschreibungen der bühnentechnischen Ausstattung von Theatern, die allesamt auch über eine »Elektroakustische Anlage« verfügten, über die beispielsweise Lautsprecher- und Mikrofonanschlüsse auf der Bühne und im Zuschauerraum über das Mischpult geregelt wurden. Das bedeutet, dass durchaus Lautsprecher im Zuschauerraum positioniert werden konnten, über die dann eventuell eine räumliche Beschallung erreicht wurde. Allerdings gibt es dazu keine Beschreibungen, wenn wir von Artauds Les Cenci aus den dreißiger Jahren und Hans Peter Kuhns Arbeiten ab den späten siebziger Jahren absehen.74 Auch Klang von oben wird immer noch äußerst selten eingesetzt. Neben Leigh Landys Soundkonzept für die Philoktet-Inszenierung 1987, bei der eine Geräuschkomposition über Lautsprecher, die auch unter der Decke des Zuschauerraums angebracht waren, wiedergegeben wurde, und eine

72 H. Petzoldt, »Verwendung von Nachhallanlagen und Stereophonie in Theatern«, in: Bühnentechnische Rundschau (April 1960/2), S. 27–28. In den fünfziger Jahren begannen die ersten Versuche stereophoner Rundfunkübertragungen. In Deutschland wurde die Rundfunkstereophonie 1963 eingeführt. 73 Ebd. 74 Offenbar verwandte auch Luigi Nono in seiner Theatermusik zu der ErwinPiscator-Inszenierung von Peter Weiss’ Ermittlung (Theater der Freien Volksbühne West-Berlin, 1965) mehrkanaliges Tonbandzuspiel. Für den Hinweis danke ich Irene Lehmann. Allerdings handelte es sich allem Anschein nach um traditionelle »Zwischenmusiken« (Spangenmacher), die ausdrücken sollten, was sprachlich nicht gesagt werden konnte. Friedrich Spangenmacher, Dialektischer Kontrapunkt. Die elektronischen Kompositionen Luigi Nonos zwischen 1964 und 1971, Saarbrücken: Pfau, 1983, 2006, S. 164. Unklar ist auch, ob die Lautsprecher, wie in Nonos La fabbrica illuminata (1964), nur im Bühnenraum verteilt waren oder tatsächlich wie bei Kuhn um die Zuschauenden positioniert wurden. Immerhin ist erwähnenswert, dass am sogenannten »Piscator-Theater« die vielfältigen Experimente mit Bühnentechnik der Vorkriegszeit fortgeführt wurden.

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ähnliche Konstruktion in Hans Peter Kuhns Ton für Death Destruction & Detroit I 1979, habe ich nur eine weitere Erwähnung von Schall von oben gefunden: In einem Opernhaus wurde um 1960 offenbar das Zuspiel der Glocken in einer Inszenierung von Wagners Parsifal von oben arrangiert: »Eindrucksvolles Beispiele der Leistungsfähigkeit einer modernen [elektroakustischen] Anlage [1960] dieser Art sind das Ertönen der Parsifal-Glocken aus der Kuppel des Zuschauerraumes, das Hin- und Hergeistern der unirdisch schwebenden Stimme des Homunkulus oder das kraftvolle Aufklingen des Orgelspiels in der 75

Kulisse.« (Holtz, 1960)

Hier ist auch die Rede davon, »den Ton über die Bühne ›wandern‹ [zu] lassen«.76 Dafür gibt es erst ein dutzend Jahre später, Anfang der siebziger Jahre, ein Effektgerät, den Action Regler: »Mit diesem Gerät können bestimmte monophone Schallereignisse in den Bewegungsablauf auf der Bühne miteinbezogen werden.«77 Über eine Reihe von zwei bis zehn Lautsprechern wird das Tonsignal zeitlich versetzt wiedergegeben und vermittelt so den Eindruck von akustischer Bewegung. In den frühen achtziger Jahren wurden immer noch Tonbandmaschinen verwendet, dann allerdings Mehrspurmaschinen, wie die 16-Spurmaschine im Nationaltheater München.78 Damit sind räumliche Wiedergaben von Ton und Musik möglich, die ein komplexeres Klangbild so abbilden, dass es dennoch ›durchhörbar‹ bleibt. Auf diese Weise sind auch ›Vordergrund-‹

75 Holtz, »Die bühnentechnische Industrie Westberlins«, in: Bühnentechnische Rundschau (1960/6), S. 58. 76 Ebd. 77 Gisbert P. Lackner, Kurt Greiner, Arnold Dawidowicz, »Gerät zur Darstellung akustischer Bewegungsabläufe«, in: Bühnentechnische Rundschau (1972/3), S. 38–39. 78 D. Behne, A. Dewidowicz, R. Delion, »Elektronische Tonregie- und Akustikeinrichtungen im Nationaltheater München«, in: Bühnentechnische Rundschau (1983/2), S. 20–22.

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und ›Hintergrundklänge‹ und damit ›Klanglandschaften‹ simulierbar. Mitte der achtziger Jahre gab es bereits computergestützte Audiotechnik.79 Mit der Erweiterung des musikalischen Materials durch Geräusche in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts und der dadurch veränderten Komposition für das Theater, wie Hans Peter Kuhn und Leigh Landy es in den achtziger Jahren umsetzten, indem sie das Sounddesign und die Komposition nicht mehr trennten, kann man den Begriff »Geräusch« heute weiter fassen. Die Herausgeber und Autoren des Bandes Theatre Noise haben diesen Begriff sogar auf alle Klangebenen im Theater bezogen sowie auf deren politisches Potenzial.80

Geräuschmusik im Theater Dem Klang wird in der Theaterrezeption und -dokumentation zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das zeigt sich an der problematischen Quellenlage der Theaterinszenierungen der achtziger Jahre. Eine einfache Videodokumentation – auch visuell oft nicht hinreichend – scheitert an dem räumlichen Klang, den die Theaterbesucher über um den Zuschauerraum verteilte Lautsprecher erfahren konnten. Leider wurde diese Hörerfahrung kaum in Rezensionen beschrieben, so dass man annehmen kann, den Rezensenten »fehlten die Worte«, um neue akustische Eindrücke, wie sie in der experimentellen Klanggestaltung von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy erfahrbar wurden, beschreiben zu können. Eine Ausnahme stellen die zeitgenössischen Texte von Helga Finter und wenigen anderen dar. Für die »Spätgeborenen« (Matthias Dreyer) stellt sich nun das Rezeptionsproblem ein: Wie kann man heute – fast ohne hinreichende Quellen – über diese damals neuartigen Theaterproduktionen sprechen? Wie kann

79 Gisbert P. Lackner, »Das neue Mischpult des Schiller-Theaters Berlin. Eine rechnergestützte mikroprozessorgesteuerte Tonregie-Einrichtung«, in: Bühnentechnische Rundschau (1984/6), S. 17–18. 80 »›[T]heatre noise‹ is a new term which captures an agitatory acoustic aesthetics. It expresses the innate theatricality of sound design and performance, articulates the reach of auditory spaces, the art of vocality, the complexity of acts of audience, the political in produced noises.« Lynne Kendrick; David Roesner (Hg.), Theatre Noise, 2011, S. xv (siehe Fn. 62).

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man diesen Teil der Theatererfahrung im Nachhinein erfassen, dessen Potenzial der Komponist Kurt Weill folgendermaßen zusammenfasst: »Alle Experimente im musikalischen Theater haben unabweisbar bewiesen, daß echte Theatermusik [damit meint er auch Oper] eine großartige treibende Kraft ist, die eine Szene mit unvergleichlicher Geschwindigkeit und Direktheit ihrem Höhepunkt zuführen kann, daß sie die Atmosphäre einer Szene augenblicklich herstellen kann, während der Autor dazu oft lange Dialoge benötigt. Die Musik kann das leisten, was der begabteste Schauspieler auf der Höhe seines Könnens leistet: sie kann den Zuschauer durch Leidenschaft für sich gewinnen, sie kann eine aufnahmebereite Stimmung erzeugen, die es wesentlich einfacher macht, der Phantasie des Dichters 81

zu folgen und diese zu akzeptieren.« (Kurt Weill, 1936)

Ein halbes Jahrhundert nach diesem Zitat waren die experimentellen Musiker mit der Auflösung der Trennung von Geräuscheinspielungen, wie sie neben dem Filmsoundtrack nun auch im Theater eingesetzt wurde, und elektroakustischer Musik beschäftigt. Damit wurden »Klanglandschaften« ins Theater eingespielt, welche die auf der Bühne befindlichen visuellen »Landschaften« ergänzten und erweiterten. Vor allem erfüllten die Geräuschkompositionen und Stimmprojektionen den Zuschauerraum, so dass sich das Publikum in einem Hörraum befand, gegenüber dem gerahmten Bühnengeschehen.

81 Kurt Weill, »Die Alchemie der Musik« (Original: »The Alchemy of Music«, in: Stage (November 1936), deutsch von Ulrich Wünsch, in: ders., Musik und Theater. Gesammelte Schriften, hg. von Stephen Hinton, Jürgen Scherbera, Berlin: Henschel, 1990, S. 109–114, 112.

Robert Wilson, Doctor Faustus Lights the Lights, Berlin 1992. Charcoal and graphite on Schoeller Durex paper. 28 3/4" x 40" (72.8 x 101 cm). © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Geoffrey Clements

Über die Arbeiten mit Robert Wilson Klang im Raum: Sprache, Musik und Geräusch als Teil der theatralen Raumerfahrung H ANS P ETER K UHN

Irgendjemand hat mir mal gesagt, was ich in den Wilson-Stücken machen würde, wäre das Wetter. Das fand ich ein sehr schönes Bild dafür, weil es einerseits etwas Immaterielles ist und andererseits die Gefühlsatmosphäre bestimmt. In unserer Zusammenarbeit habe ich nicht illustriert, was auf der Bühne passiert, sondern ich habe einfach Sound-Environments komponiert, die mir in den Kopf gekommen sind – durch welche Assoziationen auch immer. Ich habe nie versucht, das visuelle Geschehen zu illustrieren. 1 In den Theaterstücken von Wilson, zu denen ich den Klang entworfen habe, sind das Visuelle und das Auditive tatsächlich unterschiedliche Layer, die parallel vorhanden sind und sich eventuell berühren, aber unabhängig voneinander bestehen. Wie in der Zusammenarbeit von Cunningham und Cage geht es in meinen Arbeiten für Wilsons Theaterinszenierungen nicht um

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Dieser Text ist eine redigierte Fassung eines von Hans Peter Kuhn frei gehaltenen Vortrags mit verschiedenen Bild- und Musikbeispielen. Vortrag am 30.11.2013 im Rahmen des Symposiums »Im Hörraum vor der Schaubühne. Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn) und Heiner Müller (Leigh Landy)«, veranstaltet von der Freien Universität Berlin, Sfb 626, in den Räumen der Universität der Künste Berlin. Redigiert von Hans Peter Kuhn und Julia H. Schröder.

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eine Verdopplung des Visuellen, sondern um einen eigenständigen auditiven Teil. In unserer zwanzigjährigen Zusammenarbeit habe ich also KlangEnvironments geschaffen, die aus der räumlichen Verteilung der mikrofonierten Schauspielerstimmen, Geräusch- und Stimmkompositionen und manchmal auch Musik bestanden. In einigen wenigen Stücken kam dezidiert von Dritten komponierte Musik hinzu. CIVIL warS war ein Musiktheaterstück mit zusätzlich komponierter Musik: Phil Glass hat für einen Teil Musik geschrieben und Nicolas Economou, ein Grieche, der in München lebte, für einen anderen Teil, um nur zwei zu nennen. Bei Golden Windows gab es auch eine komponierte Musik. Aber nach CIVIL warS gab es diese Form von Theatermusik in den Stücken von Wilson, an denen ich beteiligt war, nicht mehr. Für CIVIL warS habe ich auch schon eigene Kompositionen gemacht. Manchmal habe ich später noch diese oder jene Musik von der einen oder anderen Schallplatte hinzugenommen. Aber das war sehr selten.

Prolog im akustischen Weltraum The CIVIL warS (1982–84) war eine große, international angelegte Produktion von Robert Wilson, die aus Geldmangel leider nie zu Ende geführt werden konnte. Vielleicht spielte auch Unwillen eine Rolle. Das Stück sollte in fünf Ländern, an fünf verschiedenen Orten produziert und dann als ein großes Gesamtkunstwerk zu den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles uraufgeführt werden, in einem Theater mit 6.000 Plätzen. 2 Nur vier dieser Produktionen wurden fertig gestellt: Der Kölner Teil, der Rotterdamer Teil und der Römische Teil, außerdem der Tanzteil in Minneapolis, die Knee Plays. Zwei Teile wurden nicht mehr fertig gestellt, weil am Ende eine Million Dollar fehlte. Das hört sich jetzt viel an, ist aber nicht so wahnsinnig viel, wenn man bedenkt, dass dabei sechs Theatertruppen zusammenkommen sollten. Das Olympische Komitee war nicht in der Lage, das zu finanzieren. Nachdem die Spiele beendet waren, hat sich herausgestellt, dass sie

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Die 12-Stunden-Aufführung sollte im Juni 1984 im Shrine Auditorium in Los Angeles stattfinden, das 6.300 Besucher fasst. Siehe: John Rockwell, »Robert Wilson Plans an Olympic Event«, in: The New York Times (27.2.1983).

ÜBER DIE A RBEITEN MIT R OBERT WILSON | 53

250 Millionen Dollar Profit gemacht haben. Zu dem Kölner Teil von The CIVIL warS 3 habe ich den Sound gemacht und tatsächlich noch Material in meinem Archiv, beispielsweise die Eingangsmusik. Auf der Bühne waren zwei Leitern, die in den Bühnenhimmel gingen, so dass man das Ende der Leitern nicht sehen konnte. Sie fuhren langsam hin und her. Auf den Leitern waren zwei Schauspieler in silbernen Kostümen, »Astronauten«, die immer hinauf und hinunter kletterten. Dazu spielte eine Sequenz mit verzerrten Stimmen, wie man es aus dem Funkverkehr kennt. Damals waren die Amerikaner immer mit ihren Weltraumkapseln im Fernsehen, und da hörte man dann die Dialoge zwischen den Astronauten und der Bodenstation: Zuerst war ganz lange Stille, dann kam so eine verzerrte und verrauschte Stimme, die irgend etwas Unverständliches sagte und den Satz mit »Roger« beendete. Danach gab es noch so ein Piep-Signal, und dann war wieder Stille. Das ganze Szenario hat mich total fasziniert. Die Stimmen waren immer völlig verrauscht und verzerrt. Das hat mir sehr gut gefallen, deswegen habe ich diese Stimmen in die Einlassmusik eingefügt.

Der Weg ans Theater Zu mir und meiner Geschichte möchte ich ein wenig erzählen, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Ich bin Autodidakt. Mit sechs Jahren habe ich beim Weihnachtsmärchen und bei allem, was es an der Schule an Theater gab, mitgemacht; mit zehn habe ich meine erste Gitarre bekommen und mit 14 meine erste Rockband gegründet, in der ich dann acht Jahre Sänger war. Das war die Zeit der Beatles und Stones, da ging das gar nicht anders, da war jeder in einer Band. Ich habe durch diese ganzen Aktivitäten, die ich neben der Schule hatte, etwas länger gebraucht, um mein Abitur zu machen. Ich bin ein Spätzünder, ich wusste nicht schon früh, was ich machen will und wo das einmal hinführt. Nach der Schule habe ich über-

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The CIVIL WarS: A Tree Is Best Measured When It Is Down. Kölner Teil, Konzept, Regie und Libretto: Robert Wilson unter Mitarbeit von Heiner Müller, zusätzliche Texte von Racine und Shakespeare, Musik von Hans Peter Kuhn, zusätzliche Musik von Michael Galasso, Philip Glass, David Byrne, Franz Schubert (Erlkönig) sowie japanisches Gagaku, Schauspiel Köln (Uraufführung am 19.1.1984).

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legt, wo ich eigentlich hin will. Da ich Theater, Musik und Technik gut konnte, dachte ich daran, Tonmeister zu werden. Das habe ich an der Technischen Universität Berlin und an der Hochschule der Künste studiert, um dann festzustellen, dass ich nicht so gut am Schreibtisch bin. Ich bin eher ein Handwerker, ich muss immer Sachen machen. Das Studium habe ich abgebrochen, weil ich eingesehen habe, dass das nicht mein Ding war. Damals waren die Dinge auch noch anders als heute, damals gab es noch die Möglichkeit, einfach irgendwo quer einzusteigen. Zufällig habe ich einen Schauspieler vom Schillertheater in der Bismarckstraße kennen gelernt und habe ihn gefragt: »Wie ist denn das, kann man bei euch nicht irgendeinen Job kriegen? Ich mach’ alles, auch Kulissen schieben.« Ich wollte einfach einen Einstieg finden. Er meinte, dass das keinen Zweck habe; dass es ein Staatstheater sei; die würden mich an nichts ‘ranlassen. Wenn mich das Theater interessiere, solle ich zur Schaubühne gehen. Das war 1975. Die Älteren unter uns werden sich daran erinnern, dass die Schaubühne damals der Olymp des deutschsprachigen Theaters war. Das Größte schlechthin. Das ist genau das Richtige für mich, dachte ich [Lachen]. »Und wenn du dahin gehst, sagst du, du willst mit Herrn Schitthelm sprechen.« Ich wusste damals nicht, wer Jürgen Schitthelm ist. Das war der Mitbegründer und Leiter des Theaters. Die Schaubühne ist ein Privattheater, und er war der Chef – übrigens bis September letzten Jahres, als er nach 50 Jahren die Leitung niederlegte. Nach drei schlaflosen Nächten bin ich dahin gegangen. Die Sekretärin hat mich gefragt, was ich denn wolle? – »Ich würde gerne Ton als Aushilfe machen.« – Ich solle doch erst mal mit dem Tonmeister sprechen, meinte sie daraufhin. Vor lauter Aufregung bin ich auch noch an einem Montag hingegangen, obwohl die Theater montags geschlossen sind! Am nächsten Tag bin ich also wieder hin und habe mit dem Tonmeister gesprochen. Er hatte gerade seinen Assistenten verloren und brauchte jemanden. So war ich als Aushilfe drin. Wenn man ein Vierteljahr ständig als Aushilfe angefragt wurde, musste man fest eingestellt werden. So hatte ich nach einem Vierteljahr unverhofft eine Stelle als Halbtagskraft. Kurz darauf ist der Chef weggegangen. Es kam jemand, der völlig daneben war. Plötzlich musste ich den Ton für eine Produktion ganz eigenständig und alleine machen. Als mein zweiter Tonchef kurz darauf wieder gekündigt hat, bin ich zur Theaterleitung gegangen und habe gesagt, dass ich die letzten beiden Produktionen alleine gemacht hätte, und ob ich nicht den Job kriegen

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könnte. Nach anderthalb Jahren war ich also der Tonmeister an der Schaubühne. Das war eine Blitzkarriere. Dort habe ich dann neben Stein und Bondy und Grüber4 bei meiner letzten Produktion 1978 Robert Wilson kennen gelernt. 1977 habe ich mit Grüber die Winterreise im Olympiastadium gemacht. 5 Das ist eine aufregende Angelegenheit gewesen. 1978 kam dann Bob [Wilson] für seine erste Produktion in Europa an die Schaubühne. Er hatte in Europa zwar schon Gastspiele gehabt, aber die waren immer in den USA entstanden. Hier kannte ihn noch kaum jemand. Er war noch relativ unbekannt und keiner am Haus wusste, was da auf uns zukommt. Eine ganz schöne Anekdote ist, dass er in einer Szene zwei Sonnenliegen haben wollte. Der technische Direktor hat gesagt: »Sonnenliegen, die kosten 20 Mark das Stück. Jetzt nehmen wir mal an, der will was ganz besonderes haben, dann kalkulieren wir mal 400 Mark ein.« Die Sonnenstühle wurden aus Vierkantstahlrohr gebaut, voll verchromt, mit Nackenrollen auch aus Stahl.6 Das Stück hat 2000 Mark gekostet. Das zeigt, wie wenig bekannt er war, denn so etwas hatte niemand erwartet.

Die erste Produktion mit Wilson: »Was will Wilson eigentlich?« Die erste Produktion von Wilson an der Schaubühne, Death Destruction & Detroit I, fing im Herbst 1978 an, vielleicht Anfang Oktober, relativ kurz

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Peter Stein, Luc Bondy, Klaus Michael Grüber, Theaterregisseure.

5

Winterreise nach Friedrich Hölderlins Hyperion mit dem Ensemble der Schaubühne im Berliner Olympiastadium aufgeführt. Regie: Klaus Michael Grüber, Bühne: Antonio Recalcati. (Uraufführung am 1.12.1977).

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Robert Wilson, Beach Chairs (Death Destruction and Detroit), 1979, Walker Art Center, Minneapolis. Ein Foto ist u. a. abgebildet im Katalog: Trevor Fairbrother (Hg.), Robert Wilson’s Vision. An Exhibition of Works by Robert Wilson with a Sound Environment by Hans Peter Kuhn, hg. vom Museum of Fine Arts, Boston, New York: Harry N. Abrams, 1991, S. 88.

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nach dem Ende der Theaterferien. 7 Das Stück sollte kurz vor Weihnachten Premiere haben. Das hat nicht geklappt. Die Premiere war erst zwei Monate später, im Februar. Dazu sollte man wissen, dass die alte Schaubühne am Halleschen Ufer, das heutige HAU 2, keine Seitenbühne, keinen Schnürboden, keine Hinterbühne, kein Lager hat. Das heißt, das jeweils gespielte Stück wurde eingebaut und gespielt, bis sie etwas Neues machen wollten oder aber keine Karten mehr verkauft wurden. Dann ist das Bühnenbild herausgerissen worden, dafür war das Theater ein paar Wochen zu, um alles umzubauen, bis das nächste Stück gespielt wurde. Wilsons Stück wurde bereits im Herbst eingebaut, das heißt, wir haben ungeplant vier Monate keine Einnahmen gehabt. Am Premierenabend, als Bob um kurz nach acht immer noch auf der Bühne stand und sich beschwerte, dass das Licht noch nicht richtig sei, sagte Schitthelm: »Ja, wir fangen jetzt an. Wir kommen jetzt damit ‘raus!« Er war völlig genervt wegen der hohen Kosten. Aber als diese viereinhalbstündige Vorstellung endlich lief, war sie ein Bombenerfolg, ein absoluter Hit. Insgesamt hat es dennoch nur etwa 25 Vorstellungen gegeben. Wieder aus finanziellen Gründen, denn in den Zuschauerraum passen 300 Personen – es ist ein kleines Theater – und auf der Bühne waren 70 Personen beschäftigt. Kein erfolgreiches Geschäftsmodell… Ich hatte zu der Zeit hauptsächlich mit deutschen Regisseuren zu tun: Peter Stein, Luc Bondy und Frank-Patrick Steckel. Da war das Interesse an Klang, Ton und Musik sehr deutlich definiert: Musik war Begleitmusik zu Romantik, Liebesszene, Kampf. Wenn im Text steht, dass jemand an der Tür steht und klingelt, dann musste es natürlich auch klingeln. Das kam dann vom Tonband. Früher haben das die Inspizienten noch mit einer Klingel gemacht, aber in den Siebzigern kam das schon vom Tonband. In Peer Gynt musste auch ein Löwe brüllen. Das waren so die Dinge, die akustisch passieren sollten. Und dann kam Bob Wilson. Ich war als Tonmeister getrimmt auf »Türklingeln« und »Löwenbrüllen«. Eigentlich hatte ich auch schon gekündigt, weil ich keine Lust hatte, mein ganzes Leben lang so etwas zu machen. Und dann kam Bob Wilson und hat nicht gesagt, dass er Löwenbrüllen haben will. Er hat einfach gar nichts gesagt. Ich habe in den Proben gesessen und gedacht, da stimmt was nicht, das haut nicht hin:

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Death Destruction & Detroit I, Regie, Bühne und Konzept: Robert Wilson, Musik: Alan Lloyd, Ton: Hans Peter Kuhn, Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin (Uraufführung am 12.2.1979).

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Irgendwann naht die Premiere, und dann kommt er womöglich zwei Tage vorher an und will vielleicht alles haben. Deswegen musste ich herausfinden, was Wilson eigentlich wollte. Also habe ich ihn gefragt, was er wolle. Es kam nichts von ihm. Irgendwann gab es richtig Streit, bei dem er mich schwer beschimpft hat.8 Es endete damit, dass ich den Stecker gezogen habe, also alle Apparate ausgeschaltet habe, und gegangen bin. In der Folge davon habe ich mir gedacht, wenn er mir keine Anweisungen gibt, muss ich selbst etwas machen: Spiele ich jetzt mal etwas ein, was ich gerade gut finde. Das war damals Keith Jarretts Köln Concert. 9 Die Platte habe ich dann zu der Szene gespielt, die gerade geprobt wurde. Das war der Punkt, an dem es geknackt hat. Das war genau das, was Wilson von mir erwartet hat. Ich hatte gedacht, Regisseure seien dazu da, einem zu sagen, was man zu tun habe, denn so war es vorher immer gewesen. Doch in dem Augenblick habe ich verstanden, was Wilson will, nämlich dass ich ihm etwas anbiete. Von dem Augenblick an haben wir dann 20 Jahre zusammen gearbeitet. Das war für mich eine tolle Chance, die Sachen zu machen, die mich interessiert haben, die ich machen wollte, nicht nur Dienstleistungen.

Verräumlichte Stimmen und Sound Environments: Death Destruction & Detroit I In dieser ersten Produktion, in der ich mit Wilson arbeitete, in Death Destruction & Detroit I, kam er mit dem Wunsch auf mich zu, dass die Stimmen ›von hinten‹ kommen sollten. Davon musste ich ihm abraten, weil man im Publikum nach spätestens fünf Minuten die Stimmen nicht mehr ›von hinten‹, sondern ›von vorne‹ zu hören meint, von dort, wo die Schauspieler

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Bob [Wilsons] langjährige Agentin Benedicte Pesle aus Paris hat mir später einmal den weiteren Verlauf unserer Auseinandersetzung erzählt. Sie sagte, Bob [Wilson] habe sie angerufen und gesagt: »Today I had a problem. One of the kids ran away.« Daraufhin fragte sie, was denn passiert sei, und er sagte: »I said, ›you are a fascist‹.« Sie reagierte darauf: »Are you nuts? A kid in Berlin, and you say, ›you are a fascist‹? Do you know what it means?« Er wusste nur, dass es eine sehr gute Beschimpfung für Deutsche ist.

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Keith Jarrett, The Köln Concert, (Solo-Klavier Improvisation in der Kölner Oper als Schallplatte im selben Jahr veröffentlicht), 1975.

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zu sehen sind. Das ist ein psychoakustischer Effekt, der BauchrednerEffekt, der bewirkt, dass die Puppe statt des Bauchredners zu sprechen scheint, weil sie eben eine plausible Schallquelle ist. Die ersten Fernseher hatten die Lautsprecher noch an der Seite, und doch hat man nach nur kurzer Zeit den Ton dort gehört, wo sich die Bilder bewegen. Das ist einfach so ein Phänomen unserer Wahrnehmung. Wenn man so etwas machen will, wie den Stimmklang und die sichtbare Person zu trennen, muss man das komplett anders machen: Man muss die Position des Klangs im Raum ständig ändern, damit man sich nicht daran gewöhnen kann. Daraufhin habe ich Lautsprecher aufgehängt. Damals gab es in den Theatern kaum Lautsprecher. Für Ton wollte man auch kein Geld ausgeben. Doch darin habe ich dank Bob [Wilson] eine gute Position gehabt, er hat das einfach durchgedrückt. Also konnte ich Lautsprecher im Saal aufhängen und zwar jeweils an den beiden Seiten sowie hinten und vorne. Den Mikrofonen habe ich dann wechselnde Lautsprecher zugeordnet. Die Schauspieler haben diese kleinen Ansteckmikrofone mit Sender bekommen. Das war damals allerdings noch problematisch, weil es einfach nicht so viele separate Sendekanäle gab. Wir haben das dann folgendermaßen gemacht: Wenn ein Schauspieler von der Bühne kam, wurde ihm das Ansteckmikrofon, das Mikroport, vom Leib gerissen und dem nächsten angelegt. Das Stück war in zwei Akte mit je acht Szenen gegliedert, also insgesamt 16 Szenen, die alle sehr unterschiedlich gewesen sind, auch von der Machart. Aber es waren immer Parallelszenen: 1 und 9 sowie 2 und 10 und so weiter. Teilweise waren sie auch spiegelbildlich angelegt: 5 und 13 zum Beispiel. Neben dem speziellen Mikrofoneinsatz gab es natürlich jede Menge Tonbandeinspielungen, unter anderem die Musik von Alan Lloyd. Das war insgesamt eine halbe Stunde Musik, bei einer Gesamtdauer von viereinhalb Stunden. Also nicht sehr viel Musik. Deswegen habe ich angefangen, Klang-Environments zu komponieren. In Ermangelung eines anderen Begriffs habe ich das so genannt. Max Neuhaus hat den Begriff Klanginstallation eingeführt, der sich später durchgesetzt hat. 10 Aber vielleicht sind das zwei verschiedene Sachen. Meine Klang-Environments sind vielleicht Vorläufer von Klanginstallationen gewesen. Dafür habe ich verschiedene Quellen aufgestellt. In

10 Vgl. Volker Straebel, »Zur frühen Geschichte und Typologie der Klanginstallation«, in: Ulrich Tadday (Hg.), Musik-Konzepte, Sonderband Klangkunst, München: Text und Kritik, 2008, S. 24–46.

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Death Destruction & Detroit I gab es insgesamt zehn Lautsprecher. Mit diesen verschieden positionierten Klangquellen werden unterschiedliche Sounds wiedergegeben, so dass eine Kunstwelt entsteht. Vorne rechts hört man einen Hund bellen, vorne links sind Kirchenglocken und hinten zwitschern die Vögel. Das ist dann eine Dorfstimmung. Aber wenn man das auseinander reißt und nicht Klänge spielt, die zusammengehören, entsteht natürlich eine komplett andere Welt. Dann entsteht eine Welt, die zwar aus bekannten Geräuschen besteht, aber da die nicht zusammengehören, ergibt das ein neues Bild. Mit so einem Verfahren habe ich angefangen, für die Szenen kleine Musikstücke aus Geräuschen zu machen. Diese Arbeit mit Geräuschen betreibe ich nach wie vor. Ich habe wenig direkt mit Instrumenten gearbeitet. Später gab es zwei Theaterstücke, für die ich Lieder geschrieben habe, die auf Musikinstrumenten gespielt worden sind. Von diesen Ausnahmen abgesehen, waren das eigentlich immer Geräuscharbeiten – mit wenig Synthesizer-Einsatz, weil ich kein großer Freund von diesen synthetischen Klängen bin, die sind mir zu unkompliziert [Lachen]. Das Schöne an einem aufgenommenen natürlichen Klang ist, dass er individuell ist. Man kann eine Tür tausendmal zuschlagen, und sie wird zwar immer ähnlich klingen, aber niemals gleich. Wenn man sie mehrmals aufnimmt, wird es keine zwei Aufnahmen geben, die gleich sind. Aber wenn man beim Synthesizer zweimal oder dreimal auf eine Taste drückt, ist der Klang genau derselbe. Das passiert bei natürlich aufgenommenen Klängen nicht. Das finde ich spannend. Nur durch das Material entsteht bereits eine Welt für sich, die reich und voll ist. Wir haben in Death Destruction & Detroit I eine sehr intensive Arbeit zusammen gemacht. Nun kenne ich die Sachen nicht, die in Deutschland vor dem Krieg passiert sind, da waren ja auch sehr experimentelle Theatersachen dabei, aber zu der Zeit war das in Deutschland einzigartig, würde ich behaupten, weil es keine Minute gab, in der nicht irgendein Ton gelaufen ist. Die Tonbänder bildeten einen großen Stapel und mussten während der Show ausgetauscht werden. Sobald ein Tonbandwickel durchgelaufen war, wurde der nächste auf die Bandmaschine gelegt. Damit waren mehrere Leute beschäftigt.

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Wahrnehmungsphänomene: Die Goldenen Fenster Nachdem unsere erste gemeinsame Produktion zu Ende war, hat Bob [Wilson] mich gefragt, ob ich weiter mit ihm zusammenarbeiten möchte. Als nächstes haben wir Die Goldenen Fenster 1984 in München an den Kammerspielen gemacht. 11 Dort habe ich die Lautsprecheranzahl im Zuschauerraum auf die Spitze getrieben: Ich habe 30 Lautsprecher in den Saal eingebaut, um das Publikum herum. Außerdem habe ich eine Matrix, also ein Verteilerfeld, entwerfen müssen, da es so etwas damals nicht gab. In den Goldenen Fenstern waren vier Schauspieler auf der Bühne, jeder hatte ein Mikrofon. Das heißt, wir hatten vier Signale und 30 Lautsprecher. Mit der Verteilermatrix 4x30 kann man jedes Mikrofon auf jeden Lautsprecher legen. Heute kann man so etwas ganz ohne Probleme machen, doch in den frühen Achtzigern gab es das noch nicht fertig. Ein großes Problem war beispielsweise, dass es knackt, wenn man den Ton live umschaltet. Das heißt, man musste irgendwie hinkriegen, dass es nicht knackt. Nach meinem Entwurf wurde also extra diese Matrix angefertigt, so dass ich die Schauspielerstimmen während des Satzes – wann immer eine kleine Pause war – umschalten konnte, so dass sie aus einem Lautsprecher an einer anderen Position im Zuschauerraum kam. Die Stimme des Schauspielers A beginnt dort vorn, dann ist sie da hinten, dann an der linken und schließlich der rechten Seite. Schauspieler Bs Stimme wandert anders herum. Eine akustische Umrundung der Zuschauer. Während der Vorstellung musste ein Ton-Mensch am Mischpult sitzen und die Pegel fahren, und ein anderer war nur an dieser Kiste beschäftigt. Letzterer hatte ein Textbuch, in dem Nummern standen, die er zum richtigen Zeitpunkt drücken musste. Die Wahrnehmung ist nicht so simpel, dass man ins Konzert geht und Musik hört, oder ins Theater geht und Text hört oder Bild sieht, sondern man macht alles gleichzeitig. Es ist nie so, dass man einen Aufführungsteil separat hat. Alle Sinne sind immerzu angesprochen, auch die Nase durch das Parfum des Sitznachbarn. Man nimmt eben nicht nur die gewollten Sachen, sondern auch die ungewollten Dinge wahr. Diese Distribution ist eine komplett andere Geschichte als die Geschichte, die auf der Bühne stattfindet. Das was auf der Bühne stattfindet, ist ein Kontinuum, vom Anfang des Stücks bis zum Ende geht das durch. Aber dieser Ton mit seinen

11 Golden Windows, Regie: Robert Wilson, Ton: Hans Peter Kuhn, Münchener Kammerspiele (Uraufführung am 29.5.1982).

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Sprüngen dekonstruiert – um diesen schönen Begriff auch mal zu gebrauchen – das Kontinuum. Das stellt eine völlig andere Wahrnehmungsform dar, die auf diese Weise tatsächlich zwei Ebenen der Wahrnehmung parallel zulässt, die sich nicht ergänzen, sondern die wirklich separat sind. Cunninghams und Cages Zusammenarbeit ist natürlich das Paradebeispiel für diese Art von Arbeit, bei der man zwei verschiedene Dinge gleichzeitig darbietet, die nicht direkt miteinander zu tun haben. Aber wir haben im Prinzip das Gleiche gemacht, indem die Tonwelt eine andere Welt war als die Bildwelt. Bei dem zweiten Teil von Death, Destruction & Detroit in der Schaubühne 1987,12 das war dann schon am Lehniner Platz, gab es noch eine Besonderheit: Das Publikum saß in der Mitte, und es gab vier Bühnen um die Zuschauer herum. Die waren unterschiedlich gestaltet: eine klassische Guckkastenbühne, rechts und links waren Gänge, wie ein Flur, der auf der einen Seite offen ist: also auch nicht so hoch, ein langer Streifen und nicht sehr tief. Auf der vierten Seite war eine ganz steile Treppe mit einem Fahrstuhl dran, in dem ein Mann immer hoch und ‘runter fuhr. Das war Heiner Müllers Idee. Die Zuschauer saßen in der Mitte auf Drehstühlen, kleinen Drehhockern ohne Rückenlehnen. Bei einem Fünfstunden-Stück war auch ein bisschen Quälerei dabei. Ich hatte in die Bühnenrampe oben eine Reihe von etwa 20 bis 24 Lautsprechern eingebaut. Auf jeder Seite war ebenfalls eine Reihe von Lautsprechern, so dass ich auch dort die Klänge, sowohl die Sounds und Geräusche als auch die Stimmen auf verschiedene Raumpunkte legen konnte. Es gab ein akustisches Problem: Dadurch, dass das Publikum da saß und die Rampe nicht besonders hoch war, haben die Leute teilweise die Lautsprecher verdeckt. Das war ein bisschen unangenehm, aber ich habe dann doch noch einen Trick gefunden, um das Problem zu lösen, so dass man den Text verstehen konnte. Außerdem waren vier große Lautsprecher in die Ecken gestellt, über die wir richtig laute Sachen wiedergegeben haben. Das Publikum war komplett umkreist von Sound. Natürlich gab dies auch die Möglichkeit, die Leute akustisch auf etwas aufmerksam

12 Death, Destruction & Detroit II, Regie, Bühne und Konzept: Robert Wilson, Ton und Musik: Hans Peter Kuhn, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Uraufführung am 27.2.1987).

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zu machen, was hinter ihnen passierte, indem man mal kurz etwas Schrilles anspielte, so dass sie sich nach dem Klang umdrehten, um dann etwas zu sehen. Es gab zum Beispiel eine Szene, bei der auf einer der schmalen Bühnen etwas passierte. Plötzlich gab es einen Sound auf der anderen Seite. Als die Leute sich umdrehten, sah man für drei Sekunden eine riesengroße Maus. Die saß da. Schön, solche Irritationen. Solche Wahrnehmungsaspekte beschäftigen mich immer noch in meinen Installationen. Ich habe folgende Erfahrung gemacht: Wenn ich Lautsprecher in einer Reihe aufstelle und Töne sehr schnell von nach links nach rechts darüber laufen lasse, und wenn lange Pausen, in denen nichts passiert, dazwischen sind, dazu statisches Licht – wenn ich also drei verschiedene Zeitabläufe parallel stelle, werden Leute, die von draußen in die Installation kommen, total ruhig. Obwohl die harten, perkussiven Klänge mit hoher Geschwindigkeit über das Lautsprecher-Array schießen, beruhigt das die Besucher, statt sie nervös zu machen, wie man vielleicht erwarten würde. Ich denke, das ist auf die verschiedenen zeitlichen Ebenen zurückzuführen, die gleichzeitig vorhanden sind: Das statische Licht, das nichts macht, die großen Pausen zwischen den Events und die schnellen Geschwindigkeiten von dem Ton-Lauf, der unerwartet irgendwann beginnt. Dazu kommt das Tempo-Empfinden dessen, der gerade in die Galerie mit der Installation hereinkommt. Es ist etwas anderes, ob du vom Bahnhof angehetzt kommst oder gerade gemütlich eine Tasse Kaffee getrunken hast. Jeder Besucher bringt ja ein anderes Eigentempo mit. Ich habe den Eindruck, dass diese Kombination von Zeitabläufen beruhigend wirkt.

Emanzipation: Saints & Singing Das folgende Projekt, die CIVIL warS, ging von 1982 bis 1984. Dafür sind wir überall herumgereist, um diese fünf Stücke in verschiedenen Ländern zu produzieren, jeweils in einem ganz speziellen Produktionszusammenhang. Sie sollten schließlich zu einem großen Ganzen zusammengebracht werden. Das wäre wahrscheinlich problematisch geworden, aber es ist ja nicht dazu gekommen. Von da an haben wir regelmäßig zusammengearbeitet. Ich habe in zwanzig Jahren über 32 Produktionen mit Robert Wilson gemacht. Dabei habe ich immer versucht, jedem Stück eine andere Wendung zu geben; mir war wichtig, dass die Stücke sich in der Akustik unterschieden, dass nicht

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zu viele ähnliche Sachen passierten. Dadurch habe ich mich natürlich auch selbst weiterentwickelt. An einem bestimmten Punkt habe ich festgestellt, ich möchte jetzt auch mal richtig Musik machen. Bis dahin habe ich immer diese Sound-Collagen gemacht. Das sind auch Kompositionen, aber eben keine Musikkompositionen, zu denen man singen könnte oder bei denen man mitspielen könnte. Das nächste Stück würde meine ›experimentelle‹ Musik werden, beschloss ich. Wir waren vom Hebbel-Theater eingeladen worden, 1992 mit Studenten der Ernst Busch Schauspielschule Gertrude Steins Doktor Faustus Lights the Lights zu inszenieren. 13 Dafür habe ich das erste Mal Lieder geschrieben. Offenbar habe ich da Hits produziert. Jedenfalls war das Ding ein Bombenerfolg und ist durch die ganze Welt getourt. Das hat mich dann dazu veranlasst, das nochmal zu machen. Ein paar Jahre später haben wir ein zweites Gertrude-Stein-Stück gemacht, Saints & Singing.14 Die Studenten von der Ernst-Busch-Schauspielschule mussten nicht nur schauspielen können, sondern auch singen und ein Instrument spielen können, denn ich wollte, dass sie auch selbst die Musik spielen. Wir hatten eine »three piece band, of course«: Schlagzeug, Klavier und Bass. Aber alle anderen Instrumente sollten die Schauspieler selbst spielen. Deswegen hatten wir ein Übergewicht an Blockflöten [Lachen], aber Geige, Tuba, Klarinette waren auch vertreten. Das war übrigens eine sehr tolle Arbeitsweise: Man machte drei Wochen lang einen Workshop, in dem das Gerüst der Stücke definiert wurde. Dadurch wusste ich, welche Instrumente zur Verfügung standen. Danach habe ich das zu Hause auf dem Keyboard eingespielt, und da ich mit Notenschreiben überfordert bin, habe ich das einem Arrangeur gegeben. 15 Als ich ein Jahr später in die Proben komme, sagten mir die Studenten, dass das sehr schwer zu spielen sei. Ich dachte mir, ›das kann nicht

13 Doktor Faustus Lights the Lights, Text: Gertrude Stein, Musik: Hans Peter Kuhn, Bühne und Regie: Robert Wilson, Schauspielstudenten der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch am Hebbel-Theater, Berlin (Uraufführung am 15.4.1992). 14 Saints and Singing. An Operetta, Text: Gertrude Stein, Musik: Hans Peter Kuhn, Regie und Bühne: Robert Wilson, Schauspielstudenten der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, am Hebbel-Theater, Berlin (Uraufführung am 4.11.1997). 15 Arrangements: Andreas Schilling.

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wahr sein‹, denn wenn ich das spielen kann, kann es nicht schwer sein. Als ich es mir angehört habe, wurde mir klar, dass der Arrangeur meine Timing-Fehler mitnotiert hatte. Ich habe sie dann auch im Glauben gelassen, dass es wirklich so schwer ist [Lachen]. Saints & Singing habe ich von vornherein als Operette bezeichnet. Da es eine Operette war, stand mein Name so groß wie Bob [Wilsons] Name auf dem Plakat. Da ich mit K im Alphabet früher bin als er mit W, stand ich sogar als Erster auf dem Plakat. Das war schon ein ziemlich gutes Gefühl. Am Tag nach der Premiere gab es im Fernsehen, im SFB,16 eine förmliche Huldigung meiner Musik in einer Kultursendung. Allerdings haben sie es in den drei Minuten geschafft, mich nicht nur nicht zu erwähnen, sondern auch noch als Schlusssatz zu bringen: »Wilson hat einen Ohrwurm produziert.« Darüber war ich sauer und dachte, ich muss damit jetzt aufhören. Nach einer weiteren Produktion mit ihm habe ich gemerkt, ich kann jetzt nicht mehr, denn ich muss aufpassen, dass ich bei der Angelegenheit nicht ganz verschwinde. 17 Zumal ich bereits 1982 angefangen habe, meine eigenen Arbeiten außerhalb des Theaters zu machen: Zunächst Performances; auch mit Sound, mit Stimme und Tonband-Delays habe ich am Anfang gearbeitet. Dann ging es weiter zu Installationen hin: Zunächst reine Klanginstallationen und irgendwann auch Klanginstallationen mit Licht und schließlich sogar reine Lichtinstallationen. Als wir unsere letzten gemeinsamen Theaterprojekte hatten, war ich schon mehr oder weniger als eigenständiger Künstler ein Name in der Kunstwelt. Das waren neue Herausforderungen, die mich mehr interessierten, so dass ich nach zwanzig Jahren aufgehört habe, an Bob [Wilsons] Produktionen mitzuarbeiten. Aber wir haben gerade neulich gemailt und werden möglicherweise nochmal etwas zusammen machen. Vielleicht klappt das ja.

16 Sender Freies Berlin. 17 Eines der Probleme der Wahrnehmung von Kuhns Leistung durch die Kritik war sicherlich auch dem Genre- oder Spartenproblem geschuldet, wie folgende Anekdote zeigt: »Mit Stefan Kurt und David Moss habe ich im Theater Neumarkt in Zürich 2000 eine Performance gemacht, wo es auch um Klang ging – und um alles Mögliche. Davon gibt es wirklich viele Kritiken. Aber die Züricher Zeitung wusste nicht, wen sie schicken sollte: David Moss als Jazz-Musiker, Stefan Kurt als Schauspieler und Kuhn als ›äh, äh, äh…‹ [Lachen].«

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Sampling Wie die Stimmen der Schauspieler behandelt wurden, war nicht nur meine künstlerische Eingebung, sondern hat meines Erachtens auch mit der Zeit zu tun, in der es passiert ist. Die technischen Möglichkeiten bestimmen ja immer mit, was passiert – inhaltlich, aber auch das Gefühl, dass man mit den herkömmlichen Mitteln einfach nicht mehr weiterkommt und irgendwie versuchen muss, einen neuen Weg zu finden, wie man neue Bilder schafft. Gemeint sind nicht nur visuelle, sondern auch akustische Bilder. Wie schon gesagt, begannen die Rhythmisierungen und das Samplen Mitte der achtziger Jahre. 1987 gab es die ersten halbwegs erschwinglichen Sampler. 18 Sampler sind elektronische Kisten, die einen Eingang, zum Beispiel für ein Mikrofon, haben und einen Ausgang. Dazwischen, in der black box, kann man mit den Tönen, die man aufnimmt, alles Mögliche machen. Man kann sie vor allem schnell abrufen, anders als bei Tonbändern, die man damals verwandte. Beim Tonband musste man nach dem Aufnehmen zurückspulen, play drücken und es wieder abspielen. Beim Sampler hingegen drückt man eine Taste und hört die Aufnahme. Damit waren dann Dinge möglich, die vorher gar nicht oder nur schwer denkbar gewesen sind. Ich habe auch Tonbandstücke gemacht, bei denen ich das Verfahren des Sampelns mit Tonbändern realisiert habe. Aber das ist sehr kompliziert, weil man dabei so kleine Bandschnipsel hat und an den Klebestellen gibt es beim Abspielen oftmals ein Störgeräusch. Bei vielen Samples, also vielen Klebestellen, vermehren sich die Störgeräusche auch entsprechend. Dann stottert das so durch die Tonbandmaschine, wenn man Pech hat. Das »Donnerwetter« aus Stimmaufnahmen in Die goldenen Fenster (1982),19 das Helga Finter erwähnt hat,20 war eine 6-kanalige Komposition

18 Die ersten Sampler wurden um 1980 von Fairlight Systems, kurz darauf von E-MU Systems kommerziell vertrieben. Ein Sampler ist ein elektronisches Instrument, ein Computer, mit dem analoge Klänge digital aufgenommen (gesampelt), gespeichert, bearbeitet und wiedergegeben werden können. Die Wiedergabe erfolgt meist über eine Klaviatur. 19 The Golden Windows. A Play in Three Parts (Die goldenen Fenster. Ein Stück in drei Teilen), Regie, Bühne und Konzept: Robert Wilson, Musik: Tania León, Ton: Hans Peter Kuhn, Kammerspiele, München (Uraufführung am 29.5.1982). 20 Siehe Helga Finters Beitrag in diesem Band.

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mit Stimmaufnahmen von Maria Nicklisch, 21 die an den Münchener Kammerspielen gearbeitet hat. Sie war um die 80 Jahre alt und hatte eine Stelle in dem Stück, an der sie zwei Minuten lachen sollte. Das Publikum war am Schluss vollkommen fertig, denn alle haben mitgelacht und am Ende hat der gesamte Saal am Boden gelegen vor Lachen. Sie war großartig. Sie hat das mit so einer Inbrunst und Offenheit gemacht. Zurück zum »StimmDonner«: Ich habe ihren Text aufgenommen. Das war ein Text aus dem Stück, aus Golden Windows. Darin gab es das Wort »buzzards«, also Bussarde, sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch. Nicklisch hat es mit einem ganz harten Ansatz am Anfang gesprochen, perkussiv: »Bussarde«. Diese Aufnahme habe ich dann als ›Perkussions-Instrument‹ in dem Stück eingesetzt: »Bussarde, Bussarde, Bussarde«. Mehrmals hintereinander gelegt, als loop, als Tonbandschleife, ergibt es eine Rhythmusspur. Das Problem dabei war, dass man bei der Arbeit mit Tonbändern immer alles kopieren musste und jede Kopie war schlechter, verrauschter als das Original. Wie gesagt, ist das im Prinzip eine Sample-Technik, aber eben mit Bandschleifen gemacht, teilweise mit sehr kurzen Bandschleifen. Die Kürze ist allerdings durch den relativ großen Tonkopf begrenzt. Im Digitalschnitt kann man die Samples viel kürzer machen als mit Tonband. Ich habe aus den »Buzzard«-Aufnahmen eine 6-kanalige Komposition gemacht, die räumlich verteilt wiedergegeben wurde. Die Texte waren teilweise geflüstert oder scharf, fast perkussiv gesprochen. Daraus habe ich eine Komposition mit einer eigenen Dramaturgie erstellt. Leider habe ich das Stück nicht retten können. Durch diese ganzen Veränderungen der Technik gibt es die Bandmaschinen nicht mehr, die das Stück abspielen können. Selbst wenn die Tonbänder noch da wären und soweit intakt, dass man sie abspielen könnte, gibt es diese Mehrspur-Tonbandmaschinen nicht mehr. Für alle diese Aufnahmen, die wir damals gemacht haben, gab es keinen vernünftigen Weg der Archivierung. Es gab Audio-Kassetten, die natürlich nicht die Qualität unserer Aufnahmen hatten. Außerdem ließ der Theaterbetrieb nicht wirklich Zeit, nach der Premiere zwei Tage lang Kopien von allem zu ziehen. Das ist sehr schade. Hinzu kommt, dass bei diesen Theaterproduktionen KlangEnvironments eine besonders wichtige Rolle spielen. Es geht nicht um Musik, die notiert wird und dann von Musikern oder vom Band gespielt

21 Maria Nicklisch (1904–1995), Schauspielerin.

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wird, sondern es gibt Sound, der von da oder von dort kommt, und es gibt die Schauspieler, die von woanders sprechen. Dann setzt auf ein Stichwort eine Musik ein, dann kommt auf das nächste Stichwort ein anderer Klang. Dieser zeitliche Ablauf kann im Nachhinein nicht mehr hergestellt werden, sollten nur die Musikeinspielungen archiviert werden. Es müsste jemand mit der Stoppuhr die Vorstellung verfolgen und alles sekundengenau notieren. Aber wozu sollte man das machen, da die einzelnen Sounds vergleichsweise unspektakulär sind. Irgendwelche aufgenommenen Klänge, auf separaten Tonträgern archiviert, sind einfach Klänge. Die einzelnen Teile einer Theaterproduktion verlieren ihre Bedeutung außerhalb des Kontexts. Denn die Bedeutung der Klang- und Musikeinspielungen entsteht durch den Gesamtzusammenhang, auch durch die räumliche Verteilung und durch den Raum selbst; sie entsteht dadurch, dass die Klangelemente einen artifiziellen Raum herstellen, in dem das Publikum sich dann befindet. Mit der Zeit habe ich mir eine kleine »Library of Sounds« aufgebaut, eine Klangbibliothek mit Samples, die ich regelmäßig verwendet habe. Aus dieser Bibliothek schöpfe ich noch immer, füge aber auch immer wieder Neues hinzu. Dabei gibt es allerdings einzelne Klänge, für die ich zeitweilig eine besondere Vorliebe habe und entsprechend öfter verwende als andere. Es ist kein systematischer Einsatz, einfach eine Vorliebe für bestimmte Sounds. Und heute sind es eben andere Sounds. Einen Klang habe ich besonders gerne verwendet: Wenn man zwei Untertassen aneinander reibt, dann knirscht das ganz wunderbar. Mein Assistent hat, als er gefragt wurde, welches seine Top-Ten Audiostücke wären, dieses »Reiben«-Sample genannt. Auch Glasklirren ist ein toller Sound. Es gibt Sektgläser, die eine Kelchform haben. Wenn sie aus dünnem Glas sind, und man ein bisschen vorsichtig ist, kann man sie umkippen, und dann federn die Gläser, ein ganz fantastischer Sound. Meine Klang-Samples haben wirklich mit ganz subjektiven Vorlieben zu tun. Es geht mir mehr darum, wie ich sie zeitlich und räumlich setze. Das ist das Eigentliche, worum es geht.

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Wilsons Stimme: The Man in the Raincoat The Man in the Raincoat hat Bob 1981 in Köln beim Theater der Welt vorgestellt. 22 Wir hatten schon für Theaterproduktionen zusammen gearbeitet, und dann fragte er mich, ob ich Lust hätte mitzumachen, er solle beim Theater der Welt eine Lesung halten. Daraufhin fragte ich: »Wenn Du eine Lesung machst, was soll ich denn dann dort machen?« Ich glaube, er wusste schon ganz genau, was er machen würde. Jürgen Flimm, der damalige Intendant des Schauspielhauses, hatte ihn für diese Lesung eingeladen. Wilson gab mir neunzig kurze Textfragmente, die er irgendwo aufgeschnappt hat. Auch der Text zu Death Destruction & Detroit I war übrigens voll von solchen Sachen: U-Bahnschnipsel, man sitzt neben jemanden, der irgendwelche Sachen sagt: »Das Badewasser war aber heute morgen kalt«.23 Zu diesen neunzig Texten, gefundenen Zitaten und anderem, sollte ich irgendetwas als Musik für das Stück machen. Zuerst haben wir die Texte aufgenommen, Wilson hat sie eingesprochen, dann habe ich aus diesen neunzig Texten Tonbandkompositionen gemacht. Auf dem Band ist Bob Wilsons Stimme. Er hat diesen wunderbaren Bariton, die Amerikaner sind häufig mit diesen tiefen Stimmen gesegnet. Ich habe die Aufnahmen der Texte danach in der Reihenfolge angeordnet, in der sie aufgenommen worden waren, so dass ein Durchlauf in chronologischer Folge der Sprachaufnahmen auf Tonband vorlag. Weil ich dachte, dass die einzelnen Texte für ihn eine Bedeutung haben, bat ich Bob [Wilson], vor jedem Text die laufende Nummer des Textes aufzusprechen, so dass er die einzelnen Textstellen wieder finden könnte. Aber die Reihenfolge war für ihn natürlich völlig unbedeutend, er brauchte einzelne Stellen gar nicht wieder zu finden.

22 The Man in the Raincoat, Regie, Bühne und Stimme: Robert Wilson, Tonband: Hans Peter Kuhn, Schauspiel Köln, (Uraufführung 1981). Theater der Welt ist ein Theaterfestival, das vom 12. bis 26.6.1981 in Köln unter der Programmdirektion von Renate Klett stattfand. 23 Vgl. »Ich nahm Worte, die ich die Leute auf der Straße sagen hörte, in Restaurants, in der U-Bahn, in Taxis, im Radio, im Fernsehen« für den Text von CIVIL warS. Robert Wilson in: »the CIVIL warS – a construction in space and time. Ein Gespräch«, in: Programmheft: Robert Wilson: Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A tree is best measured when it is down, redigiert von Volker Canaris, hg. von Schauspiel Köln, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 41– 55, 41.

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Er dachte, dass ich die Nummern als Teil der Komposition haben wollte, und so blieben sie am Ende Teil des Stücks. Das hat mir gefallen. Das fertige Tonband habe ich ihm nach New York geschickt, wo er dazu das Stück entwickelt hat. Er hat also ein Theaterstück zu dem Tonband gemacht. Am Schluss war es ein Stück mit 24 Komparsen, einem Bühnenbild und eben meiner Soundarbeit, also für eine Lesung war er relativ gut ausgestattet [Lachen]. Bob [Wilson] ist ziemlich groß und diese 24 Komparsen waren alle so groß wie er, und trugen alle denselben Anzug. Links auf der Bühne stand ein kleines Häuschen, aus dem einer herauskam, dann der nächste und so weiter. Sie gingen dann rechts ab, liefen in den Keller, um von unten wieder in das Haus zu klettern und oben wieder hervorzutreten – so eine Art »Paternoster«. Deswegen mussten es 24 sein, sonst hätte der EndlosEffekt nicht funktioniert. Das Interessante an einigen Teilen dieser Tonbandarbeiten, die ich noch habe, ist für mich, wie durch die Wiederholung eines einzigen Wortes, beispielsweise das Wort »Black« mit der Zeit zu etwas ganz anderem wird. Man denkt auch irgendwann nicht mehr an Stimme. Es wird ein musikalisches Ereignis, es wird entsemantisiert. Es verliert die Bedeutung. Das haben Sie sicher gemerkt, es ist ja nicht wirklich rhythmisch. Das fällt immer ‘raus aus dem Metrum. Das ist durchaus beabsichtig. Es wird etwas Neues, ein neuer Klang, der frei ist von seiner Bedeutung. Ich muss immer dazu sagen, das sind Dinge, die parallel zu einem Bühnengeschehen zu hören sind. Es sind keine konzertanten Aufführungsteile. In anderen Teilen des Tonbands für The Man in the Raincoat habe ich Wilsons Stimme simultan auf mehrere Spuren gelegt und diese dann räumlich verteilt. Für The Man in the Raincoat hatten wir eigentlich eine traditionelle Arbeitsteilung: Man macht ein Stück Musik, gibt es ab, und dann macht jemand etwas dazu, zum Beispiel ein Ballett, hier ein Theaterstück. In den anderen Produktionen war das so, dass ich vom ersten Probentag an dabei war und schon während der frühen Proben begonnen habe, meine Klangarbeiten herzustellen. In den frühen achtziger Jahren war das noch mit Kassettenrecorder, später mit Samplern. Ich war also die ganze Probenzeit dabei und habe meine Klänge eingespielt, erst über kleine Lautsprecher, später dann über große. Man sitzt in der Probe, irgendetwas passiert und man denkt, ›das wäre doch eine gute Idee‹, aber in der Zwischenzeit geht die Probe natürlich weiter. Auch der Zufall kommt manchmal hinzu und

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etwas Tolles passiert in der Probe, was aber später gar nicht mehr im Stück erscheint. Dadurch entstehen natürlich auch Diskrepanzen. Ich habe sehr schnell improvisiert, meine Bänder eingelegt – ich hatte ein ziemlich großes Archiv dabei –, und dann habe ich abends im Studio an meinen Ideen gearbeitet, damit man sie bei der nächsten Probe tatsächlich ausprobieren konnte. Durch diese Beteiligung am Entstehungsprozess haben die Klänge sich dann so in die Inszenierungen eingewoben. Sie waren einfach Bestandteile. Hingegen war The Man in the Raincoat im Prinzip eine Auftragsarbeit: Ich hab’ das Tonbandstück komponiert und dann einfach abgegeben. Rückblickend betrachtet war Bob Wilson für meine Freiheit als Komponist, Künstler und Sounddesigner wirklich einmalig. Außer ihm habe ich nur noch zwei Regisseure kennengelernt, die ein vergleichbares Interesse an Klang im Raum, im Theater hatten. Das ist einerseits [Elizabeth] Liz LeCompte von der New Yorker Wooster Group, die den Einsatz von Medien im Theater meisterhaft beherrscht. In Deutschland war der leider viel zu früh verstorbene Klaus-Michael Grüber der Einzige, der den Klängen gegenüber eine ähnliche Offenheit und Bereitschaft zum Experiment hatte wie Bob [Wilson]. Ganz besonders erfreulich finde ich, dass dieses Interesse bei Bob nie nachgelassen hat und er nach wie vor dem Klang so einen großen Raum bietet.

His Master’s Voice(s)? Sound und Audio-Vision in Robert Wilsons Theater Zum Beitrag Hans Peter Kuhns H ELGA F INTER

Wessen Stimme hört das Publikum auf der Bühne und insbesondere im Theater Robert Wilsons? Mit dem Titel »His master’s voice(s)?« möchte ich in Form einer Frage die berühmte Werbeformel einer der ersten Schallplattenfirmen aufnehmen, die auf den Titel eines Bildes von Francis Barraud zurückgeht. Als Markennamen und Markenzeichen für Schallpatten und Grammophone behauptet dieses Logo die Quasi-Identität von liveStimme und aufgenommener Stimme, denn »His Master’s Voice« zeigt ein Hündchen, das mit gespannter Aufmerksamkeit der Stimme seines Herrn lauscht, die aus dem Trichter eines Phonographen ertönt. Die den Werbestrategen für Musikliebhaber angebracht erscheinende Metapher hinkt jedoch im Hinblick auf das Publikum von Theater, da lähmende Faszination und hündische Gespanntheit wohl für die wenigsten Zuschauer die Wahrnehmung des auditiven Geschehens einer Bühne bestimmt. Jedoch scheint mir eine solche Analogie keineswegs abwegig im Hinblick auf die Stimmen, die im Theater erklingen, weshalb hier von ›His Master’s Voice(s)‹ die Rede ist. Dabei wird es jedoch keineswegs um die Unart ästhetisch unreflektierten Bodymikings gehen, die seit Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Milleniums um sich gegriffen hat. 1 Zwar sind auch die dort vernommenen

1

Vgl. zum Beispiel Dirk Pilz, »Das Theater mit den Mikroports. Ist die Bühne kein Hort des schönen Sprechens mehr?«, in: Berliner Zeitung (4.8.2005).

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Stimmen nicht mehr Produkt einer Schauspiel- oder Gesangskunst und verdanken sich dem Geschick von Tontechnikern bzw. Sounddesignern, die sie verstärken, zurücknehmen, verlangsamen, beschleunigen und verändern, doch wird diese Soundtechnologie allein im Hinblick auf die Effizienz einer Bühnenkonvention eingesetzt. Weder wird dort die Trennung der Schauspielerstimme vom Körper in actu reflektiert, noch die Erfahrung der Stimmenteignung, die, wie es vom Musical-Business berichtet wird,2 dem Schauspieler verwehrt, sich selbst oder den Bühnenpartner auf der Bühne sprechen bzw. singen zu hören. Dagegen soll mit den Überlegungen zur Kunst des Sounds in Robert Wilsons Theater und insbesondere zum Beitrag Hans Peter Kuhns ein ästhetisches Konzept von Stimme und Sound im Zentrum stehen. So stehen Funktion und Wirkung seiner Charakteristika – Trennung der Stimme vom Körper und akusmatisches Verlauten von Stimmen und Klängen, deren Quelle unsichtbar ist – auf dem Prüfstein.

His Master’s Voice(s) Wessen Stimme folgt also der Zuschauer in Robert Wilsons Theater? Wessen Klänge vernimmt er? Im konventionellen Theater scheint dies die Stimme des Schauspielers zu sein. Doch ist diese Stimme ein komplexes Konstrukt, an dem mehrere ›Autoren‹ beteiligt sind: Der Schauspieler verlautet einen Text, dem er seine oder eine von ihm oder dem Regisseur imaginierte Stimme gibt. Der Text hat im Allgemeinen einen Autor, der ihm Textstimmen eingeschrieben hat, und die Art und Weise, wie diese gesprochen werden, wird gemäß der jeweiligen Interpretation von Regisseur oder Regisseurin gelenkt. Je nach ästhetischer Entscheidung wird so der Akzent entweder auf die Stimmen des Textes gelegt, die der Schauspieler inkarnieren, inkorporieren oder in ihrer lautlichen und rhythmischen Materialität ausstellen kann; oder aber es wird die Verfasstheit der Stimme des Schauspielers unterstrichen, die mit Timbre und persönlichem Melos die Textstimme absorbiert, um einen vom Schauspielerkörper signierten Klang auszustellen; ein dritter Weg ist denkbar in der Verbindung beider Akzentuierungen, die Vokalkörper und Textkörper in ein dialektisches Verhältnis

2

Vgl. Jonathan Burston, »La technologie audio, le corps chantant reconfiguré et les mégamusicals«, in: Le Son du théâtre II, II. Dire l’acoustique, théâtre/public 199, (2011-1), S. 95–99.

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treten lassen. In allen drei Fällen hat die gehörte Stimme der Bühne keine originäre Quelle, sondern ist durch drei Instanzen vermittelt: die imaginäre Körperstimme des Schauspielers, das vokale Imaginäre des Regisseurs und die Textstimme, die in ihn ein Autor durch Stil und poetische Strukturierung einschreibt. Der jeweilige Meister der vom Zuschauer der Bühne gehörten Stimme(n) ist also auch im konventionellen Theater jeweils ebenso abwesend, wie das vom Grammophontrichter repräsentierte Herrchen des lauschenden Hundes. Im Theater Robert Wilsons, wie wir es seit der Mitarbeit von Hans Peter Kuhn ab 1979 kennen, kommt eine weitere Instanz technologischer Art hinzu. Sie stellt die scheinbare Einheit dieser dreifachen Autorenschaft des Sprechens auf der Bühne, für den der Schauspieler der Schalltrichter ist, in Frage, ja dekonstruiert sie: Durch Mikrophone verstärkt und über Lautsprecher im Saal und auf der Bühne übertragen, ist die Stimme nun tatsächlich vom Körper des Schauspielers getrennt, aber auch von den Stimmen des Textes, wenn dieser durch die Arbeit am Sound fragmentiert, verdoppelt, geloopt und gesamplet wird und die Segmentierung nicht mehr allein durch die Atemführung einer Prosodie, sondern durch punktierende Klang- und Geräuscheinspielungen erfolgt. So sind Affektkolorierungen des Gesprochenen nicht Ergebnis der Stimmführung des Schauspielers, die Klangfarbe, Tonhöhe und -stärke sowie Sprechtempo variiert. Diese Stimm(ungs)variationen werden hingegen erzielt durch Einspielen atmosphärischer Musik, durch Vocoder und ähnliche Soundtechnologien, welche die Stimme mittels Lautsprecher übertragen, nahe bringen und entfernen, sie im Raum wandern lassen, von Lautsprecher zu Lautsprecher, oft mitten im Satz an einen anderen Ort springen lassen, sie beschleunigen oder verlangsamen, verdoppeln und mit sich selbst im Kanon sprechen lassen. An die Stelle des Schauspielers, der seine Stimme führt, des Regisseurs, der sie lenkt, oder des Textes, der distinkte Lautlichkeit und Rhythmus vorgibt, wie auch an die Stelle der imaginären Instanzen, welche die Stimmgebung beeinflussen, tritt hier ein einziger Meister, der Tonmeister: er ›stiehlt‹ die Stimmen, um sie nach seinen musikästhetischen Vorstellungen zu formen und zu verändern, so dass der seltene Moment, in dem die Schauspielerstimme quasi in ›Roh-‹ oder ›Naturform‹ erklingt, zu einem hochdramatischen Moment werden kann. – Ich komme später darauf zurück.

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Bühnenmusik? Hier wird schon deutlich, dass es sich bei der akustischen Seite von Wilsons Theater nicht eigentlich um Bühnenmusik handelt. Dieser Begriff ist an die Trennung von Musik- und Sprechtheater gebunden, die im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts erfolgte, als 1672 mit dem Opernprivileg Ludwigs XIV. für den Komponisten Jean-Baptiste Lully die Voraussetzung für die Spartentrennung von Oper und Tanz vom Sprechtheater geschaffen wurde. Von nun an hatte die Musik, wie der Tanz auf der Bühne, die noch in Molières und Lullys oder Charpentiers Ballett-Komödien, wie Le Bourgeois Gentilhomme (»Der Bürger als Edelmann«) oder Le Malade imaginaire (»Der eingebildete Kranke«), integraler Bestandteil der Handlung waren, nur noch verdoppelnde oder verzierende Funktion, wie das Dekor (»Verzierung«) genannte Bühnenbild: Musik übermalt den Lärm und die Geräusche des Bühnenbildwechsels, möbliert für das Ohr den Dekor und gibt der Rede eine Emphase, die das schauspielerische Pathos verstärkt. In dieser Funktion wird sie noch heute systematisch, beispielsweise in Ariane Mnouchkines Theater, eingesetzt, um Insuffizienzen der Schauspielkunst auszugleichen. Mit den Worten der leider verstorbenen talentierten Regisseurin Elke Lang: »Musik wird dann eingesetzt, wenn die Schauspieler es nicht mehr schaffen«. Eine cache-misère also. Ganz anders hingegen Musik und Sound bei Wilson. Sie schaffen in seinem Theater zusammen mit der technologisch bearbeiteten Stimme erst den Raum – ein Soundscape für die Ohren, das im Dialog mit dem landscape für die Augen steht: ein Dialog, der das Gesagte kontrapunktieren, negieren, in Frage stellen und in wenigen, hochdramatischen Fällen, auf die ich zurückkommen werde, auch affirmieren kann. Und sie schaffen für die Stimme einen inneren Raum, in dem Sprechen sich selbst erfährt, sowohl für den Performer als auch für den Schauspieler.

Sound-Künstler Wilson? Wilsons Theater, das ich seit mehr als fünfunddreißig Jahren verfolge, hat einen typischen Sound, den ich jüngst in seinem szenischen Hörspiel, Monsters of Grace II, wie eine Proust’sche Madeleine glücklich wieder-

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fand:3 singuläre, elastisch bewegliche Stimmen mit charakteristischem Timbre und persönlichem Melos, frei von Hysterie und jeglichem habitualisiertem (Sta[ats]dttheater-) Ton – hier diejenigen von Anna Graenzer, Isabelle Huppert, Angela Winkler, Jürgen Holtz, Christopher Knowles und Wilson selbst –, punktiert von Geräuschen und Klängen wie Schüssen, Telephonklingeln, Hallen von Schritten, Schlagen von Türen, Zerschellen von Glas, Hundebellen und Vogelzwitschern, Sturmbrausen und Wellenrauschen, Wasserplätschern und -tosen, und dann und wann von einem fernen, langgezogenen Cello-, Violinen- oder Flötenklang, der in entscheidenden Momenten zusammen mit geloopten Stimmfragmenten zu ohrenbetäubendem Lärm ansteigen kann, um dann wieder, nach einem langen Moment der Stille, der Musik der Worte Platz zu machen. Es alternieren zudem in diesem Falle auch Stimmen Abwesender – von Toten wie Alexander Moissi, Ezra Pound und Gertrude Stein oder von Lebenden wie Lady Gaga – mit denen der Anwesenden, um Texte von Lukrez, Goethe, Hölderlin, Wittgenstein, Ezra Pound, Gertrude Stein oder Christopher Knowles hören zu lassen. Wie schon zuvor mit John Cages Lecture on Nothing, den BeckettStücken Happy Days und Krapp’s Last Tape oder zuletzt mit The Old Woman nach Daniil Charms, das im November 2013 im Théâtre de la Ville, Paris, mit Willem Dafoe und Mikhail Baryshnikov Premiere hatte, scheint Wilson mit diesem Hörspiel zu seinen Anfängen zurückgekehrt zu sein. Denn als »dance play«, »opera« oder »play with music« untertitelt, waren Robert Wilsons erste, oft nur als »Theatre of Visions« oder »Theatre of Images« (Stefan Brecht 4 / Bonnie Marranca5) apostrophierte Theaterproduktionen seit ihren Anfängen Ende der sechziger Jahre auch immer Theater des Klangs und der Stimme. Sound (Musik und Geräusche) sowie

3

Robert Wilson, Monsters of Grace II, Live-Hörspiel, vom SWR2 und WDR zusammen mit der ARD am 9.11.2013 im ZKM in Karlsruhe live produziert und am folgenden Tag im Badischen Staatstheater Karlsruhe live wiederholt.

4

Stefan Brecht, The Original Theatre of the City of New York: From the mid-60s to the mid-70s, Bd. 1, The Theatre of Visions: Robert Wilson, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978.

5

Bonnie Marranca, The Theatre of Images: Robert Wilson, Richard Foreman, Lee Breuer, New York: Drama Book Specialists, 1977.

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bearbeitete Stimmen waren ihr integraler Bestandteil. 6 Zuerst mit Einspielungen von Schallplatten, dann von Tape-Aufzeichnungen wurde ein Bühnensound geschaffen, bei dem insbesondere die Trennung der Stimme der Performer vom Körper – zuerst durch Aufzeichnungen und, seit Mitte der siebziger Jahre, auch durch Bodymikes – charakteristisch war: Diese Techniken ließen einerseits mit einem distanzierten Verhältnis zum Gesagten die Funktion der Prosodie als Kohärenz und Bedeutung schaffend erfahren und unterstrichen andererseits die Atopie und Fremdbestimmtheit der Stimme als ein Zwischen von Körper und Sprache. Seit 1968 waren neben Komponisten wie Alan Lloyd, der bis 1979 Partituren für Wilsons Stücke entwickelte, Musiker und Tontechniker an Wilsons Produktionen beteiligt: so der Violinist Michael Galasso, der beispielsweise Violinsequenzen in Form einer minimal music in A Letter for Queen Victoria auf der Bühne spielte, und der Tontechniker Igor Demjen (1970–1974), der aus aufgezeichneten ›natürlichen‹ Klängen und gefundener Musik aus dem high- und lowBereich ein Soundscape zeichnete. Auch Wilson selbst experimentierte mit Klang: dem Klang von Worten, die ihm die Lautpoesie Christopher Knowles für gemeinsame Performances lieferte und dessen Umgang mit Sprache Gegenstand der »opera« A Letter for Queen Victoria von 1974 war. Für Wilsons frühe Stücke wurde so jeweils eine auditive Partitur (score) entwickelt, die ad hoc live gespielt oder mit Tape-Einspielungen gemixt wurde und sich wie eine autonome Tonspur zu den Bildsequenzen der Bühne verhielt. Oft von den Produzenten selbst als Schöpfer von Atmosphäre und Farbe für die affektive Beteiligung des Zuschauers verstanden,7 war sie jedoch nicht illustrativ. Zwar tauchte diese Tonspur in ein Klangambiente ein, doch forderte sie auch den Zuschauer auf, das Sinnpotential des Klang- und Sprachmaterials der sound column in seiner jeweiligen Perzeption selbst zur Audiovision zu vollenden. Klangausschnitte aus der Zwölfstundenoper Life and Times of Josef Stalin von 1973, die in 17 Akten mit 150 Performern Material aus vorausgehenden »Opern« zusammenfügte – so King of Spain und Life and Times of Sigmund Freud von 1969, Deafman Glance von 1970 und ebenfalls Szenen aus der erst 1974 produzierten

6

Vgl. Laurence Shyer, Robert Wilson and his Collaborators, New York: Theatre Communications Group, 1989, darin: Kapitel IV: »Sound and Music«, S. 203– 240.

7

Vgl. Demjen in: Laurence Shyer, ebd., S. 209.

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A Letter for Queen Victoria antizipierte –, sind auf einer Vinyl-Schallplatte8 mit 33 1/3 Umdrehungen pro Minute zu hören, die ich im Februar 1978 in einer Buchhandlung in der Spring Street in New York gefunden habe. In 16 Tracks werden mit der Musik von Alan Lloyd und dem Sound von Igor Demjen (Original-)Stimmen und Miniszenen der Theateraufführung vor Ohren geführt: So ist beispielsweise im Track 05, And, eine Schreiarie Cindy Lubars9 aus A Letter for Queen Victoria zu vernehmen, die am Anfang des Tracks mit sechs in Länge und Lautstärke ansteigenden und an seinem Ende mit sieben absteigenden Schreien eine alte Frauenstimme mit leicht texanischer Färbung rahmt: Robert Wilsons Großmutter, Alma Hamilton, berichtet als Queen Victoria von den Pillen, die sie täglich einnimmt, um den Körper in Gang zu bringen.10 In Track 07, Times, wiederholt Christopher Knowles dreimal »Emily likes the TV«, ebenfalls in A Letter for Queen Victoria zu hören, unterbrochen nach dem zweiten Durchlauf von Robert Wilson mit dem Text: »The fish was out of the water«. Die einzelnen Tracks gemahnen an Sound Poems, konkrete Poesie oder auch an Klangsynthesen des italienischen Futurismus. Man kann hier schon sagen, dass charakteristische Stimmen und Naturklänge als Material verwendet werden, das aus dem Zusammenhang gegriffen, musikalisch organisiert im Geiste von John Cage wird, für den alles, was sich dem Ohr darbietet, Musik ist oder zu Musik werden kann.

8

Die Schallplatte (33 1/3 rpm) mit einem weißen Cover ohne jegliche Beschriftung gibt als einzigen Hinweis auf dem Platten-Etikett: The Life and Times of Joseph Stalin, Byrd Hoffman School of Byrds, 112973 [1973], Side 1: 1. THE/ 2. BEACH/ 3. LIFE/ 4. DRAWING ROOM /5. AND/ 6. CAVE/ 7. TIMES. Side 2: 1. FOREST/ 2. OF/ 3. TEMPLE/ 4. JOSEPH/ 5. BEDROOM/ 6. STALIN/ 7. PLANET/ 8. OPERA.

9

Der Hinweis auf Lubar stammt von Hans Peter Kuhn. Im Stück wird dieser Schrei als »prolonged frail scream« von Alma Hamilton am Ende ihres Pillentextes ausgestoßen, vgl. Stefan Brecht, The Original Theatre of the City of New York. From the mid-60s to the mid-70s, Book I: The Theatre of Visions: Robert Wilson, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1978, S. 288–289.

10 Zum Kontext dieser Passage am Anfang des Stücks, vgl. ebd., S. 289. In verschiedenen Vorträgen und Interviews seit 1978 berichtete Wilson, dass dieser Text auf die Antwort zurückgehe, die ihm seine Großmutter auf die Frage, »How are you?«, gegeben habe, als sie ihn besuchte.

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Ton-Meister und Klang-(Ver)Dichter Hans Peter Kuhn Diese ersten Ansätze von Sound in Wilsons Theater scheinen jedoch nicht in der gleichen Weise wie die visuelle Ebene durchstrukturiert gewesen zu sein. So sieht Phil Glass, der 1975 bis 1976 mit Wilson die Oper Einstein on the Beach 11 entwickeln wird, gerade die einzige Schwäche der vorherigen Theaterarbeit Wilsons im auditiven Aspekt: »The weak area of the work was the use of music, which was sensitive but had no pronounced character.« 12 Die Zusammenarbeit mit dem Toningenieur und Soundkünstler Hans Peter Kuhn, während zwanzig Jahren (1978–1998), wird dann zur Entwicklung einer ›sound‹ oder ›music score‹ führen, die das Pendant zu Wilsons Szeno- und Choreographie der Bühne darstellen wird. Ihre Funktion ist so weniger die einer musique d’ameublement (Erik Satie) oder eines »sonic cocoon«, wie dies Laurence Shyer formuliert,13 vielmehr wird sie zu einer eigenständigen semiotischen Kraft in Wilsons Theater: Hans Peter Kuhn systematisiert, verfeinert und erweitert die bisherigen Verfahren des nun vom Sound Desk gelenkten Einsatzes von Bodymike und später Mikroport ebenso wie den Einsatz von Lautsprecherdispositiven auf der Bühne und im Zuschauerraum, um ihnen zugleich nicht nur eine musikalische sondern auch eine kritische Rolle im Hinblick auf die Wahrnehmung zu geben. Wie sein Vorgänger Igor Demjen, der, neben dem Einsatz von Tonaufnahmen von E- und U-Musik, vor allem mit zufällig gefundenem Klangmaterial arbeitete, das auf Tapes analog aufgenommen worden war,14 wählt auch Kuhn vorrangig Klänge aus, die ›natürlich‹ hervorgebracht werden. So scheint er auf den ersten Blick nicht nur in John Cages Fußstapfen, sondern vor allem auch in die des Pioniers der musique concrète, Pierre Schaeffer, zu treten, der konkrete Klänge von ihrer Quelle und aus ihrer Umgebung löst, um sie nach musikalischen Prinzipien so neu zu organisie-

11 Einstein on the Beach, an Opera in Four Acts, von Robert Wilson und Philip Glass mit einer Choreographie von Andrew de Groat, Uraufführung im Théâtre Municipal d’Avignon, im Rahmen des Festival d’Avignon (25.7.1976). 12 Vgl. Shyer, S. 213 (siehe Fn. 6). 13 Ebenda, S. 235. 14 Ebenda, S. 207ff.

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ren, dass sie, ihrer Herkunft entkleidet, abstrakt klingen.15 Doch im Gegensatz zur Praxis konkreter Musik,16 verwendet Kuhn, wie er in einem Vortrag in Gießen 1994 unterstrich, 17 zumeist Klänge, die der Zuhörer kennen und mit denen er ein Gedächtnis oder eine Situation verbinden kann. Kuhns Arbeit scheint so hauptsächlich auf eine Verfremdung der Zuhörerkontextualisierung abzuzielen: Die mit Klang und Stimmen verbundenen Erwartungen und Affekte werden in der neuen Rahmung für die Wahrnehmung dekonstruiert und eröffnen dem Zuschauer Sinnpotentiale, die seiner nach subjektivem Gedächtnis und Erfahrung erfolgten Zuordnung von Gehörtem und Gesehenem entspringen. So führen die Dekontextualisierung von Klang, Geräusch und Stimmen durch technische Modifizierung und ihre Musikalisierung durch Kürzen bzw. Verändern dank zeitlicher Organisation und Verbindung nach Kriterien der Ähnlichkeit und des Kontrastes wie auch die Entwicklung oder Reihung musikalischer Einheiten und Parameter, wie Klang, Lautstärke, Dichte, keineswegs zu einer Befreiung zum ›reinen‹ Klang, wie dies beispielsweise Volker Straebel18 nahelegte. Vielmehr werden so zuerst die affektive Kraft des Klangs wie auch seine, dem situativen Kontext der Klangquelle entspringenden, narrativen Potentialitäten für das Imaginäre des Zuschauers freigelegt. Zugleich fügt die Veränderung des bekannten Klangs diesem einen Aspekt des Unheimlichen hinzu, durch den Umschlag von Vertrautem in Fremdes. Der Affekt- und Situationsgedächtnis aufrufende veränderte Klang von Geräuschen und Worten ermöglicht dem Zuschauer simultan mit der Lust an ihrer Musik, jeweils singuläre Hypothesen über das Wahrgenommene aufzustellen.

15 Vgl. Pierre Schaeffer, Traité des objets musicaux. Essai interdisciplines, Paris: Seuil, 1966. 16 Ihr wird seine Arbeit oft zugeordnet, vgl. Volker Straebel, »Zwischen musique concrète und intermediärer Erfahrung«, in: Hans Peter Kuhn, Licht und Klang. Light and Sound, Heidelberg: Kehrer, 2000, S. 17–18. 17 Hans Peter Kuhn in einem Vortrag über seine Arbeiten am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen am 28. Juni 1994. 18 Straebel, in: Kuhn, Licht und Klang, 2000; S. 17–18 (siehe Fn. 16).

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Der akusmatische, das heißt der seiner sichtbaren Quelle entkleidete Klang 19 bekommt so die Rolle eines acousmètre, eines Maßes, aber auch eines Meisters des Gehörs. Hier ist zu fragen, inwieweit für ihn seine von Michel Chion20 für den Film behauptete Rolle einer allmächtigen, allgegenwärtigen und allwissenden Instanz hier noch gültig ist. Mit Hans Peter Kuhn erhält der Tonmeister in der Tat eine für die Performance neue Rolle, die ihn zum Herrn über Ton und Klang der Stimmen der Spieler macht: Er erst schafft den gehörten Stimmentext, indem er ihre gestohlenen, vervielfältigten, herangeholten und entfernten Stimmen, oft in Höhe, Tiefe und Tempo verändert, durch die Lautsprecher im Raum auf Reise schickt, und sie so als Elemente eines Klangenvironments, eines Soundscapes hörbar macht. Als derjenige, der unsichtbare Lautquellen musikalisch organisiert, trägt er in der Tat entscheidend zur Audiovision von Wilsons Theater bei. Die Auswirkungen seiner Arbeit auf Wort, Stimmen und Sound unterscheiden sich jedoch von denen des akusmatischen Meisters Chions: Kuhns Arbeit zeigt nämlich die Charakteristika einer Ton- und Klangdichtung, die nach poetischen Prinzipien einen sonoren Text organisiert, der in Dialog mit dem visuellen, poetisch organisierten Text Wilsons tritt. Denn die Prinzipien, nach denen beide, der optische und der akustische Bereich organisiert sind, sind die einer poetischen Funktion in dem Sinne, den Roman Jakobson für die Sprache herausgearbeitet hat:21 Die poetische Funktion projiziert die metaphorische Struktur des Paradigmas nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit auf das metonymische Syntagma, das durch eine Verknüpfung nach dem Prinzip der Verschiebung und Angrenzung die Syntax überlagert. Wilsons Bilder und Szenen wie auch Kuhns Worte und Klänge bzw. Geräusche gehorchen einer Struktur von Ähnlichkeit und UnÄhnlichkeit, in der Gesehenes und Gehörtes zu auditiven und visuellen Resonanzreihen und -rhythmen verknüpft werden, die vom Zuschauer wie audiovisuelle Reime oder Verse gelesen werden wollen. Wie bei der Dich-

19 Der Begriff der Akusmatik wurde zuerst von Pierre Schaeffer theoretisiert, vgl. ders., Traité des objets musicaux, S. 91–99 (siehe Fn. 15). 20 Vgl. Michel Chion, La voix au cinéma, Paris: de l'Étoile 1982, S. 25–33. 21 Vgl. Roman Jakobson, Essais de linguistique générale, (aus dem Englischen von Nicolas Ruwet), Paris: de Minuit, 1963, darin: »Linguistique et poétique«, S. 209–248.

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tung kann so der Rezipient seine Aufmerksamkeit allein auf die auditive bzw. visuelle Ebene konzentrieren oder aber, ausgehend von der poetischen Struktur, die Sinnpotentialitäten aufzulösen suchen. Abschließend möchte ich nun mit konkreten Beispielen das bisher Gesagte durch Anschauung bzw. Anhörung ergänzen.

Death Destruction & Detroit, Berlin 1979: Akt II, Szene 9 Die erste Arbeit von Robert Wilson an einem deutschen Theater,22 der alten Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin, war auch die erste Zusammenarbeit mit Hans Peter Kuhn. Bei diesem »Stück mit Musik in zwei Akten. Eine Liebesgeschichte in 16 Szenen« war noch zum letzten Mal der Komponist Alan Lloyd beteiligt, der zum Beispiel für die erste Szene der ersten Aktes, »A Louis-Quinze Interior«, eine Musik lieferte – nach meiner Erinnerung ein Klavierstück –, die an Salonmusik des 19. Jahrhundert gemahnte. Sie grundierte atmosphärisch eine Szene, in deren drei Abschnitten, A, B, C, eine junge Frau (Sylvia Broermann / Heike Pfitzner), ein junger Mann in blauer Offiziersuniform mit französischem Akzent (Philippe Chemin) und ein zweiter mit eher preußischer Färbung (Otto Sander) Smalltalk aus vorgestanzten Satzsegmenten austauschten, der in der Mitte der Szene B durch die Zeitangabe, »zwei Wochen später«, von einer akusmatischen männlichen Stimme punktiert wurde. Die diese Szene in der visuellen Struktur spiegelnde erste Szene des zweiten Aktes, Szene 9, firmiert als »A Contemporary Interior«. Während das Bühnenbild der ersten Szene des ersten Aktes, wie ich mir damals notiert hatte, an eine Filmszene aus den dreißiger Jahren erinnerte, zum Beispiel Viktoria und ihr Husar von 1930, zeigte die erste Szene des zweiten Aktes einen durch vertikale, gleißende Lichtsäulen gebildeten Gitterraum auf schwarzem Grund, auf den sich sechs Türen öffneten, die bei jeder Öffnung ebenfalls mit gleißendem Licht blendeten. Die Musik, die Hans Peter Kuhn hierfür ausgewählt hatte, stand in extremem Kontrast zur visuellen und gestischen Struktur dieser in

22 Death Destruction & Detroit. Ein Stück mit Musik in 2 Akten. Eine Liebesgeschichte in 16 Szenen, von Robert Wilson. Deutsch von Peter Krumme und Bernhard Samland. Musik: Alan Lloyd. Uraufführung an der Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin (12.2.1979).

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Schwarz-Weiß gehaltenen Szene. In ihr erklang nämlich das Köln Concert von Keith Jarrett 23 in seiner fast gesamten Länge von ungefähr dreißig Minuten für eine Abendgesellschaft aus acht Paaren, in Frack und langem schwarzen Abendkleid: In Abschnitt A bewegten sich diese Paare innerhalb des Lichtsäulenkäfigs in einem präzis synchronisierten Gesellschaftstanz, am Ende punktiert durch befrackte Kellner, die auf blitzenden Tabletts Getränke und Speisen anboten, während im folgenden Abschnitt B einzelne Paare sich langsam lösten und mit ihnen die Bewegungen, so dass nun in Abschnitt C alle Performer einzeln den gesamten Bühnenraum tanzend ausmaßen und so das Lichtsäulengefängnis aufbrachen und sprengten. Dieses ›Gefängnis‹ war historisch extrem aufgeladen: Wilson hatte in den Bühnenboden der alten Schaubühne Löcher für Fluter-Scheinwerfer bohren lassen, die in der Manier der Flakscheinwerfer von Albert Speers Lichtdom, auf schwarzem Grund einen von Lichtgittern begrenzten quadratischen Raum zeichneten. In ihm bewegte sich die Abendgesellschaft zuerst wie Gefangene synchron im Paartanz zu Jarretts freien Improvisationen, um dann in den Abschnitten B und C sich langsam aus der Synchronbewegung zu lösen und die von den Scheinwerferlichtsäulen gesetzten Grenzen zuerst paarweise, dann einzeln zu überschreiten. Zwei ältere Personen hatten hier eine besondere Rolle: ein Mann, ebenfalls in schwarzem Frack und mit einem Menjoubärtchen, das Hitler konnotieren konnte, tanzte selbstvergessen während der ganzen Szene ohne Pause und ohne die Grenzen der Lichtsäulen zu beachten; dabei schaute ihm ein kleiner Junge in roter Husarenuniform von der Bühnenrampe aus zu. Eine alte Frau, die sich aus der Abendgesellschaft gelöst hatte, brachte dazu jeweils in der Mitte von Szene A und B zwei Texte zu Gehör: Der erste (A) berichtete von einem Traum, in dem sie bei der Zubereitung eines »Königskuchen« anstelle des Zuckers ein Kilo Salz verwendet hatte, und der zweite (B) von einem weiteren Traum, in dem sie ebenfalls für Freunde gekocht hatte, die jedoch aus der Vergangenheit und in fremden Sprachen zu hören waren. Die freien Klavierimprovisationen von Keith Jarrett, die Kuhn nach seinem eigenen Geschmack ausgewählt hatte, aus Trotz, wie er sagte, gegen Wilson, mit dem sich bis dahin keine Verständigungsebene gefunden hat-

23 Keith Jarrett, The Köln Concert, (Solo-Klavierimprovisation in der Kölner Oper als Schallplatte im selben Jahr veröffentlicht), 1975.

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te,24 hatten hier eine entscheidende semiotische Funktion für diese visuell enigmatische Szene: Die Ungeheuerlichkeit des Einsatzes eines Elements der Nazi-Ästhetik, nämlich der Flakscheinwerfer, 1979 auf einer deutschen Bühne muss hier besonders unterstrichen werden, zumal auch andere Indizien auf eine Auseinandersetzung Wilsons mit der Theatralität der politischen Inszenierung des Nationalsozialismus hindeuteten: So war von der Schaubühnen-Leitung zwar die Verwendung von Fotos des Hitlerstellvertreters, Rudolf Heß, im Programmheft unterbunden worden, doch eine ihn evozierende Figur geisterte mehrmals durch die Szenen von DD&D: so der Mann vor der Mauer im Prolog, der in Kostüm und Gestus – er hielt einen weißen Stab in der Art, wie der Gefangene Heß eine Schaufel im Garten des Gefängnisses Spandau25 – ebenso an Heß erinnerte wie ein in der Menge landender Fallschirmspringer in der dritten Szene des ersten Aktes oder der »heil, hilt« rufende Pilot eines Raumschiffs in der darauffolgenden vierten Szene an dessen Landung in England erinnerte, und ein an den Siegfried Fritz Langs gemahnender Drachentöter (II,15) den deutschen RetterMythos aufrief. Diesem politischen Kontext entreißt Wilsons Szenographie das ästhetische Mittel des vertikalen Bodenscheinwerfers, der Räume durch Lichtlinien und Lichtsäulen zeichnet. Die von Hans Peter Kuhn gewählte Musik gibt es der Bühne zurück. Denn die affektive Evaluation der Szene durch die Musik determiniert eine Wahrnehmung der Szene, die Keith Jarretts Musik zum befreienden Aktanten macht: Dem Betrachter erscheint es so, als ob die freien Klavier-Improvisationen durch ihre Insistenz und Dauer die Synchronisierung der Tanzbewegungen unterminierten, die Begrenzung der Lichtsäulen durchbrächen und so den Figuren die Lust freier Bewegung wiedergäben, die bisher allein an den Alten mit dem briefmarkengroßen Oberlippenbärtchen delegiert war. Eine Traumszenerie wird zum Bild eines vom Blick fixierten Alptraums: Der von der Frau gesprochene Text lässt für den Blick den Lichtraum als Gefängnis erscheinen, in dem das servierte Essen versalzen, Freunde verschwunden, Sprachen

24 Kuhn in: Shyer, S. 234–235 (siehe Fn. 6). 25 Ein solches Foto von Heß war damals in den Printmedien abgedruckt, es stammte aus einem Film von Eugene K. Bird (vgl. seine Biographie, The Loneliest Man in the World, 1972) und ist abgebildet im Katalog der Ausstellung Robert Wilson, From a Theater of Images, hg. von Robert Stearns und John Rockwell, Cincinnati: The Contemporary Arts Center, 1980, S. 58.

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fremd wurden. Die Befreiung von diesem Alptraum durch die Musik ist so auch eine Öffnung des Blicks auf die Schönheit eines bisher politisch kompromittierten ästhetischen Mittels. Eine Audiovision des Zuschauers, welche die kontrastiven Sinnpotentiale von Gehörtem und Gesehenem verbindet, kann so die hochpolitische, kritische Funktion des Sounds in dieser Szene erkennen. Zum Abschluss sei noch kurz auf zwei weitere Beispiele eingegangen, die eine Kookkurrenz von Klang und Bild vorführen, ein Zusammenfallen von Bild und Ton, wie es im konventionellen Theater Usus ist, und das durch Wilson und Kuhn zu einem kritischen Verfahren wird.

Audiovisionskatastrophe: Golden Windows (1982), Teil b, Szene XI–XIII Zu Ende des Mittelteils, part b, von Golden Windows an den Kammerspielen München 1982,26 stellt sich ein bei Wilson seltenes Zusammenfallen von Szenographie und Sound, Worten und Aktion als Klimax ein: In dem Moment, als das kleine schwarze Wächterhaus, das sich unmerklich von rechts nach links bewegt hat, ungefähr in der Mitte der Bühne angekommen ist, bricht die Erde in einem Zigzag-Riss auf, der Mond verschwindet und Felsbrocken fallen vom Himmel. Der Mann (Peter Lühr) hat zuvor der Frau (Maria Nicklisch) einen Revolver gegeben und war abgegangen. Auch war schon ein Gehängter am Strang (Edgar Selge) am Bühnenhimmel erschienen, auf dessen Wortfetzen die Frau ununterbrochen »Schraubenzieher« antwortete. Es war von Mord die Rede gewesen, akusmatische Stimmen gaben Anweisungen und Kommentare, ein Klavier spielte »Over the Hills and Far Away«, die akusmatische Stimme pfiff »A Bicycle Built for Two«, eine andere dann »Happy Birthday«. Eine Telefonstimme spricht nun von Kranichen und Bussarden, die Frau sagt: »und das war noch nicht alles«, da setzt das Erdbeben ein, bei dem sich die Erde teilt und Felsbrocken herunterfallen, zum Lärm einer Geräuschcollage, die das Ereignis für’s Ohr verdoppelt. Kuhn hatte sie aus verschiedenen von Maria Nicklisch gesprochenen Tonaufnahmen eines Textes zusammengefügt: die Collage

26 Robert Wilson, The Golden Windows. A Play in Three Parts / Die Goldenen Fenster. Ein Stück in drei Teilen. Aus dem Amerikanischen von Michael Wachsmann, Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, (29.5.1982).

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besteht aus einem auf der ersten Spur des Tonbandes normal gesprochenen, auf der zweiten geflüsterten Textes, sowie seiner nochmals sechs Mal mit verzögertem Einsatz aufgenommenen Version, die in ein MultitrackMagnetophon verteilt und schließlich über dreißig Lautsprecher in den Zuschauerraum übertragen werden zusammen mit einem Loop, in dem Nicklisch »Bussard« sagt, und der wie eine Trommel die Toncollage als Generalbass punktiert.27 Der Moment, in dem Bild und Klang bzw. Geräusch zusammenfallen, wie das im traditionellen Theater der Fall ist, wird hier zu einem Moment des Terrors, denn er liefert dem Affekt aus und verschließt für den Zuschauer den Raum zwischen Auge und Ohr. Den Lärm dieser Katastrophe aus Sprache zu generieren, wie dies Kuhns Toncollage tut, weist nicht nur auf die Gewalt hin, die das Zusammenzwingen zweier heterogener Wahrnehmungsordnungen bedeutet, sondern auch auf das Kollabieren einer Sprache, die keinen Raum mehr für das Imaginäre lässt.

Stimmdifferenz als Genderdifferenz: Orlando Das Solo Orlando mit Jutta Lampe an der Schaubühne 198928 lässt die Genderwandlungen des/der Protagonistin nicht über das Mimen von Männer- und Frauenstimmen gemäß ihrer Tonhöhen und -stärken hören, doch steht die Stimme mit ihren Artikulationsvarianten im Zentrum. Am Anfang ist ein modulierter Vogelruf akusmatisch zu hören, ehe man hinter dem Gazevorhang, der die Bühne abschließt, Jutta Lampe auf einer Liege im Hamlet-Wams sieht, einen aufblitzenden Totenschädel aus Kristall zu den Füßen. Die Stimme, die aus den zahlreichen Lautsprechern im Saal dringt und dort wandert, geht langsam in die Menschenstimme der Lampe über, so als habe sich der Waldvogel in dieses androgyne Wesen verwandelt. Diese Stimme bewegt sich während der Performance ununterbrochen zwischen Lautsprechern im Zuschauerraum und auf der Bühne, mitten im Wort oder Satz die Übertragungsquelle wie auch die Lautstärke und das Tempo wechselnd. Vokale Großaufnahmen, die die ferne Performerin ganz nahe bringen, alternieren mit Totalen, die sie von der Rampe auditiv in den Bühnenfond katapultieren. Das Bodymike und das Übertragungsdispositiv trennen nicht nur die Stimme vom Körper, sondern lassen diesen auch vor dem

27 Vgl. die Ausführungen von Hans Peter Kuhn in: Shyer, S. 238 (siehe Fn. 6). 28 Uraufgeführt an der Schaubühne am Lehniner Platz (21.11.1989).

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imaginären Auge tanzen. Die Determinierung und Lenkung der Wahrnehmung durch das Vernommene wird so zur Erfahrung des Zuschauers. Allein ein Moment, ungefähr in der Mitte der Performance, lässt die Stimme ohne technische Unterstützung hören. Er wird dadurch als höchst signifikativ herausgehoben: Orlando, Botschafter in Konstantinopel, ist seinem Amt entflohen, irrt in der Nacht umher, ruht sich im Freien aus, um als Frau zu erwachen. Hinter einem aus den Soffitten heruntergelassenen Baumstamm, der mit seinen Krallenauswüchsen Fuß und Bein eines überdimensionalen Vogels gleicht, springt in hellseidener Pluderhose und hochgeknüpftem Spencer Orlando hervor, setzt sich mit dem Rücken zum Baum, betastet ihre Füße und Zehen, reckt die Arme und erprobt dann die Stimme, indem er oder sie erste Laute die Tonleiter herauf- und herunterwandern lässt: Diese Stimme ist nicht verstärkt, sie ist hell und hoch, fragiler noch in der Höhe, nicht sehr stark oder weittragend, doch mit ihrem hellen Silberklang, hier dem Jutta Lampes, ist es ohne Zweifel die Stimme einer Frau. Der Tonmeister lässt uns hier mit ironischer Geste hören, dass Weiblichkeit eher durch Stimme denn durch Maskerade wahrscheinlich wird, die zu diesem Zeitpunkt allein als Gender unterscheidend in Betracht gezogen wurde. 29 Eine letzte Frage lasse ich hier noch offen – die Frage nach der Rezeption von Hans Peter Kuhns Arbeiten bei seinen Nachfolgern. Ob, und/oder inwieweit sich mit ihnen Wilsons Theater verändert hat, dies zu untersuchen, wäre Aufgabe künftiger Recherchen.

29 Vgl. Helga Finter, Die soufflierte Stimme. Text, Theater, Medien. Aufsätze 1979–2012, Frankfurt am Main: Lang, 2014, darin: »Der Körper und seine vokalen Doubles«, S. 241–260.

Robert Wilson, Alceste, Act I, 1990. Charcoal on Lavis Technique Samson paper 19 3/4" x 25 5/8". © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Michael Tropea

Über die Zusammenarbeit mit Heiner Müller »The idea is to feed, furnish and let the space speak for itself« (Antonin Artaud) L EIGH L ANDY

Über Musik und Theater wird selten geredet – eigentlich nie. Deswegen freue ich mich, die Gelegenheit zu haben, etwas nostalgisch zu sein. Denn alles, worüber ich hier berichte, ist vor einem Vierteljahrhundert passiert. Das sind schöne Erinnerungen, aber das sind auch alte Erinnerungen.1 Nach einer Einleitung, in der ich erkläre, warum es für mich als Komponist ebenso naheliegend war, für das Theater wie für Tanz, Video und andere Kunstformen zu arbeiten, werde ich den Weg beschreiben, der mich zu Heiner Müller führte. Hier gebe ich einen kurzen Überblick über die drei Theaterinszenierungen von Müller-Dramen, für die ich die Musik bzw. das Sounddesign komponiert habe, sowie drei selbständige Kompositionen, die Müller-Texte vertonen. Dabei finden andere Mitglieder des Kreises um Müller Erwähnung, insbesondere die Regisseure Fritz Marquardt und

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Dieser Text ist die redigierte Fassung eines von Leigh Landy frei gehaltenen Vortrags mit verschiedenen Musikbeispielen. Vortrag am 29.11.2013, im Rahmen des Symposiums »Im Hörraum vor der Schaubühne. Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn) und Heiner Müller (Leigh Landy)«, veranstaltet von der Freien Universität Berlin, Sfb 626, in den Räumen der Universität der Künste Berlin. Redigiert von Leigh Landy und Julia H. Schröder.

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Dimiter (Mitko) Gotscheff, 2 der vor einigen Wochen leider gestorben ist. Im Hauptteil des Vortrags widme ich mich der Zusammenarbeit mit Heiner Müller in allen Phasen einer Theaterproduktion am Beispiel von Müllers Philoktet (Basel 1987). Die Verfahrensweisen des Sampling und der Tonaufnahmen vor Ort und deren Re-Kontextualisierung in musikalischen Kompositionen – sowohl im Allgemeinen als auch speziell in den MüllerProduktionen – wird anhand von zwei meiner drei Müller-Kompositionen aus den achtziger Jahren dargelegt. Dieser Vortrag wird zeigen, dass das Zitat von Antonin Artaud im Titel auch meine Arbeitsweise für das Theater in den achtziger Jahren beschreiben kann.

Über meine Rolle als Komponist im Theater Ich werde, genau wie John Cage, verschiedene Anekdoten erzählen, denn durch Anekdoten kann man in die Tiefe gehen. Wenn ich hingegen versuche, intellektuell über meine Arbeit zu reden, wird das alles Quatsch. Anekdoten und Geschichten eignen sich viel besser, um Vergangenes autobiografisch zu rekapitulieren, im Sinne eines Zeitzeugen. Diese Berichtsart ist auch deshalb unausweichlich, weil ich nie ein Archiv meiner Arbeiten angelegt habe. Bestimmte Materialien – auf Tonband oder Notenpapier –, die ich im Theater gebraucht habe, sind erhalten, weil ich damals dachte, das klingt schön, vielleicht könnte ich das nochmal gebrauchen. Diese Ideen und Materialien habe ich aufgehoben. Alles andere, was in einer Produktion gebraucht wird, habe ich an den Tonmeister oder an die Tonmeisterin gegeben. Und mit der ersten Vorstellung – Sie kennen alle die Postmodernisten, nicht wahr? – ist der Autor tot und es lebt das Kunstwerk. Also, ich hatte keinen Einfluss mehr. Zwar habe ich das Stück noch ein paar Mal angeschaut und angehört, habe Gedanken mit den Schauspielern besprochen, aber ich war nicht mehr in der Produktion beschäftigt. Nun hatte der Tonmeister meine Musik, meine Geräusche und mein Sounddesign. Damit war meine Rolle als ›Komponist‹ beendet, was ein bisschen traurig ist. Für meine Entwicklung als Komponist waren die Erfahrungen im Theater wahnsinnig wichtig. Müller war nicht der Erste, mit dem ich zusam-

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Fritz Marquardt (15.7.1928–4.3.2014) und Dimiter Gotscheff (26.4.1943– 20.10.2013).

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mengearbeitet habe. Ich habe oft an Theater-, Video- und Tanzprojekten mitgearbeitet. Bei einer Zusammenarbeit gibt es oft Krach, aber ab und zu gibt es auch sehr schöne Ergebnisse, wenn die Musik dem Tanz etwas hinzufügt, ihn auf eine neue Ebene bringt und umgekehrt.3 Diese Synergien habe ich immer hoch geschätzt. Als positive Aspekte von Zusammenarbeit in den performativen Künsten sehe ich zum einen, dass ein größeres Publikum erreicht wird, und zum anderen, dass die kreative Zusammenarbeit mit Künstlern anderer Kunstgattungen sehr anregend sein kann. Ich habe entdeckt, dass man für Tanz und Video extrem experimentelle Musik schaffen kann, ohne Probleme zu haben. Das hat mit der Kultur des Visuellen zu tun. Wenn die Augen Teil der Erfahrung sind, ist das Publikum viel offener für akustische Experimente mit organised sound. Diese Theaterproduktionen waren sehr intensive Perioden. Als ich beispielsweise in Bochum an Fritz Marquardts Inszenierung von Ibsens Klein Eyolf als Komponist mitgearbeitet habe, 4 war ich mehr oder weniger ein Gastarbeiter in Bochum, habe dort gewohnt und zehn Wochen lang nur mit Ibsen zu tun gehabt. Als meine Arbeit abgeschlossen war und ich aus dem Theater ‘raus ging, kam mir alles sehr fremd vor. Meine Welt, mein Universum war das Stück geworden, und alles andere war fremd. Diese Intensität ist das Schöne, das Tiefe bei der Arbeit im Theater. Im Konzertleben finde ich das nicht immer. Theaterarbeit kann sehr dankbar, sehr emotional sein und hat eine hohe Qualität. Aber in einem Konzertprogramm mit acht Stücken in anderthalb Stunden kann ich mich nicht in acht Universen einfinden. Ideal ist es, wenn ich zehn Wochen an einem Stück arbeiten kann.

Räumlichkeit Sprechen wir jetzt über den Titel »Im Hörraum vor der Schaubühne«. Theater besteht normalerweise aus zwei Dimensionen – ich würde sagen andert-

3

Einige Zeit habe ich in dem kollektiv organisierten Performing-Arts-Ensemble Idée Fixe mitgewirkt, einer Gruppe von Tänzern, Schauspielern und Musikern. In unseren Produktionen hat der Einsatz von Technik eine große Rolle gespielt. Wir hatten als tourendes Ensemble allerdings nie am selben Aufführungsort eine so hohe Aufführungszahl, wie sie ein Theaterstück erreicht.

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Henrik Ibsen, Eyolf (Klein Eyolf), Schauspielhaus Bochum (Uraufführung am 21.11.1986).

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halb Dimensionen: es gibt links und rechts, und es gibt für die Schauspieler etwas näher oder weiter weg vom Publikum (die »halbe Dimension«). Für das Bühnenbild gibt es auch noch die Höhe, also eine vertikale Dimension. Die Vertikale wird jedoch kaum genutzt, weil das Bühnenbild normalerweise statisch ist. Auch die Beleuchtung ist normalerweise nur auf die Bühne gerichtet. Aber wir Komponisten haben mehr Möglichkeiten. Wir verfügen über alle drei räumlichen Dimensionen: Ton und Musik können ›vorne und hinten‹, ›links und rechts‹ sowie ›oben und unten‹ erklingen. Nicht immer werden diese Möglichkeiten überzeugend eingesetzt. Ich habe im Theater oft erlebt, dass die Stimmen der Schauspieler auf der Bühne verstärkt und über Lautsprecher anderswo im Theaterraum wiedergegeben werden, ohne dass damit eine künstlerische Intention verbunden gewesen wäre. Das heißt, jemand steht hier und ich höre die Stimme da. Wenn das allein aus mangelhafter Kenntnis von Audiotechnik passiert, ist es abscheulich und kein guter Gebrauch der Technik. Als Musiker, also Komponisten oder Tonmeister, können wir hingegen ganz bewusst entscheiden, Geräusche und Musikfragmente in allen drei Dimensionen zu verwenden. Meine Karriere ist zweigeteilt, ich arbeite sowohl als Komponist als auch als Musikwissenschaftler. Das hat den Vorteil, dass ich meine künstlerischen Ideen immer gleich hinterfrage und oft entscheide: »Das ist blöd, das mache ich doch nicht.« Von Anfang an habe ich mich mit experimenteller Musik beschäftigt. Dabei merkt man schnell, dass das Publikum sehr klein ist und es notwendig wäre, die Publikumsgröße zu optimieren, also zu erhöhen. Ich gebe mich keinen Träumen hin, aber etwas mehr öffentliches Interesse für experimentelle Musik wäre gerechtfertigt. Eine Erfahrung, für ein größeres Publikum zu arbeiten, war im Theater. Verschiedene Theaterstücke, an denen ich mitgearbeitet habe, sind mehr als hundert Mal aufgeführt worden. Es haben sie also hundert Mal zwischen 300 und 500 Zuschauerinnen erlebt. Einige Produktionen wurden sogar im Fernsehen gesendet. Das sind viele Leute, die kommen nicht nur für mich – obwohl ein oder zwei tatsächlich wegen meiner Musik da waren. Aber die meisten kamen aus anderen Gründen und hörten experimentelle Musik, experimentelle Geräusche, Sounddesign usw. Da sie sich nicht beklagt haben, ist das doch der Beweis, dass zeitgenössische experimentelle Musik zu verdauen ist! Leider wird über Theatermusik nicht geredet – Wilsons Produktionen sind ein Ausnahmefall.

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Arbeit in der DDR Ende der siebziger Jahre war ich zum ersten Mal in der DDR. Zuvor hatte ich die Sängerin Roswitha Trexler kennen gelernt, eine sehr talentierte, wunderbare Sopranistin, mit der ich lange geredet habe, ebenso mit ihrem damaligen Mann, Fritz Hennenberg, einem Musikwissenschaftler und Spezialisten für die Musik Witold Lutosławskis und späterem Chefdramaturgen unter Udo Zimmermann an der Leipziger Oper. Daraufhin bekam ich eine Einladung nach Leipzig. In dieser Zeit war das nicht so einfach und sehr teuer für »Wessis« – ich lebte damals in Amsterdam –, weil man nur im Interhotel übernachten konnte. Das waren sehr interessante Tage. Ich lernte alle Leipziger Musiker und Komponisten kennen, was toll war. Zufälligerweise wurde am dritten Tag meines Aufenthalts die Paul-Dessau-Schule in der Nähe von Berlin eröffnet. 5 Ich hatte keine Ahnung, dass ich auch nach Berlin fahren würde. Aber das bin ich. Nach dieser Eröffnung bin ich in der Wohnung der Witwe von Paul Dessau gewesen, was eine Erfahrung war, und später war ich auch in Berlin in der »Möwe«,6 wo die Künstler ganz offen miteinander quatschen konnten. Das war »Utopia« in der Hauptstadt. Dort habe ich Heiner Müller kennen gelernt. Nach zwei oder drei Gläsern russischen Cognacs hat er mich gefragt: »Warum sind Sie hier? Sie kommen aus Holland, Sie sind Amerikaner. Was suchen Sie in der DDR?« Wie antwortet man darauf? Mir ging durch den Kopf, gehört zu haben, der Mann sei sehr wichtig, und ich musste irgendwie etwas Ehrliches sagen, was nicht allzu dumm wäre. Also habe geantwortet: »Ja, ich bin irgendwie an Anarchismus interessiert. Sind Sie das auch?« Zwei Minuten später ist er aufgestanden und hat gesagt: »Leute kommt alle zu mir nach Hause. Wir geben heute Abend eine Party.« Die Party war dann am »Kissinger Platz«, wie ich den Kissingenplatz in Pankow immer genannt habe, dort hat er zu der Zeit gewohnt. Der Austausch mit Heiner Müller war wahnsinnig toll. Wir haben stundenlang miteinander geredet. Er hat mir seine sechs Rotbü-

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1979 wurde die polytechnische Oberschule in Zeuthen, an der Paul Dessau (1874–1979) von 1960 bis 1974 als Musikpädagoge tätig war, ihm zu Ehren an seinem 85. Geburtstag in Paul-Dessau-Schule umbenannt. Offenbar war er wenige Monate zuvor verstorben.

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»Die Möwe« war ein Künstlerclub in der Luisenstraße 18 in Berlin-Mitte, der 1946 von der russischen Besatzung eingerichtet wurde und zu einem Künstlertreffpunkt in Ost-Berlin wurde.

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cher7 geschenkt, die West-Berliner Ausgabe, mit dem Kommentar: »Ja, wenn sie damit Musik machen können, wäre das toll. Also ich habe mit Komponisten ziemlich schlechte Erfahrungen.« Bis dahin gab es meines Wissens Müllers Opernlibretto für Paul Dessau und dessen Schauspielmusik zu Müllers Zement.8 Dessau hat über Müller gesagt: »Die Sprache ist so reich, es gibt keinen Raum für Musik.« Ich glaube auch, dass es so war. Eine andere Komponisten-Erfahrung hatte Müller mit Friedrich Goldmann, was wohl auch ein bisschen misslungen ist. Danach hatte Heiner keine Lust mehr, so weiter zu arbeiten. Also habe ich diese Bücher mitgenommen, was mir zwei Stunden Warterei am Grenzübergang an der Friedrichstraße beschert hat. Es waren Müller-Bücher – noch dazu in West-Ausgaben, das ging für die Grenzbeamten nicht. Das war aber nicht das einzige Mal, dass ich am Grenzübergang warten musste. Ich kenne die Friedrichstraße sehr gut, weil ich dort jedes Mal zwei oder drei Stunden aufgehalten wurde. Das erste, was Müller mir erzählte, war: »Ich werde in der DDR toleriert, nicht akzeptiert.« Nach diesem Satz überraschte mich, dass Müller in der DDR so politisch wirken konnte: 1980 habe ich eine MüllerInszenierung an der Volksbühne in Ost-Berlin gesehen. 9 Das Publikum hat mich total überrascht: Neben dem üblichen Theaterpublikum waren da West-Berliner, Polizisten (VoPos), Armee-Mitglieder und normale Leute. Wenn man genau hinhört, welche Ironie in dem Stück steckt, scheint es, als ob die Mauer in dieser Aufführung um zwei Millimeter verschoben wurde und alle DDR-Bürger das wussten. Das war für mich sehr schön, aber nicht unproblematisch. Denn plötzlich wurde Kunst bedeutsam. Zuvor hatte ich mit John Cage an die totale Freiheit geglaubt, die allerdings niemals diese kulturelle Bedeutung hätte annehmen können. Nichts gegen Cage. Ohne

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Zwischen 1974 und 1989 erschienen Heiner Müllers Werke im westdeutschen Rotbuch Verlag in elf Bänden. Offenbar waren zum Berichtszeitpunkt erst sechs Bände erschienen.

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Drachenoper/Lanzelot, Opernlibretto von Heiner Müller und Ginka Tscholakowa, Musik von Paul Dessau (Uraufführung 1969). Heiner Müller, Zement, Uraufführung 1973 am Berliner Ensemble mit Musik von Paul Dessau und Regie von Ruth Berghaus.

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Es handelt sich um folgende Müller-Inszenierung: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution von Heiner Müller. Regie: Ginka Tscholakowa und Heiner Müller, Volksbühne, Berlin (Uraufführung am 13.11.1980).

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Cage wären wir, was die künstlerischen Gedanken betrifft, um 50 Jahre zurück. Aber diese Kommunikation mit dem Publikum war politisch wirksam. Vielleicht übertreibe ich, vielleicht ist es Nostalgie, aber ich glaube, dass die Mehrheit der Bevölkerung wusste, dass Müller da Dinge machte, die man eigentlich nicht machen sollte. In der Kunst geht es darum, die Kultur etwas voranzubringen. Und das hat er immer gemacht.

Kompositionen auf Müller-Texte I Zurück zur Zusammenarbeit mit Heiner Müller: »Es gibt ein Stück, das Fahrstuhl heißt. Kennst du das?«, 10 fragte er mich. Wir duzten uns damals schon. »Ja, wenn du damit ‘was machen kannst.« Ich habe sechs Monate lang darüber nachgedacht. Der Monolog ist wahnsinnig schön und irgendwann habe ich dann innerlich Musik dazu gehört: Die Glückliche Hand von Arnold Schönberg erklang vor meinem inneren Ohr! So expressionistisch komponiere ich nicht, deswegen musste ich ablehnen: »Tut mir leid, aber das schaffe ich nicht.« Letztlich hat Heiner Goebbels Musik auf Müllers Fahrstuhl komponiert.11 Trotzdem habe ich in Müllers Schriften 13 Texte gefunden, einige davon aus Schauspielstücken, aber auch Gedichte und kurze Prosa-Texte. Ich habe sie als Zyklus der Müller-Lieder vertont. 12 Zufälligerweise ist das erste Lied der Prolog aus Philoktet. Bei diesem Stück war meine Idee, die Musik nicht zu kompliziert zu machen, damit die tollen Texte von Müller ganz im Vordergrund stehen. Es ist für eine Stimme – es kann eine Frau oder ein Mann sein – und zwei einstimmige Instrumente notiert.13 In der Philoktet-

10 Heiner Müller: Monolog »Der Mann im Fahrstuhl« aus: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution. 11 Heiner Goebbels, Der Mann im Fahrstuhl, szenisches Konzert mit Text von Heiner Müller (1987). 12 Leigh Landy, Müller-Lieder für Singstimme und zwei beliebige Melodieinstrumente im gleichen Register (1980). 13 Leigh Landy spielte während seines Vortrags eine Aufnahme dieses Lieds für Frauenstimme und Schlagzeug (2 Stimmen) vor (Martha Herr: Stimme, John Boudler: Perkussion). In einer anderen Interpretation spielte Fred Došek Klavier und Landy Gitarre, Roswitha Trexler, Sopran.

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Inszenierung,14 zu der ich die Bühnenmusik komponiert habe, wurde der Prolog nicht verwendet. Heiner Müller hat mir damals auch ein Gedicht gezeigt, aber gleich dazu bemerkt: »Damit können Sie nichts machen. Das ist zu persönlich.« Ich habe E. L.15 dennoch vertont, und es ist das schönste Lied geworden. Ganz untypisch für mich, ist es sehr romantisch. Für das dritte Lied Hundert Schritt verwandte ich eine Zwölftonreihe, was ich eigentlich hasse. Aber es gibt ein schönes Lied von Strawinsky, The Owl and the Pussycat (1966), in dem er Zwölftonmusik nach Schönbergs Tod eingesetzt hat. Bei Strawinsky kann man die Melodie trotzdem mitpfeifen. Das habe ich auch für mein zwölftöniges Lied angestrebt. Es gibt bei Müller einige chinesische Texte, die er adaptiert und leicht abgeändert hat. Aus seinem fragmentarischen Theaterstück Traktor16 habe ich so ein GedichtZitat nach Po Chü I17 gewählt und dann tonal – um Gotteswillen, tonal! – vertont. Das Gedicht finde ich prächtig. Es ist pazifistisch, was ich von Müller nicht erwartet hatte. Insgesamt sind es sehr ›klassische Lieder‹ geworden, meine letzten Kompositionen, die ich traditionell notiert für Singstimme und Begleitinstrumente geschrieben habe.

14 Heiner Müller, Philoktet, Regie: Dimiter Gotscheff, Theater Basel (Uraufführung am 20.3.1987). 15 Heiner Müller, »E. L.«, in: ders., Werke 1. Die Gedichte, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 173. 16 »[…] Ich war ein Held, mein Ruhm gewaltig | In meinen Bannern rauschten die vier Winde | Wenn meine Trommeln lärmten schwieg das Volk | Ich habe mein Leben vertan. (Po Chü I) […]«, aus: Heiner Müller, Traktor. Fragment (1955/1961/1974), darin: »Aufforderung zum Tanz oder der Kampf mit dem Engel«. In: ders., Werke 4, Die Stücke 2, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 483–504, 489. 17 Müller setzt an den Vierzeiler eine Fußnote, aus der hervorgeht, dass es sich um ein Gedicht von Po Chü I handelt. Tatsächlich ist es aber von einem anderen chinesischen Dichter. Wie genau Müller in der Adaption verfahren ist, etwa, dass er mehrere Zeilen zu seiner ersten Zeile zusammenfasste, stellt Ebrecht dar. Katharina Ebrecht, Heiner Müllers Lyrik. Quellen und Vorbilder, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 75–77.

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Leigh Landy, »Oder Büchner«,

5. Lied aus dem Zyklus Müller-Lieder für Sing-

stimme und zwei beliebige Melodieinstrumente (1980) auf Texte von Heiner Müller. In der Vertonung des Dreizeilers von Müller schreibt Landy vier verschiedene Singund Sprechweisen für die Stimme vor, von ›frei gesprochen‹ über ›rhythmisiert gesprochen‹ und ›auf Tonhöhen gesprochen‹ bis zu ›gesungen‹.

Zu den Müller-Regisseuren Die Regisseure, für deren Inszenierungen von Müller-Stücken ich Musik gemacht habe, sind Fritz Marquardt, Dimiter (Mitko) Gotscheff und Ginka Tscholakowa. Fritz Marquardt war ein faszinierender Mann und einer der brillantesten Regisseure, die ich je kennen gelernt habe. Meiner Meinung nach sind seine Müller-Inszenierungen besser als die von Müller selbst. Er hatte ein tiefes Verständnis für die Politik der Texte und für Dramaturgie, was einmalig war. Mitko [Dimiter Gotscheff] kam aus Sofia, wo er in sei-

18 Heiner Müller, »Oder Büchner«, in: ders., Geschichten aus der Produktion. Bd. 1. Stücke, Prosa, Gedichte, Protokolle, Berlin: Rotbuch, 1974, S. 83. Wiederabgedruckt in: ders., Werke 1. Die Gedichte, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 36.

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ner Anfangszeit am Theater Dramaturg war. Bevor er international arbeitete, hatte er schon verschiedene Müller-Inszenierungen in Bulgarien gemacht. Ebenfalls aus Sofia kam Müllers zweite Frau, die Regisseurin Ginka Tscholakowa. Ein gutes Jahr nach meinem ersten Treffen mit Heiner Müller sind wir zu dritt nach Sofia gefahren. Müller ist nur eine Woche geblieben, seine Frau hat mich danach noch mit ans Schwarze Meer genommen. Tolles Land. Eines meiner Forschungsinteressen ist bulgarische Musik, nach der ich mich dort umgehört habe. Bulgarische Musik war zu der Zeit die offizielle Musik der Regierung, deshalb wollte niemand bulgarische Musik singen. Aber nach ein paar Gläsern Grosdowa haben dann doch alle bulgarische Musik gesungen. – Auch eine schöne Erfahrung, die mir die Bulgaren sehr schnell nah gebracht hat und mich neugierig gemacht hat, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Zu dieser Neugier für das Andere, Ost oder West, möchte ich etwas ausholen. Ich habe leider nie eine Produktion in der DDR gemacht. Zwar gab es Pläne dazu, zwei Vorschläge und zwei längere Diskussionsperioden im Berliner Ensemble, aber es ist uns nie gelungen, eine ganze Produktion dort zu machen. Wenn man in der DDR über Produktionen geredet hat, gab es nicht einen, sondern zwei Dramaturgen: den Produktionsdramaturgen und den Theaterdramaturgen. Klaus Mehner19 weiß, wer der Zweite war: Der war Mitglied der Partei [SED]. Es gab also eine traditionelle Dramaturgie und eine zweite Dramaturgie, die einzig dazu da war, das Thema in Bezug zum Marxismus-Leninismus und Engels zu setzen. Als Niederländer hatte ich vorher nie einen Anlass gehabt, mit Marx und Engels über meine Musik zu reden. Als ich es dann für die DDR-Produktionsvorbesprechungen machen musste, fand ich es eigentlich sogar interessant. Meine Professoren für Komposition im Westen hatten mich immer gefragt: »Wie machen Sie das? Mit welchen Techniken, mit welcher Strategie?« Aber nie, warum und für wen. In der DDR waren die Warum- und Für-wen-Fragen das Erste. Die Methodenfrage wurde erst danach gestellt, wenn entschieden war: Akzeptiert, toleriert oder weg. Das erforderte eine große Umstellung für mich. Seitdem gebe ich meinen Kompositionen eine ganz deutliche Dramaturgie, wahrscheinlich ohne Lenin. Heiner Müller war

19 Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Mehner saß während des frei gehaltenen Vortrags im Publikum und unterstützte die Diskussion. Kommentare sind in dieser Schriftfassung von Leigh Landys Vortrag aufgegangen.

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dafür ausschlaggebend mit seinen ganz klaren Ideen über Musik und die Notwendigkeit für Dramaturgie. Eigentlich war ich, als ich Müller kennen lernte, eines der vielen ›Kinder‹ von John Cage. Experimentelle Musik mit dem Ziel, etwas Neues zu entdecken, war die Leitlinie. Das war also der Spätmodernismus in meiner Anfangszeit als Komponist. Als ich Müller traf, musste ich meine Ästhetik radikal überdenken. Mit Müller sah ich die Notwendigkeit für Bedeutung, also Kommunikation, in der Kunst, die in Cages Richtung ausgeschlossen ist. Die Freundschaft mit Heiner Müller hat also meine Musik verändert. In der Struktur hat sie sich nicht sehr geändert, aber es gab jetzt eine Bedeutungsebene. Wenn jemand fragt: »Das habe ich nicht verstanden. Was wollten Sie eigentlich?«, kann ich eine Erklärung geben, eine Geschichte erzählen. Wenn diese Geschichte nicht richtig verstanden wird, gibt es ein Problem in der Kommunikation. Dann kann ich die Komposition noch einmal überdenken und eventuell etwas ändern.

Kommentar zum Bühnenmusik-Essay von 1987 Viele dieser Gedanken kommen aus einem Text, den ich anlässlich einer Philoktet-Produktion 1987 in Basel geschrieben habe. Obwohl er im Auftrag des Theatermagazins verfasst wurde, ist der Text meines Wissens nie publiziert worden. Der Titel beginnt mit einem Zitat von Müller: Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht, den Misslaut meiner Schmerzen Deinem Ohr. Die Arbeit eines Komponisten mit »Philoktet«.20 Ich sage oft, dass viele Theaterkomponisten Kapellmeister sind. Dazu passt der Witz, den ich im Artikel zitiere: Wenn der Komponist Gottfried von Einem Theatermusik gemacht hätte, müsste er seinen Namen ändern in Gottfried von Allem. Regisseure erwarten, dass ihre Komponisten ohne große Diskussion machen, was sie sagen. Und zwar jedes Mal etwas anderes. Für mich ist ein Kapellmeister jemand, der alles machen kann. Und auch ziemlich schnell. In zwei Wochen komponierte Haydn eine Symphonie, oder? Genau so wird es im Theater erwartet. Für mich geht das nicht. Ich möchte, dass meine Arbeit ernst genommen wird, und dafür brauche ich Zeit und Mitspracherecht. Wenn das nicht möglich ist, verzichte ich lieber, wie zu der Zeit, als ich der erste »Composer in Residence« am niederländi-

20 Der Text ist in diesem Band in seiner Originalfassung auf Englisch abgedruckt.

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schen Nationaltheater war. In den achtziger Jahren wurde in Den Haag ein neues Ensemble gegründet, und ich war als Komponist eingeladen. Nach neun Monaten habe ich auf die Stelle verzichtet, denn es gab zu viele Regisseure, die mir erzählt haben, was ich machen sollte. Mein Interesse war, als gleichberechtigtes Mitglied einer Gruppe zu arbeiten, die eine gemeinsame Vision einer Produktion entwickelt. Mir war wichtig, nicht traditionelle Vorstellungen von Theaterzwischenmusiken zu bedienen, sondern auch an experimentellen Möglichkeiten eines neuen Theaters zu arbeiten, beispielsweise mit Geräusch- und Klangtexturen oder den Stimmen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Damit meine ich nicht, wie sie sich als Schauspieler präsentieren, sondern wie der Klang der Stimmen kombiniert wird mit allem anderen, was man hört. Das akustische Gesamtkonzept ist dann ein Teil der Dramaturgie. Mein Ideal von Theaterarbeit ist, dass ich meine Gedanken zum Gesamtkonzept in die Produktion einbringen kann. Ich will also die gleichen Rechte wie ein Bühnenbildner und möchte, dass der Regisseur das als Gruppenvision, als gemeinschaftliche Vision akzeptiert. So habe ich immer gearbeitet. Wenn das nicht möglich war, habe ich dankend abgesagt und etwas anderes gemacht. »Von Allem« hat eine zweite Bedeutungsebene, und das ist das erweiterte Material der neuen Musik, das im zwanzigsten Jahrhundert auch Geräusche einbezieht, nicht nur die fixierten Töne der Tonleiter, do, re, mi, sondern alles Klingende. In der Neuen Musik setzen wir verschiedenste Strukturen, Instrumente und Technologien ein. Es gibt beinahe zu viele Möglichkeiten und zu viele ›Sprachen‹ in der Neuen Musik. Das ist nicht einfach für das Publikum, wenn es zu viele Möglichkeiten gibt. Ebenso schwierig ist es, eine kohärente Idee, eine kohärente Sprache in der Musik zu schaffen. Aber wenn es gelingt, und die Leute gut zuhören, haben wir das musikalische Universum, nach dem ich gesucht habe. Ich spreche jetzt nicht über spezifische Produktionen, sondern über meine Gedanken zu der Zeit. Die Rolle der Musik und des Sounds im Theater braucht nicht sehr groß zu sein, um als Musikdramaturg wirken zu können, statt als Opernoder Theaterkomponist. Die Idee ist dabei natürlich, Musik und Klang zu integrieren in eine Vision der Produktion. Dazu habe ich in Basel geschrieben: Wenn Wilson ein »Bildtheater« macht, gilt es so etwas Ähnliches wie ein »Klangtheater« zu schaffen. Der Komponist Louis Andriessen hat beispielsweise immer von »Musiktheater« gesprochen, nicht von »Musical«, nicht von »Oper«, sondern von Musiktheater. In so einem Klangtheater

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können sowohl herkömmliche Tonhöhen – do, re, mi – als auch Geräusche als Material verwendet werden, aber es gibt auch das Theatrale darin. Ein Ausgangspunkt für Wilson war oftmals Musik und Ton. Kann Klangtheater mit Sprechtheater kombiniert werden? Das ist nicht evident. Wie schon erwähnt, fand Paul Dessau Heiner Müllers Sprache so reich, dass sie keine Musik brauche. In diesem Sinne kenne ich viele Müller-Inszenierungen, in denen Musik zwischen Szenen gespielt wird, nicht aber während der Szenen. Die beiden Komponisten, die nach meiner Zeit viel mit Müller zusammengearbeitet haben, Wolfgang Rihm und Heiner Goebbels, haben tatsächlich neue Konzepte von Musiktheater entwickelt.

Kompositionen auf Müller-Texte II Insgesamt gibt es drei Komposition von mir auf Müller-Texte. Zunächst die oben erwähnten Müller-Lieder (1980), dann No Water Music (1983) und B (1986). Kein Wasser Musik – oder Keine Wassermusik war ursprünglich eine radiophone Komposition, von der es aber auch eine Konzertfassung für Sprecher und Stereotonband gibt. Müller schrieb einen Teil des zugrunde liegenden Textes für mich, als wir in Sofia waren, denn wir hatten dort drei Tage kein Wasser. Überall war das Wasser abgestellt, so dass wir schließlich ins Hilton Hotel gegangen sind, das es in den achtziger Jahren in Bulgarien gab. Dort wollten wir einen Kaffee trinken, weil es im Hilton Hotel auf jeden Fall Wasser gibt, dachten wir. Aber dort gab es auch kein Wasser. Daraufhin Müller: »Ich bin im Hilton Hotel, wo es kein Wasser gibt« und so weiter, und so weiter. Da konnte ich nicht anders, als »Kein Wasser Musik« zu komponieren. Die »Wassermusik« gab es schon von Händel, dann kam eine »Kein Wasser Musik«. Auszug aus: Leigh Landy, No Water Music für Sprecher und 4-SpurTonband (1982/83), Aufführungspartitur. Text: Heiner Müller, Originaltexte geschrieben für Leigh Landy in Sofia 1982 und aus Glücksgott (1958)21. In der Aufführungspartitur sind die Zeitangaben in Minuten und Sekunden am Zeilenanfang zu lesen, gefolgt von einer kursiven Beschrei-

21 Heiner Müller, Glücksgott (1958), zuerst veröffentlicht in: ders., Texte 4. Theaterarbeit, Berlin: Rotbuch, 1975, S. 7–18.

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bung der Klänge auf dem Tonband oder dem Text, den der Sprecher zu dem jeweiligen Zeitpunkt lesen soll.

No Water Music (1982/83 – Auszug aus der Aufführungspartitur) 0’00” Drone in D auf Spur 4. 0’08” Uhr auf Spur 2. 0’12” »Nach der Sprengung des Assuan-Staudamms für die Umsiedlung der Toten findet der Marsch der Schlangen und Skorpione auf Kairo statt. 0’34” Sie werden mit Flugzeugen liquidiert.« [Müller 1982] 0’43” ›Ud-Loop‹ auf Spur 1–4. 0’56” »Ich war in Kairo als die Wasserversorgung zusammenbrach – Uhr aus. 1’02” – und die Scheiße quoll aus dem Hilton« [Müller 1982]. 1’14” »Feind und Freund besiegte Sulla der lässige Römer …« [Glücksgott] [Der Mittelteil ist hier nicht veröffentlicht.] 10’28” ›Ud-Loop‹ wie 0’43” »Kein Tropfen Wasser in die Kanäle fließen darf.« [Glücksgott] 10’42” Uhr auf Spur 3–4. 10’45” ›Elektronische Ratten‹ aus. 10’51” »Die Frauen 10’53” wachten die ganze Nacht 10’56” um zu sichern, daß die sanitären Einrichtungen in den Häusern 11’05” nicht benützt werden.« [Glücksgott] 11’31” Ud aus. 11’39” Drone aus. 11’42” »Scheißen verboten 11’49” sagte die Revolution in Tschungking« [Müller 1982]. 12’02” Uhr aus.

(Ende des Stückes).

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Das dritte Stück heißt B. 22 Es basiert auf Bildbeschreibung von Müller, zu dessen erster Aufführung im Theater ich die Musik gemacht habe. Bildbeschreibung ist ein reiner Prosatext, nur Wörter, ohne jegliche Regieanweisungen, Sprechrollenverteilung oder Handlungsortsangaben. Es ist einfach Text. Das ist der späte Müller, wie seine Hamletmaschine. Sehr abstrakt. Die politische Aussage ist nicht deutlich. Ich würde sagen, es ist auch komplizierter als die früheren Arbeiten. Um diesen Prosatext als Theaterstück auf die Bühne zu bringen, muss man sich sehr viele Freiheiten nehmen. Müllers Bildbeschreibung habe ich als Reduktion des Theaters oder eines Theatertextes gelesen. Und ich wollte das weiter reduzieren. Solche Dekompositionen sind typisch für den Postmodernismus. Ich habe unter dem Postmodernismus und dessen Obsession für Dekonstruktion in den achtziger Jahren wirklich gelitten! Für meine kompositorische Dekonstruktion – besser »Re-Komposition« – von Bildbeschreibung, für B, habe ich also verschiedene Stimmebenen verwendet, mehrere Stimmen als Tonaufnahmen, die über drei Lautsprecher wiedergegeben werden. Die Live-Sprecherin sitzt in einer Linie mit den Lautsprechern, so dass sie und die Lautsprecher ein B formen. Über die Lautsprecher werden Sprachaufnahmen von Heiner Müller und Alexander von Bormann wiedergegeben, der zu der Zeit Professor an der GermanistikAbteilung der Universität Amsterdam war, also ein Kollege, und ein Spezialist für moderne Lyrik. Dazu kommt meine eigene Stimme und als Frauenstimme Gerrie van der Klei, eine Jazz-Sängerin, die viel Brecht gesungen hat. Einige Wörter auf der Aufnahme werden von ihr auf eine bestimmte Tonhöhe intoniert, so dass es sich tatsächlich nicht um eine bloße Sprachkomposition handelt. Zu den Sprachfragmenten kommen vom Band Geräusche und zwei durchgehend erklingende Bordune, also Drones. Das sind zwei Töne, namens B, allerdings unterscheidet sich die deutsche Tonhöhe b (ein Halbton unter h) von dem b in anderen Sprachen, beispielsweise im Englischen b-natural (gegenüber b-flat, dem Äquivalent zum Deutschen b). Diese Reibung der beiden Halbtöne ist musikalisch mit der Reibung der verschiedenen Sprecher, deren regionale Herkunft man gut erkennt, verwandt. Sie lesen alle Fragmente aus dem Text von Müller, die teilweise im Bandschnitt mehrfach wiederholt werden und simultan erklingen, wodurch

22 Leigh Landy, B für Frauenstimme und 3-Spur-Tonband (1986) wurde während des Vortrags von Landy aufgeführt.

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sich ein mehrschichtiger Raum eröffnet, durch den der Müllersche Text gleitet, nicht wirklich linear, obwohl die zeitliche Abfolge erhalten bleibt. Die von Müller durch verschiedene Perspektiven eröffnete Vielstimmigkeit wird in meiner Komposition in einer realen und simultanen Stimmenvielfalt verräumlicht.

Auszug aus: Leigh Landy, B für Frauenstimme und 3-Spur-Tonband (1986), Aufführungspartitur. Text: Heiner Müller, Bildbeschreibung. In der Aufführungspartitur wird in je einer Zeile beschrieben, welche Textfragmente oder Geräusche auf den drei Tonbandspuren zu hören sind, die jeweils eine Männerstimme (M1 bis M3) und eine Frauenstimme (F) wiedergeben. Eine weitere Zeile fasst die elektronischen Geräusche zusammen. Darunter ist eine Zeitverlaufzeile, die in Zehn-SekundenSchritten Anhaltspunkte gibt. Die letzte Zeile ist für eine Live-Sprecherin (Stimme), deren relative Sprechtonhöhe als tief, mittel oder hoch angegeben ist.

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Musik und Organised Sound zu Müller-Stücken Müller hatte anfangs zu mir gesagt: »Wenn der Dramatiker schreibt, man hört Glocken in der Kirche, dann sollte der Komponist niemals Glocken läuten lassen.« Tatsächlich gibt es wenig akustische Umweltklänge in Müllers Texten. Schauen Sie sich das mal genau an. Es gibt kaum Informationen zum Auditiven, zum Klang. Zwar habe ich nie zu einer Inszenierung, bei der Heiner Müller Regie geführt hat, die Musik gemacht, aber Müller hat doch alle Inszenierungen, die ich hier beschreibe, erlebt. Müller ist zu Fritz Marquardts Arturo Ui (Brecht)23 nach Amsterdam gekommen, für das der Jazzer Willem Breuker Zwischenmusiken komponiert hatte, dem ich dann noch ein Sounddesign hinzufügte.24 Er kam nach Sofia und Den Haag, um Quartett in der Regie von Gotscheff zu sehen. Da haben wir uns getroffen. Und er ist 1986 zweimal in Bochum gewesen bei Marquardts Ibsen-Inszenierung,25 nur um mit Marquardt und mir zu sprechen. Natürlich kam er auch für die Philoktet-Proben für zwei Tage nach Basel. Er war völlig fasziniert, weil er nie mit einem Musiker gearbeitet hatte, der sich solche Freiheiten nahm, der sich so weit von dem entfernte, was traditionell für Theatermusik gehalten wird. Das war für ihn eine neue Dimension. In etwa diese Zeit fallen ja auch seine ersten Erfahrungen mit Robert Wilson. Durch die Zusammenarbeit mit Wilson hat sich die Bandbreite von Müllers Möglichkeiten verändert. Erst einmal hat er die Wichtigkeit der Musik von Wilson gelernt und die Möglichkeiten der Musik von mir gelernt. Eventuell ist er in den achtziger Jahren von seiner Auffassung, die musikalische Ebene in seinen Texten auszusparen, leicht abgekommen.

23 Bertolt Brecht, De weerstaanbare opkomst van Arturo Ui (Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui), Publiekstheater Amsterdam (1983). 24 Ich habe unter anderem ein Sounddesign zu einer zwanzigminütigen Szene beigesteuert, das einerseits aus Drones bestand, lang anhaltenden Tönen, die den Eindruck einer riesigen Menschenmenge vermittelten, andererseits aus einer achtspurigen Aufnahme aus leicht gegeneinander verstimmten Tönen, die im gesamten Zuschauerraum als Schwebungen auch körperlich erfahrbar werden. 25 Henrik Ibsen, Eyolf (Klein Eyolf), Schauspielhaus Bochum (Uraufführung am 21.11.1986).

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Die drei Theaterstücke von Heiner Müller, an denen ich mitgewirkt habe, waren die Uraufführung von Bildbeschreibung in Graz (1985), Quartett in Köln (1986) und Philoktet in Basel (1987). »Minimalismus« hat jemand über mein Sounddesign für Bildbeschreibung geschrieben. 26 Minimalismus stimmt auch: Ich bin nur für zwei Tage in Graz gewesen, während der zweiten Probenwoche. Dann musste ich abreisen, weil ich in Amsterdam eine andere Aufführung hatte. Die letzten Proben von Bildbeschreibung habe ich also ebenso wenig erlebt wie die Aufführungen. Die Regisseurin, Ginka Tscholakowa, beschrieb mir, was sie vorhatte, woraufhin ich Tonaufnahmen anfertigte. Das gestaltete sich als sehr kompliziert, und eine vollständig in die anderen Produktionsteile integrierte Musik war wegen dieser Arbeitsweise gar nicht möglich. Lustig, dass der Rezensent das als »minimalistisch« beschrieben hat. Darüber hinaus kann ich nichts über diese Inszenierung von Bildbeschreibung sagen.

Philoktet (1987) Vergegenwärtigt man sich allgemeine Aspekte einer Produktion, kommt man wieder auf das Antonin-Artaud-Zitat im Titel: »den Raum zu füttern, einzurichten und für sich selbst sprechen zu lassen«. Ich finde dieses Bild sehr schön, den Raum »einzurichten« oder auszustatten. Wir haben die drei Dimensionen. Ein Bühnenbild muss den Bühnenraum ausstatten; mit Ton kann ich das ganze Theatergebäude ›ausstatten‹. Das war mein Konzept für die Philoktet-Produktion in Basel 1987. In einem Text über diese Inszenierung führe ich drei Zitate an, die mein Konzept für den Theatersound erklären: Das erste ist von Müller selber, dann ein kurzes von Cage und ein sehr bekanntes Zitat von Shakespeare. Heiner Müller: »Zunächst gibt es einen Grundirrtum: Literaturgeschichte und Kunstgeschichte wird in den Medien immer erst einmal als eine Geschichte von Inhalten oder Bearbeitungen von Inhalten verstanden und interpretiert […]. Es wird überhaupt nicht transportiert, daß es ein formulierter Text ist und daß die

26 Von der »minimalistischen Musik von Landy« schreibt der Rezensent der Frankfurter Rundschau. Paul Kruntorad, »Ins Leere getroffen. Heiner Müllers Bildbeschreibung uraufgeführt«, in: Frankfurter Rundschau (11.10.1985).

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Formulierung eines Tatbestandes schon die Überwindung eines Tatbestandes ist. 27

Das utopische Moment liegt in der Form«.

›Form‹ ist hier das Schlüsselwort. Im Theater wird der Begriff ›Form‹ allerdings anders gebraucht als im Kontext der Musik. Form hat in der Musik mit Struktur zu tun. Man könnte von ›Tragödienform‹ im Theater reden. Aber ich habe Müllers Philoktet-Text so übertragen und so gelesen, als wäre er eine Sonatenhauptsatzform. Es kam aus meiner Vorbereitung auf die Arbeit, als ich den Text sehr gründlich las und analysierte, so, wie ich einen Notentext analysieren würde. Dabei habe ich ihn strukturell als Sonatenhauptsatzform gegliedert gefunden, was mich sehr überrascht hat. Diese Überraschung habe ich Müller erzählt, und er hat nur gelacht. Obwohl Sie jetzt auch lachen, lassen Sie mich dennoch kurz erläutern, was ich meine: Das erste Thema ist der Dialog zwischen Odysseus und Neoptolemos. Danach kommt das kontrastierende zweite Thema in der Konfrontation zwischen Philoktet und Neoptolemos. Das war die Exposition, die Vorstellung der Idee und des im Material inhärenten Konfliktes. Die beiden Themen werden in der Durchführung verarbeitet, also im Beginn des Gesprächs zwischen den drei Protagonisten. Dort setzt Müller eine Pause zwischen seinen zwei Akten, was im ersten Satz von Sonaten und Symphonien nicht vorkommt. Das dritte Thema kommt nach der Pause, im zweiten Akt: das »Trojanische Kriegsthema«. Nach Philoktets Tod setze ich den Anfang der Rekapitulation, in der die durch das Geschehen der Durchführung veränderte Exposition erneut erklingt. Obwohl die meisten Sonatenformen mit zwei Themen auskommen, gibt es beispielsweise in Beethovens Spätwerk einige mit drei Themen. Bei Beethoven wird das dritte Thema zwar etwas früher eingeführt, aber wir sehen, dass Müller keinen Fehler gemacht hat, es ist alles schon mal dagewesen. So weit meine damalige Analyse, über die wir heute lachen. Tatsächlich gibt es viele solcher Erweiterungen und Adaptionen von Formmodellen oder argumentative Rekurse darauf. Denken wir an Richard Wagner, der behauptete, dass er eine Sonatenform mit stundenlanger Dauer schreiben könne, oder an Karlheinz Stockhausen, der seinen kompletten Opernzyklus Licht, bestehend aus sieben abendfüllenden

27 Heiner Müller, »Gespräch mit Wittstock«, in: ders., Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche Bd. 1, Frankfurt/Main: Verlag der Autoren, 1986, S. 180.

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Opern, aus einer einzigen Seite Musik abgeleitet hat, seiner »Formel für Licht«. Eine Sonatenform in Philoktet zu suchen, ist also vielleicht nicht ganz so abwegig, wie es zunächst scheinen mag. Letztlich ist diese Analyse in meine Arbeit gar nicht eingegangen. Ich diskutierte mit dem Regisseur Mitko Gotscheff darüber, der meinte, dass er diese Gliederung sichtbar machen würde. Ich denke, er hat diese formale Idee für sein Regiekonzept übernommen, auf die ich musikalisch verzichtet habe, weil sie ja schon im Text zu finden war. Mein Musikkonzept hatte mehr mit den zwei weiteren Zitaten zu tun. Das Erste von Cage betrifft die totale Freiheit. Alle geordneten Geräusche – organised sounds – nennt man Musik: John Cage: »Music is all around us, if only we had ears. There would be no use for concert halls if man would only learn to enjoy the sounds that envelop him.«

28

Das zweite Zitat aus Shakespeares Tempest bezieht sich ebenfalls auf Geräusche: »Be not afeard; this isle is full of noises.« Meine Klangdramaturgie für die Insel Lemnos, auf der Müllers Philoktet spielt, war genau das: eine Insel voller Geräusche. Als Philoktet in Basel inszeniert wurde, wohnte ich in Amsterdam, also ziemlich weit weg. Alle zwei Wochen bin ich hin- und hergefahren, weil es in Basel kein Musikstudio gab. Um meine musikalischen Elemente – ich arbeitete mit Tonaufnahmen – für die Proben vorzubereiten, musste ich zurück nach Amsterdam. Damals war die Arbeit mit Tonaufnahmen relativ aufwändig, weil man das Tonband am professionellsten in einem Studio bearbeiten konnte, in dem es Schneidetische und Effektgeräte gab. Ich pendelte also immer wieder zum schönen Rhein zurück, wo ich für die Zeit eine Wohnung hatte. Es gab drei Gästewohnungen im Stadttheater Basel, sehr praktisch, mit Kantine. Warum erzähle ich das? Ich lebte zehn Wochen

28 Nachgewiesen werden konnte das Zitat nur als Paraphrase John Cages durch Joseph Byrd im Kommentar zu der Schallplatte: John Cage, assisted by David Tudor, Variations IV, Volume II, Everest 3230 (1964). »Music is all around us, if only we had ears. There would be no need for concert halls, if man could only learn to enjoy the sounds which envelope him.« Außerdem als gesprochene Einführung auf ebendieser Platte. Für den letzteren Hinweis danken wir Volker Straebel.

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in einer dieser Wohnungen mitten im Theatergebäude. Dabei habe ich alle visuellen und auditiven Eindrücke dieses Theaters pausenlos und hautnah erlebt. Das war meine Welt. Es gab bestimmte Geräusche in diesem Theater, die wahnsinnig interessant waren: Zum Beispiel war meine Wohnung in der Nähe eines der drei Aufzüge dieses Theaters. Das waren die Aufzüge zu allen Büros und Appartements. Leider lag meine Wohnung sehr nah an der Mechanik eines Aufzugs, der ziemlich viel Lärm machte. Obwohl er akustisch so präsent war, hat niemand wirklich hingehört. Der zweite Aufzug – Ich bin wirklich kein Fahstuhl-Fetischist! – führte in das Foyer, einen offen Raum mit Café, Eingangsbereich und Kartenkasse und so weiter, war also mittendrin. Er ging vom Keller über das Erdgeschoß in den ersten Stock und war für alle, die die Treppe nicht nehmen konnten. Dieser Aufzug war akustisch einmalig. Es gab in diesem Theater ein sehr starkes Lüftungssystem. Wenn jemand diesen Aufzug nach unten oder nach oben benutzt hat, änderte sich die Tonhöhe. Es klang wie eine Shakuhachi, eine japanische Flöte. Wenn der Aufzug nach unten fuhr, sank die Tonhöhe ab, fuhr er nach oben, stieg sie an. Tausende Leute sind jede Woche da, doch niemand hört es bewusst. Für mich hatte es eine ganz eigene Schönheit. Deswegen habe ich Tonaufnahmen darin gemacht. Morgens früh, als wenig Betrieb war, fuhr ich als ›Instrumentalist‹ nach oben und nach unten, während die Tonmeisterin eine Aufnahme mit einem analogen 24-SpurTonbandgerät machte. Hoch und tief. Perfekt aufgenommen. Wirklich schön. Der Probenraum war natürlich weit weg, im Keller. Es gab kein Tageslicht, sondern hunderte kleiner Lämpchen. Wenn man sie anschaltete, wärmten sich die Lämpchen unterschiedlich schnell auf und da sie aus Glas sind, gab es ein klickendes Geräusch. Wenn vierhundert Lämpchen gleichzeitig warm werden, klingt das wie ein Schlagzeugstück von Morton Feldman: sehr leises, absolut zufälliges Klicken: klick, klick, klick... Beim Ausschalten, wenn sie abkühlen, gibt es denselben Klang. Nach zehn Wochen hat man sich daran gewöhnt, aber wenn man das zum ersten Mal hört und ein bisschen musikalisch ist, ist es das Tollste, was es überhaupt gibt. Und dann habe ich die Tonmeisterin auf Knien gebeten, eine 24-SpurAufnahme von den Lampen zu machen. Sie hat ja gesagt! Eine tolle Tonmeisterin und so ein netter Mensch! Wir haben eine 24-Spur-Aufnahme dieses Lampen-Geklickeres von einer Stunde Dauer gemacht.

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Wiedergegeben wurden die 24-Spur-Aufnahmen über etwa 50 Lautsprecher, die unter der Decke im Zuschauerraum angebracht waren. Die Geräuschkomposition aus Lampenklicken und Aufzug-Glissandi an bestimmten zeitlichen und räumlichen Punkten begann, bevor das Publikum eintrat, so dass es mitten in die Erzählwelt hineinlief, wenn sich die Saaltüren öffneten. Hierin bezogen wir uns auf Müllers Anweisung, dass während des Prologs die Saaltüren wieder aufgehen, damit das vom Erzähler gewarnte Publikum den Saal noch verlassen kann, bevor das grausame Stück beginnt.29 Auf diese Weise hat das Publikum genau dasselbe gehört, was wir hinter der Bühne und in den anderen Funktionsräumen im Probenalltag täglich gehört hatten. Die Geräusche der Mechanik, hässlich und kurz, habe ich auch hin und wieder an bestimmten Textstellen eingesetzt. Es gab also Stichwörter, bei denen die Tonmeisterin ein bestimmtes Geräusch einspielte. Dadurch wurden natürlich die ›heiligen Worte‹ von Müller ab und zu unterbrochen. Darüber war der Intendant sehr wütend. Außerdem störten ihn die Geräusche, als ob ein Techniker etwas fallen lässt. Solche Geräusche müssen im Theater sonst ja wegen der Bühnenillusion unbedingt vermieden werden, damit das Publikum nichts von der Illusionsmaschinerie merkt. Dass ich solche Geräusche nun absichtlich einsetzte, war undenkbar, die sollte ich gefälligst weglassen. Mein Konzept für das Sounddesign dieser Inszenierung war eben, die Klangwelt des Theaterbetriebs auf die Bühne – und in den Zuschauerraum – zu bringen. Das Theater war die Insel Lemnos, und »this isle is full of noises«. Das war die Idee, »den Raum zu füttern, einzurichten und für sich selbst sprechen zu lassen«. Es passte gut zum Bühnenbild aus einer leeren, tiefen Bühne mit Löchern und dem kalten, harten Licht darauf. Damit ergab sich für die Schauspieler tatsächlich eine Insel-Atmosphäre. Zusätzlich zu meiner Geräuschkomposition mit Klängen aus der Theaterwelt gab es eine gepfiffene Melodie, ein Schweizer Militärlied. Müller schreibt in den Anmerkungen zu Philoktet, dass an einer

29 »Darsteller des Philoktet in Clownsmaske: Damen und Herren aus der heutigen Zeit | Führt unser Spiel in die Vergangenheit […] Was wir zeigen hat keine Moral | Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen. | Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen. Saaltüren fliegen auf. Sie sind gewarnt.« Heiner Müller, Philoktet, darin: »Prolog«; zitiert nach: Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski (Hg.), Die Lücke im System. Philoktet. Heiner Müller Werkbuch, Berlin: Theater der Zeit, 2005, S. 39.

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bestimmten Stelle im Stück Kriegsgeschichte, vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg, in Form von Bildern aufgerufen werden solle.30 Ich habe diese Anweisung akustisch adaptiert und Lieder pfeifen lassen, die in der Schweiz mit Armee und Krieg verbunden werden. Was ich 1987 in Basel gemacht habe, war letztlich schon Samplebasierte Musik, wie ich sie heute mache. Die Samples waren Tonaufnahmen, heute sagt man field recordings, aus dem Theateralltag. Diese Art der Komposition war relativ neu – die Achtziger waren die Anfangszeit von Hip-Hop. Wir haben natürlich, seit Tonbandgeräte erhältlich waren, die Möglichkeit gehabt, Samples aufzunehmen und musikalisch zu verarbeiten, aber ein ganzes Stück aus Samples zu machen, das war neu. Allerdings möchte ich meine Rolle in der frühen Samplingkultur nicht überbewerten, es war nur eine kleine Rolle. In Philoktet habe ich also versucht, die Klangwelt – oder das Klanguniversum – an einen spezifischen Ort zu bringen, nämlich das Basler Theater. Den Klang dieses Theaters habe ich re-komponiert, um es zu Philoktets Klangwelt zu machen. Um mit Magritte zu sprechen: Ceci n’est pas un théâtre. Diese merkwürdige Klangwelt war immer gegenwärtig, aber man hört ihr selten aufmerksam zu. In unserer Philoktet-Inszenierung wurde sie in den Theatersaal gebracht und man hörte sie neben Heiner Müllers Text: Lemnos war in Basel, Lemnos war Basel.

Zum Schluss Während all der Jahre als Komponist hatte ich das Glück und die Freude, an vielen großartigen künstlerischen Projekten mitzuwirken. Dabei habe ich nicht jede Skizze und jeden Brief aufgehoben, wie es bei vielen Komponisten früher der Fall war, sondern jedes Projekt sozusagen als ein Kapitel in einem Buch behandelt. Natürlich gibt es Verbindungen und Übergänge zwischen den Kapiteln, aber das Material zu jedem Kapitel habe ich dort gelassen, wo es ›geschrieben‹ wurde, habe es bei den Menschen gelassen, die es für jede Aufführung der jeweiligen Produktion benötigten, und habe

30 »Zum Schlußgesang von Odysseus und Neoptolemos mit dem toten Philoktet können Bilder aus der Kriegsgeschichte projiziert werden, vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg.« Heiner Müller, Philoktet, Anmerkung 2.

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vorwärts auf die nächste Herausforderung geblickt. Viele dieser Kapitel haben auch von Heiner Müller und seinem Umfeld gehandelt. Davon habe ich als Komponist profitiert. Ich hoffe, dass man den Einfluss Müllers auf mein Schaffen nachvollziehen kann, auf die Arbeiten, die ich hier besprochen habe und alle späteren Kompositionen. Ich hoffe, dass man versteht, wie Müller meine künstlerische Weltanschauung beeinflusst hat – von unserem ersten Treffen an bis heute.

Dokument: “Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht, Den Mißlaut meiner Schmerzen deinem Ohr.” A Composer’s Work with Philoktet (February 1987) L EIGH L ANDY 1

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Das Müller-Zitat im Titel lautet ins Englische übersetzt etwa: “Save your ship of this inconvenient freight, the discord of my pain to your ear”. Dieser Text ist ein historisches Dokument: Der Text von 1987 ist als Typoskript mit handschriftlichen Änderungen von Leigh Landy im Heiner-Müller-Archiv, Nr. 7775, der Akademie der Künste Berlin erhalten. Landy verfasste ihn im Februar 1987 für den Abdruck im Magazin Neues vom Basler Theater, Jg. 3 (1985/87) oder 4 (1987/88). Er ist weder darin noch im nächsten Jahrgang des Folgemagazins Neues vom Theater Basel (1988) erschienen. Wahrscheinlich ist dies die Erstveröffentlichung des vollständigen Texts. Auszüge wurden publiziert in: Leigh Landy, “How often have you seen your compositions performed? A plea for more audio-visual collaborations in experimental music”, in: Interface 17, 4 (Januar 1988), S. 241–249. Der Originaltext ist für eine Übersetzung ins Deutsche geschrieben worden, weshalb einige Begriffe im englischen Original auf Deutsch sind. An diesen Stellen wurde der deutsche Begriff durch das englische Äquivalent ersetzt. Gedankt sei Liisa Lanzrein für die Recherche in Basel.

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The problem: music in today’s theatre There is an anecdote which circulates among composers in the BRD (West Germany) which goes: the experimental composer, Gottfried von Einem [“of one”], could never make music for the theatre. If he were to do so, he’d have to change his name to ‘von Allem’ [“of all”]. This joke is painful in two senses: first of all it shows how it is expected of the theatre composer that he writes like a chameleon changing colour constantly, a ‘jack of all trades’; further it shows how the theatre composer often must adjust his standards to the wishes of his almighty director. Many of Hollywood’s composers are no different. It is clear that the role of the composer in spoken theatre does not necessarily have to be a major one; ironically when it does become one, most people immediately think of opera. My interest and the interest of a few (far too few) of my compatriots is not that of an opera composer, not that of a ‘theatre composer’, the von Allem, but instead that of a music-dramaturge, someone who attempts to integrate music as one of the main characters in a play of a given dramatic performance. Must music in spoken theatre be used just for décor changes, as a form of atmosphere or what today is known as general noise, or, even worse, as background music?

In casu Heiner Müller Heiner Müller, for as far is known, has not been overly interested in active audio-visual collaborations. The only time that music was immediately made and integrated into a Müller work was with Paul Dessau in Zement.2 According to Müller, Dessau did not reach a Müller opus 2, finding Müller’s texts musical enough as they were. Nevertheless, Müller considers this opinion to be exaggerated; he leaves room for music within his works, while giving little to no specific musical or sound instructions. (He once told me in a typical late-night nihilist mood that the true theatre composer was he, who does not let the bells toll when the text calls for them.) It is only recently, beginning with the Cologne version of CIVIL warS, that Müller has (re)discovered this sort of collaboration. But as Wilson’s

2

Heiner Müller, Zement, Uraufführung am Berliner Ensemble 1973 mit Musik von Paul Dessau und Regie von Ruth Berghaus.

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images make no sound, they don’t (overly) interfere with Müller’s powerful texts. Music, on the other hand, … To be honest, after several experiences with various Müller texts, the theatre music problem has not yet completely been solved. Including this Philoktet production, I have now worked on his texts six times: three times outside of the theatre – a song cycle (Müller-Lieder), a radiophonic piece (No Water Music) and a dramatic musical work (B, a reduction of Bildbeschreibung), all of musical length (i. e., less than 30 minutes each). I have also participated in three Müller theatre productions: the première of Bildbeschreibung (Description of a Picture, Graz, director: Ginka Tscholakowa), Quartett (Cologne) and Philoktet (Philoctetes, Basle, both directed by Dimiter Gotscheff). The primary difference between the two groups is that when writing a more music-oriented work, the composer is his own director in a sense (with the exception of opera, of course). This is also a possibility when the composer collaborates directly with a writer in creating a new work in which the music is integrated. The question is, when desired, how to achieve a similar amount of room for manoeuvre when making new productions of existent theatre works? Directors tending to look for “von Allem” should not approach me as my interest is in the collaborative process as opposed to the musician in service of the almighty director. What interests me – and how this Philoktet staging was approached – is the subject of the following.

Theatre as an audio-visual genre Artaud once wrote “The idea is to feed, furnish and let the space speak for itself”. This quote is of particular interest to the composer of new music for the theatre. How might we sonorously furnish the theatrical space? Those acquainted with important advances in recent experimental music, are aware of the evolution of music which earlier (only) consisted of notes and now includes all sounds, as well as the liberation of the spatial dimensions in music (in terms of stereo and quadrophonic recordings, of spatially placed musicians and loudspeakers in live performance). These two developments within the musical area combined with Artaud’s plea lead to an interesting potential starting-point for today’s composer working in the theatre. In fact, the “von Allem” joke isn’t all that irrelevant when one considers the

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potential sources of sound one can employ within a composition, including theatre works: all instruments found throughout the world, new vocal techniques – this is of special interest when the composer can work with the actors’ speech and singing techniques – and all sounds recordable via the microphone or produced electronically. The challenge is to assimilate sound sources not usually combined and diverse styles that are compatible with a given dramatic situation. In other words a comparison is à propos: if one were to call Robert Wilson’s theatre, le théâtre d’images, does a théâtre sonore exist and is it in fact a potential partner of Wilson’s theatre of images and Müller’s theatre of the spoken word? The only solution to this question comes through an approach to music as the ‘organization of sounds’ (Varèse’s definition of music), through working constantly in collaboration with the direction team and with the actors as far as the ear-portion of theatre is concerned. This type of work is not of interest for today’s Bachs and Mozarts who compose à la minute as this type of collaboration, at least in terms of my experiences, is tedious and slow. To illustrate this approach, a short description of the work process in this staging of Philoktet follows.

In casu Philoktet When reading the title of the current text – the couplet has been taken from Müller’s Philoktet – one wonders whether Paul Dessau perhaps was right in finding the texts to possess their own musicality. (In fact more composers than ever are treating Müller texts: Wolfgang Rihm, for example, won the 1986 Rolf-Liebermann-Preis for his opera based on Müller’s Hamletmaschine. 3) In the case of the Basle Philoktet, three quotations will lead to the description of the sonorous furnishing of the space. The first concerns a potential compositional approach called for by an unexpected spokesman; the second and third allude to potential sound-sources for our production. Heiner Müller: “Zunächst gibt es einen Grundirrtum: Literaturgeschichte und Kunstgeschichte wird in den Medien immer erst einmal als eine Geschichte von Inhalten oder Bearbeitungen von Inhalten verstanden und interpretiert […]. Es

3

Wolfgang Rihm, Die Hamlet-Maschine, Musiktheater in fünf Teilen (1983–86).

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wird überhaupt nicht transportiert, daß es ein formulierter Text ist und daß die Formulierung eines Tatbestandes schon die Überwindung eines Tatbestandes ist. 4

Das utopische Moment liegt in der Form”.

John Cage: “Music is all around us, if only we had ears. There would be no use of 5

concert halls, if man could only learn to enjoy the sounds which envelope him.”

William Shakespeare (The Tempest): “Be not afeard – This isle is full of noises”.

Müller has written something which has always been true of serious music (E-Musik) and is often forgotten by its appreciators. Of course music is more abstract; the point he makes within literature is more poignant. Nevertheless, this particular quotation led me to reread Philoktet as I would read a Bartòk score. Imagine my surprise when after a somewhat superficial analysis a sonata form with few exceptions was generated! In short, the form’s most basic elements are: Theme 1: The begin dialogue between Odysseus and Neoptolemos; Theme 2: The confrontation between Philoktet and Neoptolemos; the development: The beginning of the triad-discussion before Müller’s called-for pause. A third theme, which I call the “Trojan War theme”, takes place directly after the pause leading to Philoktet’s death, at which point the recapitulation begins. The most visual coda of the Basle production completes the sonata. The third theme within sonata form was first employed by Beethoven – alas, he placed it where it should be, namely before the development. I’m sure Müller won’t lose any sleep due to his “mistake”. Wagner often

4

“First, there is a fundamental error: in the media the initial interpretation of history of literature and art history is based on a focus on content or the adaptation of content [...]. One does not communicate that these are formulated texts and that the verbal/textual expression of the object in question is already the overcoming of those state of affairs. The utopian moment is in the form.” Translation into English: Leigh Landy. German original in: Heiner Müller, “Gespräch mit Wittstock”, in: ders., Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche Bd. 1, Frankfurt/Main: Verlag der Autoren, 1986, S. 180.

5

Nachgewiesen werden konnte das Zitat nur als Paraphrase John Cages durch Joseph Byrd im Kommentar zu der Schallplatte: John Cage, assisted by David Tudor, Variations IV, Volume II, Everest 3230 (1964?).

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claimed that a few of his later operas contained sonata forms stretched out over the span of several hours. The modern composer of the Basle Philoktet hasn’t composed a sonata since his early compositional studies, leaving it to history. Through Müller an exception was made. The filling in of most of the themes brings us to the other quotations in combination with the direction team’s desire to offer the theatre as Philoktet’s island. Most sounds in this production can be found in any theatre, but are ignored. Often these sounds combine elegantly with that which takes place on stage, ‘if one would only listen …’. As sound is temporal, special care was taken in the choice of continuous elements6 which must harmonize with the activities of the actors, and shorter, discrete elements, 7 which ‘interrupt’ the time-continuity. Another form of interruption was choreographed in collaboration with [Mitko] Gotscheff, 8 namely the points when the Müller text is interrupted or repeated. One might speak of potential surrealistic moments including the break in activity which is supposed to be the pause (another non-sonata form element). The chosen melody that is sung and whistled from time to time exemplifies such an interruption (a Swiss soldier’s tune) fulfilling Müller’s desire that allusion be made to the “Kriegsgeschichte, vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg” (history of war, from the Trojan to the Japanese War). 9 Finally, a good deal of time was spent at rehearsals focusing on the development of the vocal timbres unique to Müller’s Lemnos.10 My “Mißlaut” (discord) is the furnishing of sounds which feed the theatre-island in sonata form.

6

Leigh Landy erinnert diese andauernden Klänge als elektronisch.

7

Wie im Text beschrieben.

8

Heiner Müller, Philoktet, Regie: Dimiter Gotscheff, Basel, Uraufführung am

9

“Zum Schlußgesang von Odysseus und Neoptolemos mit dem toten Philoktet

20.3.1987. können Bilder aus der Kriegsgeschichte projiziert werden, vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg.” Heiner Müller, Philoktet, Anmerkung 2. 10 Lemnos ist die Insel, auf der Philoktet spielt.

Landscape & Soundscape Postanthropozentrische Ästhetik bei Robert Wilson und Heiner Müller M ATTHIAS D REYER

Als Louis Aragon 1971 Robert Wilsons Inszenierung Deafman Glance in einem Pariser Theater sah, war er überzeugt, dass sich nun die surrealistische Kunstrevolution eingelöst habe und der »Messias« der Kunst endlich gekommen sei. 1 Wer Wilsons frühe Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre selbst nicht erlebt hat, kann eine solche Hymne zunächst schwer nachvollziehen. Warum wurde der amerikanische Regisseur, Bühnenbildner, Designer, Kunst-Allrounder einst als derart bahnbrechend gefeiert? Angesichts der etablierten Position, die Wilson heute im westlichen Kunstbetrieb einnimmt, gilt es, die Spezifika seiner frühen experimentellen Ansätze aus der gegenwärtigen Perspektive zu erinnern. Sie sollen als ein Objekt des Diskurses analysiert werden, um nachzuvollziehen, welches Erbe mit dieser Theaterästhetik verbunden ist. Dabei wird mein Beitrag einen Rahmen beschreiben, innerhalb dessen Wilson neue Möglichkeiten für den Klang und das Hören im Theater eröffnet hat. Was mich daher beschäftigt, sind die zahlreichen Vergleiche von Wilsons Theater mit einer Landschaft beziehungsweise der Topos des ›Theaters als Landschaft‹ generell. Demzufolge wird die Inszenierung als

1

Vgl. Louis Aragon, »Offener Brief an André Breton über ›Deafman Glance‹, die Kunst, die Wissenschaft und die Freiheit«, in: Holm Keller, Robert Wilson, Frankfurt am Main: Fischer, 1997, S. 9–16.

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ein vielgestaltiger Verbund verstanden, der diverse künstlerische Mittel – Gesten, Sprache, Licht, Dekors ebenso wie Musik, Geräusche, Klänge, Sound – nach den Prinzipien von Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit nebeneinander stellt und miteinander vereint. Die Theatermittel werden nicht einer Narration untergeordnet, sondern als Mittel ohne Zweck in Szene gesetzt. Als solches hat etwa Hans-Thies Lehmann das Theater Wilsons als einen zentralen Bezugspunkt des sogenannten »postdramatischen Theaters« beschrieben 2 – eines Theaters also, das sich von der Repräsentation eines Dramas gelöst hat, um jene Theatermittel aufzudecken, die von der ehemals prioritären Verfolgung eines dramatischen Zwecks verdeckt waren. Fuchs und Chaudhuri charakterisieren diese Landschaftsästhetik gar als »signature style of contemporary experimental theatre«.3 Mein Beitrag will zeigen, dass wir es hier nicht nur mit einer Landschaft zu tun haben, die sich dem Auge erschließt. Obwohl der Fokus in der Wilson-Rezeption lange Zeit auf dem Visuellen und dem ›Theater der Bilder‹ lag, so speist sich die Wirkung dieses Theaters aus spezifischen Bezügen von Visuellem und Akustischem. 4 Wenn Wilson in seinen frühen Arbeiten von der Wahrnehmung aus der Perspektive eines Gehörlosen ausging – darauf verweist der Titel Deafman Glance –, so trennte er zunächst die bildlichen und sonoren Dimensionen voneinander; in weiteren Schritten, auf einer abstrakten Ebene, bezog Wilson diese Dimensionen wieder aufeinander, etwa indem er anschließend mit einem Autisten arbeitete und mit dessen singulärer Sprache, die ein anderes Hören verlangt, das von einer Polyphonie oder gar Aphonie ausgeht.5

2

Vgl. Hans-Thies Lehmann, »Robert Wilson, Szenograph«, in: Parkett, 16, (1988), S. 30–39.

3

Elinor Fuchs, Una Chaudhuri (Hg.), Land/Scape/Theater, Ann Arbor: Univer-

4

Für die Analyse des Akustischen lässt sich etwa anknüpfen an: Helga Finter,

sity of Michigan, 2002, S. 91. »Die soufflierte Stimme. Klangtheatralik bei Schönberg, Artaud, Jandl, Wilson und anderen«, in: Theater heute, 1, (1982), S. 45–51; Frédérik Maurin, Robert Wilson. Le temps pour voir, l'espace pour écouter, Paris 1998; Nikolaus MüllerSchöll, »Polyphonie und Aphonie bei Heiner Goebbels und Robert Wilson«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Gunter Narr, 2002, S. 93–108. 5

Dies steht im Zentrum der Analyse von Müller-Schöll, ebd.

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Mein Frageansatz, dem ich im Anschluss daran im Folgenden nachgehen möchte, bezieht sich darauf, wie man die Wahrnehmung jener neuen Zeichen, die befreit sind von der Unterordnung unter Handlung, Sinn oder Kausalität, beschreiben kann. Zur kritischen Revision stehen dabei die Dramaturgie eines postanthropozentrischen Projekts, das seine ästhetischen Mittel nicht psychologisch motiviert oder menschlicher Intention unterworfen sieht. Mein Argument dabei ist, dass diese Ästhetik der landscapes, die im Zentrum von Wilsons Theater steht, zugleich eine Ästhetik der Soundscapes ist und letztlich mit einer Erneuerung des Mythos zu tun hat.6 Denn der Diskurs der Landschaft kommt in Wilsons Theater zu einer Zeit auf, als dieser sich in seinen Inszenierungen anhand antiker Mythen verstärkt mit dem Phänomen der Mythologie auseinandersetzte. 7 Dessen Analyse werde ich primär ausgehend von Wilsons Inszenierung Alkestis nach Euripides entwickeln, die 1987 am Staatstheater Stuttgart Premiere hatte.8 Das Spezifische an Wilsons Theater wird besonders deutlich, wenn man das produktive Spannungsverhältnis aufdeckt, das sich ab Mitte der 1980er Jahre in der Kooperation mit Heiner Müller zeigt. In der Begegnung zwi-

6

Der Begriff soundscape, der von Raymond Murray Schafer geprägt wurde, bezeichnet eine akustische Umgebung bzw. Hülle, die im Zusammenklang verschiedener Faktoren und somit nicht bewusst-intentional entsteht, vgl. R. Murray Schafer, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz: Schott, 2010. Damit weisen soundscapes Ähnlichkeiten zu jener Qualität des Nicht-Intentionalen auf, die ich im Folgenden im Hinblick auf die Phänomenologie des Mythos ausführe und die im Hinblick auf die Assoziation kultureller Bedingungen wie Setzungen mit Naturprozessen kritisch zu befragen sind.

7

Nach den frühen Inszenierungen The Life and Times of Sigmund Freud oder The Life and Times of Joseph Stalin, die sich gewissermaßen auch mit mythischen Figuren befassten, brachte Wilson in den 1980er Jahren Euripides’ Medea und die zwei Alkestis-Versionen nach Euripides und Gluck auf die Bühne, bevor er dann Parzival nach Tankred Dorst (Hamburg 1987), Richard Strauss’ Salome (Mailand 1987) und Giacomo Manzonis Doktor Faustus (Mailand 1989) inszenierte.

8

Die folgenden Überlegungen sind die Erweiterung eines Kapitels, das zuerst in meiner Dissertation publiziert wurde: Matthias Dreyer, Theater der Zäsur. Antike Tragöde im Theater seit den 1960er Jahren, Paderborn: Wilhelm Fink, 2014, S. 256 ff.

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schen dem ostdeutschen Postmarxisten und dem texanischen Postmodernisten geraten zwei verschiedene Weisen von Zeit und Geschichtlichkeit in einen produktiven Dialog miteinander, korrigieren und bereichern sich.9 Ende der 1970er Jahre waren sich die beiden zum ersten Mal begegnet und arbeiteten seit Mitte der 1980er Jahre punktuell zusammen.10 1986/87 inszenierte Wilson Alkestis von Euripides und integriert dabei Müllers Text Bildbeschreibung. Die Produktion entstand 1986 am American Repertory Theater in Cambridge (Massachusetts); die Premiere der deutschen Neufassung fand im April 1987 am Staatstheater Stuttgart im Rahmen des Festivals Theater der Welt statt.11 In Stuttgart führte Wilson zur gleichen Zeit für

9

Vgl. Christel Weiler, »Zusammenarbeit mit Robert Wilson«, in: Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2003, S. 338–345.

10 Für das beschriebene Medea-Projekt verwendete Wilson den Text Verkommenes Ufer von Müller. Für den deutschen Teil von Wilsons CIVIL warS 1984 stellte Müller die Texte zusammen, 1986 inszenierte Wilson Müllers Hamletmaschine in New York und Hamburg. 11 Als Quellen für die folgende Analyse wurden ausgewertet: ein Videomitschnitt, Staatstheater Stuttgart 1987; der Film Robert Wilson und der Mythos. Zwei Aufführungen aus dem Staatstheater Stuttgart (Regie: Norbert Beilharz, ZDF 1987); das Programmheft Alkestis, Staatstheater Stuttgart, Spielzeit 1986/1987; das Arbeitsbuch von Elinor Fuchs et al., »The PAJ Casebook Alcestis«, in: Performing Arts Journal, 10.1, (1986), S. 79–115 (mit Beiträgen von fast allen beteiligten Künstlern); die Kritikensammlung. Obwohl Alkestis auf den ersten Blick nicht zu Wilsons Hauptwerken zählt, gibt es eine beachtliche Zahl an Forschungsansätzen, vgl. etwa Johannes Birringer, »›Medea‹. Landscapes beyond History«, in: New German Critique, 50, (1990), S. 85–112 (zu Wilsons amerikanischer Alcestis S. 100–112); Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, Tübingen 1998; Patrick Primavesi, »Ritual and Formalization. Approaches to Greek Tragedy and Myth in the Work of Robert Wilson«, in: Savas Patsalidis, Elizabeth Sakellaridou (Hg.), (Dis)Placing Classical Greek Theatre, Thessaloniki: University Studio Press, 1999, S. 273–284; Marc Robinson, »Robert Wilson, Nicolas Poussin, and Lohengrin«, in: Elinor Fuchs, Una Chaudhuri (Hg.): Land/Scape/Theater, Ann Arbor: University of Michigan, 2002, S. 159–188; Gordon S. Armstrong, »Images in the Interstice: The Pheno-

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Christoph Willibald Glucks Oper Alceste Regie, so dass zwei radikal verschiedene Versionen des Alkestis-Mythos im Repertoire nebeneinander standen. Ich werde im Folgenden anhand von Wilsons Alkestis nach Euripides zuerst seine Ästhetik analysieren, anschließend reflektiere ich den Diskurs des ›Theaters als Landschaft‹, wie er sich in den 1980er Jahren mit Bezug auf Wilsons Theater herausbildete; diesbezüglich gehe ich besonders auf Heiner Müllers Landschaftsbegriff ein.

Ästhetik der Schichten In Wilsons Alkestis geht es um das Schicksal einer weiblichen MythenFigur. Euripides’ Tragödie Alkestis erzählt von Alkestis’ Selbstopferung: Eigentlich haben die Götter entschieden, dass ihr Mann Admetos sterben muss; falls jedoch ein anderer bereit wäre, statt seiner freiwillig zu sterben, so soll er gerettet werden. Der uralte und kranke Vater von Admet ist dazu nicht bereit. Daher verabschiedet sich Alkestis von ihrem Mann und ihren Kindern und opfert ihr Leben. Zuvor jedoch muss ihr Mann schwören, dass er niemals eine andere Frau haben wird. Als Retter schaltet sich Herakles ein und kündigt an, Alkestis aus der Unterwelt zu holen. Zum Schluss kehrt er zurück in Admetos’ Haus mit einer verschleierten Frau, die er dem Admetos übergeben möchte; der König indes will die Frau, seinen Treueschwur beteuernd, nicht anrühren. Als Herakles die Frau entschleiert, sieht Alkestis in ihr seine Gattin wieder. Die Frau bleibt jedoch stumm. 12 So lässt sich die Handlung des Dramas in jedem Schauspielführer nachlesen, in Wilsons Inszenierung wurde sie jedoch auf narrativer Ebene kaum kenntlich. Die Inszenierung war als Zusammenstellung heterogener Elemente entwickelt. Auf der Bühne war das Bild einer weiten Landschaft gestaltet: im Hintergrund ein düster thronendes Gebirgsmassiv, das bedroh-

menal Theater of Robert Wilson«, in: Modern Drama, 31, 4, (1988), S. 571– 587. 12 Hinweise zur Interpretation des Mythos in Euripides’ Alkestis finden sich bei Primavesi »Ritual and Formalization«, in: Patsalidis; Sakellaridou (Hg.), (Dis)Placing Classical Greek Theatre, 1999, S. 275 f. (siehe Fn. 11). Er verweist – mit Bezug auf Jan Kott – darauf, dass die Identität der von Herakles herbeigebrachten Frau ambivalent bleibt und somit das vermeintliche happy end trügerisch ist.

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lich in kräftigen Farben von hinten beleuchtet war und erhaben über allen szenischen Veränderungen thronte. In der Weite dieser Landschaft waren Relikte vergangener Kulturen platziert: Terrakotta-Köpfe chinesischer Frühkultur, das Wrack eines gestrandeten Wikingerschiffs, afrikanische Steinfiguren. Rechts standen in einer Reihe drei Zypressen, die sich später in griechische Säulen verwandelten und zum Schluss in Fabrikschlote. So kompilierte die Inszenierung Assoziationen an verschiedene Kulturen und Zeiten und legte damit nahe, dass die Themen und Inhalte in all diesen Kulturen und Zeiten gültig seien. Die Bühne war horizontal in Streifen gegliedert und darüber hinaus – wie im japanischen Theater – in Zonen aufgeteilt: Parallel zum menschenleeren Gebirgsmassiv verlief ein Fluss, der in den Boden eingelassen war, so dass man das Wasser nicht sehen konnte, während es aber akustisch präsent war; davor markierten einige Streifen auf dem Boden einen Highway. Links ragte eine übermächtige prähistorische Figur in die Höhe, bezeichnet als kykladische Statue, auf der ein junger Mann (David Bennent), als Mumie kostümiert, unbeweglich stand und Heiner Müllers Bildbeschreibung rezitierte. Der Kulturen und Zeiten überspannende Querschnitt, den die Inszenierung suchte, spiegelte sich auch in der eklektizistischen Auswahl an Kostümen, die aus verstreuten Kontexten stammten: Apollo in einem orangefarbenen buddhistischen Umhang, der Chor in japanischen Kimonos, Alkestis an Disneys Schneewittchen erinnernd, so dass Prä- und Posthistorie aufeinander bezogen wurden.13 Wilson inszenierte dergestalt eine Art zeitenumspannendes Welttheater. Mit den dekontextualisierten Elementen entfaltete die Alkestis-Version keine modernisierte Narration oder aktualisierende Interpretation; sie eröffnet vielmehr etwas, das man als eine AllZeit mit universalistischen Ansprüchen bezeichnen kann.

13 Die Liste ließe sich noch ergänzen durch eine Analyse weiterer kultureller Versatzstücke, derer sich Wilson bediente, etwa der Stilisierungen und Formalisierungen des Nô-Theater in der Choreografie durch Suzushi Hanayagi oder der afrikanischen Musikeinflüsse, auf die Kuhn bei seiner Komposition zurückgriff; auch wurde ein japanisches Kyogen aus dem 14. und 15. Jahrhundert als Nachspiel beziehungsweise Satyrspiel gegeben.

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Die Mumie (David Bennent) spricht Heiner Müllers Text Bildbeschreibung – ein akustisches Ereignis neben anderen. Alkestis (1987) in der Regie von Robert Wilson, Musik/Sound: Hans Peter Kuhn. Foto: © Michael Dannenmann

Über die transkulturellen und transhistorischen Zeichen-Verknüpfungen hinaus entstand, ähnlich wie in anderen Wilson-Inszenierungen, ein weites mythisches Assoziationsfeld durch die Gleichrangigkeit der Theatermittel – ein ästhetisches Verfahren, das Wilson im Theater etabliert hat: Dabei werden die szenischen Zeichen- und Wirkungsebenen voneinander entkoppelt. Bewegung, Sprache, Gesten, Musik, Geräusch, Licht, Dekors etc. erhalten einen autonomen Status; in ihren Bezügen schafft die Inszenierung eine mehrdimensionale Netzstruktur, die vielfältige Sinnmöglichkeiten eröffnet. Zwar ist das komplexe Zusammenspiel verschiedener Zeichensysteme ein grundsätzliches Charakteristikum der polyphonen Struktur des Theaters; Wilson geht jedoch darüber hinaus, indem er die Mittel dezidiert voneinander trennt. In Anlehnung an filmische Aufnahmetechniken bezeichnet Wilson beispielsweise Ton- und Bildebenen als unterschiedliche tracks, die unabhängig voneinander entwickelt werden. Obwohl die tracks im Probenprozess nach rhythmischen, atmosphärischen und motivischen Gesichts-

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punkten wieder zusammengesetzt werden,14 bilden sie in den Aufführungen autonome Schichten und parallele Realitäten, die sich zwar simultan ereignen und aufeinander beziehen, dabei aber in keinem zwingenden narrativen Zusammenhang zueinander stehen. Dadurch entsteht eine Qualität der Simultanität und Überlagerung, die – wie bereits erwähnt – oft als Landschaft beschrieben wird. In Wilsons Alkestis sah dies so aus: In der ersten Szene bewegten sich Apollo und die allegorische Figur des Todes, die miteinander streiten, wer über Alkestis verfügen darf, parallel zur Rampe auf getrennten Bahnen aneinander vorbei. Ihre Körper hielten sie aufrecht und starr und richteten ihre Blicke in die Ferne. Ihre Stimmen wurden elektronisch wiedergegeben, so dass sie von ihren Körpern getrennt waren: teils wurden sie verstärkt über Microports, teils als vorproduzierte Tonaufnahmen aus dem Off eingespielt. Der gesprochene Text aus Euripides’ Drama vermischte und überlagerte sich mit dem Text von Müllers Bildbeschreibung, den der als Mumie gestaltete Sprecher (David Bennent) zeitgleich mit heller Stimme sprach. Statt Dialog und dramatischer Interaktion entstand eine komplexe Collage akustischer und visueller Elemente. Die Linearität eines dramatischen Verlaufs war zugunsten eines verräumlichten Nebeneinanders simultaner Ereignisse suspendiert, so dass der Zuschauer weniger durch die Szenen hindurchgeführt wurde als dass er angehalten war, in der Szene zu verweilen. Hier umhüllten ihn Geräusche des Windes, das Plätschern des Wassers, das ebenso wichtig erscheint wie das lang gezogene, sich verwebende Sprechen »ohne Richtung«, deren Qualitäten sich gegenseitig unterbrechen. Die Tonebene, komponiert als sogenannte soundscape, spielte in diesem Prozess eine herausragende Rolle. Seit 1978 hatte der Sounddesigner und Komponist Hans Peter Kuhn aufwändige Toncollagen für Wilson produziert, wodurch sich dessen Inszenierungen von seinen frühen Arbeiten, den sogenannten silent operas, deutlich unterschieden. Die rätselhaften Bilder, die in sich bereits simultane Ereignisse beinhalteten, wurden durch dichte, von den Bildern abgelöste Klangereignisse überlagert, die aus um

14 Das Verfahren dieser (Re-)Komposition hat Roesner analysiert, der Wilsons Inszenierungspraxis als »heterogene Polyphonie« beschreibt, vgl. David Roesner, Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen: Narr, 2003, S. 237 ff.

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die Zuschauer herum positionierten Lautsprechern kamen und eine gesteigerte Komplexität erzeugten. Die zweite Alkestis-Szene beispielsweise war von einer Vielzahl heterogener, rhythmisch komponierter sonorer Elemente geprägt: düstere Basstöne, ein von Ferne hörbares, wie vom Wind bewegtes Schellengeklinge, Hundegebell, geheimnisvolle Rufe, gellende Schreie, dazu das ruhige Fließen, Stoppen und Wiederansetzen der kaum vernehmbaren Stimme des Bildbeschreibers sowie einzelne Wörter und Satzfetzen aus Euripides’ Alkestis, die aus verschiedenen Lautsprechern erklangen und um das Thema des Todes kreisten.15 Zentral ist, dass die Verursacher der Äußerungen und Geräusche nicht sichtbar waren. Vielmehr sah man auf der weiten Bühne, wie einige Akteure rätselhafte Handlungen ausführten: drei gleich gekleidete Frauen wuschen ihre Haare in dem quer verlaufenden Fluss, wobei das Plätschern des Wassers aus den Lautsprechern klang; dahinter vier Männer, die sich in formalisierter Weise bewegten und etwas aus einem Gefäß auf den Boden streuten, eventuell die Handlung des Säens darstellten; rechts zwei auf dem Boden hockende Frauen, die Tücher ins Wasser tauchten, sowie eine liegende Frau. Die Inszenierung war von einer Reihe enigmatischer Bilder, Klänge, Worte und Handlungen geprägt, die sich gegenseitig überlagerten. Für den Zuschauer ist es in dieser Situation vermutlich kaum möglich, alles auf einmal wahrzunehmen. Anders als in der Forschung bislang behauptet, entsteht die Komplexität also keineswegs allein durch die Bilder,16 sondern durch das Ineinander von Visuellem und Akustischem. Wilson, der sich gerne zu seinem Werk äußert, hat dies zur Zeit der Entstehung der AlkestisInszenierung so benannt:

15 Der gesprochene Inhalt lautete etwa: »Ich frage mich, was diese Stille bedeutet«, »erneut ein Sturm«, »Sie ist tot« und immer wieder ein lakonisches »Nichts«. 16 Vgl. beispielsweise: Robinson, in: Fuchs; Chaudhuri (Hg.), Land/Scape/Theater, 2002 (siehe Fn. 11), der die »visual mobility« des Betrachters hervorhebt.

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Apollo und der Tod, somnambul gleitend, äußern Sätze aus Euripides’ Alkestis als Teil einer komplexen Soundcollage. Alkestis (1987) in der Regie von Robert Wilson, Musik/Sound: Hans Peter Kuhn. Foto: © Mara Eggert

»Das Visuelle und das Akustische finden zur gleichen Zeit statt. […] Es gibt immer verschiedene Netze, die sich überlagern, in verschiedene Richtungen, phasenverschoben oder gleichgerichtet oder gegeneinander verlaufend. Es gibt alle diese 17

ineinander verzahnten Schichten von Ereignissen.« (Robert Wilson, 1987)

Der Prozess der Sinnschöpfung und Deutung obliegt dabei stärker noch als sonst dem Zuschauer, der die verschiedenen Zeichen auf seine Weise zu verknüpfen sucht.

17 Robert Wilson, »Wenn ich den Ton abschalte... Gespräch mit dem Theatermacher Wilson«, in: Stuttgarter Zeitung (27.02.1987), zitiert nach: Christian W. Thomsen, »Robert Wilsons Bilder. Am Beispiel von CIVIL warS, Hamletmaschine und Death, Destruction and Detroit II«, in: TheaterZeitSchrift, 20, (1987), S. 43–60, 47.

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Theater als Landschaft Auch wenn Wilson dieses Verfahren der simultanen und nichtsynthetisierten Zeichen bereits in den 1970er Jahren entwickelt hat, so tauchen seit den späten 1980er Jahren neue Begriffe auf, um darüber zu sprechen. Vermehrt wird nun die Metapher der Landschaft herangezogen, um Wilsons Simultanästhetik zu beschreiben. Der Regisseur Richard Foreman war der erste, der einen Vergleich zwischen Wilsons Bühnenästhetik und einer Landschaft nahelegte: durch das »sweet and powerful ›placing‹ of various found and invented stage objects and actions« entstehe eine »›field‹ situation«, die den Zuschauer zu vergleichendem Sehen herausfordere.18 Landschaft wird – neben der Bestimmung als Traum oder Partitur19 – zu der dominanten Beschreibungskategorie für Wilsons Theater – und auf paradigmatische Weise weit darüber hinaus. Nun ist es wahrscheinlich, dass die ›Landschaft‹ als ästhetische Beschreibungsmetapher im Zusammenhang mit einer neuen klanglichen Dimension im Theater Robert Wilsons steht, die in den 1980er Jahren durch die Zusammenarbeit mit Hans Peter Kuhn entstanden ist – mit einer klanglichen Weite also, die über die Bühnengrenzen hinaus geht.20 Interessanterweise ist dies bislang nicht explizit im Diskurs aufgeworfen worden. Wenn ich im Folgenden einen genaueren Blick auf diesen Landschaftsdiskurs werfe, verspreche ich mir davon – über die Analyse der ästhetischen Gestalt hinaus –, das dramaturgische Dispositiv zu erfassen, das die Wahrnehmung strukturiert und die Art und Weise der Erscheinung der visuellen wie akustischen Ereignissen bestimmt. Wer also verwendet das Landschaftskonzept aus welchen Gründen? Was genau wird darunter verstanden? Gemeint ist zunächst einmal nicht primär die Landschaft als Teil der Szenografie. Vielmehr geht es um Landschaft als eine Beschreibungskategorie für ästhetische Vorgänge, einschließlich der mit ihnen verbundenen Wahrnehmung. Als solche taucht sie erstmals bei Gertrude Stein auf, die ihre frühen Theatertexte als »landscape plays«

18 Zitiert nach Robinson, in: Fuchs; Chaudhuri (Hg.): Land/Scape/Theater, 2002, S. 160 (siehe Fn. 11). 19 Vgl. Roesner, Theater als Musik, 2003 (siehe Fn. 14). 20 Diesen Hinweis verdanke ich dem Austausch mit Hans Peter Kuhn auf der Tagung, deren Ergebnisse der vorliegende Band dokumentiert.

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bezeichnet. 21 Im deutschsprachigen Raum kommt, davon ausgehend, Heiner Müller eine herausragende Bedeutung zu, in dessen Dramen das Landschaftsmotiv seit Ende der 1970er Jahre vielfach auftaucht. Auf beide werde ich näher zu sprechen kommen. Überblickt man die Verwendung des Landschaftsbegriffs im ästhetischen Diskurs, so lassen sich vor allem drei Kriterien für den Vergleich zwischen Inszenierung und Landschaft ausmachen: Das erste Kriterium besteht darin, dass die heterogenen, nichthierarchischen Mittel als ein organischer Verbund interpretiert werden. Dies lässt sich etwa an Texten der Theaterwissenschaftlerin Bonnie Marranca ablesen, einer einflussreichen Chronistin der amerikanischen Neo-Avantgarde. 22 In ihrem Entwurf einer »ecology of theatre« rekurriert sie auf Wilsons Produktion The Forest (Berlin 1988), die im Anschluss an Alkestis entstand und bei der Texte, Bilder, Mythen aus unterschiedlichsten Zeiten kombiniert werden. Hier sieht Marranca das Archiv als das leitende dramaturgische Prinzip. Wilson gestalte ein »book of nature«, in dem verschiedene Elemente ein Eigenleben führten, »as if they were interactive organisms in the same environment«.23 Demzufolge erscheint das theatrale System als ein »Öko-System«. Zwar können die disparaten Zeichen nicht homogenisiert werden, jedoch werden sie auf ein Gesamtbild bezogen. Neben diesem Argument des Organischen bezieht sich das zweite Kriterium eines Vergleichs von Theater und Landschaft darauf, dass die traditionellen Kategorien Handlung und Figur negiert und dadurch der Mensch in eine post-anthropozentrische Perspektive gestellt werde. In diesem Sinne hebt Lehmann als Signum des postdramatischen Theaters hervor, dass es nicht mehr »an menschliche Autonomie als Frage und Problem« geknüpft sei. 24 Auf diese Weise kommt dem Theater der Landschaft – wie er mit Bezug auf Wilson ausführt – eine paradigmatische Funktion zu:

21 Vgl. die Nachweise im Folgenden. 22 Bonnie Marranca, »Robert Wilson and the Idea of the Archive. Dramaturgy as an Ecology«, in: dies., Ecologies of Theater. Essays at the Century Turning, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1996, S. 34–48. 23 Ebd., S. 46 f. 24 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, S. 132.

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»Die Langsamkeit und die Ästhetik der Dauer lassen den Menschen als Bestandteil des mythischen Naturkosmos erscheinen. Geschichte vereint sich mit der Ruhe der Wolken, der Dauer eines Sonnenuntergangs, einem pflanzlichen Rhythmus. […] 25

Wie im antiken Mythos ist das Leben ein Moment des Kosmos.«

(Hans-Thies

Lehmann, 1995)

Ebenso wie Marranca sieht er im Landschaftstheater »menschliche Aktionen in Zusammenhang von Naturgeschichte« 26 stehend. Landschaft erscheint als ein Modell für eine neue Kultur, in der sich der Mensch nicht mehr als Herrscher über die Natur begreift.27 Das dritte Kriterium für den Vergleich zwischen Aufführung und Landschaft zielt darauf ab, das ästhetische Geschehen als eine spezifische rhythmische und zeitliche Ordnung zu denken. 28 Gertrude Stein formuliert in ihrem Theater-Essay Plays: »A landscape does not move, nothing really moves in a landscape but things are there, and I put into the play the things that were there.« 29 Das lakonische »things are there« imaginiert ein natürliches Dasein, das nicht den gegenwärtigen Augenblick allein bezeichnet und nicht in der Unmittelbarkeit einer physischen, räumlichen Präsenz aufgeht. Es kann nur erfasst werden über ein Verständnis von Dauer und Wiederholung. In diesem Kontext prägt Stein den Begriff der »continuous present«, den sie ohne nähere Erläuterungen in intuitiver Weise verwendet: »a continuous present is a continuous present«,30 oder: »naturally I knew

25 Hans-Thies Lehmann: »Robert Wilsons Theater. Die Zeit des Mythos«, in: VIII. International Meeting on Ancient Greek Drama, European Cultural Centre of Delphi 1995, S. 61–75, S. 69. 26 Hans-Thies Lehmann: »Zeitstrukturen, Zeitskulpturen. Zu einigen Theaterformen am Ende des 20. Jahrhunderts«, in: Theaterschrift, 12 (1997), S. 28–46, 36. 27 Ebd., S. 38. 28 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, S. 103–105 (siehe Fn. 24); vgl. auch Juliane Rebentisch, »Der Zeitraum des Landschaftstheaters«, in: dies., Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 151–162. 29 Gertrude Stein, »Plays«, in: dies., Writings, 1932–1946, New York: Library of America, 1998, S. 58–81, 80. 30 Gertrude Stein, »Composition as Explanation«, in: ebd., S. 21–30, 25.

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nothing of a continuous present but it came naturally to me to make one«.31 Man kann continuous present als »fortlaufende Gegenwart« übersetzen oder als ein »andauerndes Präsens«, das keinen Anfang und kein Ende kennt, mithin nicht teleologisch ausgerichtet ist, sondern statischkontemplativ. Stein versucht, diese Qualität durch ein permanentes Neuanfangen in leichter Variation zu erlangen: »continuous present, using everything, beginning again and again«,32 wodurch eine Verwandtschaft mit der Minimal Music hervorzuheben ist.33 Während Landschaft sonst als eine räumliche und visuelle Kategorie betrachtet wird, ist Steins Poetik der landscape plays im Grunde musikalisch-rhythmisch strukturiert und verweist darin letztlich auf eine zeitliche Dimension – auf die Gegenwart in der Wiederholung.34 Robert Wilsons heterogene Vielfalt in Alkestis lässt sich in diesem Diskursraum der Landschaft verorten. Das betrifft in erster Linie das Kriterium des Zusammenhangs disparater Elemente. Explizit lehnt Wilson es ab, die antike Dialogtechnik der Stichomythie, also der schnellen Wechselrede, zu verwenden, um die Inszenierung als »one thing« zu entwickeln.35 Der Eindruck von Einheitlichkeit wurde auf einer bildlichen Ebene umgesetzt durch den dominanten Gebirgszug im Bühnenhintergrund, der einen zentralen Bezugspunkt aller Bühnenaspekte darstellt; sie entstand darüber hinaus, indem die Rede durch Microports von den Körpern der Schauspieler getrennt wurde, um als Teil einer akustischen Gesamtinszenierung, der sogenannten Soundscapes, aus Lautsprechern zu erschallen. Zu der Landschaftsassoziation passt zudem, dass die Körper in vielen Szenen trotz der Vielfalt der Bewegungen auf unterschiedlichen Ebenen in Posen des Stillstands inszeniert waren. Daher lässt sich mit Gertrude Stein sagen: »nothing really moves, but things are there«.

31 Ebd. 32 Ebd., S. 25 f. 33 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, S. 137 (siehe Fn. 24). Hier wird Steins »continuous present« erklärt als »das scheinbare Auf-der-StelleTreten«, als »ein über alle Semantik obsiegender eigentümlicher Rhythmus, in dem alles Fixierbare in Variation und Abschattierung übergeht«. 34 Vgl. auch: Rebentisch, 2003, S. 151–162 (siehe Fn. 28). 35 Zitiert nach Fuchs, »The PAJ Casebook Alcestis«, in: Performing Arts Journal (1986), S. 86 (siehe Fn. 11). Hervorhebung MD.

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Dabei schien das szenische Geschehen ein nicht-menschliches Eigenleben zu führen, ganz im Sinne des von Marranca beschriebenen »ÖkoSystems«. Die Figuren glitten wie von fernen Kräften geführt über die Bühne. Auch ihre rätselhaften Gesten, die sich langsam vollzogen, schienen nicht bewusst von ihnen ausgeführt, ebenso wie einige blitzartige Bewegungen, die zuweilen wie aus dem Nichts entstanden. Ein heller dünner Vorhang, aufgehängt in einem einfachen Torrahmen, wurde wie von Geisterhand bewegt. Als Teil dieses Organismus’ kann man auch die OffStimmen sehen, die nicht als Figurenrede zu hören waren, sondern als ein ortloses orakelhaftes ›Es spricht‹36. Dies alles wurde, aufgrund eines nicht von Menschen gesteuerten Vollzugs, zu einem postanthropozentrischen Gefüge. So wird der Mythos als ›Landschaft‹ inszeniert, in der sich das überlieferte Geschehen des Mythos unbefragt vollzieht, ungerührt gegenüber dem individuellen menschlichen Schicksal. Die Zeitlichkeit der Szene orientiert sich nicht an einem linearen Ablauf von Lebenszeit, sondern ist verräumlicht und eingebettet in eine zyklische Wiederkehr der Natur. Hier erhebt sich die Frage, wie man den Status dieses Naturhaften näher deuten kann. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das mythenkritische Konzept von Jean-Luc Nancy näher zu betrachten, das er in seinem ebenfalls Mitte der 1980er Jahre entstandenen Essay Der unterbrochene Mythos darstellt. Hier betont Nancy, dass für die moderne Relevanz des Mythos weniger die Inhalte alter Geschichten ausschlaggebend sind, sondern die ›Art des Sagens‹, 37 die bestimmte Weise eines identifikatorischen Bezugs zur Welt: In dieser Art des ›großen Sagens‹ braucht der Mythos keine Interpretation:

36 Vernant beschreibt das »on-dit« als wesentliches Merkmal des Mythos. JeanPierre Vernant, »Der reflektierte Mythos«, in: Mythos ohne Illusion, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 7–11, 9. 37 Damit wendet sich Nancy explizit gegen eine Position von Lévi-Strauss, demzufolge Mythen über ihre Inhalte vermittelt sind: »Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil, noch in der Erzählweise oder Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird.« Claude Lévi-Strauss, »Die Struktur der Mythen«, in: ders., Strukturale Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967, S. 226–254, 231.

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»Er sagt nichts anderes aus als sich selbst, und er wird im Bewußtsein durch denselben Prozess hervorgebracht, der in der Natur die Kräfte hervortreibt, die der Mythos in Szene setzt. Er muß also nicht interpretiert werden, er erklärt sich selbst. […] Der Mythos ist die sich dem Menschen mitteilende Natur, zugleich unmittelbar – 38

weil sie sich mitteilt – und mittelbar, weil sie mitteilt (sie spricht).«

(Jean-Luc

Nancy, 1988)

Auf dieser Ebene kann man eine enge Verbindung zwischen Mythos und ästhetischen Prozessen herstellen. Das ›Theater als Landschaft‹ erscheint in dem Maße als ein mythisches Darstellen im Sinne Nancys, wie es sich als ein Geschehen jenseits jeder Interpretation behauptet; als ein Geschehen, das sich in seinem quasi naturhaften Dasein gewissermaßen von jedem Urheber abgelöst hat und dazu tendiert, zu einer ›sich mitteilenden Natur‹ zu werden. Bei näherer Betrachtung kann man eine Reihe von Differenzen herausstellen zwischen Wilsons Art des mythischen Darstellens und dem, was Nancy als das ›große Sagen‹ des Mythos kritisiert. Denn obwohl man für Wilsons Theater behaupten kann, dass es, ähnlich wie der Mythos, die Menschen mit den Dingen und dem Sein verbindet und angesehen werden kann, als »eine Weise, der Welt eine (innere) Bindung zu geben, und sich mit ihr zu verbinden«,39 schafft es nicht in der gleichen Weise Sinn wie der Mythos. Dennoch müssen die Zusammenhänge zwischen Mythos und Natur in Wilsons Theater näher befragt werden. Roland Barthes hat diese Zusammenhänge in seiner Untersuchung Mythen des Alltags auf einer generellen Ebene einer strengen Kritik unterzogen. Wenn menschliche Gegebenheiten, bestimmt durch gesellschaftlichkulturelle Kontexte, in der Sprache des Mythos dargestellt werden, so werde Geschichte in Natur verwandelt; menschliche Prozesse erschienen auf diese Weise als unveränderbar und seien für politische Ideologien missbrauchbar. 40 In diesem Sinne bemerkte Johannes Birringer, dass Wilson den Mythos von Alkestis’ Selbstopferung erzählt, »as if it had always been a

38 Jean-Luc Nancy, »Der unterbrochene Mythos«, in: ders., Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Ed. Schwarz, 1988, S. 93–148, 107. 39 Ebd., S. 106 f. Den Begriff des »großen Sagens« übernimmt Nancy aus: Pierre Clastres, Le Grand Parler. Mythes et chants sacrés des Indiens Guaranis, Paris: Seuil, 1974. 40 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1964.

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natural part of this eternal landscape and would continue to be so«.41 Hier taucht also das Problem auf, ob eine solche Darstellung ethisch zu rechtfertigen sei angesichts der im Stück behandelten Opferung einer Frau für ihren Mann. Es erhebt sich also der Vorwurf, dass die Geschichte eigentlich als kontingente, menschlich gemachte, gezeigt werden müsste, während die Landschaftsinszenierung aber suggeriert, dass hier ein Geschehen mit naturhafter Notwendigkeit ablaufe. Erzählt Wilsons Inszenierung also doch von einer zyklischen Wiederkehr und verbindet den Mythos mit etwas Dauerhaftem, Gleichbleibendem, Unveränderlichem?42 Mein Argument ist hier, dass Wilsons Mythenbezug eine Ambivalenz eingeschrieben ist, die Affirmation und Kritik des Mythos vereint. Dem will ich mit Bezug auf Heiner Müllers Landschaftsbegriff nachgehen. Dieser ist hier naheliegend, da er unmittelbar in Müllers Text Bildbeschreibung auftaucht, den Wilson in seine Alkestis-Inszenierung durch einen zur Mumie erstarrten Sprecher integrierte. Hier lassen sich auf verschiedenen Ebenen produktive Korrespondenzen zwischen Wilsons und Müllers Ästhetik erkennen.

Auferstehung – Heiner Müllers Landschaften Heiner Müller nannte seinen Text Bildbeschreibung im Nachwort eine »Übermalung der ALKESTIS«.43 »Der Text beschreibt eine Landschaft jenseits des Todes. Die Handlung ist beliebig, da die Folgen Vergangenheit sind, Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur.«44 In diesem Sinne hat Müller im Nachwort verschiedene intertextuelle Referenzen offengelegt, die das Motiv des Wiedergängers beziehungsweise des Gangs in die Unterwelt thematisieren und einen Grenzbereich zwischen Leben und Tod ausloten. Was aber verbirgt sich hinter dem Ausdruck einer »Landschaft jenseits des Todes«?

41 Birringer, »›Medea‹«, in: New German Critique, (1990), S. 103 (siehe Fn. 11). 42 So deutet es Katharina Keim: Natur erscheine als »überzeitliche Größe, die den Gegenpol zu den Wandlungen der verschiedenen Gesellschaftsformen bildet«. Keim, Theatralität, 1998, S. 217 (siehe Fn. 11). 43 Heiner Müller: Bildbeschreibung, in: ders., Werke, hg. von Frank Hörnigk, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 112–119, 119. 44 Ebd.

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Alkestis (1987) in der Regie von Robert Wilson, Musik/Sound: Hans Peter Kuhn. Foto: © Michael Dannenmann

Müller hat seinen Begriff der Landschaft in den 1980er Jahren als vielseitigen Topos der Erinnerung zur Geltung gebracht und ihn deutlich politisch konnotiert.45 Vor dem Hintergrund einer umfassenden Kritik der Naturbeherrschungsphantasien europäischer Aufklärung – der sozialistischen, der Müller anfangs selbst anhing, wie auch der kapitalistischen – gebraucht er Landschaft als Bild einer aufgelösten, überwundenen Zivilisation, aus der das menschliche Leben auf apokalyptische Weise verschwunden ist. So hat der Protagonist seines Theatertextes Hamletmaschine (1977) im »Rücken die Ruinen von Europa« und blickt auf eine verwüstete Landschaft. Eine solche bildet auch die Szenerie in Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982). Der erste Teil dieses Triptychons ist von der Ödnis eines mit Müll übersäten Ost-Berliner Seengebiets

45 Carl Weber, »Landschaft, Natur«, in: Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hg.), Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 108–113; Jeanette R. Malkin: »Heiner Müller’s Landscapes of Memory«, in: dies., Memory-Theater and Postmodern Drama, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1999, S. 71–113.

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gezeichnet, im dritten Teil bestimmt eine verwüstete Balkanlandschaft den imaginären Raum. In diesen Bildern verrotteter Zivilisation wird das Scheitern einer Aufklärung evident, die über ihre eigenen Bedingungen nicht aufgeklärt ist, so dass Landschaft als eine Art Negation oder Leere figuriert. Aus dieser Leere kann ein neuer Anfang wachsen. Daher verwendet Müller die Landschaft zur gleichen Zeit als Gegenbild zu den Zentren der Mächtigen. In Der Auftrag (1979) erklärt der Revolutionär Sasportas seine Vision des Widerstands: »Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsre Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste. Ich, das ist Afrika. Ich, das ist Asien. Die beiden Amerikas sind 46

ich.« (Heiner Müller, 1979)

Landschaft kann man daher bei Heiner Müller auf einer metaphorischen Ebene als eine Auflösungsfigur fassen, als Vision für die Überwindung der fehlgelaufenen anthropozentrischen Aufklärung. Mit der Rückkehr der Natur kehren – als »Krieg der Landschaften« – auch die Opfer der westlichen Zivilisation aus der Versenkung zurück. Es verweist auf die messianische Prägung der politischen Theologie Heiner Müllers, dass die Rückkehr der Opfer als eine noch ausstehende ›Auferstehung‹ imaginiert ist. Viele von Müllers Texten widmen sich der Möglichkeit dieser Auferstehung – »als Bedrohung der Lebenden durch die Toten«47. Solange diese nicht erfolgt ist, geistern die Opfer als Untote umher, in einem Zustand zwischen tot und lebendig: Sie lassen sich nicht vollends zur Ruhe bringen, aber werden ebensowenig verlebendigt. Dieser Zustand herrscht in Müllers Text Bildbeschreibung, der in Wilsons Alkestis komplett gesprochen wurde, und er ist als solcher deutlich auf eine Befragung des Mythos bezogen. Der Text beginnt mit dem Versuch, die Elemente einer statischen Szene – Gebirgszug, Bäume, Haus, Vogel, Früchte, Gartentisch, Stühle, Frau, Mann – durch eine Schilderung zu ver-

46 Müller, Werke 2, 1999, S. 40 (siehe Fn. 43). 47 Hans-Thies Lehmann: »Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers ›Bildbeschreibung‹«, in: Ulrich Profitlich (Hg.), Dramatik der DDR, Frankfurt am Main: Surhkamp, 1987, S. 186–202, 186.

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gegenwärtigen. Doch bevor eine Gesamtsicht entstehen könnte, zerfällt das Bild und der punktlos über mehrere Seiten mäandernde Text hebt sich von der mimetischen Wiedergabe ab, Assoziationen werden entwickelt, Hypothesen entworfen, Möglichkeiten durchgespielt. Es ist das zentrale ästhetische Merkmal dieses Prozesses, dass jede Setzung von einer nächsten in Frage gestellt wird;48 dadurch verweigert der Text jede geschlossene Aussage. Dennoch lassen sich dominante Motive erkennen: Besonders die Frau wird als Untote imaginiert, »noch beschwert vom Gewicht der Graberde, aus der sie sich herausgearbeitet hat«49; der Mann erscheint als »mutmaßliche[r] Mörder«, der die Frau getötet hat und immer wieder tötet: der »vielleicht tägliche[] Mord an der vielleicht täglich auferstehenden Frau«.50 Auf dieser Ebene ist Müllers Bemerkung zu verstehen, dass es sich um eine »Übermalung der Alkestis« handele. Der Kreislauf der Gewalt, die »Wiederkehr des Gleichen«, die hier von Müller imaginiert wird, verbindet sich mit der Vorstellung, dass dies sich ewig wiederholen wird. 51 Das zugrunde liegende Thema ist jedoch letztlich die Befreiung aus diesem Zyklus, zumindest die Befragung der Möglichkeit dieser Befreiung. Dies ist zu bedenken, wenn Müller seinen Text als »Landschaft jenseits des Todes« bezeichnet. Das Bild der ewigen Wiederholung und des Stillstands – »der gefrorene Sturm« 52 – wird herausgefordert von einer zu erwartenden »Auferstehung«, der der Text an vielen Stellen nachgeht. Besonders zum Ende hin wird dies in einer häufig zitierten Passage als Vision der Unterbrechung konkretisiert: »die Lücke im Ablauf, das Andre in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, der vielleicht erlösende FEHLER«.53 Die in diesen Worten gefassten Visionen verweisen auf die Utopie eines die Dinge

48 Vgl. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1992, S. 342f. 49 Müller, Werke 2, 1999, S. 115 (siehe Fn. 43). 50 Ebd., S. 116. 51 Ebd., S. 112: »Vielleicht steht DIE SONNE dort immer und IN EWIGKEIT: daß sie sich bewegt, ist aus dem Bild nicht zu beweisen auch die Wolken, wenn Wolken sind, schwimmen vielleicht auf der Stelle […].« 52 Ebd., S. 119. 53 Ebd., S. 118 f. In dieses Register gehört auch der »Sehschlitz in der Zeit […] zwischen Blick und Blick«. Ebd.

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ändernden Ereignisses. 54 Der im Text geformte Stillstand lässt sich in diesem Kontext – wie Müller an anderer Stelle ausgeführt hat – als »angehaltene Zeit« deuten, in der das Alte wiederkehrt und sich staut, Neues aber noch nicht möglich ist.55 Stillstand ist als Schwellenzustand zu verstehen beziehungsweise als ein Zustand der Latenz. Auch wenn Bildbeschreibung nur durch die zitierte Nachbemerkung, dass es sich um eine »Übermalung der Alkestis« handele, einen direkten Bezug zum Mythos herstellt, so ist der Text, besonders durch die Reflexion auf die zyklische Wiederkehr der Gewalt, direkt auf Müllers frühere Mythos-Rekurse bezogen. Diese Rekurse eint, dass sie sich dem Mythos zuwenden als einem Ort des Schreckens, an dem sich ein Zugang zu den verdrängten Seiten der Zivilisation und Aufklärung auftut. Denn dem Barbarischen des Mythos wird zugleich ein positives Potential der radikalen Alterität und des Ausbruchs zugesprochen. 56 Diese Auseinandersetzung kann indes nur sinnvoll im Rahmen von Müllers Kritik an der zyklischen Zeit des Mythos verstanden werden. Dazu gehört das zunehmende SichEntfernen von den überlieferten Varianten des Mythos, das sich in der Entwicklung seines Werkes beobachten lässt. Anfangs noch in Dramenform

54 Nikolaus Müller-Schöll verbindet mit der müllerschen Rede vom »Sehschlitz in der Zeit« eine »Unterbrechung der bekannten Zeitvorstellungen, ja aller Vorstellungen«, eine »andere, endliche Zeit (und Geschichte) der Unterbrechung – die sich selbst unterbricht, die vielleicht nicht einmal mehr als Zeit vorgestellt werden kann, insofern sie selbst die Zeit der Vorstellung gibt, eine Zeit, die traditionell am ehesten mit der Kategorie des ›Ereignisses‹ zu begreifen wäre«. Nikolaus Müller-Schöll, »Gestensammlung und Panoptikum. Zur Messianizität in Heiner Müllers ›Bildbeschreibung‹«, in: Ulrike Haß (Hg.), Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, Berlin: Theater der Zeit, 2005, S. 144–157, 151. 55 Vgl. »Eigentlich kann man nur noch in Zitaten miteinander reden. Das hat mit Freuds These zu tun, daß gesprochene Texte im Traum immer erinnerte oder zitierte Texte sind. Es gibt keine originären Texte in Träumen. Wir sind in einer solchen Traumphase. Das ist Stillstand von Dialektik. Eine angehaltene Zeit. Da staut sich alles was war. Das ist verfügbar, aber Neues ist nicht greifbar.« Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 225. 56 Für diese zweite Perspektive rekurriert Müller besonders auf den MedeaMythos.

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gestaltet, etwa in Philoktet (1958/1964), schimmert der Mythos seit den 1980er Jahren als ein Abwesendes durch die poetische Textur hindurch beziehungsweise kann nur noch erinnert werden. So erscheint der Mythos zunehmend als Landschaft. Für diese mit dem Mythos assoziierte Landschaft hat Müller in Wilson einen wichtigen Verbündeten gesehen, wenn nicht gar sein Vorbild: »sein Theater ist die Auferstehung. Die Befreiung der Toten findet in der Zeitlupe statt«, heißt es in dem kleinen Text Taube und Samurai, der sich auf CIVIL warS bezieht und im Entstehungsjahr von Alkestis geschrieben ist. Darin hebt er die Natur-Dimension in Wilsons Ästhetik hervor: Dieser arbeite »[m]it der Weisheit der Märchen, daß die Geschichte der Menschen von der Geschichte der Tiere (Pflanzen, Steine, Maschinen) nicht getrennt werden kann außer um den Preis des Untergangs«. Und in pathetischem Ton führt er aus: »Wenn die Adler im Gleitflug die Banner der Trennung zerreißen und zwischen den Schaltern der Weltbank die Panther spazierengehen, wird das Theater der Auferstehung seine Bühne gefunden haben.«57 Diese Vision der Auferstehung bezieht sich darauf, dem mythischen Kreislauf der Gewalt zu entkommen.

Verschwinden – Erscheinen Vor dem Hintergrund dieses müllerschen Landschaftsbegriffs lassen sich neue Aspekte von Wilsons Theater erschließen. Denn Müller bezieht sich explizit auf emanzipatorische Bestrebungen und erschließt daher eine politische, kritische Dimension des Landschafts-Bezugs, die in Wilsons Arbeiten nicht auf den ersten Blick zu finden ist. Daran anschließend kann man auch Wilsons Alkestis als eine ›Übermalung‹ des antiken Mythos beschreiben – auch wenn diese Metapher wieder aus dem Bereich des Visuellen gewählt ist, während der Vorgang des Verdeckens und der Überlagerung hier, wie sich zeigt, ebenso akustische Dimensionen umfasst. Denn die sich in der Inszenierung überlagernden Schichten schufen eine Struktur aus Oberfläche und Tiefe und mit ihr eine Ambivalenz von Verdecken und ZurErscheinung-Bringen.

57 Heiner Müller, »Taube und Samurai«, in: ders., Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, hg. von Frank Hörnigk, Leipzig: Reclam, 1989, S. 50.

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In diesem Sinne möchte ich ein paar abschließende Beobachtungen zur Ästhetik Wilsons anstellen: Verdeckt wurde zum einen die dramatische Vorlage durch visuelle und akustische Performanzen. An die Stelle der Chorpassagen etwa traten stumme pantomimische Choreografien und tableaux vivants. Jedoch war der Text nicht ganz verschwunden; einzelne Wörter wurden wiederholt, Sätze und Dialogteile schallten aus dem Off und kleine Szenen wurden dargestellt. Der Text klang auf diese Weise gewissermaßen durch das ihn überlagernde szenisch-akustische Geschehen hindurch und konnte als verschüttet, fern oder gar abwesend wahrgenommen werden. Verdeckt wurde nicht nur der Text, vielmehr überlagerten sich die Elemente der Inszenierung gegenseitig: Die enigmatischen Bilder und Handlungen, an sich schon hieroglyphenhaft fremd, wurden durch die sie überlagernden Soundscapes in eine Distanz versetzt; die langsamen und gleitenden Bewegungen und das geheimnisvolle Licht schufen eine entrückte Stimmung. Das szenische Geschehen wirkte insgesamt ferngerückt. So wurde die mythische Geschichte von Alkestis teilweise ertränkt in einer Flut von Tönen und Bildern. Der Mythos wird aus allen historischen Fixierungen, auch der von Euripides, befreit. Es konnte gar der Eindruck entstehen, dass der Mythos sich verliere. Zugleich war das szenische Geschehen gestaltet als etwas Nachträgliches, wie etwas Vergangenes, das wiederkehrt;58 etwas, das sich nicht im Moment unmittelbar ereignet, sondern erinnert wird. Müllers Kommentar zu Bildbeschreibung lässt sich somit auf Wilsons Alkestis übertragen: in einer »abgestorbenen dramatischen Struktur«59 wird der Mythos überdeckt und steigt zugleich als eine Erinnerung wieder auf. Aus dieser Perspektive kann man auch Wilsons Inszenierung der Alkestis als Wiederkehr der Toten verstehen, respektive als ein Geisterfeld, in dem Figuren zwischen Leben und Tod wandeln und tönen; sie haben ihre Ruhe nicht im Tod gefunden, sind aber auch nicht auferstanden. 60

58 Fuchs fasste es als »retrospective feel«. Fuchs et al., »The PAJ Casebook Alcestis«, in: Performing Arts Journal (1986), S. 95 (siehe Fn. 11). 59 Heiner Müller: Bildbeschreibung, in: ders., Werke, hg. von Frank Hörnigk, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 112–119, 119. 60 Den Status der Figuren als Untote betonte besonders Birringer: »[They] walk in slow motion, as if they had risen from the grave […]. Bodies of the performers

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Dabei ist entscheidend, dass hier keine neue Sinngestalt entwickelt wird, dass Deutungsmöglichkeiten potenziert werden, ohne aber Interpretationen nahezulegen. Eine identifikatorische Verschmelzung mit dem Mythos ist daher kaum möglich. Dafür ist Wilsons Schluss paradigmatisch: Drei von Scheitel bis Fußsohle in weiße Schleier gehüllte Frauen traten durch eine Luke im Boden auf und blieben dort zum Schluss, nach vorne gewandt, stehen. Sie wurden nicht entschleiert, so dass Euripides’ glücklicher Ausgang sich nicht einlöste; ebensowenig aber legte dies eine politische Interpretation nahe, wie sie Müller in Bildbeschreibung entwickelt: dass die Frau als Untote wiederkehre und auf eine Befreiung aus dem Kreislauf der Gewalt warte. Müllers Werk ist durch sein starkes Historizitätsbewusstsein geprägt, durch den ständigen Versuch der Überwindung historischer Lasten. Wilson dagegen trägt keinen Kampf aus. Der Mythos erscheint wie ein Felsen, in sich ruhend, verschlossen, aber nicht verständlich. Alkestis’ Wiederkehr vollzieht sich als Mysterium. Weil der Mythos bei Wilson ohne Sinn ist, hat er aber immer auch einen fragenden Charakter. So lässt sich Wilsons Theater, in der Spannung zu Müllers Landschaftsbegriff, als ›Theater der Wiederkehr‹ auffassen, in dem der Mythos in den Bildern, Zeichen, Tönen der Vergangenheit nicht aktualisiert wird, sondern eine geisterhafte, irreale Präsenz entfaltet. Ein ›Theater der Auferstehung‹ in einem eschatologischen Sinne, wie Müller es anklingen lässt, ist dies nicht. Dennoch befreit Wilsons Theater von den Fixierungen auf die ewige Wiederkehr des Gleichen, indem es sich den naturhaften Rhythmen des Werdens und Vergehens überlässt. Wilsons Theater schwingt sich so zu einer Vogelperspektive auf. Durch den Blick auf den naturhaften Rhythmus des Wandels deutet sich die Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge an. Als solches sucht die mythische Ästhetik nach einer Ordnung der Zeit, die jede Immanenz der Gegenwart überschreitet.

seem already ossified and statuesque«. Birringer, »›Medea‹«, in: New German Critique, 50, (1990), S. 102 (siehe Fn. 11).

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Alkestis (1987) in der Regie von Robert Wilson, Musik/Sound: Hans Peter Kuhn. Foto: © Michael Dannenmann

Robert Wilson, Alceste, Act II, 1990. Charcoal on BFK Rives paper 19 3/4" x 25 5/8". © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Michael Tropea

Klangkunst als Landschaft? Überlegungen anlässlich Kuhns Arbeiten nach dem Theater S ABINE S ANIO

Ende der neunziger Jahre präsentierte der Berliner Klangkünstler Hans Peter Kuhn einige spektakuläre Klang-Licht-Installationen im öffentlichen Raum. 1996 realisierte er auf dem 300 Meter langen Pier 32 an der Lower West Side von Manhattan The Pier. Dort befanden sich, von einem anderen Pier aus gut sichtbar, neun Türme, die – jeder in einer anderen Farbe – auf den Seiten monochrom bemalt waren und nachts in derselben Farbe angestrahlt wurden. Über die an den Türmen befestigten Lautsprecher bewegten sich zugleich Töne mit hoher Geschwindigkeit von Turm zu Turm. Ein Jahr später entstand die Installation auf dem Potsdamer Platz, damals Berlins größte Baustelle. Die dort in großer Zahl vorhandenen Baukräne wurden farbig angestrahlt, während die über die Baustelle verteilten zehn Lautsprecher entweder typische Baustellengeräusche abstrahlten oder Geräusche, die auf die zukünftige Nutzung des Geländes hinwiesen. 1 1998 präsentierte Kuhn beim Adelaide Festival in Australien seine Installation Over the River. In der Parklandschaft am River Torrens, auf der dem Opernhaus gegenüberliegenden Flussseite standen acht große verschiedenfarbige Wände, die nachts farbig angestrahlt wurden. Über unter den Wänden montierte Lautsprecher bewegten sich abstrakte Klangfetzen mit hoher

1

Vgl. dazu Kuhns eigene Beschreibung auf seiner Webseite: www.hpkuhn-art.de (Zugriff: 9.9.2014).

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Geschwindigkeit den Fluss entlang. Schließlich ließ Kuhn 1999 in seiner Lichtinstallation Marzahn – bei Licht betrachtet zum 20. Jubiläum des Neubaubezirks Berlin-Marzahn die Fahrstuhlhäuschen auf den Dächern aller 44 Hochhäuser in 44 verschiedenen Farben anstrahlen. 2 In diesen und ähnlichen Installationen verwandelt Kuhn den öffentlichen Raum in eine Bühne für Farben und Klänge. Wie eine Skizze oder Vorarbeit zu den wenig später entstandenen großen Projekten wirkt die 1996 im Rahmen der ersten Sonambiente-Ausstellung in den Berliner Sophiensælen gezeigte Installation Ballett. 3 Quer in den ansonsten völlig leeren, heruntergekommenen Veranstaltungssaal eines ehemaligen Arbeitervereins, in dem dessen Vergangenheit, von der DDRZeit bis zurück in die zwanziger Jahre, noch präsent zu sein schien, stellte Kuhn eine weiße, übermannshohe, sieben Meter lange Mauer, bekrönt von insgesamt 32 dicht nebeneinander stehenden schwarzen Lautsprechern. Von einem Lautsprecher zum nächsten tanzten in unterschiedlicher Geschwindigkeit und nach verschiedenen Mustern sehr leise, feine Klänge über die Mauer. Der spektakuläre Raum erschien als der eigentliche Protagonist dieser Installation, die in ihrer kühl-technischen Erscheinungsweise den denkbar größten Kontrast zu ihm bot. Das Ballett zeichnete wie die Installationen im Außenraum eine eigentümliche Zweideutigkeit aus: Sie alle verweisen auf die Situation vor Ort, verleihen ihr aber mit Farben, Licht und Klängen eigene Akzente und verändern auf diese Weise auch die Wahrnehmung der Besucher. Anders als viele andere Klangkünstler geht es Hans Peter Kuhn selten darum, die Besonderheiten eines bestimmten Ortes zur Entfaltung zu bringen, er nutzt diese eher für Inszenierungen, in denen neben den auditiven und visuellen Momenten der Raumeindruck eine große Rolle spielt, weshalb manche seiner Installationen geradezu als audiovisuell konzipierte Landschaften

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Andere ähnliche Arbeiten waren u. a.: The Bridge (2000), Lichterfeld F 60 (2003), Virtuelle Brücke in der Weichsel (2006).

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Hans Peter Kuhn, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Klangkunst [Katalog erschienen anlässlich von Sonambiente: Festival für Hören und Sehen, Internationale Klangkunst im Rahmen der 300-Jahrfeier der Akademie der Künste, Berlin, 9.8.– 8.9.1996], hg. von der Akademie der Künste Berlin, München, New York: Prestel, 1996, S. 84f.

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erscheinen. Kann man aus diesen Beschreibungen seiner installativen Arbeiten auf Kuhns Theaterarbeit für Robert Wilson in den achtziger Jahren zurückschließen?

Landschaft als ästhetisches Konzept: Die Landschaft im postdramatischen Theater In den achtziger Jahren war es vor allem Hans Peter Kuhn, der den AudioPart von Wilsons Inszenierungen realisierte, 4 das Konzept der »AudioLandscape« hatte Wilson jedoch schon vor dem Beginn ihrer Zusammenarbeit entwickelt. In der Idee der Audio-Landscape deutet sich bereits die elementare Bedeutung an, die der Dimension des Auditiven in Wilsons postdramatischem Theater zukommen sollte. Diese Idee entstand zunächst aus der Trennung der Stimme von der handelnden Person: Mit Hilfe einer speziellen Audiotechnik konnte Wilson die Stimme in ein Moment des Bühnenbildes verwandeln. Doch seine besondere Bedeutung erhielt das Auditive durch Wilsons Verzicht auf die Handlung, die als dramatischer Konflikt herkömmlicherweise die innere Einheit eines Dramas bildet. Im Drama stellt die Handlung Beziehungen zwischen den verschiedenen Protagonisten her, auch Worte und körperliche Aktionen sind für sie ungeschieden, weshalb die unterschiedlichen sinnlichen Qualitäten des Auditiven und Visuellen gegenüber dem eigentlichen dramatischen Konflikt stets nachrangig sind.5 Ohne das einheitsbildende Moment der Handlung stehen auditive und visuelle Elemente unverbunden, aber gleichberechtigt nebeneinander, infolgedessen treten auch ihre unterschiedlichen sinnlichen Qualitäten nun deutlicher hervor. Außerdem bewirkt der Verzicht auf die Handlung eine grundlegende Entkontextualisierung und Enthierarchisierung, die die Mittel und Materialien des Theaters ebenso erfasst wie seine Personen und Figuren. Wilson, dessen postdramatisches Landschaftskonzept den Verzicht auf die Handlung kompensieren sollte, betonte jedoch stets die Heterogenität der Bezüge; sein an den Avantgarde-Konzepten der Montage und Collage orientiertes Theater kombiniert immer wieder ganz

4

5

Wie in diesem Band in verschiedenen Beiträgen nachgewiesen wird. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2011, S. 137. Sowie Matthias Dreyers Beitrag in diesem Band, darin: erster Abschnitt.

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Entgegengesetztes miteinander. Besonders zu Anfang trug gerade das Offene und Vieldeutige, die Unmöglichkeit, Eindeutigkeit und Sinn herzustellen, erheblich zur Faszination des postdramatischen Theaters bei.6 Ein wichtiges Vorbild für sein Theaterkonzept fand Wilson in Gertrude Steins Idee der »continuous presence«. 7 Steins Ästhetik unterläuft alle entwicklungsorientierten Zeitvorstellungen und bringt mit ihren unendlichen syntaktischen und verbalen Verkettungen, die scheinbar statisch auf der Stelle treten, sich aber in Wahrheit in subtiler Variation und Schleifen immer neu akzentuieren, neue Formen der Zeiterfahrung ins Spiel.8 Wilson rückte nicht allein, wie Lehmann und Dreyer übereinstimmend konstatieren, bildlich-visuelle und natürlich-mythische Assoziationsräume an die Stelle des von der Handlung aufgespannten Raums;9 er fand schließlich im Konzept der Landschaft die entscheidende Strategie für die Gestaltung seiner Stücke, mit der sich auch die durch Entkontextualisierung und Enthierarchisierung drohenden Auflösungstendenzen kompensieren ließen. Von zentraler Bedeutung für das Landschaftskonzept war die Dimension des Auditiven. Das betrifft insbesondere die Beziehung zum Publikum: Während die Landschaft als ein Gegenüber in der Distanz erscheint, wird das Publikum von der auditiven Sphäre umhüllt und umgeben, Distanz lässt sich deshalb nicht ohne weiteres herstellen. Als zeitgebundenes Phänomen bietet das Auditive eine konkrete Alternative zur Idee der Handlung, deren Aufgabe die Gestaltung einer erfüllten Zeit war. Indem die Dimension der Zeit zu einem Moment des Landschaftsbegriffs avanciert, gewinnt dieser erheblich an Komplexität. Bevor ich mich zur Klärung der Frage, ob sich Wilsons postdramatischer Landschaftsbegriff für die Klangkunst produktiv machen lässt, den Performance-Bewegungen der siebziger Jahre als gemeinsamer Vorgeschichte von Klangkunst und postdramatischem Theater zuwende, möchte ich zunächst den Begriff der Landschaft selbst etwas eingehender beleuchten und dafür einige seiner wichtigsten Varianten und Aspekte wenigstens kurz vorstellen.

6

Vgl. Dreyers Beitrag in diesem Band, darin: »Theater als Landschaft«.

7

Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, 2011, S. 79 und 105 (siehe Fn. 5).

8

Ebd., S. 137.

9

Ebd., S. 41–44, 59–71. Sowie Dreyers Beitrag in diesem Band, erster Abschnitt.

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Landschaft als ästhetisches Konzept: Landschaftsmalerei und musikalische Landschaften Alle heute diskutierten ästhetischen Landschaftskonzepte lassen sich auf den Landschaftsbegriff der Bildenden Künste zurückführen. Die Gattung der Landschaftsmalerei entstand, als die Darstellung religiöser oder mythologischer Geschehnisse an Bedeutung verlor und die Landschaft, zunächst einfach nur Ort dieser Geschehnisse, schließlich zum alleinigen Thema der Malerei wurde. Im Verlust einer zentralen ästhetischen Kategorie könnte man eine Parallele zum Landschaftskonzept des postdramatischen Theaters sehen, die Landschaft füllt beide Male die durch einen Verlust entstandene Leerstelle. Unabhängig davon gehört schon in der Malerei neben der subjektiven Perspektive, mit der der Maler den Blick auf die Landschaft motiviert, die Spannung zwischen der Heterogenität der Einzelelemente einerseits und der übergreifenden Gesamtkomposition andererseits zu den zentralen Mitteln künstlerischer Gestaltung. Anders als in der Malerei hat sich in der Musik keine eigenständige Gattung der »Landschaftsmusik« ausgebildet. Was, denkt man an die Szene am Bach in Beethovens sechster Sinfonie, keineswegs unmöglich gewesen wäre; es widersprach aber den damaligen Tendenzen in der Musik, die ihr Selbstbewusstsein gerade aus dem Selbstverständnis als abstrakte Kunst bezog, weshalb man die Unabhängigkeit von außermusikalischen Bezügen stets besonders betonte. Erst im 19. Jahrhundert finden sich in Programmmusik und Sinfonischer Dichtung musikalische Landschaften in größerer Zahl, etwa bei Hector Berlioz in der Szene auf dem Lande der Symphonie fantastique, bei Richard Strauss in der Alpensinfonie, bei Gustav Mahler oder auch bei Charles Ives, der in manchen Kompositionstiteln konkrete Landschaftsbezüge herstellte und seine Unanswered Question in einer »cosmic landscape« (so der Untertitel) erklingen ließ. Statt als musikalische »Wirklichkeitsabbildung« wird die Inszenierung solcher Landschaften in der Debatte über diese Musik meist als musikalische Imagination interpretiert.

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Die Performance-Bewegungen als Vorgeschichte Die Performance-Bewegungen haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht allein die Bildenden Künste dieser Jahre geprägt; für die Klangkunst wie für das postdramatische Theater bilden sie eine entscheidende Etappe ihrer Vorgeschichte, die insbesondere für das Selbstverständnis der Klangkunst aufschlussreich ist. Bereits in den fünfziger Jahren hatte Jackson Pollock mit dem Action Painting den Prozess des Malens gegenüber seinem Produkt, dem Gemälde, aufgewertet. Seit den sechziger Jahren versuchte eine Reihe von Künstlern, die Trennungen zwischen den Künsten zu unterlaufen oder aufzulösen. Performance, Happening und Event waren neue ästhetische Konzepte, mit denen die Bildende Kunst in eine Zeitkunst verflüssigt werden sollte. Künstler wie Allan Kaprow, George Brecht, La Monte Young, Nam June Paik oder Dick Higgins erweiterten die Malerei in den Raum, indem sie Wände gestalteten (Kaprow), sie bezogen alltägliche Objekte in ihre Performances ein (Brecht, Higgins) oder sie entwickelten minimalistische Formen des Konzerts (Paik, Young) und der Partitur (Brecht). Im Versuch, Konsequenzen aus der damals virulenten Kritik am Werkbegriff zu ziehen, betonten die Performance-Konzepte das Offene, Unvorhersehbare des ästhetischen Geschehens, zugleich operierten sie häufig mit visuellen wie musikalischen Materialien, um möglichst viele Sinne des Publikums anzusprechen. Die erwähnten Tendenzen der Dekontextualisierung und Enthierarchisierung prägten bereits die Prozessualisierung der Bildenden Kunst. Sie wirkten nicht nur negativ als kritische Impulse gegen die traditionellen Funktionszusammenhänge des Ästhetischen, sondern auch positiv, als Impulse zur Emanzipation und ästhetischen Aufwertung der verwendeten Mittel und Materialien. Zuerst von John Cage 1958 in seinem Konzept der Unbestimmtheit formuliert, 10 bildeten sie für viele Jahre einen nachhaltigen Antrieb für die Entwicklung der Künste.

10 John Cage, »Composition as Process. Indeterminacy« (1958), in: derselbe, Silence: Selected Writings, Middletown: Wesleyan University Press, 1961, 1973, S. 35–40.

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Ähnlich wie Robert Wilsons Theaterkonzept viele Ideen der Performance-Bewegungen aufnahm,11 entstand auch die Klangkunst in den frühen achtziger Jahren im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit den damaligen Performance-Konzepten,12 was die Vermutung, zwischen beiden könnten bestimmte Parallelen und Gemeinsamkeiten bestehen, nahelegt. Die entscheidende Parallele zum postdramatischen Theater und seiner Distanzierung von der Idee der Handlung im Drama findet sich in Versuchen, die dominierende Rolle des Performers zu hinterfragen. – Die Entstehungsgeschichte der Klangkunst setzt genau mit diesen Versuchen ein. Die kritische Auseinandersetzung mit der Performance richtete sich keineswegs gegen eine Prozessualisierung der Bildenden Künste, sondern kritisierte vornehmlich die Funktion des Performers. Als problematisch betrachtete man nicht etwa die modifizierte Form der Handlung, die durch ihn Eingang in die Performance-Ästhetik fand, kritisch moniert wurde vielmehr, dass sich das Publikum fast ausschließlich am Performer orientierte, so dass der gesamte Verlauf des Rezeptionsprozesses an ihm ausgerichtet war; alle anderen Elemente einer Performance waren demgegenüber nur zweitrangig.

Landschaft – Ortsbezug – Situation Die Klangkunst entstand ursprünglich im Bestreben, auditive mit visuellen Materialien und Konzepten zu kombinieren. Zugleich wollte man dem Publikum eine offene Rezeptionssituation anbieten, in der sich Hörer und Besucher weitgehend selbständig orientieren konnten. Ähnlich wie der Verzicht auf die Handlung im postdramatischen Theater, ermöglichte der Verzicht auf den Performer in der Klangkunst ganz neue künstlerische Konzepte. Für Künstler, die wie etwa Christina Kubisch oder Rolf Julius selbst als Performer agiert hatten, rückte mit dem Verzicht auf den Performer der Raum selbst als Ort ihrer Installationen in den Fokus. Die Aufmerksamkeit galt den sinnlich erfahrbaren Aspekten eines Ortes: Licht,

11 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, 2011, S. 241f. (siehe Fn. 5). 12 Zur Debatte über ästhetische Möglichkeiten im Bereich zwischen Konzert und Action Painting vgl. Peter Noever, Paul Schimmel (Hg.), Out of Actions. Aktionismus, Body Art und Performance 1949–1979, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 1998.

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Farben, Klänge und Geräusche wurden als abstrakte oder formale Elemente oder aber als expressiv oder bedeutend erlebt und interpretiert. Die Kritik an den etablierten Orten der institutionalisierten Künste brachte seit den achtziger Jahren verstärkt Tendenzen hervor, Räume und Orte außerhalb des White Cubes der Galerien und Museen, oft auch im öffentlichen oder halböffentlichen Raum aufzusuchen. Die Klangkunst partizipierte an diesen Tendenzen schon deshalb, weil die traditionellen Konzertsäle als Aufführungsorte von Klanginstallationen und Klangskulpturen ungeeignet waren. Als Erkundung vergessener oder vernachlässigter Orte und Räume außerhalb der institutionalisierten Kunst gehörte die Auseinandersetzung mit den konkreten Aufführungsorten zu den elementaren ästhetischen Impulsen der Klangkunst.13 Auf diese Weise setzte sich die Klangkunst von Anfang an mit raumbezogenen Fragen und Konzepten auseinander. Weitgehend unbestimmt blieb demgegenüber das zeitliche Moment; die zeitliche Organisation des musikalischen Materials trat gegenüber der Betonung des Klangs und seiner spezifischen Qualitäten zurück. Bis ins neue Jahrtausend prägte das Konzept des Ortsbezugs – im Englischen site specificity – die Diskussion über Kunst im öffentlichen Raum und damit außerhalb des White Cubes der Galerien. Auch für die Klangkunst war der Ortsbezug von enormer Bedeutung.14 Nach einiger Zeit wurde jedoch deutlich, dass er allein der Klangkunst kein tragfähiges Fundament geben kann. Ursprünglich für einen bestimmten Raum entworfen, werden viele Installationen anschließend an beliebigen anderen Orten gezeigt. Statt den konkreten, historisch wie durch seine Funktionen definierten Ort reflektieren sie vielmehr dessen räumliche Gegebenheiten

13 Siehe: Golo Föllmer, »Klangorganisation im öffentlichen Raum«, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Klangkunst (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 12), Laaber: Laaber, 1999, S. 191–227.

14 Siehe: Claudia Büttner, Art goes Public. Von der Gruppenausstellung im Freien zum Projekt im nicht-institutionellen Raum, München: Schreiber, 1997, insb. S. 173–214. Marius Babias, Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen. Projekte, Ideen, Stadtplanungsprozesse im politischen, sozialen, öffentlichen Raum, Amsterdam: Verlag der Kunst, 1998. Florian Matzner (Hg.), Public Art. Kunst im öffentlichen Raum, Ostfildern-Ruit: Cantz, 2001. Volker Plagemann (Hg.), Kunst im öffentlichen Raum. Anstöße der 80er Jahre, Köln: DuMont, 1989.

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und Qualitäten. Für eine angemessene Interpretation solcher Installationen empfiehlt es sich, nicht mit dem ›Ortsbezug‹, sondern mit dem Begriff der ›ästhetischen Situation‹ zu argumentieren. Von Hegel in die Ästhetik eingeführt, beschreibt der Begriff der ästhetischen Situation den Hintergrund der ästhetischen Handlung: Neben dem räumlichen und zeitlichen Rahmen des dramatischen Geschehens schließt die Situation auch alle anderen Rahmenbedingungen und Grundlagen der Handlung ein.15 Mit dem Verzicht auf die Handlung – oder in der Musik auf motivisch-thematische Arbeit – rückt fast zwangsläufig die Situation in den Fokus, die damit zu einer Art Metaebene wird. Heute umfasst die ästhetische Situation, anders als bei Hegel, neben den Rahmenbedingungen des im Kunstwerk dargestellten Konflikts auch die realen Aufführungsbedingungen eines Werks vor einem Publikum. Auf diese Weise reflektiert sich im Situationsbegriff die Auseinandersetzung mit den konkreten Bedingungen und Möglichkeiten von Kunst. Im Unterschied zum Ortsbezug und zum Situationsbegriff ist der Landschaftsbegriff dem Kunstwerk gewissermaßen immanent; die Landschaft muss als Vorstellung gedacht werden, die im Verlauf der Rezeption aus den verschiedenen Momenten und Materialien einer Installation oder eines postdramatischen Theaterstücks entsteht. Doch anders als im postdramatischen Theater spielten Landschaftskonzepte in der Klangkunst nie eine größere Rolle. Und im Unterschied zum Ortsbezug oder zum ästhetischen Situationsbegriff begegnet man der Landschaft in der Klangkunst vor allem als Metapher. Dennoch lohnt es sich, die verschiedenen Landschaftsmetaphern der Klangkunst ein wenig ausführlicher zu untersuchen.

15 Hegels Ästhetik war nicht allein die erste, sondern vor allem wohl die folgenreichste Werkästhetik, in der wie Künstler, Material und Publikum auch die Situation eine zentrale ästhetische Kategorie bildet. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik I, Westberlin: Das europäische Buch, 1985, S. 196–215. Zur aktuellen Rolle des Situationsbegriffs in der Musik und besonders in der Klangkunst: Sabine Sanio, »Autonomie, Intentionalität, Situation. Aspekte eines erweiterten Kunstbegriffs«, in: de la Motte-Haber, Klangkunst (siehe Fn. 13), S. 67–118. Sabine Sanio, »Erfahrung statt Vergegenständlichung. Zum Begriff der Situation in der gegenwärtigen Ästhetik«, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Musikästhetik, Laaber: Laaber, 2004, S. 355–372.

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Soundscape – Klanginstallation – Electrical Walks Es war R. Murray Schafer, der Ende der siebziger Jahre die Landschaft ausdrücklich zum Begriff einer neuen musikalischen Gattung gemacht und dafür einen eigenständigen Begriff, die Soundscape erfunden hat.16 Schafer selbst hat seine Forschung zur Soundscape sowohl ästhetisch als auch historisch und ökologisch-analytisch angelegt, die Frage der ästhetischen Erfahrung einer Soundscape ist für ihn nur ein Schritt auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, nämlich zur Gestaltung moderner Klanglandschaften, deren Qualität er als verbesserungswürdig betrachtet. Wie der Landschaftsbegriff selbst argumentiert auch der Begriff Soundscape nicht allein ästhetisch, sondern stets auch ökologisch, als und für ein neues Naturverständnis.17 Bis heute gehört diese Fragestellung zu den zentralen Themen im Feld der Soundscape-Forschung.18

16 In der ersten deutschen Übersetzung von Schafers Hauptwerk The Tuning of the World (R. Murray Schafer, Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988) wurde »Soundscape« mit »Lautsphäre« übersetzt und das ästhetische Assoziationsfeld durch das der Biologie ersetzt. Da sich jedoch auch im Deutschen der englische Begriff »Soundscape« eingebürgert hat, hat sich das ästhetische Assoziationsfeld erhalten. Inzwischen hat eine zweite deutsche Übersetzung diese Ungenauigkeiten korrigiert: R. Murray Schafer, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, hg. von Sabine Breitsameter, Mainz: Schott, 2010.

17 Vgl. Ulrich Eisel, »Die schöne Landschaft als kritische Utopie oder als konservatives Relikt«, in: Soziale Welt 33,2 (1982), S. 157–168. Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft. Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld: Transcript, 2012. Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, »Landschaft, Wildnis, Ökosystem: zur kulturell bedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen«, in: dies. (Hg.), Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld: Transcript 2009, S. 13–66. Olaf Bastian, »Landschaftsökologie – auf dem Wege zu einer einheitlichen Wissenschaftsdisziplin?«, in: Naturschutz und Landschaftsplanung, Jg. 33,2–3 (2001), S. 41–51.

18 Vgl. Detlev Ipsen u. a. (Hg.), KlangOrte, Kassel: Kassel University Press, 2004. Hans U. Werner und die Insertionisten (Hg.), SoundScapeDesign – KlangWeltenHörZeichen, (The Soundscape Newsletter Europe Edition), Basel: Akroama,

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Ähnlich wie der Begriff der Landschaft beruht auch der SoundscapeBegriff, der die auditiv-musikalische Dimension der Wirklichkeit als eigenständiges, ganzheitliches Phänomen beschreibt, auf der Perspektive der subjektiven ästhetischen Erfahrung. Ausgangspunkt und Thema ist die Idee einer Klanglandschaft, diese kann aber auch kompositorisch gestaltet werden. Gerade in jüngster Zeit bildet die Idee der Soundscape das Fundament einer eigenständigen musikalischen Strömung. Mit vor Ort aufgenommenen Field recordings präsentieren diese Kompositionen ein musikalisches Material, das seinerseits viele Natur- und Landschaftsassoziationen auslöst. Ähnlich wie die Musique concrète kann man Soundscape-Kompositionen und Field recordings konzeptionell wie musikalisch als Auseinandersetzung mit den neuen audiotechnischen Möglichkeiten interpretieren, die der Musik bis heute wichtige Impulse geben. Gegenüber diesen Konzepten, vor Ort aufgenommene Klänge für elektroakustische Kompositionen zu nutzen, entwirft die Klangkunst eine Gegenposition: Mit manchmal ganz einfachen oder minimalistischen Interventionen in eine Natur-, Kultur- oder Stadtlandschaft fordert sie das Publikum gewissermaßen zu Erfahrungen und Entdeckungen vor Ort auf. Exemplarisch sei hier die Berliner Konzertreihe erwähnt, für die der Klangkünstler Rolf Julius 1981/82 Lautsprecher an unterschiedlichsten Orten platzierte. Die von den Lautsprechern übertragenen Klavierklänge markierten ihrerseits beispielsweise die Atmosphäre an einem vereisten See im Wald. Eine urbane Klanglandschaft gestaltete Julius 1993 mit dem Klangbogen hinter dem Bremer Hauptbahnhof. Der Weg wird durch Lichtstelen beleuchtet, über die darin installierten Lautsprecher hört man, den Weg abschreitend, abstrakte Klänge in höherer Lage, über im Boden verlegte Lautsprecher Klänge mit tieferen Frequenzen, die an einen unterirdischen Bach erinnern.19 Bereits 1977 entstand Max Neuhaus’ seit einigen Jahren wieder zugängliche Installation Times Square auf dem gleichnamigen Platz in New York. Da vor Ort jeder Hinweis auf die Installation fehlt, könnte man die

1996. R. Murray Schafer, Die Schallwelt in der wir leben, hg. von Franz Blasl, Wien: Universal Edition, 1971.

19 Die Stadt Bremen dokumentiert die Installation von Julius auf ihrer Webseite: http://www.kunst-im-oeffentlichen-raum-bremen.de/werke.php?edit_artist_id=3 18&edit_art_id=506 (Zugriff: 9.9.2014).

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drone-artigen Klänge, die aus den Luftschächten der U-Bahn dringen, für rein zufällig entstanden oder technisch verursacht halten. Auf subtile Weise färben diese unauffälligen Klänge die gesamte Wahrnehmungssituation am Times Square, die sich keineswegs auf akustische Phänomene beschränkt. Einen ähnlichen Effekt hatte die Installation Drive-in-Music (1967/68): In den Bäumen an einer Straße hatte Neuhaus auf einigen hundert Metern mehrere sehr schwache, sich teils überlagernde Radiosender befestigt. Während der Autofahrer in seinem Wagen saß, bewegte er sich in den von den Radiosendern erfassten ›Räumen‹, die sich manchmal sogar überlagerten. Mit seinen schwachen Radiosendern erzeugte Neuhaus auf wenigen hundert Metern musikalische Effekte, die diese ›Radio-Räume‹, in denen wir uns beim Autoradiohören häufig bewegen, hörbar machen. Eine Soundscape besonderer Art präsentiert Christina Kubisch20 in ihren Electrical Walks (2003): Mit eigens dafür eingerichteten Kopfhörern macht sie die heute besonders in den Städten fast allgegenwärtigen Klänge der Stromerzeugung und -nutzung durch Transformatoren, Navigationsund Beleuchtungssysteme, Aufzüge, Antennen, Straßenbahnleitungen, Bankautomaten, Überwachungskameras etc. hörbar und entwirft spezielle Karten mit möglichen Routen und besonders interessanten Plätzen. Sehr populär sind besonders in jüngster Zeit verschiedene mit Smartphone und GPS operierende Formen des Audiowalks, die den Soundscape vor Ort durch zusätzliches Informationsmaterial oder hörspielartige Elemente ergänzen oder kontrastieren. Im Jahr 2009 hat Peter Ablinger mit seiner Landschaftsoper eine der unbeweglichsten und traditionsmächtigsten musikalischen Gattungen in die Landschaft transferiert.21 Auch bei Ablinger ersetzen natürliche Prozesse die klassische Opernhandlung: Die Landschaft wird zum Bühnengeschehen.

20 Ähnlich wie Julius ist Christina Kubisch eine klassische Doppelbegabung und hat sowohl Musik wie Bildende Kunst studiert. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hat sie zusammen mit dem italienischen Künstler Fabrizio Plessi zahlreiche Performances realisiert, von denen viele als Video-Aufzeichnungen vorliegen. Siehe: Elisabeth Jappe, Performance, Ritual, Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München: Prestel, 1993, S. 187.

21 Siehe Ablingers Website: http://ablinger.mur.at/landschaftsoper.html (Zugriff: 9.9.2014).

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Landschaftsmetaphern in der Klangkunst? Die oben beschriebenen Arbeiten in der Landschaft, also in urbanen oder ländlichen Räumen, stellen nicht selbst Landschaft dar oder her, sondern sind als Interventionen in oder Kommentare zu bestimmten Landschaften konzipiert. Hingegen kann man in einigen Klanginstallationen durchaus Landschaftsmetaphern vermuten, die Parallelen zur Idee vom »Theater als Landschaft« aufweisen. Die ersten Klangkunstkonzepte präsentierten sich gerne als weitgehend offene, unbestimmte Möglichkeiten, eine aktuelle Situation vor Ort zu erkunden. Im postdramatischen Theater und gerade bei Wilson entspricht dem die extreme Dehnung der Inszenierungen, die Wilson mit der Aufforderung an das Publikum verbindet, nach Belieben Pausen einzulegen, so in Einstein on the Beach (1976).22 In der Klangkunst führte die Kritik an der Rolle des Performers zu vielfältigen Versuchen, den Rezeptionsprozess weitgehend offen zu gestalten. Während die Künstler bemüht waren, auf direkte Vorgaben zu verzichten, sollte der Rezipient selbst zum Akteur werden und den Prozess der Rezeption weitgehend eigenständig gestaltet. Damit avancierte die Rezeptionssituation endgültig zum zentralen Thema der künstlerischen Reflexion. Besonders in der Frühzeit der Klangkunst lassen sich keine Hinweise auf ein irgendwie geartetes Landschaftskonzept entdecken. Ähnlich wie bei den anfangs vorgestellten Installationen von Hans Peter Kuhn besitzt die Auseinandersetzung mit der konkreten Situation vor Ort eine eminente Bedeutung, ja, häufig lieferten bestimmte Orte entscheidende ästhetische Impulse, um ungewöhnliche Konstellationen von Farben und Klängen zu inszenieren und Hören und Sehen in Interaktion miteinander zu bringen. Dennoch findet sich eine Reihe von Klanginstallationen, die mit dem Assoziationsfeld der Landschaft oder mit Landschaftsmetaphern spielen. Im Fall der Arbeiten von Kuhn drängt sich der Gedanke auf, dass er den Landschaftsbegriff aus den Theaterdiskursen tatsächlich in seine eigenständigen Arbeiten übertrug. Der anfangs von ihm verwendete Begriff des »KlangEnvironments«, 23 also der gestalteten Klang-Umgebung, zeigt diese gedankliche Verwandtschaft.

22 Siehe auch: Lehmann, 2011, S. 331f. (siehe Fn. 5).

23 Siehe Hans Peter Kuhns Beitrag in diesem Band.

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Zwei Installationen von Hans Peter Kuhn tragen den Landschaftsbezug bereits im Titel: Für die Licht-Klang-Installation Landschaft (2002) verlegte er im Glockenraum der Parochialkirche einen Gitterboden, unter dem sich Leuchtstoffröhren und Lautsprecher befanden. 24 Unter den Füßen der Besucher erstreckte sich eine eigene Welt aus Licht und Klang. Während die Lampen unablässig leuchteten, huschten feine Klänge von Lautsprecher zu Lautsprecher. Für die Licht- und Klanginstallation Undefined Landscape (2007) war ein großer gelber Teppich in die Ausstellungshalle gelegt worden, auf dem sich in zufälliger Anordnung 64 Lautsprecher befanden, jeder von einer kleinen Schreibtischlampe angestrahlt. Die Besucher waren eingeladen, sich auf dem Teppich niederzulassen und den Klängen der 64kanaligen Komposition zu lauschen. 25 Mit Licht und Klang hat Kuhn in diesen beiden Installationen Situationen geschaffen, die ganz für sich stehen, also keinen Bezug zum bereits Vorhandenen aufweisen. Zugleich präsentieren sie sich als in sich geschlossene, wohl komponierte Gebilde. Auffällig ist, dass in beiden Installationen die Licht- und Klangquellen einen abgesonderten Bereich darstellen, der sich dem Hörer/Betrachter unmerklich entzieht und den Eindruck eines Panoramas oder eben einer Landschaft vermittelt. – Und das gilt nicht allein für die durch den Gitterboden geschützten Lautsprecher und Leuchtstoffröhren, sondern auch für die Lampen und Lautsprecher auf dem Teppich der Undefined Landscape. Doch wer hier der Einladung folgte und sich zwischen den Lautsprechern niederließ, befand sich mit einem Mal unmittelbar in einem vielstimmigen klanglichen Geschehen, das sich am Vorbild der Naturerfahrung orientierte. In elektroakustischer Musik wie in der Klangkunst gehört das ganze Spektrum der Alltagsgeräusche heute ganz selbstverständlich zum musikalischen Material. Im Vergleich zu Programmusik und sinfonischer Dichtung, die am Ende des 19. Jahrhunderts die reine Instrumentalmusik und ihr Ideal der Abstraktion überwinden wollten, scheinen die Beziehungen der Musik zur

24 Dokumentiert in: Carsten Seiffarth, Markus Steffens (Hg.), singuhr – hoergalerie in parochial 1996-2006, sound art in berlin, Heidelberg: Kehrer, 2010, S. 90f.

25 Diese Installation hat Kuhn 2007 bei seiner Einzelausstellung Frozen Heat – Hans Peter Kuhn im Tokushima Modern Art Museum in Japan gezeigt. Siehe Titelfoto und Julia H. Schröders Beitrag in diesem Band.

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sogenannten ›außermusikalischen Wirklichkeit‹ inzwischen vielfältiger und komplexer zu sein. Vereinzelt, das wurde hier gezeigt, finden sich auch musikalische Annäherungen an Landschaftsvorstellungen. Diese können ganz konkret an Landschaften gemahnen, andere spielen nur assoziativ oder metaphorisch mit dem semantischen Feld dieses ästhetischen Konzepts. Ohne deshalb einen eigenständigen musikalischen Landschaftsbegriff auszubilden, setzen sich Strömungen der elektroakustischen Musik ebenso wie Positionen der Klangkunst nicht nur mit Landschaftsmetaphern auseinander, sie erkunden vor allem die Geräuschkulisse und die Soundscape des modernen städtischen, manchmal auch des ländlichen Lebens. Die Werke von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy, in deren Komponieren Techniken des Field recordings und die Entwicklung der Sampletechnik bereits früh eine zentrale Rolle spielten,26 sind exzellente Beispiele für ein kompositorisches Selbstverständnis, das diese neuen audiotechnischen Möglichkeiten ernst nimmt und es sich zur Aufgabe macht, alltägliche Geräusche in musikalische Prozesse zu verwandeln.

26 Siehe die Beiträge von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy in diesem Band.

Auf der Suche nach dem verlorenen Klang Zur Schauspielmusik vor Robert Wilson und Heiner Müller U RSULA K RAMER

Vorbemerkungen Im Februar 1979 erschien in der FAZ der Bericht über eine Berliner Schauspielproduktion, bei der auch der Einsatz von Musik eine entscheidende Rolle spielte: die Uraufführung von Robert Wilsons Death Destruction & Detroit in der Schaubühne am Halleschen Ufer. Dem Rezensenten, Georg Hensel, damals Chefkritiker des Blatts, war diese Tatsache seinerzeit freilich nur einen einzigen Satz wert: »Zu Pop-Musik rückt eine stachelbewehrte Riesenechse unendlich langsam vor einem gigantischen Saurier zurück …«1 Der Aussagewert über die Funktion der Musik im Rahmen dieser Inszenierung ist denkbar gering, »zu Popmusik« die vagste aller Möglichkeiten der Beschreibung des Verhältnisses von Text und Musik: In welcher Relation stehen die beteiligten theatralen Mittel zueinander, welche Funktion kommt der Musik in der Produktion konkret zu? Und doch muss man aus musikhistorischer Sicht über derartige Randbemerkungen froh sein, stellen sie schließlich in Zeiten vor den heute üblichen Video-Mitschnitten von Theateraufführungen mitunter die einzigen Spuren dar, die die Mitwirkung einer zusätzlichen klingenden Dimension in

1

Georg Hensel, »Einladung zu Tagträumen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.2.1979), zitiert nach: Georg Hensel, Das Theater der siebziger Jahre. Kommentar, Kritik, Polemik. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1980, S. 267.

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der jeweiligen Inszenierung hinterlassen hat. 2 Dass es diese tatsächlich und in immer neuen Spielarten gegeben hat, ist als Selbstverständlichkeit der Theatergeschichte seit der Antike gleichsam stillschweigende Voraussetzung auch für die Frage nach ihrer Bedeutung im gesamten 20. Jahrhundert, denn: Nicht erst die Aufwertung von Sounddesign und die neuen Chancen technischer Reproduzierbarkeit haben die Musik zum Partner von Theaterproduktionen werden lassen; ihr waren vielmehr durch innovative Tendenzen spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs schon längst eigenständige Optionen erwachsen. Fährten wie die eingangs zitierte Erwähnung in der Presse erscheinen umso bedeutsamer, als gerade im 20. Jahrhundert – im Gegensatz zu Werken früherer Jahrhunderte – die jeweils aktuelle Dramatik zwar einerseits auf eine allzu gegenständlich-realistische Verwendung von Musik (Auftrittsfanfaren, szenische Lieder etc.) mehr und mehr verzichtete, andererseits aber auf einer sekundären Ebene dennoch bzw. umso mehr mit der Beteiligung von Musik rechnete. Untrüglichstes Indiz dafür dürften die alljährlich im Deutschen Bühnenjahrbuch ausgewiesenen »Leiter der Schauspielmusik« an den zahlreichen Theatern unterschiedlichster Größenordnung sein; kein Haus hätte sich deren Festanstellung geleistet, wenn nicht entsprechender Bedarf vorhanden gewesen wäre. Der Versuch, diese klingenden Realitäten zu rekonstruieren, gleicht einer archäologischen Spurensuche auf schwer zugänglichem Terrain. Schon Goethe hatte 1817 die großen Differenzen konstatiert, die bei Aufführungen eines identischen Theaterstücks auf unterschiedlichen Bühnen zutage traten – bedingt durch die spezifische musikalische Ausgestaltung der einzelnen Produktionen.3 In dem Maß, in dem Musik im 20. Jahrhun-

2

Oftmals wurde noch nicht einmal auf den Theaterzetteln die Mitwirkung der Musik vermerkt; dies gilt für den gesamten Zeitraum des deutschsprachigen Theaters ab der Institutionalisierung der Bühnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein. De facto ist demnach von einer weit umfänglicheren Mitwirkung von Musik bei Schauspielaufführungen auszugehen, als es eine diesbezügliche Analyse von Theaterzetteln suggerieren würde.

3

Johann Wolfgang von Goethe in einem Brief an die Hoftheater-Intendanz in Weimar (24.2.1817); zitiert nach: Goethes Werke, herausgegeben im Auftrage

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dert schließlich nicht länger ein vom Autor gefordertes klingendes Bühnenrequisit war, und zugleich die Rolle des Regisseurs als intellektuell eigenständig prägende Kraft der jeweiligen Inszenierung immer zentraler wurde, kam auch der Musik bzw. den vielfältigen Ausprägungen von Klängen eine gesteigerte Bedeutung zu. Insofern erweist sich gerade das 20. Jahrhundert als äußerst lohnendes Feld für die Beschäftigung – wiewohl es bislang von der Schauspielmusikforschung allenfalls marginal gewürdigt wurde.4 Allein theaterhistorisch handelt es sich beim 20. Jahrhundert zweifellos um die komplexeste Epoche, und eben diese Diversifizierung findet ihr Pendant in

der Großherzogin Sophie von Sachsen (Weimarer Ausgabe), 4. Abtheilung (Briefe), Bd. 27 (Mai 1816 – Februar 1817), Weimar 1903, S. 357. 4

Als Teilgebiet der Musik(theater)wissenschaft ist die Schauspielmusik insgesamt ein vergleichsweise junger Forschungszweig, der erst in den letzten 15 Jahren, ausgehend von den vielfältigen Initiativen Detlef Altenburgs (zahlreiche Aufsätze insbesondere zum 18. und 19. Jahrhundert), mit zunehmender Intensität verfolgt wurde. Im Zentrum standen dabei vor allem Individualstudien aus dem klassisch-romantischen Zeitalter (Schriftenreihe Musik und Theater, hg. von Detlef Altenburg, Sinzig: Studio-Verlag, u. a. zu Goethes Faust, den Dramen Kotzebues und Shakespeares). Jüngst konnte ein umfangreiches Projekt zur Bedeutung der Musik im frühneuzeitlichen Drama mit einer ersten Publikation abgeschlossen werden (Irmgard Scheitler, Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit, Bd. 1 Materialteil, Tutzing: Schneider, 2013). Für das 20. Jahrhundert lagen bislang nur vereinzelte Studien zum Theater Brechts (Ingeborg Allihn) oder der Frage politischer Implikationen (Marie-Therese Hommes) vor. Der von der Verfasserin herausgegebene Sammelband zur 400jährigen Geschichte der Schauspielmusik im europäischen Theater (Ursula Kramer, Theater mit Musik, Bielefeld: Transcript, 2014) beinhaltet auch eine Sektion, die sich dem 20. Jahrhundert widmet; hier dominieren bezeichnenderweise (noch) die Texte der Theaterwissenschaftler. Dort ist auch der bislang signifikanteste Beitrag zur Bedeutung der Musik im Theater des 20. Jahrhundert verortet; David Roesner hatte zunächst unter dem Titel Theater als Musik (Tübingen: Narr 2003) Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson beschrieben. Sein jüngster, gemeinsam mit Lynne Kendrick herausgegebener Sammelband Theatre Noise: The Sound of Performance lag bei Redaktionsschluss dieses Beitrags noch nicht vor.

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der flankierenden Musik für die Bühne. Idealiter vollständig im theatralen Gesamtereignis einer Produktion aufgehend, verliert die Schauspielmusik jene eigenständige Identität einer »Musik an sich«, die ihr in früheren Zeiten – losgelöst von ihrem ursprünglichen Entstehungsort – zumindest in Teilen auch im Konzertsaal ein Weiterleben garantierte, wie dies für Ludwig van Beethovens Egmont, Felix Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum und Edvard Griegs Peer Gynt paradigmatisch gilt. Als ›angewandte Musik‹ ganz auf das Usuelle gerichtet und ohne eigene Daseinsform, scheint Schauspielmusik gerade im 20. Jahrhundert so vergänglich wie das Theater selbst zu sein. Und genau hier liegt das eigentliche Problem für die Forschung. Komponiert, arrangiert bzw. kreiert für einen bestimmten Anlass, eine spezifische Bühnenproduktion, verliert diese »exklusive« Musik mit der Dernière ihre Bedeutung. Während Theaterbibliotheken (im günstigen Fall) ihre Opernmaterialien aufbewahren und/oder diese an Einrichtungen mit dem Auftrag zur Erhaltung des kulturellen Erbes, wie Stadt- oder Landesbibliotheken, Archive oder sonstige spezielle Sammlungen abgeben, wurden bzw. werden solche Maßnahmen für die Schauspielproduktionen in der Regel nicht getroffen. Hinzu kommt, dass die überwältigende Mehrheit derartiger Musik – wenn überhaupt – nur handschriftlich vorliegt; Druckausgaben als Instrument zur weiteren Vermarktung nicht zuletzt jenseits der Bühne (wie noch im 19. Jahrhundert) wurden so gut wie überhaupt nicht mehr herausgebracht, zu unselbständig und für eine Existenz losgelöst vom Theater allzu ungeeignet waren die meisten dieser Kompositionen.5 Handschriftliches Notenmaterial hingegen ist, wenn es im Theater verbleibt, üblicherweise dem Untergang geweiht. Etwas günstiger stellt sich die Lage mitunter dar, wenn Komponistennachlässe existieren: Zumal bei großen Namen werden auch vermeintlich unbedeutendere Gebrauchsmusiken sorgsam archiviert und

5

Ausnahmen bestätigen die Regel, wie etwa die aus Anlass von Goethes 100. Todestag 1932 für Berlin in Auftrag gegebene Komposition zu Goethes Faust von Hermann Simon. Geschrieben für eine kleine, kammermusikalische Besetzung mit individueller Instrumentierung der einzelnen Nummern (reduziert bis hin zur Begleitung durch ein Vibraphon) erschien die Partitur 1941 im Verlag Robert Lienau.

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gehütet.6 Weniger bekannten Musikern bzw. Komponisten wird oftmals auch nur entsprechend geringeres Engagement seitens der bewahrenden Stätten zuteil: Entsprechend mühsam aus ungeordneten Konvoluten zu sichten, kaum rekonstruierbar und zu verlässlichen Aussagen verwendbar nehmen sich dementsprechend Skizzenmaterialien von Komponisten der zweiten oder gar dritten Reihe aus. 7 Mitunter treffen Komponisten im vorgerückten Alter bei der Sichtung und Archivierung ihres Gesamtœuvres sogar selbst noch pragmatische Entscheidungen zum Nachteil eben jener Sparte »angewandter Musik«, zu der auch die Schauspielmusik gehört, indem sie sie als für die Nachwelt nicht mehr bedeutsam einstufen und vernichten.8 Was demnach vielfach für die Kompositionen selbst gilt, trifft auch auf flankierende Produktionsquellen wie Regiebücher oder – für die früheren Jahrhunderte – Kapellmeisterbücher und Rollen-Hefte der einzelnen Schauspieler sowie gegebenenfalls schriftliche Hinweise von Regisseur und/oder Komponist zu: Auch hier sind möglicherweise relevante wie interessante Dokumente heute im großen Stil überhaupt nicht mehr zugänglich. Man kann sich glücklich schätzen, wenn man wie im Falle Max Reinhardts über eine große Anzahl von Regiebüchern verfügt, in denen sich punktuell aufschlussreiche Kommentare und Ideen, etwa zum Einsatz der Musik, finden.

6

Das gilt beispielsweise für die in der Schweizer Paul Sacher Stiftung befindli-

7

So befindet sich etwa das musikalische Material zu Gustav Gründgens‘ Salzbur-

chen Materialien von Pierre Boulez, Luciano Berio oder Hans Werner Henze. ger Faust-Produktion im Archiv der Festspiele. Es stammt von Bernhard Paumgartner und enthält Skizzen zu einer ganzen Reihe von Szenen, ist allerdings nicht wirklich sortiert. 8

So geschehen im Fall des Komponisten Hans Ulrich Engelmann, der ab 1946 und bis in die 1970er Jahre hinein eine ganze Anzahl von Schauspielmusiken schrieb, intensiv mit den Regisseuren Hering und Sellner zusammenarbeitete, und sich dabei nach eigener Aussagen in den verschiedensten stilistischen Richtungen erprobte. Sein musikalischer Nachlass, seit kurzem in der Universitätsund Landesbibliothek in Darmstadt verwahrt, enthält keine einzige seiner Arbeiten für das Schauspiel. Nach Auskunft von Engelmanns Witwe Roma hielt er diese für nicht bewahrenswert.

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Ausschnitt aus Max Reinhardts Regiebuch zu Goethes Faust (1909). Im Rahmen der Vorbereitungen zu seinen Inszenierungen notierte Reinhardt immer wieder eigene Vorstellungen zu Art und Verwendung der Musik, die von den Komponisten freilich nicht immer 1:1 umgesetzt wurden (Archiv der Salzburger Festspiele, Max Reinhardt Forschungsstätte, Abdruck mit freundlicher Genehmigung).

Und dennoch lassen sich für die gesamte ältere Theaterhistorie bis zur Einführung von Videoaufzeichnungen niemals vollständige, sondern allenfalls Teil-Realitäten rekonstruieren, deren generelles Manko darin besteht, dass die eigentliche Regieleistung nicht mehr abrufbar ist. Dementsprechend grundsätzlich problematisch erscheinen Aussagen zur Mitwirkung und dramaturgischen Funktion der eingesetzten Musik. Was aber anstelle der Aufzeichnung bleibt, sind schriftliche Quellen, sowohl auf produktionswie auf rezeptionsästhetischer Ebene: –



theoretische Texte zur jeweiligen Ästhetik der Schauspielmusik, in der Regel formuliert aus der Perspektive der aktiv Theaterschaffenden, Regisseure und Komponisten, Werkstattbriefe zwischen Regisseur und Komponist in der Vorbereitungsphase für eine Produktion,

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– –

persönliche Erinnerungen von Theaterschaffenden ebenso wie von zeitgenössischen Rezipienten, Rezensionen in lokalen wie überregionalen Zeitungen bzw. Fachzeitschriften.

Der Versuch, die im Rahmen des vorliegenden Bandes verhandelten konkreten Beispiele der Theatermusiken von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy durch eine panoramatische Zusammenschau des Umgangs mit Schauspielmusik im 20. Jahrhundert historisch zu verorten, wird gleich von verschiedenen Seiten in die Schranken gewiesen. Neben die skizzierte defizitäre Forschungslage tritt die erwähnte schwierige Quellensituation; vor allem aber ist es die außerordentliche Pluralität klanglicher und kompositorischer Möglichkeiten, die zu einer kaum mehr zu überblickenden Vielfalt an individuellen Realisierungen geführt hat und deren Ausdifferenzierung im Laufe der Jahrzehnte noch weiter zugenommen hat. Aus dieser Gemengelage resultiert nun für die folgenden Ausführungen ein eher pragmatischer Zugriff, abhängig vom tatsächlich vorhandenen Quellenmaterial. Anhand von fünf unterschiedlichen Gegensatzpaaren, deren erste als historische Kategorie Stationen auf der Längsachse des 20. Jahrhunderts markiert, während die verbleibenden vier aus systematischer Perspektive (werkästhetisch, topographisch, personell und produktionsästhetisch) exemplarische Spannbreiten aufzeigen wollen, zwischen denen die diversen Realitäten von Schauspielmusik angesiedelt sind.

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Zwei Stimmen aus der Praxis Heinz Tiessen (1887–1971), Komponist von Schauspielmusiken von 1918 bis in die 1930er Jahre: »Schauspielmusik beruht auf wesentlich anderen Voraussetzungen als Opernmusik und Konzertmusik. Sie beansprucht nicht die souveräne Selbstgenügsamkeit und Totalität des reinen Musikwerks, noch setzen sich, wie in der Oper, alle dramatischen und seelischen Vorgänge in musikalisches Fleisch und Blut um […]. Der Komponist selbst spielt eine ›Rolle‹, eine größere oder kleinere, eine tragende oder eine episodische. Mannigfaltig an Beschaffenheit und an Bedeutsamkeit sind die musikalischen Mittel und Möglichkeiten, die das Wortdrama verwendet. Einmal kann die Macht der Töne eine ganze szenische Situation wie vom Himmel herab mit einer letzten innerlichen Ausdruckskraft überstrahlen, wo Worte versagen; ein andermal bildet die Musik eine eingestreute äußere Episode; und endlich kann sie sich gleichsam auf eine bloße Requisitenrolle beschränken, wenn sie zu primitiven Signalen oder zu Geräuschen herangezogen wird […]. In Stil-Inszenierungen wird man bemüht sein, auch die gröberen naturalistischen Elementarwirkungen entsprechend zu stilisieren, d. h. Geräusche in Klänge zu veredeln, die in geeigneter Weise musikalisch diszipliniert sind […]. [D]ie organischen Beziehungen zwischen Musik und Drama können sehr verschiedener Natur sein […]. Auf der Bühne wird etwa ein Lied sichtbar gesungen oder gespielt […]. Dieser äußerlich-szenischen Musik steht nun eine andere Art gegenüber, die sich von der ersten wesentlich unterscheidet […]. Sie kommt den Personen des Dramas nicht zum Bewußtsein […]. Diese rein geistige Musik bildet den künstlerisch interessanteren und problematischeren Teil der Musik im Wortdrama […]. Nicht als fertiges musikalisches Gebilde wird diese Musik in die Dichtung eingefügt, sondern ihre Gestaltung selbst (nicht nur ihr Charakter) wächst aus der Dichtung heraus […]. Auch hier gibt es vielfältige Möglichkeiten und Abstufungen der Bedeutsamkeit, Beschaffenheit und Selbständigkeit der Musik.« Heinz Tiessen, »Die Tonkunst im Rahmen der Schauspielbühne« (1921/22?), zitiert nach: Manfred Schlösser (Hg.), Für Heinz Tiessen 1887–1971. Aufsätze, Analysen, Briefe, Erinnerungen, Dokumente, Werkverzeichnis, Bibliographie, (Schriftenreihe der Akademie der Künste Bd. 13), Berlin 1979, S. 215–218.

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Hans Ulrich Engelmann (1921–2011), Komponist von Schauspielmusiken von 1946 bis in die 1970er Jahre:

»Mit [Gustav Rudolf] Sellner probierte ich so ziemlich alle Möglichkeiten einer Musikdramaturgie für die Schauspielbühne durch, das Konstruktive, Dekoratives auch, von der Improvisation bis zum ausschließlichen Einstudierungsgerüst. Das letztere war eine durch gemeinsames Einverständnis am Regiepult entwickelte, recht ungewöhnliche Methode; sie wurde besonders ausprobiert an Sellners griechischem Theater: Rhythmus, Melos und Klang regulierten Tempo wie Struktur der großen Chorpartien […] wobei die Rhythmik, vor allem als Zeitdimension, eine präzise Form-Ordnung erzeugte. War solche Koordinierung zwischen Text und Musik den Schauspielern völlig zu eigen geworden, wurde das Komponierte, gleich einem Baugerüst, entfernt, der Marmorblock, durch Musik behauen, hatte Gestalteinheit. Am Wiener Burgtheater aber ließ Sellner in der Antigonae auf der Bühne den Chören das Wort ›laufen‹, sie unterhielten sich antiphonisch mit auf Tonbändern im Raum kreisenden, komponierten Chören. Für Recklinghausen mischten wir die Musik zum Sturm aus Elektroakustischem mit Vokalisen-Chören […]. Für die Schwetzinger Lysistrata wurde rhythmisch Mediterranes improvisiert. Beim Darmstädter Schwarzen Fest von Audiberti ging es um die Transsubstantiation von gregorianischer Melismatik ins Bösartige und bei William Saroyans Höhlenbewohnern galt es, ein Jazz-Idiom zu erzielen. Federnde Trompeten im Trojanischen Krieg von Giraudoux, große Revuetechnik zu Müllers Conodoxus, zartes Klanggewebe für den Schatten von Schwarz, Orientalisches mit Eichs Geh nicht nach El Kuhwehd, Ornithologisches zu den Vögeln des Aristophanes, Hamlets ›Geist‹ und den Urfaust mit konkreten Klängen, Spanisches zum Zauber Liebe und für Dame Kobold, neobarocke Röntgenaufnahmen zu vielen Shakespeare-Stücken usw.« Hans Ulrich Engelmann, »Akustische Bausteine des Schauspiels«, in: Melos 33 (1966), S. 5.

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Z UR HISTORISCHEN E NTWICKLUNG IM 20. J AHRHUNDERT Schauspielmusik und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Schon seit geraumer Zeit hat man – nicht nur in der Musikwissenschaft – die Notwendigkeit einer komplexen Geschichtsschreibung erkannt, die der Pluralität von vermeintlich stilistisch Unvereinbarem als beinahe selbstverständlichem Befund einzelner Epochen Rechnung trägt. Nie zuvor traf diese Erkenntnis von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ (Ernst Bloch) jedoch in so gravierendem Maß zu wie für das 20. Jahrhundert, als interne musikalische Innovationen, insbesondere im Bereich der Harmonik, zu einer nie dagewesenen Spaltung der Kompositionsgeschichte führten: Schönbergs Aufhebung der Tonalität und seine spätere Inkraftsetzung der Dodekaphonie waren neuartige Möglichkeiten zur Organisation des musikalischen Materials, die jedoch nur von einem verhältnismäßig kleinen Kreis komponierender Zeitgenossen aufgegriffen und umgesetzt wurden, während die Mehrheit weiterhin die spätromantische Tonsprache an ihren Grenzen auslotete. Neuerliche Diversifizierung brachten in den 1920er und 1930er Jahren Innovationen wie die Geräuschkompositionen eines Edgar Varèse oder die Experimente mit elektronischer Klangerzeugung durch die Erfindung neuer Instrumente wie Trautonium und Ondes Martenots. Zu den außereuropäischen Einflüssen jener Jahre, die ihre Spuren in der europäischen Kunstmusik hinterließen, gehörte insbesondere auch der Jazz. Speziell für das Genre der Schauspielmusik bedeuteten die Auffächerung des musikalischen, aber auch des instrumentalen Potentials sowie die Impulse aus anderen Kulturräumen einen erheblichen Zugewinn an kompositorischen Möglichkeiten. So wurden einerseits selbst in den 1930er Jahren noch immer bestimmte Stücke mit jenen Kompositionen zur Aufführung gebracht, die über 100 Jahre zuvor entstanden waren und rasch den Status der Musterkomposition erlangt hatten (Egmont mit Beethovens und Ein Sommernachtstraum mit Mendelssohns Musik), und die besetzungstechnisch den großen klassisch-romantischen Orchesterapparat vorsahen.9

9

Selbst in der Saison 1948/49 lässt sich am Landestheater Darmstadt eine Neuinszenierung des Sommernachtstraums nachweisen (vgl. Darmstädter Echo vom

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Daneben traten jedoch neue Arbeiten aus dem unmittelbaren Theaterumfeld, in dem die Regisseure ihre Inszenierungen vorbereiteten. Deren Besetzungen sahen nun nicht mehr große Sinfonieorchesterdimensionen vor, wie das in der Folge von Beethoven und Mendelssohn noch im späteren 19. und beginnenden 20. Jahrhundert der Fall gewesen war. 10 So beschränkte sich Hermann Simon 1932 bei seiner Vertonung der relevanten Passagen 11 aus Goethes Faust – es handelte sich um eine Berliner Auftragskomposition aus Anlass des 100. Todestages von Goethe – auf eine kammermusikalische Besetzung, die zudem von Nummer zu Nummer variierte und von der Begleitung durch eine Drehleier (Nr. III, Osterspaziergang) bis zur Kombination von Trompete, Harmonium und Kontrabass (Nr. I, Prolog im Himmel) reichte. Zeitgenossen galt sie in ihrer »nicht mehr überbietbaren Einfachheit der […] Faktur, in der realistisch packenden Dramatik selbst in diesem kleinen Rahmen […] geradezu [als] ein Musterbeispiel vorbildlicher Schauspielmusik«.12 Auch die europäische Faszination für den Jazz hatte Auswirkungen auf die Schauspielmusik – mit dezidiert dramaturgischem Impetus wie im Fall der Vertonung für Max Reinhardts Salzburger Faust von 1933, und damit nur ein Jahr später als die reduzierte Version von Hermann Simon für Berlin zur Aufführung gebracht; Bernhard Paum-

24.6.1949), die die (komplette?) Musik Mendelssohns verwendete und so die lange Tradition des 19. Jahrhunderts weiterführte, die Shakespeares Drama stets in Verbindung mit Mendelssohns Komposition brachte und die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft unterbrochen wurde, indem man bei politisch wie künstlerisch konformen Musikern wie Julius Weismann eine alternative Musik in Auftrag gab. 10 Zu den großbesetzten Kompositionen, die auch im 20. Jahrhundert noch eine Rolle auf den Bühnen spielten bzw. sogar überhaupt erst komponiert wurden, gehörten Edvard Griegs Musik zu Peer Gynt (1876), Eduard Lassens Komposition zu beiden Teilen des Faust (1876), sowie die ambitionierten NeuVertonungen des Faust von August Bungert (1903) und Felix Weingartner (1908 bzw. 1915). 11 Die Musik von Hermann Simon besteht aus acht szenischen Einheiten; die Szenen II–IV sind nochmals in kurze Einzelstücke untergliedert (Studierzimmer, Osterspaziergang, Auerbachs Keller). 12 Otto Riemer, »Musik und Schauspiel«, in: Fred Hamel, Martin Hürlimann (Hg.), Das Atlantisbuch der Musik, Berlin und Zürich: Atlantis, 1934, S. 820.

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gartner schrieb »schräge« Jazzklänge mit entsprechend satter BlechBesetzung zur Charakterisierung des lasziven Hexensabbats. Gustav Gründgens schließlich verlangte Mark Lothar bei seiner letzten FaustRealisierung in den 1950er Jahren an entsprechender Stelle einen Rock ‘n’ Roll ab. Ebenfalls im Zusammenhang mit der Feier des Goethe-Jahres 1932 stand der Auftrag, den das Hessische Landestheater Darmstadt an Jörg Mager, ein Pionier im Bereich der elektroakustischen Instrumentenentwicklung, zur musikalischen Ausgestaltung der dortigen Faust-Produktion vergab;13 es war eine Chance, die Mager »vollumfänglich« nutzte, wie man allerdings ausschließlich einem Bericht im Darmstädter Tagblatt entnehmen kann. 14 Mager selbst beschrieb die Effekte in einem Brief wie folgt: »Im Prolog tönt die Sonne nach alter Weise mit ätherisch-oszillierendem Vibrato. Des Pudels Knurren wurde mit Mikrotönen untermalt. In der Walpurgismacht wirkt spukhafte, dämonische, exzentrische Musik. Das Heulen der Meerkatze besorgen stark vibrierende Metallmembranen. Hexen- und Teufels-Melos wird gemixt mit einem Klangfarbentriller zu einem Klangfarben-Quirl.«15 (Jörg Mager, ca. 1932)

Diese Anwendung des elektroakustischen Potentials im Bereich der Schauspielmusik war keineswegs ein Einzelfall – immer wieder dokumentieren Rezensionen (und nur sie) den Einsatz von elektronischen Instrumenten im Theaterkontext, indem oftmals auch verschiedene Klangsphären einander gegenübergestellt wurden.

13 Es handelte sich um die Neuproduktion unter der Intendanz von Gustav Hartung, für die Artur Maria Rabenalt und Wilhelm Reinking verantwortlich zeichneten. Die Premiere fand am 21.1.1932 statt. 14 Darmstädter Tagblatt (3.3.1932), S. 3. Der Programmzettel wies die musikalische Gestaltung wie folgt aus: »Bühnenmusik von Erwin Palm unter Verwendung elektroakustischer Musik von Jörg Mager«. Erwin Palm wurde im Deutschen Bühnen-Almanach von 1928 erstmals als Solo-Repetitor am Hessischen Landestheater Darmstadt geführt. 15 Jörg Mager zitiert nach: Peter Donhauser, Elektrische Klangmaschinen. Die Pionierzeit in Deutschland und Österreich, Wien: Böhlau, 2007, S. 204.

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Bernhard Paumgartner, Musik zu Goethes Faust in der Inszenierung von Max Reinhardt (Salzburg 1933). Zur Charakterisierung der Sphäre des Dämonischen dienten Paumgartner Jazz-Anklänge, die er insbesondere durch entsprechende Instrumentation und Rhythmik profilierte (Archiv der Salzburger Festspiele, Max Reinhardt Forschungsstätte, Abdruck mit freundlicher Genehmigung).

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Derartige Tendenzen setzten sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort, der eigentlichen Hochzeit der elektroakustischen Musik. Immer wieder ist in der Presse davon die Rede, dass verschiedene Klangsphären – elektronische gegen herkömmlich erzeugte – kontrastierend in einer Inszenierung verwendet wurden. Nicht immer freilich konnte der Kritiker damit etwas anfangen: »Solange Bruno Madernas Musik illustrativ bleibt, festlich oder von Sturmglocken durchdröhnt, dient sie dem Stück. Sein elektronisches Gewure dient wohl nur dazu, Umbaulärm zu übertönen, und verschafft (mir) außerdem (wer kann gegen seine Gedankenverbindungen an?) die unpassende Vorstellung von Montagehallen und Wassergurgeln.«16 (Georg Hensel, 1965)

Auch in diversen Berliner Produktionen kam elektronisch erzeugte Musik zum Einsatz; besonders der Komponist Kurt Heuser verstand es demnach, außergewöhnliche Klangschattierungen zu produzieren und diese traditionell erzeugten Klängen gegenüberzustellen.17 Nach Hans Ulrich Engelmann, der die Schauspielmusikszene offenkundig intensiv beobachtete, schritt die Diversifizierung des musikalischen Materials und damit die Pluralisierung der Gestaltung von Schauspielmusik nach dem Zweiten Weltkrieg noch weiter voran. Als neue Option trat nun auch verstärkt die Improvisation hinzu. Wenn ein Einzelner Musik mit seiner Gitarre oder seiner Glasharmonika frei und ohne fixes Gerüst spielte, sind

16 Georg Hensel, »Es bleibt alles beim Alten«, in: Darmstädter Echo (20.9.1965) (o. S.), über eine Aufführung von Schillers Fiesco. Bruno Maderna (1920–1973) war ein Vertreter der musikalischen Avantgarde Italiens und als Komponist wie Dirigent tätig. Seine Kontakte nach Darmstadt begannen 1949 mit den Ferienkursen für Neue Musik; in den frühen 1960er Jahren nahm er dort sogar seinen Wohnsitz. Die hier erwähnte Schauspielmusik dürfte im Zusammenhang mit der neuen räumlichen Nähe zu sehen sein; Maderna hat auch für andere Inszenierungen Herings die musikalische Ausstattung übernommen. 17 Hermann Wanderscheck, »Musik im Schauspiel. Die Rolle der Bühnenmusik in den Berliner Theatern«, in: Musikstadt Berlin zwischen Krieg und Frieden. Musikalische Bilanz einer Viermächtestadt, Zusammenstellung Harald Kunz, Berlin, Wiesbaden: Bote & Bock, 1956, S. 108–129, hier v.a. 119ff.

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spätestens hier die Grenzen bei der Suche nach den verlorenen Klängen schauspielmusikalischer Ereignisse erreicht: Mehr als der Nachweis ihrer Existenz – durch den (schwachen) Spiegel der Presserezeption – dürfte für die meisten dieser Fälle nicht mehr zu erbringen sein.

W ERKÄSTHETIK Schauspielmusik und Gesamtkunstwerk: Unterordnung versus Emanzipation Bis ins späte 19. Jahrhundert verfolgten Schauspielaufführungen, bei denen Musik zum Einsatz kam, gleichsam selbstverständlich im Schatten Wagner’scher Theaterästhetik die Idee eines Gesamtkunstwerks, bei dem die am theatralen Gesamtereignis beteiligten Medien Text, Musik und Szene (Bühne), zu der um die Jahrhundertwende auch noch das Licht, der Scheinwerfer als neue künstlerische Komponente hinzutrat, im Sinne eines gemeinsamen, übergeordneten Ganzen zusammenwirkten. Es waren zunächst die um 1900 realisierten optischen Reformen von Bühnenbild und Licht, die dann allerdings diese stillschweigende Allianz von möglichst realistisch-naturalistischem Szenerie und (spät)romantischer Tonsprache aufkündigten: Reduktion und Abstraktion, bisweilen gepaart mit gleichzeitiger Monumentalisierung, waren die sichtbaren Marken des Aufbruchs in die Moderne. Gerade hier, an der Schnittstelle der Jahrhunderte, lassen sich interessante Beobachtungen auch in Hinblick auf die damit einhergehende, sich wandelnde Bewertung der Musik im Schauspiel machen. Als man etwa in Darmstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den alljährlich ein bis zweimal stattfindenden Aufführungen des Faust (in einer alten »Inszenierung«) das Bühnenbild zu modernisieren (was in diesem Fall hieß: zu reduzieren) begann, fiel einem Kritiker der stilistische Bruch auf. Er plädierte dafür, bei zukünftigen Aufführungen auf die Musik (es handelte sich um die große Weimarer Musik von Eduard Lassen von 1876) besser zu verzichten.18 Ein derartiger Vorstoß markiert schlaglichtartig die sich

18 Vgl. Ursula Kramer, »Wenn der Raum zum Problem wird. Theater mit Musik in Darmstadt um 1900«, erscheint in: Axel Beer (Hg.), Tagungsbericht Musik am Mittelrhein aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Arbeitsgemeinschaft für

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abzeichnende Brüchigkeit einer zuvor stets – wie Erik Fischer es in Bezug auf die Oper genannt hat – homologen Gesamtstruktur, 19 die auf das sich gegenseitig unterstützende Zusammenwirken aller beteiligten Kräfte ausgerichtet war. Nach dem ästhetischen »Ausscheren« der Bildebene musste dieses Zusammenspiel nun aber insgesamt neu verhandelt werden. Hinsichtlich der schauspielmusikalischen Relevanz waren es u. a. die epischen Innovationen auf dem Theater im Paris der 1910er Jahre sowie Igor Strawinskys L’Histoire du Soldat (1918), die den Grundstein für jene explizite Mediendivergenz legte, die schließlich im Theater Bertolt Brechts paradigmatisch zum Tragen kam. Die Emanzipation der Musik geht hier mit einer Separierung, ja willentlich tiefen Spaltung des vormals produktiven Miteinanders der beteiligten Medien einher. Auch wenn in der Folge selbst in Berlin längst nicht alle Theaterschaffenden Brechts ästhetisches Credo vollständig übernahmen, so lässt sich doch insbesondere in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in den theoretischen Texten der Theaterschaffenden (Komponisten) genau diese Komponente weiterverfolgen: Ein neues Selbstverständnis des Musikers artikuliert sich in der Vorstellung eines ästhetischen Ideals, das sich nun nicht mehr in der Illustration des auf der Bühne Dargestellten erschöpft, sondern sich vielmehr als eigenständige Kraft definiert: »›Die oft als Füllsel benutzte oder als Stimmungsgeber verwendete Bühnenmusik verbiete sich von selbst. Die Musik muß Trägerin dramaturgischer Funktionen sein. Ihr obliegt die Sichtbarmachung psychologischer Vorgänge im Darsteller zwischen den Szenen.‹ [Frank Lothar]. […] Wenn die musikalischen Wirkungen mit den szenischen und schauspielerischen übereinstimmen, hat der Schauspielmusiker mit einem begnadeten Sinn für das Theater und seine Gesetze gearbeitet. ›Musik‹ ist die Bühnenmusik freilich immer erst, wenn sie über die reine Illustration [in der Aufführung] hinauswächst, die Gestaltung der Szene mit eigenem Leben ausstattet und nicht nur klingende Oberfläche bleibt.«20 (Hermann Wanderscheck, 1956)

mittelrheinische Musikgeschichte am 29. Oktober 2011 (Druck in Vorbereitung). 19 Erik Fischer, Zur Problematik der Opernstruktur – das künstlerische System und seine Krisis im 20. Jahrhundert, Wiesbaden: Steiner, 1982. 20 Hermann Wanderscheck, »Musik im Schauspiel. Die Rolle der Bühnenmusik in den Berliner Theatern«, in: Musikstadt Berlin, S. 124, 126 (siehe Fn. 17).

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Der Komponist Leo Spies (1899–1965), der selbst Schauspielmusiken geschrieben hat, 21 beschrieb das Phänomen wie folgt: »Zuweilen geschieht es auch, daß die Phantasie des Regisseurs sich an einem geglückten musikalischen Einfall entzündet, dieser Einfall dann weiter ausgebaut wird, an Selbständigkeit zunimmt, zu einem bestimmenden Faktor der Inszenierung heranwächst. Dann wird die Schauspielmusik zu dem, was ihr höchster Zweck ist, nämlich selbst Akteur, lebende Person zu sein, nicht mehr tönendes Requisit oder Geräuschkulisse.«22 (Leo Spies, 1948)

Schauspielmusik und Oper: Werkhaftigkeit versus Inszenierungsbezug – »Ent-Operung« Ein klarer Bezugsrahmen wurde 2002 durch Detlef Altenburg abgesteckt, als er die Desiderate der Schauspielmusikforschung insbesondere für das 18. und 19. Jahrhundert benannte, und darin die Relation zur Nachbarkunst der jeweils aktuellen Oper als einen wesentlichen Untersuchungsgegenstand reklamierte. 23 In der Tat lässt sich bereits auf der Produktionsebene selbst schon seit dem frühen 19. Jahrhundert ein klares Bewusstsein für die Eigenständigkeit des Genres Schauspielmusik in Abgrenzung zur Oper erkennen. So warnte etwa die zeitgenössische Kritik im Zusammenhang mit Beethovens Egmont-Musik und den darin enthaltenen Gesängen Klärchens vor einem Zuviel an musikalischen Mitteln. In Berlin hingegen lobte man die Leistungen Bernhard Anselm Webers, der die musikalischen Bestandteile in Kotzebues romantischem Schauspiel Deodata »möglichst kurz, aber bestimmt und charakteristisch gehalten« habe. 24 Kurze Zeit zuvor war

21 Zwischen den 1930er und 1950er Jahren schrieb Spies zahlreiche Schauspielmusiken für Produktionen der wichtigsten Regisseure der Zeit, darunter Gustav Gründgens, Lothar Müthel, Jürgen Fehling oder Heinrich George. 22 Leo Spies, »Betrachtungen über Schauspielmusik«, in: Herbert Ihering (Hg.), Theaterstadt Berlin. Ein Almanach, Berlin: Henschel, 1948, S. 268–271, 270. 23 Detlef Altenburg, »Das Phantom des Theaters. Zur Schauspielmusik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Narr, 2002, v.a. S. 204f. 24 Allgemeine musikalische Zeitung, Nr. 28 (11.4.1810), Sp. 531.

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Johann Georg Voglers Chorgestaltung in Hermann von Unna bezeichnenderweise als zu opernmäßig gescholten worden.25 Doch ist die Schauspielmusik nicht nur von anderen an der Schwestergattung gemessen worden; sie hat sich vielmehr auch immer wieder selbst positioniert. Auch im 20. Jahrhundert äußerten sich beteiligte Komponisten weiterhin zugunsten einer Bescheidung der musikalischen Mittel im Dienst des übergeordneten Theaterereignisses: »Jedenfalls hat sie immer dem Ganzen einer Aufführung zu dienen, ihre Daseinsberechtigung wird in der intensivsten Vorbesprechung zwischen Regisseur und Komponist entschieden. Der Komponist muß immer bereit sein, seine ›schönsten‹ Einfälle zu streichen, wenn das dramaturgische Gesetz es verlangt.«26 (Leo Spies, 1948)

Noch 1962 begründete Carl Orff seine abermalige Auseinandersetzung mit dem Sommernachtstraum (er hatte sich erstmals 1917 der Komposition gewidmet, 1939 eine zweite und 1952 eine dritte Version hergestellt) damit, dass das Werk »immer noch viel zu viel Musik« enthalte, demnach noch weiter »entopert« werden müsse. 27 Verknappung und Präzision der musikalisch-klanglichen Ausgestaltung waren jenseits der romantischen Epoche und den neuen Zeiten einer gewandelten Bühnenbildästhetik unabdingbares Gebot geworden. Hinter der seit dem frühen 19. Jahrhundert nachweisbaren Differenzierung zwischen einer Ästhetik der Schauspielmusik und der Oper steht jedoch

25 Anon., »Ueber Salomons Urtheil (Musik von Quaisin) nebst einigen Bemerkungen über das Melodrama überhaupt, und über die Chöre in der Tragödie«, in: Allgemeine Deutsche Theater-Zeitung Nr. 42 (20.5.1808), S. 177. 26 Spies, Betrachtungen, S. 270 (siehe Fn. 22). 27 »1918 begann ich – meiner Meinung nach ›entoperte‹ – Musik zum Sommernachtstraum zu schreiben. Es war mein erster Versuch … Zwar schrieb ich keine Ouvertüre mehr, jedoch noch ein überflüssiges Vorspiel; statt des Hochzeitsmarsches, der bestimmt unshakespearisch ist, stand eine kleine Festmusik, ansonsten setzt ich die Musik oft an anderen Stellen als Mendelssohn ein, besonders untermalend bei allen Zauber- und Liebesszenen. Im Ganzen war es immer noch viel zu viel Musik.« Carl Orff, Carl Orff und sein Werk, Dokumentation, Bd. 5 Märchenstücke, Tutzing: Schneider, 1979, S. 219, 221.

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eine noch viel grundlegendere Unterscheidung, die die Seinsweise beider Genres unmittelbar betrifft. Insbesondere für die Oper jenseits des 18. Jahrhunderts kristallisierte sich ein zunehmend fester Werkbegriff heraus, indem ein einmal komponiertes Stück in der Folge stets mit dieser Musik aufgeführt wurde. 28 Ganz anders die Schauspielmusik, die in ambitionierten Zeiten bzw. an ambitionierten Theaterorten für eine neue Bühnenproduktion »exklusiv« und neu zu schreiben war. Dies galt vor allem für »besondere« Werke wie die Dramen Shakespeares, die man in Deutschland erst im späten 18. Jahrhundert durch die Übersetzungen rezipierte. Dass eine Schauspielmusik in der Folge den Status des Mustergültigen erlangte, der durch landesweiten Rückgriff auf die identische Komposition perpetuiert wurde, war zunächst eher die große Ausnahme und traf neben Beethoven und Mendelssohn für die frühere Zeit nur auf den Berliner Hofkapellmeister Johann Friedrich Reichardt und dessen Macbeth-Musik zu. 29 Im späten 19. Jahrhundert scheint sich zwischenzeitlich in Hinblick auf die auch besetzungstechnisch umfangreicheren Kompositionen ein pragmatischerer Zugriff durchgesetzt zu haben, indem etwa von fremden Theatern eine Komposition aus profiliertem Kontext übernommen, d. h. das Material angekauft wurde (wie im Fall von Eduard Lassens großer Faust-Musik, die für die Feier der 100jährigen Ankunft Goethes in Weimar komponiert worden war) oder aber die Komposition ohnehin im Rahmen einer Generalvertretung des Komponisten von einem renommierten Verlag herausgebracht wurde, der dann mit eigenen Broschüren landesweit auf die Existenz der Musik hinweisen konnte.30

28 Davon unbenommen ist die Tatsache, dass gerade in der jüngeren Opernforschung insbesondere der älteren Zeiten bis um die Wende zum 19. Jahrhundert immer stärker der Work-in-progress-Charakter der Gattung betont und der Werkbegriff aufgrund veränderter Wiederaufnahmen zunehmend in Frage gestellt wird. Bei den hier präsentierten Ausführungen geht es zum einen um die historisch jüngeren Zeiten ab dem 19. Jahrhundert, zum anderen muss im Dienst der Gegenüberstellung zwischen Oper und Schauspiel die Position der ersteren etwas zugespitzt werden. 29 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich Aufführungen dieser erstmals 1787 präsentierten Musik nachweisen. 30 Dies gilt für den Dirigenten und Komponisten Felix Weingartner. Er hatte seit den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts seine Kompositionen bei Breitkopf &

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Die Werke des Dirigenten und Komponisten Felix Weingartner erschienen im Verlag Breitkopf & Härtel. Die Korrespondenz belegt, dass sich Weingartner massiv für die Verbreitung seiner Werke, insbesondere seiner Musik zu Goethes Faust, einsetzte. Handschriftliche Listen belegen (auf der nächsten Seite exemplarisch) die Häufigkeit der Verwendung dieser Komposition in einem kleinen Zeitraum. Der Verlag tat sein Übriges, Weingartners Musik zu bewerben, u. a. durch Hinweise auf die umfängliche Verwendung in verschiedenen Theatern. (Verlagsarchiv Breitkopf & Härtel, Depositum Staatsarchiv Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung).

Härtel herausgebracht, seine Faust-Komposition, ursprünglich entstanden für eine Weimarer Aufführung 1908, dann allerdings 1915 in modifizierter Form neu herausgegeben. – Einen Sonderfall stellte nochmals Edvard Griegs PeerGynt-Musik dar, da durch eine Art »Vor-Rezeption« der Schauspielmusik-Suite im Konzertsaal die Monopolstellung für Griegs Komposition gesichert war, als schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verspätet Ibsens gleichnamiges Drama auch auf die deutschen Bühnen gelangte.

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Für die dergestalt unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Oper und Schauspielmusik hat Jens Hesselager jüngst die Begriffe »Werk-Text« (Oper) und »Produktions-Text« (Schauspielmusik) vorgeschlagen.31 Die 31 Jens Hesselager, »Musik til Skuespil – Two Methodological Challenges and a few Observations occasioned by an Early Neneteenth-Century Danish Manuscript of Incidental Music«, in: Ursula Kramer (Hg.), Theater mit Musik, v.a. S. 183f. (siehe Fn. 4).

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seit den 1920er Jahre generell in der Musikgeschichte zu verzeichnende Hinwendung zu kleinen, kammermusikalischen Besetzungen, die Erprobung neuer Kombinationen – etwa in Verbindung mit elektroakustischer Tonerzeugung – brach sich auch im Bereich des Schauspiels in Form von produktionsbezogenen Kompositionen immer stärker Bahn, die in konkretem Zusammenhang mit den jeweiligen Aufführungssituationen stehen. Für die Musiken von Reiner Bredemeyer, der seit den 1950er Jahren für diverse (Berliner) Produktionen Kompositionen schuf und zum wichtigsten Theaterkomponisten der DDR wurde, hat Gerhard Müller trefflich von »Inszenierungsmusik« gesprochen, 32 um eben den exklusiven Bezug zwischen einer Regiearbeit und der aus ihr hervorgehenden Komposition unmissverständlich herauszustellen.

T OPOGRAPHIE Schauspielmusik in der Metropole versus Schauspielmusik in der Provinz Es mag zunächst den Anschein erwecken, als sei es ein ungleiches Kräftemessen, wenn der Theatermetropole Berlin ein Landestheater fernab in der südwestlichen Provinz gegenübergestellt wird. Berlin als Wirkungsort der großen Regisseure der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter ihnen Max Reinhardt, Erwin Piscator, Bert Brecht, Karl Heinz Stroux, Heinz Hilpert, Wolfgang Langhoff, Benno Besson, und das zum Vergleich herangezogene Darmstadt, das freilich immer wieder als Experimentierraum für ambitionierte Theatermacher diente, die das Hessische Landestheater nicht selten als Sprungbrett für eine weitere Karriere, etwa in Berlin, nutzten: Gustav Hartung, Carl Ebert, Artur Maria Rabenalt, Gerhard Hering und Gustav Rudolf Sellner. Fast scheint es, als habe die Provinz in künstlerischer Hinsicht auch ihre Vorteile gehabt, konnten hier doch mitunter leichter und schneller innovative Ideen entwickelt und umgesetzt werden; das betrifft zumal Spielplanentscheidungen, etwa zugunsten des zeitgenössischen

32 Gerhard Müller, »Schauspiel- oder Inszenierungsmusik – Der Theaterkomponist Reiner Bredemeyer«, in: Michael Kuschnia (Hg.), 100 Jahre Deutsches Theater Berlin, Berlin: Henschel, 1983, S. 352ff.

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Repertoires, womöglich aber auch Schritte wie denjenigen, Jörg Mager als »elektro-akustischem Zauberkünstler«33 (so die Tagespresse) die musikalische Ausstattung des Jahrhundert-Faust von 1932 zu überantworten – mehr als ein mutiger Schritt, denn damit war schließlich ein veritabler Paradigmenwechsel verbunden. Die Zeit der großflächigen musikalischen Ausgestaltung durch ein ganzes Sinfonieorchester war endgültig vorbei. Es lag nun an den hauseigenen Kräften (nachrangige Kapellmeister beziehungsweise Repetitoren), die mit der Leitung der Schauspielmusik betraut wurden, individuelle Lösungen für die klangliche Dimension der Aufführungen zu finden und zu realisieren. In einer Hinsicht freilich dürfte sich in der Gegenüberstellung von Metropole und Provinz die Waage zugunsten ersterer neigen: Für die Berliner Bühnen entstanden eine ganze Reihe von Schauspielkompositionen aus prominenter Feder, angefangen bei Engelbert Humperdinck über Hugo Wolf bis zu Luigi Nono (Was Ihr wollt, Regie: Karl Heinz Stroux 1954; sowie Die Ermittlung von Peter Weiss, Regie: Erwin Piscator) und schließlich Hans Werner Henze. Die Mehrzahl der für die diversen Produktionen geschriebenen Musiken stammte allerdings von den hauseigenen Leitern der Schauspielmusik, zum Beispiel Paul Dessau oder Reiner Bredemeyer sowie Hans Dieter Hosalla in Berlin, Berthold Goldschmidt oder Hans Ulrich Engelmann in Darmstadt.34 Sie alle einte eine herausragende musikhistorische Stilkenntnis, die stets für den jeweiligen Kontext – in der Regel nach Vorgaben des Regisseurs – den »richtigen«, »passenden« Ton für die jeweilige Musik zu finden hatte, dessen Funktion freilich auch in einer gleichsam kontrapunktischen Durchkreuzung der Bühnenebene aufgehen konnte.

33 Darmstädter Tagblatt, (3.3.1932), S. 3. 34 Für die Situation am Dresdner Staatsschauspiel vgl. Thomas Kupsch, »Neue Musik am Staatsschauspiel Dresden. Die Komponisten Rainer Kunad, Thomas Hertel und Eckehard Mayer als Leiter der Schauspielmusik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts«, in: Hans John u. a. (Hg.), Musik in Dresden. Bd. 6: Dresden und die Avancierte Musik im 20. Jahrhundert, Teil III: 1966–1999, Laaber: Laaber, 2004, S. 201–210.

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A USFÜHRENDE Sinfonieorchester vs. Kammer- bzw. solistische Besetzung Mit den innovativen Regie- und Bühnenbild-Tendenzen der 1920er Jahre kam das endgültige Aus für die großbesetzen Schauspielmusiken romantischer Prägung: Abstraktion, Reduktion und Aussparung waren nicht nur optische, sondern auch klangliche Maßgaben eines neuen Zeitalters. Schon viel früher, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, standen die zum Dienst im Schauspiel verpflichteten Mitglieder von Hofkapellen diesem Einsatz mehr als skeptisch gegenüber – nicht nur aus Darmstadt, auch aus Berlin und anderen Orten sind disziplinarische Maßnahmen bekannt, mit deren Hilfe man die resistenten Musiker an ihre vertraglichen Verpflichtungen zu erinnern versuchte. Durch die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zog sich eine Debatte über die Aufrechterhaltung oder Abschaffung dieser bei den Orchestermitgliedern höchst unbeliebten Dienstvereinbarung, doch erst die ästhetische Neuausrichtung im frühen 20. Jahrhundert brachte zunächst die deutliche Reduzierung der beteiligten Musiker und schließlich auch in Mehrspartentheatern wie etwa Darmstadt die strikte Trennung vom Personal des Orchesters: Man begann, einzelne Instrumentalisten von außen zu verpflichten. Dies war auch insofern immer mehr ein Gebot der Stunde, als die von den Komponisten erprobten klanglichen Umsetzungen sich durch höchst individuelle Besetzungen auszeichneten und die mitwirkenden Musiker von Stück zu Stück variierten: Die Zeiten eines standardisierten Dienstplans des Orchesters mit Streichern, doppelten Holzbläsern, Blech und Pauke für die Mitwirkung im Schauspiel gehörten der Vergangenheit an. Hier eine einzelne Flöte, dort ein Kammerensemble aus Trompete, Saxophon und Schlagzeug. Der Fantasie des Komponisten waren höchstens finanzielle Grenzen gesetzt. Während der Leiter der Schauspielmusik als festes Ensemblemitglied engagiert war, wurden die individuell benötigten Musiker als freelance musicians stückbezogen engagiert.35 Zudem beinhaltete die neue Möglichkeit der elektronischen Tonerzeugung, die spätestens seit den 1950er Jahren intensiver genutzt wurde, in der Folge auch die Chance der Reproduzierbarkeit einmal aufgenommener

35 Demgegenüber stellt das Staatsschauspiel Dresden eine große Ausnahme dar; dort wurde 1982 ein festes Schauspielmusikensemble gegründet. Vgl. ebd., S. 201.

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Klänge, was gerade angesichts notwendiger Sparmaßnahmen bei den Theatern verstärkt zu einer Verdrängung der realen Aufführung durch live spielende Musiker führte. Zu den neueren, experimentellen Initiativen im Bereich der Schauspielmusik etwa der 1980er Jahre gehörte schließlich auch das gelegentliche Engagement gleich ganzer Gruppen externer Musiker. Zu beobachten ist es in erster Linie bei renommierten Häusern, wobei es sich vor allem um ein soziologisch interessantes Phänomen handelt: Mit der Verpflichtung von Ensembles wie der Punkband Einstürzende Neubauten (Deutsches Schauspielhaus Hamburg: 1990 Hamletmaschine, 1994 Faust; Schauspielhaus Bochum: 2000 John Gabriel Borgman) oder der slowenischen Band Laibach (Deutsches Schauspielhaus Hamburg 1987, Macbeth) öffneten die Theater ihre Pforten weit – und probten neuartige Allianzen mit musikalisch wie soziokulturell völlig anders verorteten Protagonisten. 36

P RODUKTIONSÄSTHETIK Die Funktion des »Autors« von Schauspielmusik Dramaturg versus Komponist, Erfüllungsgehilfe versus Ideengeber – beide Dichotomien hängen unmittelbar miteinander zusammen und lassen sich kaum separat betrachten. In der überwiegenden Zahl der Fälle dürfte das Verhältnis innerhalb des Produktionsteams von einer klaren Dominanz des Regisseurs geprägt worden sein. Dies legen vereinzelt überlieferte schriftliche Quellen wie Briefe nahe, während jedoch in den meisten Fällen Absprachen zwischen Regisseuren und »ihren« Komponisten mündlich getroffen wurden und dementsprechend für die Nachwelt verloren sind. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Korrespondenz zwischen

36 Es kann hier nicht über die Gründe solcher künstlerischer Kooperationen reflektiert werden – substanziell relevant erscheint über den Publicity-Faktor hinaus aber vor allem, dass sich die Institution Theater mit derartigen Schritten aus der Hermetik des Kunstraums zu befreien suchte und sich selbst mit dem Anschluss an eine »fremde« Musikkultur dem Theater und/oder der einzelnen Inszenierung neue Handlungsräume ermöglichte.

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Max Reinhardt und Engelbert Humperdinck, der klare Vorgaben erhielt, was er zu komponieren hatte. Reinhardt brachte – wie eingangs erwähnt – dezidierte Vorstellungen darüber mit, wie die Musik in seinen Inszenierungen beschaffen sein sollte. Davon zeugen die bisweilen sehr umfangreichen Kommentare in seinen Regiebüchern – Kommentare, die ganz eindeutig nicht erst das Ergebnis eines künstlerischen Dialoges mit dem produktionsbegleitenden Komponisten darstellten, sondern seine eigenen Ideen, resultierend aus der vorbereitenden Beschäftigung mit dem jeweiligen Werk, widerspiegelten.37 Mitunter kam aber – bei einem Künstler wie Reinhardt und dessen Arbeits- bzw. Produktionspensum kaum verwunderlich – auch Pragmatik ins Spiel: Auch er griff – wie im Fall seiner ersten Berliner Faust-Inszenierung von 1911 – gelegentlich auf präexistente Musik (in diesem Fall von Felix Weingartner) zurück; sie war nur wenige Jahre zuvor für eine Produktion in Weimar entstanden und blieb einem spätromantischen Ton und Gestus verhaftet. Selten genug widmete einer der Berliner Kritiker, kein geringerer als Alfred Kerr, in seiner Aufführungsbesprechung der Musik eine eigene Passage: »Endlich Weingartners Musik […]. Er ist schon ein Künstler. Aber seine Zutat bildet ein Konzert. Nicht Klänge. Nicht Klänge durch den Raum. Losgelöste. Es beginnt jedesmal eine Aufführung (im […] Neuromantischen Theater).« 38 Max Reinhardt selbst mochte es ähnlich empfunden haben – seine Anmerkungen in seinem zweiten Regiebuch von 1920 sprechen eine deutliche Sprache, radikalisieren jene Ideen, die er bereits für die Berliner Produktion angedacht, dort aber nicht hatte verwirklichen können. Kerrs Zeugnis ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil es (jenseits der Seltenheit eines solchen Dokuments) auch jenen Begriff ins Spiel bringt, der als Gegenpol zu Weingartners Realisierung die Zukunft von Schauspielmusik beschrieb: »Klänge« treten an die Stelle eines Konzerts. Mit der – zumindest von Kerr so empfundenen – »Ausstellung« des Musikalischen versagte die Komposition Weingartners den dramaturgischen Zusammenhang mit der Konzeption des Regisseurs.

37 Ähnliches wie für das Verhältnis zu Humperdinck gilt auch für die Zusammenarbeit mit Bernhard Paumgartner für die Salzburger Faust-Produktion von 1933: dieser folgte den Vorstellungen Reinhardts sehr präzise. 38 Alfred Kerr, »Gretchen im Deutschen Theater«, in: Der Tag (27.3.1909), Abschnitt III.

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Doch was das Kräfteverhältnis der an der Inszenierung beteiligten Künstler angeht, so charakterisieren auch in den 1950er Jahren die Komponisten die Rolle der Musik zumeist als »dienend«, wie exemplarisch die bereits zitierte Äußerung von Leo Spieß belegt.39 Dem hatten sich auch die innovativen Strömungen am Dresdener Staatsschauspiel in den 1980er Jahren noch zu beugen: »Es muß bei der Betrachtung von Tendenzen Neuer Musik innerhalb der Schauspielmusik unbedingt vorausgeschickt werden, daß die Aktivitäten der Musiker sich der jeweiligen Konzeption des Regisseurs unterzuordnen hatten. Das heißt, dass die Spielräume für die Entfaltung Neuer Musik mitunter sehr eng abgesteckt waren, sowohl im Hinblick auf das musikalische Material als auch was den zeitlichen Umfang betrifft.«40 (Thomas Kupsch, 2004)

Ulrich Engelmann hat im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit als Leiter der Schauspielmusik in Darmstadt jedoch auch andere Erfahrungen gesammelt und diese in seinen Lebenserinnerungen unverhohlen preisgegeben: »Seit Karl Stroux mich 1946 mit meiner ersten Bühnenmusik zu Weisenborns Illegalen betraut hatte, waren mehr als zwei Dutzend Bühnenmusiken quer durch die Theaterliteratur für die verschiedensten Temperamente von Regisseuren entstanden. Darunter waren Methodiker, die genau wussten, was sie wollten, und Chaoten, die so ziemlich alles dem Komponisten überließen. Einer wollte für Hauptmanns Iphigenie mit mir musikologische Literatur über die Griechen durcharbeiten; ich komponierte aber zuguterletzt so drauf los, wie ich mir griechische Musik vorstellte. Allerdings blieben die Tonskalen dorisch, lydisch, äolisch. Ein anderer, der die Planung nicht liebte, obendrein an Strindbergs Traumspiel, überließ mir gern nach einer oberflächlichen Verständigung die gesamte musikalische Ausstattung durch Anliefern einer Kollektion.«41 (Hans Ulrich Engelmann, 2001)

Dennoch deutet sich – zumindest für die jüngere Vergangenheit – auch die Möglichkeit an, dass sich das zuvor primär hierarchische Verhältnis von

39 Spies, Betrachtungen, S. 270 (siehe Fn. 22). 40 Kupsch, Neue Musik am Staatsschauspiel, S. 203 (siehe Fn. 34). 41 Hans Ulrich Engelmann, Vergangenheitsgegenwart. Erinnerung und Gedanken eines Komponisten, Darmstadt: Justus-von-Liebig-Verlag, 2001, S. 118.

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dominierendem Regisseur und reagierendem Komponisten zumindest in Ansätzen zu einem partnerschaftlichen Miteinander wandelt, der Musiker im positiven Fall mit seinen Ideen in umgekehrter Richtung zum Impulsgeber für den Regisseur werden kann. Auch Leigh Landy beanspruchte – durchaus im Einklang mit Heiner Müller – Freiheiten für seine klingenden Umsetzungen. Inwieweit es sich hier um eine zunehmend grundsätzliche Tendenz handelt, bliebe einer umfassenderen Untersuchung vorbehalten.

Die Musik an sich: Komposition versus Klang, Orchestergraben versus Raum Bereits im 18. Jahrhundert wurde eine theoretische Debatte darüber geführt, wie Schauspielmusik idealiter beschaffen sein sollte. Thematisiert wurde dort – jenseits der selbstverständlichen Bestandteile in Form der bereits in den Regieanweisungen geforderten Lieder oder Fanfaren – vor allem die Rahmung: Einleitung, Zwischenaktmusiken und Schluss sowie deren dramaturgische Rückbindung an die Szene bzw. den Text. Besonderes Augenmerk galt dabei der Ouvertüre, gleichsam der klingenden Visitenkarte des Komponisten, die zum einen die Gesamtstimmung des Werkes vorwegnehmen, zugleich aber auch einen unmittelbaren Einstieg in die erste Szene gewährleisten sollte.42 Wie aber war dies formal zu bewerkstelligen? Selbständige Instrumentalmusik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgte einem formalen Bauplan, beispielsweise dem des Sonatenhauptsatzes, benötigte die Komposition doch gleichsam ein strukturelles Rückgrat. Bis hin zu Schönberg blieb dieses Formmodell eine Art conditio sine qua non. Dass deren Ab- bzw. Auflösung im 20. Jahrhundert in dem historischen Augenblick leichter von statten ging, da man sich – im Bereich der Schauspielmusik – bewusst von der großen klassisch-romantischen Orchesterbesetzung entfernte, liegt auf der Hand. Und die von Alfred Kerr indirekt angemahnten »Klänge« (statt eines »Konzerts«) benötigten noch nicht einmal die neuartige elektronische Klangerzeugung; auch mit handverlesenem

42 Exemplarisch: G. K. Tolev, »Etwas über Musik beim Schauspiel«, in: Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 51 (18.9.1805), Sp. 805–809. Vgl. auch Beate Agnes Schmidt, Musik in Goethes ›Faust‹. Dramaturgie, Rezeption und Aufführungspraxis, (Musik und Theater Bd. 5), Sinzig: Studio-Verlag, 2006; hier wird der theoretische Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts nachvollzogen.

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Kammerensemble aus herkömmlichen Instrumenten ließ sich Atmosphärisch-Statisches anstelle von Kompositorisch-Verlaufshaftem im Sinne motivischer Entwicklungen herstellen. Selbstverständlich bot die »künstliche« Erzeugung von Klang bzw. die nachträgliche Verfremdung und Bearbeitung jedoch noch ein zusätzliches Experimentierfeld für musikalische Zuspielungen bzw. Interaktionen mit dem jeweiligen Bühnengeschehen. Dennoch wäre es falsch, wenn man das Gegensatzpaar ›Komposition versus Klang‹ als ausschließlich historischen, im 20. Jahrhundert zu verortenden Ablösungsprozess klassifizieren wollte. Vielmehr gab es schon sehr früh, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Versuche, dramaturgisch motivierte Musik für ein Schauspiel bereitzustellen, die – und darin liegt das für die damalige Zeit außerordentlich Moderne und Radikale – im Dienst der Sache (des Theaters) die Gesetze und Formstrukturen der Instrumentalmusik mehr oder minder vollständig hinter sich ließen, um sich ganz auf die Erfordernisse der Szene einzulassen. Solches gilt für eine der frühesten deutschen Shakespeare-Musiken aus der Feder von Johann André, komponiert für die Berliner Produktion von 1778. Die Ouvertüre widersetzt sich jeglichem dynamischen Entwicklungsprinzip mittels thematischer Arbeit; vielmehr wird ein ganzer Katalog an Versatzstücken ausgebreitet (Synkopen, Skalen, Tremoli, Bläser in Lagen, in denen sie üblicherweise wegen »unschönem« Klang oder problematischer technischer Realisierbarkeit nicht eingesetzt wurden), Versatzstücke, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Maßstäbe setzten, wenn es um die klangliche Aura des Düsteren, Unheimlichen und Gespenstischen ging. Ein Pendant zu Andrés Musik lässt sich auch für das frühe 20. Jahrhundert finden: Die Ouvertüre von Jean Sibelius‘ Musik zu Shakespeares Sturm von 1925. Auch hier ging es an erster Stelle um die klangliche – atmosphärische – Dimension, während der motivischen Arbeit nur eine untergeordnete Rolle zukam. Wie das frühe Macbeth-Beispiel aus dem 18. Jahrhundert zeigt, entwickelte sich die Schauspielmusik nicht erst im 20. Jahrhundert zum Laboratorium, indem primäre (Form) gegen sekundäre (Instrumentation, Klang) Parameter des Satzes ausgetauscht wurden; schon sehr früh erkannten einzelne Protagonisten (Musiker) die herausragenden Potentiale, die sich hier boten: Die Rückbindung an die Szene und das jeweilige Stück erlaubten Freiheiten gegenüber der herkömmlichen musikalischen Syntax und Grammatik.

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Mark Lothar, Lied des Mephisto (1941). Wie schon im späten 18. Jahrhundert spielte auch für die Komponisten von Schauspielmusik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert der Parameter des Klangs eine wichtige Rolle. Gerne griffen sie u. a. die Möglichkeiten der elektrischen Instrumente auf, um »fremde Welten« durch eine adäquate musikalische Chiffre zu realisieren: »Die vertrauten Klänge können nicht aus einer fremden Welt kommen, ohne die Szene zu desillusionieren. So zog Lothar [für die Musik zu Sophokles’ Antigone] das gerade von den Instrumentenbauern fertiggestellte, elektrische Trautonium heran, probierte es aus, griff bei nächster Gelegenheit auch zum Melodium und setzte später zu den Mephistoliedern der Faust-

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Inszenierung 1941 wieder ein neues Instrument ein, das Spinetto, dessen scharfe, um eine Oktave höher als das Spinett liegende, bizarre Stimme als des Teufels rechte Begleitmusik erschien.« Klaus Jedzek, »Über die Bühnenmusik (nach einem Gespräch mit Mark Lothar)«, in: Axel Kaun (Hg.), Berliner Theater-Almanach, Berlin: Neff, 1942, S. 283f.

Im Dienst der dramatischen Situation schufen Komponisten schon früh atmosphärische Musik, die sich über die Verbindlichkeiten sonstiger Instrumentalmusik der Zeit hinwegsetzte und an die Stelle von motivisch-thematischer Arbeit die Reihung von bloßen Versatzstücken treten ließ. Das Beispiel zeigt einen Ausschnitt aus Johann Andrés Musik zu Shakespeares Macbeth, Berlin 1778 (André-Archiv Offenbach, Abdruck mit freundlicher Genehmigung).

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Diese Erkenntnis gilt auch für das – auf die Totalität des 20. Jahrhunderts übertragen – wohl spannendste Diskursfeld überhaupt: den Raum. Auch hier gab es bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Pioniere, die sich – ohne die heutigen technischen Mittel der im Raum zu verteilenden Lautsprecher – Gedanken über eine Diversifizierung des Klangs als dramaturgisches Mittel machten. Johann André und Georg Joseph Vogler genügten in ihren Schauspielmusiken die statische Position der Musiker vor der Bühne punktuell nicht mehr, und sie spalteten das Orchester in verschiedene Klangquellen auf: »vor dem Theater« [der Bühne, also die übliche Orchesterposition], »unter dem Theater«, »hinter dem Theater«, »auf dem Theater«.

Bereits im späten 18. Jahrhundert differenzierten Komponisten wie Johann André (Musik zu Shakespeares Macbeth) zwischen verschiedenen Positionen für die Aufstellung der Musiker und erzeugten so einen im Dienst der dramatischen Situation stehenden Raumklang (André-Archiv Offenbach, Abdruck mit freundlicher Genehmigung).

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Genau daran knüpfte in den 1950er Jahren der Einsatz der elektronischen Musik wieder an: mit der Möglichkeit, Lautsprecher an verschiedenen Stellen des Zuschauerraums zu positionieren, entstand eine echte »RaumMusik«.43 Mit der bereits mehrfach erwähnten, für die Zeit ab den 1920er Jahren einsetzenden Reduktion der Besetzung von Schauspielmusik ging schließlich auch ein stark oppositionelles Moment einher: Längst war (durch den inzwischen abgesenkten Orchestergraben) die Schallquelle, die ausübenden Musiker, für den Zuschauer nicht mehr sichtbar. Nun aber, mit der Beschränkung auf ein kleines Solistenensemble, stellte sich das schiere Platzproblem nicht länger; einzelne Musiker finden auch auf der Bühne oder der Vorbühne Platz. Genau diesen Bruch mit der herkömmlichen Hör- und Sehgewohnheit des Publikums machte sich auch Bertolt Brecht im Zusammenhang mit seinem epischen Theaterkonzept zunutze: bei ihm wiesen der musikalische, von den Spielern erzeugte Klang-Raum und der szenische Raum des dramatischen Geschehens nicht mehr in die gleiche Richtung, sondern durchkreuzten einander. War diese Aufkündigung der homologen Gesamtstruktur bei ihm noch darauf gerichtet, eine politische Botschaft zu vermitteln, kündigten Komponisten wie Mauricio Kagel oder György Ligeti diesen Nexus auf: Auch ohne gesellschaftspolitisches Engagement diente ihnen in Werken wie Staatstheater oder Aventures & Nouvelles Aventures die Sichtbarmachung sämtlicher musikalischer Aktionen als eigentlicher Gegenstand. Hatte sich die Funktion bzw. Relation der Musik zum jeweiligen Schauspiel noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein im wesentlichen auf ein ›Illustrieren‹ und ›Grundieren‹ fokussiert, so hatten sich nun auch das ›Kommentieren‹ und schließlich das ›Persiflieren‹ etabliert.

Schlussbemerkung Die ursprünglich mit diesen Ausführungen intendierte Absicht, für die eigentlichen Diskursfelder um Leigh Landy und Hans Peter Kuhn gleichsam als Folie Tendenzen und Stationen zum Umgang mit Schauspielmusik

43 Vgl. die Ausführungen des Komponisten Paul Angerer (Jg. 1927), für den gerade in dieser räumlichen Komponente die spezifische Daseinsberechtigung der elektronischen Musik im Schauspiel lag. Paul Angerer, »Die Bühnenmusik als raumschaffendes Element«, in: Maske und Kothurn 11 (1965), S. 320.

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während des (früheren) 20. Jahrhunderts zu umreißen, hat sich als nicht einlösbare Unternehmung herausgestellt. Dies liegt auch, aber nicht nur, am eklatanten Missverhältnis zwischen einem grundlegenden Forschungsdesiderat zur Schauspielmusik des 20. Jahrhunderts auf der einen und den quantitativ schier unübersehbaren relevanten individuellen künstlerischen Lösungen an diversen Orten und unter den Vorgaben der unterschiedlichsten Regisseure auf der anderen Seite. So konnten allenfalls anhand exemplarischer Kategorien Bandbreiten aufgezeigt werden, innerhalb derer die Einzelbeispiele zu verorten sind. Doch auch weitere Individualstudien werden das Unbehagen bestenfalls zum Teil zerstreuen können: Gravierendstes Hindernis für eine adäquate Diskussion um die Bedeutung von Musik im Sprechtheater dürfte auch in Zukunft die grundsätzlich nicht mehr zu revidierende Quellenlage bleiben, wonach der Gesamteindruck einer Inszenierung aus den Zeiten vor der Video-Aufzeichnung als verloren anzusehen ist. Wichtigster Hebel für eine dem Wesen von Schauspielmusik auf die Spur kommende Analyse scheint das Kriterium des Raums, Raum in einem dynamischen Sinne, aus Tönen bzw. Klängen erzeugt, einerlei, ob synthetisch oder auf herkömmlichem Weg erschaffen, in jedem Fall in der Absicht produziert, in einen wie auch immer gearteten Dialog mit den Protagonisten auf der Bühne zu treten. Hier dürfte das tatsächlich spannende Potential für die weitere Forschung liegen. So aufregend und faszinierend es auch ist, Komponistennachlässe älterer Generationen, Zeitungsrezensionen und theoretische Texte der Vergangenheit aufzuspüren, sie geben allenfalls noch Schichten frei, ermöglichen punktuell »archäologische« Bestandsaufnahmen, mehr aber auch nicht. Denn: die unmittelbare kreative Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und dem Komponisten von Schauspielmusik fand während des Probenprozesses im Theater, also im direkten, heute nicht mehr rekonstruierbaren Austausch statt. Umso wichtiger wird es in Zukunft sein, dass die zwischenzeitlich geschaffenen technischen Möglichkeiten der Aufzeichnung von Inszenierungen in größerem Stil als bisher der Musik-Theater-Forschung zur Verfügung gestellt werden, um das Endprodukt der gemeinsamen schöpferischen Arbeit, das Zusammenspiel (sei es als Mit- oder Gegeneinander) von Musik und Szene, zumindest ansatzweise in seiner intermedialen Bezüglichkeit erahnen zu können: die Suche nach dem verlorenen Klang.

Robert Wilson, Alceste, Act III, 1990. Charcoal on Vinci paper 19 3/4" x 25 5/8". © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Michael Tropea

Dokumentation, Rekonstruktion, Re-Enactment, Neu-Inszenierung oder doch lieber »das Museum im Kopf«? Abschlussdiskussion1

Julia H. Schröder: Eines der Ergebnisse unseres Symposiums ist die Erkenntnis, dass die Neuerungen in Komposition und Sounddesign des Theaters der achtziger Jahre kaum dokumentiert wurden. Obwohl viel Interesse an den Inszenierungen besteht, ist die Quellenlage – wenigstens für den akustischen Teil – ausgesprochen schlecht. Ursula Kramer: Aus meiner Perspektive als bislang zur Theatermusik des 17. bis 19. Jahrhundert Forschenden hatte ich mir vorgestellt, dass ich bei dieser Tagung sozusagen die Ouvertüre im Sinfonie-Konzert spielen würde: Die Musiker sollen sich warm laufen und der eigentliche Teil der Veranstaltung kommt erst nach der Pause. Doch was ich aus meinen historischen Forschungen gut kenne, diese enorme Flüchtigkeit des Phänomens von Aufführungen, die in der Vergangenheit liegen, und wovon ich vermutete, dass es mit der Einführung der Videoaufzeichnungen von Aufführungen verschwunden wäre, stellt sich hier als immer noch zutreffend heraus: Die Schwierigkeit, sich überhaupt einen Zugang zu einer Aufführung zu verschaffen, wenn sie nicht 100 oder 200 oder noch mehr Jahre zurückliegt,

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Für die Transkriptionen der Abschlussdiskussion sowie der bearbeiteten Vorträge von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy sei Dr. Nina Jozefowicz herzlich gedankt.

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sondern nur 20 oder 30 Jahre. Sie stellt sehr wohl immer noch ein großes Problem dar. Insofern sind die Lösungsversuche auf dem Gebiet der historischen Inszenierungsforschung offenbar auch für die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts interessant. Für den Versuch der Rekonstruktionen noch folgender Hinweis aus meiner Forschung: Die Quellen aus dem 20. Jahrhundert, um einigermaßen zeitlich in der Nähe unseres Tagungsthemas zu bleiben, scheinen mir vor allem dem theaterpraktischen Milieu zu entstammen. Sie sind von Theaterkritikern, die ihre Erinnerungen aufgezeichnet haben oder beispielsweise Berlin-Almanache formuliert haben, oder von Personen, die aus der Praxis heraus geschrieben haben: Schauspieler und Komponisten, die eine feste Position am Theater hatten. Dass wir im Rahmen dieser Tagung beide Seiten vertreten haben, die Praktiker und die Wissenschaftler, ermöglicht eine Begegnung. Meine Hoffnung oder mein Wunsch wäre, dass man aus dem Wissen um die Flüchtigkeit des Genres generell dennoch versucht, auch diese Ebenen stärker miteinander in Beziehung zu bringen, als das eben – unter Vorbehalt aus meiner Perspektive – in der Vergangenheit der Fall war. Hans Peter Kuhn: Ich glaube, das ist ein nicht auflösbares Dilemma. Das Problem ist, dass es vor 30 Jahren zwar schon Videogeräte gab, dass aber die erhaltenen Bilder qualitativ teilweise so schlecht sind, dass man kaum etwas erkennt. Das trifft besonders auf die Videos von dunkleren Bühnenbeleuchtungen zu. Heute gibt es modernere Videoapparate, die in fast völliger Dunkelheit von Theatermachern auch auf der Bühne eingesetzt werden, was wiederum zur Folge hat, dass die Dokumentaristen mit ihrer modernen Technik hinterher sind. Und ich fürchte, das wird so bleiben. Leigh Landy: Es gibt natürlich auch neue Techniken, mithilfe derer wir binaurale Aufnahmen machen können, wodurch wir kein Stereobild bekommen, aber mit Kopfhörern diese räumlichen Erfahrungen nacherleben können. Auch wenn es von den Inszenierungen, über die wir hier sprechen, Videoaufnahmen mit Stereoton gegeben hätte, wären sie für den Nachvollzug der räumlichen Erfahrung völlig nutzlos. Julia H. Schröder: Euer Statement als Künstler ist, dass sich die Kunst vielleicht auch bewusst immer wieder ihrer Dokumentation entzieht, weil sie eine Flüchtige sein will.

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Hans Peter Kuhn: Ja, das ist schon richtig. Ich sage immer, das »Museum im Kopf« ist wesentlich interessanter als das hinter den Backsteinen. Es ist systemimmanent. Da die Technik so zugänglich geworden ist, gibt es sehr viele, die sich damit beschäftigen. – Ich habe manchmal das Gefühl, dass jeder etwas mit Klang oder Tontechnik macht. [Lachen.] Es werden auch viel mehr Theaterproduktionen gemacht. Und das hat wiederum zur Folge, dass nicht alle dokumentiert werden. Wie heißt das also? Systemimmanent! Sabine Sanio: Das trifft die Sache sehr gut. Ich denke, es gibt auch den umgekehrten Fall: Dass man anfängt, das Ganze vom Video her zu denken: Wie kann man die künstlerische Idee in anderen Medien darstellen. Dann löst sich eben das Phänomen des Flüchtigen von performativer Kunst bereits in der Konzeption auf. Das gibt es ja auch, dass es von der Technik aufgefressen wird. Wenn wir aufnehmen, kann man das entweder von vornherein ins künstlerische Konzept einbeziehen oder es kommt in Produktionen mit Medieneinsatz tatsächlich an den Punkt, dass das »Bild im Bild im Bild« nicht dokumentiert werden kann. Helga Finter: Erst einmal finde ich es sehr wichtig, dass es diese Tagung gegeben hat, dass man nachdenkt über das, was das Ohr wahrnimmt, und wie es das mit dem Auge verbindet. Ich finde, dass an dieser Tagung weiter sehr fruchtbar war, mit den Künstlern selbst zu sprechen und sie einzuladen. Wissenschaftler stellen gerne Hypothesen über Kunst auf, ohne zu berücksichtigen oder zu wissen, wie es gemacht wird. Dies ist jedoch sehr wichtig, was ich als erstes in meiner theaterwissenschaftlichen Arbeit gelernt habe. Denn in der Frage, wie etwas gemacht wird, sind gleichzeitig die ästhetischen Entscheidungen enthalten. Die Rekonstruktion kann die Wahrnehmung der Produktion im historischen Kontext nicht ersetzen. Das ist auch gut so. Die Theaterproduktionen, über die wir sprachen, liegen zum Teil 35 Jahre zurück. Selbst wenn wir sie gesehen oder sie, wie unsere beiden Künstler, gemacht haben, sind wir nicht mehr dieselben. Das heißt, auch wir haben uns verändert. Wir müssen sie eben rekonstruieren, wie man einen historischen Gegenstand rekonstruiert. Dafür sind Sound- und Videoaufnahmen hilfreich, aber es ist genauso wichtig, zu schauen, was die Künstler sagen, die daran beteiligt waren, die es gemacht haben, wie sie es tatsächlich wahrgenommen haben. Denn oft sagt uns das viel mehr. Fragt man zum Beispiel danach, wie die Stimme von Sarah Bernhardt oder die

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von der Duse geklungen hat, so gibt es von Sarah Bernhardt zwar eine Aufnahme, die aber letztlich nicht sehr viel aussagt, da sie viel zu schnell aufgenommen worden ist. 2 Wir haben allerdings Quellen in Textform. Wenn diese Texte von sensiblen Menschen gemacht worden sind, wenn sie schreiben konnten, geben sie uns viel mehr Informationen. Ein Beispiel dafür ist, was Hugo von Hofmannsthal über die Duse schreibt.3 Oder andere Autoren über die Bernhardt. Ähnlich ist es mit den Theaterinszenierungen. Oft gibt uns eine Beschreibung eine bessere Idee von dem, was gewesen ist, als etwa ein Film- oder ein Videoausschnitt – selbst wenn in guter Qualität gefilmt wurde –, denn die Beschreibung gibt zugleich auch den historischen Kontext und die Reaktionen darauf wieder. Das Problem, zum Beispiel die Musik und ihre Räumlichkeit betreffend, sind ja offensichtlich die Kritiker, die keine Ohren haben. Aber die haben selbst auch dann keine Ohren, wenn es um Prosatexte geht. Ich habe mich einmal mit Aus der Fremde von Ernst Jandl beschäftigt, das an der Schaubühne gespielt wurde.4 Aus der Fremde ist ein Text, der in Versen geschrieben ist. Jandl hat eine Kassette bereit gestellt, auf der er hören lässt, wie man das sprechen müsse. Nach dieser Inszenierung, ich hatte sie damals nicht sehen können, habe ich keine einzige Kritik gefunden, die einen Hinweis darauf gibt, wie die Schauspieler den Text gesprochen haben! Der Text ist in Terzinen, d. h. in Strophen geschrieben, die jeweils drei Verszeilen, jedoch ohne Endreim, einander zuordnen. Nach Jandls Hörbeispiel sollte der Text getragen, ja fast psalmodierend vorgetragen werden. Da hat keiner der Kritiker hingehört. Diese Taubheit ist fatal, aber ich habe den Eindruck, dass sich das ein bisschen verändert. Man hört doch immer mehr, dass auch etwas über den auditiven Teil einer Inszenierung berichtet wird. Im Internet gibt es nun sehr viele

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Es gibt Stimmaufnahmen der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844–1923) von 1910 in Form von Phonographen-Aufnahmen auf Edison Amberol-Wachswalzen (35011).

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Beispielsweise: Hugo von Hofmannsthal, »Eleonora Duse. Die Legende einer Wiener Woche«, in ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 1–3. Band 1, Frankfurt am Main 1979, S. 475–479.

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Ernst Jandl, Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen (1979), Regie: Ellen Hammer, Bühne: Antonio Recalcati, Kostüme: Moidele Bickel, Spielorte: Schaubühne am Halleschen Ufer, Hebbel-Theater, Premiere: 19.2.1980.

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Kommentare, die sich dagegen auflehnen, dass jetzt alles diesen »synthetischen« Ton hat. Also, es gibt schon Kritiker, die mehr Ohr haben. Hans Peter Kuhn: Ich habe den Eindruck, dass Klang in den letzten drei Jahren einen Abgang gemacht hat. Bis dahin ist es so langsam interessant geworden, und jetzt gibt es seit kurzer Zeit derartig viele neue Einrichtungen, Institutionen, Magazine, Menschen, die sich damit beschäftigen, dass ein Point of No Return gekommen zu sein scheint. Damit könnte zusammenhängen, dass die Sensibilität für Klang größer geworden ist und sie tatsächlich anfangen zu denken: »Nicht vergessen zu hören.« Helga Finter: Es hat vielleicht auch mit den CDs der historischen Sänger wie auch der alten Schauspieler zu tun, die wie [Maria] Nicklisch oder Peter Lühr in Golden Windows, oder auch Otto Sander oder [Ulrich] Mühe so wunderbar sprechen konnten, aber inzwischen verstorben sind. Es gibt heute ein Bewusstsein dafür, dass man sie nicht mehr hören wird. Außerdem reüssieren Hörbücher, die Leute lesen nicht mehr, sondern sie lassen sich den Text vorlesen. Die auditive Kultur ersetzt die Lesekultur in Teilen. Ein weiterer Punkt, den man andenken sollte, sind die Archive und deren Möglichkeiten. Leigh Landy: Zwei Punkte möchte ich in die Diskussion einbringen: In meinem »anderen Leben« als Professor habe ich viele Doktoranden und Masterstudenten, die interessiert an künstlerischer Zusammenarbeit sind – von Musik und Tanz, von Musik im Theater usw. Wie viele Publikationen gibt es dazu? Wie viele Case Studies über Komponisten, die im Theater gearbeitet haben oder mit Tanz, mit Video, in Performance Art? Es gibt kaum etwas. Der zweite Punkt ist ein bisschen komisch. Ich habe eine 16-jährige Tochter, die gerade das sogenannte A-Level in Großbritannien macht. Dort gibt es in der Schule das Fach Theater, wofür sie als Teil der Arbeit ein paar Hausarbeiten schreiben muss. Sie hat eine fantastische Produktion gesehen und hat drei oder vier Seiten über die Beleuchtung, das Bühnenbild, die Interpretation der Schauspieler geschrieben. Das wurde schlecht bewertet, weil sie nur über Text und Textbearbeitung schreiben sollte. Falls dann noch etwas über die Aufführung zu sagen wäre, so sollte das nur ganz kurz am Ende erwähnt werden. Hier sieht man, dass Theater schon in der Schule

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als Text vermittelt wird und nicht als Aufführung. Leider steht es so im Rahmenplan und um etwas zu ändern, müsste ich an das Landesschulamt schreiben… Matthias Dreyer: Die Tagung hat deutlich gemacht, wie weitgehend die Grenzverwerfung zwischen den verschiedenen Künsten und den institutionellen Zuordnungen im Theater Robert Wilsons waren. Wie stark eine Öffnung verschiedener Künste in ihrer Eigenheit passiert oder in diesem Rahmen geschehen ist. Für mich war es eine wichtige Erfahrung, die Klangbeispiele hier im Studio-Saal räumlich zu hören, also in der mehrkanaligen Version. In diesem Zusammenhang ist mir aufgegangen, dass ich Vergleichbares in den klassischen Theatern gar nicht mehr höre. Es wird deutlich, wie stark Wilson selbst zurückgegangen ist hinter das experimentelle Niveau, das er damals hatte. Das finde ich sehr schade. Es passiert mir selten, dass ich eine solche Erfahrung in den Stadttheatern oder auch Staatstheatern, wo Wilson ja auch gearbeitet hat, heute machen kann. Wilsons damalige Öffnung der Grenzen zwischen den Künsten ist ja auch der Grund für die Verfehlung vieler Kritiker. Die Schauspielkritiker sind selten fähig, die Musik- oder die Soundbeschreibung zu liefern. Aber es scheint mir auch, dass sich das Theater heute institutionell auf eine konservative Weise ausdifferenziert. Das Schauspiel zum Beispiel tendiert wieder stärker zum Texttheater, während sich für Installationen, Hörspiel, Klangkunst etc. andere Szenen gebildet haben, die davon getrennt sind und parallel experimentell arbeiten. Es ist meine Befürchtung, dass sich die Künste in dieser Hinsicht weiter differenzieren. Hans Peter Kuhn: Bezüglich Bob Wilsons Arbeitsmethode: Wilson hat irgendwann angefangen, Klassiker zu spielen. Und damit hat sich das auch verschoben. Es gibt einen Punkt, den möchte ich jetzt nicht genau festlegen, um 1987 vielleicht, bis zu dem hat er seine Texte immer selber zusammengestückelt, oder er hat Gertrude Stein gemacht. Danach hat er angefangen, Shakespeare zu inszenieren. Das fand ich auch seltsam, muss ich gestehen. King Lear war, glaube ich, das erste Mal, dass er einen echten Klassiker aufgeführt hat. Zudem gibt es noch ein schwer korrumpierendes Moment im Theater: das heißt »Oper«. Dort gibt es einfach höhere Honorare und ein größeres Budget für die Inszenierung insgesamt. Jeder, der als Regisseur im Sprechtheater erfolgreich ist, wird irgendwann Opernregisseur, weil es ein-

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fach mehr Geld bringt. Bob braucht natürlich viel Geld, weil Watermill5 extrem teuer ist und allein von den Sponsorengeldern wahrscheinlich nicht betrieben werden kann. Er nutzt das Geld sinnvoll. Noch kurz zu den parallelen Szenen: Gerade in den sechziger und siebziger Jahren gab es in Deutschland ein extrem offenes und experimentierfreudiges Theater. Alle großen Bühnen hatten eine Studiobühne, und in diesen Studiobühnen sind wirklich Sachen ausprobiert worden. Happenings und Performances gab es dort. Natürlich nicht so schrill wie in der freien Kunstszene, aber man konnte das dort entsprechend aufwändig machen. Dadurch gibt es einen Pendeleffekt, das muss man auch sehen. Ich habe das Gefühl, dass es gerade wieder in die Richtung geht, mehr ExperimentierBühnen zu haben. Zu dem anderen Punkt, der angesprochen worden ist: Diese anderen Szenen, also die experimentelle Musik und Klangkunst, gibt es in dieser Zeit auch unabhängig vom experimentellen Theater. Natürlich haben sie sich gegenseitig auch beeinflusst oder befruchtet, aber wichtig ist mir festzuhalten, dass sie nicht erst dadurch entstanden sind, weil am Theater kein Raum mehr dafür war. Der Einsatz von Mehrkanal-Ton ist bei Robert Wilson weniger geworden. Er arbeitet jetzt sehr oft in seinen Stücken mit Live-Orchester. Das ist etwas ganz anderes. Wenn man ein Orchester im Orchestergraben hat, kann es sehr komisch wirken, wenn dazu elektronische Klänge zu hören sind. – Letztlich sind es elektronische Klänge, auch wenn in meinem Fall die Klänge nicht von Natur aus elektronisch sind: Sie klingen doch ganz anders als eine Geige oder eine Posaune, die im Graben spielt. Es war auch eine sehr leidvolle Erfahrung: nachdem ich an der Schaubühne aufgehört hatte, habe ich als Freelancer Konzerte ausgesteuert. Da kamen dann Leute mit: »Es klingt aber gar nicht wie eine Geige«, denn es kam ja aus dem Lautsprecher. Das haben sie nicht verstanden. Natürlich ist das problematisch. Matthias Dreyer: Gibt es Dokumentationsverfahren, mit dem man akustisch diese Verteilung im Raum erleben kann?

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»The Watermill Center: A Laboratory for Performance« ist ein 1992 von Robert Wilson gegründetes Kulturzentrum. Künstler verschiedener Disziplinen können dort in Künstlerresidenzen oder Sommerkursen experimentelle Theaterprojekte entwickeln.

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Hans Peter Kuhn: Im Rechner kann man es speichern. Aber man kann es nicht über Kopfhörer hören. Man kann es in Kunstkopf-Stereophonie aufnehmen. Aber es ist trotzdem nicht dasselbe, wie real in einem Raum zu sitzen und über verschiedene im Raum verteilte Lautsprecher Klang räumlich wandern zu hören. Die Dokumentationsmöglichkeiten über Kunstkopf sind besser als nichts. Julia H. Schröder: Ein Beispiel ist die Rekonstruktion als »Virtual Electronic Poem« des berühmten Philips-Pavillons 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel von Le Corbusier, für den Edgar Varèse eine elektroakustische Komposition mit räumlicher Bewegung für diesen Raum komponiert hat, das Poème électronique. Die Pavillon-Architektur von Iannis Xenakis, die Dia- und Lichtshow von Le Corbusier und eben die räumlich wiedergegebene Musik von Varèse wurden virtuell-räumlich rekonstruiert, so dass man sie über einen Datenhelm mit Kopfhörer erleben kann.6 Sabine Sanio: Es ist die Rolle des Hörens im Theater und auf anderen Bühnen, die sich durch die Medienentwicklung verändert. Was ihr beiden, Hans Peter Kuhn und Leigh Landy, gemacht habt, war dem technischen Fortschritt geschuldet. Man machte sich diesen zu Nutze und konnte Leute, abgesehen von den tauben Kritikern, dafür begeistern. Das setzt sich natürlich fort und heute sind wir bei den Hörbüchern. Für mich ist das Hörbuch ein Beweis dafür, wie wichtig uns das Hören ist. Es zeigt, dass das so eine Erfolgsgeschichte ist, dass Sprecher wieder ganz anders honoriert werden und andere Arbeitsmöglichkeiten haben, dass es eine Extra-Sparte für die Literatur geworden ist. Daran kann man sehen, dass das Hören eine neue Rolle gewonnen hat und daraus neue Möglichkeiten entstehen. Es ist gewissermaßen ins Privatleben gewandert. Um solche Effekte erleben zu können, musste man früher ins Theater gehen. Das ist ja auch ein technischer Effekt: Von der Eisenbahn zum Privatauto, von der Waschküche zur Waschmaschine zu Hause. Man muss auch diese Perspektive einnehmen,

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Siehe: Vincenzo Lombardo, Andrea Valle, John Fitch, Kees Tazelaar, Stefan Weinzierl, Wojciech Borczyk, »A Virtual-Reality Reconstruction of Poème Électronique Based on Philological Research«, in: Computer Music Journal 33:2 (Summer 2009), S. 24–47.

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um zu verstehen, was sich genau entwickelt. Man muss auch die Mediengeschichte im Blick haben. Kirsten Reese: Meiner Meinung nach wird das wahrgenommen. Ich höre gerade noch einmal die Kinderhörspiele von früher. Was das für tolle Sprecher gewesen sind, und was das für einen Eindruck auf einen hinterlassen hat. Andererseits bin ich manchmal schockiert, wenn ich Kritiken lese. Einerseits haben wir eine Kultur von Kritiken hier in unserem Land, die sehr hoch gehalten wird. Manchmal liest man eine Kritik, die ist besser als wenn man das Stück gesehen hätte, weil darin so viele Sachen angesprochen werden. Andererseits werden Aspekte nicht besprochen, die zentral waren in dem Stück. Das ist mir wirklich nicht erklärlich. Ich glaube, die Kritiker nehmen die Besonderheiten des Audio-Anteils der Produktion als Gesamteindruck doch wahr, aber es gibt keine Möglichkeit, das zu kommunizieren. Vielleicht auch aus Angst, etwas Falsches zu sagen in einem Bereich, in dem sie sich nicht auskennen. Hören spielt insgesamt derzeit eine größere Rolle, etwa im kulturwissenschaftlichen Diskurs. Als ich kürzlich Theatermusik gemacht habe und die ganz normalen Leute im Publikum nach der Aufführung gefragt habe, wie sie die sehr geräuschhafte Musik empfunden haben, haben sie geantwortet: »Es war toll, dass da so viel war. Es war nicht so still wie sonst im Theater.« Darüber hinaus gab es keine Sprache. Ich finde es sehr wichtig, was das normale Publikum sagt. Noch etwas zum Problem der Dokumentation: Es ist einfach nicht möglich, medial wiederzugeben, wie wir physisch im Raum hören. Es sei denn, wir spielen es wieder genau gleich ab. Das gilt auch für das Theater. Gerade die Vermittlung von parallelen Wirklichkeiten ist ja das Besondere. Sobald man das auf einem Medium abspielt, tut man so, als gäbe es eine Perspektive auf das Geschehen. Wenn aber gerade das Entscheidende ist, dass zwei Perspektiven parallel sein können und man von seiner Wahrnehmung her, von seinem Erleben switchen kann, von der einen zur anderen, dann kann das nie funktionieren. Ich glaube dann doch, dass so ein Mix aus medialer Dokumentation und Erzählung brauchbarer ist: wie war es, was waren das für Strukturen, wie lange hat die Produktion gedauert, und wie viel hat es gekostet? An diesem Punkt bemerkt man eine Diskrepanz zu den Produktionsbedingungen heute. Andererseits interessiert es mich aber auch, etwas wirklich zu hören oder wirklich zu sehen. Denn es gibt dann eine Ebene, die einem niemand erklären kann. Wenn man ein Foto sieht von

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einer Aufführung, entdeckt man dort vielleicht etwas, das z. B. auf die achtziger Jahre zu verweisen scheint, in einer Weise, dass man das nur sehen kann, weil es nichts ist, was sich versprachlichen lässt. Insofern braucht man eben verschiedene Formen von Dokumentation. Man kann das nicht dadurch lösen, dass man eine Aufführung noch besser reproduzieren könnte. Mich würde daher interessieren, wie man Zugang zu den existierenden Dokumentationen bekommt. Wenn die Theater die ganze Zeit mitschneiden, wie kommt man denn da heran? Hans Peter Kuhn: Die Theater archivieren ihre Aufführungsdokumentationen tatsächlich. Und heran kommst du, wenn du bei ihnen klingelst und danach fragst. Miriam Akkermann: Zum einen zur Quellenlage: Auf der einen Seite finde ich es tragisch, dass es kaum Quellen zu dem musikalischen Teil der Aufführungen gibt, auf der anderen Seite sieht man an der Anekdote über die Kritik von Hans Peter Kuhn 7 sehr gut, wie die öffentliche Wahrnehmung funktioniert. Diese eingeschränkte Sichtweise auf das Theater bedingt möglicherweise deren Dokumentation. Das heißt, wenn die Wahrnehmung von Theaterkritikern weiterhin vor allem die Arbeit des Regisseurs betrifft, dann wird diese zuerst dokumentiert. Die einzelnen Bestandteile der Inszenierung sind dann oft nicht eigenständig dokumentiert oder so archiviert, dass man sie wiederfinden könnte. Ich weiß, dass in großen Theatern wirklich sehr viel Material im Archiv liegt. Aber es weiß oft keiner so genau, was da eigentlich alles vorhanden ist, da die Dokumentationen nicht immer systematisch und vollständig erfolgten. Ich vermute, dass ein großer Teil des Quellenproblems einfach eine Frage der Erschließung und Zugänglichkeit der Theaterarchive betrifft. Zum anderen schließe ich mich Kirsten Reese an: Ich glaube, dass der Gesamteindruck eines Theaterstücks unglaublich wichtig ist, auch wenn keiner davon spricht. Wenn man am Theater arbeitet, heißt es: »Ton hört man erst, wenn er falsch ist«. Und das ist auch so. Wahrgenommen wird Ton auch in der Probenarbeit oft erst, wenn er nicht passt. Aber ich glaube,

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Hans Peter Kuhn erzählte von einer Operette, deren Musik er komponiert hatte, und die Robert Wilson mit ihm inszenierte. In einer Rezension wurde dann von »Wilsons Musik« geschrieben.

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dass das auch signifikant für die allgemeine Wahrnehmung des Publikums ist. Wird der Ton hervorgehoben, ist das ein großes Lob, weil er dann so gut war, dass er aufgefallen ist. Das macht natürlich auf der anderen Seite die Dokumentation noch einmal schwieriger. Denn wenn es sehr gut war, fließt das oft in die Gesamtbewertung der Aufführung mit ein, warum sollte es dann noch explizit dokumentiert werden? Julia H. Schröder: Mir ist zu Helga Finters Beispielen der Stimmen der großen Schauspielerinnen des 19. Jahrhunderts, von denen keine Dokumente existieren, eingefallen, dass in der Tanzforschung und in der Tanzpraxis derzeit sehr viel mit dem so genannten Re-Enactment gearbeitet wird. Dieser Begriff kommt vom Nachspielen von historischen Wirklichkeiten, dass beispielsweise in Museumsdörfern in historischen Kostümen Brot gebacken wird. Es gibt derzeit Förderung für Tänzerinnen und Tänzer, die mit Archiv-Wissen versuchen, über die ephemeren, also nicht mehr vorhandenen Choreografien von Anfang des 20. Jahrhunderts zu arbeiten. Teilweise sind das sehr kreative Ansätze. Inwieweit sehen Sie eine Möglichkeit für Theaterpraktiken, bei denen wir offensichtlich vor ganz ähnlichen Problemen stehen, so einen Ansatz zu verfolgen? Oder ist das Problem der Flüchtigkeit von Inszenierungen tatsächlich eher einzuholen mit dem, was wissenschaftlich gesichert ist? Ich hatte die Sacre-Rekonstruktion8 erwähnt, die sehr umstritten ist. Doch ist diese erste Choreografie so berühmt, obwohl von ihr nicht viel erhalten ist. Sie wurde vor einigen Jahrzehnten, 1987, rekonstruiert und jetzt wieder aufgeführt. Das heißt, es wird ein Tanzrepertoire entwickelt, das diese Choreografien, die nicht mehr greifbar sind, paradoxerweise wieder zugänglich macht. Könnte man sich für das Theater so etwas vorstellen? Oder läuft es darauf hinaus, dass von Wilson nur noch Einstein on the Beach (1976) aufgeführt wird, weil es ganz gut dokumentiert ist und weil es eine Partitur von Philip Glass gibt?

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Die Choreografie von Waslaw Nijinskij der Pariser Uraufführung zu Igor Strawinskys Ballettmusik Le Sacre du printemps 1913 wurde von Millicent Hodson 1987 für das Joffrey Ballet rekonstruiert und wurde seitdem von mehreren Ballettkompanien weltweit übernommen. Neben der Choreografie wurden auch die Kostüme und das Bühnenbild rekonstruiert. Millicent Hodson, Nijinsky’s Crime Against Grace: Reconstruction Score of the Original Choreography for Le Sacre du printemps, Stuyvesant, NY: Pendragon Press, 1996.

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Hans Peter Kuhn: Wenn genügend Zeit dazwischen ist, dann ist es sowieso besser, man macht es neu. Was Kirsten Reese zum Dokumentieren gesagt hat, da stimme ich ihr total zu. Das ist nicht dasselbe. Denn du kannst nicht entscheiden, ich will das Ganze einmal von rechts vorne oder links hinten hören, sondern du wirst es von dem einen Standpunkt aus erleben, wo das Mikrofon gestanden hat. Das ist ein ganz wichtiges Element, das man mit so einer Geschichte nicht einfach in den Griff kriegt. Natürlich braucht man die Möglichkeit, tatsächlich den Raum zu erfahren. Die andere Geschichte ist: Die Leute, die das erlebt haben, die erinnern sich daran. Die tragen das Museum im Kopf, und für die ist es schwierig, das ReEnactment zu ertragen. Aber sie sterben auch irgendwann. Dann finde ich es doch eine vernünftige Lösung zu sagen, »wir machen jetzt mal das, was die damals gemacht haben«. Das wird ja letzten Endes doch mehr oder weniger gemacht. Sabine Sanio: Was macht es so schwer? Im Regietheater gibt es einen Text, der aufgeführt werden soll. Das heißt, es wird immer inszeniert. Das ist eigentlich so ähnlich wie in der Musik. Du nimmst eine Partitur, und die Partitur ist zwar nicht das Werk, aber eben die komplette Aufführungsanweisung. Für mich sind eure Sachen doch etwas anderes. Sie sind eigentlich von diesem Happening-Gedanken her oder von der Performance aus gedacht. Das heißt, es gibt dieses niedergeschriebene Werk nicht, von dem man sagen kann, das ist das Eigentliche, und wir haben es dann inszeniert, aber hier ist der Kern. Das war ja der neue Gedanke damals, zu sagen, Performance ist jetzt, und dann ist es vorbei, es ist nicht wiederholbar, – auch wenn man es dann mehrmals wiederholt hat. Ist das nicht ein anderer Ansatz, der sich gegen die Werktreue und Werkaufführung oder die Inszenierung des Werks wendet, die sich dann auch die Freiheit im Regietheater erarbeitet hat, aber diesen ganzen Komplex hinter sich lässt? Beziehungsweise wäre die andere Frage: Wie kann man jetzt so intelligent sein, dass man eine Inszenierung, die schon alle Aspekte umfasst, dann nochmal inszeniert? Man muss quasi einen Hebel finden, an dem man sagt: ja, und in der Gegenwart inszenieren wir es 40 Jahre später, dafür haben wir jetzt dieses Thema oder diesen Ansatz. Es muss einen Grund für die Neu-Inszenierung geben, nicht nur Rekonstruktion um ihrer selbst willen. Auf diese Idee warte ich, die das sein könnte. Es ist, als würden wir

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die vierte oder die fünfte Dimension finden wollen. Es scheint mir vom Konzept her schwierig zu sein. Julia H. Schröder: Ich bin im Prinzip deiner Meinung. Aber dadurch, dass wir uns nicht nur wissenschaftlich in getrennten Gebieten, der Theater- versus der Musikwissenschaft, sondern auch in den Kunstinstitutionen Theater usw. befinden, wird doch anders gedacht. Der Text von Robert Wilsons CIVIL warS, der nach der ersten Inszenierung transkribiert oder niedergeschrieben wurde, ist zum Beispiel in den gesammelten Schriften von Heiner Müller publiziert. Das Stück ist wirklich in Textform veröffentlicht, aber am Ende ist angemerkt, dass der Text unter Umständen etwas abweichen kann, weil er improvisiert wurde und in dem und dem Probenzustand transkribiert wurde. 9 Ein unbedarfter Leser könnte also annehmen, dass Wilsons Theater – ganz traditionell – auf einem Text beruhe. Sabine Sanio: In dem Sinne habe ich ja auch gerade argumentiert. Schon auch, dass man sagen kann, Heiner Müller können wir immer noch aufführen, auch in 200 Jahren wird es Inszenierungen seiner Texte geben. Der arme Robert Wilson ist hingegen Regisseur von »noch einem Shakespeare« gewesen. Andererseits weiß ich nicht, ob es ein Verlust ist. Aber ihre Arbeiten sind stark durch ihre Gegenwart geprägt. Ich finde, da gibt es wirklich einen Unterscheid. Kirsten Reese: Das sind die grundlegenden ethisch-ästhetischen Fragen. Trotzdem ist Robert Wilson nicht weniger wert als ein Heiner-Müller-Text. Manchmal finde ich den Versuch des Rekonstruierens problematisch, weil man dem eine Wertigkeit gibt, die es vielleicht nicht hat. Ich finde die his-

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Heiner Müller, Werke 6, Die Stücke 4. Bearbeitungen für Theater, Film und Rundfunk, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, darin: »Szenen für Robert Wilson«, »the CIVIL warS. a tree is best measured when it is down. opera von Robert Wilson«, S. 144–284. »Ausgangspunkt für den IV. Akt waren Improvisationen nach einem von Wilson vorgezeichneten szenischen Grundriß. Die Textauswahl besorgte Heiner Müller im Prozeß der Proben. Die hier abgedruckte Beschreibung des IV. Aktes ist ein unzulänglicher Versuch, die szenischen Vorgänge im Nachhinein stichpunktartig zu notieren.« Auszug aus »Anmerkung zum Textabdruck«, ebd., S. 284.

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torische Aufführungspraxis in der Musik ist dafür ein gutes Beispiel, weil sie an sich überhaupt keinen Wert hat. Warum sollte man die Musik so spielen, wie damals im 18. Jahrhundert? Das Radikale daran war, dass sie damit komplett den ganzen Musikbetrieb in Frage gestellt haben. Und wirklich nochmal einen neuen Zugang zu dieser Musik geschaffen haben, durch diese Revolution. Als ich 19 Jahre alt war, da war Harnoncourt10 ein Schimpfwort. Er war umstritten. Das war etwas Radikales. Heute hat sich das komplett geändert. Jetzt ist es Mainstream. Es muss immer Kunst geben, von der man sagt, wir wollen sie nicht dokumentieren, nicht besser dokumentieren, sondern sagt: »Eigentlich geht es nicht, ihr müsst zuhören, ihr müsst im Raum sein. Theater bedeutet Präsenz, deswegen haben wir da lebendige Leute und keinen Film. Darauf kommt es an. Deswegen zeigen wir es noch einmal, deswegen machen wir es noch einmal.« Das gilt auch für die Werkmusik. Wir wissen sowieso nicht, wie die Leute das damals gehört haben. Es kommt ja nur darauf an, was uns das heute sagt. Dann ist es mir auch egal, was die in 200 Jahren mit Heiner Müller machen. Das werden wir alle nicht erleben. Helga Finter: Interessant ist zum Thema historische Aufführungspraxis auch folgendes Beispiel, nicht zu Harnoncourt, sondern zu William Christie. Als Christie die Oper Atys von Jean-Baptiste Lully, die Jean-Marie Villégier inszeniert hatte, 1989 an der Brooklyn Academy of Music (BAM) in New York zeigte, wurde das von der Kritik gleichgesetzt mit dem, was Robert Wilson und Philip Glass mit Einstein gemacht hatten. Das heißt, dass die historische Aufführungspraxis ab einem bestimmten Moment zeitgenössischer war – oder genauso zeitgenössisch – wie Wilson und Glass, weil sie nicht psychologisch arbeitete, sondern mit der Form. Es war ein Theater mit Worten, Musik, Gesang und Tanz sowie Geräuschen und Klang, das heißt, eine Form, die es so Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr gab, Anfang des 19. Jahrhunderts gar nicht mehr, und die mehrere Aufnahmemöglichkeiten des Menschen ansprach, nicht nur sein Verständnis von Texten. Deshalb finde ich Rekonstruktionsversuche notwendig. Aber man muss sich darüber klar sein, dass es immer Rekonstruktionsversuche sind, dass sie aus dem eigenen historischen Kontext heraus entstehen und

10 Nikolaus Harnoncourt (*1929) ist als Dirigent einer der wichtigen Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis von alter Musik.

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dass immer etwas fehlen wird. Aber der Versuch ist trotzdem wichtig. Selbst die Sacre-du-printemps-Aufführung, so problematisch sie sein mag, ist eine andere Erfahrung: Zu sehen, wie diese Figuren in dem Bühnenbild als Elemente eines Bildes sich bewegen, eines Bildes, das zehnmal so hoch ist wie sie selbst; sie sind also ganz winzig darin. Dann die Gewalt des Tanzes: Es funktioniert wie ein Sündenbockritual, was viel weiter geht, als die Choreografien, die später zu der Musik entstanden, zum Beispiel Maurice Béjarts oder andere. Die Choreografie von Pina Bausch kommt dem nahe. Aber es ist auch wichtig, so etwas selbst – mit allen Grenzen – zu sehen. Es vor allem zu sehen, wenn gleichzeitig die Musik im Raum gespielt wird. Denn es ist etwas anderes, wenn sie vom Tonband kommt. Aber bei Sacre gab es ja eine Notation. Marie Rambert, die an der Choreografie 1913 mitgearbeitet hat, fertigte auch Notationen zur Choreografie an. Außerdem war die Musik ja vollständig erhalten. Bei Rekonstruktionen ist das Problem, dass es die Notwendigkeit nicht gibt. Sagen wir mal, wenn eine Schauspielerin ihren Text spricht, macht sie ihren Job. Sie sagt nicht einen Text, den sie selbst geschrieben hat, wie z. B. Lucinda Childs in Einstein, wo der Rhythmus eingraviert ist in den Körper; und unbewusst auch mitspielt, was für ein Text das für sie ist. Matthias Dreyer: Es gibt heute aber durchaus die Notwendigkeit, bestimmte Arten des Sprechens wiederzuentdecken. Es ist dann nicht die Notwendigkeit dieser Sprecherin, sondern überhaupt des Erinnerns verschiedener Möglichkeiten des Theaters oder anderer Künste. Und hier finde ich den Vergleich mit dem Barock sehr gut. Der akademische Diskurs spielt dabei auch eine wichtige Rolle. Mit der Rekonstruktion allein – ich finde die Idee gruselig, aber ich wäre trotzdem gerne dabei – ist es nicht getan, denn man muss einen neuen Zugang dazu entwickeln: Was davon ist uns heute wichtig? Das muss man auch beschreiben können oder auf irgendeine Weise reflektieren, weil nur das der Ausgangspunkt dafür wäre, etwas produktiv weiter zu verwenden. Nicht dahinter zurück zu fallen, sondern damit wieder etwas zu machen. Dies wird gestützt durch die Arbeit, die wir an so einem Wochenende leisten, oder auch auf schreibende Art im Denken des akademischen Diskurses. Das ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Es hat auch mit einer Art ästhetischer Erziehung im experimentellen Sinne zu tun.

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Julia H. Schröder: Kannst du nochmal kurz präzisieren, was du genau mit »gruselig« meinst? Matthias Dreyer: Man erlebt diesen Effekt häufig, wenn man mit Videoaufzeichnungen von Theaterstücken arbeitet. Wenn ich zum Beispiel Klaus Michael Grübers Inszenierung von Euripides’ Die Bakchen (1974) Studierenden heute zeige, dann sagen die: das sieht ja total kitschig aus. Man begegnet Details der Ausstattung oder bestimmten Formen der Bewegung, die vor 40 Jahren spannend waren, und vieles davon wirkt dann heute passé. Das meine ich mit »gruselig«, dass so ein Zeitsprung die Gegenwart verfehlt, wenn er nicht mehr ist als eine konservierende Rekonstruktion. Die Inszenierung wirkt dann nicht unzeitgemäß in einem produktiven Sinne, wie Nietzsche oder Walter Benjamin das meinten, sondern bloß veraltet. Julia H. Schröder: Aber es kann doch nur ikonisch werden, wenn es repetiert wird. Und genau das ist ja, was mit der Sacre-Choreografie passiert. Es kann sich nur in unser kulturelles Gedächtnis als rekonstruierenswert einschreiben, wenn es öffentlich wahrgenommen wird. Leigh Landy: Die Mehrheit der Rekonstruktionen beim Tanz sind pädagogisch motiviert. Und das eröffnet Möglichkeiten für bestimmte Techniken. Sie kosten wenig. Der zweite Punkt ist, eine Rekonstruktion des ganzen Stückes ist sehr teuer. Julia H. Schröder: Ich denke, durch Veranstaltungen wie diese Tagung steigern wir den kulturellen Wert des Ganzen. Matthias Dreyer: Dann ist der Schritt nicht mehr weit, dass man es als Unesco-Kulturerbe festschreibt. Und das fände ich genau falsch. Deswegen habe ich auch Schwierigkeiten, darstellende Künste als »kulturelles Erbe« zu definieren, weil es sich nicht um Artefakte handelt. Sabine Sanio: Ich habe nochmal überlegt, was der Ansatz sein könnte, und ich glaube, wir haben darüber schon geredet, was eine ›Re-Inszenierung‹ wäre. Es geht um ein bestimmtes achtziger-Jahre-Feeling, was Sie, Matthias Dreyer, heute Morgen an Heiner Müller beschrieben haben. Dieses Gefühl, man lebt eigentlich nach der Katastrophe. Dieses Gefühl von

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Stillstand. Das kommt mir jedenfalls so vor, dass es auch Wilson nahe ist. Diese Atmosphäre, die auch das Postdramatische ausmacht. Es gibt keine Handlung. Das möchte ich als These hinstellen. Wenn man das als Zugang begreift, stellt sich die Frage: Ist das heute für uns wirklich abgestanden? Gibt es nicht einen Zeitabstand, den wir erfahren, wenn wir live nochmal in den achtziger Jahren dabei sein könnten? Hans P. Kuhn: Die Sammlung Sonnabend ist eine der größten Sammlungen der Pop-Kultur, der Pop-Kunst. Sie wurde 1989 im Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigt, 11 alle wichtigen Werke. Das war die Kunst des Tages, als ich 14 Jahre alt war! Dann stand ich ein Vierteljahrhundert später da und es ist etwas ganz Merkwürdiges passiert. Eine Installation, ich weiß jetzt nicht mehr, von wem sie war, stellte das Atelier des Künstlers dar, und in der Mitte stand eine Cola-Kiste: Holz mit rot eingebranntem Coca-ColaZeichen. Da ist antik. Ich glaube, das funktioniert in 40 Jahren wieder, denn dann ist das Ding tatsächlich antik. Aber die Installation, wie ich sie damals erlebt habe, war in diesem Augenblick das ›Jetzt‹ oder ›Heute‹ oder ›Gestern‹ oder ›morgen Früh‹. Und jetzt ist das eben 50 Jahre alt, dieser komische, alte Kram. Die nächste Generation weiß das nicht. Die wissen gar nicht, dass es jemals Coca-Cola-Kisten gegeben hat, die aus Holz waren. Es hat wirklich auch damit zu tun. Kirsten Reese: Dann wäre die Frage: Ab wann darf man rekonstruieren? Nach 40 oder nach 70 Jahren? Sabine Sanio: Was du meinst, ist quasi eine Firnis oder ein AlterungsEffekt. Aber am Theater geht es um Fragen, darum dass es ein Interesse gibt, dieses oder jenes noch einmal aufzuführen. Hans Peter Kuhn: Es ist nun mal eine Live-Kunst, die relativ nah an kulturellen und sozialen Fragen ist, die gerade akut sind. Auch wenn man so etwas wie Robert Wilson macht. Es war jedenfalls nah dran an dem, was akut war. Ich weiß nicht, wie weit man das wirklich kann. Ich sage immer: ›Museum im Kopf‹, das ist meiner Ansicht nach das Einzige wirklich rele-

11 »Museum der Avantgarde. Die Sammlung Sonnabend New York«. Hamburger Bahnhof Berlin (7.12.1988–26.2.1989).

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vante dazu. Diese Dinge kann man nicht wirklich rekonstruieren. Das, was man vielleicht machen kann, ist: Es gibt diese tollen Bilder, die der Bob [Wilson] da gemacht hat. Aber um das zu wiederholen, würde ich dann wirklich noch einmal 30 Jahre warten. Aber das Dahintersteckende… Bei Wilson ist es so, dass er eine totale Einzelfigur ist. Dass die das jetzt alle nachgemacht haben, ist eine andere Sache. Aber er war ja ein totaler Einzelkämpfer. Sabine Sanio: Aber Wilson und Müller, das ist schon nah beieinander. Gerade hier in Berlin ist es auffällig, dass da zwei Leute – in einer geteilten Stadt auf den beiden Seiten – etwas sehr Ähnliches machen. Da kann ich das so nicht akzeptieren. Natürlich sind das beides Solitäre gewesen. Hans Peter Kuhn: Bei Heiner [Müller] hast Du ja die Texte, die man immer wieder machen kann. Wenn man heute Bob Wilson nachinszeniert, dann ist das auch anders. Helga Finter: In Frankreich sagt man, wenn ein Autor stirbt: Jetzt kommt er erst einmal ins Purgatorium [Lachen]. Je nachdem können das 20 bis 70 Jahre sein. Und wenn man den Autor sehr geliebt hat, findet man das furchtbar. Aber vielleicht ist es ein wichtiger Moment für ein Werk, denn er erlaubt, es erst einmal ganz in Ruhe zu lassen. Andere können es dann neu entdecken, oder man inszeniert es anders, wie die Performances von Marina Abramović: Sie hatte z. B. in den neunziger Jahren ein Theaterstück über ihre Performances als Biography inszeniert. Jetzt hat sie von Robert Wilson The Life and Death of Marina Abramović (2011) aufführen lassen. In gewisser Weise hat sie damit ihr Erbe vor tatsächlichen Erben geschützt und ihm jetzt schon eine bestimmte Form gegeben. Kirsten Reese: Das ist auch deswegen ein wichtiger Punkt, weil in der gegenwärtigen Studierenden-Generation ein regelrechter Dokumentationswahn herrscht. Kaum jemand sieht ihre Aufführungen oder Arbeiten, trotzdem wird alles gefilmt und ins Netz gestellt. Es gibt Vimeo-Videos von allem. Das ist der Gegenpol dazu. Vor diesem Hintergrund ist es tatsächlich doch wichtig, aus den achtziger Jahren nochmal Sachen zu zeigen. Allerdings würde ich sagen, Fotos sind schön, aber dann bitte noch die Sounds dazu. Ein bisschen mehr wäre schon toll.

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Helga Finter: Dieser ganze Dokumentationswahn wie auch die Aufzeichnungsmedien selbst haben als Tendenz, den Tod zu evakuieren und die Vergänglichkeit. Hans Peter Kuhn hat Recht, wenn er sagt, dass es mit dem Theater noch eine Kunst gibt, in der die Vergänglichkeit deutlich ist. Ich komme mir immer wie ein Dinosaurier vor, weil ich es kaum ertragen kann, wie die Menschen an ihren Handys kleben, um sich ununterbrochen ihrer Selbstpräsenz zu versichern. Allgegenwart dank einer Vernetzung mit digitalen Nabelschnüren! Doch ist es das Theater – oder die Musik beziehungsweise deren Verbindung, die uns die Möglichkeit gibt, die Zeit zu erfahren, Vergänglichkeit zu erfahren und vielleicht auch zu erfahren, dass man selbst vergänglich ist. Denn was die Rekonstruktionen auch schaffen, wenn sie gelungen sind, ist, dass sie einem zeigen, dass man nicht mehr 16 oder 18 Jahre alt ist, dass inzwischen Zeit vergangen ist. Wenn man mehrere Rekonstruktionen eines Werks gesehen hat, so von Einstein on the Beach, hat man die von 1984 anders erfahren als die von 1992 oder die von 2012–2014.12 Dabei habe ich Ähnliches auch erlebt wie Matthias Dreyer, als ich 1992 in Gießen war. Nach der Vorstellung hatten wir eine Diskussion und dort sagte mir einer der Studenten: »Also, Frau Finter, dieser läppische Pappmaché-Zug, der da rein kommt… Also ich weiß nicht, was Sie mit dem Wilson haben!« Da habe ich mich erstmal auch älter gefühlt. Hingegen sind all die jungen Leute, die heute die neue Inszenierung von Einstein gesehen haben, begeistert, sehen das Stück als Klassiker und finden es unwahrscheinlich modern. Damals konnten sie die Minimal Music nicht ertragen, und das Pappmaché fanden sie schlecht, denn sie hatten allein diese zeitliche Datierung gesehen. Auch bei den ersten Performances von Laurie Anderson, die ich den Studierenden gezeigt hatte, habe ich das erlebt: »Das ist ja nichts Besonderes«, waren die Reaktionen. Dann musste man genau erklären, warum das im damaligen Kontext etwas Besonderes war und warum diese Videos doch nicht dasselbe sind wie das, was man auf YouTube sieht. Doch bleibt dieser Dokumentations-Drang. Ich glaube, man muss sich darüber klar sein, dass man damit versucht, natürlich ohne jegliches Gelingen, den Tod zu evakuieren.

12 Aufgeführt an der Opéra Berlioz in Montpellier am 16. März 2012, im Januar 2013 an der Niederländischen Oper in Amsterdam und in Berlin, im Februar 2014 im Haus der Berliner Festspiele.

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Julia H. Schröder: Passend ist dazu, dass es bei den ersten SprachTonaufnahmen immer hieß, »das sind die Stimmen aus dem Grab«; es war eine Geisterbeschwörung. Die Stimmen von Menschen, die inzwischen gestorben waren, konnten aufbewahrt werden, also – so der Trugschluss – sprachen sie aus dem Totenreich. Nun ist es bemerkenswert, dass wir am Ende unserer Diskussion wieder auf die Forderung zurückgekommen sind, die gleich zu Anfang gestellt worden war und auf die wir immer wieder zurückkamen: Die Forderung nach einer Verbalisierung, einer Beschreibung der flüchtigen Elemente einer Inszenierung.

Robert Wilson, Doctor Faustus Lights the Lights, 1992. Oil pastel, enamel spray paint and graphite on Schoeller Durex paper. 28 3/4" x 40" (73 x 102 cm). © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Geoffrey Clements

Zu den Zeichnungen von Robert Wilson J ULIA H. S CHRÖDER

Durch den ganzen Band verteilt finden sich acht Grafiken von Robert Wilson. Er hat sie über die Paula Cooper Gallery freundlicherweise zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Sie entstammen zwei Werkkontexten:

Alceste Christoph Willibald Glucks Oper Alceste (1767) inszenierte Robert Wilson 1987 im Württembergischen Staatstheater Stuttgart. Parallel zu dieser Opernfassung schuf er eine Schauspielfassung nach Euripides’ Tragödie Alkestis, zu der Hans Peter Kuhn den Sound und die Musik gestaltete. Die in diesem Band abgebildeten Zeichnungen von Wilson sind wahrscheinlich im Rahmen seiner Wiederinszenierung der Gluckschen Alceste in Chicago 1990 entstanden.1 Hier sang Jessye Norman die Titelrolle, wie auch ursprünglich für die Stuttgarter Fassung vorgesehen war.

1

Alceste 3 und weitere Zeichnungen zu Alceste sind veröffentlicht in: Robert Wilson, »Dessins«, in: ders., Robert Wilson: Mr Bojangles’ Memory. Og son of fire, [Katalog zur Ausstellung 6.11.1991–27.1.1992], hg. vom Centre Georges Pompidou, Paris: Editions du Centre Georges Pompidou, 1991, unpaginiert [S. 21 sowie 6, 7, 26]. Andere Zeichnungen aus Alceste sind veröffentlicht in: Robert Wilson, »Alceste. 1986. 10 Lithographien vom Stein gedruckt von Ken Hale, University of Texas, Austin«, in: Robert Wilson, Die lithographischen Zyklen 1984–1986. Medea, Parsifal, Alceste, München: Galerie Fred Jahn, 1986, S. 47–59.

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Doctor Faustus Lights the Lights Das Libretto von Gertrude Stein war von ihr als Opernvorlage gedacht, 1938 aber nicht vertont worden. Später haben sich verschiedene Theatergruppen und Komponisten mit dem Text auseinandergesetzt. Hans Peter Kuhn und Robert Wilson schufen ihre Theater-Version mit Lied-Einlagen 1992 für Studierende der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. 2 Die Musiknummern schrieb Kuhn nicht als Partitur nieder, sondern nahm sie auf. Mit diesen von ihm selbst eingesungenen und am Synthesizer begleiteten Tonaufnahmen konnten die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Partien lernen, ohne Notenkenntnisse mitbringen zu müssen. Sie haben die Songs sozusagen gecovert, ohne dass das »Original« jemals veröffentlicht worden wäre. Der Komponist hatte nur eine Studiervorlage hergestellt. Deutlich hört man die Wiederholungsstruktur und den Synthesizerklang in einem veröffentlichten Instrumentalstück aus Dr. Faustus. 3

2

Robert Wilsons Grafiken sind teilweise im Programmheft veröffentlicht: Doctor Faustus Lights the Lights, künstlerische Gesamtleitung, Regie und Bühne: Robert Wilson; Musik: Hans Peter Kuhn; Hebbel-Theater, Berlin, Uraufführung am 15.4.1992.

3

Hans Peter Kuhn, CD zum Katalog zur Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien 1992, darin: Track 4, Ballett 2B, Musik aus dem Bühnenstück Dr. Faustus Lights The Lights von Gertrude Stein, Inszenierung Robert Wilson, HebbelTheater Berlin 1992 (Dauer: 4'12'').

Der Kontext der Grafiken Vom Bild zum Sehen und Hören in Alceste, Alkestis und Dr. Faustus I RENE L EHMANN

Robert Wilsons Theater wurde und wird stark über seine visuelle Seite rezipiert, als »theatre of images« oder »theatre of visions«. Bei seinem Erscheinen auf den europäischen Bühnen wurde es dem Sprechtheater der siebziger Jahre als Wiederentdeckung der Bilder entgegen gesetzt.1 Dies legitimiert sich unter anderem aus dem Produktionsprozess, da eine erste wesentliche Phase im Erstellen von Zeichnungen besteht, wie sie in diesem Band zu finden sind. Wilson bezeichnet diese als »visual book«. Unbestreitbar hält Wilson auf diese Weise visuelle Ideen fest, doch lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die verschiedenen Funktionen zu werfen, die sie einnehmen. Den exakten Moment in der Produktion, in dem sie entstehen, zu rekonstruieren, ist in diesem Kontext nicht möglich, daher können sie nur auf Grundlage ihres öffentlichen Erscheinens untersucht werden. Anlässlich der in diesem Band abgebildeten Grafiken Wilsons zu den Inszenierungen Alceste und Dr. Faustus Lights The Lights lässt sich das Zusammenspiel von visueller und akustischer Ebene zeigen, das die bisherige vornehmliche Konzentration auf die Bildlichkeit nicht erfasste, aber

1

Vgl. z. B. Franco Quadri, »Das Leben und die Zeit von Robert Wilson«, in: ders., Franco Bertoni, Robert Stearns, Robert Wilson, Stuttgart: Daco, 1997, S. 9–64, 9; Stefan Brecht, The Theatre of Visions: Robert Wilson, Frankfurt: Suhrkamp, 1978. S. a. Helga Finters Beitrag in diesem Band.

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gerade die Inszenierungen, die in Zusammenarbeit mit Hans Peter Kuhn entstanden sind, stark prägen. Die Zeichnungen Wilsons sind in den Dokumentationen seiner Theaterarbeit sehr präsent; häufig können sie zu den Premieren von den Zuschauern erworben werden, womit sie aus dem Status von Produktionsdokumenten zu Erinnerungsstücken der Aufführung werden. Zu eigenständigen Kunstobjekten werden sie im Zuge von Ausstellungen und Kunstkatalogen, in denen Wilson mehr als Bildender Künstler denn als Theaterregisseur in Erscheinung tritt. Die Bezeichnung der Grafiken, die im Kontext einer Inszenierung entstehen, als »visual book« lässt aufhorchen. Die Analogie zu einem Textbuch, einem Storyboard oder einer Partitur drängt sich auf. Hierfür spricht ihre Funktion, den zeitlichen Ablauf festzuhalten, sowie Wilsons Beschreibung, dass die erste Arbeitsphase darin bestehe, grafisch die formale Strukturierung einer Inszenierung festzuhalten.2 Andererseits dienen die Zeichnungen nicht der Dokumentation oder Fixierung einer bestimmten Ebene der Aufführung, wie Textbuch und Partitur, die traditionell als materielle Grundlage eines Kunstwerks gelten, aber auch als Handlungsanweisung verstanden werden. Inwieweit Wilsons Zeichnungen möglicherweise dennoch ein kristallisiertes Substrat seiner Inszenierungen darstellen, bleibt der Spekulation und dem Auge des Betrachters überlassen. Die Funktion der Zeichnungen im Produktionsprozess bestehe darin, »Anhaltspunkte für die Formen [zu geben], für die Proportionen und für das Verhältnis von Licht und Schatten […]. [Dieses Verhältnis] strukturiert das Bühnengeschehen, stellt Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aktionsfeldern her und definiert den emotionalen Gehalt der Szenen«,3 wie Peter Simhandl bemerkt. Anhand einer der Zeichnungen zu Alceste in diesem Band lässt sich das gut nachvollziehen. Sie kündigt die dramaturgische Fokussierung dieser Figur an, da ein riesiger Würfel über der im Raum iso-

2

Vgl. z. B. Robert Wilson über Zeichnungen zu seinem Stück Life and Times of Josef Stalin, in: Jan Linders (Hg.), Nahaufnahme Robert Wilson, Berlin: Alexander, 2007, S. 61–62. Vgl. auch das Programmbuch der Schaubühne am Lehniner Platz zu Robert Wilsons Death Destruction & Detroit II, das zahlreiche Zeichnungen aus unterschiedlichen Produktionsphasen enthält. (Berlin: Selbstverlag, Spielzeit 1986/87).

3

Peter Simhandl, »Robert Wilsons Bildtheater«, in: ders., Theatergeschichte in einem Band, Berlin: Henschel, 22001, S. 473–482, 480.

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lierten, kleinen Alkeste-Figur schwebt, die von der anderen Bühnenseite durch schwarze Quaderwände fast eingeschlossen wird. In den Zeichnungen zeigt sich eine Besonderheit von Wilsons Bildsprache, die diese genau wie seine Inszenierung prägen. Dies ist die kompositorische Behandlung des Lichts, das nicht zur Beleuchtung einer schon fertigen Szene akzidentiell hinzutritt, sondern von Beginn an in ihre Konzeption eingeht.4 Auf derselben schwarz-weißen Bühnenskizze sind die stark kontrastierten Licht- und Schattenwürfe zu sehen, die Wilson für den 3. Akt von Alceste plante. Dennoch bleiben die Zeichnungen im Verhältnis zur tatsächlichen Aufführung Skizzen, denn weder Wilsons intensive Arbeit mit der Farbqualität des Lichts noch die bedeutsame musikalische und akustische Ebene wird in ihnen manifest. Dennoch markieren einige Zeichnungen den Beginn der Zusammenarbeit mit den Künstlern, wie mit Hans Peter Kuhn: »We generally agree on a structure. 1st something abstract that is coded in numbers and then we work separately. I find 1st a visual book with no sound or no text. Later I work separately on a text score which can be independent from the visual book. Then I put these 2 together and see what happens […]. Next I put my work with HPK [Hans Peter Kuhn’s] sound and music. It is always very curious how the world that I have imagined and created can be turned upside down by the added independent element of Kuhn’s world.«5 (Robert Wilson, 2000)

Hier wird deutlich, dass die visuelle Seite nur ein Bestandteil der Inszenierung ist, und Wilson das Zusammenspiel besonders mit der akustischen Ebene interessiert. Außerdem ist die bildliche Ebene klar von der textuellen getrennt, die Wilson dem »visual book« als »text score« zur Seite stellt. In diesem Kontext können beide Begriffe auf Gattungsmischungen der Objekte hinweisen, die jeweils mehrere Wahrnehmungsarten zugleich anspre-

4

Auf diesen Unterschied weist David Roesner unter Bezugnahme auf den Musiktheaterkomponisten Heiner Goebbels hin. David Roesner, Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen: Narr, 2003, S. 239.

5

Robert Wilson, »For HPK«, in: Hans Peter Kuhn, Licht und Klang / Light and Sound, (Katalog anlässlich der Ausstellung Licht und Klang in der Stadtgalerie Saarbrücken, 9.9.–22.10.2000), Heidelberg: Kehrer, 2004, S. 30–31, 30. Interpunktion ergänzt.

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chen, nämlich Sehen und Lesen sowie Lesen und Hören. Was geschieht, wenn »Kuhns Welt« mit Audiotapes, Schallplatten und den bearbeiteten Schauspielerstimmen hinzukommt, zeigen die Inszenierungen von Alkestis und Dr. Faustus. Das separate Erarbeiten der verschiedenen Ebenen ermöglicht die Bildung einer komplexen Struktur von Verweisen und Kontrapunkten in den Inszenierungen. Die unterschiedlichen Eindrücke in Beziehung zu setzen, bleibt schließlich dem Publikum überlassen. Die Inszenierung der griechischen Mythen (Alkestis) oder des Faust kann dadurch die Verfestigung des Bekannten in Frage stellen, denn besonders durch die simultane Umsetzung verschiedener Variationen wird die Eindeutigkeit einer einzigen Lesart vermieden. Hierfür spielt die akustische Ebene eine besondere Rolle. Während etwa Franco Quadri ausgehend von der visuellen Seite von einer starken Immersion des Publikums spricht, die allein durch die zeitliche Dimension der Stücke hervorgerufen werde,6 finden auf der von Kuhn gestalteten akustischen Ebene eher Irritationen statt, die der visuellen Überwältigung entgegenwirken. Die elektroakustische Trennung der Stimme vom Schauspieler (»dislocation of character«) ist dafür bedeutsam. Sie entspricht Wilsons bevorzugtem Umgang mit den Schauspielern, denn entgegen psychologisch basierten Schauspielmethoden (Konstantin Stanislawskij, Lee Strasberg) sollen diese sich Maschinen anähneln. Aus filmisch dokumentierten Proben der Alkestis wird ersichtlich, dass Wilson gegen ein pathetisches, illustratives, interpretierendes Sprechen damit eine Form von Neutralität setzt, welche die Stimme zum Material der elektroakustischen Bearbeitung und Inszenierung macht.

Oper und Theater: Alceste/Alkestis Die ungewöhnliche doppelte Inszenierung des Alkestis-Stoffs 1986 in Stuttgart, einmal in der Theaterfassung von Euripides (Alkestis) und einmal in der Opernfassung von Christoph Willibald Gluck (Alceste), 7 verdeutlicht schon auf der äußeren Ebene der Gattungen, dass Wilson an der Konfrontation verschiedener Variationen interessiert ist. Der Gattungsvergleich, der

6

Quadri 1997, S. 11 (siehe Fn. 1).

7

Alceste, Staatstheater Stuttgart (Premiere 5.12.1986); Alkestis, Staatstheater Stuttgart (Premiere 19.4.1987).

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durch die Doppelinszenierung implizit möglich wird, weist auf die Bedeutung des Musikalischen und Akustischen, die im Medium des Theaters eine andere Beziehung zum Visuellen eingehen als in der Oper. Von Seiten des Sprechtheaters wird der Oper häufig die schlechte Qualität ihrer Libretti vorgeworfen, worin der alte Streit aufscheint, ob den Worten oder der Musik die Priorität einzuräumen sei. In der Oper des 18. und 19. Jahrhunderts wurden auf diese Frage unterschiedliche Antworten gefunden. Der Komponist und Opernreformer Gluck gehört zu denjenigen, welche die Eigenständigkeit der Gattung betonen, und die Einheitlichkeit von musikalischer und Handlungslogik ins Zentrum rücken. 8 Dies eröffnet heute die Möglichkeit, musikalische Strukturen visuell darzustellen und zu interpretieren, wie Wilson es mit den stark formalisierten Bewegungen der Sängerdarsteller zeigt. Zusätzlich überträgt er den musikalischen Aspekt durch die Rhythmik von Bewegungen und Sprache auf die Theaterinszenierung. Mit unterschiedlicher Akzentuierung erzählen Euripides und Gluck die Tragödie der Alkeste, die sich an Stelle ihres Manns opfert, durch diese Treue aber zu den Lebenden zurückkehren darf. Die Geschichte wird so aus der Erinnerung der toten Hauptfigur dargestellt, die sich mithin selbst zusieht. Dieser Ausgangspunkt passt zu den szenischen Realisierungen Wilsons bis 1986, deren traumhafter Ausdruck ihn bekannt gemacht hatte. In das Schauspiel integrierte Wilson zusätzlich Heiner Müllers Text Bildbeschreibung, vorgetragen von einem mumienhaft eingeschnürten Sprecher. 9 Die Inszenierung dieses Textes, der selbst als Überlagerung mehrerer Gattungen konstruiert ist, verdeutlicht Wilsons Prinzip, den Mythos durch verschiedene, verschachtelte Perspektiven darzustellen. Durch die Kostümierung des Sprechers als Mumie wird das Motiv der Alkeste als toter, aber sprechenden Figur, wiederholt. Damit wird die implizite Erzählposition des Stückes durch ein szenisches mise-en-abîme zur Sichtbarkeit

8

Vgl. Daniel Brandenburg, »Gluck auf dem Theater – Eine Hinführung zum Thema«, in: ders., Martina Hochreiter (Hg.), Gluck auf dem Theater (=GluckStudien 6), Kassel u. a.: Bärenreiter, 2011, S. 21–27. Siehe in diesem Band zur Entwicklung des Alkestis-Stoffs etwa: Peter Riemer, »Euripides ›Alkestis‹. Ein Märchen in der Wirklichkeit«, ebenda, S. 29–36.

9

Vgl. Katharina Keim, Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, Berlin: De Gruyter, 1998. Hier auch eine Beschreibung der Uraufführung durch Ginka Tschokalowa im Schauspielhaus Graz (6.10.1985).

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gebracht. 10 Durch die Doppelinszenierung als Oper und als Schauspiel nimmt ihre Erinnerung verschiedene Formen an, so wie auch der Mythos in verschiedenen Versionen mit verschiedenen Enden erzählt wird. Auf dieser Ebene zeigt sich ebenfalls eine der konkreten Bedeutungen, die durch die separate Erarbeitung und nachträgliche Synthese der visuellen und akustischen Ebene entstehen. Denn durch die »dislocation of character«Technik 11 entfaltet sich Alkestes Situation als fremdartiger Traum, in dem sich mehrere Schichten überlagern, die wie das Visuelle und Akustische oft nicht übereinstimmen. Eine Szene des Schauspiels zeigt das bisher Beschriebene besonders plastisch.12 Alkeste verabschiedet sich von ihrem Mann und ihren Kindern. Die Erwachsenen liegen dabei auf dem Bett und wiederholen einige Sätze immer wieder, die ohne emotionale Färbung gesprochen weit entrückt scheinen. Das gleichzeitig laufende Radio verstärkt die Entrückung des traurigen Moments und profanisiert die Szene zugleich. Es unterstreicht ihre Situierung in der Gegenwart und arbeitet so einer wie auch immer gearteten mythischen Überhöhung des tragischen Moments entgegen. Kuhns Gestaltung des Radiosounds ist beachtenswert: zu hören sind wechselnde Sender und Musikstile, Rauschen, fernerer und näherer Klang der Musik. Dies öffnet einen Assoziationsraum und emotional eine Ausdrucksebene, die der zurückgenommenen schauspielerischen Ebene entgegengesetzt ist. Ganz anders als dieser eher analytische Umgang mit den Ebenen (Text, Musik, Handlung) ist die Gestaltung in der Operninszenierung. Dort sind Gesten und Bewegungen der Schauspieler auf die Musik abgestimmt und erzeugen durch ihre formale Strenge zuweilen Distanz zu den Zuschauern. Bemerkenswert ist, dass Kuhns Verwendung von Geräuschen im Schauspiel die Techniken der traditionellen Oper aufgreift, da mittels der akustischen Ebene etwas angekündigt oder präsent gehalten wird, das nicht

10 Weitere Beschreibungen der Inszenierung bei Matthias Dreyer in diesem Band. 11 David Roesner hat als einer der ersten den Zusammenhang von akustischer und visueller Ebene bei Wilson analysiert und betont die Bedeutung des Akustischen, die sich u. a. am Umgang mit der Klangfarbe der Sing- und Sprechstimmen zeigt. Roesner 2003, S. 253–255 (siehe Fn. 4). 12 Beschreibungen hier nach dem Film von Norbert Beilharz, Alkeste: Robert Wilson und der Mythos. Zwei Inszenierungen aus dem Staatstheater Stuttgart, ZDF 1987.

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oder später zur Sichtbarkeit gelangt. So etwa das Uhrticken, Vogelgeräusche, leise Töne, tiefe liegende Töne (»drones«), die eine unheimliche Stimmung erzeugen, und den Tod präsent halten, der später – in beiden Inszenierungen – als Vogelgestalt (Sheryl Sutton) sichtbar wird. Geräusche, deren Quelle sich leicht semantisch zuordnen lässt, wie etwa das Ticken von Uhren, eignen sich besonders, um eine spezifische Stimmung zu erzeugen, da sie in der Phantasie der Zuschauer eigene Bilder erzeugen. Während die »visual books« die Trennung von Akustischem und Visuellem im Produktionsprozess ermöglichten, lässt sich die konkrete Bedeutung dieser Aufspaltung von Stimme und Schauspieler erst an den Inszenierungen erkennen. In dieser Hinsicht bleiben die »visual books« als fragmentarische Dokumente der flüchtigen Aufführungen zurück, vergleichbar mit den Tonsamples in Kuhns Archiv.

Licht und Maschinen: Dr. Faustus Lights The Lights Auch mit Gertrude Steins Dr. Faustus Lights The Lights (1938) hat Robert Wilson eine Textgrundlage gewählt, die eine Reflexion seiner Theaterarbeit ermöglicht.13 Neben Dr. Faustus brachten Wilson und Kuhn mehrere von Steins Stücken auf die Bühne, unter anderem Saints & Singing, das Kuhn vertonte. 14 Steins Version des »modernen Mythos« dreht sich um den Konflikt, dass der Mensch (Faust) von den ersehnten Maschinen (dem Licht), und damit auch vom Teufel enttäuscht ist. Mit dem Auftritt einer Frau, die ebenfalls das Licht beherrscht, ist auch die Idee des einzigartig männlichen Schöpfertums hinfällig. Durch ihre Ermordung gelingt es Faust zu seiner Zufriedenheit, wenigstens in die Hölle zu kommen. Ein Stück, das gerade das Licht als Symbol der Maschinen darstellt, scheint wie gemacht für die Selbstreflexion von Wilsons Theater. Seine In-

13 Dr. Faustus Lights The Lights, Musik: Hans Peter Kuhn, Regie: Robert Wilson, mit Studenten der Ernst-Busch-Schauspielschule Berlin, Hebbel-Theater (15.4.1992). 14 Hans-Thies Lehmann betont die große Beeinflussung Wilsons durch Steins Theater. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 32005, S. 79. Wilson inszenierte 1996 auch Virgil Thomsons Oper Four Saints in Three Acts (1928) auf Steins Libretto.

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szenierungstechnik wurde vielfach als Bühnenmaschine interpretiert, in der sich Schauspieler mit höchster Präzision vor beleuchteten Flächen über Rampen bewegen und mikrofoniert sprechen. Im Kontrast dazu stellt Wilson in der Inszenierung des Dr. Faustus einen komischen Aspekt der Hauptfigur heraus, die ihre Ungeschicktheit, ihr Stottern, durch manieriertes Sprechen zu überdecken versucht.15 Tatsächlich zeigt sich schon mit dem ersten Auftritt der Faustfigur die Besonderheit von Kuhns und Wilsons Zusammenarbeit, denn bei jedem seiner langen, schweren Schritte ist das Zersplittern von Glas zu hören. 16 Dieses akustisch-visuelle Bild kündigt bereits das sich entfaltende Ungeschick und die folgende Destruktion an. Gertrude Stein entwickelt trotz bedingt konturierter Figuren ein vielstimmiges offenes Stück, das traditionelle Theaterkonzepte herausfordert und so eine Vorlage für die schauspielerische und elektroakustische Verdoppelung der Figuren und Stimmen bietet. Herausragend dafür steht die weibliche Hauptfigur des Namens »Marguerite Ida and Helena Annabel«. In Wilsons Inszenierung wurde sie durch drei Schauspielerinnen dargestellt, Faust von drei Schauspielern. Durch die Technik der »disembodied voice« ergeben sich stets neue Möglichkeiten, Identitäten zwischen den Schauspielerkörpern und den Stimmen herzustellen, was zu einer unendlichen Ausdeutung besonders der Frauenfigur mit den beiden Doppelnamen einlädt, die passenderweise mit dem Satz »I am I« auftritt. Besonders eindrucksvoll wird die Aufhebung der akustisch-visuellen Einheit in der Szene ihres Todes infolge eines Schlangenbisses. Akustik und Bewegung werden getrennt, die Stimme räumlich von den Schauspielern entfernt und durch zusätzliche bildliche Projektion die Wunde in ihre Bestandteile zerlegt. Durch die zerstückelte Darstellung wird die Verwundung formal nachvollzogen, deren Gesamteindruck so erst in der Wahrnehmung der Zuschauer entsteht. 17 Die intensive Beschäftigung Wilsons mit der Zusammensetzung von Sehen und Hören zeigt neben der Beschäftigung mit dem Landschafts-

15 Maren Witte, Anders wahrnehmen als man sieht. Zur Wahrnehmung und Wirkung von Bewegung in Robert Wilsons Inszenierungen von Gertrude Steins ›Doctor Faustus Lights The Lights‹ (1992), ›Four Saints in Three Acts‹ (1996) und ›Saints and Singing‹ (1997), Berlin: LIT, 2006, S. 84. 16 Ebenda, S. 45. 17 Ebenda, S. 51.

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begriff18 eine weitere Verbundenheit mit Stein. Für diese sind die Beziehungen von Sehen und Hören eine wesentliches Konstituens des Theaters: »And now is the thing seen or the thing heard the thing that makes most of its impression upon you at the theatre, and does as the scene on the theatre proceeds does the hearing take the place of seeing as perhaps it does when something real is being most exciting, or does seeing take the place of hearing as it perhaps does when anything real is happening or does the mixture get to be more mixed seeing and hearing as perhaps it does when anything really exciting is really happening.«19 (Gertrude Stein, 1935)

Von diesem Punkt aus lässt sich auch eine Verbindung zu Kuhns Ästhetik knüpfen, der in seinen späteren Arbeiten Klang- und Lichtinstallationen so verbindet, dass immer verschiedene Weisen der Anschauung (und Anhörung) möglich sind und sich ergänzen.20 Helga de la Motte-Haber etwa beschreibt, dass durch die Bewegung von Licht und Klang in Kuhns Arbeiten diese wechselseitig ihre semantische Funktion übernähmen, wodurch ein Bewusstseinstheater entstehe.21 Aus dieser Perspektive lässt sich eine Verbindung zwischen Steins und Kuhns Arbeiten konstruieren, entlang von Steins Frage danach, was geschehe, wenn Sehen an die Stelle von Hören gesetzt werde und umgekehrt. Kuhn greift diese Frage auf und spinnt sie weiter, auch wenn ihn dabei nicht zuerst das Medium der Sprache interessiert. So werden jenseits seiner Theaterarbeiten mit Wilson die Veränderungen deutlich, die durch das Postdramatische Theater entstanden sind. Seither ist es auf neue Weise möglich, auf klar umrissene Sujets zu verzichten. Die bis dahin untergeordneten Materialien wie Licht und Klang können zu Hauptakteuren werden, und in den Klanginstallationen auch ihre thea-

18 Siehe Matthias Dreyers und Sabine Sanios Beiträge in diesem Band. 19 Gertrude Stein, »Plays« [1935], in: dies., Look At Me Now And Here I Am. Selected Works 1911–1945, London: Peter Owen, 2004, S. 58–81, 64. 20 Vgl. Volker Straebel, »Zwischen Musique concrète und intermedialer Erfahrung«, in: Hans Peter Kuhn, Licht und Klang, 2004, S. 13–20, 18 (siehe Fn. 5). 21 Helga de la Motte-Haber, »Im Wechsel-Spiel der Sinne. Gedanken zu Installationen von Hans Peter Kuhn«, in: Hans Peter Kuhn, Odense, Katalog hg. von Odense Bys Kunstfond, Heidelberg: Kehrer, 2005, S. 51–63, 52f.

230 | I RENE LEHMANN

trale Seite hervorkehren.22 Eine schöne Reminiszenz ist, dass Kuhn die Klänge aus seinem Theatermusikarchiv weiterverwendet und bearbeitet, so dass eine klare semantische Zuordnung, die sie einmal hatten, an Bedeutung verliert, und die ästhetischen Qualitäten in den Vordergrund treten können.

22 Aus der Perspektive der Bildenden Kunst ergeben sich mit Sicherheit noch andere Linien, die zu räumlichen Klanginstallationen führen. Dieser Prozess beginnt in den sechziger Jahren, wie an Michael Frieds Text »Kunst und Objekthaftigkeit« nachvollziehbar ist, der diese Entwicklung stark kritisiert und zugleich ein Konzept von Theatralität für die Bildende Kunst entwickelt. Vgl. Michael Fried, »Kunst und Objekthaftigkeit« (1967), übersetzt von Christoph Hollender, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1998, S. 334–374.

Robert Wilson, Alceste, Act III, 1990. Graphite, charcoal on Fabriano paper sheet: 19 3/4 x 27 3/4 inches (50.2 x 70.5 cm). © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: James Dee

Autorinnen und Autoren

Matthias Dreyer ist promovierter Theaterwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter, zunächst im Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike«, dann am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin tätig. Er arbeitet auch als Dramaturg. Seine Buchveröffentlichungen umfassen: Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren (Paderborn 2014) sowie der mit Nike Bätzner, Erika Fischer-Lichte und Astrid Schönhagen herausgegebene Sammelband Medeamorphosen. Mythos und ästhetische Transformation (München 2010) und Antike Tragödie heute. Materialien zum Antikenprojekt des Deutschen Theaters, herausgegeben mit Erika Fischer-Lichte (Berlin 2007). Helga Finter ist emeritierte Professorin für Theorie, Ästhetik und Geschichte des Theaters und langjährige Direktorin des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die Ästhetik der Stimme, die Theatralität postdramatischer Texte sowie das Verhältnis von Theater und Medien. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichung zählen Die soufflierte Stimme: Text, Theater, Medien. Aufsätze 1979–2012, (Frankfurt/Main 2014), Le corps de l’audible. Écrits français sur la voix (FFM 2014) sowie der Band Medien der Auferstehung (FFM 2012), Grenzgänge: Das Theater und die anderen Künste, hg. mit Gabriele Brandstetter und Markus Weßendorf (Tübingen 1998), Der subjektive Raum: Band 1: Die Theaterutopien Stéphane Mallarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels: Sprachräume des Imaginären; Band 2: »... der Ort, wo das Denken seinen Körper finden soll«: Anto-

234 | I M HÖRRAUM VOR DER S CHAUBÜHNE

nin Artaud und die Utopie des Theaters (Tübingen 1990). Helga Finter ist Mitglied der Redaktion von New Theatre Quarterly und gibt im Verlag Peter Lang die Reihe theaomai. Studien zu den performativen Künsten heraus. Ursula Kramer ist Professorin für Musikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie leitet dort den Forschungsschwerpunkt »Schauspielmusik im Kontext der europäischen (Musik) Theatergeschichte«. Zu ihren Veröffentlichungen im Bereich der szenischen Musik zählen: Schauspielmusik am Hoftheater in Darmstadt 1810–1918. Spiel-Arten einer selbstverständlichen Theaterpraxis (Mainz 2008), »Richtiges Licht und gehörige Perspektive«. Studien zur Funktion des Orchesters in der Oper des 19. Jahrhunderts (Tutzing 1992) und der von ihr herausgegebene Sammelband Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen (Bielefeld 2014). Hans Peter Kuhn ist Klangkünstler und Komponist. Seine installativen Arbeiten im öffentlichen Raum umfassen Lichtinstallationen wie Marzahn – bei Licht besehen (1999), bei der ein Neubauviertel in Berlin mittels Beleuchtung gestaltet wurde, die permanente Licht und Klanginstallation A Light and Sound Transit (2009) für einen Tunnel in Leeds (GB) oder The Pier (1996) auf einem Landungssteg in New York (USA). Er stellt in Museen und Galerien weltweit aus. Als Theaterkomponist arbeitete er neben Robert Wilson auch mit Regisseuren wie Peter Stein, Luc Bondy und Klaus-Michael Grüber sowie Choreografinnen wie Sasha Waltz zusammen. Hans Peter Kuhn leitet als Professor den Teilbereich »Experimentelle Klanggestaltung« am Masterstudiengang Sound Studies der Universität der Künste Berlin. Zu seinen Katalogen zählen Licht und Klang / Light and Sound (Heidelberg 2004), Odense (Heidelberg 2005) sowie Trevor Fairbrother (Hg.), Robert Wilson’s Vision. An exhibition of works by Robert Wilson with a sound environment by Hans Peter Kuhn (1991). Leigh Landy ist Komponist und Musikwissenschaftler. Als Theaterkomponist arbeitete er nach freier Tätigkeit für Inszenierungen im HeinerMüller-Umfeld einige Jahre am niederländischen Nationaltheater, Het Nationale Toneel, in Den Haag (NL). Später gründete er mit der Choreografin Evelyn Jamieson in England die Gruppe Idée Fixe – Experimental Sound and Movement Theatre. Sein Schaffensschwerpunkt liegt auf elektroakusti-

K URZBIOGRAFIEN

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scher Musik und Kompositionen für Tanz, Videokunst und Theater. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit ist Leigh Landy Direktor des Music, Technology, and Innovation Research Centre an der De Montfort University in Leicester (UK) und Gründungsdirektor des Electroacoustic Music Studies Network (EMS). Seine zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen umfassen Making Music with Sounds (Routledge, 2012), Understanding the Art of Sound Organization (MIT Press, 2007) und What’s the Matter with Today’s Experimental Music? (Routledge, 1991). Er ist Herausgeber von Organised Sound. An international journal of music technology (Cambridge University Press). Irene Lehmann ist graduierte Theaterwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf dem Musiktheater des 20. Jahrhunderts und Performance-Kunst der sechziger Jahre. Sie arbeitet an einem Promotionsprojekt über »Die politische Dimension ästhetischer Experimente. Zu Aufführungen von Luigi Nonos musiktheatralen Kompositionen«. Publ. in: Christoph Hesse, Devi Dumbadze, Unreglementierte Erfahrung, (Freiburg in Vorbereitung): »Luigi Nono und das engagierte Kunstwerk«. Forschung in Venedig und NYC. Sabine Sanio leitet den Teilbereich »Theorie und Geschichte auditiver Kultur« am Masterstudiengang Sound Studies der Universität der Künste Berlin. Nach der Promotion in Germanistik lehrte sie vor allem in der Musikwissenschaft. Sabine Sanio hat zahlreiche Untersuchungen zur aktuellen Ästhetik, insbesondere zur Medientheorie, zu Phänomenen in den Grenzgebieten der Künste sowie zu den Beziehungen der Künste untereinander veröffentlicht, darunter: Alternativen zur Werkästhetik: Cage und Heißenbüttel (Saarbrücken 1999), 1968 und die Avantgarde (Sinzig 2008) sowie als Herausgeberin mit Christian Scheib, Das Rauschen (Hofheim 1995). Julia H. Schröder ist promovierte Musikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sfb 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der Freien Universität Berlin. Zu ihren Buchveröffentlichungen zählen u. a. Zur Position der Musikhörenden. Konzeptionen ästhetischer Erfahrung im Konzert (Hofheim 2014), Cage & Cunningham Collaboration. In- und Interdependenz von Musik und Tanz (Hofheim 2011) sowie mit Helga de la Motte-Haber und Lydia Rilling, Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts, 2 Bde. (Laaber 2011).

Robert Wilson, Doctor Faustus Lights the Lights, Act III, Scene 2, Berlin 1992. Charcoal, oil based pastel, graphite on Schoeller. Hammer paper 24 5/8" x 34 5/8" (62.2 x 87.5 cm). © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Geoffrey Clements

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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