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German Pages 172 [173] Year 1961
MARTIN ERBSTÖSSER
• ERNST
WERNER
IDEOLOGISCHE PROBLEME DES MITTELALTERLICHEN P L E B E J E R T U M S Die freigeistige Häresie und ihre sozialen Wurzeln
F O R S C H U N G E N ZUR M I T T E L A L T E R L I C H E N
GESCHICHTE
Herausgegeben von H. Sproemberg, H. Kretzschmar und E. Werner
BAND 7
A K A D E M I E - V E R L A G 19
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•
B E R L I N
MARTIN E R B S T Ö S S E R • E R N S T W E R N E R
IDEOLOGISCHE PROBLEME DES MITTELALTERLICHEN PLEBEJERTUMS Die freigeistige Häresie und ihre sozialen Wurzeln
Mit 3 T a f e l n
A K A D E M I E - V E R L A G 19 6 0
- B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1960 by Akademie -Verlag GmbH, Berlin Erschienen im Akademie - Verlag GmbH, Berlin W 1, Leipziger StraBe 3-4 Lizenz-Nr. 202 • 100/194/60 Gesamtherstellung IV/2/14 • V E B Werkdruck Gräfenhainichen - 1383 Bestellnummer 2090/7 Printed in Germany ES 14 D
INHALT Vorwort
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I. Einleitung
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II. Einige Bemerkungen zur sozialökonomischen Struktur im Verbreitungsgebiet der freigeistigen Häresie
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I I I . Die Beginen- und Begardenbewegung — Eine Erscheinung mit verschiedenen sozialen Inhalten
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1. Die soziale Zusammensetzung der ansässigen Beginen und Begarden
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2. Die fluktuierenden Beginen und Begarden und die Anhänger der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist — Ihre gemeinsame soziale Basis
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IV. Die Häresie des freien Geistes: Ideologie der plebejischen Schichten in religiöser Form
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V. Aufbau und Organisation der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist
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1. Der esoterische und der esoterische Kreis
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2. Die Organisation der Sekte VI. Der Einfluß der häretischen Ideologie auf die Klassenkämpfe
70 . .
VII. Die freigeistige Häresie und die Minnemystik
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1. Herkunfts-und Entstehungsprobleme der freigeistigen Häresie
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2. Die Annahme freigeistigen Gedankengutes durch mystische Kreise
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VIII. Das Erfurter Inquisitionsprotokoll vom 26. Dezember 1367 . . .
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IX. Zusammenfassung X. Quellenanhang XI. Quellen- und Literaturverzeichnis
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VORWORT Vorliegende Arbeit ist ein weiterer Beitrag des Instituts für Allgemeine Geschichte, Abt. Mittelalter, der Karl-Marx-Universität Leipzig zur Erforschung des mittelalterlichen Sektenwesens. Wie schon in Band 2 der „Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte" angekündigt wurde*, galt eine Untersuchung des Instituts dem Problem der freigeistigen Häresie. Sie liegt nunmehr abgeschlossen vor und behandelt vorwiegend die freigeistige Ketzerei in den deutschsprachigen Gebieten. Dem in der bürgerlichen Forschung schon oft behandelten Problem konnten nicht zuletzt durch die Benutzung einer bisher unbeachtet gebliebenen Handschrift sowohl methodisch als auch sachlich neue Aspekte abgewonnen werden. Die Untersuchung ist ein Ergebnis kollektiven Bemühens. Die Kapitel I—VII wurden von M. Erbstößer, das Kapitel VIII und der Quellenanhang von E. Werner bearbeitet. Gemeinsame ideologische Ausgangsbasis und Diskussionen im Institutskolloquium ließen ein einheitliches Ganzes entstehen, dessen Resultat im Kapitel IX zusammengefaßt wurde. Die Autoren hoffen, mit dieser Untersuchung zugleich einen weiteren Beitrag für die Erforschung spätmittelalterlicher Volksbewegungen, denen zukünftig das Hauptinteresse des Instituts gelten soll, geleistet zu haben. M. Erbstößer E. Werner *
Circumcellionen und Adamiten. Zwei Formen mittelalterlicher Häresie. Berlin 1959, S. VIII.
BÜTTNER, TH., — W E B N E B , E . ,
I. EINLEITUNG In der zweiten Hälfte des 13. Jli. wurden die Häresien der feudalen Gesellschaftsordnung um eine weitere ergänzt: Die pantheistische Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist. In ihren Anfängen bis zum Beginn des 13. Jh. zurückreichend, war sie am Ende des Jahrhunderts voll entwickelt und hatte ihre Zentren im Gebiet beiderseits des Rheines und in den Niederlanden. Die bürgerliche Historiographie hat sich bisher im Unterschied zur Behandlung anderer Häresien relativ wenig mit dieser Sekte beschäftigt und noch keine umfassende Darstellung ihres Wesens gegeben 1 ; lediglich zwei Teilprobleme wurden immer wieder angeschnitten: Die Herkunft und Entwicklung der häretischen Ideologie und das Verhältnis der Ketzer zur Beginen- und Begardenbewegung.2 Die vordergründige Erörterung gerade dieser beiden Fragen ergibt sich zum Teil aus der besonderen Problematik, die mit der freigeistigen Häresie verbunden ist. Die pantheistische Ideologie ist in ihrer Entstehung mit einer Reihe anderer ideologischer Erscheinungen und Strömungen eng verknüpft. Als wichtigste sind die Auflösungstendenzen der katharischen Häresie Westeuropas und die mystischen Spekulationen besonders in den niederländischrheinischen Beginenkreisen zu nennen. Von diesen Tatsachen ausgehend, entwickelte sich auf geistesgeschichtlicher Basis eine heftige Diskussion über die Herkunft und die beeinflussenden Paktoren der freigeistigen Häresie, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Eine ähnliche Problematik begünstigte die intensive Erforschung des zweiten Teilproblems. Infolge ihres fluktuierenden Charakters ist die Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist sehr schwer zu fassen. Die Quellen weisen aber immer wieder auf das Beginen- und Begardenmilieu hin. Im Rahmen der stark betriebenen Forschung über das Beginen- und Begardenwesen wurde daher auch immer wieder das Verhältnis 1
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GRUNDMANN, H., La mistica tedesca nei suoi riflessi popolari — il beghinismo. Relazioni del X congresso internazionale di scienze storiche. Vol. III, Florenz 1955, S. 482. Hier bezeichnet er es als die größte Lücke in unserer Kenntnis von den mittelalterlichen Häresien, daß noch keine zusammenhängende Arbeit über die Sekte vom freien Geist vorliegt. Eine eingehende Kritik der Literatur erfolgt bei den entsprechenden Abschnitten.
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der Häretiker zu den orthodoxen Semireligiosen berührt. Daher scheint zunächst die Behandlung gerade dieser Schwerpunkte vollauf berechtigt zu sein. Zu einem wirklichen Erkennen des Wesens der häretischen Bewegung hat diese Betrachtungsweise jedoch bisher, trotz aller wichtigen Einzelergebnisse, nicht geführt. Hauptursache dafür ist die idealistische Grundkonzeption. Beim ersten Teilproblem standen geistesgeschichtliche Verbindungen und Beziehungen im Vordergrund, während beim zweiten vor allem um Oberflächenerscheinungen, organisatorische Formen und andere Fragen gestritten wurde. Das soziale Anliegen der Sekte wurde dabei, bis auf wenige Ausnahmen, gar nicht oder nur ganz am Rande erörtert. Es ist gewissermaßen typisch, wenn H . H A U P T feststellt, daß es infolge des fluktuierenden Charakters und der vielfältigen Einflüsse nicht möglich sei, die Geschichte der Sekte umfassend darzustellen.3 Auf dem X . Internationalen Historikerkongreß in Rom 1 9 5 5 gab H. G R U N D M A N N die künftige Forschungsrichtung der bürgerlichen Geschichtswissenschaft zur Darstellung der freigeistigen Häresie an: ,,Es (das Phänomen des antinomistischen Pantheismus) wird sich nicht aus fremden Einflüssen und nicht aus sozialen Ursachen erklären lassen, nicht aus sittlicher Verderbnis und nicht aus laienhaftem Mißverständnis und Mißbrauch philosophisch-theologischer Spekulationen. Alles das mag mitspielen, aber es sind nur Symptome einer Krise des christlichen Lebens und Denkens, in der die Traditionen nicht mehr nur gläubig hingenommen, sondern alle in ihr enthaltenen Möglichkeiten einseitig bis ins Extrem verfolgt werden, um vermeintlich neue Wege zu höherer religiöser Vollkommenheit zu finden — bis zum Ziel der Vergottung des Menschen."4 Damit schreitet G., wie übrigens nach seinen bisherigen Arbeiten auch gar nicht anders zu erwarten, in den bisherigen ideengeschichtlichen Bahnen weiter und schaltet mit geradezu frappierender Voreingenommenheit alle anderen Gesichtspunkte aus. Und das bei einem bekannten Vertreter jener bürgerlichen Historiographie, die den marxistischen Historikern so gern Einseitigkeit vorwirft. Allerdings hebt sich die von G R U N D M A N N geforderte Forschungsrichtung nicht grundsätzlich von den anderen bürgerlichen Lehrmeinungen ab. Auch diejenigen Historiker, die bei der Behandlung der Sektenprobleme einen „sozialen Faktor" anerkennen, erklären letzten Endes die häretische Ideologie nicht aus dem gesellschaftlichen Sein der Sektenträger, sondern messen ihr eine eigenständige Bedeutung zu. Nach solchen Ansichten wird die Herausbildung der häretischen Ideologie durch das Vorhandensein „sozialer Faktoren" lediglich begünstigt.5 3
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Brüder des freien Geistes, Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. III, 1897, S. 471. GRUNDMANN, H., La mistica, S . 4 8 3 . Die Unterschiede zwischen den einzelnen bürgerlichen Forschungsrichtungen sind nur graduell, nicht prinzipiell. So kann A. MENS die Forderungen verschiedener Historiographen, den sozialen Faktor stärker zu berücksichtigen (vor allem gegen
HAUPT, H . ,
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In der Grundfrage, dem Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein, soll sich diese Arbeit prinzipiell von den bürgerlichen, idealistischen Darstellungen unterscheiden, denn letzten Endes sind die geistigen Erscheinungen, ist das Bewußtsein, ungeachtet seiner aktiven Rolle, nur eine Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins in den Köpfen der Menschen. Aus der tiefen historischen Praxis schöpfend, hat K A B L M A R X formuliert: „Man muß unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden und ihn ausfechten." 6 Das heißt, auf unsere Problematik anwandt, daß die Ideologien „religiöser" oder häretischer Bewegungen Bewußtseinsformen sind, mit denen bestimmte Gruppen von Menschen auf soziale oder ökonomische Veränderungen reagieren, bzw. in denen sie die daraus entstehenden Konflikte und Klassenkämpfe ideologisch austragen. Die Klassenkämpfe nehmen im Bereich der Ideologie während des Mittelalters vorwiegend religiöse Formen an, da die Kirchen der lateinischen Welt mit ihren Dogmen und ihren institutionellen Einrichtungen den gesamten "Überbau beherrscht und die Feudalordnung ideologisch garantiert. (j Es ist klar, daß hiermit alle allgemein ausgesprochenen Angriffe auf den Feudalismus vor allem Angriffe auf die Kirche, alle revolutionären, gesellschaftlichen und politischen Doktrinen zugleich und vorwiegend theologische Ketzereien sein mußten. Damit die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angetastet werden konnten, mußte ihnen der Heiligenschein abgestreift werden", hob F R I E D R I C H E N G E L S hervor und charakterisierte damit die Situation vor dem Bauernkrieg in Deutschland. 7 Die Angriffsstadien sind entsprechend der jeweiligen ökonomischen und sozialen Entwicklung unterschiedlich, aber in ihrem Wesen sind die Bewegungen gleich, sie drücken die Opposition bestimmter Klassen oder Klassengruppen gegen die bestehenden Verhältnisse aus, kommen aber noch nicht zur Ablehnung der Religion, sondern beschränken sich auf eine Kritik an Dogmen, kirchlichen Institutionen oder des gesamten Kirchenapparates und gelangen damit zur Ketzerei. Oder aber sie stellen ein besonderes Element des katholischen Glaubens, das ihren Interessen
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A. E. E V A N S , Social aspects of medieval heresy, Persecution and Liberty, Essays in honor of George Lincoln Buir. New York 1931, S. 93—116), mit dem Bemerken abfangen, daß, entsprechend der ökonomischen Entwicklung, neue soziale Schichten entstehen, die natürlich auch von den Häresien erfaßt werden. Das ändert nach der Auffassung M E N S ' nichts an der Tatsache, daß die Triebkräfte dieser Bewegung religiöser Natur waren (Innerlijke drijfveeren en herkomst der kettersche bewegingen in de Middeleeuwen — Religieus ofwel sociaal oogmerk? Miscellanea histórica in honorem Leonis van der Essen. Brüssel/Paris 1947, S. 299—313. bes. S. 307f.) M A B X , K., Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, M A R X - E N G E L S , Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin 1953, S. 338. E N G E L S , F . , Der deutsche Bauernkrieg, M A R X - E N G E L S - L E N I N - S T A L I N zur deutschen Geschichte, Bd. I, S. 203f.
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besonders entspricht und zu den augenblicklich herrschenden religiösen Ansichten und Gebräuchen im Gegensatz steht, in den Vordergrund.8 Diese Problematik soll der Leitgedanke dieser Arbeit sein. Damit wird die Bedeutung der von der bürgerlichen Forschung so breit aufgeworfenen Frage der Herkunft der häretischen Ideologie keineswegs ignoriert. Bei der Annahme von Ideen — hier in häretischer Form — knüpfen die Menschen an bereits vorhandenes Gedankengut an, bilden es um und entwickeln es weiter, bis es die den jeweiligen sozialökonomischen Verhältnissen entsprechende Form hat. F R I E D R I C H E N G E L S selbst hat in einem Brief an F R A N Z M E H R I N G auf die Bedeutung derartiger Vorgänge hingewiesen.9 Das bedeutet aber keineswegs eine Rechtfertigung der oben erwähnten bürgerlichen Forschungsrichtung, denn einmal spielt die Behandlung dieser Problematik für das Erkennen des Wesens der Bewegung immer nur eine sekundäre Rolle, und zum anderen werden für einen marxistischen Historiker die Herausarbeitung und das Zusammenspiel der einzelnen Elemente nie in geistesgeschichtlicher Sicht, sondern immer unter dem Gesichtspunkt ihrer Überbaufunktion untersucht werden. Auf diese Weise ist beispielsweise E. W E E N E R vorgegangen, dessen wichtige Einschätzungen der freigeistigen Ideologie übernommen werden können.10 Die vorliegende Arbeit will nicht die gesamte Geschichte der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist darstellen, sondern an Hand der Anfänge und des ersten Höhepunktes und in einem Vergleich zu dem Auftreten der Freigeister in Erfurt während der zweiten Hälfte des 14. Jh. versuchen, das Wesen der Sekte herauszuarbeiten. Der geographische Rahmen umfaßt das Rheingebiet und den niederländisch-nordfranzösischen Raum. Die freigeistigen Häresien in Italien und Südfrankreich wurden nicht berücksichtigt. Die Berechtigung zu diesem Verfahren ergibt sich einmal aus der historischen Einheit, die die Freigeister im nördlichen Gebiet darstellen, wohingegen zu den italienischen und südfranzösischen Anhängern der freigeistigen Häresie bisher keine wesentlichen Verbindungen nachzuweisen sind.11 Zum anderen weisen die meri8
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Die Vielfalt der Auadrueksformen sozialer Spannungen und Gegensätze im Bereich der religiösen Ideologie hat neuerdings wieder H O R N , J . H . , Religion und Gesellschaft, Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie, Berlin 1958, S. 88, betont. M A R X - E N G E L S - L E N I N - S T A L I N zur deutschen Geschichte, I , S . 620f. WEENER, E., Die Nachrichten über die böhmischen Adamiten in religionshistorischer Sicht, B Ü T T N E R / W E R N E R , CircumceUionen und Adamiten, zwei Formen mittelalterlicher Häresie, Berlin 1959, S. 73—141. W. will eigentlich nur die Echtheit einiger Quellen über die Adamiten in Böhmen zur Zeit der revolutionären hussitischen Bewegung nachweisen. In ihrer Bedeutung geht die Arbeit jedoch weit über das gesteckte Ziel hinaus und gibt wertvolle Hinweise für die marxistische Darstellung häretischer Bewegungen im Mittelalter überhaupt. Vgl. z. B. DOUIE, L. D., The nature and the effect of the heresy of the Fraticelli, Manchester 1932, bes. S. 258, und Mc. D O N N E L L , E. W., The Beguines and Beghards in medieval culture. With special emphasis on the Belgian scene, New Brunswick/ New Jersey 1954, S. 433. Neuerdings hat A. M E N S versucht, eine geistesgeschichtliche
dionalen Gebiete durch das Auftreten anderer, ähnlicher Bewegungen (Segarelli, FraDolcino, Fraticellen usw.) Besonderheiten auf, deren Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.12 Ziel der Arbeit ist es, die freigeistige Häresie in ihren klassenmäßigen Beziehungen zu erfassen, die Ideologie als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse darzustellen und die Wirkung der Sekte und ihrer Lehre auf die Klassenkämpfe der 13. und 14. Jh. hin zu untersuchen. Daneben soll auf einige Fragen der Herkunft der häretischen Ideologie und auf das Auftauchen der Häresie in ihr wesensfremden Bereichen der feudalen Gesellschaft eingegangen werden. Besonderes Augenmerk wird darauf gerichtet werden, inwieweit die häretische Ideologie grundsätzlich eine progressive Rolle im Verlauf der historischen Entwicklung zu spielen vermag, beziehungsweise wo die Grenzen dieser Möglichkeiten liegen. Damit soll ein kleiner Beitrag zur Erforschung des Sektenwesens und zur Darstellung der Klassenkämpfe in der feudalen Gesellschaftsordnung des 13. und 14. Jh. vom marxistischen Standpunkt geleistet werden.
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Verbindung nachzuweisen, ist dabei aber in Andeutungen steckengeblieben. (Oorsprong en betekenis van de nederlandse begijnen- en begardenbeweging. Vergelijkende Studie XII de —XIII de eeuw. Verhandelingen van de koninklijke vlaamse academie voor wetenschappen, letteren en schone kunsten van Belgie-Klasse der letteren, Jg. IX, Nr. 7, Antwerpen 1947, S. 213ff.). Vgl. dazu die neue Arbeit von MANSELLI, R., Spirituali e Beghini in Provenza, Istituto storico Italiano per il medio evo, Studi storici 31—34, Rom 1959.
II. EINIGE BEMERKUNGEN ZUR SOZIALÖKONOMISCHEN STRUKTUR IM VERBREITUNGSGEBIET DER FREIGEISTIGEN HÄRESIE Wenn zunächst auf einige Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Situation im Entstehungs- und Verbreitungsgebiet der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist eingegangen werden soll, so ist damit nicht beabsichtigt, einen auch nur annähernd vollständigen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Überblick zu geben. Vielmehr sollen hier nur die Probleme gestreift werden, die zum Verständnis des Wesens der freigeistigen Häresie notwendig erscheinen. Im Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte in Stadt und Land 13 war in der zweiten Hälfte des 13. Jh. in den uns interessierenden Gebieten die Naturalwirtschaft weitgehend von der Warenproduktion zersetzt. Auf der Basis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land blühten im niederländisch-rheinischen Raum Handel und Gewerbe und gaben der Wirtschaft das Gepräge. Drei Zentren hoben sich hervor: Das belgischniederländische Gebiet, die Handelsmetropole Köln und das Elsaß mit Straßburg als Schwerpunkt. Am weitesten entwickelt war Flandern, wo eine weitverbreitete Tuchproduktion nicht nur den Charakter des Gewerbes in den großen Städten bestimmte, sondern auch in den kleinen Orten Fuß gefaßt hatte. Das Stadium des normalen Zunfthandwerkes war in diesem Gewerbezweig bereits überschritten. In der Arbeitsteilung weitgehend spezialisiert, kristallisierten sich in den Produktionsverhältnissen die Anfange des Verlagswesens heraus. 14 Ausgedehnter Export des Tuches in alle Richtungen beweist den Umfang der Produktion. 18 Auch in Brabant und im Hennegau kam in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. die 13
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Einen knappen Überblick über die Entwicklung der Produktivkräfte bietet MOTTEK, H., Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, ein Grundriß, Bd. I: Von den Anfängen bis zur Zeit der Französischen Revolutionen, Berlin 1957, S. 126ff. und S. 144ff. Vergleiche dazu Algemene Geschiedenis derNederlanden, Bd. II, Utrecht 1950, S. 374 bis 449, bes. S. 4 4 2 f . , wo H . VAN W E R V E K E die wichtigsten Zusammenhänge behandelt und die entsprechende Literatur angibt. Einen ausführlichen Einblick in die Produktionstechnik des flandrischen Tuchgewerbes vermittelt E S P I N A S , G., La draperie dans la Flandre française au Moyen Age, 2 Bde., Paris 1923. Einen guten Überblick über die Handelsbeziehungen gibt D O E H A E R D , R . , L'Expansion économique belge au Moyen Age, Collection: Notre Passé, Brüssel 1946, S. 47ff.
Tuchproduktion stärker auf. 14 Besonders Brabant profitierte von der Handelsroute Brügge-Köln; die zahlreichen Handelsverträge zwischen den brabantischen Städten und Köln geben davon Zeugnis.17 Die auf den Messen der Champagne gehandelte Wolle genügte bereits um die Mitte des 13. Jh. nicht mehr, um den Bedarf des brabantischen Tuchgewerbes zu decken. So charterten die Kaufleute von Mecheln und Löwen Schiffe, um den begehrten Rohstoff selbst von England zu holen. 18 In Antwerpen hatte sich das Textilgewerbe so weit entwickelt, daß es in den Produktionsverhältnissen dem flandrischen ähnlich war. 19 Eine derartig spezialisierte Produktion hatten die anderen Zentren nicht aufzuweisen. Dennoch genügte auch ihre Entwicklung, um die Herausbildung der Warenproduktion im rheinischen Gebiet insgesamt stark zu begünstigen. Die Bedeutung und Größe Kölns lag in seiner überragenden Zwischenhandelsvormachtstellung. Mit Hilfe des Stapelrechts kontrollierten die Bürger der Handelsmetropole nicht nur den umfangreichen Handel auf dem Rhein, sondern auch die über Köln führenden West-Ost-Verkehrswege. Mit allen nur einigermaßen bedeutenden europäischen Städten hatten die Kölner Kaufleute Beziehungen. Neben den ausgeprägten Fernhandelsgütern wurden Erzeugnisse des örtlichen Handwerks und landwirtschaftliche Produkte ausgiebig gehandelt und so die ländliche Warenproduktion gefördert.20 Am Oberrhein entstand im 12. Jh. ein Netz neugegründeter Städte (Hagenau, Schlettstadt, Weißenburg u. a.), wodurch jedoch die wirtschaftliche Vormachtstellung Straßburgs nie ernstlich gefährdet wurde. Auch hier, in kleinerem Format, das gleiche Bild wie in Köln. Auf Grund der günstigen Handelslage entwickelte sich eine relativ starke Marktproduktion, die bis Böhmen, an die Elbe, nach den Niederlanden und zum Balkan gehandelt wurde. Haupthandelsprodukte waren nicht gewerbliche Erzeugnisse, außer Leinwand, sondern vor allem Holz, Getreide und Wein.21 18 17
Algemene Geschiedenis, II, S. 426fF.; DOEHAEBD, R., a. a. O., S. 56f. VAN HOUTTE, J . A., Die Handelsbeziehungen zwischen Köln und den südlichen Niederlanden bis zum Ausgang des 15. Jh., Jahrbuch des Kölner Geschichtsvereins, 23, Köln 1941, S. 14 8 ff. und DOEHAEBD, a. a. O., S. 49.
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DOEHAEBD, R . , a. a. 0 . , S . 5 6 .
Die Entwicklung vom Webermeister zum Kaufmann ist bereits im 13. Jh. in Antwerpen vorgezeichnet. Vergl. PBIMS, F., Geschiedenis van Antwerpen, Bd. I I , De XIII D E eeuw, T. 3, De economische orde, Brüssel 1929, S. 3 6 ff. Über Handelsverbindungen und Handelsprodukte vgl. ENNEN, L., Geschichte der Stadt Köln, meist aus den Quellen des Kölner Stadtarchivs I I , Köln 1865, S. 54 5ff. und über den Handel speziell mit den südlichen Niederlanden VAN HOUTTE, J . , a. a. O., S. 14 3 ff. SCHMOLLEB, G., Die Straßburger Tücher- und Weberzunft, Urkunden und Darstellungen, Straßburg 1879, wies darauf hin, daß sich zwischen Ober- und Niederrhein eine gewisse Arbeitsteilung insofern herausgebildet hatte, daß im ersten Gebiet vor allem die Leineweberei blühte, während im zweiten Gebiet der Schwerpunkt auf der Wollweberei lag, S. 36 2 ff. Trotzdem nahm gegenüber diesem Erzeugnis der
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Wenn es auch nicht vertretbar ist, diese wirtschaftliche Blüte von Flandern bis Straßburg mit G. S C H M O L L E R als eine „volkswirtschaftliche Revolution" zu bezeichnen, die in ihrer Bedeutung größer als jede spätere gewesen sei22, so hatte der Aufschwung doch weitgehende Folgen für die soziale Entwicklung der Städte und für die Wirtschaft und Sozialstruktur des Dorfes. Bereits im 12. Jh. begann der Auflösungsprozeß der Villikationsverfassung und die damit verbundene weitgehende Ablösung der Arbeits- und Produktenrente durch die Geldrente. Über den Zusammenhang zwischen Warenproduktion und Übergang zur Geldrente schrieb K A H L M A U X : „Die erst sporadisch, sodann auf mehr oder minder nationalem Maßstab vor sich gehende Verwandlung der Produktenrente in Geldrente setzt eine schon bedeutendere Entwicklung der Geldzirkulation voraus."23 Uns interessieren nicht die Bedingungen und Formen des Auflösungsprozesses24, sondern die Auswirkungen auf die Bauernschaft. In der Literatur wird im allgemeinen die Besserstellung der Bauern in rechtlicher und ökonomischer Beziehung hervorgehoben. W. A B E L spricht von einem allgemeinen Wohlstand in allen Territorien vom 12. bis 14. Jh.25 F. L Ü T G E erklärt, daß im 13. Jh. dem Bauer schlechthin die Ertragssteigerung zugute kam.26 Solche Meinungen könnten noch häufig nachgewiesen werden. Ihnen liegt die Ansicht zugrunde, daß die gelockerten feudalen Bindungen den Bauern eine größere Steigerung der Arbeitsproduktivität ermöglichten, von deren Ergebnis sie vorwiegend selbst profitierten. Gewiß wird der Kampf zwischen Feudalherren und Bauern um das erhöhte Mehrprodukt in einer für die Bauern relativ günstigen Klassensituation geführt27, wobei sich in Deutschland vor allem die günstigen Pachtverhältnisse durchsetzten.28 Dennoch hat sich S. E P P E R L E I N neuerdings in
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Handel mit agrarischen Produkten den entschieden größeren Baum ein. AMMANN, H., La place de 1'Alsace dans Thistorie sociale. Publications de la socitetö savante d'Alsace et dea regions de l'est. S. 7 6 ff. SCHMOLLER, G., Straßburgs Blüte und die volkswirtschaftliche Revolution im 13. Jh., Deutsches Städtewesen in älterer Zeit, Bonn und Leipzig 1922, S. 163. Eine prinzipielle Kritik an dem von der bürgerlichen Historiographie für die mittelalterliche Geschichte gebrauchten Revolutionsbegriff hat neuerdings K. CZOK, Zunftkämpfe, Zunftrevolutionen oder Bürgerkämpfe, Wiss. Ztschr. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, 8. Jh. 1958/59, gesellschaftswiss. u. sprachwiss. Reihe, H. 1, S. 129—142 geübt. Vgl. bes. S. 131. M A R X , K . Kapital Bd. I I I , Berlin 1949, S. 849. LÜTGE, F., Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte — Ein Überblick — Berlin, Göttingen, Heidelberg 1952, S. 97, gibt einen knappen Überblick über die verschiedenen Formen der Grundherrschaft. A B E L , W., Agrarkrise und AgrarkonJunktur in Mitteleuropa vom 13.—19. Jh., Berlin 1935, S. 26.
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LÜTGE, F . , a . a . O . , S . 90.
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MOTTEK, H . , a. a. O., S. 1 2 9 f f .
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Ebda. S. 13 2 ff. Jüngst hat G. K I R C H N E R herausgearbeitet, daß sich im Bereich der Klosterherrschaften in Bayern durch den Druck der Bauern nach und nach die günstigen Pachtbedingungen (Erbrechtgut) durchsetzten. KIRCHNER, G., Probleme der
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einer auf umfangreichem Quellenmaterial basierenden Arbeit berechtigt gegen die Darstellung einer idyllischen Entwicklung auf dem Land gewandt und nachgewiesen, daß die ökonomischen und sozialen Vorteile der Bauern im 13. Jh. im rheinischen Gebiet das Ergebnis eines mit den vielfältigsten Mitteln geführten Klassenkampfes waren und daß darüber hinaus durch eine ganze Reihe Maßnahmen seitens der Feudalklasse erfolgreich versucht wurde, die Ausbeutung der Bauern zu steigern.29 Ist damit aber bereits das Wesen dieses Umwandlungsprozesses umfassend dargestellt? K A R L M A R X stellte fest: „Die Verwandlung der Naturairente in Geldrente wird ferner nicht nur notwendig begleitet, sondern antizipiert durch Bildung einer Klasse besitzloser und für Geld sich verdingender Tagelöhner. Während ihrer Entstehungsperiode, wo diese Klasse nur sporadisch auftritt, hat sich daher notwendig bei den besser gestellten, rentenpflichtigen Bauern die Gewohnheit entwickelt, auf eigene Rechnung ländliche Lohnarbeiter zu exploitieren . . ." 30 . Dabei entstanden nicht nur Tagelöhner, sondern die Differenzierung innerhalb der Bauernschaft selbst nahm zu, und zwar, wie R. K Ö T Z S C H K E schreibt, „infolge der freieren Möglichkeit, über den Besitzstand zu verfügen". Im Ergebnis dieser Entwicklung sonderten sich die einzelnen Gruppen schärfer voneinander ab. „Auf Vollgütern die Großbauern oder Mehrhufenbauern und die gewöhnlichen Hufenbauern, daneben die Inhaber von Kleingütern und die Inhaber eines Hauses mit Garten und höchstens ein paar Morgen Land, dazu die gänzlich Grundbesitzlosen, sie alle nicht nur durch das Maß des Ackerbesitzes unterschieden, sondern auch dadurch, daß nur die Angehörigen der älteren, angeseheneren Besitzgruppen berechtigte Mitglieder in der ländlichen Gemeinde waren." 31 Auch in einer Reihe Spezialarbeiten wird die starke Differenzierung unter den Bauern hervorgehoben. Für das Elsaß weist J. K Ü H N mit Nachdruck darauf hin, daß im Zusammenhang mit der Auflösung der Villikationsverfassung Kleingüter, sogenannte Schuppose, entstanden, deren Normalgröße etwa 3-^i ha betrug, eine Ackerfläche, die nach K Ü H N für das Elsaß heute noch die unterste Grenze einer selbständigen Wirtschaft ist. 32 Damit entstand, bzw. vermehrte sich eine Schicht, die, aus den Verschiebungen innerhalb der Grundherrschaft resultierend, auf Tagelohn bzw. gewerbliche Nebenarbeiten angewiesen war. Sie ist der eine Pol innerhalb der Bauernschaft, den anderen bilden die Dorfaristokraten, dazwischen steht die
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spätmittelalterlichen Klosterherrschaft in Bayern: Landflucht und bäuerliches Erbrecht. Zs. f. bayrische Landesgeschichte 19, H. 1, 1956, bes. S. 19ff. EPPEBLEIN, S., Bauernbedrückung und Bauernwiderstand im hohen Mittelalter. Untersuchungen zur bäuerlichen Abwanderung nach Osten im 12. und 13. Jh. Forschungen zur Mittelalterlichen Geschichte, Bd. 6, Berlin 1960. MARX, K . K a p i t a l I I I , S. 8 5 0 .
KÖTZSCHKE, R., Deutsche Wirtschaftsgeschichte bis zum 17. Jh., Leipzig 1908, S. 109. KÜHN, J., Das Bauerngut der alten Grundherrschaft. Eine Studie zur Geschichte des Verfalls der Grundherrschaft und der Entwicklung der Agrarverfassung in Südwestdeutschland. Diss. Leipzig 1912, S. 29.
2 Mittelalterliches Plebejertum
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Masse der mittleren Bauern.33 Für Bayern warnt P H . D O L L I N G E R davor, die Differenzierung zu übersehen und die günstigen materiellen Bedingungen für die großen Pächter auf alle Bauern zu übertragen. An die Stelle der rechtlichen Unterscheidungen sind jetzt die ökonomischen gerückt. Neben den großen Pächtern mit 20 ha gibt es die kleinen mit 2 ha Bodenfläche, die davon natürlich nicht existieren konnten.34 In seiner ausführlichen Darstellung über das Moselland weist K . L A M P R E C H T ebenfalls die soziale Differenzierung nach.35 Zu ähniichen Ergebnissen kam E. M O E R E N in einer Untersuchung über das Mainzer und Xantener Gebiet. Danach hatten 36% der in Mainz in Erbleihe ausgegebenen Güter eine Größe bis zu 10 preußischen Morgen, 40°/0 etwa 10-20 preußische Morgen, 8% 20-30 preußische Morgen und 16% 30-50 preußische Morgen. Die gleiche Differenzierung ergibt sich bei den anderen Leiheformen.36 Eine ausgezeichnete Studie zu diesem Fragenkomplex gibt W. L. K E R O W für das Gebiet des heutigen Belgien und Nordfrankreichs an Hand des Landbesitzes der Benediktinerabtei S T . T R O N D . In dem von ihm untersuchten Dorf Villario heben sich um die Mitte des 13. Jh. eindeutig drei Gruppen von Bauern ab: a) die wohlhabende bäuerliche Oberschicht (13 Bauern) mit einem Bodenbesitz von neun und mehr bonoires, b) die mittlere Bauernschaft (41 Bauern) mit einem Bodenbesitz von 2—8 bonoires, und c) die arme Bauernschaft (51 Bauern) mit einem Landbesitz bis zu 2 bonoires.37 Der von dem sowjetischen Historiker geführte Nachweis, der nach seiner Meinung auch für andere Dörfer dieses Gebietes in ähnlicher Form angenommen werden kann, gibt ein klares Bild über die eigentliche Problematik der sozialen Lage der Bauern. Die soziale Differenzierung ist das entscheidende Merkmal bei der Beurteilung der Lage der Bauern. Von dem ökonomischen Aufschwung wurden nicht alle gleichmäßig erfaßt. Während diejenigen mit günstiger Ausgangsposition oder geringer Leistungsauflage größere Möglichkeiten zur erweiterten Reproduktion hatten, sanken andere immer stärker zur Landarmut herab.38 33
Ebda. S. 53.
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L'évolution des classes rurales en Bavière depuis la fin de l'époque carolingienne jusqu'au milieu du XIII e siècle, Paris 1949, S. 404 und S. 486. L A M P R E C H T , K., Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter: Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes. Bd. 1/2, Leipzig 1886, S. 1139 ff. Für die untersten Schichten vgl. bes. S. 1240ff. M O E R E N , E., Zur sozialen und wirtschaftlichen Lage des Bauerntums vom 12.—14. Jh. Studien über die ländlichen Leihen auf Grund von Mainzer und Xantener Quellen. Nassauische Annalen, Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung, Bd. 59, 1939, S. 75. K E R O W , W . L . , K Bonpocy 0 6 y c i i n e H H i i a r t c n n y a T a u i i H K p e e r i H H C T B a B IOJKHHX HHHepjiaHflax (Be-nrmi) H CeBepHoit OpaHUHH B CEPEAHNE X I I I B . CpeßHHe Bena, 7, MocKBa 1955, CTp. 76. Ein bonoire ist nach den Maßen von St. Trond etwa ein Hektar. Ebda. S. 66, Anm. 12.
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DOLLINGER, PH.,
MOTTEK, H . , a. a. O . , S .
14lf.
Unter diesem Gesichtspunkt wird auch die unterschiedliche Darstellung über die Lage der Bauern in den litarischen Quellen des 13. J h . verständlich. Wenn solche Darstellungen wie die N E I D H A R T S VON RETJENTAX, oder der M E I E R H E L M B R E C H T W E R N H E R DES GÄRTNERS immer wieder zur Beweisführung f ü r den Wohlstand der Bauern herangezogen werden 39 , so ist das falsch. Abgesehen davon, daß man auch die lokalen Besonderheiten berücksichtigen muß, gibt es auf der anderen Seite Berichte, die das Leben der Bauern in den düstersten Farben schildern. Dazu gehören z. B. die Predigten des Franziskaners BERTHOLD VON R E G E N S B U R G , der seit der Mitte des 1 3 . J h . Bayern, die Rheingegend, die Schweiz, Schwaben, Österreich, Mähren, Böhmen, Thüringen und Franken predigend durchzog. 40 BERTHOLD gilt als zuverlässiger Berichterstatter, da alle seine Angaben im wesentlichen dort stimmen, wo wir sie nachprüfen können. 41 In einer zu Konstanz gehaltenen Predigt sprach BERTHOLD z. B. davon, daß die Bauern so arm wären, daß sie nackt gehen müßten und bleich und mager aussehen würden 42 Für Bayern schildert er, daß die Bauern vom Adel so bedrückt würden, daß sie sich kaum gegen Hunger und Frost wehren können. 43 Die Beispiele könnten noch erweitert werden. Diese unterschiedliche Darstellungsweise in den literarischen Quellen läßt sich nur verstehen, wenn man berücksichtigt, welche Bauern beschrieben werden. 44 Dabei sind nicht in erster Linie die lokalen Besonderheiten entscheidend, sondern die Fragen der sozialen Differenzierung der Bauernschaft. H I L D E H Ü G L I hat das richtig erkannt, wenn sie in Konfrontierung der scheinbar konträren zeitgenössischen literarischen Belege schreibt: „Die wirtschaftlich verschiedenen Quellen über die Bauern lassen sich verstehen, wenn man bedenkt, daß sich im 13. Jh. ein großer Umschichtungsprozeß innerhalb der landbebauenden Klasse vollzog." 46 Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß die soziale Lage der Bauern sehr stark von lokalen Ereignissen beeinflußt wurde. 39
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2*
So z. B . noch K. B O S L in „Handbuch der deutschen Geschichte" ( B . Gebhardt), 8. Auflage, Stuttgart 1956, I, S. 663. G Ä R T N E R , TH., Berthold von Regensburg über die Zustände des deutschen Volkes im 13. Jh., Beilage zum Jahresbericht des Gymnasiums zu Zittau. Zittau 1890, S. 1. T H I E L , F . , Die Lage der Bauern nach der Mitte des 1 3 . Jh. Auf Grund der Predigten B E R T H O L D S VON R E G E N S B U R G . Separat-Abdruck aus dem I V . Jahresbericht des Landes — Real- und Obergymnasiums in Klosterneuburg für das Schuljahr 1 9 0 5 / 0 6 . 1 8 6 6 , S. 6 . B E R T H O L D VON R E G E N S B U R G , Vollständige Ausgabe seiner Predigten von Fr. Pfeiffer, I, Wien 1862, S. 257. Ebda. S. 58. Vgl. dazu H Ü G L I , H . Der deutsche Bauer im Mittelalter, dargestellt nach den deutschen literarischen Quellen vom 11.—15. Jh., Bern 1929, Kap. II, und von der älteren Literatur R A T Z I N G E R , G., Bäuerliches Leben im 13. Jh., Forschung zur bayrischen Geschichte, Kempten 1898, S. 54 6 ff. und S. 56 7 ff. Auch P H . D O L L I N G E R betont, daß die Berichte N E I D H A R T S und der M E I E R H E L M B R E C H T die reichen bäuerlichen Pächter beschreiben (a. a. O., S. 404). HÜGLI, H . , a. a. 0 . , S. 84.
19
Mißernten, bedingt durch Naturkatastrophen46, Ausplünderungen durch den örtlichen Adel47 auf der einen Seite und günstige Marktlage, Anbau von Spezialkulturen usw. auf der anderen Seite konnten durchaus einen großen Unterschied zwischen den einzelnen Gebieten schaffen. Aber alle diese Einflüsse, mögen sie zeitweilig noch so wesentlich gewesen sein, wirkten nur auf der Basis der Differenzierung der Bauernschaft und behinderten oder begünstigten diesen Prozeß. Von diesen ungünstigen Einwirkungen auf die Bauern, zu denen, außer den oben genannten Ereignissen, vor allem auch Methoden der verstärkten Ausbeutung durch die Feudalherren, wie die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit u. a. und von städtischer Seite das Wucherkapital mit seinem zersetzenden Einfluß gehören, waren die landarmen und wirtschaftlich ungünstig gestellten Bauern entschieden stärker betroffen als die anderen.48 Wenn K. LAMPEECHT feststellt: ,,. . . auch für die niedrigen landarbeitenden Klassen, die jetzt so reißend zunehmenden eigenhörigen Leute, war die Lage eine dauernd, ja steigend günstige . . ,"49, so kann das m. E. nur als eine Tendenz innerhalb der genannten Entwicklung zu werten sein, die noch nichts über den absoluten Stand aussagte. Im Gegenteil, die zufällig erhaltenen Quellen, die von umherschweifenden Hörigen sprechen,60 bzw. zwischen alteingesessenen und neu hinzugekommenen Bauern unterscheiden,51 geben Zeugnis davon, daß die Bauernklasse des 13. Jh. weder einheitlich gefügt war noch in friedlicher Harmonie lebte, sondern daß es vielmehr einen großen fluktuierenden Teil unter ihr gab, der sich keiner sozialen Sicherstellung erfreute, sondern verarmt war. Es wäre sonst auch nicht begreiflich, wieso in der 2. Hälfte des 13. Jh. und zu Beginn des 14. Jh. der Klassenkampf zwischen den Feudalherren und Bauern so heftige Formen annahm, daß es zu Bauernunruhen kam. Der Aufstand der Pastorellen 1251 erfaßte Flandern, Brabant, den Hennegau, die Picardie und- Burgund, wobei die arme Bauern46
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Vgl. hierzu die Zusammenstellungen bei CTJRSCHMANN, F., Hungersnöte im Mittelalter, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des 8.—13. Jh., Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte, herausgegeben von Buchholtz, Lamprecht u. a., Bd. 6, H. 1., Leipzig 1900. So war es keinesfalls zufällig, daß bei den Kämpfen zwischen den Bürgern von Straßburg und ihrem Bischof (1261—63) beide Parteien gegenseitig ihren Landbesitz plünderten. Chronik des JACOB TWINGER von Königshoven, HEGEL, C., Chroniken deutscher Städte, Bd. 9, S. 661 ff. Für das rheinische Gebiet vgl. auch EPFERLEIIT, S., a. a. O. Eine sehr gute Zusammenstellung der Ausbeutungsmethoden und sonstigen Faktoren, die die Lage der Bauern beeinflußten, gibt HOYER, S., Die Armlederbewegung, ein Bauernaufstand 1336/39, eine Arbeit, die demnächst erscheinen wird und deren Manuskript er mir dankenswerter Weise zur Verfügung stellte. Zu dem gleichen Problem für den flandrischen Baum vergl. KEROW, W. L., CPE^HHE BeKa, 7, 1955. LAMPRECHT, K . , a. a. 0 . , S . 1 2 4 6 .
60
Z. B. für Xanten EPPERLEIN, S., a. a. O., S. 67.
51
Für Kloster Welver am Niederrhein (1266). Ebda. S. 68.
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schafb und die Stadtarmut die treibenden Kräfte waren.52 1298 erhoben sich die Bauern unter einem Edelmann namens R I N D F L E I S C H gegen die Wucherer. Zentrum der Bewegung war die Gegend um Würzburg und Nürnberg.53 1320/21 traten französische Bauern wiederum zum offenen Klassenkampf im sogenannten zweiten Pastorellenaufstand an 54 , und 1336/39 richtete sich der Aufstand unter „König" A R M L E D E K am Oberrhein und in Franken abermals vorwiegend gegen die Wucherer.55 Die drei zuletzt genannten Bewegungen sind zwar offiziell gegen die Juden gerichtet, aber es ging dabei nicht um Glaubensfragen, sondern um die Juden in ihrer Tätigkeit als Wucherer. Diese Aktionen sind nicht zu erklären, wenn man von einem ökonomischen Aufschwung für die gesamte Bauernschaft spricht, werden aber verständlich, wenn man sich die soziale Differenzierung vor Augen hält, denn gerade die landarmen Schichten beteiligten sich an den Aufständen besonders aktiv.56 Natürlich kann man für die zweite Hälfte des 13. Jh. und den Beginn des 14. Jh. im niederländisch-rheinischen Gebiet nicht generell von einer zugespitzten Situation auf dem Lande sprechen. Aber, verursacht durch die neuen Bedingungen der Warenproduktion, entstand auch hier eine Schicht landloser und landarmer Bauern.67 Die Flucht besonders in die Städte — eine Form des Klassenkampfes, von der gerade in den westdeutschen Gebieten sehr rege Gebrauch gemacht wurde 58 — konnte zwar die Lage der Bauern mildern und den Differenzierungsprozeß bremsen, aber die Tendenz nicht aufheben. Dennoch darf man gerade bei der Abwanderung in die Stadt nicht annehmen, daß alle mittellosen Einwanderer in den Städten sofort eine gesicherte Existenz, etwa in einem Zunfthandwerk, aufbauen konnten.59 V. VON W O Y K O W S K Y BIEDATJ weist am Beispiel Kölns nach, daß für diese Menschen der Weg zum Bettel oft nur einen Schritt bedeutete. 60 Besonders bei einer plötzlichen Verschlechterung der Lebenslage ist immer wieder eine Konzentration der Not52
53 64
KEROW, W . L . , BoccTaHHe „nacTyniKOB" B KMKHBIX HHFLEPJIANNAX H BO OPAIMHH B 1251 rony. Bonpocw H c T o p m i 1956, N« 6 CTp. 118.
Chroniken deutscher Städte, Bd. 9, Straßburg, S. 758. Siehe auch HOYER, S., a. a. O. HOYER, S., a. a. 0 .
" Ebda. 56 Das hat HOYER, S., a. a. 0 . , f ü r 1336/39 bes. klar herausgearbeitet. Für den Pastorellenaufstand 1251 vgl. KEROW, W . L . , „ n a c T y n i K O B " . 67
68 59
MOTTEK, H . , a. a. 0 . , S. 143.
Eine Zusammenstellung der Belege gibt EPPERLEIN, S., a. a. O., S. 48FF., 67ff., 84FF., und 9 8 ff. Es geht nicht um die generelle Einwanderung ländlicher Bevölkerung in die Städte (hierzu hat neuerdings REINCKE, H., Bevölkerungsprobleme der Hansestädte, Hans. Geschichtsblätter 70, 1951, S. 1—33 ausführlich Stellung genommen. Wenn er sich auch speziell auf die Hansestädte stützt, kann die allgemeine Problematik doch auch auf die rheinischen Städte übertragen werden.), sondern um die Einwanderung völlig besitzloser Bauern. VON WOYKOWSKY-BIEDAÜ, V., Das Armenwesen des mittelalterlichen Köln, Breslau 1891, S. 10.
leidenden in den Bischofsstädten und bei bedeutenden Klöstern festzustellen, wo sie Hilfe erwarteten und praktisch, entweder vorübergehend oder für dauernd, zur bettelnden Lebensweise übergingen.61 Aber auch innerhalb der städtischen Bevölkerung begann sich eine besitzlose und fluktuierende Schicht abzuzeichnen. Leider sind die Belege dafür sehr spärlich. Am besten wissen wir über sie im flandrisch-brabantischen Raum Bescheid. Die Arbeitsbedingungen der Gesellen, die nach DES M A E E Z denen der modernen Lohnarbeiter glichen, waren sehr unsicher. Oft waren sie existenzlos und zogen bettelnd und arbeitsuchend durch das Land.62 Ein beachtlicher Teil von ihnen wanderte aus. So sind für die zweite Hälfte des 13. Jh. flandrische Weber in zahlreichen deutschen Städten nachweisbar.63 Auch in den rheinischen Städten muß es eine Stadtarmut gegeben haben, auch wenn kaum konkrete Fälle überliefert sind. Es ist sicher kein Einzelbeispiel, wenn für Köln in der zweiten Hälfte des 13. Jh. von einem Schuhflicker berichtet wird, der, wenn er nicht genügend Arbeit hatte, durch das Land zog und mit Kerzen handelte.64 Weiter sei in diesem Zusammenhang an die Fuhrleute, Schiffer, Hafenarbeiter und ähnliche Gewerbe erinnert, die zwar quellenmäßig kaum nachweisbar sind, aber auf Grund des Charakters der Städte vorhanden gewesen sein müssen und sicher zu den fluktuierenden Schichten zu rechnen sind. Trotz mangelhafter Überlieferungen erlaubt der kurze Überblick die Schlußfolgerung, daß mit der im 12. und 13. Jh. stattfindenden Weiterentwicklung der Produktivkräfte, als deren wichtigstes Ergebnis der Übergang zur allgemeinen Warenproduktion anzusehen ist, eine verstärkte Differenzierung innerhalb der Land- und Stadtbevölkerung einsetzte, die das Entstehen fast oder völlig besitzloser Schichten begünstigte. Für diese Schichten war infolge der Lockerung der feudalen Bande aus den obengenannten Gründen die Möglichkeit der Fluktuation innerhalb bestimmter Gebiete gegeben. In diesen besitzlosen, fluktuierenden Schichten ist die Basis der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist zu suchen. 61
62
63
64
CURSCHMANN, F . , a . a . O . , S . 6 4 .
DES MAREZ, G., Les luttes sociales en Flandre au Moyen Age, Revue de l'Université des Bruxelles, Brüssel 1900, S. 784. Vgl. auch H. P I R E N N E , Histoire économique de l'occident médiévale. Préface de E. Coornaert, Brügge 1951, S. 328f., desgl. den Überblick bei H. P I R E N N E , Histoire de Belgique, Bd. 1, 5. Aufl., Brüssel 1929. H I L L E B R A N D , B . , Zur Geschichte der deutschen Wollenindustrie, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik VI, 1866, S. 22 6f. ENNEST, L „ a . a . O . , I I , S . 1 9 8 .
III. DIE BEGINEN- UND BEGARDENBEWEGUNG EINE ERSCHEINUNG MIT VERSCHIEDENEN SOZIALEN INHALTEN Als im Jahre 1317 der Bischof von Straßburg, JOHAJSTN VON D Ü B B H E I M , ausführlich zu den Lehren und Praktiken der in seiner Diözese wirkenden freigeistigen Häretiker Stellung nahm, gab er auch eine Zusammenfassung der Namen dieser Ketzer, „quos vulgus beghardos et schwestriones, Brot durch Gott nominant, ipse vero et ipsae se de secta liberi spiritus voluntariae paupertatis parvos fratres vel sorores vocant".65 Aus diesem Bericht ist die in der Literatur allgemein üblich gewordene Bezeichnung „Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist" hervorgegangen, vor allem deshalb, weil darin die Charakterisierung des Hauptanliegens der Ketzer, die bedingungslose Freiheit des gottgewordenen, sündlosen Menschen gegenüber der Gesellschaft im allgemeinen und der Kirche und ihrer Lehre im besonderen am klarsten zum Ausdruck kommt. Der Begriff bezeichnete eine Häresie, die in der zweiten Hälfte des 13. Jh. aufbauchte, zu Beginn des 14. Jh. ihren ersten Höhepunkt erlebte und ihr Hauptbetätigungsfeld in den Gebieten beiderseits des Rheins mit den Zentren Köln und Straßburg hatte und die verschiedensten Namen annahm. Relativ am nächsten kommt der Bezeichnung J O H A N N S VON D Ü B B HEIM der Ausdruck Häresie „de novo spiritu" aus dem Schwäbischen Rieß um 1270. 6 6 Er stammt, wie A. M E N S nachweisen konnte, aus der gleichen Wurzel wie „liber spiritus".67 Daneben tauchen aber auch Namen wie 66
66
MOSHEIM, J. L. A., De beghardis et beguinabus commentarius, Leipzig 1790, S. 256.; In der von DÖLLINGER, I., Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters, II: Dokumente vornehmlich zur Geschichte der Valdesier und Katharer, München 1890, S. 389 herausgegebenen Fassung der Quelle wird lediglich von der „secta beghardorum" gesprochen. Von Johann inspiriert ist offensichtlich die von Johann X X I I . in einem Brief aus dem Jahre 1318 an den Bischof von Straßburg gewählte Bezeichnung „nominantes se poenitentes, vel sorores liberi spiritus et voluntariae paupert a t i s " (MOSHEIM, a. a. O., S. 630). DÖLLINGER, I . , a. a. O., I I , S. 395. Z u r D a t i e r u n g der K e t z e r e i v g l . GRUNDMANN, H . ,
Religiöse Bewegungen im Mittelalter — Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. Jh. und 13. Jh. und über die geschichtlichen Grundlagen der Deutschen Mystik, Hist. Studien, Ebering 267, Berlin 1935, S. 402ff. 67
MENS, A . , O o r s p r o n g , S. 199FLF.
23
„apostoli" 6 8 und „fratres de altissima paupertate" 6 9 durchaus gleichberechtigt als Bezeichnungen für die freigeistigen Häretiker auf. L ä ß t die Vielfalt der Bezeichnungen innerhalb weniger Jahrzehnte im gleichen geographischen R a u m einerseits weitgehende Schlußfolgerungen über den lockeren A u f b a u und die lose Organisation der Sekte zu, so verwundert andererseits die Konstanz der Begriffe „begardus" und „begina" in den Synodalbeschlüssen u n d Inquisitionsberichten als N a m e n für die freigeistigen Häretiker. Sie werden entweder in Verbindung mit den obengenannten Begriffen erwähnt oder sind sogar die alleinigen Bezeichnungen. 7 0 D a s verweist auf die engen Beziehungen der Sekte zur Beginen- und Begardenbewegung, die zu dieser Zeit weite Teile Westeuropas erfaßt u n d für ihren nördlichen Bereich ebenfalls im westlichen Deutschland und in den Niederlanden ihre Zentren hatte. 7 1 68
69 70
71
B. im Bericht des Erzbischofs von Köln, H E I N E I C H VON V I R N E B U R G , zum Jahre 1307, vgl. FREDERICQ, P., Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis Neerlandicae, I, Gent 1889, S. 151. Die gleiche Formulierung im Synodalbeschluß von Trier 1310, ebda. S. 155. Es handelt sich in beiden Fällen, wie aus dem Gesamtzusammenhang hervorgeht, um Begarden. Vgl. auch GRUNDMANN, H . , Bewegungen, S. 390, Anm. 80. Nach dem Inquisitionsprotokoll von Metz 1 3 3 4 , D Ö L L I N G E R , I . , a. a. O . , I I , S . 4 0 3 . Allein steht dieser Begriff z. B. in der oben erwähnten (s. Anm. 59) D ö i x i N G E R S c h e n Fassung des Berichtes J O H A N N S VON STRASSBURG. Die Bulle ,,Ad nostrum" des Konzils von Vienne bezeichnet die Freigeister: „secta quedam abhominabolis quorumdam hominum malignorum qui Beguardi et quarumdam infidelium mulierum que Beguine vulgariter appelantur, in regno Alemannie . . .", Fredericq, P., a. a. O., I, S. 168; eine ähnliche Formulierung gibt die Bulle „Cum de quibusdam", ebda. I, S . 167. Die Herkunft der Begriffe „beginus", „begina" hat J . VAN M I E R L O als eine verstümmelte Form von ,,Al-bigensis" erklärt und in zahlreichen Arbeiten gegen alle Angriffe erfolgreich verteidigt. (De bijnaam van Lambertus Ii Beges en de vroegste beteekenis van het woord Begijn, Verslagen en mededelingen der Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde, 1925, S. 405—447; Ophelderingen bij de vroegste geschiedenis van het woord Begijn, ebda., 1931, S. 983—1006; De weederwardigheeten van een etymologie de vroegste geschiedenis van het woord Begijn, ebda., 1945, S. 31 bis 51, und andere Arbeiten). M I E R L O stützt sich bei der Begründung seiner These darauf, daß das Wort am Ende des 12. J h . im rheinisch-niederländischen Baum entstanden ist, seine ursprüngliche Bedeutung bereits zu dieser Zeit unbekannt war, dagegen aber in der „Chronica regia Coloniensis" damit um 1209 Albigenser bezeichnet werden. Nach seiner Meinung hat man noch im 12. J h . etwa im Lütticher Gebiet von den Ketzern in Südfrankreich gehört, sie in Abwandlung von „Albigensis" Beginen genannt und diesen Begriff auf die verdächtig scheinenden semireligiosenFrauen übertragen. Desgleichen werden andere Ketzer ebenfalls mit der Bezeichnung belegt. (Z. B. die Amalrikaner in der „Chronica regia Coloniensis" z. J . 1221). Gegen diese Ansicht hat zuletzt A. M E N S Stellung genommen, der das graubraun der Beginenkleidung (beige) als Wurzel des Namens annimmt (Oorsprong, S. 420—425). Ihm schließt sich auch A X T E R S , ST., Geschiedenis van de vroomheid in de Nederlanden, I, Antwerpen 1950, S. 312 an. J . VAN M I E R L O wies jedoch auch diesen Angriff m. E. erfolgreich zurück, indem er bemerkte daß nach dieser These zumindest in einer Quelle
24
Z.
Wegen dieser unklaren und zum Teil widerspruchsvollen Quellen entbrannte in der bürgerlichen Literatur eine heftige Diskussion über das Verhältnis der orthodoxen zu den häretischen Beginen und Begarden. Man sprach einerseits davon, daß die Beginen- und Begardenvereinigungen Herde der Häresie seien, daß die Häretiker unter den Beginen und Begarden untertauchen würden,72 und bemühte sich andererseits, eine scharfe Trennung zwischen orthodoxen und häretischen Beginen und Begarden vorzunehmen.73 Weiter warf man dem Klerus vor, daß er nicht sorgsam genug zwischen den beiden Gruppen unterschieden hätte und dadurch zu falschen, den gesamten Beginen- und Begardenstand treffenden Maßnahmen gekommen wäre.74 Die Ursache dieser unterschiedlichen Beurteilung liegt im falschen Herangehen an die Problematik. Die bürgerlichen Historiker sehen letzten Endes im Beginen- und Begardenwesen eine Einheit, die durch deren besonderen semiregulierten Stand bestimmt wurde. Gegenüber dieser Einheit erscheinen alle auftretenden Unterschiede als sekundär. Dieser Meinung kann man jedoch nicht folgen. Es gab innerhalb der Beginen- und Begardenbewegung zwei große Gruppen, die „Ansässigen" und die „Fluktuierenden", wobei sich die erste Gruppe noch einmal in einzeln für sich lebende und in Konventen zusammengeschlossene Beginen und Begarden teilte und die Konvente wiederum nach ihrer Abhängigkeit bzw. Selbständigkeit von den Bettelorden zu unterscheiden waren. Diese Unterschiede sind bisher in zahlreichen Einzeluntersuchungen genügend herausgestellt worden. Besonders H. Grundmann ist dieser Problematik nachgegangen, und es können daher zahlreiche Einzelergebnisse von ihm übernommen werden.75 Seiner Gesamteinschätzung jedoch, die darauf abzielt, die organisatorischen Formen des Zusammenschlusses als primär für die Entwicklung des Beginenwesens darzustellen, kann nicht gefolgt werden. Die Mannigfaltigkeit in den organisatorischen Formen war keine sekundäre Erscheinung einer gewaltigen Bewegung, sondern Oberflächenerscheinung verschiedener sozialer Inhalte innerhalb des Beginen- und Begardenwesens. Diese soziale Differenzierung liefert den Schlüssel dafür, in welchem Maß die Beginen- und Begardenbewegung von der Häresie erfaßt wurde. Sie gibt die Möglichkeit, die klassenmäßige Basis der freigeistigen Häresie zu fassen und
72
73
eine Erklärung des Namens vorhanden sein müßte. Das ist aber nicht der Fall, im Gegenteil, bei der Beschreibung der Beginenkleidung werden Ausdrücke wie „vilis '' „pauper" und „asper" gebraucht (Losse beschouingen Over het onstaan der Begijnenen Begardenbeweging, Ons geestlijk erf, XXIII, 1949, H. 3, S. 251). Z. B. ALLIER, R., Les frères du libre esprit, Religions et sociétés, Paris 1905, S. 116 u. S. 123FF.; DELACROIX, H., Essai sur le mysticisme spéculatif en Allemagne au quatorzième siècle (Thèse), Paris 1899. Van MIERLO, J., Het Begardisme, een synthetische Studie, Verslagen en mededelingen der Kon. Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde, Gent 1930, S. 289. HAUPT, H., Beiträge S. 535.
74
Ebda., S. 521 ff.
75
GRUNDMANN, H . , B e w e g u n g e n , S . 319FF.
25
von den übrigen Beginen und Begarden zu unterscheiden. Daher sollen im folgenden alle Beginen- und Begardengruppen unter diesen Gesichtspunkten untersucht werden, wobei sich aus sachlichen Gründen eine Begrenzung auf die Zeit seit etwa der Mitte des 13. Jh. notwendig macht, die Anfänge der semireligiosen Bewegung also ausgeklammert werden.
1. Die soziale Zusammensetzung
der ansässigen
Beginen und
Begarden
Bekanntlich ist der männliche Teil der großen semireligiosen Bewegung in seiner in Gemeinschaften organisierten Form in dem uns interessierenden Zeitraum auf das belgisch-niederländische Gebiet konzentriert, wo unabhängig von den Vorläufern seit der Mitte des 13. Jh. Begardengemeinschaften nachweisbar sind.76 Zum Problem der sozialen Herkunft dieser Begarden hat vor allem die ältere Forschung in mühevoller Kleinarbeit eindeutiges Material geliefert, aus dem hervorgeht, daß sich die flandrischen männlichen Semireligiosen überwiegend aus dem Handwerk, speziell der Weberei, rekrutierten.77 Wenn sich unter ihnen vielleicht auch einige Angehörige aus dem Adel und dem Patriziat bzw. Handelsbürgertum befanden, wie das J. v. M I E K L O vermutete und H. G R U N D M A I T N bereitwillig übernahm, so ändert das nichts am sozialen Kern der niederländischen Begardengemeinschaften und ist keinesfalls für die Behauptung Grundmanns geeignet, daß „auch die niederländischen Begardengemeinschaften nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen entstanden sind, sondern daß religiöse Motive auch hier bestimmend waren für den Zusammenschluß und für die Beschäftigung mit der gemeinschaftlichen Handarbeit, vor allem der Weberei".78 Demgegenüber ist bereits wiederholt überzeugend nachgewiesen worden, daß die eigentlichen Ursachen im Sozialökonomischen lagen. Besonders F. C A Ü L A E Y vermerkte, daß sich die Weber wegen ihrer elenden materiellen Lebensbedingungen zu Gemeinschaften zusammenschlössen, wo sie der Willkür der Meister und Verleger nicht ausgesetzt waren und eine gesicherte Existenz hatten. Die mit dem Begardenleben verbundenen Entbehrungen (Ehelosigkeit usw.) waren in dem Sinn keine, weil die Begarden dafür materielle Sicherheit erhielten, eine Voraussetzung, die für die flandrischen Weber im 13. Jh. durchaus keine Selbstverständlichkeit war.79 Und es ist daher auch nicht zufällig, wenn bereits seit der frühen Zeit in den 76
"
MCDONNELL, E . W . , a. a. O . , S . 2 5 3 . D E S MAREZ, G . , Les bogards dans l'industrie drapière à Bruxelles, Mélanges Paul Fredericq, Brüssel 1904, S . 279; CALLAEY, P . , Beggards des Pays-Bas, Annuaire de l'Université Catholique de Louvain, 1911, S. 443; MATROD, H., Les Begards. Essai de Synthèse historique, Etudes Franciscaines XXXVII, S. l l f f . ; vgl. auch M C D O N -
NELL, E. W . , a. a. O., S. 2 4 9 i .
J. v., Het Begardisme, S. 286; G R U N D M A N N , H., Bewegungen, S. 353. F., Beggardes des Pays-Bas, S. 444. Die gleiche Meinung vertritt H. M A T a. a. O., S. l l f f . Vgl. auch DES MAREZ, G., Les Luttes sociales, S. 784.
' 8 MIERLO, 79
CALLAEY, ROD,
26
Statuten der Gemeinschaften die Produktion und ihre Organisation eine hervorragende Stelle einnehmen, so daß man bei den einzelnen Abschnitten nur allzuoft an die mittelalterlichen Zunftrollen erinnert wird.80 Der ausgeprägte Produktionscharakter dürfte auch die wesentliche Ursache dafür sein, daß diese Semireligiosen nur sehr gering von häretischem Gedankengut infiziert und daher zu Beginn des 14. Jh. kaum verdächtigt wurden. Nicht das geregelte fromme Leben und die damit verbundene Leitung und Kontrolle durch den Klerus haben hierfür den Ausschlag gegeben, sie konnten vielmehr erst infolge der straffen Organisation der Produktion wirken. Durch diesen Produktionscharakter wurden die Begarden in eine bestimmte Blickrichtung gelenkt, fanden sie einen Platz in der Gesellschaftsordnung und waren damit in der Kombination mit der straffen Organisation des Gemeinschaftslebens den Einwirkungen der freigeistigen Häresie entzogen, ja, mehr noch, sie waren gegen diese — neue — häretische Ideologie weitgehend immun, da sie, wie noch gezeigt wird, ihren speziellen Interessen nicht entsprach.81 Im Gegensatz zu den Niederlanden spielten im westlichen Deutschland die Begardengemeinschaften in dem uns interessierenden Zeitraum keine Rolle. Lediglich in Köln sind seit 1299 bzw. 1306 zwei Begardenkonvente nachweisbar, bei denen eine wirkliche Gewerbetätigkeit frühestens seit 1340 belegt werden kann.82 Dieses Fehlen hängt zweifellos damit zusammen, daß in Deutschland die Textilproduktion und die damit verbundenen sozialen Veränderungen noch lange nicht den Stand wie beispielsweise in Flandern oder Brabant erreicht hatten und daher entsprechende Produktionsgemeinschaften keine Existenzberechtigung hatten. Die deutschen fluktuierenden Begarden dagegen kamen aus anderen sozialen Schichten.83 Können damit die ansässigen Begarden eindeutig dem Handwerk, speziell der Weberei zugerechnet werden, so ist die soziale Basis der ansässigen Beginen bedeutend komplizierter. Im Kampf gegen die ältere Forschung ist hierzu an Hand der verschiedensten Quellenbelege immer wieder darauf hingewiesen worden, daß vor allem im 13. Jh. zahlreiche Frauen aus der Kaufmannschaft 80
81
82
83
Vgl. z. B. das Material bei CALLAEY, F., De nederlandsche Beggarden in St. Franciscus' Derde Orde en de weefnijverheid tijdens de Middeleeuwen, Neerlandia Franciscana I, 1914, S. 7 ff. In der Literatur wird der rechtgläubige Charakter der niederländischen Beginen- und Begardengemeinschaften sehr stark betont. DES MARBZ, G., Les Bogards, S. 286, führt das sehr richtig auf den gewerblichen Zug zurück, während MIERLO, J . v., Les Beguines et Lambert le Begues, Revue d'histoire ecclésiastique X X I I I , 1927, S. 792, und GRUNDMANN, H., Bewegungen, S. 353f. die organisatorische Form als Ursache hervorheben. Über den energischen Kampf gegen alle Tendenzen, die dem speziellen Charakter der Begardengemeinschaften entgegenstanden, vgl. unten S. 45 f. ASEN, J . , Die Begarden und die Sackbrüder in Köln, Annalen des historischen Vereins f. den Niederrhein, H. 115, 1929, S. 167 u. 173. Dazu unten S. 40 f.
27
dem Patriziat und sogar aus dem Adel den Status von Beginen wählten. 84 Damit wurde die These, wonach die Beginengemeinschaften Institutionen zur Versorgung armer Frauen gewesen waren, weitgehend erschüttert. 85 Ein Überblick über die vorhandenen Spezialuntersuchungen und Quellen zeigt jedoch, daß, zumindest für den deutschen Raum, das Beginenwesen damit auch unter den Ansässigen keine Vereinigung von Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung war, wo etwa in voller Harmonie einem gemeinsamen religiösen Ideal nachgegangen wurde. Überall dort, wo die Quellen über diese Fragen Auskunft geben, kann vielmehr eine mehr oder weniger scharfe Trennung zwischen den einzelnen sozialen Gruppen der Frauen festgestellt werden. Am klarsten wird das infolge der verdienstvollen Untersuchung von D. P H I L L I P S für Straßburg. Dort lassen sich für die einzelnen Konvente eindeutig soziale Schwerpunkte nachweisen. Bei den sich an die Dominikaner anschließenden Beginen lag das Schwergewicht bei den Frauen aus der Kaufmannschaft, während bei den selbständigeren Beginenkonventen und den sich an die Franziskaner anlehnenden Semireligiosen das Handwerkerelement vorherrschte. 86 Bei dieser sozialen Gliederung in Straßburg handelt es sich nicht um eine zufällige Gruppierung. So durften nach den uns glücklicherweise erhaltenen Statuten der Konvente „Zum Turm", „Innenheim" und „Offenburg" aus der zweiten Hälfte des 13. J h . nur Frauen aufgenommen werden, die Vermögen besaßen oder von Handarbeit leben konnten, andere waren ausgeschlossen.87 Die Bewohner dieser drei Konvente setzten sich nachweislich vorwiegend aus Angehörigen der städtischen Oberschicht zusammen. 88 Auch für andere Städte lassen sich ähnliche Tendenzen feststellen, wobei die Form der „Familienstiftung" ein verbreitetes Mittel dafür war, den Kreis der Beginen sozial abzugrenzen. So brauchten die Beginen des Hauses „tor A " in 84
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Dazu z. B. für die Niederlande MIERLO, J . V., Beguinages, Dictionnaire d'histoire et de géographie ecclésiastique, Bd. 8, 1933, Sp. 4 6 7 ; für Deutschland G R U N D M A N N , H . , Bewegungen, S. 351f. Vgl. auch die Beispiele M C D O N N E L L , E . W . , a. a. O . , S. 96ÉF. Einen Literaturüberblick dazu bietet M C D O N N E L L , E. W., a. a. O., S. 81ff. PHILLIPS, D., Beguines in médiéval Strasburg. A study of the social aspect of Beguine life. Diss. Stanford University California 1941. An Hand statistischen Materials weist er nach, daß im Gebiet „hinder kürsener loben" vor allem Beginen aus Handwerkerkreisen wohnten (S. 52f.), dagegen in der Nähe des Dominikanerkonventes vor allem Frauen aus dem Kaufleutemilieu (S. 70ff.). Nach Ph. sind die Beginenhäuser zu Straßburg im wesentlichen Einrichtungen, die der materiellen Sicherstellung der Frauen dienen sollen und mit dem eigentlichen „Beginenideal" wenig zu tun haben (S. 150f., S. 154). Das Hauptmittel dazu scheinen Pfründe gewesen zu sein, allerdings beschäftigten sich auch Beginen mit Weberei und Krankenpflege (S. 159). Diesen Nachweis hat GRUNDMANN, H., Bewegungen, S. 344ff. geführt. Die Statuten sind im Urkundenbuch der Stadt Straßburg Bd. III, S. 27, 29 und 30 abgedruckt. Darauf verwies bereits KOTHE, W., Kirchliche Zustände Straßburgs im 14. Jh., ein Beitrag zur Stadt- und Kulturgeschichte des Mittelalters, Freiburg 1903, S. 46 und 52; vgl. auch Phillips, D., a. a. O., S. 70.
Münster (1314 von einem reichen Bürger gegründet) zwar keine Aufnahmegebühr zu zahlen, aber nach der Gründungsurkunde sollten vor allem Angehörige aus der Verwandtschaft und Freundschaft Aufnahme finden.89 Auch f ü r Köln lassen, sich, obwohl leider für diese Stadt das Material zu diesem Problem äußerst spärlich ist — es sind bis heute noch keine Statuten von Beginenhäusern aus dem 13. und beginnenden 14. J h . gefunden worden —, eine ganze Reihe Familienstiftungen feststellen. 90 Darüber hinaus muß man hinter der häufig anzutreffenden Formulierung, daß die Aufnahme in den Konvent von dem betreffenden Stifter oder seinen Erben abhängt 9 1 , sicher oft das Bestreben suchen, den Kreis der Bewerberinnen nach sozialen Gesichtspunkten zu lenken. Wenn dabei auch speziell für Köln die soziale Herkunft der Gründer meist nicht bekannt ist, wird man doch schon von der Tatsache her, daß f ü r eine Gründung Vermögen vorhanden sein muß, annehmen dürfen, daß Patriziat, Kaufmannschaft und reiche Handwerker den Hauptanteil stellten. Trotz all dieser Belege kam der weitaus größte Teil der ansässigen Beginen zweifellos aus den ärmeren Schichten der Stadtbevölkerung, speziell aus dem Handwerk. 92 Sie waren es vorwiegend, die seit der zweiten Hälfte des 13. J h . den Beginengemeinschaften das spezielle, auf Produktion ausgerichtete Gepräge gaben. Für die Niederlande stellte L. J . M. P H I L I P P E N fest, daß nur relativ wenige Beginen die Möglichkeit hatten, von Renten und anderen Einkünften zu leben. Für die überwiegende Mehrheit war dagegen die Produktion im Textilgewerbe charakteristisch. 93 Ähnliches ist auch für Deutschland zu belegen, obwohl die Quellenbasis wiederum sehr schmal ist. Vor allem für Erfurt wissen wir durch N I C O L A U S V O N B I B B A , der die Verhältnisse der Stadt sehr gut kannte, aus der zweiten Hälfte des 13. J h . sehr gut Bescheid. Nicolaus hob bei den ansässigen Semireligiosen, die er als gute Beginen bezeichnete, neben der 69
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ZUHORN, K., Die Beginen in Münster. Anfänge, Frühzeit und Ausgang des münsterischen Beginentums. Westfälische Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 91, S. 11 ff. Auch in Coesfeld wurde um 1293 eine Beginengemeinschaft als Familienstiftung gegründet. Ebd. S. 13. ÄSEN, J., Die Beginen in Köln. Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiözese Köln, Heft 111, S. 81-180; Heft 112, S. 71 bis 148; Heft 113, S. 13-96; Köln 1927/28. Das trifft z. B. für die Konvente „Eve in der Höhle", gegründet 1294 (Heft 111, S. 118), „Klüppel auf dem Neumarkt", gegründet 1314 (Heft 111, S. 125), „Sechtem auf der Burgmauer", gegr. 1307 (Heft 111, S. 166) und ,,Vortieve-Orloff-Lose-Loeschhaus in der Streitunggasse", gegr. 1271 (Heft 112, S. 102), zu. Ebd., z. B. Heft 111, S. 120, 166, 169; Heft 112, S. 82, 100; Heft 113, S. 46, 52 u. a. Die Zufälligkeit der Überlieferung läßt vermuten, daß auch bei diesen Gemeinschaften vielfach Verwandschafts- und Freundschaftsbande für die Aufnahme entscheidend waren. Vgl. für Straßburg PHILLIPS, D., a. a. O . , S. 27; zur gleichen Meinung gelangte nach eingehender Prüfung aller Ansichten McDonnell, E. W., a. a. O., S. 99f.; vgl. auch Hauck, A., Kirchengeschichte Deutschlands V, 1, S. 42 2 ff. PHILIPPEN, L. J. M., De begijnhoven, Antwerpen 1918, S. 201 ff.
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Frömmigkeit ihre Arbeit bei der Tuchproduktion hervor, wobei er nicht nur einzelne, sondern die Gesamtheit meinte. 94 Wenn Erfurter Beginen bereits 1282 durch päpstliches Privileg der Handel mit Wolle und Tuch erlaubt wurde, so muß einmal diese Tätigkeit schon geraume Zeit vorher begonnen haben und zum anderen das Spezifische dieser Beschäftigung sehr typisch gewesen sein. 95 Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß diese Frauen zum überwiegenden Teil aus dem Handwerk bzw. dem städtischen Kleinhandel hervorgegangen waren. Auch in Straßburg waren Beginengemeinschaften zu Beginn des 13. J h . nachweisbar mit Spinnen und Weben beschäftigt. 96 Daneben tauchte aber bei den deutschen Beginen stärker als in den Niederlanden die Tätigkeit in der Krankenpflege auf. 97 J . A S E N meint, daß die Kölner Beginen außer einzelnen Ausnahmen nicht gearbeitet hätten, weil die Quellen darüber nichts aussagen. Ich glaube jedoch nicht, daß von den für Köln 1300 immerhin errechneten 575 Beginen 98 nur ein ganz geringer Teil gearbeitet hat, da wir von anderen Städten gegenteilige Beweise haben. Diese Beginenkonvente hatten ungeachtet ihrer sozialen Nuancen relativ feste Schranken zu den besitzlosen Frauen. Herbert Grundmann, der diesen Gegensatz herausgearbeitet hat, führt dabei außer den oben erwähnten Straßburger Beispielen vor allem das Beginenhaus zu Worms (gegründet 1288) an, wo nach dem Stiftungsbrief keine Frauen aufgenommen werden durften, die von Almosen lebten. Ähnliches wird von Wesel (1309) berichtet. Hier fanden nur die eine offene Tür, deren Existenz durch Vermögen oder durch Handarbeit gesichert war. 99 Diese Abgrenzungstendenz war mehr oder weniger für alle Konvente charakteristisch. Es gibt zwar einige Beispiele, wonach besitzlosen Frauen der Weg zu Beginengemeinschaften offenstand. Dazu scheint etwa der 1308 in Köln gegründete Konvent hinter dem Hospital Allerheiligen gehört zu haben, der für bekehrte Juden, kranke Beginen und ähnliche bestimmt war. 100 Aber das waren nur Einzelfälle. Schon bei dem in der gleichen Stadt 1303 gegründeten Konvent ,,Schurge" in der Breitestraße wird zwar davon gesprochen, daß nur Frauen von wirklicher Bedürftigkeit aufgenommen werden, die Einschränkung, sie müßten von ehelicher Geburt sein, erinnert 84
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„Sunt ibi Begine, quarum numerus sine fine. Quedam perverse, quedam vivunt bene per se. Ex hiis sunt quedam, que neo turpem neque fedam rem cupiunt scire, sed ad ecclesiam libet ire, missas ire . . . . Jejunant vigilant et lanea stamina filant et mala deplorant; sie nocte dieque laborant, ocia vitantes et que bona sunt operantes." Nicolai de Bibra oceulti Erfordensis Carmen satiricum, ed. FISCHER, TH., Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Erfurter Denkmäler I, 2, Halle 1870, Vers 1605ff.; NICOLAUS VON B I B R A hat den Abschnitt über die Beginen etwa 1282 geschrieben. Ebd. S. 15. Ebd., S. 92, Anm. 4.
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PHILLIPS, D . , a. a. O . , S . 1 5 8 f .
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MCDONNELL, E . W . , a. a. O . , S. 2 7 1 f.
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ASEN, J., Die Beginen in Köln, Heft 111, S. 88 und 115.
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GRTJNDMANN, H . , B e w e g u n g e n , S . 3 4 4 F F .
ASEN, J., Die Beginen in Köln, Heft 112, S. 111.
aber stark an die Aufnahmebedingungen der Zünfte und weist damit in das Handwerksmilieu. 101 Für die Gesamtheit des ansässigen Beginenwesens muß H. Grundmann recht gegeben werden: Die Beginengemeinschaffcen der zweiten Hälfte des 13. Jh.. waren keine Versorgungsstätten für unbemittelte Frauen. 102 Dabei ist allerdings zu betonen, daß diese Charakteristik den Kampf der Frauen um materielle Sicherheit durch GeWerbetätigkeit, also die Beginen, die aus dem Handwerk kamen, mit umfassen muß. Ausgeschlossen waren durch die verschiedensten Maßnahmen lediglich die völlig Besitzlosen, die plebejischen Schichten. Das wird bestätigt, wenn man sich etwa die von D. P H I L L I P S für Straßburg aufgestellten Statistiken über die soziale Herkunft der Beginen ansieht. Danach waren bis herunter zum Handwerk alle städtischen Schichten vertreten. Dagegen gibt es kaum Nachweise über plebejische Schichten. Selbst wenn unter den von Phillips in der Rubrik „von außerhalb Straßburgs kommende Frauen" ein Teil aus den verarmt in die Stadt gezogenen bäuerlichen Schichten hervorgegangen sein sollte, ist ihre Zahl doch im Verhältnis zu den anderen Beginen so gering, daß sie keinesfalls als typisch für das Wesen der Straßburger Konvente anzusehen ist. 103 Diese statistischen Ergebnisse dürften ungeachtet der Lückenhaftigkeit kein Zufall sein, wenn man sie im Zusammenhang mit den Abschließungstendenzen betrachtet. In den Beginenkonventen der zweiten Hälfte des 13. Jh. und des beginnenden 14. Jh. in Deutschland waren also Frauen aller besitzenden städtischen Schichten erfaßt. Darüber hinaus weist zumindest der größte Teil der Konvente eine soziale Schwerpunktbildung auf. Es ist hier nicht beabsichtigt, auf die große Diskussion um die Ursache des Entstehens dieser Bewegung einzugehen. 104 Aus dem unterschiedlichen Charakter der Konvente dürfte jedoch bereits klar geworden sein, daß es in falsche Bahnen führt, wenn man an eine einheitliche Bewegung denkt, der ein besonderes „religiöses Motiv" zugrunde lag. Phillips hat sehr richtig bemerkt, daß sich das Beginenideal der vermögenden Frauen recht deutlich von dem der armen unterschied. Ein zurückgezogenes, beschauliches Leben konnte nur die erste Gruppe führen; für die andere war das nicht möglich. 105 Meines Erachtens führt die Diskussion über die Ursachen der Beginenbewegung erst dann weiter, wenn es gelingt, Näheres über die Stellung von Frau und Familie zu dieser Zeit auszusagen. 106 Für unseren Zweck sind diese Probleme jedoch nicht von unmittelbarem Interesse. 101 102
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Ebd. Heft 111, S. 151. GRUNDMANN, H . , Bewegungen, S . 3 4 7 , 3 5 1 . Vgl. die Statistiken bei PHILLIPS, D . , a. a. O . , S. 6 8 , 8 9 , 1 2 2 , 1 4 4 und 2 2 6 . Dabei ist bei den von außerhalb der Stadt Kommenden der soziale Status in den meisten Fällen nicht klar. Einen Überblick über die bisherige Literatur gibt M C D O N N E L L , E. W . , a. a. O . , S. 81 ff. PHILLIPS, D . , a . a . O . , S . 2 2 4 .
Ebd. S. 20ff.
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Wichtiger ist das Verhältnis dieser Semireligiosen zu den zu Beginn des 14. Jh. einsetzenden Verfolgungen. Als 1311 das Konzil von Vienne zum Beginenwesen Stellung nahm — die Beschlüsse wurden 1317 veröffentlicht —, schien damit zunächst das gesamte Beginenwesen bedroht zu sein. Die Angriffe des Konzils gegen die semireligiose Bewegung waren wenig präzisiert. In der Bulle ,,Ad nostrum" werden die freigeistigen häretischen Ideen genannt, die unter den Beginen und Begarden in Deutschland um sich gegriffen hätten 107 , wobei keine Andeutung darüber gemacht wird, ob alle Beginen davon betroffen werden. In der zweiten Bulle „Cum de quibusdam" dagegen, wo häretische Ideen nur kurz zusammengefaßt werden, tritt die bekannte Einschränkung hervor, wonach zwar aus den genannten Gründen das Beginenwesen aufzuheben sei, diejenigen Beginen aber, ,,quae honeste in suis conversantes hospitiis penitentiam agere voluerint et virtutum Domino in humilitatis spiritu deservire . . .", davon ausgenommen werden.108 Das Verhältnis zwischen beiden Quellen hat E. Müller so erklärt, daß sich die erstere mit der Häresie und die zweite mit den organisatorischen Fragen beschäftigt 109 , womit die Einschränkung für beide Bullen zutreffen würde. Die Folge dieses Beschlusses war eine vorübergehende Unsicherheit in der Stellung des Klerus zum Beginenwesen, und in den einzelnen Diözesen ging man mit unterschiedlicher Intensität gegen die Semireligiosen vor. So ordnete der Bischof von Straßburg, Johann von Dürbheim, 1319 die Auflösung des Beginenstands in seiner Diözese mit der Bemerkung an, daß man in benachbarten Gebieten schon längst ähnliche Maßnahmen beschlossen hätte und er nicht länger in der Lage sei zu zögern.110 Zu einer wirklichen Durchführung der Beschlüsse kam es indessen nicht. Die bisherige Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, daß trotz einer kurzen vorübergehenden Krise im Endergebnis überall eine weitere Entwicklung der ansässigen Beginen und Begarden festzustellen ist. Für Köln ist ohne Differenzierung in alleinlebende und in Gemeinschaft wohnende Beginen nur ein sehr 107
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FREDERICQ, P . , a . a . 0 . , I , S . 1 6 8 .
Ebd. E., Das Konzil von Vienne 1311/12, seine Quelle und seine Geschichte. Vorreformationsgeschichtliche Forschungen XII, Münster 1934, S. 518 f. „licet vicine seu coniacentes ecclesiae kathedrales et alia sive prelati et clerici earundem senciant et hactenus senserint statum beginarum virtute Constitution is nove indifferentes esse reprobatam. . . nos tarnen ex quibusdam probabilibus et specialibus motivis huiusque execucionem huius modi circa reprobacionem dieti status beginarum non duximus faciendam, propter quod, sicut experiencia nos docuit scandala et pericula in populo nobis subiecto sunt suborta". Anschließend wird die Aufhebung angeordnet, Haupt, H., Beiträge S. 560. Bereits vier Wochen später wird jedoch die getroffene Maßnahme wieder eingeschränkt, da die bisherigen Beginen ihre Kleidung beibehalten dürfen (ebd. S. 561). Über die Verordnung des Kölner Erzbischofs gegen die Beginen (1318) vgl. SEIBERTZ, S., Urkundenbuch zur Landes- und Rechtsgeschichte des Herzogtums Westfalen, Bd. II (1300-1400), Arnsberg 1843, S. 156. MÜLLER,
begrenzter Rückgang der Semireligiosen nachweisbar. 1 1 1 I n Straßburg dagegen wuchs die Zahl der Beginenhäuser zu B e g i n n des 14. Jh. sogar noch wesentlich an. 1 1 2 E i n spürbarer Rückgang ist nirgends zu verzeichnen. Dort, w o wir zufällig über die Schließung v o n Beginenhäusern unterrichtet sind, zeigt sich, daß der Auflösungsprozeß sehr friedlich, ohne erkennbare Inquisition vor sich gegangen ist. 1 1 3 I n Warndorf wurden die Semireligiosen, die ihren K o n v e n t auflösten bzw. auflösen mußten, v o m Bischof mit „dilectis nostris begghinis" angesprochen, eine Bezeichnung, die k a u m für Häretiker angewandt worden sein dürfte. 1 1 4 Diese Tendenz ist nicht zufällig. Der katholischen Kirche ging es nicht u m ein generelles Verbot des Beginenstandes, sondern u m eine Verurteilung der freigeistigen Häretiker, u n d die befanden sich in ihrem Gros nicht in, sondern außerhalb der Konvente. Daher mußte der P a p s t schon bald zu einer Präzisierung der Konzilsbeschlüsse greifen. J o h a n n X X I I . beklagte sich bereits 1318, daß eine Anzahl Kleriker nicht zwischen „ g u t e n " und „bösen" Beginen differenzieren würde, verlangte eine Korrektur u n d gab als Unterscheidungsmerkmal neben den häretischen Lehren an, daß die ketzerischen Beginen vagabundierten, während die rechtgläubigen entweder bei ihren Angehörigen oder in entsprechenden Häusern leben würden. 1 1 5 A m klarsten i " In Köln gab es 1300 = 19, 1310 = 22, 1320 = 21 und 1330 = 13 Beginenkonvente. Über Schwankungen der Zahl der Insassen der einzelnen Konvente ist nichts bekannt. Dagegen kann man eine starke Abnahme der allein lebenden Beginen feststellen: 1309 = 164, 1320 = 62, 1330 = 38. J . Asen, Beginen, S. 93f. Das ist wahrscheinlich auf die zu Beginn des 14. J h . stärker werdenden Anfeindungen zurückzuführen, die diese Beginen in die Beginenhäuser führte, bzw. zu Zusammenschlüssen veranlaßte. 112 Von 1243-1319 wurden 20 Beginenhäuser gegründet, von 1320-1329 dagegen 15 (a. a. O., S. 226). PHILLIPS meint, daß sich das Dekret von Vienne nicht gegen die häretischen Beginen, sondern gegen die allein lebenden richtete, da ihre Zahl nach 1317 radikal sinkt (S. 229). Mir scheint diese Ansicht bedenklich, da, wie Ph. selbst darlegt, die Frauen oft lange zusammenlebten, ohne daß ihr Haus offiziell als Beginenhaus deklariert wurde, also der Übergang sehr fließend war, (S. 149). Mir scheint richtiger, daß die vorübergehende Unsicherheit dazu geführt hat, daß die allein lebenden Beginen dazu übergingen, sich offiziell in Häusern zusammenzuschließen, um damit den Anfeindungen besser widerstehen zu können. 113
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ZUHORN, K . , a . a . O . , S . 1 1 7 f .
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E b d . , S. 119.
In dem Brief an den Straßburger Bischof heißt es: ,,. . . sunt nonnulli praelati et rectores ecclesiarum diversarum dioecesium, qui non discementes inter bonam vitam et reprobam, ac frumenta non excutientes a paleis,. . ." (MOSHEIM, a. a. O., S. 631). Die Häretiker unter ihnen kristallisiert er, in Anlehnung an die Charakterisierung von Johann von Dürbheim, mit folgenden Worten heraus: „beginas communiter nominatas, quarum aliquae, illius callidae delusae, qui, u t fallat, invigilat, singularitate ab aliis sub mentitae sanctitatis specie, de locis ad loca currunt (hervorgehoben von mir, M. E.), inhibitam prosilientes audaciam, de Summa Trinitate, de articulis fidei, de Sacramentis et obedientia ecclesiae . . . disputare praesumunt" (ebd. S. 630), und bei den ehrbaren Beginen wird hervorgehoben; „Verum quod multis mundi partibus sunt plurimae mulieris, que similiter Beghinae vulgo vocatae, segregatae in parentum, aut suis, interdum vero in aliis, aut conductis sibi domibus communibus insimul habitantes, vitam ducunt honestam, ecclesias devote f r e q u e n t a n t . . .", (ebd. S. 628).
3 Mittelalterliches Plebejertum
33
hatte diese Unterscheidung der Bischof von Straßburg, Johann von Dürbheim, erkannt, der 1317 in einem Inquisitionsbericht gegen die Freigeisterei in seiner Diözese feststellte, daß sich die Ketzer ausfluktuierendenBeginen (swestriones) und Begarden rekrutierten.116 Die von ihm 1319 versuchte Aufhebung des gesamten Beginenstandes ist dagegen offensichtlich unter dem Druck der benachbarten Bischöfe erfolgt und von ihm nur widerstrebend erlassen worden. Der Ansicht von H. Haupt, daß das Beispiel des Straßburger Bischofs zeige, wie oberflächlich der deutsche Klerus in der Verurteilung der Beginen gehandelt habe117, kann nicht gefolgt werden, denn gerade dieser Kleriker hatte das Wesen der Freigeisterei am genauesten erkannt, und seine Maßnahmen im Jahre 1319 stellten nur eine vorübergehende Unsicherheit dar. Auch in anderen Diözesen wurden die ansässigen Beginen in den folgenden Jahren ausdrücklich geschützt.118 Die unterschiedliche Beeinflussung der Beginen durch die freigeistige Häresie glaubt H. Grundmann in den verschiedenen organisatorischen Formen der semireligiosen Bewegung suchen zu müssen. Er meint, daß die ansässigen, besonders die in Konventen organisierten Beginen deshalb nicht von der Häresie erfaßt wurden, weil durch die Organisation und die Kontrolle des religiösen Lebens durch den Klerus den ketzerischen Ideen die Tür verschlossen blieb. Diejenigen dagegen, die im unsteten Umherschweifen ihr Ideal sahen, wären der klerikalen Beeinflussung entzogen und dem ketzerischen Gedankengut preisgegeben, das in seiner mystischen Form ihren Interessen entspräche.119 Diese Ansicht spiegelt die Wirklichkeit nur halb wider. Die organisatorischen Formen waren nur der Ausdruck unterschiedlicher sozialer Interessen. Wenn wir bisher feststellen konnten, daß die soziale Basis des ansässigen Beginenwesens, also des Flügels, der von der Häresie weitgehend verschont blieb, im Handwerk und den städtischen Oberschichten lag, soll es im folgenden darauf ankommen, diese gleiche Problematik bei den fluktuierenden Beginen und Begarden vorwiegend im Rheinland zu untersuchen, wobei nicht bei Einzelpersonen stehengeblieben werden soll, sondern das Augenmerk auf das Gros der fluktuierenden Semireligiosen zu richten ist.
2. Die fluktuierenden
Beginen
und Begarden
und die Anhänger
der Sekte der
Brüder und Schwestern vom freien Geist — Ihre gemeinsame soziale
Basis
Seit der 1. Hälfte des 13. Jh. nahmen verschiedene Provinzialkonzilien Deutschlands immer wieder gegen umherschweifende Frauen Stellung, die zwar noch nicht als Beginen, sondern als „muliercule" bezeichnet wurden, aber entspre116 117 118
Siehe unten S. 38,41. HAUPT, H., Beiträge, S. 520f. 1319 nahm z. B. Johann X X I I . ausdrücklich die Beginen von Brabant unter seine S c h i r m h e r r s c h a f t . FREDERICQ, P . , a. a. O . , I I , S. 78.
119
34
G R U N D M A N N , H . , B e w e g u n g e n , S. 354.
chend dem Gesamtzusammenhang als Angehörige der semireligiosen Bewegung angesehen werden müssen. Sie wurden als Frauen charakterisiert, die Almosen erbettelnd umherziehen und sich der Seelsorge des Pfarrklerus zu entziehen suchen. Dieses Verhalten wurde kritisiert und die Frauen aufgefordert, von dieser Lebensweise abzulassen, seßhaft zu werden und entweder von ihrem Vermögen zu leben, oder, wenn sie arm waren, sich ihren Lebensunterhalt zu erarbeiten. Derartige Beschlüsse faßten z. B. die Provinzialkonzilien des Erzbistum Mainz 1233120 und 1239121. Lagen dieser Gruppierung freiwillige Entscheidungen der Frauen zugrunde, wobei die eine Gruppe Gott in absoluter Armut dienen wollte, während die andere die Frömmigkeit in entsprechenden Konventen unter dem Schutz des Klerus vorzog, wie Grundmann meint? Fast scheint es so, wenn man die von den Provinzialkonzilien gemachten Vorschläge als in das Ermessen der Frauen gestellte freie Entscheidung interpretiert. Ich kann mich jedoch dieser Ansicht nicht anschließen. Zunächst sei daran erinnert, daß die überwiegende Mehrheit der Beginenkonvente zumindest einige Jahrzehnte später durch die verschiedensten Maßnahmen bestrebt war, völlig arme Frauen nicht zuzulassen. Hierzu gehört auch die Formulierung, daß nur Frauen aufgenommen werden dürfen, die in der Lage seien, sich ihren Unterhalt durch eigene Arbeit zu erwerben. Meines Erachtens war dieser Passus in seiner ausdrücklichen Erwähnung nicht allein gegen alte und kranke Frauen gerichtet, sondern brachte zum Ausdruck, daß es Frauen gab, die diese Be120
121
„ I t e m sacro a p p r o b a n t e concilio prohibemus statuendo, ne muliercule, que voventes continentiam h a b i t u m quodammodo m u t a v e r u n t , nec tarnen professioni alicuius certe regule se astrinxerunt, per vicos amodo decurrant, sed in domibus suis v i v a n t de proprio, si hoc habent, si vero sunt pauperes, victum et alia necessaria laboribus m a n u u m suarum vel alii serviendo conquirant." MOTTE, F . , Kirchenverordnungen der Bistümer Mainz u n d Straßburg aus dem 13. J h . , Zs. f. d. Gesch. d. Oberrheins, I I I , 1852, S. 129-150, S. 141, C. 45. Zur Datierung des Provinzialkonzils vgl. F I N K E , H . , Konzilienstudien zur Geschichte des 13. J h . , Münster 1891, S. 2 9 f . u n d H A U C K , A . , Die angeblichen Mainzer S t a t u t e n von 1261 und die Mainzer Synode des 12. u n d 13. J h . , Leipzig 1908, S. 9f. „ I t e m j u x t a prioris S t a t u t a Concilii prohibemus, ne muliercule, que v o t u m continentie emiserunt, m u t a n t e s h a b i t u m secularem, nec tarnen certe regule se astringentes, per vicos passim discurrant. Sed si proprie s u p p e t a n t eis facultates, continenter in suis domibus v i v a n t et honeste, si vero sunt pauperes, m a n u u m suarum laboribus et honestis servitiis necessaria sibi q u a e r a n t . " HARTZHEIM, J . , Concilia Germaniae, Köln 1759ff., Bd. I I I , S. 603, Nr. 23.; H A R T Z H E I M u n d auch H E F E L E KNÖPFLEK, Conciliengeschichte V, 2. Aufl. 1886, S. 7Off. datieren das Provinzialkonzil auf 1261. FINKE, H., a. a. 0 . , h a t in einer kritischen Untersuchung der Mainzer Konzilien des 13. J h . diesen Abschnitt dem Fritzlarer Provinzialkonzil von 1244 zugeordnet (S. 22ff.). Dagegen meldete HAUCK, A., Mainzer S t a t u t e n , Bedenken an u n d plädierte f ü r 1239 oder ev. 1243, (S. 16ff.). F ü r unsere Betrachtungen sind diese Meinungsverschiedenheiten ohne Belang, wichtig ist, daß die Belege aus der ersten H ä l f t e des 13. J h . stammen. Das Verhältnis von fluktuierenden Beginen u n d P f a r r klerus behandeln die Synoden in Mainz 1233 (MONE, a. a. O., S. 141, K a p . 45), Mainz 1 2 3 9 (HARTZHEIM, a. a. O., I I I , S. 6 0 3 ) , M a g d e b u r g 1 2 6 1 (HARTZHEIM, I I I , S. 8 0 7 ) ,
M a i n z 1310 (HARTZHEIM, I V , S. 200).
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Stimmungen nicht erfüllen konnten. Auch bei dem damaligen relativ niedrigen Niveau der Produktion brauchte man doch etwa im Textilgewerbe sowohl bestimmte Arbeitsfertigkeiten und Arbeitserfahrungen als auch Produktionsmittel und damit wiederum gewissen Besitz. Damit gab es aber für die völlig besitzlosen, den plebejischen Schichten entstammenden Frauen auch hier eine Schranke. Die oben erwähnten Synodalbestimmungen sind dagegen vorwiegend als Hinweis zu betrachten, daß beide Gruppen vorhanden waren, wovon sich jedoch die fluktuierenden die besondere Mißbilligung des Klerus zugezogen hatten, und zwar nicht nur für kurze Zeit, sondern für die gesamte Periode des 13. Jh. Das wird in den achtziger Jahren besonders deutlich. Die Synode von Eichstätt (etwa 1280) hob das Leben der ehrenhaften, ansässigen Beginen hervor und richtete ihre ganze Kraft gegen die zu verurteilenden fluktuierenden Frauen. Ihnen wurden Ausschweifungen, Hurerei und andere Ungeheuerlichkeiten vorgeworfen, die sie unter dem Deckmantel der Religion durchführten und womit sie die ehrenhaften Beginen in Verruf brächten. Gegen sie sollte eingeschritten werden. Sie sollten am Pranger mit der Rute ausgepeitscht werden. 122 Ähnliche Darlegungen bringt Nicolaus von Bibra für Erfurt aus der gleichen Zeit. Die ansässigen Beginen lobt er über alle Maßen, während die fluktuierenden völlig verurteilt werden. Nicolaus wirft ihnen vor, daß sie faul und müßig durch die Stadt laufen, mit Mönchen und vor allen Dingen Scholaren Kurzweil treiben und ihre Kinder aussetzen würden. 123 Aus diesen Quellen, die keinesfalls dem Beginenwesen generell feindlich gegenüberstehen, geht hervor, daß sich die Hauptkraft des Klerus gegen die Fluktuierenden richtete, und zwar nicht zufällig, sondern kontinuierlich, nicht gegen einzelne von ihnen, sondern gegen die Gesamtheit. Selbst N I C O LAUS VON B I B R A , der sehr ausführlich über die Erfurter Verhältnisse schreibt, 122
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„Excrevit in ecclesia dei numerus feminarum, que nuncupantur Begine, inter quas nonnulle divina favente gratia honestis sue et integritatis famam irreprehensibilem et illesam conservant. Alie vero sunt, inquibus vioia se menciuntur esse virtutes, dum sub quadam conversationis specie et ficte religionis ymagine lascivias vanitates infinitas exercent, fornicationis et incontinentie morbo laborant et interdum, sicut ex publica fama didicimus, quamplures insolentias ac alias enormitates committunt, ex quibus fame et honestati aliarum Beginarum sepe detrahitur et scandalum in populo generatur . . . mandamus, quatenus si quam ammodo Beginam per singulas vestras parrochias deprehenderitis incontinentie vicio publice laborantem, ita quod excessus ipsius sit notorius, inter alia ipsiam in loco communi, qui vulgariter „Schreiat" dicitur, in presentia populi virgis cedi ac publicis subici verberibus faciatis." Pastoralblatt des Bistums Eichstätt, XXXII, 1885, S. 74, zitiert nach H. GRUNDMANN, Bewegungen, S. 342, Anm. 41. „Sunt alie quedam, de quarum moribus edam, que quasi matrone sub falsa religione ocia sectantur et per loca queque vagantur. Horrentes fusum discurrunt undique lusum, nunc adeundo forum, nunc claustra petunt monachorum et quandoque chorum perlustrant canonicorum et fortasse thorum, malus est iocus iste sororum nunc currant, hylares ubi norunt esse scolares, corpore formosos vel natura generosos . . . Istarum pueri ponuntur ad hostia cleri seu penes ecclesiam." Nicolaus von Bibra, a. a. O., S. 93, Vers 1628f.
gibt keine Alldeutung einer Differenzierung unter den fluktuierenden Beginen, erwähnt keine von religiösen Idealen ergriffenen Frauen. Wenn aber ein religiöses Motiv, etwa das absolute Armutsideal, für den Übergang der Frauen zu den bettelnden Beginen entscheidend gewesen sein soll124, dann bleibt unverständlich, warum sie zumindest zu ihrem wesentlichen Teil diesen damit überhaupt nicht in Einklang stehenden Lebenswandel führten, der nicht nur einmal kritisiert wurde. Sicher hat Grundmann bis zu einem gewissen Grad recht, wenn er die moralischen Mißstände aus dem umherschweifenden Leben erklärt, aber damit wird doch das ursprüngliche „religiöse Motiv" keineswegs glaubhafter. Wenn man dagegen den Bettel, der auch dort, wo er in den Quellen nicht ausdrücklich erwähnt wird, vorhanden gewesen zu sein scheint, genügend in den Vordergrund rückt, muß man zu dem Schluß kommen, daß diese Frauen nicht durch freiwillige Armut, sondern durch soziale Not zu ihrer Lebensweise veranlaßt wurden, daß es Vertreter der sozial untersten Schichten waren, die mit dem Übergang zum Beginenwesen bzw. der Nachahmung religiöser Praktiken ihre tatsächlichen Lebensbedingungen notdürftig drapierten; in den Konventen fanden sie ja keine Aufnahme. Der Schnitt zwischen ansässigen und fluktuierenden Beginen wurde nicht primär durch organisatorische Unterschiede bestimmt, sondern durch die verschiedenen sozialen Inhalte zwischen beiden Gruppen charakterisiert. Das wird bei den Quellen der folgenden Jahrzehnte noch deutlicher. Zunächst läßt sich eine interessante Wandlung in der ideologischen Einschätzung feststellen. Die Schilderungen über die allgemeinen Mißstände wie in den achtziger Jahren treten zu Beginn des 14. J h . in den Hintergrund. An Stelle dessen werden den fluktuierenden Beginen häretische Gedanken zur Last gelegt und außerdem die besondere Form ihres Bettels (Ruf: „Brot durch Gott") kritisiert. Das Provinzialkonzil von Mainz 1310 verlangte von ihnen, daß sie von ihrer besonderen Lebensart und der häretischen Predigt ablassen, sich wie andere Christen verhalten und den anssässigen Beginen anschließen sollten. 125 Diese Aufforderung beweist, daß wir es hier mit dem gleichen Problem, mit den 124 126
So etwa G R U N D M A N K , H . , Bewegungen, S. 4 3 7 . „Sectam et habitum neo non conventícula suspicione mala non vacua Begehardorum clamantium per plateas et vicos civitatem, oppidorum et villarum, hoc vulgare: Brot durch Gott, nec non quaslibet alias singularitates a sancta Dei ecclesia non receptas colentium, reprobamus in hoc sacro concilio, et damnamus, mandantes sub poena suspensiones universis plebanis per civitates, dioceses et provinciam Moguntinam constitutis, ut tales Begehardos aut Bicornos publice tribus diebus Dominicis et festivis admoneant, quos et nos praesentibus, et se teneant sicut alii Christiani, et quod non praedicant in cavernis, vel aliis locis publicis vel secretis, et cum Beguinis se conformantibus eisdem in moribus habitu et incessu." ( H A R T Z H E I M , a. a. O . , IV, S. 200f.). Zur Datierung vgl. H. FINKE, a. a. O., S. 39. Die Differenzierung ist hier bereits soweit gediehen, daß die fluktuierenden Beginen sogar eine andere Bezeichnung (Bicornos) erhielten, während, wie aus den weiteren Bestimmungen hervorgeht, die ansässigen Beginen,, Beghinae" genannt werden. Vgl. auch MOSHEIM, a. a. 0 . , S. 204.
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fluktuierenden Beginen, zu tun haben, wie einige Jahrzehnte früher, nur mit dem Unterschied, daß jetzt die Häresie bei ihnen Fuß gefaßt hatte. 126 Der Vorschlag der Verbindung zwischen beiden Beginengruppen war daher noch unrealistischer als früher, weil zu den sozialen noch ideologische Unterscheidungsmerkmale gekommen waren. Die Problematik hatte der Bischof von Straßburg, Johann von Dürbheim, der deutsche Kleriker, der sich zu Beginn des 14. J h . wahrscheinlich am intensivsten mit den häretischen Beginen und Begarden befaßt hatte, weil seine Diözese am stärksten davon betroffen war, klar erkannt. Deshalb machte er 1317 den Freigeistern seines Gebietes, die er in ihrem weiblichen Teil eindeutig als fluktuierende Beginen (swestriones) identifizierte, den Vorschlag, daß sie, wenn sie ihrer Ketzerei entsagt hätten, sich in der Art des Bettels den anderen „Christianae" anschließen sollten. 127 Ein Anschluß an andere religiöse Gemeinschaften kann sich hinter der Formulierung „Christianae" nicht verbergen. Die rechtgläubigen Beginen werden in der gleichen Quelle ausdrücklich mit „Beginae honestae saecularae" bezeichnet. Außerdem ist ein Übergang zu den ansässigen Beginen schon deshalb unmöglich, weil diese nicht bettelten. Auch ein Anschluß an die Bettelorden ist unwahrscheinlich. Die Tertiarier der Minoriten werden in der gleichen Quelle „Religiosae qui sunt de tertia regula F F Minorum" genannt, und die Dominikaner, die sich nach M. Bihl hinter der Bezeichnung „aliosque familiares F r a t r u m " verbergen, kommen wohl vor allem deshalb kaum in Frage, weil sie sich in Straßburg fast ausschließlich mit den ansässigen Beginen, vor allem aus den Oberschichten, beschäftigten. 128 Außerdem wäre es verwunderlich, wenn Johann in der doch im ganzen recht ausführlichen Quelle, sollte er den Übergang zu den Bettelorden gemeint haben, das nicht eindeutiger dargestellt hätte, denn die Freigeisterei war für ihn ein dringendes Problem. In der gleichen Richtung liegt auch die Formulierung, daß sie an Stelle ihrer bisherigen Lumpen andere Kleider, also keine bestimmte Tracht, anlegen sollten. Mit den bettelnden „Christianae" können vielmehr nur Bettler schlechthin gemeint sein. Das 126 127
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Die erste Warnung vor häretischen Tendenzen unter den Beginen stammt von Simon von Tournai. Vgl. G R U N D M A N N , H., Bewegungen, S. 757/58. Ad haee sententia sive poena, quae supra, perstringimus et seripto praesenti innodamus omnes Swestriones, quae in singularitate quadam reproba pallium replicant super caput, et dum petunt eleemosynam brot durch Gott clamitant in plateis, nisi infra triduum post publicationem praesentium singularitatem huiusmodi deserant, et se cum aliis vestibus et in petendo eleemosynam aliis Christianis conforment. MOSHEIM, L . , a . a . O . , S . 2 6 0 .
Die Quellenstelle im Zusammenhang: „Per hanc autem nostram sententiam et praescriptam damnationes nostrae processum, Religiosi, qui sunt de tertia Regula FF. Minorum aut Beginis honestis saecularibus, vel etiam quibuslibet aliis familiaribus fratrum approbatorum ordinum, et secundum eorum consilium se re regentibus nullatemus volumus praeiudicium generari, sed eos iuxta modum servatum in aliis provinciis perdurare (ebd.). Vgl. auch M. B I H L , De tertio ordine S. Francisci in provincia Germaniae superioris sive Argentinensi, Archivum Franciscorum historarum Bd. XIV, 1911, S. 172f.
bedeutet aber, daß die häretischen Beginen einer bestimmten sozialen Schicht angehörten, daß sie genauso wie die vagierenden Beginen einige Jahrzehnte früher auf den Bettel angewiesen waren. Daher versuchte J o h a n n von Dürbheim auch nicht, sie mit den ansässigen Semireligiosen zu vereinigen, sondern beschränkte sich darauf, ihre häretische Ideologie zu bekämpfen, erkannte also ihren sozialen Status an. I n diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis des Erzbischofs von Köln, den er 1307 den häretischen Beginen und Begarden gab, von Bedeutung. Danach sollten sie mit ihren Ketzereien brechen, den Bettel lassen und sich so wie früher von ihrer Hände Arbeit ernähren. 129 H. G R U N D M A N N h a t sich bei der Interpretation dieser Quellenstelle dagegen gewandt, in den Ketzern Handwerker und Tagelöhner zu sehen, die zu ihrer weltlichen Tätigkeit zurückkehren sollten. Er sieht darin vielmehr eine Aufforderung, in die Konvente zurückzugehen und dort von Handarbeit zu leben, betrachtet die Häretiker als entlaufene ansässige Beginen und Begarden. 130 Ich halte diese Ansicht, f ü r die Grundmann keinen Beweis zu führen versucht, f ü r falsch. Wenn Heinrich von Virneburg die Beginenkonvente gemeint hätte, so ist es sehr verwunderlich, daß er in der immerhin sehr umfangreichen Quelle mit keinem Wort diese Beginenhäuser erwähnt, dagegen doch recht ausführlich zur Handarbeit Stellung nimmt, und das, obwohl bekannt ist, daß derartige Quellen im allgemeinen nur sehr spärlich soziale Fragen behandeln. Der Erzbischof von Köln h a t t e genauso wie J o h a n n von Dürbheim bei der Verurteilung der häretischen Beginen nicht eine organisatorische Form, sondern einen sozialen Inhalt erkannt. Auch in Köln rekrutierten sich die fluktuierenden Beginen zu Beginn des 14. J h . aus den untersten sozialen Schichten, vorwiegend den Plebejern, wobei natürlich, wie noch dargelegt werden soll, der Übergang von ansässigen zu fluktuierenden Beginen durchaus mit im Bereich der Herausbildung der Sekte lag. Bei dem Übergang der fluktuierenden Beginen zur Ketzerei handelt es sich nicht um Einzelfälle oder u m Teile, sondern u m das Gros. I n fast allen Fällen des beginnenden 14. J h . , die sich eingehend mit dem Verhältnis Beginen—Freigeisterei im rheinischen R a u m befassen, wird auf die fluktuierenden Beginen als weiblicher Hauptbestandteil verwiesen. Papst J o h a n n X X I I . h a t sowohl in einem Schreiben an den Straßburger Bischof (1318) als auch in einem im gleichen J a h r erlassenen Dekret die fluktuierenden Semireligiosen als Vertreter der Freigeisterei bezeichnet. 131 Die fluktuierenden Beginen der 2. Hälfte des 13. J h . rekrutierten sich aus einer einheitlichen sozialen Schicht, den Plebejern, nahmen spätestens zu Beginn des 14. J h . in größerem Umfang eine eigene Ideologie an — die Häresie des 129
Quellen- und Literaturangaben siehe unten S. 42.
130
GRUNDMANN, H., Bewegungen, S. 434, Anm. 186.
131
Siehe oben Anm. 115.
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freien Geistes — und wurden damit der weibliche Teil der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist. Bei den Begarden, dem männlichen Gegenstück zu den Beginen, ist die Verbindung zur Häresie offensichtlicher. Sie tauchten erst seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. in den Quellen auf — soweit sie das westdeutsche Gebiet betreffen — und wurden in ihrem fluktuierenden Teil immer mit ketzerischer Ideologie in Verbindung gebracht.132 Die Synode von Trier 1277 verbot den Begarden zu predigen, weil sie Häresien und Irrtümer im Volk verbreiteten.133 Ahnliche Meinungen vertraten die Provinzialkonzilien von Eichstätt 1280134, Trier 131013S und Mainz vom gleichen Jahr.136 Die Verbindungen zu den Quellen, die die freigeistige Häresie der „begardi" oder „begehardi" beschreiben, liegt auf der Hand. Die seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. erwähnten fluktuierenden Begarden sind mit den bei der freigeistigen Häresie erwähnten Begarden identisch. Schwieriger ist das Bestimmen ihrer sozialen Herkunft, da ähnlich wie bei den fluktuierenden Beginen die direkten Belege dürftig sind. Sie werden als „illiterati" 137 und „idiotae" 138 bezeichnet, Begriffe, die keinen sozialen Nachweis ermöglichen, da sie im Mittelalter für „ungebildet" im weitesten Sinne des Wortes verwandt wurden.139 Einen sehr wichtigen Hinweis gibt aber das Pro132
Die einzigen „neutralen" Berichte über die fluktuierenden Beginen und Begarden dieser Zeit bringen die Annales Colmarienses, wonach sich bettelnde Begarden 1302 in der Nähe des Dominikanerkapitels zu Basel und 1303 in der Nähe des Franziskanerkapitels zu Kolmar versammelt hätten. Auf welch schwankendem Boden dieser Beleg für „orthodoxe" Begarden steht, wird unten dargelegt w e r d e n . . . S. 68f. 133 „Item praecipimus firmiter et districte sacerdotibus, ne predicare permittant aliquos illiteratos videlicet Begardos vel conversos seu alios, cuiscumque ordinis sint, etiam extra ecclesiam videlicet in vicis vel in plateis, et sacerdotes parochianis suis praecipiant ne tales audiant propter haereses et errores quos seminant in populo." FREDERICQ, a. a. O., I, S. 142. Zur Datierung dieser Synode, die in der Quelle dem Jahre 1227 zugeordnet wird, nimmt ABENS, F., Zur Datierung einer Trierschen Synode des 13. J h . , Zeitschrift für Kirchengeschichte, X X X I I I , 1912, S. 84-115, wie auch viele andere Historiker vor ihm, an, daß die Synode 1277 stattgefunden hat und 1227 ein Schreibfehler ist; HEYDENKEICH, J . , Zu den Trierschen Synodenstatuten des 13. Jh., ZSR. kan. Abteilung, Bd. 56, 1936, S. 478-485, vertritt die • Ansicht, daß die ursprüngliche Synode 1227 stattgefunden habe, daß aber 1277 die Statuten ergänzt wurden. In beiden Fällen würde der Abschnitt über die häretischen Begarden in die zweite Hälfte des 13. J h . fallen. 134 Pastoralblatt des Bistums Eichstätt, X X X I I , 1885, S. 74. Zit. bei GRTTNDMANN, H., Bewegungen, S. 393, Anm. 85. 135
136 137
FREDERICQ, a . a . O . , I , S . 1 5 5 .
Siehe oben S. 37, Anm. 125. T r i e r 1 2 7 7 , FREDERICQ, P . , a . a . O . , I , ' ' S . 1 4 2 .
138 y o n ; ; i a i c i mares et foeminae idiotae" spricht HEINRICH VON VIRNEBURG für Köln 1307, Ebd., S. 151. 139 GRUNDMANN, H., Bewegungen, S. 29f. und neuerdings von dem gleichen Verfasser: Literatus — illiteratus, der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, Archiv f. Kulturgeschichte, XL, H. 1, Köln 1958, S. 1 - 6 5 .
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vinzialkonzil v o n Trier 1310, wonach die Häretiker „rustici" waren. 1 4 0 K . LAMPKECHT hat darauf aufmerksam gemacht, daß i m 1 3 . Jh. der Begriff „rusticus" die allgemeine Bezeichnung für Grundholde wurde. 1 4 1 Wir haben es also bei den in Trier erwähnten Begarden m i t Landvolk zu t u n . N u n kann m a n auf Grund des fluktuierenden Charakters der Häretiker nicht annehmen, daß es sich hierbei u m ansässige, auf eigener Scholle arbeitende Bauern gehandelt hat, sondern m a n muß sie bei den Schichten suchen, die infolge der oben skizzierten sozialökonomischen Veränderungen aus den verschiedensten Gründen aus ihren Dörfern abgewandert waren. D a s wird auch durch Alvarus PELAGIUS bestätigt, wonach sich die Begarden vor allem aus Hirten, Köhlern, Schmieden u n d anderen Handwerkern, wohl auch Tagelöhnern, zusammensetzten, die sich v o n ihrer Arbeit abgewandt h a t t e n u n d vagabundierten. 1 4 2 Diese direkten Belege werden noch ergänzt durch die Haupttätigkeit der Begarden, den Bettel. Bischof J O H A N N VON STRASSBUKG verlangte 1317 v o n den häretischen Begarden — genauso wie v o n den oben erwähnten häretischen Beginen —, daß sie v o n ihrer besonderen Art des B e t t e i n s ablassen und sich den anderen Bettlern — mendicantes — anschließen sollten. 140
„Item inhibemus sub poena excommunicationis ne quis in nostra civitate, diocesi et provincia Trevirensi aliquem vel aliquos de illis rusticis, qui se Apostolos appellant, in domum suam recipiat aut eis eleemosynam eroget, cum, prout in antiquis statutis synodalibus continetur, sedes apostolica tales reprobaverit et contra fautores excommunicationis sententiam tulerit ipso facto" FEEDERICQ, P., a. a. O., I, S. 155. Diese Sätze werden auf dem Trierer Provinzialkonzil von 1338 wiederholt (Ebd. I, S. 188.) Die Ansicht A. HATTCKS, daß es sich hier um Waldenser gehandelt habe, hat sich nicht durchgesetzt (Kirchengeschichte Deutschlands V, 6. Auflage, Berlin 1953, S. 401, Anm. 4.). Mit den Apostoli sind offensichtlich die häretischen Begarden gemeint. Vgl. auch GRITNDMANN", H., Bewegungen, S. 391, Anm. 80. Auch der Erzbischof von Köln nennt 1307 die Häretiker „Beggardi et Beggardae et Apostoli".
141
LAMPEECHT, K . , a . a . O . , I , 2 , S . 1 1 9 7 . GRUNDMANN, H . , B e w e g u n g e n , l e u g n e t d e n
FREDERICQ, a . a . O . , I , S. 1 5 1 .
142
sozialen Aussagewert von „rusticus" und „rusticanus". Für ihn ist damit in den häretischen Quellen lediglich der Gegensatz zu „doctus" oder „sapiens" gegeben (S. 9f.). Damit werden die Dinge auf den Kopf gestellt. Ein zufälliger Gebrauch des Wortes wird für allgemeingültig angenommen, während der wirkliche Sinn, nämlich Bauer, ignoriert wird. „Quidam ex eis in mundo procarii, quidam pecorarii, quidam armentarii, quidam cementarii, quidam carbonarii, quidam fabri ferrarii, aut aliis diversis operibus mancipati, de labore manuum iuste sibi victum quaerentes et suae familiae, talem sanctum laborem, et domino indictum refugientes, mutato habitu, quem sibi adiuvenerunt, non corde, de labore ad otium transierunt." Alvarus PELAGIUS, De planctu ecclesiae Lyon 1517, hb. I I , cap. 51, fol. 166. Alvarus (1275—1352) kennt die Sekte vom freien Geist aus eigener Anschauung von Umbrien; wo er aber erst, als er direkt im Dienst der Kurie stand (ab 1329), sein Werk schrieb. Man wird daher seine Mitteilungen über die Häretiker auch auf Deutschland beziehen dürfen, zumal er selbst die deutschen Begarden erwähnt (z. B. fol. 163). Über das Leben Alvarus vgl. DELORME, G., Alvare Pelayo, D. H. G. E., Bd. I I , Sp. 857-861. 41
Damit können nur Menschen gemeint sein, die aus wirklich, materieller Not bettelten. 143 In diesen Zusammenhang gehört auch die Aufforderung des Erzbischofs von Köln 1307 an die häretischen Begarden und Beginen, nicht mehr zu betteln, sondern zu ihrer früheren Lebensart zurückzukehren und ihren Unterhalt durch ihrer Hände Arbeit zu verdienen, wie sie es bisher gewohnt waren. 144 H. G R U N D M A N N hat sich gegen eine Interpretation in dem Sinne gewandt, daß es sich hier um Handwerker und Tagelöhner handele. Er sieht darin eine Aufforderung an die Häretiker, wieder in die Konvente zurückzukehren und zu arbeiten. 145 Diese Argumentation ist nicht stichhaltig, sondern entspringt, wie auch andere Bemerkungen dieser Art, der völligen Ablehnung sozialer Gesichtspunkte bei der Einschätzung von Häresien. Es gab zu dieser Zeit in Köln nur zwei Begardenhäuser, wobei das eine 1299, das andere gar erst 1306 gegründet worden war. 146 Es haben also kaum Gemeinschaften existiert, aus denen die Begarden entlaufen sein konnten. Außerdem haben beide Gemeinschaften die Verfolgungen von 1307 gut überstanden, und es gibt auch keinen Hinweis, wonach diese Konvente häretisch verdächtigt wurden. 147 Dagegen fügt sich die Quelle gut in die anderen Belege ein, wonach die fluktuierenden Begarden aus den armen bäuerlichen und städtischen Schichten stammen, vor allem wenn man bedenkt, daß in den umliegenden Diözesen zur gleichen Zeit ähnliche mehr oder weniger deutliche Hinweise gegeben werden. 148 Sie bildeten in der zweiten Hälfte des 13. Jh. den männlichen Teil der Sekte der freigeistigen Häresie. Damit erschöpfte sich aber die Anhängerschaft der freigeistigen Ideologie noch nicht. Seit dem Mainzer Provinzialkonzil 1233 nahmen die deutschen Synoden 143
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„(Begardi) . . . in petendis eleemosynis modum suum consuetum, qui est Brot durch Gott, omittant, et aliis mendicantibus se conforment", MOSHEIM, a. a. O., S. 260. Die Übersetzung mit „Bettelmönch" erscheint vor allem dann unwahrscheinlich, wenn man die Empfehlung für die Begarden mit der für die Beginen vergleicht, die in fast der gleichen Form das „normale" Betteln als Existenzgrundlage anerkennt (vgl. oben S. 38). Außerdem bemüht sich Johann in den entsprechenden Quellen, die betreffenden Orden mit den genauen Namen zu beschreiben. Daß es für Johann ein Armenproblem gab, das in Zusammenhang mit der Häresie stand, beweist die Forderung des genannten Berichtes, die Schlupfwinkel den Armen der Diözese zur Verfügung zu stellen (ebd. S. 259). „Eos igitur omnes et singulos requirimus et monemus quatenus intra unius mensis spatium, habitu hujusmodi assumpto dimisso resumptoque priori, ad genus viventi pristinum revertantur manibus vitae necessaria justis, ut solebant, laboribus acquirentes." FREDERICQ, P., a. a. O., I, S. 153. Gleiches wird bereits vorher gesagt (ebd. S. 151). GRUNDMANN, H., Bewegungen, S. 434, Anm. 186.
ASEN, J„ Die Begarden, S. 167. Ebd. S. 168; vgl. auch MCDONNELL, E. W., a. a. 0., S. 248f. Auch MCDONNELL weist auf die Herkunft der deutschen Begarden aus den niederen Schichten hin und schließt daraus ihre Empfänglichkeit für häretische Ideen (a. a. O., S. 250).
immer wieder gegen die Scholaren Stellung und warnten vor allem die Pfarrer davor, sich mit ihnen einzulassen. 149 Sie sollten in der Kirche nicht singen, durften keinen Gottesdienst abhalten usw. Ein Teil von ihnen war durch die verschiedensten Umstände von dem eigentlichen Berufsziel völlig abgekommen. Diese Vaganten zogen bettelnd durch das Land, hielten in den Dörfern falsche Reliquien feil, erteilten Ablässe, drangen in die Kirchen ein, um Messen zu lesen oder Unfug zu treiben. 150 H. G K U N D M A N N hat darauf hingewiesen, daß dies nicht nur wegen der Verhöhnung und ,,Parodierung kirchlicher Bräuche und Pflichten geschehen sein kann", sondern daß ein Zusammenhang mit der häretischen Bewegung angenommen werden muß. 151 Die Synoden von Mainz und Magdeburg warfen den Scholaren vor, daß sie die Mönche zur Apostasie verführten. Das Eichstätter Provinzialkonzil (1280) erwähnt Prediger, die unter dem Volk Irrtümer verbreiteten 152 , und von NICOLATTS VON B I B R A wissen wir, daß die fluktuierenden Beginen engen Kontakt zu den Scholaren hatten. Wenn sich auch in allen diesen Fällen eine bestimmte häretische Ideologie nicht nachweisen läßt, so wird man doch H. G B U N D M A N N zustimmen dürfen, wenn er schreibt, daß in diesem unsteten, irregulären Religiosentum die Träger und Vermittler der häretischen Ideologie zu suchen sind. 153 Sie standen den fluktuierenden Schichten durch ihre umherschweifende Lebensweise und ihr verlottertes Äußere sehr nahe und hatten auch die entsprechende Bildung, um die häretische Ideologie in die Massen zu tragen. 154 Auch aus den Mönchsorden stießen kleine Gruppen zur freigeistigen Häresie. Die vielseitigen Berührungen, die sie mit den bettelnden Beginen und Begarden hatten, waren nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. 1310 erließ z. B. die Provinzialsynode zu Trier die Anordnung, daß kein Mönch ohne Erlaubnis 149
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„Quia vagi scolares, qui vulgo Everhardini vocantur, deo abhominabilem vitam ducunt, divinum officium invertunt, unde etiam laici scandalizantur, monachis dant apostatandi materiam, quippe quos de claustris suis recedentes et alibi in seculo receptaculum non invenientes, ipsi in suum recipiunt consortium, statuit hec sancta synodus prohibendo, ne quis clericus eos recipiat vel aliquid det eisdem; quod si fecerit, a superiori suo supensus acriter corrigatur. Nullus etiam scolaris recipiatur, nisi chorum et scolas frequentas." Mainz 1333, MONE, a. a. 0., Kap. 48. Ähnliche Bestimmungen in der Synode zu Magdeburg, 1261, HARTZHEIM, a. a. O., III, S. 807, Kap. 20; Trier 1277, ebd., III, S. 531; Trier 1310, ebd., S. 600. HAMPE, TH., Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit, Monographien zur deutschen Vergangenheit, hrsg. von G. Steinhausen, Leipzig 1902, S. 50. GRÜNDMANN, H., Bewegungen, S. 390f. Ebd., S. 393. Hier auch weitere Quellenbelege. Eine knappe, aber gute Zusammenstellung der Quellenbelege gibt auch MCDONNELL, E. W., a. a. O., S. 510ff. Ebd., S. 394. Die Zurückhaltung von M. BECHTHUM ZU dem Problem der Beziehungen der Vaganten zur Häresie ist fehl am Platz und entspringt vermutlich seiner Unkenntnis der häretischen Bewegung. Die Arbeit H. GRUNDMANNS wurde von ihm nicht verwertet. (Beweggründe und Bedeutung des Vagantentums in der lateinischen Kirche des Mittelalters. Diss. Jena 1941, S. 96f.) Über Zusammensetzung und Leben der Vaganten vgl. TH. HAMPE, a. a. O., bes. S. 50ff. und M. BECHTHUM, a. a. O., S. 78ff.
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das Kloster verlassen und durch die Sädte und Dörfer streifen dürfe. 155 Noch weiter gingen die Minoriten, von denen die Annales Colmarienses berichten. 1295 schieden 50 Franziskaner aus ihrem Orden mit der Begründung aus, daß er von der Regel F R A N Z VON A S S I S I S abgewichen sei.156 Läßt sich in beiden Fällen auch über den weiteren Weg der Mönche nichts feststellen, so muß man doch zumindest für einen Teil den Übergang zur Häresie annehmen, denn der Bischof von Straßburg, J O H A N N VON D Ü R B H E I M , bedauert 1 3 1 7 außerordentlich, daß sogar einige Angehörige approbierter Orden unter den Häretikern zu finden sind. 157 Damit ist die soziale Basis der Häresie vom freien Geist bestimmt. Die besitzlosen, umherschweifenden Männer und Frauen, die fluktuierenden Begarden und Beginen werden in der zweiten Hälfte des 13. Jh. der Sektenkörper der freigeistigen Häresie. Diese soziale Charakterisierung wurde bereits durch K. M Ü L L E R knapp angedeutet, als er darauf hinwies, daß Tagelöhner, Arbeiter und kleine Handwerker die soziale Struktur der häretischen Begarden bestimmten. 158 H. M A T R O D lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf Fuhr- und Schiffsleute und Hafenarbeiter. 159 Allerdings muß noch einmal betont werden, daß es sich dabei nicht in erster Linie um diejenigen der genannten Berufsgruppen gehandelt hat, die bereits mit der Stadt verwurzelt waren, sondern die große Masse rekrutierte sich aus den eben vom Dorf abgewanderten Schichten. Das Leben der freigeistigen Häretiker spielte sich vorwiegend in den Suburbien und den kleineren Orten ab. So berichtet keine Kölner und keine Straßburger Stadtchronik von der Tätigkeit der Freigeister (außer von der Verbrennung W A L T E R S D E S H O L L Ä N D E R ) , obwohl andererseits z. B. die Greißlerzüge ausführlich beschrieben werden. Das ist nur zu erklären, wenn man das ländliche Element stärker berücksichtigt. Ergänzt wurden die Häretiker durch Scholaren 166
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„Item sub poena excommunicationis praecipimus et inhibemus, ne Monachi extra elaustrum per civitatem, castra seu villas incedere seu discurrere de caetero praesumant, nisi ratione administrationis si quam habent, hoc eis juxta reguläres observantias sit permissum, vel nisi Abbatis seu prioris claustralis super hoc licentia intercedat, quam idem Abbas seu Prior sub poena excommunicationis eis non impendat, nisi hoc exegerit Monasterii evidens necessitas, vel patens utilitas eorundem super quis Abbatis et prioris conscientas oneramus." HARTZHEIM, a. a. O., IV, S. 135, Kap. 28. „Quinquaginta fratres ordinis Minorum, senes atque lectores, de ordine pariter recesserunt, dicentes, fratres Minores de ordine sancti Francis« simpliter recessisse." Ann. Colm. MGSS. XVII, S. 222. ,,. . . quorum quidam, quod dolenter dicimus, sunt religiosi, et in sacris ordinibus constituti." MOSHEIM, a. a. O., S. 256. Müller, K., Rezension zu H. HAUPT: „Die religiösen Sekten in Franken vor der Reformation, Würzburg 1882", Theologische Literaturzeitung 8, 1883, H. 9, Sp. 204. M. spricht allerdings von der Sekte des 14./15. Jh.; vgl. auch MCDONNELL, E . W . a. a. O., S. 5 1 5 . MATROD, H . , a. a. 0 . , S. 148.
und Mönche, die wahrscheinlich auf Grund ihrer größeren Bildung in vielen Fällen zu den Führern der verschiedenen Sektengruppen gehörten. Damit soll keineswegs behauptet werden, daß die Häresie des freien Geistes nicht auch in die Sphären der ansässigen Beginen gedrungen war. A L V A R U S P E L A G I U S schreibt, daß sich die Häretiker unter dem Deckmantel der Religion auch bei wohlhabenden Bürgern und besonders bei Witwen einschlichen, denen sie ihre Lehre vortrugen. 160 Die Ansprechbarkeit besonders der frommen Frauen ergab sich aus deren mystischem Gedankengut, wie wir noch sehen werden. Aber damit sind diese Schichten noch nicht mit dem sozialen Kern der Häresie zu identifizieren. Die freigeistige Ideologie drang hier nur vorübergehend ein und faßte keinen festen Fuß. Auf der anderen Seite stießen natürlich auch Einzelne aus den Beginen- und Begardenhäusern zur Sekte. G. Ä S E N hat vermutet, daß der 1310 im Konvent erwähnte Begardenpriester ,,Gerardus dictus Jhesus" mit dem 1325 bei einer libertinistischen Ausschweifung erwähnten J E S U S identisch sein könnte. 181 Desgleichen war bekanntlich J O H A N N VON B R Ü N N , ehe er zur Freigeisterei stieß, Mitglied eines Kölner Begardenkonvents. 162 Hierzu gehört auch die Bemerkung des Straßburger Bischofs von 1317, wonach auch verheiratete Leute von der Häresie infiziert werden; zumindest glaubt McDonnell darin einen Übergang der Ketzerei zu den Kreisen zu sehen, die nicht von Haus aus bettelten. 163 1334 wurden zu Straßburg Beginen aus einem Konvent ausgeschlossen, weil sie zu „freiwilliger Armut" übergehen wollten. 164 Von ähnlichen Erwägungen waren sicher auch die strengen Vorschriften in den flandrischen Begardengemeinschaften diktiert, die den Insassen z. B. nur in Ausnahmefällen gestatteten, den Konvent zu verlassen. 165 Begarden, die dem Verbot zuwiderhandelten, verloren alle ihre Rechte und ihr Eigentum und durften die Begardenkleidung nicht mehr tragen. 166 I n diese Rubrik gehört auch die Erwähnung der „Annales Colmarienses Majores" aus dem Jahre 1282, wonach ein Kleriker bekannte, daß er von einer „inclusa" häretische Ideen gelernt hätte. 167 Diese Beispiele zeigen die fließenden Grenzen der Anhängerschaft der freigeistigen Häresie. Sie ändern aber nichts am Charakter der sozialen Basis. Abgesehen davon, daß wir bei den eben erwähnten Beispielen zum größten Teil nichts über deren soziale Herkunft wissen, wird sich kaum eine Häresie oder über160 161 162 163 164
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Zitiert nach JUNDT, A., Histoire du panthéisme populaire au Moyen Age et au seizième siècle, Paris 1875, S. 100. ASEN, J., Begarden, S. 169. Über die Ereignisse 1325 siehe unter S. 56f. MCDONNELL, E . W . , a. a. O., S. 4 9 8 f f . MCDONNELL, a. a. O., S. 5 2 5 . PHILLIPS, D . , a. a. O., S. 2 1 1 .
CALLAEY, F., Beggards des Pays-Bas, S. 441. Das wurde z. B. für den Begardenkonvent von Mecheln (1286) beschlossen. VANNERTTS, J., Documents concernant les Bogards de Malines (1284—1538), Bulletin de la commission royale d'histoire, Brüssel 1911, S. 216. M G S S , X V I I , S. 2 1 0 .
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haupt eine soziale Bewegung nur auf Angehörige einer Klasse bzw. Klassengruppe stützen, sondern andere Schichten mit beeinflussen bzw. Teile davon zu sich herüberziehen. 168 Diese Tendenzen scheinen auch eine Ursache dafür gewesen zu sein, daß das Konzil von Vienne zunächst nicht genügend zwischen ansässigen und fluktuierenden Beginen und Begarden unterschied und daß auch in den verschiedenen Diözesen das Verhältnis des Klerus zur semireligiosen Bewegung nicht eindeutig war. Aber gerade die kurz darauf folgende Präzisierung, die Konzentration auf die Fluktuierenden beweist, daß der Kern der Häretiker nicht bei den ansässigen Semireligiosen zu suchen war, sondern daß es sich hier lediglich um Einzelfälle handelte. H. LEY hat diesen Übergängen entschieden zuviel Bedeutung beigemessen und ist deshalb zu falschen Schlußfolgerungen gekommen, obwohl er die soziale Basis der freigeistigen Häresie in den fluktuierenden Schichten in Stadt und Land und die fluktuierenden Beginen und Begarden als die Hauptvertreter dieser Ideologie richtig erkannt hat. Er trennt nämlich nicht genügend zwischen ansässigen und fluktuierenden Beginen und Begarden als von vornherein verschiedenartigen sozialen Inhalten. Für ihn ist vielmehr der Übergang der Semireligiosen zur Häresie ein bewußtseinsmäßiger Entwicklungsprozeß, der dazu geführt haben soll, daß sich die städtischen Gemeinschaften weitgehend auflösten und ihre Mitglieder zur heterodoxen Propaganda in andere Städte und auf das Land entließen. 169 Aber abgesehen davon, daß zumindest bis in die erste Hälfte des 14. J h . kaum derartige Auflösungen bekannt sind, ist der individuelle Übergang von ansässigen Semireligiosen zur Häresie nicht das Typische der sozialreligiösen Bewegung; sondern die Hauptträger waren von vornherein Fluktuierende. Das wird bestätigt, wenn man unter diesem Gesichtspunkt die von ihnen vertretene Ketzerei, die freigeistige Häresie, betrachtet. 168
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Dazu gehört z. B. die Begine BLOEMARDINNE aus Brüssel (1336 gest.), die libertinistische Ansichten vertrat und wahrscheinlich mit einer Frau identisch war, die in Brüssel mehrere Häuser besaß. Vgl. MCDONNELL, E. W., a. a. O., S. 492, wo die weitere Literatur angegeben ist. LEY, H., Studien zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, Berlin 1957, S. 348 und 351. LEY stützt sich bei dieser Einschätzung wahrscheinlich auf K. KATJTSKY, der ebenfalls unter den Begarden einen radikalen und einen gemäßigten Flügel unterscheidet, ohne dafür soziale Ursachen herauszustellen (Vorläufer des neueren Sozialismus, Bd. 1: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter, Berlin 1 9 4 7 , S. 2 3 3 ff.).
IV. D I E HÄRESIE DES F R E I E N GEISTES: IDEOLOGIE D E R P L E B E J I S C H E N SCHICHTEN IN R E L I G I Ö S E R FORM Die freigeistige Häresie reicht in ihren Anfängen bis zum Beginn des 13. J h . zurück und war zu dieser Zeit bereits Sektenideologie. Allerdings beschränkte sie sich hier noch, nach den überlieferten Quellen zu urteilen, auf einen relativ kleinen Kreis. 170 Die Verbindung von häretischer Ideologie und untersten Schichten zur Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist verlief allmählich, wie wir an Hand der Entwicklung der fluktuierenden Beginen und Begarden zur Häresie bereits feststellen konnten. Etwa um 1300 war dieser Prozeß so weit abgeschlossen, daß die Sekte eine wirkliche soziale Bedeutung erlangt hatte, daß der erste Höhepunkt in. der Geschichte der freigeistigen Häresie erreicht war. Die untersten Schichten nahmen die Ideologie an, weil sie ihren Interessen, ihrer tatsächlichen Lebensweise entsprach, natürlich im Rahmen dessen, wie das für religiöses Gedankengut überhaupt möglich ist. Wenn daher jetzt ein Überblick über die freigeistige Häresie gegeben wird, so sollen vor allem die Quellen herangezogen werden, die in diese Periode fallen. 171 170
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Zur Entwicklung der Sektenideologie von ihren Anfängen bis zur zweiten Hälfte des 13. Jh. vgl. unten S. 85 ff. Es kommen zwei Gruppen von Quellen in Frage, a) Die zusammenfassenden Darlegungen über die freigeistige Häresie. Hierzu gehören: Die Bulle „Ad nostrum", die auf dem Konzil von Vienne 1311 beschlossen und 1317 veröffentlicht wurde (FREDERICQ, P., a. a. O., I, S. 168f.); der Bericht des Erzbischofs von Köln, HEINRICH VON VIRNEBURG, a u s d e m J a h r e 1307 (ebd. I , S. 151 ff.); der B e r i c h t d e s
Bischofs von Straßburg, J O H A N N VON D Ü R B H E I M , von 1317 und zwar sowohl nach der von MOSHEIM, L., überlieferten Fassung (a. a. O., S. 255ff.), die auch im Urkundenbuch der Stadt Straßburg Bd. II, S. 310f. zu finden ist, als auch nach der von D Ö L L I N G E R , I . , (a. a. O . , II, S. 389ff.). Die Mosheimsche Fassung ist zwar ausführlicher, aber die von D Ö L L I N G E R enthält einige wichtige Ergänzungen, b) Inquisitionsprotokolle bzw. Berichte, die sich nur jeweils mit dem Auftreten einer bestimmten Freigeisterei beschäftigen. Davon wurden verarbeitet: Der Inquisitionsbericht von A L B E R T U S M A G N U S über die Ketzerei im Rieß 1270 (zur Datierung vgl. GRUNDMANN, H., Bewegungen, S. 404ff.), und zwar wiederum nach zwei Fassungen, e i n m a l DÖLLINGER, I . , a. a. O., I I , S. 3 9 5 ff. u n d z u m a n d e r e n v o n PREGER, W . ,
Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter, I, Leipzig 1874, S. 461 ff., Nr. 1 bis 47
Dabei k o m m t es nicht in erster Linie auf Differenzen oder N u a n c e n zwischen den einzelnen Überlieferungen an, sondern auf die wesentlichen Bestandteile der Lehre, u n d zwar vornehmlich unter d e m Gesichtspunkt der Widerspiegelung der sozialökonomischen Verhältnisse des Sektenkörpers in der Sektenideologie. Ausgangspunkt und Kernstück der Häresie ist der vergottete Mensch. I n den vielfältigsten Formen betonen die Häretiker immer wieder ihre Gleichheit mit Gott. Sie besitzen alle göttliche Vollkommenheit u n d sind daher selbst Gott. 1 7 2 Selbstverständlich übertreffen sie auch Christus u n d Maria an Göttlichkeit. 1 7 3 Hinter diesen Ansichten verbirgt sich eine pantheistische Grundkonzeption, denn sie sagen: Alle Kreatur ist göttlich; alles was ist, ist göttlich. 1 7 4 Allerdings sind die pantheistischen Züge nicht immer eindeutig. Die aus der Grundkonzeption resultierenden Konsequenzen sind den Häretikern in den
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1 2 6 . (Im folgenden werden bei Quellenangaben nach P R E G E R , W . , nur die Nummern genannt). Ergänzungen dazu bei H A U P T , H., Beiträge, S. 556ff. Die Überlieferung über das Auftauchen der Ketzerei im Rieß wurde mit verwandt, weil hier die wesentlichen Bestandteile der Lehre vorhanden sind, obwohl nicht außer acht gelassen werden darf, daß die Freigeisterei sich im Rieß in einem Milieu entfaltete, das mit der eigentlichen Sektenbasis nichts zu tun hatte. Die sich daraus ergebenden Besonderheiten können aus methodischen Gründen hier nicht mit behandelt werden. Vgl. dazu unten S. 95 ff. Die Auswahl der Lehrsätze aus dem Rieß erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Übereinstimmung mit den anderen Quellen und außerdem in Anlehnung an G R U N D M A N N , H., Bewegungen, S. 4 1 2 F F . Daneben wird auch die Ketzerei, die sich mit dem Namen W I L H E L M C O R N E L I U S verbindet und um 1 2 5 0 in Antwerpen auftritt, in die Betrachtungen mit eingeschlossen, da sie, wie sich noch zeigen wird, der freigeistigen Häresie zuzurechnen ist. Infolge des Umfangs der Quellen kann aus der Zahl der Belege nur eine Auswahl gegeben werden. Auf Literaturangaben wird verzichtet, soweit sie keine wesentlichen Einschätzungen bringen. Bischof J O H A N N VON D Ü R B H E I M bringt das sehr klar zum Ausdruck: „Primus est quod aliqui dicunt, se esse vel aliquos ex istis perfectos et sie unitos Deo, quod sint realiter et veraciter ipse Deus . . . " und weiter unten „Dicunt etiam quod nullo indigent nec Deo nec Deitate, et breviter quod sint perfecti sicut Deus in omnibus" ( D Ö L L I N G E R , I., a. a. O., II, S. 389f.); Darüber hinaus wird die Göttlichkeit in den vielfältigsten Anwendungen betont. Besonders zahlreich sind die Formulierungen über die Vergottung bei den Berichten A L B E R T U S M A G N U S aus dem Rieß, wobei allerdings zu beachten ist, daß hier einige Besonderheiten auftreten (Vgl. unten S. 97). Die Ketzer im Rieß lehrten z. B. ,,. . . quod homo possit in devotione praecellere beatam virginem . . .", „Dicere, quod homo . . . transcendat Filium", „Dicere quod parvumsitbeatae Virginiameritum eo quod homo super Deum possit ascendere . . . " , „Dicere Beatam Virginem digne inclinari homini. . . " P R E G E R , W . , a. a. 0 . , I , Nr. 3 1 , 58, 70, 93. Für Straßburg 1317 heißt es: „. . . dicunt enim aliqui quod sunt realiter et naturaliter ipse Christus; dicunt etiam quod ipsi meritum Christi et gloriosae virginis . . . transcendent." ( D Ö L L I N G E R , I., II, S. 3 9 1 . ) „Dicere quod omnis creatura sit Deus . . . " , P R E G E R , W . , a. a. O . , I , Nr. 7 6 f ü r das Rieß. . . quod Deus sie est in omnibus, quod omnia sunt Deus, et sie quod non est Deus, nihil est." D Ö L L I N G E R , I . , a. a. 0 . , S. 3 9 0 ; „ . . . quod Deus sit formaliter omne, quod est",-MOSHEIM, a. a. O., S. 156 für Straßburg 1317.
meisten Fällen nicht bewußt geworden. Das beweist eine Gegenüberstellung der einzelnen Aussagen über den Prozeß der Gottwerdung. Die theoretisch einzig richtige Erklärung, daß der Mensch von Natur aus göttlich sei, ist zwar vorhanden 175 , aber durchaus nicht alleinherrschend. Daneben tauchen Behauptungen auf, wonach der Mensch durch Willensentschluß Gott wird 176 oder Gott werden könne.177 Damit wird der pantheistische Boden bereits verlassen, denn die Häretiker betonen ausdrücklich, was sie tun müssen, bzw. welcher Dinge sie sich enthalten müssen, um göttlich werden zu können. 178 Die Unklarheiten über die pantheistische Grundkonzeption erklären sich nicht allein aus dem niedrigen Bildungsniveau der Häretiker und sind nicht in erster Linie durch mystische Einflüsse verursacht worden, sondern liegen in dem Ziel begründet, das mit der Vergottung erreicht werden sollte. Es ging den Freigeistern nicht um allgemeine abstrakte Diskussionen über das göttliche Wesen aller Dinge. Im Mittelpunkt stand die Vergottung des Menschen, und zwar nicht eine Vergottung schlechthin, sondern mit den Merkmalen der Sündlosigkeit ausgestattet. Mit der erreichten Vergottung können die Häretiker nicht mehr sündig werden, d. h. ihnen ist alles das gestattet, was bisher durch Gesetz und Gewohnheit verboten war. Diese göttliche Sündlosigkeit ist der eigentliche Kern der freigeistigen Häresie. 179 Und über das Problem der Sündlosigkeit hatten die Häretiker, wie wir noch sehen werden, sehr klare Vorstellungen. In diesem zentralen Anliegen entsprach die freigeistige Häresie weitgehend den Interessen der besitzlosen, fluktuierenden Schichten, die durch nichts an die bestehende Gesellschaftsordnung gebunden waren und keinerlei Rechte be175
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„Item credunt, se esse Deum per naturam sine distinctione"; „Item quod sint in eis omnes perfectiones divinae se esse aeternos et in aeternitate." „. . . quod quilibet homo perfectus sit Christus per naturam." Straßburg 1317. Mosheim, L., a. a. O., S. 256. „Quod homo secundum voluntatem fiat Deus . . ."; „Dicere quod homo admittur ad amplexum divinitatis et tune detur potestas faciendi quod vult. . . " P r e g e r , W., a. a. O., Nr. 36, 72. Der zweite Satz scheint stark von der Mystik beeinflußt zu sein. ,,.. .quod homo ad talem statum potest pervenire quod Deus in ipso omnia operetur"; ebd., Nr. 15. Weiter wird gesagt, daß der Häretiker sündlos werden kann, die Heiligen an Vollkommenheit übertreffen kann usw. ,,.. . quod homines impediant et retardent perfeccionem et bonitatem per jejunia, flagellationem, disciplinas vigilas et alia similia." Ebd. Nr. 110. Auch diese Formulierungen tauchen inhaltlich mehrmals auf. Mit dem Problem der Sündlosigkeit beschäftigen sich in irgendeiner Form die meisten Sätze. Es kann hier nur eine kleine Auswahl gegeben werden: „Quod homo unitus Deo peccare non possit", „dicere quod homo in via sie proficere possit ut impeccabilis fiat" wurde im Rieß behauptet. Ebd. Nr. 24, 94; „Ulterius ex hac perfectione unionis aliquorum cum Deo dicunt aliqui quod sint impeccabilis." Für Straßburg 1317, D ö l l i n g e r , I., a. a. O., II, S. 390. Das Konzil von Vienne hat diesen Schwerpunkt der Lehre sehr richtig erkannt, denn die Bulle „Ad nostrum" stellte als erstes fest: ,,. . . quod homo in vita presenti tantum et talem perfectionis gradum potest acquirere quod reddetur penitus impeccabilis et amplius in gratia proficere non valebit." Fredericq, P., a. a. O., I, S. 168.
Mittelalterliches Plebejertum
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saßen. Mit der göttlichen Sündlosigkeit eigneten sie sich alle diese Rechte an und stiegen so von der tiefsten Rechtlosigkeit zur höchsten Göttlichkeit.180 Ein bewußtes Absetzen von der übrigen Gesellschaft, ein religiös verbrämtes Erkennen der eigenen Klassenposition erfolgte mit der Vergottung nicht. Jeder, der sich zur häretischen Ideologie bekannte, konnte Gott und damit sündlos werden. Der Vergottungsprozeß blieb letzten Endes, trotz der pantheistischen Grundkonzeption, ein individueller Akt. Wesentlich progressiver war dagegen die mit dem Namen W I L H E L M CORNELEUS, einem Antwerpener Kanoniker, verbundene Ketzerei, die um 1250 in Antwerpen kursierte. Sie wurde bisher kaum in die Freigeisterei eingeordnet, wohl vor allem deshalb nicht, weil absolut pantheistische Lehrsätze fehlen.181 Das Zentralproblem der häretischen Beginen und Begarden klingt aber auch hier an, allerdings unter anderen, klar und eindeutig klassenbezogenen Gesichtspunkten. ,,... Alle Sünde wird durch die Armut verzehrt und vor den Augen Gottes annulliert werden"182 ist der Grundsatz der ganzen Ketzerei. In erstaunlicher Einsicht in die realen Verhältnisse wird die Gesellschaft in Reiche und Arme eingeteilt und die Ideologie danach aufgebaut. Die Armen können nicht sündigen und nicht verdammt werden, die Reichen dagegen sind von vornherein verdammungswürdig und können nicht erlöst werden.183 So entsteht auch hier das Bild des sündlosen Häretikers, aber nicht erreichbar durch den Weg der persönlichen Vergottung, sondern vorausbestimmt durch die Stellung des Betreffenden in der Gesellschaft. Damit verläßt die Antwerpener Ketzerei den Sektenrahmen und erhält ausgesprochenen Klassencharakter. Wir werden noch sehen, daß dieser progressive Zug bei fast allen Einzelsätzen wiederkehrt. Diese Besonderheiten sind einmal aus den in der Hafenstadt besonders entwickelten sozialen Gegensätzen zu erklären, wodurch sich die Fronten für die Häretiker klar abzeichnen184, zum anderen haben aber wahrieo F ü r Straßburg ist überliefert: „ I t e m dicunt se ipsos esse regnum coelorum, et hoc item dicunt de D e o " . DÖLLINGER, I., a. a. O., I I , S. 390. Darin kommt die Verlagerung des Jenseits in das Diesseits klar zum Ausdruck.
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D E MOREATT, E., Historie de l'église en Belgique, I I I : L'église féodale (1122—1378), Brüssel 1948, sucht vor allem die rückwärtigen Bindeglieder und sieht in WILHELM CORNELIUS einen Erben TANCHELMS, glaubt aber auch Beeinflussung durch die katharischen Gruppen in Belgien/Nordfrankreich während der ersten Hälfte des 13. Jh. annehmen zu müssen (S. 59FIF.) ; PRIMS, F., a . a . O . , II/3, rechnet die Ketzerei überhaupt nicht zur Häresie im engeren Sinne, weil vorwiegend Fragen der Moral und nicht des Glaubens im Vordergrund ihrer Lehre stehen (S. 64FF.). Eine ähnliche Ansicht vertritt MCDONNELL, E . W . , a. a. O., S. 488 ff. „Dicebat autem sic rubiginem igne, sie omne peccatum paupertate consumi et ante Dei occulos annullari." FREDERICQ, P . , a. a. O., I , S. 120. „ I t e m quod nullus dives potest salvari et quod omnis dives est avarus. Item quod nullus pauper potest dampnari, sed omnes salvabuntur." E b d . I , S. 119. Zur sozialökonomischen Entwicklung Antwerpens und den daraus resultierenden Gegensätzen siehe PRIMS, F., a. a. O., II/2, bes. S. 36f. und II/3, S. 60FF. Einen knappen Überblick über den ökonomischen Aufschwung Antwerpens im 13. Jh. gibt VAN HOUTTE, J., a. a. O., S. 160FF.
scheinlich die Anhänger bei der Herausbildung der Doktrin besonders aktiv mitgewirkt. F . P B I M S hat darauf aufmerksam gemacht, daß ein ganzer Teil der extremen Lehren von W I L H E L M S Anhängern hinzugefügt worden sein muß, da die Ketzerei erst nach dem Tode des Antwerpener Kanonikers entdeckt und untersucht wurde. 185 Damit wäre ein lehrreiches Beispiel für die progressive Beeinflussung einer häretischen Ideologie durch die breite Masse der Anhängerschaft gegeben. Das Zentralthema der freigeistigen Häresie war jedoch insgesamt nicht Gegenstand kontemplativer Betrachtungen, analog etwa den Diskussionen in den mystischen Frauenkreisen über die Vereinigung der Seele mit Gott, sondern beinhaltete sehr reale Schlußfolgerungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse des 13. und 14. Jh. betrafen. Den Schwerpunkt ihres Angriffes richteten sie gegen die katholische Kirche, die sie faktisch in ihrer Gesamtheit verwarfen. Da sie selbst göttlich waren, brauchten sie den kirchlichen Heilsapparat nicht. Sie lehnten das Fasten und die Gebete ab.186 Sehr oft wurde von ihnen die Nutzlosigkeit der Totenfürbitte betont 187 , denn es gibt kein Fegefeuer und kein Jüngstes Gericht 188 , keine Engel und keine Dämonen; dies seien vielmehr nur Personifizierungen von Sünden und Tugenden 189 , über die sie sowieso erhaben seien, denn sie besaßen ja die Göttlichkeit und konnten nicht sündigen. Selbstverständlich benötigten sie auch keine Sakramente, wobei sie vor allem immer wieder das Altarssakrament erwähnten. Die Eucharistie lehnten sie genauso ab wie die oben erwähnte besondere göttliche Stellung Christus'. Sie sind ebenso göttlich wie er und brauchen sich deshalb nicht vor der Hostie zu verneigen, deren heiligen Charakter sie nicht anerkannten. 190 Das Bußsakrament wurde von ihnen zwar kaum er186 186
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A. a. O., II/3, S. 56f. „Quod homo unitus Deo non debet jejunare vel orare . . ."; ,,non teneatur . . . Dei diem peragere in jejuniorum observanciis . . . " Rieß, P R E G E R , W . , a. a. O . , Nr. 4 4 und 110; „quod jejunare non oportet hominem nec orare . . .", Konzil von Yienne, FREDERICQ, P . , a . a . O . , I , S . 1 6 8 .
,,Quod de morte patris et matris non dolendum nec pro animabus eorum orandum." Rieß, P R E G E R , W . , a. a. O . , Nr. 6 8 ; „quod pro illia qui sunt in purgatio non sit orandum", Straßburg 1 3 1 7 , MOSHEIM, L . , a. a. O . , S. 2 5 8 . „Quod autem dicitur purgatorium et infernus non esse", Rieß, DÖLLINGER, I . , a. a. O., S. 398; „quod iudicium extremum non sit futurum, sed quod tunc est iudieium hominis solum, cum moritur. Item quod non est infernus, nec purgatorium." Straßburg 1317, MOSHEIM, L., a. a. 0 , , S. 257. „Quod non sint angeli nisi virtutes hominum. Quod non sint Daemones nisi vitia et peccate hominum". Straßburg 1 3 1 7 , DÖLLINGER, I . , a. a. O . , S. 3 9 3 . Das gleiche für den Rieß, P R E G E R , W . , a. a. O . , I , Nr. 4 5 . Damit sind die Sünden und Tugenden der nicht vergotteten Menschen gemeint. „Item non exhibent reverentiam corpore Christi, avertendo se ab hostia consecrata, et blasphemando dicunt, quod sapiat eis, sicut stercus in ore." Straßburg 1317, MOSHEIM, L., a. a. O . , S. 2 5 6 . Im übrigen ist der Leib Christi sowieso in jedem Brot. Ebd. S. 257. Das ist keine Anerkennung einer besonderen Stellung Christi,
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wähnt, aber aus der häufigen Ablehnung der Beichte geht hervor, daß sie auch das negierten. 191 Da sie sich für göttlich hielten, lag ihnen auch an einer Heiligenverehrung nichts. 192 Sie richteten sich nicht nach den zehn Geboten und erklärten falsches Schwören für erlaubt. 193 Die Bibel hatte für sie nur begrenzten Wert, denn sie hatten bessere Bücher, bzw. sollten mehr dem inneren Instinkt als den Evangelien folgen. 194 Die Angriffe wurden mit der Feststellung gekrönt, daß der gesamte Klerus, die Kirche mit ihren Statuten und Gesetzen überflüssig seien, was nicht nur in sachlichen Formulierungen seinen Niederschlag findet195, sondern auch in der drastischen Bemerkung, daß die gesamte katholische Kirche eine Albernheit sei.196 Diese Zusammenstellung könnte durch manches Beispiel noch erweitert, aber nicht wesentlich verändert werden. Der Angriff selbst war unsystematisch. Die Ketzerei läuft zwar im Wesen auf eine Gesamtablehnung der katholischen Kirche hinaus, im konkreten konzentrierten sich die Häretiker aber auf einige wenige Schwerpunkte, deren Auswahl wahrscheinlich wesentlich durch die Häufigkeit des Auftretens und den lästigen Charakter, den einzelne Bestandteile im Leben der Gläubigen hatten, bestimmt wurde. Dazu gehören zweifellos Beichte, Fasten und Gebete sowie die Totenfürbitte mit den damit verbundenen materiellen Verpflichtungen. 197 Etwas Eigenes hatte die freigeistige Häresie der katholischen Kirche nicht entgegenzusetzen, wenn man von den noch zu behandelnden primitiven kultischen Handlungen absieht. Ihr Auftreten gegen den Katholizismus erscheint vielsondern entspricht dem pantheistischen Grundzug. Es wird oft betont, daß es keine Auferstehung Christi gegeben habe. 191
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„dicere quod confessio impedit perfectionem . . ." Rieß, P R E G E R , W . , a. a. O . , Nr. 79; „quod quidam eorum non tenentur quocunque tempore confiteri", Straßburg 1 3 1 7 , DÖLLINQER, I . , a. a. O . , I I , S. 3 9 1 . Daneben tauchen auch abgeschwächte Formulierungen auf, nach denen zwar gebeichtet werden darf, aber nur mit den Worten; ich habe gesündigt. Z. B. für den Rieß, ebd. S. 402. „Dicere aliquem ad hoc devenire posse quod Sanctos non opporteat reveriri." Rieß, P R E G E R , W . , a. a. 0 . , Nr. 2 2 ; „Item quod communiter aliqui inter eos perfectiores sunt S. Paulo . . ." Straßburg, MOSHEIM, L . , a. a. O . , S. 2 5 8 . „Dicere hominem liberum esse a X praeceptis . . ." „Dicere bono homini non esse peccatum pejerare et mentiri . . ." Rieß, P R E G E R , W., a. a. O., Nr. 82 und 69. „Errando contra Evangelia dicunt, se credere, multa ibi esse poetica, quae non sunt vera, sicut est illud: Yenite benedicti cet. Item quod magis hominem debent credere humanis conceptibus, qui procedunt ex corde, quam doctrinae Evangelicae, Item dicunt aliques ex eis posse meliores libros reparare omnibus libris catholicae fidei, si fuerunt destructi." Straßburg, MOSHEIM, L., a. a. O., S. 258. Für Straßburg: „dicunt aliqui non debent obedire praelatis ecclesiae nec statutis eorundem . . . " DÖLLINGER, I . , a. a. O . , S. 3 9 1 . , , . . . se credere, ecclesiam Catholicam, sive Christianitatem fatuam esse, vel fatuitatem", MOSHEIM, S. 257. H O R N , J. H., a. a. O., hat darauf hingewiesen, daß sich im Mittelalter die Aktionen gegen die Kirche immer stärker gegen die Dinge richteten, die am meisten die kirchliche Herrschaft demonstrieren und am häufigsten auftreten (S. 92f.).
mehr in erster Linie als ein Protest und rüttelt an der Unantastbarkeit dieser überragenden geistigen und materiellen Macht. Man würde dem Wesen dieser Ketzerei nicht gerecht werden, wollte man diesen negierenden Charakter zurückdrängen, etwa zugunsten einer besonderen Betonung des Mystischen, einem Motiv, das die Ablehnung aus einer Verinnerlichung, einem Erhabensein über das Heilsbedürfnis des gewöhnlichen Gläubigen erklärt, wie das bei ähnlichen Erscheinungen innerhalb mystischer Kreise allgemein üblich ist. Das wird besonders deutlich durch ihre Stellung zur gesamten Gesellschaftsordnung bewiesen. Die freigeistige Häresie beschränkt sich nicht auf den kirchlichen Bereich, sondern rüttelt an den Grundfesten der feudalen Gesellschaftsordnung in ihrer Gesamtheit. Die Häretiker brauchen sich keinem Gesetz unterwerfen 198 und keinem Herren Gehorsam zu leisten. 199 Sie rühren sogar am Allerheiligsten einer Klassengesellschaft, am Privateigentum, denn sie behaupten, daß alles allen gemeinsam sei.200 Die Betonung des gemeinsamen Eigentums bezieht sich nicht nur auf die Sektenanhänger, sondern auf die gesamte Gesellschaft. Die Ablehnung des Privateigentums darf aber nicht so verstanden werden, daß hier etwa utopische Elemente einer klassenlosen Gesellschaftsordnung zum Ausdruck gekommen wären. Vielmehr realisierte sich diese These in privaten Einzelaktionen und tauchte neben der Auffassung auf, daß ihnen der Diebstahl erlaubt sei, daß es dem Knecht oder der Magd gestattet sei, sich das Eigentum der Herrn anzueignen. 201 H. LEY hat neuerdings versucht, den Diebstahl als Bestandteil der Sektenlehre abzulehnen und als Verleumdung der Inquisitoren abzutun. 202 Diese Ansicht ist falsch, da die entsprechenden Quellenbelege nicht in Abhängigkeit voneinander stehen und es auf Grund der Gesamtheit der Lehre keinen Anlaß gibt, diese Sätze anzuzweifeln. Die Ketzer hatten nicht nur zur Kirche und ihrer Ideologie ein völlig negatives Verhältnis, sondern lehnten auch die bestehende Gesellschaftsordnung ab. Diese Ablehnung erfolgte aber nicht in einer asketischen, der materiellen Welt völlig entsagenden Weise, sondern so, daß sie sich über alle existierenden Schranken der Gesellschaftsordnung hinwegsetzen konnten, daß ihnen alles erlaubt war. Was lag dabei näher als der Angriff auf das, was sie selbst nicht besaßen, auf die materiellen Güter. Man darf nicht vergessen, daß sich die Sektenanhänger aus den 198 199
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„Qui Spiritu Dei aguntur, non sunt sub lege." Köln 1307, FREDERICQ, P., I, S. 153. Das prangert sogar das Konzil von Vienne an: ,,. . . in praedicto gradu perfectionis et spiritu libertatis, non sunt humanae subjecti obedientie neo ad aliqua precepta ecclessie obligantur . . ." Ebd., I, S. 168. ,,. . . se credere, omnia esse communia." Straßburg 1 3 1 7 , M O S H E I M , L . , a. a. O . , S. 2 5 7 . „Dicere vel servum posse dare res Domini sui sine licentia", Rieß, P R E G E R , W . , a. a. 0 . , Nr. 92. „Item quod licite et absque peccato et timore possint removere rem alienam invito Domino." Rieß, ebd., Nr. 116. „Item dicunt . . . furtum eis licitum esse", Straßburg 1 3 1 7 , M O S H E I M , L . , a. a. O . , S. 2 5 7 . LEY, H., a. a. O., S. 354. Nähere Begründungen dafür gibt er nicht.
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untersten sozialen Schichten, aus den Fluktuierenden in Stadt und Land rekrutierten. Für sie war der Bettel Quelle des Lebensunterhaltes, weil sie als soziale Gruppe keine anderen Existenzmöglichkeiten besaßen. Der Schritt zum Diebstahl ist bei dieser materiellen Lebensgrundlage nicht groß. Gerade hier zeigt sich doch sehr deutlich die Rolle der Häresie als ideologische Begründung für das Leben einer bestimmten sozialen Schicht. Die tatsächliche Lebensweise der plebejischen Schichten wird ideologisch gerechtfertigt. Das gleiche ist bei den Thesen über die Ablehnung der Arbeit zu beobachten. Die Häretiker behaupten, daß man nicht arbeiten dürfe, wenn man göttlichen Wesens sei, sondern wandern und von Almosen leben müsse. 203 Das ist nichts anderes als eine ideologische Begründung tatsächlich bestehender Zustände unter den Anhängern der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist. Bei diesem Bestandteil der häretischen Lehre handelt es sich nicht um eine nebensächliche Erscheinung, sondern darin verkörpert sich, wie wir noch sehen werden, eines der Hauptanliegen der freigeistigen Häresie. So nimmt der mit freigeistigen Lehrsätzen nicht gerade überladene Bericht des Erzbischofs von Köln sehr ausführlich gegen den Bettel und seine ideologische Verbrämung Stellung. 204 Noch klarer kommt der Klassencharakter bei W I L H E L M C O R N E L I U S zum Ausdruck. Wir hatten bereits den Ausgangspunkt der Häresie — den Gegensatz zwischen arm und reich — festgestellt. Das zieht sich kontinuierlich durch alle Thesen hindurch, die sich mit dem Zustand der Gesellschaftsordnung befassen. Klar und eindeutig wird gesagt: „Es ist erlaubt, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben." 205 Charakteristisch für die Antwerpener Ketzer ist nicht nur die bewußte Klassenbezogenheit ihrer Häresie, sondern auch das betont weltliche Schwergewicht. Unter diesem Gesichtspunkt steht die völlige Neuwertung des Sündenbegriffes. Nur noch Neid, Geiz und unbedachte Verschwendungssucht sind Todsünden. 206 Diese Neunormung hat ein bewußtes Absetzen von der herrschenden Klasse zum Inhalt. Es ist Todsünde, wenn man sich von Reichen zum Essen einladen läßt. 207 Weiter heißt es, daß kein Reicher vom 203
,,. . . et hominem fortum, et si non religioaum, non obligari ad labores manuales pro necessantibus suis, sed eum libere posse recipere eleemosyam pauperum." Straßburg 1 3 1 7 , MOSHEIM, L . , a. a. O . , S. 2 5 7 . „pauperum" ist hier offensichtlich im Gegensatz zu „hominem fortem" für krank, gebrechlich gebraucht und nicht für arm im sozialen Sinne. Es dürfte nicht notwendig sein, hier noch einmal darauf einzugehen, daß es sich bei den Häretikern nicht um freiwilligen, sondern um ökonomisch erzwungenen Bettel handelt. Vgl. auch die Überlieferungen nach
204
FREDERICQ, P . , a . a . O . , I , S . 1 5 1 f .
DÖLLINGER, J . , a . a . O . , I I , S . 3 9 2 . 205 206
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„Item quod licitum est auferre divitibus et dare pauperibus." Ebd. a. a. 0., I, S. 119. „Item quod non sunt nisi tria peccata mortalia: invida, avaricia et prodigalitas indiscreta . . .", dazu kommt noch „. . . cognoscere uxorem suam impregnatam." Ebd. S. 119. „Item quod invitans divitem ad convivium peccat mortaliter et invitatus." Ebd.
Überfluß Almosen geben könne 208, daß man nicht erlöst werden könne, wenn man zwei Kleider der gleichen Art besitze.209 Es ist interessant, daß die Thesen, die in den anderen Quellen auf den bettelnden Charakter der Häretiker hinweisen, hier fehlen. Es wird sich in Antwerpen vorwiegend um die untersten Schichten der Hafenstadt gehandelt haben, die mit den einfachsten Arbeiten beschäftigt waren und daher den Gegensatz zu den reichen Kaufleuten und Patriziern sehr stark empfunden haben, ohne daß sie deshalb zum konstanten Umherschweifen übergingen. Ein besonderes Problem der Sektenideologie ist der sowohl theoretisch als auch praktisch vorhandene libertinistische Zug. Er ist deswegen wichtig, weil sich hier am ehesten die Möglichkeit bietet, über die negierende Grundtendenz hinweg Einblick in das innere Leben der Sekte zu erhalten, ihre Zielsetzung zumindest in Andeutungen zu erfassen. H. LEY hat die den Häretikern vorgeworfenen sexuellen Ausschweifungen ohne jeden Kommentar als Verleumdungen abgetan 210 , ein Unterfangen, das das Problem nicht löst, da die Quellenbelege zu häufig sind. „Dicere, quod concumbendo cum soluto non plus peccat quam admittendo matrimonaliter convictum. . ." heißt es bei der Häresie im Rieß.211 Das daraus hervorgegangene Kind ist ohne Makel.212 Weiter wird sogar festgestellt, daß dem mit Gott Verbundenen die „libido carnis" in jeder Form erlaubt sei.213 Für Köln 1307 ist festgehalten, daß einfache Hurerei keine Sünde sei.214 Das päpstliche Dekret von Vienne faßt diese Frage in folgendem Punkt zusammen: „Septimo, quod mulieris osculum, cum ad hoc natura non inclinet, est mortale peccatum; actus autem carnalis cum ad hoc natura inclinet, peccatum non est, maxime cum tentatur exercens.'' 215 Bei der Interpretation des libertinistischen Zuges hat bereits H. G R T T N D M A N N darauf verwiesen, daß er nicht aus der Sittenverderbnis dieser Zeit zu erklären ist, da man sich, um sündigen zu können, zu keiner Sekte zu bekennen brauchte, wie die Geschichte gerade des späteren Mittelalters beweise.216 Er stellt richtig die zentrale Frage der Häresie, den vollkommenen sündlosen Menschen in den Mittelpunkt. 217 Neuerdings hat sich E. W E R N E R in seiner weitgespannten 208 209 210
212 213 214 215 216 217
„Item quod nullus potest dare eleemosinam superfluo." Ebd. „Item quod nullus potest salvari cum duplici veste ejusdem generis." Ebd. LEY, H „ a. a. 0 . , S. 3 5 4 .
211
PREGER, W . , a. a. O . , I , N r . 5 3 .
„Dicere, quod puerum ex licito concubito pariens sine macula s i t . . ." Ebd. Nr. 54. „Item, quod unitus Deo audacter possit explere libidinem carnis per qualemcunque modum etiam retrorsum mutuoque sexu." Ebd. Nr. 106. „Item dicunt fallaciter mentientes, simplicem fornicationem non esse peccatum . . ." FREDERICQ, P . , a . a . O . , I , S . 1 5 3 .
Ebd. S. 169. GRUNDMANN, H., Religiöse Bewegungen, S. 370—373. „Für den geistigen Menschen des neuen Zeitalters, der die wahre Erkenntnis hat und dem der heilige Geist inkarniert ist, gilt deshalb auch eine neue Ethik, die nichts von Sünde nach dem Maßstab moralischer Normen und nichts von Buße und Reue weiß, die vor allem die bisher gültigen Gesetze der Gesellschaftsmoral außer Kraft setzt." Ebd. S. 371.
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Untersuchung — von der spätantiken Gnosis bis zu den Hussiten unter Einbeziehung der östlichen und der westlichen Häresien — eingehend mit diesem Fragenkomplex beschäftigt. An Hand eines umfangreichen Quellenmaterials weist er die Glaubwürdigkeit der libertinistischen Belege nach und kann sie aus dem Grundprinzip der gnostischen Häresien, der Eroskonzeption, erklären, wobei derLibertinismus eine Konsequenz dieser Geisteshaltung ist, der, von der Mystik beeinflußt, in seinem häretischen Inhalt die Absetzung von der offiziellen Ideologie und Praxis bedeutet. „Der Libertinismus ist das radikal zur Schau getragene Anderssein gegenüber der Welt und die drastische Bestätigung der Göttlichkeit der Sektenhäupter und -träger. Erst in der libertinistischen Konsequenz wird die volle Bedeutung des Bruches mit dem alten Äon der Gemeinde bewußt. Was der alten Generation als fürchterliche Blasphemie erscheinen mußte. . ., war dem Häretiker ein Zeichen für den Beginn einer neuen Ära, die Legitimation ihrer göttlichen Krafb." 218 Diese Problematik läßt sich auch an einer Quelle aus unserem Bericht nachweisen, die bisher von den Historikern wahrscheinlich wegen ihres ausgeprägten Libertinismus wenig ausgewertet wurde. Es handelt sich um den Bericht des W I L H E L M PROCURATOK, eines Mönches aus dem Kloster Egmond, über eine Begardengemeinschaft zu Köln aus dem Jahre 1 3 2 5 . 2 1 9 Die Begarden trafen sich mit den Frauen an einem unterirdischen Ort, den sie Paradies nannten.220 Ausgehend von einer kultartigen Handlung, bei der außer den den Sektenkreis leitenden Häretikern auch zwei Personen erwähnt werden, die als Jesus und Mutter Maria auftraten, entblößte man sich und gab sich sexuellen Ausschweifungen hin.221 Ähnliches schreibt J O H A N N , ein Zisterzienserabt aus dem Kloster von Victring am Wörthersee bei Klagenfurt (1348 gest.), für Köln 1 3 2 6 . 2 2 2 Er läßt den Kölner Begardenführer W A L T H E R D E N H O L L Ä N D E R als Zentralfigur erscheinen, der sich als Christus bezeichnete und eine Jungfrau als Maria ausgab. Die stattgefundenen Exzesse werden in der Quelle damit begründet, daß damit der paradiesische Zustand herbeigeführt würde, in dem die 218 W E B N E R , E . , D i e N a c h r i c h t e n , S. 1 0 9 . 219
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Wilhelmi chronicon monachi et procuratoris Egmondani, ed. bei A. Matthaeus, Veteris aevi Analecta T. I I (1783), S. 634—644, zitiert nach FREDERICQ, P., a. a. O., I I I , S. 175. „Isti (Begardi) enim eorum ibidem stultitiam praedicantes et matronas varias ad ipsorum ludibria contrahentes, sub terra quodam mirabile habitaculum fuerant, quod Paradysum vocabant." Ebd. „Quorum medio quidam ipsorum reputatione valentior, fuerat enim inter ceteros eloquentior, nititur surgere, in Jhesu suaeque matris Maria, ut aiebat, praesentia, erroris materiam propalare. Duo enim, ut per conceptione loquar, ibidem aderant, qui se Mariam et ejus filium asserebant. Dictus itaque nudus praedicans et omnes more innocentum ad nuditatem exhortans, vario errore tarn prima quam media nititur detegere, et conclusionem tenebris, extinctione candelarum videlicet, deturpare, ubi dum quilibet porcorum more suam nititur subjicere . . . " Ebd. Johannis Abbatis Victoriensis liber certarum historiarum, hrsg. von F . Schneider, MGSS in usum scholarum Bd. 36, T. I I , Leipzig 1910, S. 129/30.
Vorfahren gelebt hätten. 223 Die kultischen Handlungen sind hier noch unklarer zu erkennen. Auf der einen Seite wird behauptet, daß vorher gepredigt, eine Messe gelesen und die Elevation der Hostie vorgenommen worden wäre 224 , auf der andren Seite wird von den dort vertretenen häretischen Lehren berichtet, wonach die Häretiker die Geburt und die Leiden Christi nicht anerkannten. Außerdem sagten sie, die Ehe sei auch mit den nahestehenden Personen gestattet, und Fasten sei nicht notwendig.228 Die Glaubwürdigkeit beider Chronisten ist schwer zu überprüfen, da sie weitab vom Tatort lebten und die zu ihnen dringenden Darstellungen höchstwahrscheinlich sehr ausgeschmückt waren.226 Vor allem aber ließen sich die Chronisten von ihrem Klassenstandpunkt leiten und streuten die Verleumdungen bereitwillig aus. Trotz aller Unsicherheiten kann ich jedoch nicht die Ansicht teilen, die Quellen in Bausch und Bogen zu verurteilen.227 Ist es schon auffällig, daß das Zentralthema, das Ideal des paradiesischen Zustandes, in beide Himmelsrichtungen gedrungen war, so finden wir für die Richtigkeit dieser Darstellungen einen wichtigen Beleg bei H. V O N V I R N E B U R G aus dem Jahre 1 3 0 7 in Köln. Der Erzbischof wandte sich gegen die häretische Lehre, daß eine Frau nicht erlöst werden könne, wenn sie nicht die in der Ehe verlorene Jungfräulichkeit betrauere. Das ist keine asketische Wendung, wie man zunächst aus der Argumentation H E I N B I C H S schließen könnte, wonach die verlorene Jungfräulichkeit durch die Aufgabe der Menschen, für Nachkommen zu sorgen, kompensiert würde.228 In dem gleichen Bericht 223
224 225
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,,. . . quilibet sibi proxima cognoscebat, et post epulis deliciosissime vacantes choreus ducebant et gaudia maxima peragebant, dicentes hunc statum statui paradisi et primis parentibus ante lapsum esse comformem." Ebd. S. 130. ,,Ed quidam Waltherus nomine demonialis sacerdos, misse officium celebare visus est, et post elevacionem sermone habito . . ." Ebd. „Matrimonis cum personis quantumcumque proximis licitum, Christum non de virgine natum, nichil esse ieiunum, Deum non esse natum neque passum turpiter disputavit et multa fidei sacratissime contraria grunniebat." Ebd. Die Chronik des J O H A N N VON W I N T E R T H U R , in Verbindung mit C. B R U N hrsg. von F. Baethgen MGSS. nova series T. I I I , Berlin 1923, S. 126 datiert das Aufspüren der Sekte auf 1327/28. Er war zu dieser Zeit ebenfalls nicht in Köln, sondern in Basel. (Ebd.) H A U C K , A., Kirchengeschichte Deutschlands, V, S. 4 0 9 , Anm. 4 nennt z. B. J . v. V I C T R I N G S Darstellung eine Nachricht von zweifelhaftem Wert, die nur die herkömmlichen Verleumdungen wiederhole. Auch W E R N E R , E., Nachrichten, zweifelt den Wahrheitsgehalt des Berichtes J O H A N N S VON W I N T E R T H U R wegen der großen Entfernung des Chronisten vom Schauplatz der Ereignisse an (S. 120). ,,Ajunt etiam: ,Nisi mulier virginitatem in matrimonio deperditam doleat et dolendo deploret, salvari non potest', quasi matrimonium sit peccatum, cum tarnen ipsum ante peccatum in loco sancto a sanctorum sanctissimo fuerit institutum; quae virginitas in foetum sobolis compensatur, per quam humana natura stabilitate perdurat, quam assumere ipse dignando paulominus ab angelis minoratus creaturis caeteris praedotavit." F R E D E R I C Q , P . , a. a. O . , I , S . 152. G R U N D M A N N , H., Bewegungen, sieht darin eine These aus den Anschauungen der religiösen Frauenbewegung (S. 435, Anm. 188).
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werden die Freigeister nämlich des Satzes beschuldigt: „Einfache Hurerei ist keine Sünde." 229 Es dürfte unmöglich sein, in einer Ketzergruppe am gleichen Ort und zur gleichen Zeit beide Extreme suchen zu wollen. 230 Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Ablehnung der Ehe, wie aus einer Stelle derselben Quelle hervorgeht. 231 Dagegen ist es interessant, daß H E I N B I C H gegen das Betrauern der Jungfräulichkeit damit argumentierte, daß die Ehe als Einrichtung schon vor dem Sündenfall bestanden habe. Wenn diese Bemerkung auch nur am Rande gemacht wird, scheint das doch ein wichtiger Fingerzeig für die Begründung zur Ablehnung der Ehe zu sein. Nicht Askese, sondern ein Zurück zum paradiesischen Zustand wird das Anliegen der Freigeister in Köln gewesen sein. 232 Das wird bestätigt, wenn man die Berichte J O H A N N S V O N V I C T E I N G , W I L H E L M P B O C U B A T O B S und J O H A N N S V O N W I N T E B T H U B zum Vergleich heranzieht, wo das paradiesische Ideal anklingt, das dann für die spätere Zeit fester Bestandteil der freigeistigen Häresie wurde. 233 Damit dürfte zunächst dieser Teil der Ausführungen der drei Chronisten als wahr angenommen werden. Die Darstellung der Exzesse dagegen muß man als vom Haß getragene Verleumdungen ansehen. Wichtig jedoch ist, daß man im Libertinismus nicht einfache sexuelle Ausschweifungen sehen kann. Dazu verleiten die verschiedenen Berichte, die lediglich den Tatbestand wiedergeben, ohne die Zusammenhänge darzulegen. Aber bereits die Angaben der drei Chronisten lassen, wenn auch unklar, einen kultischen Hintergrund erkennen. Darüber hinaus konnte E . W E B N E B an Hand von Quellen aus der zweiten Hälfte des 1 4 . Jh. nachweisen, daß der Libertinismus einmal das Absetzen der Sekte von der feudalen Gesellschaft zum Inhalt hatte und zum anderen sich innerhalb der Sekte bereits neue moralische Bindungen herauszubilden begannen. 234 „Die Forderung nach Wiederherstellung paradiesischer Verhältnisse war eine Kampfansage an die Klassengesellschaft, eine drastische Opposition gegen die Feudalgesellschaft, vorgetragen mit untauglichen Mitteln." Mit dem Gewand 229
,, .. . simplicem fomicationem non peccatum . . . " Ebd. I, S. 153. So hat z. B. H. DELACROIX aus der sehr richtigen Erkenntnis, daß aus der Göttlichkeit der Häretiker sowohl asketische als auch libertinistische Tendenzen entspringen können, schlußfolgern wollen, daß eben in Köln beide Richtungen vorhanden waren (a. a. O., S. 87). 231 ,,. . . quod quilibet habens uxorem legitimam, causa sequendi Deum propria volúntate eam, invita ea, possit dimittere . . . " FREDERICQ, P., a. a. O., I, S. 153. 232 Einen ähnlichen Hintergrund muß man wohl bei der für Straßburg 1317 überlieferten Behauptung annehmen, daß der eheliche Geschlechtsverkehr, wenn man nicht auf Nachkommen hofft, Sünde sei. („Item quod omnis concubitus matrimonalis praeter illum, in quo speratur bonum prolis, sit peccatum." MOSHEIM, L., a. a. O., S. 257.) In der vorliegenden Form ist das weder libertinistisch noch asketisch, sondern entspringt dem katholischen Glauben. Wenn man aber den Vergleich zu Köln zieht, so könnte man vermuten, daß es sich hier um eine unklar formulierte Ablehnung der Ehe handelt. 233 Vgl. W E R N E R , E., Nachrichten, S. 119ff. 234 Ebd. S. 109ff. 230
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fallen gleichzeitig alle Standesunterschiede. „Adamitische Konsequenzen in dieser Form führten weg vom Kampf, konzentrierten die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf Äußerlichkeiten, betäubten den Widerstand des Volkes mit mystischen Kontemplationen." 2 3 5 Alle die bisher angeführten Quellen bleiben im Sektenrahmen stehen, gehen über den Gegensatz Sekte — übrige Gesellschaft nicht hinaus. Eine völlig andere Lösung dagegen bietet W I L H E L M C O R N E L I U S . Seine Ketzerei geht konsequent von der angeführten Behauptung aus, daß kein Armer sündigen könne, und übersteigt damit den Sektenrahmen. „Einfache Hurerei ist keine Sünde für die in Armut Lebenden" 2 3 6 und „Eine Frau kann sich verkaufen wenn sie arm ist." 2 3 7 Hier haben wir es offensichtlich mit einer starken Beeinflussung der Ideologie durch die Anhänger zu tun, wie sich auch schon bei den anderen Bestandteilen der Lehre C O R N E L I U S ' zeigte. Das allgemeine Prinzip wird umgebogen zur Rechtfertigung des Lebens der armen Bevölkerung der Hafenstadt. Wenn auch die libertinistischen Tendenzen unmittelbar aus der freigeistigen Grundkonzeption heraus erwachsen, so bleibt doch gerade hier die Frage offen, inwieweit sie tatsächlich in ihrer praktischen Form angewandt wurden, in welchem Grad sie von den Eingeweihten einerseits und dem Sektenkörper andererseits praktiziert wurden. 238 Ich möchte annehmen, daß der Anteil beim Sektenkörper relativ gering war, da dort, wo wir das Verhältnis der breiten Anhängerschaft zur häretischen Ideologie wirklich fassen können, die libertinistischen Tendenzen völlig in den Hintergrund gedrängt werden. 239 Die Funktion der freigeistigen Häresie als Ideologie der besitzlosen, umherschweifenden Schichten, als plebejische Ideologie, ist offensichtlich. Die sozialökonomischen Lebensbedingungen dieser Menschen werden gerechtfertigt und idealisiert, aber nicht im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern unter Ablehnung jedweder sozialer, politischer und ideologischer Herrschaftsverhältnisse. Diese Absicht äußert sich vor allem in den Ableitungen aus dem Zentralthema. Nichtanerkennung des Privateigentums sowie jeder politischen und ideologischen Unterordnung, Idealisierung der bettelnden und vagabundierenden Lebensweise, das spiegelt das wirkliche Leben dieser Schichten wider und gibt den Grundtenor der gesamten Lehre an: völlige Ablehnung der bestehenden Verhältnisse. Unter dem Gesichtspunkt muß auch das Zentralthema, die göttliche Sündlosigkeit der Häretiker, eingeschätzt 235 236 237 238 239
E., Nachrichten, S. 122. „Item quod simplex fornicationem est peccatum viventi in paupertate." FRE-
WERNER,
DERICQ, P . , a . a . O . , I , S . 1 1 9 .
„Item quod bene et sine peccato potest mulier se prestare, si sit indigens et pauper." Ebd. A. JTJNDT nimmt an, daß bei diesen geheimen Versammlungen zunächst kultische Handlungen stattfanden, die dann Gelegenheit zu Exzessen boten (a. a. O., S. 55). Siehe unten S. 65.
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werden. Damit wird nicht nur jede Obrigkeit auf Erden, sondern auch im Jenseits abgelehnt. Die Ketzer stehen praktisch auf einer Stufe mit Gott und Christus. Die behauptete Gleichheit mit Gott ist die logische Konsequenz der Negation jeder übergeordneten Macht, seien es Feudalherr, Kleriker oder Gott. 240 Da Gott als Inbegriff des Höchsten gilt, stellt man sich auf eine Stufe mit ihm und hat jede Unterordnung ausgeschaltet. H. LEY hat das treffend als die „Demokratisierung des Himmels" bezeichnet. 241 I n diesen Bestandteilen ihrer Lehre orientierte die freigeistige Häresie ihre Anhänger antifeudal, indem sie ihnen Kenntnisse über die Überflüssigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung bzw. ihrer einzelnen Institutionen vermittelte. Damit ist die Häresie progressiv, weil sie im Bewußtsein des Volkes die durch Macht, Gesetz und Tradition verwurzelten Anschauungen über die bestehenden Verhältnisse angetastet und erschüttert hat. 242 Dieser Prozeß erfolgte jedoch in religiöser Form, und damit hafteten ihm alle Schwächen an, die religiösen Ideologien grundsätzlich eigen sind. Der Häretiker setzte sich mit seiner Vergottung über die bestehende Misere hinweg und wich damit der Realität aus. Die Vergottung ersetzte die an sich notwendige Auseinandersetzung der untersten Schichten mit den tatsächlichen Verhältnissen. Daher konnte die Häresie ihren Anhängern auch kein wirkliches Ziel bieten, sondern suggerierte sie in eine Scheinwelt hinein 243 . Am deutlichsten beweist das der praktizierte Libertinismus, wodurch die Ketzer zugunsten eines „paradiesischen Ideals" von den Erfordernissen des Klassenkampfes abgelenkt wurden. Aber auch in der Einschätzung des Bettels durch die Häresie zeigt sich diese Schwäche. Nicht Kampf gegen die materielle Not, sondern Idealisierung war der Ausweg. Die freigeistige Ideologie als Ganzes war nicht geeignet, die Menschen zum Kampf aufzurufen, und wir finden hier das bestätigt, was J . H . H O R N allgemein feststellen konnte, daß jede auch noch so progressive religiöse Ideologie letzten Endes reaktionär ist, weil sie ihren Anhängern ein Traumbild vorgaukelt. 244 Dennoch gilt es zu beachten, daß die freigeistige Ideologie trotz dieser Doppelstellung nicht hemmend auf die plebejischen Schichten wirkte, sondern ihrem tatsächlichen Zustand entsprach. G. Z S C H Ä BITZ hat das allgemein richtig erkannt, wenn er feststellt: „In mittelalterlichen Ketzereien, so unterschiedlich sie uns auch entgegentreten, erblicken wir letzt240
241 242
243 244
60
ALLIEK, R., a. a. O., S. 132f., hebt richtig hervor, daß die Häretiker mit ihrer Göttlichkeit jede Ordnung leugnen. Sein Vergleich mit dem modernen Anarchismus ist jedoch nicht angebracht. LEY, H., a. a. O., S. 382. Diese Formulierung ist zwar speziell auf Eckhart zugeschnitten, trifft jedoch der Sache nach die Freigeister. Deswegen hat K. KAUTSKY die Sekte eine „revolutionäre Propagandagesellschaft" genannt. Diese Einschätzung ist zu einseitig, da die negativen Züge dabei nicht berücksichtigt werden. HORN, J. H., a. a. O., S. 63£F., hat neuerdings erst wieder unterstrichen, daß diese Vorstellungen allen religiösen Ideen eigen sind. Ebd. S. 95.
lieh Ausdrucksformen gesellschaftlicher Spannungen, die bei noch relativer Festigkeit des feudalen Herrschaftssystems von den opponierenden Schichten kaum anders formuliert werden konnten." 2 4 5 Die fluktuierenden Schichten waren eben erst als größere Gruppen entstanden und noch nicht in der Lage, sich von der religiösen Ideologie zu lösen und eigene Forderungen zu stellen. Die freigeistige Häresie gab ihnen die erste Möglichkeit, sich zu orientieren. 245
VON M E G E N B E R G , Klagelied der Kirche über Deutschland (Planctus ecclesiae in Germaniam), Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter, hrsg. von E. Engelberg und H. Kusch, Reihe A, I, S. X X X V I I .
KONRAD
V. AUFBAU UND ORGANISATION D E R SEKTE D E R B R Ü D E R UND SCHWESTERN VOM F R E I E N GEIST 1. Der esoterische und der exoterische
Kreis
Bei der Darstellung der Häresie der Brüder und Schwestern vom freien Geist kam es darauf an, einen möglichst gedrängten Überblick über die gesamte Lehre zu geben, ohne zu beachten, was wirklich zum festen Bestandteil der breiten Anhängerschaft geworden war. Darin kann und darf sich aber die Beschäftigung mit der Sekte nicht erschöpfen. Es kommt nicht nur darauf an, das Lehrsystem in seiner Gesamtheit herauszuarbeiten, viel wichtiger ist die Frage, was die Anhängerschaft besonders ansprach. Wenn die freigeistige Häresie in ihrem Wesen den Bedürfnissen der Fluktuierenden, der Besitzlosen in Stadt und Land entsprach und ihre Ideologie war, so heißt das noch nicht, daß damit jeder Ketzer die Häresie völlig erfaßt hatte. Das ist vor allem deswegen keine untergeordnete Frage, weil erst ihre Klärung die richtige Einschätzung der häretischen Ideologie ermöglicht. Nicht das ist entscheidend, was einige wenige Sektierer dachten, sondern das, was Allgemeingut der breiten Anhängerschaft wurde. 246 Bereits K. M Ü L L E R wandte sich gegen eine Betrachtungsweise, die annimmt, daß die freigeistige Häresie von allen Anhängern erfaßt wurde. Er verwies darauf, daß man von dem einfachen Ketzer keine allzu umfangreiche Kenntnis der häretischen Ideologie erwarten durfte. 247 Da aber die spekulativen Lehren immer wieder auftauchten, läuft M Ü L L E R S Ansicht auf die Zweiteilung der 248
247
Hierbei bin ich grundsätzlich anderer Meinung als H. GRUNDMANN, der glaubt, die Bedeutung einer Sekte nach ihrer geistesgeschichtlichen Wirkung beurteilen zu müssen. So haben die Amalrikaner seiner Meinung nach eine entschieden größere Bedeutung als etwa die Ortlieber, weil erstere als eine Bewegung in Universitätskreisen die geistigen Krisensymptome ihrer Zeit anzeigten, während die Ortlieber nur eine Bewegung in „Kleinleutekreisen" einer Bischofsstadt gewesen wären. (Studien über JOACHIM VON FLORIS, Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, hrsg. von W. Götz, Bd. 32, Leipzig/Berlin 1927, S. 170.) Für die Beurteilung einer Sekte muß in erster Linie entscheidend sein, inwieweit sie bestimmte soziale Schichten ideologisch vertrat, ihren Forderungen und Interessen Ausdruck verlieh. MÜLLER, K., Theolog. Literaturzeitung, S. 204. Ähnlich argumentieren ALLIER, R., a . a . O . , S . 1 2 8 u n d DELACROIX, H . , a . a . O . , S . 7 8 .
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Sekte hinaus. Ähnlich, wenn auch nicht so scharf akzentuiert, argumentiert MATROD, wenn er betont, daß die Fluktuierenden die Lehre zwar nicht genau kannten, aber spürten, daß sie ihren Interessen entsprach. 248 Aus diesen Hinweisen ergibt sich die Frage: War die Sekte eine ideologisch und organisatorisch einheitliche Gruppe, oder gab es innerhalb der Sekte eine Zweiteilung, einen engeren und einen weiteren Kreis, „perfecti" und „auditores", wie etwa bei den Katharern ? Der überwiegende Teil der zur Verfügung stehenden Quellen ist zur Beantwortung dieser Frage nicht geeignet, da hier die Lehre in abstrakten Lehrsätzen ohne Anwendung und ohne Verbindung mit dem Leben der Sekte übermittelt wird. Dabei wird immer wieder von den Vertretern der Häresie als von vollkommenen, Gott gewordenen Menschen gesprochen, wobei offen bleibt, ob damit alle oder nur einige Sektenanhänger gemeint waren. 249 Ein näherer Hinweis findet sich im Bericht J O H A N N S V O N D Ü R B H E I M , W O es heißt: „primus est, quod aliqui dicunt, se esse vel aliquos ex istis perfectos, quod sint realiter et veraciter Deus." 250 In diesem Zusammenhang ist es belanglos, ob die Übersetzung lautet „Einige sind vollkommen" oder „einige sind Vollkommene". Wichtig ist die angedeutete Differenzierung der Sekte. Sind damit die Führer der einzelnen Sektengruppen gemeint? Fast scheint es so, wenn man die Berichte über die Ereignisse in Köln 1325 zum Vergleich heranzieht. Hier heben sich sowohl nach der Überlieferung W I L H E L M P R O C U R A T O R S als auch nach der J O H A N N S V O N V I C X R I N G einige Personen heraus, die über den anderen stehen und bei Zusammenkünften den Ton angeben. 251 Dabei scheinen auch die, die Maria und Jesus verkörperten, eine Rolle gespielt zu haben. 252 Eine ähnliche zentrale Stellung nahm W A L T E R D E R H O L L Ä N D E R ein, ein Häretiker, der aus dem niederländischen Raum kam und im Rheinland, zunächst in Mainz und dann in Köln, wo er 1322 gefaßt und verbrannt wurde, für die Häresie der Schwestern und Brüder vom freien Geist agitierte. 253 Auch bei den Häre218
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H., a. a. O., S. 147ff. Die Formulierungen der Inquisitoren sind in erster Linie auf die häretischen Lehren gerichtet und lassen daher über den Aufbau der Sekte wenig erkennen. MATROD,
DÖLLINGER, I . , a . a . O . , I I , S . 3 8 9 .
Wilhelmi chronicon, zitiert nach FREDERICQ, P., a . A . O . , III, S . 175; Johannis Victoriensis, S . 1 2 9 / 3 0 . Über die Wahrheit der von beiden Chronisten angeführten Ereignisse in Köln vgl. oben, S. 56. Vgl. auch Anm. 221. „Duo enim, ut per conceptionem loquor, ibidem aderant, qui se Mariam et ejus filium asserebant." ( F R E D E R I C Q , P., a. a. O., III, S. 175.) Die Identität von Jesus mit W A L T E R DEM H O L L Ä N D E R , die J. V . VICTRING darstellt, ist nicht beweisbar. Walter wurde 1322 in Köln verbrannt. Dagegen ist es interessant, daß J. Ä S E N für 1310 einen Begardenpriester im Konvent Olvunde zu Köln nachweisen kann, der „Gerardus dictus Jhesus" genannt wurde. (J. Ä S E N , Die Begarden, S. 168/69.) „. . . Waltherus, natione Hollandinus . . .", „ignem projectus favillam sui reliquit." TRITHEMIUS, J . , Annales Hirsaugiensis, St. Gallen, 1690, II, S. 155 (z. J . 1322). ,,. . . Waltherus, postquam Mogunita Coloniam venerat." NICOLATTS SCHATENIUS, Annales Paderbornensis, T. II, S. 250, zitiert nach MOSHEIM, L., a. a. O., S. 273f. ABBATIS
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tikern von Metz hatten (1334) zwei Personen besondere Funktionen. Der eine, „servus" genannt, hatte für die Verwaltung der Schlupfwinkel zu sorgen und die Almosen unter die Genossen zu verteilen. 254 Wichtiger ist der zweite, der „magister", denn ihm kam bei den Zusammenkünften die Leitung und die Durchführung der kultischen Handlungen zu. 255 Er ist offenbar auch identisch mit dem ebenfalls erwähnten „major", der bei Neuaufnahmen führend in Erscheinung trat. 256 Aus solchen Belegen ist geschlossen worden, daß die Sekte aus einzelnen Gemeinschaften bestand, die jeweils von einem Oberhaupt geleitet wurden, einem Priester oder Laien, der die Häresie predigte und die gemeinsamen Prinzipien entwickelte. Daraus wären auch die verschiedenen Abweichungen in der Lehre der Sekte erklärbar. 257 Diese Darstellung spiegelt den Aufbau der Sekte nur unvollkommen wider. Aus dem Bericht von Metz geht hervor, daß außer dem „magister" noch andere Häretiker Sonderfunktionen hatten. Etwa zehn arme Kleriker, die „prudentiores" genannt wurden, arbeiteten auf ihren großen Zusammenkünften die Regeln für die materielle Versorgung der Begardengruppen aus. 258 Etwa zwanzig andere erließen die „ordinationes", die zum Teil geheim waren und nicht allen Häretikern bekanntgegeben wurden, sondern nur denjenigen, die fester mit der Sekte verbunden waren,259 Daraus geht hervor, daß die Häretiker einen bestimmten Führungskreis hatten, der für die Organisation und das gesamte Leben der Sekte verantwortlich war. Er erweiterte sich noch um eine gewisse Anzahl von Begarden, die in bestimmte Geheimnisse eingeweiht wurden. Es gab ein internes Sektenleben, das nicht allen Anhängern bekannt wurde. Die Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist bestand aus einem esoterischen und einem exoterischen Kreis. Da die in Metz verhörten Begarden nichts Näheres über die Tätigkeit des esoterischen Kreises aussagen konnten, muß man sie selbst zum exoterischen Kreis rechnen. Das wird bestätigt, wenn man den Inhalt dieses Inquisitionsberichtes mit den zusammenfassenden Überlieferungen von Köln 254
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„Item, ubi habent domos, reguntur per unum, quem non vocant praelatum vel magistrum seu doctorem neque rectorem, sed servum. Et ille servus de eleemosyna, quae datur eis, ordinat et distribut inter eos sibi placet." So bedeutend scheint allerdings seine Bolle nicht gewesen zu sein, denn er wurde durch Zuruf gewählt und mußte diese Funktion annehmen. DÖLLINGER, I., a. a. O., II, S. 403. „Item in praedictis congregationibus est ut aliquis qui magister reputatur inter dicet eis haec verba vel similia": Es folgt die Feststellung, daß sie von Gott versammelt werden. Ebd. „qui major reputatur". Ebd. Vgl. unten, S. 86. S o z. B . JUNDT, A . , a. a . O . , S. 5 5 u n d n e u e r d i n g s MCDONNELL, E . W . , a . a. O . ,
S. 5 0 5 . „ . . . et in congregationibus suis per aliquos paucorum cleriorum, decem duntaxat vel circa, qui prudentiores inter eos reputantur, regulant quantum ad victualia et hujusmudi magis conventi servare . . . " DÖLLINGER, I., a. a. O., II, S. 403. , , . . . et viginti circiter faciunt ordinationes secrete et partem, quas non revelant omnibus, sed aliquibus, quos reputant in secta sua magis eonfirmatos seu ut verius dicamus obstinatos." Ebd.
(1307) oder Straßburg (1317) vergleicht, von denen er sich, wie wir gleich sehen werden, wesentlich unterscheidet. Damit wäre aber ein Beispiel gegeben, an dem das wirkliche Verhältnis der breiten Anhängerschaft zur freigeistigen Ideologie sichtbar wird. Bei den Metzer Ketzern zeichnet sich ganz deutlich das Bild einer bettelnden, häretischen Begardengemeinschaft ab, deren Grundlage die völlige Besitzlosigkeit ist. Sie betonen die Nachfolge Christi und haben weder allein noch gemeinsam irgendwelches Eigentum.260 Es kann sich kaum um eine freiwillige Armut gehandelt haben, wie etwa bei den Bettelorden, da es nicht anzunehmen ist, daß die Verteidigung von Straßenräubern und anderen Übeltätern 261 nur eine rhetorische Floskel gewesen ist oder eine besonders drastische Begründung für die Nichtanerkennung von Obrigkeiten, sondern man muß hier eine enge Verwandtschaft von Häretikern und diesen Schichten der Bevölkerung für wahrscheinlich halten. Gegenüber dem organisierten Bettel treten die eigentlichen zentralen Themen der Häresie weitgehend in den Hintergrund. Vor allem vom göttlichen Menschen, dem in den anderen Quellen so viel Raum gewidmet war, ist nur wenig zu spüren. Der einfache Häretiker scheint an seiner persönlichen Vergottung — zumindest in Metz — nicht unbedingt interessiert gewesen zu sein; vielmehr verflüchtigt sich dieses Problem zu einer Begründung für ihre Zusammenkünfte außerhalb des offiziellen Rahmens, indem sie sagten: Nicht der Papst oder eine andere kirchliche Institution hat uns die Erlaubnis für unsere Zusammenkunft gegeben, sondern Gott und der heilige Geist.262 Dagegen ist das Problem der Sündlosigkeit stärker vorhanden, allerdings ohne sichtbares Hervortreten des libertinistischen Zuges, sondern nur als Begründung, daß sie ihre Sünden nicht zu beichten brauchten.263 Das zentrale Motiv der freigeistigen Häresie klingt also hier, wenn auch nur schwach, an. Dieser Ausgangspunkt liegt sicherlich auch der Gleichsetzung mit Maria und den Heiligen zugrunde, obwohl eine Begründung aus der Vergottung nicht erfolgte.264 260
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, , . . . dicunt at affirmant se imitari vestigia Christi et tenere evangelium. Item dicunt se nihil habere neo in proprio neo in communi . . . Item dicunt quod in vestimentis suis et in rebus aliis, quibus utuntur, non habent proprietas . . . " Ebd. S. 403. „Item plures ipsorum dicunt quod non est ocoidendum in quoounque casu etiam pro justitia contra latrones, homicidas, haereticos et alios maléficos exequenda . . . " Ebd. S. 405. „Quis congregavit nos in loco isto? Nam aliae congregationes religiosorum quae sunt in mundo fiunt per Romanam ecclesiam et papam. Sed neo papa nec Romana nunc degens ecclesia nos congregavit. Nos enim videmus quod clerus ecclesiae Romanae nos persequitur, dispergit pro posse non congregat. Quare spiritus Dei nos congregat et sumus a spiritu sanoto congregati." Ebd. S. 403/404. „Item licet ipsi videantur pluries sacramentaliter confiteri de praedictis ómnibus non confitentur, quum in his non credunt se peccare." Ebd. S. 405. Am Schluß des Berichtes wird die Behauptung der Häretiker, sündlos zu sein, noch einmal erwähnt. „Item in articulo mortis non fuit aliquis inter ipsos, qui beatam Virginem vel Sanctos aliquos precibus invoearet aut qui circumstantes ut pro ipsis orarent Mittelalterliches Plebejertum
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Viel schärfer ausgeprägt sind die Auseinandersetzungen mit der Kirche. Sie brauchten dem Klerus nicht zu gehorchen und lehnten seine Schlüsselgewalt ab.265 Daher konnten sie von der Kirche auch nicht exkommuniziert werden.266 Auch die Lebensweise der Mönche war nach ihrer Auffassung falsch und entsprach nicht der Nachfolge Christi.267 Das Schwergewicht ihrer Häresie lag bei der Ablehnung der bestehenden kirchlichen und weltlichen Herrschaft268, wobei sie besonders die klerikale und säkulare Rechtsprechung angriffen, die sich die Beichtgeheimnisse zunutze machte 269 , ein Mißbrauch, unter dem das Volk offensichtlich stark zu leiden hatte. Die Differenz zwischen der oben angeführten völligen Ablehnung und dem hier kritisierten Mißbrauch der Beichte ist m. E. nur scheinbar. Für die Ketzer wird die Verletzung des Beichtgeheimnisses der eigentliche Grund zur Ablehnung gewesen sein, denn man darf nicht nur eine Übernahme der Häresie annehmen, sondern muß auch mit einer selbständigen Verarbeitung und eigenen Motivierungen rechnen. Gerade die Elemente der Häresie, die ihren Interessen und Erfahrungen mit der Kirche besonders entgegenkamen, fanden die stärkste Berücksichtigung. Ähnliches ist bei der Ablehnung des Eides zu beobachten. Sie schwuren deswegen nicht, wie der Inquisitor kommentierte, weil sie ihre Genossen nicht verraten wollten. 270 Es zeigt sich also, daß bei den Begarden zu Metz der mystisch-spekulative Teil der Häresie weitgehend zurückgedrängt wurde, dagegen die Auseinandersetzung mit den weltlichen und geistlichen Gewalten und vor allem die Ver-
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aliquatenus imploraret . . . " Ebd. S. 406. Die Formulierung, daß sie nicht an den Tod des Menschen und an das Paradies glauben, ist unklar und wahrscheinlich verstümmelt. (Item dicunt et affirmant, quod ipsi non tenentur nec debent alicui credere contra conscientiam suam nec homini mortalis nec sanctis paradisi.) E b d . S. 404. „ I n praedictis et pluribus aliis eorum verbis de facto apparet, quod ipsi Beghardi claves ecclesiae et ecclesiae jurisdictionem contemnunt." Ebd. S. 404. „Item quod ipsi non possunt excommunicari a papa seu a quocunque alio praelato contra conscientiam suam." S. 404. „. . . quod religiosi non sunt veri imitatores J . Christi et observatores evangelicae paupertatis sicut ipsi." Ebd. ,,. . . nec aliquis est dominus suarum rerum nisi solus Deus." Ebd. S. 403. „Item dicunt quod judici ecclesiae clericali vel saeculari non est revelandum illud de quo aliquis sacramentaliter est confessus, etiamsi sit publicum et notorium . . ." „quod confessor non debet illud quod audit in confessione revelare . . . " „quod nullus judex saecularis vel ecclesiasticus potest aliquem compellere ad recognoscendum tale factum . . . et quod si adhoc recognoscendum compellerent aliquem, peccarent mortaliter." (S. 404/405). „item quando ipsi examinantur, nullo modo volunt complices revelare, dicentes quod ipsi crederent se peccare mortaliter, se ipsi dicerent aliquid, unde alius aliquid mali postea pateretur. Item ex ista mala radice affirmant, quod pro quacunque veritate affirmanda non debent jurare supra sancta Dei evangelia manu tacta allegantes illud evangelii." Ebd. S. 405. Anschließend wird ausführlich geschildert, wie sich die Ketzer zu verhalten hatten, wenn sie zum Schwören gezwungen wurden.
teidigung der eigenen bettelnden Lebensweise im Vordergrund standen. 271 Ist damit die These H . H A U P T S bewiesen, wonach erst durch die Beschlüsse des Konzils von Vienne alle Beginen und Begarden zur Häresie getrieben wurden, daß man es also in Metz mit ursprünglich orthodoxen Begarden zu t u n habe, die erst kurze Zeit oberflächlich genug unter häretischen Einfluß gekommen wären? 272 Ich halte diese Ansicht für falsch. Der gesamte Aufbau der Begardengemeinschaft war so stark ausgebildet und erfaßte die Häretiker ganzer Gebiete, woraus zu schließen ist, daß sie nicht erst kurze Zeit bestanden haben kann. 273 Weiter weist die Quelle an einer Stelle darauf hin, daß bereits vor einiger Zeit in Metz ähnliche Ansichten vertreten worden waren. 274 Und außerdem haben sich die orthodoxen Beginen und Begarden nach 1317 bekanntlich überall günstig weiterentwickelt. Dagegen rücken unter dem Blickpunkt des Metzer Inquisitionsprotokolls andere Quellen in ein neues Licht. Es ist nicht mehr verwunderlich, daß verschiedene Synodalakten lediglich die besondere Art des Bettels der Beginen und Begarden hervorheben, ohne jedoch näher auf die häretischen Lehren einzugehen. 275 Man muß annehmen, daß das nicht infolge mangelnder Beschäftigung mit dem Wesen der Sekte geschah, sondern deshalb, weil der Bettel das hervorstechendste und wesentlichste Merkmal der Brüder und Schwestern vom freien Geist war. Damit erscheint auch der Bericht des Erzbischofs von Köln, H E I N R I C H S VON VIRNEBURG ( 1 3 0 7 ) , in neuer Sicht, der sich ausführlich mit dem Almosensammeln der Häretiker auseinandersetzt. 276 Das ist keine willkürliche Schwerpunktverlagerung zu Ungunsten der Sektenideologie oder etwa eine Verwechslung von häretischen und orthodoxen Beginen und Begarden, sondern 2,1
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MCDONNELL, E . W . , a. a. O., S. 620, sieht, g e s t ü t z t auf DELACROIX, H . , a. a. O . ,
S. 114ff. und auf HATJCK, A., Kirchengeschichte, V, 1, S. 410, bei den Begarden von Metz waldensischen Einfluß, und zwar wegen der Betonung der Nachfolge Christi, der Nichtanerkennung der Todsünde und des Eides. Wenn auch der Hinweis, daß in Metz Waldenser heimisch waren, richtig ist und man eine straffe Trennung zwischen den einzelnen Sekten sowieso nicht annehmen kann, so möchte ich doch gerade hier den Einfluß weitgehend zurückweisen und auf Grund der oben angeführten Tatsachen annehmen, daß es sich um den esoterischen Kreis der Brüder vom freien Geist gehandelt hat, der bei der Anwendung der Häresie viel stärker von den praktischen Bedürfnissen als von den theoretischen Spekulationen ausging. Das Motiv der Sündlosigkeit ist, wenn auch schwach, so doch eindeutig erkennbar. HAUPT, H., Beiträge, S. 533FF. Ihm schließt sich auch MCDONNELI-, a. a. O., S. 527, an. Über die congregationes siehe unten S. 70. „Item licet ipsi videantur pluries saoramentaliter confiteri de praedictis omnibus non confitentur, quum in his non credunt se peccare, sicut apparuit manifeste in Beghardis nuper in Metis combustis." DÖLLIKQER, I., a. a. 0., II, S. 405. Das Beziehen auf die Sündlosigkeit weist auf die freigeistige Sekte hin. Trier 1310, FREDERICQ, P . , a. a. O., I , S. 155; Mainz 1310, HARTZHEIM, a. a. O., I V , S. 200. FREDERICQ, P . , a. a. O . , I , S. 152.
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spiegelt die Erscheinungsform der Häresie bei dem Gros der Anhänger wider. Sogar J O H A N N V O N D Ü B B H E I M , der ausführlich über die Ideologie berichtet, muß dem Bettel einen ganzen Abschnitt widmen. 277 Leider gibt es aus dieser Zeit keine weiteren so klaren Quellen wie den Bericht von Metz. Aber das angeführte Material dürfte doch genügen, um zu zeigen, ob und besonders in welchen Bestandteilen die Lehre bestimmte Schichten angesprochen hat. Dabei fügen sich die festgestellten Schwerpunkte vortrefflich in das ein, was wir über den sozialen Charakter der Sektenträger wissen. Außerhalb der feudalen Hierarchie stehende soziale Gruppen setzen sich mit Hilfe der Sektenideologie zur Wehr. Gleichzeitig kann an Hand dieser Quellen beobachtet werden, wie die breite Anhängerschaft die Herausbildung der Häresie beeinflußte und bereits Vorhandenes umformte. E. W E E N E R hat nachdrücklich betont, daß für die Entwicklung einer häretischen Lehre die Fragestellung der Sektenanhänger entscheidend ist und die Prägung der Doktrin mindestens ebenso stark von unten, von der breiten Masse der Anhänger, wie von den Predigern erfolgte. 278 Für diese Verallgemeinerung bietet der Inquisitionsbericht von Metz, der uns den exoterischen Kreis vor Augen führt, ein gutes Beispiel. Dieser exoterische Kreis ist aber auch weitgehend identisch mit den von der bisherigen Historiographie als orthodox bezeichneten fluktuierenden Beginen und Begarden. Sie wurden von verschiedenen Historikern rechtgläubig genannt, weil sie von der irrigen Voraussetzung ausgingen, daß jeder Häretiker die Lehre beherrschen müsse.279 Der Bettel dagegen sei kein Zeichen der Häresie, sondern auch für die orthodoxen Beginen und Begarden typisch. 280 Bei den ketzerischen Begarden von Metz stand die sich aus der ökonomischen Situation ergebende bettelnde Lebensweise genauso im Vordergrund wie bei den „orthodoxen" Begarden. „Beide Gruppen" entstammten dem gleichen sozialen Milieu, traten im gleichen geographischen Bereich auf und wurden von den Bischöfen und Inquisitoren gleichermaßen verdächtigt und verfolgt. Dies zeigt schon, daß eine Trennung in häretische und orthodoxe fluktuierende Beginen und Begarden falsch ist. Auf welch schwankendem Boden derartige Quellenstellen stehen, die den rechtgläubigen Charakter beweisen sollen, zeigt der am häufigsten angeführte Beleg aus den Annales Colmarienses. Danach hatten sich 1302 und 1303 bettelnde Begarden bei dem Dominikanerkapitel 277
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So ist für Johann das äußere Zeichen für die Abkehr von der Häresie das Unterlassen der bes. Art des Bettels. W E R N E R , E., Nachrichten, S. 95. H A U P T , H . , Beiträge, S. 535. Er meint, daß die Häretiker den Kamen „Brüder und Schwestern vom freien Geist" nur annehmen konnten, wenn sie die Lehre in ihren wesentlichsten Zügen kannten. Diese Ansicht ist falsch, denn wir konnten bereits feststellen, daß die Bezeichnungen für die Ketzer sehr vielfältig waren und sie oft sogar nur den Namen „Begarden" führten. Vgl. z. B. DELACROIX, H . , a. a. 0., S. 81, H A U P T , H . , Beiträge, S. 535, H A U C K , A., Kirchengeschichte Deutschlands, V, 1, S. 428.
zu Basel bzw. bei dem Franziskanerkapitel zu Kolmar versammelt. 281 In dieser Quelle wird keinerlei Verdächtigung ausgesprochen. Im Inquisitionsbericht von Metz heißt es aber, daß die Häretiker ihre Zusammenkünfte oft im Schutze der Kapitel der Bettelorden abhielten. 282 Der orthodoxe Charakter der Kolmarer und Baseler Begarden wird damit äußerst fragwürdig. Man muß diese wie auch die in anderen Belegen angeführten Beginen und Begarden, die wegen ihrer bettelnden Lebensweise sogar verdächtigt werden 283 , zu dem großen esoterischen Kreis der Sekte rechnen. Damit wird auch noch einmal die Gleichsetzung der Begriffe „begardus" und „begina" mit den Ketzern in den Quellen klar, für die man die Oberflächlichkeit und Unkenntnis der Inquisitoren verantwortlich machte. Aus den Quellen geht eindeutig hervor, daß dort, wo von freigeistiger Häresie gesprochen wird, fast nur fluktuierende Beginen und Begarden genannt werden. Hier gibt es auch keine Grenze zur Sekte, weder in sozialer noch in ideologischer oder organisatorischer Hinsicht, sondern nur verschiedene Grade der Verwurzelung mit der häretischen Ideologie. Es wäre auch kaum glaubhaft, daß bei einer wirklich vorhanden gewesenen Unterscheidungsmöglichkeit dies nicht wenigstens einem Kleriker aufgefallen wäre, da ja die Häretiker in ihrer unmittelbaren Nähe saßen. Die Vertreter der Kirche konnten keinen Unterschied feststellen, weil es ja nur eine Gruppe war. Die Trennung zwischen dem esoterischen und dem esoterischen Kreis war nicht im entferntesten so ausgeprägt wie etwa bei den Katharern. Es gibt keinen Hinweis dafür, daß sich die,,Führungsschicht" durch besondere Pflichten oder Rechte von den übrigen Sektenanhängern abhob. Der Unterschied bestand vor allem in einer besseren Kenntnis der häretischen Lehre und einer intensiveren Verbindung zur Sekte, eine Differenzierung, die bei dem fluktuierenden Charakter der Sektenträger nur zu verständlich ist. Der esoterische Kreis war innerhalb der Sekte der ruhende Pol, der für die Pflege und Weitervermittlung der Ideologie sorgte und bei den primitiv genug anmutenden kultartigen Handlungen aktiv hervortrat. Wahrscheinlich sind in diesem Kreis auch die Hauptverfechter der libertinistischen Praxis zu suchen. Diese Zusammensetzung des esoterischen Kreises scheint sich bis zu einem gewissen Grad von der Zusammensetzung der einfachen Anhänger zu unterscheiden. Der Bericht von 281
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„Capitulum fratrum Predicatorum fuit in Basilea . . . In hoc capitulo fuerunt conversi seu begighardi seu fratres non habent domicilia, 80 in uno processione, mendicantes cibaria. Apud aut heremitas 60 fuisse tantumodo referentur" MGSS. XVII, S. 227; „Capitulum fratrum Minorum fuit in Columbaria solemniter celebratum. Conversi seu begighardi 300 (?) biniet trini in processione per Columbrariam transeúntes eleemosynam mendicabant." Ebd. S. 228. Im übrigen berichtete Johann von Brünn, daß auch zu Köln die Freigeister in kleinen Gruppen bettelten (siehe unten S. 71). ,,. . .sub pallio capitulorum predictorum minorum de heremitoriis congregantur . . ." DÖLLINGEK, I I , S. 4 0 3 .
Z. B. Synode von Trier 1310; FBEDERICQ, P., a. a. O., I, S. 155; Mainz 1310, HARTZHEIM, a. a. O., I V , S. 2 0 0 .
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Metz spricht von armen Klerikern. Wir werden noch sehen, daß der einzige faßbare Führer der freigeistigen Häresie, W A L T E R D E R H O L L Ä N D E R , den Magistergrad besessen haben soll. Ob damit alle Schichten, die zum esoterischen Kreis gehörten, greifbar geworden sind, ist zu bezweifeln, aber tonangebend werden sicher Kleriker und Scholaren gewesen sein, denn sie hatten die entsprechende Bildung, um die häretische Lehre vertreten zu können und die Sekte zu organisieren.
Der Gesamtaufbau der Sekte liegt stark im Dunkel. Eine Zentrale dürfte es auch für das Rheingebiet begrenzt nicht gegeben haben. Dagegen scheinen Ansätze zur Zusammenfassung größerer Gruppen vorhanden gewesen zu sein. J O H A N N VON D Ü R B H E I M spricht davon, daß sie conventícula et congregationes hatten. 284 Hieraus könnte man auf einen Zusammenschluß einmal in kleineren und zum anderen in größeren Gruppen schließen. In dem Bericht aus Metz wird ähnlich differenziert. Die Begarden kamen ebenfalls in congregationes zusammen, die mehrmals jährlich an verschiedenen Orten stattfanden und zu denen sie wandern mußten.285 Hier erschienen auch die oben erwähnten Sektenhäupter. Daneben hatten sie aber auch noch Schlupfwinkel (latibuli) und kleine Gemeinden (conventícula), wo der „servus" tätig war.286 Weiter muß daran erinnert werden, daß W A L T E R D E R H O L L Ä N D E R zunächst in Mainz und dann in Köln predigte. Wenn sich diese Spuren auch nicht weiter verfolgen lassen, so muß man doch annehmen, daß zumindest für die Komplexe um größere Städte eine Verbindung zwischen den einzelnen Häretikergruppen existierte, ja daß es sicher sogar gewisse ideologische Zentren gab. Der relativ lockere Aufbau der Sekte und die Existenz eines ausgedehnten exoterischen Kreises darf nicht dazu verleiten, den eigentlichen organisatorischen Zusammenschluß der kleinen Ketzergruppen als zufällig und nicht festgefügt zu betrachten. Er ergab sich schon von vornherein aus dem gemeinsamen sozialen Anliegen und fand auch dementsprechende organisatorische Formen. Im Mittelpunkt stand der Bettel. Mit dem Ruf „Brot durch Gott" zogen die Ketzer durch die Straßen und erbaten von der Bevölkerung Lebens284 285
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„Item habent conventícula et congregationes" DÖLLINGER, I., a. a. O., II, S. 391. „Item singulis annis pluries et in pluribus locis sub praetextu peregrinationis vel sub pallio capitulorum praedictorum minorum de heremitoriis congregantur et in congregationibus suis. . ." Ebd. S. 403. , , . . . in eorum latibulis aut conventiculis" Ebd. Diese Schlupfwinkel und kleinen Treffs sind für Metz klar und deutlich von den congregationes unterschieden. Es waren Räume, die z. T. außerhalb der Stadt und auch unter der Erde lagen. In Köln 1 3 2 5 w u r d e der g e h e i m e Ort P a r a d i e s g e n a n n t (WILHELM PROCÜRATOR, a. a. O., S. 175).
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mittel. 2 8 7 Dieser R u f gehörte in der zweiten Hälfte des 13. Jh. zum festen Bestandteil des exoterischen Kreises der Sekte. 2 8 8 Sie eigneten sich feste Regeln an, nach denen sie u m Almosen ersuchten, und vervollständigten sie laufend. 2 8 9 Die bettelnden Gruppen waren sehr klein. J O H A N N V O N B R Ü N N wurde z. B . mit einem anderen Häretiker zum Almosensammeln ausgesandt. 2 9 0 Dabei liefen sie in zerrissener Kleidung, die besonders der Straßburger Bischof ausführlich schildert. 2 9 1 Die Frauen warfen beim B e t t e l n ein Tuch über den Kopf. 2 9 2 Zeichneten sie sich dadurch vor allen anderen Bettlern aus, so k a m als weiteres wichtiges Moment die Agitation für ihre Häresie hinzu. Sie predigten auf Plätzen u n d Straßen vor allem den einfachen Leuten. 2 9 3 Hier offenbart sich uns die wichtigste Seite ihrer Massentätigkeit, ihre Einflußnahme auf breite Teile des Volkes. H . LEY hat das richtig erkannt, w e n n er schreibt: • 287
Bezeugt für Straßburg 1 3 1 7 , MOSHEIM, J . , a. a. O . , S. 2 6 0 ; Mainz 1 3 1 0 , HARTZHEIM, J„ a. a. 0., IV, S. 200. Ebd. S. 576—579 erwähnt H. ein Mainzer Provinzialkonzil, das 1259 zu Fritzlar stattfand. Hier werden die bettelnden Begarden und Beginen mit ihrem Ruf „Brot durch Gott" zum ersten Mal erwähnt. Der Datierung schließen sich H E F E L E / K N Ö P F E R , a. a. O., I V , S. 6 2 an. P I N K E , H . , a. a. O., S. 36FF., konnte dagegen nachweisen, daß die Datierung falsch ist und die Teile, die sich mit den fluktuierenden Beginen und Begarden beschäftigen, zum Mainzer Konzil von 1310 gehören. Diese Ansicht hat sich allgemein durchgesetzt. M C D O N N E L L , E. W., a. a. O., S. 509 hat, obwohl er Finke im Literaturverzeichnis angibt, ohne Begründung die Synode auf 1259 angesetzt.
H A U P T , H . , Beiträge, S. 535 schreibt den Ruf „Brot durch Gott" den orthodoxen Begarden zu. Die gleiche Ansicht bei HAUCK, A., Kirchengeschichte, V/1, S. 428, und anderen Historikern. Es dürfte aber auf Grund der Zweiteilung der Sekte klar sein, daß wir es hier immer mit dem exoterischen Kreis zu t u n haben. Außerdem liegt z. B. die Verbindung der Beschlüsse von Mainz zu den Darlegungen J O H A N N S VON D Ü R B H E I M , WO der häretische Charakter eindeutig ist, auf der Hand, denn es handelt sich hierbei um eine Erzdiözese. 289 „Item specialiter faciunt ordinationem, qualiter procedendo per terram se ipsos gerere debeant et qualiter domos suas seu diverticula reliquant et ad aliorum." Metz 1334, DÖLLINGER, I., a. a. O., I I , S. 403. Aus dem Gesamtzusammenhang der Quelle ist ersichtlich, daß es sich vor allem um das Betteln handelt. 290 WATTENBACH, D., Über die Sekte der Brüder vom freien Geist, Sitzungsbericht der königl. preußischen Akademie der Wissenschaft zu Berlin, X X V I I I , 1887, S. 528. 288
291
, , . . . indumentis ab umbilico deorsum scissis, desuper cum capaciis parvis, non tarnen tunicae consutis et in petendis eleemosynis modum suum consuetum, qui est ,Brot durch G o t t ' " , MOSHEIM, L . , a. a. O . , S . 2 6 0 . Nach der Darlegung des Provinzialkonzils von Trier 1310 laufen sie mit „tabardis et tunicis longis et longis capuciis" u m h e r , FREDERICQ, P . , a . a . O . , I , S . 1 5 5 .
292
293
,,. . . swestriones, quae in singularitate quadam reproba pallium replicant super caput, et dum petunt eleemosynam. . . " MOSHEIM, L., a. a. O., S. 260. Trier 1277, FREDERICQ, P., a. a. O . , I, S. 142; Trier 1310, ebd. S. 150; Mainz 1310. HARTZHEIM, J., a. a. O . , IV, S. 200. Auf die häretische Predigt wies auch Johann X X I I . wiederholt hin. Vgl. seinen Brief an den Bischof von Straßburg aus dem Jahre 1318 (MOSHEIM, a. a. O., S. 630f.) und das Dekret über die Beginen aus dem gleichen J a h r (ebd. S. 627f.). 71
„Die Beginen und Begarden wenden sich in ihrem häretischen Element an alle jene, die auf dem Lande der Feudalismus besonders drückt und die in der Stadt als Tagelöhner und niedere Handwerker eine untergeordnete Stellung einnehmen." 294 In der Kombination von Bettel und Agitation wirkten sie auf die Bevölkerung ein, wobei der Predigt gegenüber dem Bettel zweifellos die untergeordnete Bedeutung zukam; schon allein deswegen, weil man von den einfachen Häretikern keine allzu umfangreiche Kenntnis von der Sektenideologie erwarten durfte. Der zahlenmäßige Umfang der Sekte ist kaum abzuschätzen, da nur sehr wenige konkrete Angaben überliefert sind und die Häretiker immer in kleinen Gruppen in Erscheinung traten. Relativ groß muß die Gruppe von Metz gewesen sein, wo allein zehn Kleriker erwähnt werden, die zum esoterischen Kreis gehörten. Vielleicht könnte man etwa als Norm die Zahlenangaben über die fluktuierenden Begarden von Basel und Kolmar annehmen, wo 80 bzw.*60 genannt werden, die dann in Gruppen zu zweit bzw. zu dritt bettelten. 295 H . H A U P T S Ansicht, daß die Freigeister zahlenmäßig keine große Bedeutung gehabt hätten, erscheint mir irrig296, weil man eben den Kreis der Anhänger sehr weit ziehen muß. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Stadtchroniken die Häretiker kaum erwähnen. Das Treiben der Ketzer spielte sich nicht in erster Linie in Städten, sondern in den umliegenden Gegenden ab. Außerdem wechselten sie sehr häufig die Ortschaften und wurden für gewöhnlich nur in kleinen Gruppen sichtbar. Innerhalb der einzelnen Ketzergruppen gab es eine relativ straffe Organisation. Aus Metz (1334) ist ein besonderer Aufnahmeritus überliefert, wonach der Kandidat seine völlige Armut geloben mußte und als Zeichen der Aufnahme ein Kleidungsstück vom „major" überreicht bekam.297 Desgleichen ist von •TOTTANN V O N B R Ü N N über seine Aufnahme bei den Kölner Freigeistern berichtet worden, daß er nackt kniend in ihre Gemeinschaft aufgenommen wurde und ein zerlumptes Kleidungsstück erhalten hat. 298 Mehrfach ist bezeugt, daß sie besondere Regeln besaßen, nach denen sie lebten. Sie betrafen nicht nur — wie oben erwähnt — den Bettel, sondern das Zusammenleben der Häretiker 294
296 298
297
a. a. 0., S. 351. Siehe oben S. 62, Anm. 281. H A U P T , H . , Brüder des freien Geistes, S . 469. „Item quando primo assumant habitum wegardicum, modus eorum talis est, quod iste, qui vult assumere habitum venit ad praesentiam aliorum ad genu flexo petit admitti ad societatem ipsorum, dicens quod desideret esse pauper et ut de manu illius, qui major reputatur inter eos, recipiat mantellum seu caphardum vel alium habitum, qui ei datur. E t ipse qui habitum reoipit si aliquid habet quod suum sit, voluptati illius ad illorum exponit. Talis est communiter modus eorum, licet aliqui motu proprio ipsum habitum per se ipsos assumant, qui sooietati eorum postea conLEY, H . ,
j u n g u n t u r . " DÖLLINGER, I . , a. a. O . , I , S. 404. 298 WATTENBACH, D . , a . a . 0 . , S . 5 2 8 .
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im -weiteren Sinne.299 Auch kultische Handlungen werden darunter zu verstehen sein. Die für Köln'1325 erwähnte Augenzeugin, die zufällig zu der Sekte stieß und keine Ahnung von dem sich abspielenden Geschehen haben wollte, dürfte demgegenüber eine Erfindung der Berichterstatter sein, um die dabei erwähnten Ausschweifungen glaubwürdig zu machen. Von den zahlreichen Sektenhäuptern wissen wir relativ wenig über ihre Person. M A R G A R E T E P O E E T E muß trotz der Tatsache, daß sie Begarden und Beginen gepredigt haben soll, ausgeklammert werden, da sie nicht zum eigentlichen Kreis der Sekte gehört hat. 300 Es bleibt eigentlich nur noch der oben erwähnte W A L T E R D E R H O L L Ä N D E R , über den einige Nachrichten überkommen sind. Er war ein nicht ungebildeter, redegewandter Laie 301 und scheint zu Beginn des 14. Jh. einer der führenden Köpfe der Sekte im Rheingebiet gewesen zu sein, nicht nur wegen seiner Tätigkeit in mehreren Orten, sondern vor allem auch deshalb, weil er Schriften verfaßt hat, die die freigeistige Lehre erläuterten. Sie erschienen in der Volkssprache. T R I T H E M T Ü S gibt dafür die mangelhaften Lateinkenntnisse W A L T E R S als Begründung an. 302 Diese Erklärung ist etwas zweifelhaft, denn S C H A T E N H J S nennt W A L T E R „magister" und „doctor"303, woraus man eventuell im Zusammenhang mit seiner publizistischen Tätigkeit auf die Herkunft W A L T E R S aus den Scholarenkreisen schließen könnte. Wenn er dagegen in der Volkssprache schrieb, so wahrscheinlich deswegen, weil damit die Verbreitungsmöglichkeit für seine Ideen bedeutend größer war. Wir können demnach feststellen, daß der Aufbau und die Organisation der Sekte weitestgehend dem fluktuierenden Charakter der Sektenträger entsprach. Die Zentren waren kleine Gruppen, die bettelnd durch das Land zogen und dabei ihre Ideologie verbreiteten, wobei die Missionstätigkeit gegenüber 299
300 301
302
303
„Has igitur omnes praescriptas haeresea, sive errores, una cum secta eorundem haereticorum, suorumque sequacium utriusque sexus, cuiuscumque conditionis, status ordinis vel religionis exiatant et cum omnibus eorundem ceremoniis, conventiculis. habitu et doctrinis... damnamus." Straßburg 1 3 1 7 , M O S H E I M , L . , a. a. O . , S. 2 5 8 , Siehe unten S. 99. SCHATENIUS, Annalium Paderbornensis, T. II, S . 249/50, nach MOSHEIM, L., a. a. O., S . 271; TRITHEMIUS, J., Annales Hirsaugiensis, T . I I , S . 155. Beide Quellen bezeichnen W A L T E R ala Lollarden, eine Formulierung, die historisch nicht zutrifft. (Vgl. R. H E D D E , Lollards, D T . C . IX, S . 910ff.) Er war vielmehr Begarde. MOSHEIM meint, daß er aus propagandistischen Gründen aus Holland nach dem Rheinland ausgewandert sei (S. 274), eine Behauptung, die sich nicht kontrollieren läßt, da uns keine Nachrichten über das Auftauchen der freigeistigen Häresie im holländischen Raum für diese Zeit überliefert sind. Die Zentren lagen vielmehr im Rheinland, und es ist anzunehmen, daß er erst hier mit der Lehre bekannt wurde und sich zu einem Sektenführer emporgeschwungen hat. „Waltherus. . . latini sermonis parvam habebat notitiam et quia Romano non potuit, sermone sibi Theutonico plures sui libellos conscripsit, quos deceptis per se occultissime communicavit." TBITHEMIUS, II, S. 155. Über den Inhalt der Schriften ist nichts bekannt. MOSHEIM, L . , a . a . O . , S . 2 7 4 .
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dem Bettel durchaus zweitrangig war. Zusammenfassungen der Häretiker in größeren Einheiten waren zeitweilig vorhanden, scheinen aber keine entscheidende organisatorische Rolle gespielt zu haben, zumindest sind keine direkten Nachweise für den Zusammenschluß der Straßburger und Kölner Sektenkreise aufzufinden. Ein wichtiger einigender Faktor muß allerdings die zirkulierende häretische Literatur gewesen sein, die der Straßburger Bischof 1317 ausdrücklich zu erwähnen für nötig befand und von der man ein gleichzeitiges Auftauchen in beiden Gebieten annehmen kann. 304 Das Hauptkennzeichen der Organisation der Sekte ist die Trennung in einen exoterischen und einen esoterischen Kreis, eine Aufgliederung, die sich nicht nur bei den Zusammenkünften, sondern auch in der Kenntnis der häretischen Lehre bemerkbar machte. Durch den esoterischen Kreis war es überhaupt erst möglich, der freigeistigen Häresie den Sektencharakter zu geben, denn er hielt die fluktuierenden Anhänger zusammen und sorgte für die Weitervermittlung der häretischen Lehre. Die Organisation der Brüder und Schwestern vom freien Geist trug dazu bei, die bettelnde Existenz der Fluktuierenden zu sichern und zu festigen. Darin liegt ihre eigentliche Bedeutung. 304
MENS, A., vermutet, daß die Schriften Walters auch am Oberrhein zirkulierten und mit den von J. VON DÜBBHEIM erwähnten identisch sein könnten. (Oorsprong, S. 117).
VI. DER EINFLUSS DER HÄRETISCHEN IDEOLOGIE AUF DIE KLASSENKÄMPFE Bisher konnte festgestellt werden, daß die freigeistige Häresie eine plebejische Ideologie war, die das Leben der breiten besitzlosen Schichten rechtfertigte und idealisierte. In Gestalt der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist schuf sie gewisse organisatorische Formen für die bettelnde Lebensweise und den Zusammenschluß dieser Menschen. Dabei ist aber die Frage offengeblieben, inwieweit die häretische Ideologie, über den Sektenrahmen hinausgehend, wirklichen Einfluß auf die Bewußtseinsbildung des Volkes im Kampf gegen die feudale Unterdrückung gehabt hat. Da Klassenkämpfe bekanntlich sehr vielfältige Formen annehmen können und es schwierig ist, zu einigermaßen meßbaren Werten zu kommen, will ich mich auf die offenen Auseinandersetzungen, die politischen Unruhen in den Städten und die Klassenkämpfe auf dem Lande beschränken. Allerdings ist die Identität der geographischen Hauptzentren der Häresie mit denen der sozialen und politischen Kämpfe nicht immer gegeben. Dies ist aber insofern nicht von wesentlicher Bedeutung, weil mit einer gewissen Ausstrahlungskraft der häretischen Ideologie über die eigentlichen Ketzerzentren hinaus zu rechnen ist. Zunächst zu den Kämpfen in den Städten. Die innenpolitische Geschichte Straßburgs und Kölns, also der Städte, deren geistliche Stadtherren sich besonders ausführlich mit der Häresie beschäftigt hatten, war seit dem 13. Jh. von fortlaufenden Kämpfen erfüllt. Dabei ging es in erster Linie um die Zurückdrängung des politischen Einflusses der geistlichen Stadtherren. Daneben tauchten aber auch die ersten Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Fraktionen der Stadtbevölkerung um die politische Macht auf. In Straßburg305 rang die gesamte Stadtbevölkerung während der ganzen ersten Hälfte des 13. Jh. mit den Bischöfen um die Selbständigkeit der Stadt. Nach anfänglichen Teilerfolgen wurde 1263 der entscheidende Sieg erfochten. In der Schlacht bei Hausbergen wurden der Bischof und seine Verbündeten 306
Über den Verlauf der innenpolitischen Kämpfe in Straßburg während des 13. u. 14. Jh. vgl. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14.—16. Jh., hrsg. v. C. Hegel, Bd. 8 — Straßburg I —, Leipzig 1870, Einleitung.
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von der Bevölkerung Straßburgs, die die Unterstützung Kolmars, Basels und einiger Feudalherren hatte, geschlagen. I n dem Friedensvertrag -wurde der Bischof zwar formal als Stadtherr anerkannt, aber die tatsächliche Macht ging auf das Patriziat über. Der R a t erhielt das Recht, sich fortan selbst zu ergänzen, selbst über die Almende zu verfügen usw. Das städtische Gericht wurde Oberhof für alle Städte des Bistums. 306 Die politische Herrschaft in der Stadt ging damit an die vermögendsten Kaufleute und einflußreichsten Geschlechter über. 307 Sie konzentrierten alle Machtmittel in ihren Händen. Damit war die Basis für die zweite Etappe des städtischen Kampfes gegeben. Die nicht ratsfähige Kaufmannschaft versuchte im Verein mit den Zünften, Anteil an der Leitung der Stadt zu erlangen. Konnte 1308 ein Aufstand noch niedergeschlagen werden 308 , so war 1332 ein erneuter Versuch von Erfolg gekrönt. Das wichtigste Ergebnis war neben der Verbreiterung des Rates im allgemeinen, die besonders starke Vertretung der Zünfte. Von 50 Ratsmitgliedern kamen 25 aus dem Handwerk. 309 I n der Krise von 1349, wo es den Geschlechtern gelang, sich an die Spitze unzufriedener Bürger zu stellen, wurde das Ergebnis zwar noch einmal abgewandelt, aber in seinem Wesen nicht geändert. 310 Ähnlich waren die Ereignisse in Köln. Im fortwährenden Kampf des Erzbischofs mit der Stadt in der zweiten Hälfte des 13. J h . stand ebenfalls die Zurückdrängung des erzbischöflichen Einflusses auf die rheinische Metropole im Mittelpunkt. Der Unterschied zu Straßburg bestand n u r darin, daß sich infolge der kräftigeren ökonomischen Entwicklung der Stadt auf der einen Seite und der größeren Macht des Erzbischofs auf der anderen die beiden Phasen verschoben hatten. Es gab drei aktive Kräftegruppen: die Geschlechter, den Erzbischof und die übrige Stadtbevölkerung unter überwiegender Teilnahme der Zünfte. Dabei gelang es dem Erzbischof oft, die nicht ratsfähige Stadtbevölkerung, vor allem die Weber, gegen die Geschlechter auf seine Seite zu ziehen. 311 So nutzte 1259 der Erzbischof K O N B A D 308
307
308 309 310
311
76
Über den Verlauf der Ereignisse berichtet ausführlich die Chronik des JACOB TWINGER von Königshoven, Chroniken deutscher Städte, 9, S. 685. Zur Einschätzung vgl. ACHTNICH, K., Der Bürgerstand in Straßburg bis zur Mitte des 13. Jh. Diss., Leipzig 1910, S. 48 ff. CZOK, K., Zunftkämpfe, Zunftrevolutionen oder Bärgerkämpfe, Wiss. Zs. der KarlMarx-Universität, Leipzig, 8. Jg. 1959, Gesellsch- und sprachwissensch. Reihe, H. 1, S. 137. Chronik deutscher Städte, 9, S. 774f. Ebd. S. 77 6 ff. und S. 932. Eine eingehende Einschätzung der Kämpfe in Straßburg während der ersten Hälfte des 14 Jh. bringt CZOK, K., a. a. O., S. 136ff. Es handelte sich nicht, wie in der bürgerlichen Literatur vielfach behauptet wird, um Zunftkämpfe, sondern um Aktionen der bürgerlichen Opposition unter starker Beteüigung der Zünfte. ENNEN, L., Geschichte der Stadt Köln, II, S. lOOff. behandelt ausführlich die innenpolitischen Ereignisse, bes. die Auseinandersetzungen der Stadtbürger mit dem Erzbischof.
VON HOCHSTADEN die Beschwerden der Bürger gegen die Geschlechter aus, um die alten Schöffen abzusetzen und neue, vorwiegend Handwerker, einzusetzen.312 Die Absicht, durch diese Gegensätze seine erzbischöfliche Gewalt über die Stadt zu festigen, scheiterte jedoch bereits in den folgenden Jahren. 1262 kämpften Geschlechter und Stadtbevölkerung gemeinsam gegen den Erzbischof und vertrieben seine Vertreter aus der Stadt. 313 Diese Gruppierungen wechselten auch bei den Kämpfen in den 60er Jahren laufend. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Geschlechter, sowohl 1264 als auch 1267, suchten die nicht ratsfähigen Bürger und der Erzbischof für ihre Interessen auszunutzen. 314 Die zeitliche und lokale Parallelität dieser Kämpfe mit den häretischen Bewegungen ist zunächst frappierend. Kann man damit aber schon von einer Beeinflussung oder gar Befruchtung der politischen Unruhen durch die freigeistige Ideologie sprechen? H. LEY meint: „DieHäresie bedeutet die unklare Selbstverständigung über die harten Klassenkämpfe, die in den Städten tobten" und sieht eine direkte Verbindung zwischen beiden Ereignissen, denn „die Ketzerverfolgungen suchten den Widerstand zu brechen, der sich in der Stadt als Anfang eines neuen Bewußtseins und Zeichen sich vorbereitender neuer Verhältnisse herausbildete."315 Belege für diese Ansichten gibt es nicht. Keine Quelle gibt einen Anhaltspunkt dafür, daß häretisches Gedankengut bei den Unruhen aufgetaucht wäre. Das mehrmals über die Städte verhängte Interdikt hatte, wie so oft in der Geschichte, rein politische Beweggründe. Aber abgesehen davon, daß direkte Beweisstücke fehlen, ergibt sich auch aus dem Gesamtcharakter der freigeistigen Häresie, daß sie für die genannten Machtkämpfe als Ideologie nicht geeignet war. Das trifft sowohl für das Zentralthema, den Gottmenschen, als auch für die daraus abgeleiteten Thesen, die auf eine Negierung nicht nur der kirchlichen, sondern der gesamten Gesellschaftsordnung hinausliefen, zu. Die aufständischen Bürger wollten gar nicht die bestehende Ordnung abschaffen, sondern nur selbst an der Macht beteiligt sein. Es ging der bürgerlichen Opposition „um einen möglichst weitgehenden Anteil an den städtischen Institutionen, die die Herrschaft über das Gemeinwesen bedeuteten".316 Dabei konnte ihnen die freigeistige Ideologie keine Hilfestellung leisten. Außerdem haben wir es bei dem Sektenkörper mit 312 313
314 316
318
Chroniken deutscher Städte, 12. S. XLV. Ausführlich werden die Ereignisse in der Koelhoffschen Chronik geschildert. Chroniken deutscher Städte, 13, S. 608ff. HEINZEN, T., a. a. O., S. 20ff. sieht darin vorwiegend Zunftkämpfe, d. h., er erkennt nicht, daß nicht nur die Zünfte, sondern die gesamte nicht ratsfähige Stadtbevölkerung in die Auseinandersetzungen eingriff. CZOK, K., a. a. O., Sp. 132, hat das zu Recht kritisiert. Ebd. S,. XLVII. LEY, H., a. a. O., S. 323. L. behandelt die innenpolitische Geschichte Straßburgs und Kölns ausführlich, um daran die Beziehungen zur freigeistigen Häresie nachzuweisen. CZOK, K . , a. a. 0 . , S. 142.
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einer völlig anderen sozialen Schicht zu tun. Nicht, wie LEY meint, die Handwerker bilden das Gros, sondern die untersten sozialen Schichten, die fluktuierenden Besitzlosen in Stadt und Land sind das Reservoir, aus der sich die Anhänger der Sekte rekrutierten. Und diese Schichten spielten bei den Bürgerkämpfen keine selbständige Rolle. Damit soll nicht etwa einer völligen Beziehungslosigkeit zwischen beiden Bewegungen das Wort geredet werden. Es ist durchaus anzunehmen, daß die politischen Kämpfe die Verbreitung der Häresie begünstigten. Einen direkten Einfluß der häretischen Ideologie auf die Kämpfe hat es aber nicht gegeben, zumindest nicht für die Zeit bis zur ersten Hälfte des 14. Jh. Muß man bei den städtischen Machtkämpfen eine Einflußnahme häretischen Gedankenguts ablehnen, so bleibt noch zu untersuchen, wie es damit bei den bäuerlichen Klassenkämpfen des 13. und des beginnenden 14. Jh. bestellt war. Im Jahre 1251 wurden weite Teile des südniederländischen und französischen Raumes von breiten bäuerlichen Bewegungen erfaßt, dem sogenannten Pastorellenaufstand. In der bisherigen bürgerlichen Literatur wurde dieser Bewegung wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Von bürgerlicher Seite sei eine Miszelle von R. R Ö H R I C H T erwähnt.317 Von marxistischer Seite hat sich W. L. K E K O W in einer kurzen, aber intensiven Studie mit diesem Problem beschäftigt.318 Ausgangspunkt und Zentrum des Pastorellenaufstandes waren Flandern, Brabant, der Hennegau und das angrenzende nördliche Frankreich. Dort tauchte ein gewisser JACOB auf, der predigte, daß er eine Offenbarung Marias gehabt hätte. Sie fordere durch ihn das Volk auf, das heilige Grab zu befreien, da dies die stolzen französischen Ritter nicht vermocht hätten. Sehr schnell hatten sich zahlreiche Anhänger um ihn versammelt, die bereit waren, seinem Aufruf zu folgen. Sie stammten aus den untersten Schichten der Städte und vor allem des Landes, der armen Bauernschaft und der städtischen plebejischen Kreise.319 Der Kreuzzugsgedanke war aber nur der Anlaß der Bewegung. Bereits nach kurzer Zeit schlug sie um und richtete sich gegen den Regulär- und Säkularklerus im eigenen Land. Diese neue Front wurde der eigentliche Kern des Pastorellenaufstandes. J A C O B nannte die Bettelmönche Herumtreiber und Heuchler, die Zisterzienser Habsüchtige, die „schwarzen" Mönche Schweiger und Hochmütige, die Bischöfe Geldjäger und Knechte sinnlicher Lüste. Mit ähnlichen Formulierungen wurde die Kurie bedacht.320 Diesen Worten folgten die entsprechenden Taten. Auf ihren Zügen durch die Städte Frankreichs — 317
RÖHRICHT, R., Die Pastorellen (1251), Zeitschrift für Kirchengeschichte VI, 1884, S. 290ff.
318
KEROW, W . L . , „nacTyuiKOB" cTp. 115—123.
319
Ebd. S. 118f. In den Quellen werden sie als „ribaldi" „latrones" u. ä. bezeichnet. Vgl. z. B. Chronico ROTOMAGENSI, Bouquet, Recueil des historiens des Gaules et de la France, Paris 1876, X X I I I , S. 339 und Chronico sancti laudi Rotomagensis, Ebd. S. 395.
320
MATTHAEUS VON PARIS, Chronica M a j o r a , B d . 5, S. 249, in R e r u m Britannicarum
medii aevi scriptores, ed. H. LIJARD, London 1880.
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Amiens, Rouen, Paris, Orléans, Bourges, Limoges, Bordeaux und andere Städte waren die Stationen der einzelnen Gruppen — gingen sie gegen die Kleriker vor und verfolgten sie. In Paris töteten sie Priester oder warfen sie in die Seine. Das gleiche geschah in Orléans und auch in anderen Städten. 3 2 1 Dabei wurden sie von den untersten Schichten der Städte, die besonders stark mit ihnen sympathisierten und ihnen oft erst den Eingang in die Stadt verschafft hatten, unterstützt. 3 2 2 Die Zahlenangaben der Chronisten über die Teilnehmer des Aufstandes schwanken zwischen 20000 und 100000, Zahlen, die zweifellos stark übertrieben sind, aber den Massencharakter der Bewegung verdeutlichen. 323 Durch die Heere der Feudalherren wurden die einzelnen Pastorellenguppen schließlich zerschlagen. I n der Einschätzung des Pastorellenaufstandes hat W. L. K E R O W eindeutig herausgearbeitet, daß es sich hier um einen Bauernaufstand gegen die feudale Ausbeutung gehandelt hat. Entgegen der bürgerlichen Geschichtsschreibung, die den religiösen Enthusiasmus, der von Verführern mißbraucht wurde, herausstellt 324 , weist K E R O W nach, daß der Aufstand der Pastoureaux der erste große Bauernaufstand in Westeuropa in der Epoche der intensiven E n t wicklung der Ware-Geld-Beziehung war. Er war eine spontane Aktion auf die Versuche der herrschenden Klasse, die Ausbeutung unter den neuen sozialökonomischen Bedingungen zu verstärken. 325 Dabei muß man im Sinne K E R O W S noch einmal betonen, daß es sich vor allem um die arme Bauernschaft handelte, die nur wenig Besitz hatte bzw. als Tagelöhner ihr Leben fristete. Der Form nach richtete sich der Aufstand in erster Linie gegen die Geistlichkeit, obwohl, wie eine Quelle berichtet, später auch die weltlichen Feudalherren vernichtet werden sollten. 326 321
322
323 324
325
326
V g l . R . RÖHRICHT, a . a. O . , S. 2 9 3 f f .
So schreibt M A T T H A E U S über die Reaktion des Volkes nach den Predigten der Pastorellen; „Populus autem in odium cleri et contemptum haec audiens deliramenta, applaudens favorabiliter, quod valde periculosum fuit, audiebat." (a. a. O., S. 244). Ähnliches berichtet auch die „Chronique de Primat, traduit per Jean du Vignay, Bouquet, a. a. O . , X X I I I , S. 9 und andere Quellen. Vgl. W . L . K E B O W , , , n a c T y n i K O B " CTp. 1 1 9 .
Vgl.
a. a. O., S. 293ff. sieht die Ursache in der durch die Kreuzzüge verursachten tiefen Erregung der Massen, die sich zu einem bewußten und rücksichtslosen Kampf gegen die Kirche und ihre Unterstützer entwickelte (a. a. O . , S . 2 4 5 ) . L A B A N D E , R . sieht die Ursachen des Pastorellenaufstandes lediglich in dem religiösen Enthusiasmus des Volkes (Histoire de France, I, Paris, 1945, S. 238). K E B O W , W . L . , „ n a c T y u i K O B " , C T p . 123, Über die sozialökonomischen Veränderungen im südniederländischen Raum und die Auswirkungen auf die Bauern, vgl. vom gleichen Verfasser: CpeAHHe BeKa, 7, 1955. „Dicitur autem hoc eorum fuisse commentum, ut primo clerum extirparent a terra, secundo religiosos abraderent, postmodum in milites et nobiles irruerunt, ut sie terra desolata omni praesidio, facilius pateret erroribus et ineursibus paganorum." Annales de Burton, Annales monastici, I, Rerum britannicarum medii aevi scriptores, London 1857, S. 292. RÖHRICHT, R . ,
R . RÖHRICHT
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Geben der Haß und die Aktion gegen den Klerus dem Aufstand schon ein besonderes, häretischen Ideen ähnliches Gepräge, so wird dieses Moment durch andere Praktiken noch verstärkt. Die Insurgenten verkündeten ihre Ideen in Form von Predigten, die sie in Kirchen abhielten und bei denen sie priesterliche Gewänder anlegten. Sie segneten das Volk, erteilten Absolution und gaben den Teilnehmern des Aufstandes das Kreuz. Darin darf man nicht nur eine Nachahmung kirchlicher Praktiken sehen, sondern hier äußerte sich vielmehr der Bewußtseinsstand der Aufständischen, die zwar den Priesterstand in seiner Gesamtheit ablehnten und vernichten wollten, aber noch nicht auf die religiöse Ideologie und die von der Kirche in jahrhundertelanger Tätigkeit ausgeübten Kulte und Gebräuche verzichten konnten und sie daher selbst ausübten. Sie führten neue Bräuche ein und umgaben sich mit zahlreichen Wundergeschichten. Was jedoch das Wichtigste war: sie lehnten die Sakramente ab. Es wird berichtet, daß sie die Sakramente verhöhnten, wobei das Verschmähen der Eucharistie besonders genannt wird. Weiter wird ausführlich davon berichtet, wie die Pastorellen ein Bild Marias zerstörten. 327 In diesen Praktiken lassen sich eindeutig häretische Gedanken feststellen. 328 Aus welcher Häresie sie stammen, ist unklar. R. R Ö H R I C H T hat bereits darauf hingewiesen, daß um 1 2 3 6 im Raum Belgien und Nordostfrankreich durch den Inquisitor R O B E R T zahlreiche Ketzer vernichtet wurden. 329 Über ihre Lehren wissen wir wenig. Sicher waren es vorwiegend katharische Gruppen, aber auch freigeistige Ketzer sind, wie wir noch sehen werden, darunter gewesen.330 Weiterhin muß daran erinnert werden, daß um 1 2 5 0 in Antwerpen die Anhänger W I L H E L M CORNELIUS' wirkten und eine Ausstrahlung durchaus im Bereich des Möglichen liegt, zumal wir hier eine betont klassengebundene häretische Ideologie feststellen konnten. Es ist aber wohl doch kein Zufall, daß der eigentliche Kern der Häresie nicht zu erkennen ist. Ob Katharer oder Freigeister, das jeweilige Zentralthema ist für revolutionäre Massenaktionen nicht geeignet, denn es folgte dabei immer eine Flucht ins Irreale, ein Ausweichen vor den tatsächlichen Gregebenheiten. Die progressive Bedeutung der häretischen Ideologie liegt in ihrer Frontstellung gegen den Katholizismus. Und hierbei kommt den aus dem Zentral327
„Videns itaque vir perditus tanta se stipatum caterva, favore gentium, conceptum venenum non potuit plus oontinere, quin inciperet dignitatem ecclesiasticam violare, sacramenta execrando, populum benedicendo, praedicando, crucem dando, aquas aspersionis nove more faciendo, miracula oonfingendo, insuper in virorum ecclesiasticorum caede grassando... Sed quod auditu et relatu horribile est, sed visu magis horrendum, cum intrassent ecolesiam ubi illud intremeratum et sacratissimum sacramentum corporis Christi venerabiliter fuerat reconditum super altare, vituperabili,ter projecerunt, et nasum imaginis gloriosae Virginis absciderunt, et oculus eruerunt et nefandis manibus ea quae placuerunt abstulerunt." Ebd. S. 291.
328
KEROW, W . L . , „nacTyiiiKoß". RÖHBICHT, R . , a. a. 0 . , S. 293.
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Siehe unten S. 92.
thema abgeleiteten Thesen die weitaus größere Bedeutung zu. Daher werden auch die Ablehnung der Sakramente, des priesterlichen Privilegs zu predigen, Absolution zu erteilen, zu segnen usw. die eigentlichen Instrumente, die bei den revolutionären Klassenkämpfen wirksam sein können. Häretische Ideologie und soziale Notlage verbanden sich bei dem Pastorellenaufstand und gaben ihm ein besonderes Gesicht. Die Pastorellenbewegung von 1251 zeigt deutlich, daß ketzerisches Gedankengut durchaus in der Lage ist, wenn die entsprechenden sozial-ökonomischen Bedingungen vorhanden sind, dem Volk bei seinen Massenaktionen zu dienen. Es ist dabei zunächst von untergeordneter Bedeutung, daß sich der Angriff nur gegen einen Teil der herrschenden Klasse richtete, denn, wie oben erwähnt, tauchte als nächster Programmpunkt bereits die Kampfansage an die Feudalklasse in ihrer Gesamtheit auf. Ein weiterer Pastorellenaufstand fand 1320 statt. Er soll hier nur am Rande erwähnt werden, da er, von Paris ausgehend, sich vor allem auf die südfranzösischen Gebiete (Toulouse, Bourdeaux usw.) erstreckte. Die Hauptkräfte bildeten wiederum die armen bäuerlichen und plebejischen Schichten. Angriffsziel waren vor allem die Juden, die von ihnen von Stadt zu Stadt verfolgt und erschlagen wurden. In ihnen, die ja sehr oft als Wucherer und ähnliches tätig waren, sahen die Aufständischen diesmal ihre Hauptpeiniger. Daneben gingen sie aber auch, besonders zu Beginn der Unruhen, gegen die herrschende Klasse vor. In Paris stürmten sie die Gefängnisse und hatten einen schweren Zusammenstoß mit dem königlichen Prevot. Ähnliches wird aus Südfrankreich berichtet, wo sie sich gegen die Feudalherren, die die Juden in Schutz nahmen, wandten. 331 Im Vergleich zu 1251 fehlt bei dem Pastorellenaufstand von 1320 jeder Anhaltspunkt für das Auftreten häretischer Ideen. Kurze Zeit später erhoben sich die Bauern in den flandrischen Küstengebieten (1323—1328). Die Ursachen für diesen Aufstand sind m. E. noch nicht genügend herausgearbeitet. Die These P I R E N N E S , daß sich die Bauern der Küstengebiete eines guten Lebensstandards erfreuten, hat sich in der bürgerlichen Geschichtsforschung allgemein durchgesetzt.332 In der „Algemenen Geschiedenis der Nederlanden" wird von H. W E R V E K E der Kampf der noch lange Zeit freien Bauern gegen das Vordringen der feudalen Herrschaftsformen, vor allem das Auferlegen von Abgaben, als Hauptursache angegeben. 333 Das scheint aber zur Erklärung des hartnäckigen und immer wieder aus331
Über den Pastorellenaufstand vgl. BERNARDUS Guxoomrs, Vita Johannis Papae, XXII, Berum italicarum scriptores, ed. L. A. Muratori, HI/1, Sp. 682; Johannes canonicus S. Victoris Parisiensis, Vita Johannis Papae XXII, ebd. III/2, Sp. 485f. 332 PIRENNE, H., Le soulèvement de la Flandre maritime de 1323—1328, Documents inédits publiés avec une introduction, Brüssel 1900, S. LXVff.; hierauf stützt sich auch die Darstellung Pirennes über den flandrischen Bauernaufstand in der Histoire de Belgique, Bd. II, 3. Aufl., Brüssel 1922. Vgl. auch H. VAN WERVEKE, Algemene Geschiedenis der Nederlanden, III, 1951, S. 29. 333 Ebd. Bd. III, S. 28. 6 Mittelalterliches Plebejertum
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brechenden Kampfes der Bauern gegen die Feudalherren nicht zu genügen. P I R E N N E S These stützt sich vor allem auf die Listen der in der Schlacht bei Cassel (1328) — also in der letzten Phase des Aufstandes — gefallenen aufständischen Bauern, in denen ihr Besitz verzeichnet ist. Daraus geht hervor, daß Bauern mit einem Besitz von 10, ja sogar von über 20 ha bis zuletzt am Kampf teilgenommen haben. 334 Nach der statistischen Aufteilung ergibt sich aber, daß von den fast 3000 mit Grundbesitz erwähnten Bauern 1950 weniger als 2 1 / 2 ha besaßen. 335 Daneben sind 891 Aufständische ohne Grundbesitz aufgeführt, die in erster Linie aus den Küstenstädten kamen. Selbst wenn man die Meinung P I R E N N E S akzeptiert, daß die Vermögenswerte zu niedrig angegeben sind, bleibt doch, daß die Bauernschaft dieser Küstengebiete sehr stark differenziert war. Der Kampf gegen die neuen Abgaben erscheint daher unter diesem Gesichtspunkt sehr verständlich. Den Anlaß zum Aufstand verursachten die Keurherren durch den Mißbrauch ihrer Gewalt, vor allem in finanzieller Hinsicht. 336 Aber bereits 1324, nach den ersten Schlichtungsversuchen, ging der erneut aufflammende Aufstand bedeutend weiter. Der Zorn der von „hooftmannen" geführten Bauern richtete sich gegen die Feudalherren im allgemeinen. Die Burgen wurden gestürmt, der Kirche der Zehnt verweigert. Zahlreiche Städte schlössen sich den Aufständischen an, allen voran Brügge und Ypern. Inwieweit dabei gemeinsame Interessen zugrunde lagen, braucht hier nicht geklärt zu werden. 337 Nur durch das Eingreifen des französischen Königs, der den Handel mit den aufständischen Gebieten untersagte und einen Feldzug gegen die Aufständischen vorbereitete, geläng es noch einmal, die Positionen der flandrischen Feudalherren zu erhalten. Die gemäßigten Elemente schwenkten ab und schlössen den Frieden zu Arques. Die „Radikalen" aber kämpften weiter, und damit begann die dritte Etappe, die hier vor allem interessieren soll. Sie war durch einen heftigen Terror nicht nur gegen den Adel, sondern auch gegen alle gemäßigten Elemente gekennzeichnet. 338 Daneben tauchte ein betont antiklerikaler Zug auf. J A C O B P E Y T , der Hauptführer in der dritten Etappe des Aufstandes, war der Agitator gegen die Geistlichkeit. Er pflegte „nie" eine Kirche zu betreten und ließ die Priester verfolgen. Von ihm ist der Ausspruch überliefert, daß er wünsche, es wäre nur noch ein Geistlicher auf der Welt und der solle gehängt sein. Dieser Haß gegen den Klerus war keine persönliche Anschauung, sondern P E Y T vertrat damit die 334
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PIRENNE, H . , a. a. O . , S. L X V .
HUGENHOLTZ, F. W. N., Drie boerenopstanden uit de veertiende eeuw. Viaanderen 1323-28, Frankrijk 1358, Engeland 1381, Diss. Leiden 1949 hat die bei Pirenne abgedruckten Quellen statistisch aufgegliedert (S. 79f.). Zum Verlauf des Aufstandes vgl. HUGENHOLTZ, F., a. a. O., S. 25ff. und Algemene Geschiedenis der Nederlanden, III, S. 30ff. HUGENHOLTZ, F . , a. a. O., S. 1 0 6 f .
„Tu plus diligis dominos quam communitates de quibus vivis" war die Begründung für ihr Vorgehen. (Chronicon comitum Flandrensium, Corpus Chronicorum Flandriae, I, Brüssel 1837, S. 202.)
Ansicht eines großen Teiles der Aufständischen, die ihn wie einen Heiligen verehrten. 339 Noch während des Aufstandes wurde er, vermutlich von Gegnern seiner Politik, umgebracht. Später Heß ihn die Geistlichkeit ausgraben und als Ketzer verbrennen .340 Die Motive des Antiklerikalismus sind unklar. Sehr wahrscheinlich hat das erneute Verhängen des Interdikts über die aufständischen Gebiete (1326) sehr viel zur Herausbildung dieses Zuges beigetragen. Eine Quelle berichtet, daß J . P E Y T zugegen war, als es den Priestern der Küstengebiete verlesen wurde. Er wollte das verhindern, was ihm aber nicht gelang und ihn zu einem energischen Kampf gegen die Geistlichkeit veranlaßte. 341 Diese Begründung ist sehr einleuchtend. Ob darüber hinaus wirklich häretisches Gedankengut schon vorher auf ihn eingewirkt hatte, ist unbekannt. J . P E Y T stammte aus Brügge und konnte durchaus schon dort mit derartigen Ansichten bekannt geworden sein. 342 Wenn solche Einflüsse bei P E Y T tatsächlich vorhanden waren, so haben sie sich allerdings, nach den Überlieferungen zu urteilen, bereits so weit „säkularisiert", daß man von eigentlichem häretischen Gedankengut bei dem Aufstand nicht sprechen kann, zumal der Aufstand bereits vorher eine Stoßrichtung gegen die gesamte Feudalklasse angenommen hatte, die auch in der letzten Etappe nicht geändert wurde. Die logische Konsequenz daraus war natürlich, auch die Geistlichkeit als Gegner zu erkennen. Als letzte bäuerliche Bewegung soll der Bauernaufstand unter dem sogenannten König A B M L E D E R (1336—1338) kurz gestreift werden, der uns zurückführt in die eigentlichen Zentren der freigeistigen Häresie, in die Gebiete des Oberrheins. 343 Die Unruhen umfaßten das nördliche Franken und Schwaben 1336, Unterfranken, Hessen, Rhein- und Moselgebiet 1337, die Diözesen Basel und Straßburg mit dem Zentrum Kolmar 1338. S. H O Y E R kann nachweisen, daß die Aufstandsbewegungen in erster Linie von den landarmen und landlosen Bauern durchgeführt wurden und daß innerhalb der Städte vor allem Handwerker und Stadtarmut in die Kämpfe eingriffen. Hauptangriffs339
„Hoc horridum igitur mortis genus dinvenit capitaneus Burgensis, nominatua Jacobus Pric, proditor callidissimus et haereticus pessimus, qui optabat non esse nisi unum sacerdotum in mundo, et illum in aere suspensum. Nam et ipse tanquam incredulus ecclesiam non intrabat, et modo inaudito atque tyrannico viros ecelesiasticos persequebatur, et ipsios omnes expulisset a patria, bonis eorum primo confiscatis, nisi justo Dei judico fuisset in Hontscota per Furnenses occisus . . . et postmodum, licet fatui populäres eum tanquam sanctum adorarent. .." Ebd. S. 202. Bei MEYERUS, Annales Flandriae, fol. 130, wird er „Jacobus Peyt, prefectus plaebeiorum Bergensium" genannt. (Zitiert bei FREDERICQ, P., a. a. O . , I , S . 182.)
340 YGI_ FREDERICQ, P . , a . a . 0 . , I , S . 1 8 2 / 1 8 3 . 341 y g i . FREDERICQ, P . , a . a . O . , I I I , S . 8 f f . 342
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Wie Chroniken aus dem 1 5 . und 1 6 . Jh. berichten, wurden in Brügge 1 3 1 4 ( 1 3 1 3 ? ) nach der einen Version 12, nach der anderen 18 Ketzer verbrannt. Von ihren Lehren ist nichts überliefert. FREDERICQ, P., a. a. O . , III, S . 3 . Bei der kurzen Skizzierung dieser Bewegung stütze ich mich auf H O Y E R , S., Die Armlederbewegung — ein Bauernaufstand 1336—39 (Manuskript).
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ziel 'waren die Juden, die als Wucherer gerade auf diesen armen Schichten sehr stark lasteten. Von häretischem Gedankengut bei den Aufständischen berichten die Quellen nichts. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Als spezielle freigeistige Häresie tauchte ketzerisches Gedankengut in den Aufständen der zweiten Hälfte des 13. J h . und zu Beginn des 14. Jh. nicht auf. Dagegen zeigte sich, daß die progressiven Teile einer häretischen Ideologie durchaus in der Lage waren, die Aktionen des Volkes günstig zu befruchten. Ein Vergleich zwischen dem Pastorellenaufstand von 1251 und dem von 1320 sowie den Kämpfen unter „König A B M L E D E R " läßt erkennen, daß durch den Einfluß häretischer Ideologie die Aktionen der Aufständischen viel gefährlicher wurden. Während sich in den beiden zuletzt genannten Unruhen die Stoßrichtung im wesentlichen nur auf einen kleinen Teil des Ausbeutungssystems, den Wucher, konzentrierte, griff der Aufstand von 1251 gerade mit Hilfe der plebejisch-häretischen Ideologie einen wesentlichen Bestandteil der Feudalordnung an. Der Schritt zum Kampf gegen die gesamte Feudalordnung, wie etwa beim flandrischen Bauernaufstand, ist dann nicht mehr groß, denn auch in den Berichten von 1251 tauchte vage eine Frontstellung gegen den Feudaladel auf. Wo sich die progressiven Bestandteile einer häretischen Ideologie verselbständigten und in das Bewußtsein des Volkes eindrangen, waren sie durchaus in der Lage, den Massen weitgehend zu dienen, nicht nur in der vorbereitenden Phase des offenen Klassenkampfes, sondern sogar im Aufstand selbst. 344 344
Den Einfluß häretischen Gedankengutes auf revolutionäre Bewegungen im 14. Jh. hat neuerdings M. B R A N D T für den englischen Bauernaufstand 1381 nachgewiesen (Wijclifova hereza i socijalni pokreti i Splitu krajem XIV. st. Zagreb 1955 — Die wiclifltische Häresie und die sozialen Bewegungen in Split Ende des 14. Jh. — Ree. v. E. Werner, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft V, 1957, S. 1319-1323). Danach besteht nicht nur ein enger Zusammenhang zwischen dem Bauernaufstand und den häretischen Ansichten W I C L I F S und seiner Schüler, sondern die wiclifitischen Ideen wurden bereits vor der Erhebung von den ,,poor priests" ins Volk getragen und beeinflußten zumindest den radikalen Teil der englischen Bauern. „Das soziale Programm der Wiclifs war weit radikaler als die gemäßigten Forderungen der Bauern." (E. W., S. 1321); es beschäftigte sich allerdings, ähnlich wie die Ideologie der ersten Pastorellenbewegung, nicht mit allgemein religiösen Formulierungen, sondern im Mittelpunkt standen soziale Forderungen wie: alle Güter Gottes sind gemeinsam, jeder Ohrist ist frei, die Unfreiheit ist ein Werk des Teufels usw., Forderungen also, die unmittelbar die bedrückten Bauern ansprachen.
VII. D I E F R E I G E I S T ! GE H Ä R E S I E UND D I E MIKNE MYSTIK Bisher konnte festgestellt werden, daß die freigeistige Häresie eine plebejische Ideologie war. Darüber hinaus wurden aber auch mystische Kreise häretischer Ideen angeklagt, die entweder aus der freigeistigen Häresie entnommen waren oder ihr ähnelten. Diese mystischen Gruppen — vorwiegend Frauen — entstammten nicht den plebejischen Schichten, sondern kamen meist aus dem Stadtbürgertum, aber auch aus dem niederen Adel. Dadurch ergibt sich die Frage des Verhältnisses dieser mystischen Kreise zur Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist und ihrer Ideologie. Zur Klärung des Problems ist es notwendig, zuvor auf die Herkunft und Entstehung der freigeistigen Häresie näher einzugehen. 1. Herkunfts-
und Entstehungsprobleme
der freigeistigen
Häresie
Als eigentlichen Beginn der pantheistischen Häresie wird in der Literatur sehr oft auf die Ketzerei der Amalrikaner (um 1210) verwiesen. AMAIJRICH VON BENA, ein Gelehrter an der Universität zu Paris, hatte danach, in Auswertung der neuplatonischen Schriften JOHANN SCOTUS' VON EEIUGENA, Grundprinzipien entwickelt, die von seinen Anhängern ausgebaut und bereichert wurden und den eigentlichen Grundstock der Lehre der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist am Ende des 13. J h . bildeten. Bekanntlich zeigt sich bei den Amalrikanern das gleiche pantheistische Grundthema wie bei den Freigeistern. Gott ist — sowohl zeitlich als auch örtlich — überall, also auch in den Menschen, die demnach göttliche Wesen sind. 345 Es gibt keinen Sündenbegriff im katholischen Sinn. Wer erkennt, daß Gott in ihm wirkt, kann nicht mehr sündigen, denn Gott t u t alles für ihn. 346 Das 345
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„Deus est ubique . . . Ergo est in omni loco. . . Deus est Semper, ergo est in tempore . . . si omnia sunt ex eius essentia, et per ipsam: (ergo) omnia sunt in eius essentia." Ein Traktat gegen die Amalrikaner aus dem Anfang des 13. Jh., nach der Handschrift zu Troyes zum ersten Mal herausgegeben von CL. BAEUMKER, Jb. f. Philosophie und spekulative Theologie, VII, 1893, S. 346-412, S. 365-371. „Deus operatur omnia in omnibus . . . ergo tarn bona quam mala. Ergo qui cognoscit deum in se omnia operari peccare non potest." Ebd. S. 372. '
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Wichtigste ist die Erkenntnis, die das Gute bedeutet, während die Unkenntnis mit dem Bösen gleichgesetzt wird.347 Aus dem göttlichen Wesen heraus, das ihnen durch die wahre Erkenntnis vermittelt worden ist, lehnen sie die Buße ab, desgleichen die Eucharistie, und glauben auch nicht an die Auferstehung, denn diese ist bereits durch die Inkarnation des Heiligen Geistes in ihnen geschehen.348 Die Ähnlichkeit der amalrikanischen Lehre mit der Freigeisterei ist offensichtlich, und es ist auch keine Häresie bekannt, die vor Amalrich und seinen Anhängern den libertinistischen Pantheismus in Westeuropa in dieser Form auf die Tagesordnung gesetzt hätte. In der älteren Literatur erscheint daher Amalrich, von den einzelnen Historikern unterschiedlich betont, als der Schöpfer einer neuen pantheistischen Häresie, die dann zur Freigeisterei führte. 349 Dagegen wurde von verschiedenen Seiten heftiger Widerspruch erhoben, sowohl was die Rolle Amalrichs als auch die Entstehung der freigeistigen Häresie betrifft. H . H A U P T meinte, daß der freigeistige Pantheismus seinen Ursprung in der victorinschen Mönchsmystik habe, deren Ideen der Verbindung der Seele mit Gott in der freigeistigen Häresie maßlos übersteigert wurden. Mit den Amalrikanern habe diese Häresie nichts gemein.350 Ähnlich argumentiert J. V A N M I E R LO. Danach liegt den amalrikanischen Ideen, wie später auch der Freigeisterei, kein Pantheismus zugrunde, man hätte es hier lediglich mit einer besonders radikalen Übertreibung mystischer Gedanken zu tun, die bereits im 12. Jh. in Einzelheiten (Diskussionen über das Wesen der Trinität, Notwendigkeit der Sakramente usw.) hervortraten. Dieser Prozeß der Übersteigerung wiederholte sich nach J. V A N M I E K L O laufend, denn die Amalrikaner verschwanden 347 348
349 350
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„Infernius nichil aliud est, quam ignorantia; nec aliud est paradisus, quam cognitio veritatis, quam se dicunt habere." Ebd. S. 376. Es ist in unserem Zusammenhang nicht notwendig, näher auf die Einzelheiten der amalrikanischen Lehre einzugehen. Besonders in der älteren Literatur ist ihre Lehre immer wieder sehr ausführlich dargestellt worden. Vgl. z. B. JUNDT, A., a. a. O., S. U f f . DELACROIX, H., a. a. 0 . , S. 32FF. P R E G E R , W., a. a. O., I, S. 166ff. G R U N D MANN, H., Bewegungen, S. 35 5ff.,hat, vor allem auf die Umbildung der Lehre Amalrichs durch seine Anhänger hingewiesen. Sie entwickelten seine spekulativen Gedanken zur Lebenslehre und gaben ihnen damit erst ihre eigentliche Gefährlichkeit (S. 264), wozu vor allem die Aufnahme joachimitischen Gedankengutes entscheidend beigetragen hat (bes. bei der Herausarbeitung der drei Zeitalter: die Zeit der Gesetze, die Zeit Christi und jetzt beginnend die Zeit des heiligen Geistes). Siehe dazu auch GRUNDMANN, H., Studien über Joachim von Florie, S. 163FF. Neuerdings hat E. W E R N E S die Grundzüge der Amalrikaner noch einmal herausgearbeitet und sehr richtig eingeschätzt, daß die amalrikanische Doktrin bei aller Radikalität keine aktive Umgestaltung der Welt beabsichtigte, sondern wir es hier mit einem Akt individueller Vervollkommnung der Häretiker zu tun haben. (Nachrichten, S. 94f.). Vgl. z. B. J U N D T , A„ a. a. O., S. U f f . ; ALLIER, R., a. a. O., S. 109ff.; DELACROIX, H., a. a. O., S. 32ff.; PREGER, W., a. a. O., I, S. 166ff. H A U P T , H., Brüder des freien Geistes, S. 468.
nach ihrer Verurteilung, und es extistierte keine Verbindung zur späteren Freigeisterei.351 Gegen diese Ansichten, besonders gegen H . H A U P T , nahm neuerdings A. M E N S Stellung. M. trennt scharf zwischen orthodoxer und häretischer Mystik und sieht den Ursprung der freigeistigen Häresie im spirituellen Pantheismus der katharischen Ketzergruppen des nordfranzösisch-rheinischen Baumes, 'wobei die Amalrikaner lediglich ein wichtiges Kettenglied innerhalb dieser Sektenentwicklung darstellten.352 Diese Meinung ist auf heftigen Widerspruch gestoßen, weil katharischer Dualismus und freigeistiger Pantheismus zunächst als unüberbrückbare Gegensätze erscheinen.353 Trotz dieser Unterschiede gibt es aber eine wesentliche Gemeinsamkeit. E. W E R N E B hat nachhaltig darauf verwiesen, daß trotz der dogmengeschichtlichen Verschiedenheit „das religiöse Motiv beider Lehrmeinungen das gleiche ist: Erlösungsfrömmigkeit als Eroskonzeption . . . Der katharische Perfektus wird von dem gleichen Gefühl getragen, das er in der Welt nur anders erlebt als der Mönch oder die Nonne in der Zelle. Die Kartharer wissen, daß ihr eigentliches Wesen göttlich ist, daß sie gefallene Engel der Lichtsphäre sind und bald heimkehren werden . . . Erlösung ist für den Manichäer, den Katharer, den Spiritualen Vergottung im irdischen Leben. Es ist ein gleiches Grunderlebnis, das sie trägt und heraushebt aus der Welt und der Gesellschaft, gleichgültig, ob sie ,mit traurigem Gesicht und tränenreicher Stimme' die stille Freude des Auserwähltseins empfinden, wie die Katharer, oder von grenzenlosem Optimismus erfüllt sind, wie die Amalrikaner und ihre Nachfolger, und dieses Bewußtsein offen zur Schau tragen, indem sie die alte Sittenordnung in ihren Gemeinden demonstrativ verlassen." 354 Ergeben sich damit Berührungspunkte zwischen beiden Häresien, so lassen sich darüber hinaus bei einigen westeuropäischen Ketzergruppen des 12. Jh., die J.,Bégardisme, Sp. 435ÍF., vgl. auch vom gleichen Verfasser, HetBegardisme, S. 29 5 ff. VAN MIERLO verweist besonders auf die mystischen Spekulationen
361
VAN MIERLO,
352
A. MENS, Oorsprong . . ., S. 23ff. und S. 148, Anm. 141. M. spricht von diesem Problem nur in Andeutungen, da er, wie er in der Einleitung schreibt, nur die orthodoxen Beginen und Begarden erfassen will und beabsichtigt, den Häretikern eine große Arbeit zu widmen. BORST, A., Die Katharer, Schriften der Monumenta Germaniae histórica. Deutsches Institut für Erforschung des Mittelalters, Bd. 12, Stuttgart 1953, lehnt sowohl die Zurechnung der Amalrikaner zu den Katharern als auch die Existenz eines pantheistischen Flügels unter den Katharern ab (S. 90, Anm. 5 und S. 114, Anm. 19). Auch H. GRTTNDMANN, La mystica, S. 80 hat sich gegen M E N S gewandt, da nach seiner Meinung Dualismus und Askese auf der einen Seite und Pantheismus und Libertinismus auf der anderen nicht zu vereinbaren seien. (Der Beitrag GRUNDMANNS, La mystica, wurde in etwas erweiterter Form unter dem Titel: Neue Beiträge zur Geschichte der religiösen Bewegungen im Mittelalter, Archiv für Kulturgeschichte, 37, H. 2, 1955, S. 129-82 veröffentlicht. Vgl. hier S. 178).
WILHELMS VON S T . THIERRY.
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354
WERNER, E., Nachrichten, S. 9 8 f .
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auch M E N S im Auge hatte, tatsächlich Übergangserscheinungen feststellen. So steht z. B. im Mittelpunkt der Häresie E O N S VON S T E L L A (um 1 1 4 5 ) die Göttlichkeit des Sektenhauptes, denn er rühmt sich, der Sohn Gottes, der Richter über Lebende und Tote, der Herr aller Dinge zu sein. 355 Den gleichen Schwerpunkt finden wir bei T A N C H E L M VON A N T W E R P E N (etwa 1 1 1 2 ) , der sein Auftreten aus einer göttlichen Inspiration ableitet, die ihn göttlich gemacht habe. Aus diesem Grund lehnt er die Sakramente, besonders die Eucharistie und die kirchliche Hierarchie ab. 356 Wenn man bei diesen Ketzern auch nicht von Pantheismus sprechen kann, so verschiebt sich doch bei ihnen, nach den Überlieferungen, der Schwerpunkt vom Dualismus zur alles überragenden Göttlichkeit des Sektenhauptes. 357 Wie sich dieses Thema weiter gehalten und entwickelt hat, ist unklar, es ist jedoch erwiesen, daß sich auch nach T A N C H E L M S Tod Anhänger für seine Lehre fanden. 358 Damit wurde in diesen Sektengruppen der Boden für die pantheistischen Lehren vorbereitet. In der nächsten entscheidenden Etappe gelang den Amalrikanern der sich in der Sektenideologie schon lange andeutende Sprung vom göttlichen Sektenoberhaupt oder „perfectus" zur Vergottung jedes Häretikers. Allerdings ging diese Entwicklung nicht unabhängig von anderen ideologischen Einflüssen vonstatten. Die von H. H A U P T und J . VAN MXEKLO angeführten mystischen Richtungen haben zweifelllos mitgewirkt. Auch die Schriften des Pseudo-Dionysius und die im Neuplatonismus fußenden Anschauungen J O H A N N SCOTTJS' waren durchaus nicht nur einem Gelehrten an der Pariser Universität zugängig. 359 I n all diesen Ideologien wurde das Problem des Weges der Seele zu Gott und ihr Verhältnis mit Gott erörtert, und die daraus entstandenen Diskussionen waren geeignet, die Entwicklung der neuen Häresie zu beschleunigen. Der Anteil der verschiedenen Strömungen — orthodoxe und häretische — an der Herausbildung der Freigeisterei wird heute kaum noch festgestellt werden 355
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Vgl. dazu u. a. DÖLLINGER, I . , a. a. O . , I , S. 1 0 3 , BORST, A . , a. a. 0 . , S. 8 7 und W E B NEB, E., Pauperes Christi, Studien zu sozial-religiösen Bewegungen im Zeitalter des Reformpapsttums, Leipzig 1956, S. 179FF.
« BOBST, A . , a. a. O . , S . 8 4 . W E B N E B , E . , P a u p e r e s , S . 1 9 3 .
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Ähnliche Tendenzen zeigen sich bereits bei LEUTHARD, einem Bauern aus dem Dorf Vertus in der Champagne (um 1000), der seine Frau verjagte, die Kruzifixe der Dorfkirche zerschlug, den Geistlichen die Zahlung des Kirchenzehnts verweigerte und den Propheten des Alten Testaments nicht mehr glauben wollte. Er begründete das mit einer göttlichen Offenbarung, die er gehabt haben wollte. (BOBST, A., a. a. O., S. 73). Die Anklänge an unser Problem sind schwach vorhanden. Ebd. S. 85. D i e v i c t o r i n i s c h e M ö n c h s m y s t i k u n d v o r a l l e m WILHELM VON ST. THIEBBY s t ü t z t e n
sich sehr stark auf die pseudo-dionysischen Schriften. Vgl. dazu MENS, A., Oorsprong, S. 122ff. Neuerdings konnte nachgewiesen werden, daß bereits zu Beginn des 11. Jh. SCOTUS VON EBIUGENA und der PSEUDO-DIONYSIUS in Westeuropa stärker bekannt waren, (VON IVANKA, A. Un disciple occidental du Pseudo — Denys: Gerardus Moresanus, Actes du X. Congres international d'études byzantines, Istanbul 1957, S. 132, zitiert nach WEBNEB, E., Nachrichten, S. 101, Anm. 143a).
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können.360 Bereitschaft für das Vergottungsthema war in beiden Bereichen vorhanden. 361 „Das Streben dieser Menschen war, grob gesprochen, von einem mehr oder minder heftigen Erlösungsbedürfnis erfüllt, einem Drang nach Überwindung des tatsächlichen Zustandes der Klassengesellschaft. Dieses Streben konnte sich, ideologisch gesehen, in einer Flucht in die Mystik, einer chiliastischen Erwartung oder einer Vergottung in der Sektengemeinde widerspiegeln."362 Indem die Amalrikaner dieses Streben aufgriffen und häretisch verarbeiteten, gaben sie den Ketzerideologien zweifellos neue Impulse. Unabhängig davon, wie groß der Anteil Amalrichs an der Herausbildung war, konnte sich die neue Ideologie nur durchsetzen, weil vor allem bei den Ketzern Interesse am Vergottungsthema bestand. Das beweist die weitere sektengeschichtliche Entwicklung während des 13. Jh. Wenige Jahre nach der Verurteilung der Amalrikaner tauchte im Gebiet des Oberrheins mit Schwerpunkt Straßburg die Häresie der Ortlieber, benannt nach dem Häretiker O R T L I E B VON STBASSBTTRG, auf. Ihre Lehre ist nur von einem Chronisten überliefert und daher nicht kontrollierbar.363 Sie hatte folgenden Inhalt: Die Welt ist ohne Anfang und nicht von Gott erschaffen.364 Ihre Sekte geht bis auf Adam zurück.366 Christus war ein fleischlicher Sohn des Zimmermanns Joseph und ein Sünder. Erst durch die Predigt Marias ist Christus Mitglied der Sekte und damit ein Sohn Gottes geworden, genauso wie sie selbst.366 Da die Häretiker bei Eintritt in die Sekte den gleichen Weg gehen, stehen sie auf einer Stufe mit Christus und sind damit praktisch auch göttlich.367 Die Sakramente werden nicht alle radikal abgelehnt, sondern teilweise nur umgebildet. So ist z. B. bei der Taufe nicht der Taufakt entscheidend, 360
Bereits A L P H A N D E R Y , P . , wies darauf hin, daß die Wurzeln des Amalrikanismus sowohl bei den oben erwähnten Ketzergruppen als auch bei den mystischen Strömungen lagen (a. a. O., S. 144f.). 361 Über ähnliche ideologische Erscheinungen auf dem Balkan vergl. W E R N E R E., Adamitische Praktiken im spätmittelalterlichen Bulgarien, Byzantinoslavica 20, 1959, S. 20-27. 3«a W E B N E R , E., Nachrichten, S. 96. 363 Raineri ordinis praedicatorum liber contra Waldenses, haereticos. . . ed. VON J. GRETSER, Opera omnia XII, Regensburg 1 7 3 8 , S . 3 1 ff. 364 „Item dicunt, quod mundus non habeat principium." Ebd. S. 31. C; in einer anderen Version heißt es: „Item dicunt, mundum aeternum esse; nec est creatus secundum eos; et ita Deus non est creator mundi." Ebd. S. 31G. 365 „Dicunt quod (Adam) fuit primus homo, qui secundum eos per creationem Dei ex praedicatione, primo creatus fuit, qui primus fecti voluntatem Dei credendo secta eorum." Ebd. S. 31. G. 366 „ . . . Jesus, (quem dicunt filium fabri, scilicet Joseph, carnalem, sicut ego sum, carnalis filius patris mei) Verbum praedicationis beatae Virginis Mariae suscepit. Dicunt enim quod praedicando traxit eum in sectam ipsorum, et sie factus est filius Dei credendo, qui ante fuit filius carnalis et peccator." Ebd. S. 31 E. 397 Das kommt auch in der Formulierung zum Ausdruck, wonach nicht das geweihte Brot, sondern sie selbst (wahrscheinlich als Sekte gemeint) der wahre Körper Christi sind. S. 32 D.
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sondern die Reinheit des Taufenden. 368 Daneben kann man aber auch ohne Taufe vollkommen werden. 369 Das Sakrament der Firmung wird ebenfalls umgedeutet, das Abendmahl dagegen völlig abgelehnt, da sich Brot nicht verwandeln könne. 370 Sie verwerfen den Zehnten. 371 Der Papst ist das Haupt allen Übels und der Klerus der Wegbereiter der Lüge. 372 Die Ortlieber gelangen durch ihre Grundlehre nicht zum Libertinismus, sondern zur Askese und verwerfen die sexuelle Verbindung in der Ehe. 373 Unter Zeugung von Nachkommen verstehen sie die Gewinnung neuer Mitglieder für ihre Sekte durch die Predigt. 374 Das Hauptinstrument dafür war die Betgemeinschafb, die sie der himmlischen Trinität nachbildeten. Der Vater, das ist der Werbende, der Sohn der Geworbene und der Heilige Geist derjenige, der den Neugeworbenen in der Sektenideologie festigt. 375 Als Endziel predigten sie das Jüngste Gericht, das stattfinden werde, wenn der Papst und der Kaiser Mitglieder ihrer Sekte geworden seien. Danach werde das Paradies bereits im Diesseits beginnen. 376 Es ist offensichtlich, daß zwischen Ortliebern und Amalrikanern eine sektengeschichtliche Verbindung besteht, die sich vor allem in den pantheistischen Tendenzen und der Göttlichkeit aller Sektenmitglieder äußert. Allerdings sind beide Momente schon viel verschwommener als bei den Pariser Häretikern. Als Bindeglied zwischen den Amalrikanern und den Freigeistern des späten 13. und beginnenden 14. J h . sind die Ortlieber nicht geeignet, denn ihre Unterschiede zu den Pariser Ketzern sind größer als die der Sekte vom freien Geist. 377 368 369 370 371 372 373 374 376 376
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,,De Baptismo dicunt, quod nihil valeat, nisi quantum valeant menta baptizantis." Ebd. S. 32 D. „Item dicunt, quod Judaeus possit salvari in sua sine Baptismo." Ebd. S. 32 D. „Item corpus Christi dicunt, esse purum panem." Ebd. 32 D. „Item, decimas non dandas, dicunt, esse Sacerdotibus et Clericis ex debito officii." Ebd. S. 32 D. „ . . . dicunt, Papam caput totius mali, et doctorum erroris. Sacerdotes factores viae mendacii." S. 31 C. , , . . . quod matrimonium licitum est et bonum, sed opus carnale conjugatorum damnant." S. 32 E. „Tarnen si quaeritur, au liceat talibus generare pueros dicunt, quod sie et intelligunt de spirituali generatione per praedicationem." Ebd. S. 32 E. Ebd. S. 31 C. „Judicium extremum futurum esse tunc, scilicet quando Papa et Imperator ad sectum eorum convertentur. Tunc enim tollentur de medio omnes, qui non fuerant de secta illia; et postea in aeternum vivent et cum maxima tranquillitate, tarnen nascentur homines et morientur sicut modo." Ebd. S. 32 B. Diesen Differenzen ist in der älteren Literatur zu wenig Beachtung geschenkt worden. R. A L L I E R Z. B. erklärt zwar sehr richtig, daß Askese und Libertinismus nur zwei Seiten derselben Medaille sind, des sündlosen göttlichen Menschen, der sich entweder vom Diesseits abwenden oder der materiellen Welt zuwenden kann (a. a. 0., S. 130), aber diese theoretische Erklärung ist kaum dazu geeignet, einen wiederholten Übergang zwischen den beiden Seiten innerhalb einer Sekte zu begründen. Daher überzeugt auch die direkte Einbeziehung der Ortlieber in die Entwicklung
K. M Ü L L E R hat versucht die Ortlieber den Waldensern zuzurechnen, wogegen H. H A U P T heftig opponierte und sie der katharischen Gruppe zuordnete. 378 H. G R U N D M A N N vertrat dagegen die Ansicht, daß die Lehren der Ortlieber ein Konglomerat von häretischen Bestandteilen darstellen, das nur oberflächlich zusammengefügt worden war. 379 Dieser Meinung ist weitgehend zuzustimmen. Man wird annehmen müssen, daß die ortliebischen Lehren durch Vermischung pantheistischen Gedankengutes mit anderen häretischen Ideologien entstanden, wobei sich der eine oder der andere Bestandteil (z.B. die trinitarischen Betgemeinschaften) neu entwickelte. Eine größere Bedeutung hat die Sekte nicht gehabt. Sie ist nur deshalb für den Rahmen dieser Betrachtung wichtig, weil sie einen Beweis dafür liefert, daß der sektengeschichtliche Übergang zum göttlichen Wesen jedes Häretikers keine zufällige Erscheinung war, sondern auch bei anderen Ketzereien, wenn auch in abgeschwächter Form zum Ausdruck kam und selbst bei einem Konglomerat von Lehrsätzen anklang. Das Prinzip der Vergottung war für die Häretiker des 13. Jh. von allgemeinem Interesse. Nachdem sich das pantheistische Vergottungsprinzip in Gestalt der amalrikanischen Häresie einmal durchgesetzt hatte, hielt es sich hartnäckig unter der Oberfläche, bis es in der zweiten Hälfte des 13. J h . in der freigeistigen Häresie offen in Erscheinung trat. Auf welchen Wegen wurde es vermittelt ? Die von der älteren Literatur befürwortete Entwicklung über die Ortlieber muß aus den oben erwähnten Gründen abgelehnt werden. Haben H . H A U P T , J . VAN M I E R L O und auch S T . A X T E R S recht, wenn sie eine sektengeschichtliche Entwicklungslinie generell verneinen? 380 H . G R U N D M A N N hat demgegenüber bereits auf die Aufnahmebereitschaft für die amalrikanische Häresie unter den Beginen verwiesen. Eine Pflege und selbständige Weiterentwicklung kann ihnen aber nicht zugeschrieben werden. H. G R U N D M A N N nahm daher an, daß die eigentlichen Träger der häretischen Gedanken umherschweifende Scholaren usw. waren. 381 Auch diese Ansicht ist m. E. nicht völlig zutreffend. Die Vermittlung und Pflege des pantheistischen Gedankengutes scheint vielmehr in den Sektengruppen des 13. J h . im nordfranzösisch-flandrischen und im
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der freigeistigen Häresie nicht, und es muß abgelehnt werden, daß die Ortlieber nicht verschwinden, sondern sich einfach einen neuen Namen, den der Brüder und Schwestern vom freien Geist, zulegten (Ebd. S. 116). Die Entwicklungslinie Amalrikaner — Ortlieber — Sekte vom freien Geist wird besonders in der älteren französischen Literatur immer wieder angedeutet. Vgl. z. B. JTJNDT, A., a. a. O., S. 36ff. ; DELACROIX, H., a. a. O., S. 67ff.; VERNET, F., Frères du libre esprit, Dictionnaire de théologie catholique, VI, 1920, S. 802. MÜLLER, K., Die Waldenser und ihre einzelnen Gruppen bis zum Anfang des 14. Jh. Gotha 1886, S. 13Off.; H. HAUPT, Waldensia, Zs. f. Kirchengeschichte, 10, 1889, S. 3 1 6 fif. GRUNDMANN, H., Studien, S. 171 f. Er will daraus ableiten, daß die Sekten jener Zeit keine festen Lehrgebäude und Genossenschaften hatten, sondern sich laufend umbildeten und neu formierten.
380 AXTERS, ST., a. a. O., I I , S. 1 6 1 f . 381 GRUNDMANN, H . , B e w e g u n g e n , S. 3 7 6 .
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rheinischen Gebiet vor sich gegangen zu sein. Obwohl die Quellenbasis sehr schmal ist, gibt es dafür einige Beweise. Als in den dreißiger Jahrendes 1 3 . Jh. der Inquisitor R O B E R T L E B O T J G E E in Nordfrankreich wütete, bekämpfte er Ketzer, die in den Quellen als „paterini" und „bugares" bezeichnet werden. 382 A. B O R S T rechnet sie alle zu den Katharern, obwohl die überlieferten Lehrsätze vielfach sehr dürftig sind. 383 I m Rahmen dieser Verfolgungen wurde 1 2 3 5 die Begine A L A Y D I S V O N C A M B R A I verbrannt, der man Ketzereien zur Last legte, die pantheistisches Gedankengut zum Inhalt hatten. Sie war eine alte Frau, die wegen ihrer Frömmigkeit sehr bekannt war. Eines Tages veranlaßte sie einen Weinhändler, seinen Wein nicht mit dem Ruf: „Guter Wein, allerbester Wein, köstlicher Wein", wie es sonst üblich war, anzubieten, sondern mit den Worten „Heiliger Gott, barmherziger Gott, allerbester Gott". Sie selbst lief ihm nach und lobte ihn. Sie wurde ergriffen und mit etwa zwanzig anderen Ketzern verbrannt. 384 Diese Handlung, die die Chronica Alberici sehr ausführlich schildert, hat nur einen Sinn, wenn man ihr die amalrikanischen Anschauungen zugrunde legt, wonach Brot und Wein grundsätzlich, also auch schon vor der Konsekration, Blut und Leib Gottes sind. 386 Die überlieferten Sätze erlauben allerdings nicht, A L A Y D I S selbst zum eigentlichen Sektenkreis zu zählen, da sie zu wenig in die eigentliche Problematik der Häresie eindringen. Dagegen macht die räumliche und zeitliche Übereinstimmung mit den anderen Ketzerverfolgungen die Annahme wahrscheinlich, daß zumindest einige Häretiker amalrikanische bzw. freigeistige Lehren ver382
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Die Namen „paterini" und „bugares" tauchen z. B. in den Schilderungen MATT H A E U S ' VON P A R I S auf, der über die Verfolgungen in Flandern 1234—36 und 1238 berichtet. Zitiert bei F E E D E R I C Q , P . , a. a. O., 1, S. 96f. und S. U l f . In der letzten Quelle werden sie auch als „Albigenses" bezeichnet. BORST, A . , a. a. O., S. 123.
„Similiter in Cameraco multi comprehensi sunt, inter quos vetula quedam, Alaydes nomine, que videbatur et credebatur esse valde religiosa et elemosinaria ultra moi dum, tandem accusata comprehensa est. De ista dictum est, quod quadam die per illum, qui clamabat per civitatem: ,Vinum bonum, vinum Optimum, vinum pretiosum', dato pretio fecerit clamari: ,Deum pium, Deum misericordem, Deum bonum et Optimum', per totam civitatem ipsa sequente et affirmante: ,Bene dicit, verum dicit'. Et hoc totum fecit causa laudis humanae ut post apparuit; ista itaque conbusta fuit cum aliis fere 20 et 21 inclusi." Chronica Alberici monachi trium fontium, MGSS. XXIII, S. 937 z. J. 1235. Diese Ansicht äußerte bereits P R E Q E R , W . , a. a. O . , I , S . 2 1 3 . Vgl. auch M E N S , A., Oorsprong, S . 1 1 6 . G R U N D M A N N , H . dagegen will in der Verbrennung A I A Y D I S ' lediglich ein Fehlurteil des wütenden Inquisitors sehen (Bewegungen, S. 185). Er begründet das mit dem schon lange bekannten frommen Leben dieser Frau und identifizierte sie mit der Begine, die H A D E W Y C H betrauert, weil sie vom Inquisitor R O B E R T wegen ihrer gerechten Minne getötet worden sei. Diese Argumentation erscheint mir nicht stichhaltig, denn die Quellenstelle wird damit nicht fragwürdig, weil ein bisher gutes Beginenleben die Empfänglichkeit für pantheistische Ideen nicht ausschließt.
breitet haben, von denen auch A L A Y D I S angesprochen worden war. D a ß davon nichts überliefert ist, beweist nicht das Gegenteil, da wir v o n ihren Lehren relativ nur sehr wenig wissen. D a g e g e n ist es interessant, daß wenige Jahre später in Antwerpen die Lehren v o n W I L H E L M COBNELITTS verbreitet werden. D a s spricht für die Existenz freigeistiger Lehren in den v o n d e m Inquisitor R O B E R T bekämpften Sektengruppen. Aber nicht nur in diesem Gebiet, auch im Rheinland haben sich die pantheistischen Ideen in den Sektengruppen des 13. Jh. unter der Oberfläche gehalten. I m Zusammenhang mit der Inquisitionstätigkeit K O N B A D S V O N M A B B U B G u m 1 2 3 0 3 8 6 wird den Häretikern immer wieder luziferianisches Gedankengut zugeschrieben. 3 8 7 I n Trier wurde u m 1 2 3 1 eine Frau, L U C A B D I S , verbrannt, die glaubte, durch ein sehr frommes Leben den Luzifer, dessen Ausstoßung aus d e m H i m m e l sie aufs heftigste bedauerte, wieder dahin zurückführen zu können. 3 8 8 I n K ö l n gab es zur gleichen Zeit eine ähnliche Teufelsanbetung. W e n n auch die Einzelheiten über diese Ereignisse zweifellos stark übertrieben waren, ist doch aus d e m Vergleich mit anderen Quellen auf die tatsächliche Existenz dieser Sekte zu schließen. 3 8 9 Diese luziferianische Häresie läßt sich in 386
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In den noch sehr umstrittenen Fragen der Herkunft und der Tätigkeit K O N R A D S VON MARBURG, siehe von der älteren Literatur B R A U N , P., Der Beichtvater der heiligen Elisabeth und deutsche Inquisitor Konrad von Marburg, Beiträge zur hessischen Kirchengeschichte, IV, H. 1 , Darmstadt 1 9 0 6 , S . 2 4 8 — 3 6 1 und neuerdings M A Y , K. H., Zur Geschichte Konrads von Marburg, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte I, Marburg 1951, S. 87—101; M A U R E R , W., Zum Verständnis der hl. Elisabeth von Thüringen, Zs. f. Kirchengeschichte, 4. Folge, Bd. LXV, 1953/54, H. 1 u. 2, S. 16 bis 64. Zur Entwicklung der Luziferianer und ihrer Abhängigkeit von den Katharern vgl. den knappen Überblick von A M A N N , E., Luciferians, Dictionnaire de Theologie catholique, I X , Paris 1926, Sp. 1044—1056. ü b e r die gesellschaftlichen Hintergründe des Aufkommens der Luziferianer bes. im 14. J h . hat R A D Ö E N K O , K., PejiHrK>3Hoe h jiHTepaTypHoe «BHmeHHe Bb EoJirapHH. Kiießb 1898 interessante Bemerkungen gemacht. Er sieht darin vor allem eine Reaktion auf wirtschaftliche Mißstände, Pest usw. Dadurch hätte sich die Meinung verbreiten können, daß der Satan auf der Welt größeren Einfluß und Macht habe als Gott (S. 211ff.). „Nam in ipsa civitate Treveri tres fuisse scolas hereticorum publicatum est. Nam exusta est ibi quedam Lucardis, que sanctissime vite putabatur, que incredibili lamentatione lugebat luciferum iniuste de celo extrusum, quem volebat replorare denuo in celum." Gestorum Treverorum continuatio IV, MGSS. XXIV, S. 401 z. J . 1231. Chronica Alberici, MGSS. X X I I I , S. 931. Leider liegen diese Quellen sehr stark im Dunkel, da der mit der Aufspürung beauftragte Inquisitor K O N R A D VON MARBURG alle Mittel benutzte, um von den Ergriffenen Geständnisse zu erpressen und neue Namen zu bekommen, so daß alle Formen der Verleumdung in Blüte standen. Vgl. dazu neben der Gesta Treverorum und der Chronica Alberici auch die Annales Wormatiensis MGSS. XVII, S. 38 ff. Aus dem Vergleich mit den Quellen des 12. Jh., mit Berichten von Luziferianem aus 93
Spuren bei der späteren Freigeisterei nachweisen. Im Rieß wird mehrere Male vom Fall des Engels gesprochen. 390 Nach dem Bericht des Erzbischofs von Köln behaupteten die Freigeister 1307, daß sich der Satan in einen Engel des Lichts umbilden werde. 391 Das bedeutet doch, daß die freigeistige Häresie Berührung mit den Luziferianern gehabt hat. Dieser Kontakt muß in den dreißiger Jahren im Rheinland stattgefunden haben, denn danach sind die Luziferianer in Westdeutschland verschwunden. Damit hat sich die Freigeisterei in der ersten Hälfte des 13. J h . im Rheinland vermutlich in den gleichen Kreisen gehalten und das luziferianische Element rasch zurückgedrängt, weil das pantheistische Vergottungsprinzip den Interessen der Sektenanhänger bedeutend mehr entsprach als die Teufelsanbetung. So spielen die luziferianischen Sätze innerhalb der freigeistigen Häresie sowohl qualitativ als auch quantitativ keine bedeutende Rolle. Wenn man auf Grund dieser Entwicklung annehmen muß, daß sich die pantheistische Häresie von den Amalrikanern bis zur zweiten Hälfte des 13. Jh. als Sektenideologie gehalten und entwickelt hat, so bleibt die Frage offen, inwieweit sie zu dieser Zeit bereits innerlich festgefügt war und einen geschlossenen ideologischen Komplex bildete. H. GRUNDMANN lehnt die Existenz einer Sekte im eigentlichen Sinn ab und spricht lediglich von pantheistischen Gedanken, die in den verschiedenen Formen übermittelt worden wären. 392 Als Beweis dafür führt er an, daß im Rieß die amalrikanischen Lehrsätze nur einen Bestandteil der Häresie bildeten, daneben aber die Übersteigerung des mystischen Vergottungsstrebens sehr viel Raum einnahm. Dieses Argument ist, wie wir noch sehen werden, nicht stichhaltig, da im Rieß einige Besonderheiten wirksam waren. Wichtig ist dagegen, daß einige Teile der amalrikanischen Lehre Ende des 13. J h . völlig verschwanden. 393 Dazu gehören vor allem die Erwartung des Zeitalters des Heiligen Geistes, die theologische Geschichtsspekulation u. a., also die Elemente, die von JOACHIM VON F I O R E entnommen wurden. Weiter sei daran erinnert, daß um 1 2 5 0 mit W I L H E L M CORNELIUS eine
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Frankreich ergibt sieh das wirkliche Vorhandensein dieser Häresien. (Vgl. AMANN, E., a. a. O., S. 1048.) Auch bei einem gewissen MISTNIKE, Abt des Zisterzienserinnenklosters Neuwerk bei Goslar, der 1224 verbrannt wurde, tauchten luziferianische Elemente auf. M. behauptete, daß er einen gefallenen Engel gesehen habe, der Gott um Verzeihung bat. (HABTZHEIM, J., a. a. O., III, S. 515/16). Allerdings ist diese Lehre bei ihm nur fremder Bestandteil. Im Mittelpunkt steht die Verehrung seiner eigenen Person durch die Nonnen. (Lea, Ch., a. a. O., II, S. 69). „Dicere quod angeli non sint lapsi de celo contra veritatem Evangelii est. Quod angelus vero non cecidisset si bona intentione fecisset quod fecit. Dicere quod dyabolus non afficit animam dulcedine mentiri est in doctrina veritatis." PREGER, W., a. a. O., I, S. 461ff. Nr. 60, 75, 81. ,,Sed quomodo sciunt quod haec revelatio sit coelestis, cum Satan in lucis angelum se transformet?" FREDERICQ, P., a. a. O., I, S. 153. GRTODMANN, H . , B e w e g u n g e n , S. 376, 422.
Ebd. S. 422.
Ketzerei auftauchte, die zwar zur freigeistigen Häresie zu zählen ist, sich aber durch zahlreiche Besonderheiten auszeichnete. Außerdem hatten wir feststellen können, daß im Rahmen der freigeistigen Ideologie die Ablehnung der Arbeit und die Idealisierung des Bettels eine wesentliche Rolle spielten. Diese Sätze sind jedoch von den Amalrikanern nicht überliefert. Die Beachtung all dieser Momente erlaubt die Schlußfolgerung, daß mit den Amalrikanern zwar die Grundlagen der neuen Häresie gelegt wurden (pantheistisches Vergottungsprinzip), daß sich diese Grundlagen aber erst im Verlauf des 13. J h . durchsetzen und umbilden mußten, damit die eigentliche plebejisch-häretische Ideologie entstehen konnte. Dabei war während der ersten Hälfte des 13. Jh. die Zurückdrängung anderer Häresien entscheidend, wobei, wie wir bei den Luziferianern sahen, einzelne Sätze mit übernommen wurden. Noch bedeutender war die Umbildung durch den Sektenkörper. Der beste Beweis dafür ist das Auftreten der Freigeisterei in Antwerpen, aber auch die Schwerpunktverlagerung auf den Bettel dokumentiert den Anteil der breiten Anhängerschaft an der Prägung der neuen Lehre. Auch mystische Einwirkungen sind während des 13. J h . unverkennbar. 394 Dieser Prozeß war am Ende des 13. J h . so weit abgeschlossen, daß die Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist mit ihrem esoterischen und exoterischen Kreis und der plebejischen Häresie entstanden war. Darüber hinaus sprach aber die freigeistige Härsie auch Schichten an, die nicht zur sozialen Basis der Sekte gehörten und wo das Wesen der Ideologie infolgedessen auch anderen Ausdruck fand.
2. Die Annahme freigeistigen
Gedankengutes
durch mystische
Kreise
H. G B U N D M A N N gelang es nachzuweisen, daß die amalrikanischen Ideen in den mystischen Frauenkreisen des 13. J h . bereitwillig aufgenommen wurden. 395 Die Häretiker predigten Frauen, besonders Witwen, und gewannen sie für ihre Ideen, nach G R U N D M A N N vor allem deshalb, weil die kirchlichen Instanzen in der ersten Hälfte des 13. J h . den Beginen weitgehend ablehnend gegenüberstanden und die Frauen sich daher zu den Häretikern, die ihrem mystischen Vergottungsstreben entgegenkamen, hingezogen fühlten. 396 Die Ansprechbarkeit dieser Kreise für die freigeistige Häresie ergibt sich aus der Ähnlichkeit des Zentralmotivs der Freigeisterei und der Minnemystik. 397 394 385
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Diesen Einfluß hat bes. M E N S , A . , Oorsprong, S. 150f. betont. G R T O D M A N N , H . , Bewegungen, S . 357FF. u. 375FF. Ebd. S. 384. Die ideologischen Quellen der niederländischen Minnemystik sind einmal durch das Wirken B E R N H A R D S VON CLAIRVAUX, von wo bes. das „Bräutigamsmotiv" übernommen wurde, und zum anderen durch die VICTORINISCHE Mönchsmystik und die Lehren W I L H E L M S VON T H I E R R Y , WO auch pseudo-dionysisches Gedankengut verarbeitet wurde, bestimmt ( A . M E N S , Oorsprong, S . 1 2 2 F F ) . J . VAN MIERLO hat aller-
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Dieser Mystik liegt der Gedanke zugrunde, daß die Seele das Abbild Gottes sei. Das Abbild wurde durch den Sündenfall getrübt. Der Mensch könne aber die frühere Klarheit wiederherstellen, wenn er sich in bedingungsloser Liebe Gott hingebe, einer Liebe, die keine Angst vor Strafe hat und keinen Lohn empfangen will. Dazu müsse die Seele frei von jedem Ballast sein. Sie dürfe sich nur der Liebe Gottes und nichts anderem widmen. Damit schüttele sie alle Sünden von sich ab und empfange die Gnade, Gott zu schauen bzw. mit ihm zusammenzufließen. Der Weg ging über die himmlische Stufenleiter der Liebe, die Hierarchie der Engel bis zu deren höchstem Vertreter, zu S E R A 398 P H I M . Auf diese Weise führte z. B. H A D E W Y C H ihre Seele zur Vergottung. Rasch verbreitete sich die Minnemystik über den ganzen niederländisch-deutschen Raum und wies einen gewissen inneren Zusammenhalt auf. So hatte H A D E W Y C H gute Verbindung zu den Beginen in Köln, Sachsen, Thüringen und wahrscheinlich auch zu denen von Straßburg und Bayern. 399 Die Gefahr, von dem mystischen Vergottungsstreben zur Häresie zu gelangen, war groß, zumal die Frauen sich der dogmatischen Grenzen durchaus nicht immer bewußt waren. Das zeigt sich einmal darin, daß die Liebe Gottes nicht nur spirituell empfunden wurde, sondern sich oft in ein erotisch-unmittelbares Erlebnis steigerte. So sah sich z. B. D A V I D V O N A U G S B U R G genötigt, die semireligiosen Frauen Süddeutschlands vor ihrer Sucht nach dem Kuß und der Umarmung Gottes zu warnen. 400 Aber neben dem Problem des „connubium spirituale" ist für uns das direkte Vergottungsstreben noch wichtiger. Die Minnemystikerinnen waren sich über den diesem Streben zugrunde liegenden Gedankenweg durchaus nicht immer im klaren, wie H. G R U N D M A N N am Beispiel M E C H T H I L D S V O N M A G D E B U R G sehr klar herausarbeiten konnte. Danach wird bei M E C H T H I L D die Seele, die durch die göttliche Minne sündlos geworden war „mit got ein got, also das er wil das wil si, und sie mögent anders nit vereint sin mit ganzer einunge". Als sie daraufhin zum Gnadenproblem Stellung nehmen mußte, zeigte sich, daß die dazu nicht voll und ganz in der Lage war. 401 Durch das mystische Vergottungsstreben sind die Beginen für einen Teil der freigeistigen Häresie, für die häretische Selbstvergottung, empfänglich. Das charakteristischste Beispiel für diese Verbindungsmöglichkeit ist die Ketzerei im Schwäbischen Rieß um 1270. Sie entfaltete sich hier in einem Milieu, das
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399
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dings gegen diese Darstellung Einwände erhoben. Er schränkt vor allem den Einfluß BERNHARDS ein und mißt dafür dem niederländischen Säkularklerus bei der Herausbildung der Beginenmystik größere Bedeutung zu. (Loose beschouwingen, S. 136f.) Die Grundzüge der niederländischen Minnemystik sind bei M E N S , A., Oorsprong, S. 132ff., knapp zusammengefaßt. Den Anteil der „seraphischen Liebe" hat neuerdings W E R N E R , E . , Nachrichten, S . 1 0 0 ff. stark betont. M E N S , A . , Oorsprong, S . 203f. Vgl. GRUNDMANN, H., Bewegungen, S . 401 u. 413f. Ebd. S . 417f. Vgl. auch HAUCK, A . , Kirchengeschichte Deutschlands V / 1 , S . 430f.
mit der eigentlichen sozialen Basis der Freigeisterei nichts zu tun hatte, vielmehr handelte es sich um Klöster bzw. Beginenvereinigungen. H. G R T T N D M A N N hat sich ausführlich damit beschäftigt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß im Rieß zwei Strömungen aufeinandertrafen und sich verbanden: die amalrikanische Lehre und das mystische Vergottungserlebnis der Frauen aus den süddeutschen Klöstern und Beginenkonventen. 402 Das zeigt sich nicht nur bei verschiedenen in den Inquisitionsberichten enthaltenen Sätzen, die mit der freigeistigen Häresie absolut nichts zu tun haben, aber in einem Klostermilieu durchaus entstanden sein können 403 , sondern vor allem in der Gesamtproblematik des Protokolls. So weisen eine ganze Reihe von Sätzen auf die maßlose Übersteigerung und Überspitzung des zu dieser Zeit in der Frauenmystik in Blüte stehenden „connubium spirituale" hin, das bis zum leiblich empfundenen Erlebnis geführt wurde. 404 Noch deutlicher wird das beim Vergottungsproblem, das bezeichnenderweise den größten Raum des Protokolls einnimmt. 405 Hier trafen sich die Minnemystik und die Häresie am stärksten, wobei es besonders interessant ist, daß sich die der Freigeisterei anhängenden Frauen durchaus nicht über die Unterschiede zwischen dem Gnadenweg und der Vergottung aus eigener Kraft im klaren waren und daher die Häresie wahrscheinlich ziemlich bedenkenlos übernahmen, ohne die Konsequenzen zu erfassen. 406 Diese Interessiertheit einerseits und die Unklarheiten andererseits ermöglichten der freigeistigen Häresie, in diese Kreise einzudringen. Damit war aber das klösterliche bzw. halbklösterliche Milieu noch nicht typisch für die Freigeisterei. Der Einfluß war vielmehr nur vorübergehend, und nach der Untersuchung durch A L B E B T M A G N U S gelang es dem Klerus relativ schnell, wieder geordnete Verhältnisse zu schaffen. 407 Eine sektenmäßige Organisation ist nicht erkennbar. 408 Es ist daher auch nicht richtig, den Rieß als Ausgangspunkt der freigeistigen 4 2
» Ebd. S. 423f. Z. B., ,,. . . quod homo jejunis et orationibus serviens Deo die ac nocte possit fieri aequalis Deo vel anima fieri divina." P R E G E R , W . , a. a. O., S. 462 Nr. 2 6 ; ähnliches drückt die Behauptung aus, daß 20 Vaterunser besser wären für das Seelenheil als eine Messe. Ebd. Nr. 3. 401 Z. B . , dicunt se carnaliter cognosci a Christo." D Ö L L I N G E R , I . , a. a. O., I I , S. 393, Nr. 28 quod pollunt se corpore Christi." Ebd. S. 394, Nr. 29. Daß diese Sätze zum Rieß gehören, obwohl sie dem Bericht J O H A N N S VON D Ü R B H E I M in verschiedenen Handschriften angehangen wurden, hat GRTJNDMANN, H., Bewegungen, S. 403, Anm. 111, nachgewiesen. 406 G R U N D M A N N , H., Bewegungen, S. 415, Anm. 131. 408 Ebd. S. 418f. 407 Das heißt jedoch nicht, daß von diesen Kreisen keine Beeinflussung der freigeistigen Ideologie stattgefunden hätte. A. M E N S hat den Zusammenhang zwischen der „libertas spiritus", der Freiheit zur gerechten Minne und dem „novis spiritus", der Bezeichnung der Ketzerei im Rieß nachgewiesen (Oorsprong, S. 200). Damit tauchte in den Ketzerkreisen zum ersten Mal der Sektenname auf, der sich dann in der späteren Zeit durchsetzte. 408 G R U N D M A N N , H . , Bewegungen, S. 423. 403
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Mittelalterliches Plebejertum
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Häresie für das gesamte Rheingebiet zu bezeichnen.409 Die Ereignisse um 1270 sind vielmehr, trotz der Ausführlichkeit des Inquisitionsberichtes, in dem alle wesentlichen Bestandteile der häretischen Ideologie des beginnenden 14. Jh. enthalten sind, nur als Ausläufer zu werten. Die Freigeisterei wurde von außen in den Rieß hineingetragen. Nachweisbar sind zwei ,,viri religiosi", die um 1270 in diese Gegend kamen und gegen den katholischen Glauben auftraten.410 Leider lassen sich die Spuren der beiden häretischen Lehrmeister nicht zurückverfolgen, so daß nichts über die ursprüngliche Form der Häresie bekannt ist. J O H A N N E S N I E D E R , ein Chronist aus dem 1 5 . Jh., berichtet, daß zur gleichen Zeit in Köln eine ähnliche Häresie ebenfalls von ALBERTUS MAGNUS entdeckt worden war. NIEDER, dem die jetzt leider verlorengegangene Handschrift ALBERTS zur Verfügung gestanden hatte, hat es vermieden, die dort vertretenen Lehren aufzuzeichnen, da sie ihm zu „abscheulich und umstürzlerisch" gewesen wären.411 Damit ist es sehr wahrscheinlich, daß die ,,viri religiosi" aus der rheinischen Handelsmetropole kamen, zumal wir schon feststellen konnten, daß sich hier in der ersten Hälfte des 13. Jh. ein Zentrum der freigeistigen Häresie befunden haben muß und im Rießer Inquisitionsbericht einige luziferianische Lehrsätze aufbauchten. Da man also die im Rieß verhörten Ketzer nicht zum überwiegenden Teil zum esoterischen Kreis der Sekte rechnen kann, ergeben sich bei einem Vergleich zur Aufnahme häretischen Gedankengutes bei den eigentlichen einfachen Anhängern der Freigeisterei interessante Schlußfolgerungen über das Wesen der Häresie. Bei den häretischen Begarden von Metz standen die Ableitungen aus dem Vergottungsproblem im Vordergrund. Die Ketzerei des W I L H E L M CORNELIUS, für die ja eine besonders enge Verbindung zu den einfachen Anhängern charakteristisch war, zeichnete sich durch ihren ausgeprägten sozialkritischen Zug aus, wodurch die Fragen der Vergottung wesentlich anders motiviert wurden. Bei den Ketzern im Rieß dagegen erfolgte eine Schwerpunktverlagerung zu den Problemen der individuellen Vergottung. Nach den sich immer wiederholenden Aussagen zu urteilen, wurden sehr viele Ketzer verhört. Dabei stand 40» Wenn auch nicht alle Historiker so weit gehen wie H. DELACROIX, der die Rießer Ketzerei als die Ruheform der Häresie bezeichnet (a. a. O., S. 557f.), so wird doch fast immer das Wesen der Häresie von hier abgeleitet. Vgl. z. B., VERNET, F., a. a. O., S. 800. 410 „Viri duo religiosi Arnaldus et Tietmarus in rufis cappis venerunt in Sueviam et quedam contra fidem catholicam disserebant." Annales Colmariensis, z. J. 1270, MGSS. XVII, S. 194. Siehe auch GRUNDMANN, H., Bewegungen, S. 404ff. 411 „Reperi in libro Manuali, quem pro se totum Dominus Albertus manu conscripsit propria, eum annotasse, quod suo tempore Coloniae fuerit eadem haeresis. Unde puncta superaddita ac articulos plures, quam hic notavi, manu propria praefatus conscripsit Dominus, quos praetermisi: quia revera sunt tarn blasphemi et subuertentes omnem rem publicam et statum ecclesiae totius, ut calamo eos manifestare erubescam. . ." NIEDER, J . , Formicarius, lib. I I I , cap. V , Helmstaedt 1692, zitiert nach MOSHEIM, L., a. a. 0 . , S. 198.
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immer wieder das Vergottungsproblem im Vordergrund. Die eigentlich freigeistigen Lehren sind zwar im wesentlichen vorhanden, aber doch nicht so stark betont. Es ist auch fraglich, ob über diese Lehren nicht von den Ketzern ausgesagt wurde, die die Häresie in die Frauenkreise hineingetragen hatten. H. G R U N D M A N N hat zwar das Zusammenfließen der pantheistischen Ideen mit der mystischen Vergottungslehre im Rieß richtig dargestellt, er erkannte aber nicht den richtigen Zusammenhang zur eigentlichen Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist und nahm daher die Ereignisse von 1270 als typisch für die Freigeisterei an. 412 Es genügt nicht, das Vorhandensein des häretischen Vergottungsproblems festzustellen, um auf das Wesen der freigeistigen Häresie schließen zu können. Entscheidend ist vielmehr die Anwendung und Auswertung des Ausgangspunktes des Vergottungsproblems. Hierin unterscheiden sich die Ketzereien von 1270 wesentlich von denen, wo wir die plebejischen Schichten als Sektenkörper feststellen konnten. Im Rieß gewann die freigeistige Häresie Einfluß, nicht, weil sie plebejische Ideologie war, sondern weil sie mystische Frauenkreise wegen des Vergottungsmotivs ansprach. In ähnlicher Form war das Auftauchen freigeistigen Gedankengutes in mystischen Kreisen auch noch in anderen Fällen zu beobachten. Dazu gehörte z. B. M A R G A R E T E P O R E T E . M A R G A R E T E war eine umherschweifende Begine, die, aus Valencienne stammend, den lothringisch-nordfranzösischen Raum durchwanderte und besonders den Beginen und Begarden predigte. Nachdem sie mehrere Male verwarnt worden war, wurde sie 1310 zu Paris verurteilt und verbrannt. 4 1 3 In einem langwierigen Prozeß, der mit einem großen Aufgebot an Fachkräften von der Pariser Universität geführt wurde 414 , sprach man sie schuldig, weil sie behauptet habe, die aufgehobene (adnichilata) Seele brauche keine Tugenden zu beachten, sondern die Tugenden stehen ihr zu Diensten. 415 Die aufgehobene Seele habe sich auch nicht um den Trost Gottes und seine Gnade zu bemühen, denn dadurch werde nur ihre Aufmerksamkeit von Gott abgelenkt. 416 Bisher waren keine Überlieferungen über die Konsequenzen dieser Lehre verfügbar, und in der Literatur wurde M A R G A R E T E deswegen als Anhängerin der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist, 417 ja sogar als deren erste französische Repräsentantin bezeichnet. 418 Die Grundlage für ihre Verurteilung bot eine von ihr verfaßte Schrift, die bisher nicht aufzufinden war. Neuerdings konnte 412 413
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GRUNDMANN, H., Bewegungen, z. FREDERICQ, P., a. a. O . , S . 1 5 8 / 5 9 . und Wirken gibt MCDONNELL, E. FREDERICQ, P . , a . a . O . , I I , S . 6 3 .
B., S. 376 u. 422. Einen kurzen Überblick über MARGARETES Leben W., a. a. 0., S. 440f.
„Quodanima adnichilata dat licentiam virtutibus nec est amplius in eorum Servitute, quia non habet eas quoad usum, sed virtutibus obediunt ad nutum." Ebd. ,,Quod talis anima non curat de consolacionibus Dei nec de donis ejus, nec debet curare nec potest, quia tota intenta est circa Deum, et sie impediretur ejus intentio circa Deum." Ebd. S. 64. MCDONNELI,, E . W . , a. a. 0 . , S. 490FF., M E N S , A . , Oorsprong, S. 1 1 6 . LEA, CH., A History of the Inquisition of the Middle Ages, I, New York 1888, S. 136.
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jedoch S T . A X T E E S , auf einem Hinweis R. G U A R N I E R I S fußend, die Idendität des Werkes „Mirour des simples ames" mit den Ansichten M A R G A E E T E P O R E T E S nachweisen und damit zu näheren Aufschlüssen über ihre Gesamtlehre kommen.419 M A R G A R E T E erkannte die göttliche Dreieinigkeit, die Menschwerdung Christi, die alleinseligmachende Kirche und ihre Priester, die göttliche Gnade und die Tugendübungen, die Sakramente, das Fegefeuer sowie Himmel und Hölle an. Sie machte aber im Streben nach göttlicher Gnade einen Unterschied zwischen der gewöhnlichen, auf Tugendübungen und guten Werken basierenden Seele und der „adnichilata anima". Die letztere verlange nicht nach Meßopfern, Predigten, Fasten, Beichten usw., denn sie besitze die göttliche Liebe, die höchste aller Tugenden.420 Damit scheint sie zunächst der freigeistigen Häresie sehr nahe gestanden zu haben, denn auch diese nahm derartige Privilegien für sich in Anspruch. Die entscheidende Kluft zeigte sich aber darin, daß die mit Gott verbundene Seele bei Margarete nichts „Verbotenes" mehr verlangte. Das heißt, daß Margarete sich, wenn auch in einer besonderen Form, in die Gesellschaftsordnung einfügte. So ist, nach A X T E B S , bei ihren Anschauungen kein Libertinismus festzustellen 421 , desgleichen fehlen die das Eigentum und die Arbeit ablehnenden Thesen. Dagegen zeigen sich wesentliche Berührungspunkte zur Minnemystik. Man muß daher M A R G A R E T E in die Reihe der Minnemystikerinnen einreihen, die in maßloser Übersteigerung zu den freigeistigen Ideen neigten, davon vielleicht auch beeinflußt wurden, in ihrem Wesen jedoch mit dem eigentlichen Anliegen der Sekte nur sehr wenig zu tun hatten. Einige Jahrzehnte später wurde M E I S T E R E C K H A B T S Lehre von Johann XXII. als häretisch verurteilt. Über die Einschätzung der ihm vorgeworfenen häretischen Lehrsätze und vor allem über ihr Verhältnis zur freigeistigen Häresie ist in der bisherigen Literatur sehr viel diskutiert worden.432 Aus den häretisch verurteilten Sätzen aus E C K H A B T S Werken, die 1329 in einer Bulle J O H A N N S XXII. veröffentlicht wurden, ergibt sich eine wesentliche Parallelität zu den Lehren der freigeistigen Häresie.423 Die Hauptvorwürfe kristallisierten sich um die Thesen, daß die Welt unerschaffen und ewig 424 und der Mensch göttlich sei.425 Dieser Mensch 419 420
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a. a. O., II, S. 169ff. Hier auch zitiert GUARNIERI, R., LO Specchi. delle anime semplici e Margherita Poirette, L'Osservatore Romano, 16. Juni 1946, 8.3 A X T E R S , S T . , a. a. O., II, S . 173ff. Ebd. S . 176. Einen ausführlichen und kritischen Überblick über die bisherige Eckhart-Literatur gibt LEY, H., a. a. 0., s. 359 ff. Von den 28 Sätzen wurden die Sätze 1—15, 27 u. 28 als ausdrücklich häretisch verurteilt, während die andern verdächtig waren, aber noch im Sinne der katholischen Lehre interpretiert werden konnten. Vgl. DENIFLE, H., Meister Eckeharts lateinische Schriften und die Grundanschauung seiner Lehre, Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte II, 1886, S. 417-640, S. 639. Satz Nr. 2: „Item concedi potest mundum fuisse ab eterno." Vgl. auch Nr. 1 u. 3, Ebd. S. 637. AXTEBS, ST.,
wird ganz in Gott umgewandelt und erhält das Gleiche wie Christus. Damit stellte er den Menschen auf eine Stufe mit Christus. 426 Das entsprach dem Zentralthema der freigeistigen Häresie, wobei sich bei E. auch die gleichen Tendenzen bezüglich der Sündlosigkeit zeigten, denn alle Werke, also auch die schlechten, preisen den Ruhm Gottes. 427 Wenn Gott will, daß der Mensch sündigt, dann wird er sich, wenn er seinen Willen in Einklang mit dem göttlichen gebracht hat, nicht dagegen wehren, zumal ja auch Tadel und Sünde Gott loben. 428 So klar die ideologischen Beziehungen der Eckhartschen Lehre zur pantheistischen freigeistigen Häresie auf den ersten Blick erscheinen, so problematisch ist das wirkliche Verhältnis. Während die ältere Literatur den häretischen Charakter eindeutig herausstellte 429 , beurteilt heute der überwiegende Teil der bürgerlichen Wissenschaft Eckharts Wirken als orthodox, wogegen die pantheistischen Tendenzen nur zufälliger Art seien 430 Für die Begründung dieser Ansicht unter dem Blickpunkt der Beginenmystik und der Freigeisterei — die Beeinflussung seiner Schriften durch die philosophischen Strömungen kann hier nicht berücksichtigt werden 431 — ist vielleicht die Darstellung von A. Mens am aufschlußreichsten. 432 A. Mens stellt E. in den Gesamtrahmen der Mystik, besonders in den niederländisch-rheinischen Frauenkreisen, und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß das Wirken des deutschen Mystikers, ungeachtet aller scholastischen Einflüsse, maßgebend von dem in den Beginenkreisen vorherrschenden Minnemotiv bestimmt worden war. Das begann bereits mit seiner Tätigkeit in Erfurt bei den Dominikanern, wohin die mystischen Gedanken der Insassen des zu dieser Zeit berühmten Klosters Helfta bei Eisleben (Mechthild von Magdeburg, Gertrud und Mechthild von Hackeborn) gedrungen waren und ihren Einfluß auf Eckhart ausübten, und setzte sich während Eckharts Tätigkeit in den rheinischen Städten fort. M E N S sieht in der Interpretation und Auswertung der Minnemystik das entscheidende Kriterium für die Irrlehren Eckharts und versucht, das an Hand der Wandlung dieses Themas von H A D E W I J C H , B E A T B I Z U. a. zu den Ketzereien im Schwäbischen Rieß zu be425
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Satz Nr. 10: ,,Nos transformamur totaliter in deum et convertimur in eum; simili modo, sicut in sacramento panis convertitur in corpus Christi: sie ego convertor in eum, quod ipse me operatur suum esse unum, non simile; per viventem deum verum est, quod ibi nulla est distinetio." Vgl. auch Nr. 9, 12 u. 13. Ebd. S. 638. Satz Nr. 11, Ebd. Satz Nr. 4: „Item in omni opere, etiam malox, inquam malo, malo inquam tarn pene, quam culpe, manifestatur et relucet equaliter gloria dei." Satz Nr. 14 u. 15. Z . B . , J U N D T , A . , a . a . O . , S . 72FF. DELACROIX, H . , a . a . 0 . , S . LOOFF.: DENIFLE, H . ,
a. a. O., S. 519. 430
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MENS, A . , O o r s p r o n g , S. 167, A n m . 185.
Zur Einordnung in die philosophische Entwicklung vgl. außer LEY, H., a. a. O., S. 359ff. auch HEUSSI, K., Meister Eckart. Studien der Luther-Akademie, NF Heft 1, Berlin 1953, S. 1-16. M E N S , A . , Oorsprong, S. 1 6 5 ff.
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weisen. Die Freiheit der gerechten Minne, die bei den Niederländerinnen orthodoxen Charakter hat, wird im Rheinland durch die hier vorhandene häretische Atmosphäre verketzert. Sie entartete zu einem Streben nach formaler Vergottung, nach einem Teilhaben an der Natur Gottes usw. Indem E. dieses Motiv verarbeitete, kam er in alle Gefahren, die es mit sich brachte, und durch seine Neigung, alles zu übertreiben und zu überspitzen, gelangte er zu den genannten Irrtümern. M E N S sieht keine wesentlichen Beziehungen Eckharts zur freigeistigen Häresie. Berührungspunkte ergaben sich vielmehr aus den Gemeinsamkeiten des Vergottungsthemas. 433 Damit steht Eckhart in seinem Wirken in Zusammenhang mit dem mystischen Gedankengut der Beginen. Dennoch scheint es nicht richtig zu sein, das Gesamtwerk des deutschen Mystikers auf eine Stufe mit den genannten Beginen zu stellen. Es beinhaltete mehr. Von marxistischer Seite hat neuerdings H. Ley versucht, den progressiven und demokratischen Charakter der Eckhartschen Lehre herauszuarbeiten und zu würdigen; indem er E. in den Zusammenhang mit den progressiven philosophischen Strömungen des Mittelalters stellte, hob Ley im wesentlichen zwei Elemente hervor, die das Wesen seiner Schriften und Predigten bestimmten: die pantheistischen Gedanken und die Lehre über den aktiven Intellekt, der es jedem Menschen infolge seiner natürlichen verstandesmäßigen Fähigkeiten ermöglicht, gottförmig zu werden. 434 Für diesen Weg ist nicht die göttliche Gnade, sondern der menschliche Verstand entscheidend. Gott bedeutet erkennen, und diese Fähigkeit ist jedem Menschen eigen. Ley schätzt diese Gottförmigkeit als die mittelalterliche Formulierung einer naturrechtlichen Gleichheit der Menschen ein. 435 Mit dieser Einschätzung, die sicher noch einiger Korrekturen bedarf — Ley hat nur die lateinischen Schriften Eckharts verwandt und außerdem infolge seiner Frontstellung gegen die reaktionäre Literatur einiges überspitzt, wird — klar, daß man bei Eckhart mehr sehen muß als nur einige Übertreibungen, analog denen in den mystischen Frauenkreisen. Dennoch heißt das nicht, daß er in einer Linie mit den Freigeistern steht. Wenn Ley behauptet, daß Eckhart „Theoretiker bäuerlich-plebejischer Gruppierungen" war 436 , dessen Lehre „objektiv in den untersten Schichten als Ferment wirkte, gesellschaftlich-aktives Handeln förderte und das Bewußtsein vermittelte, in den Klassenkämpfen recht zu handeln" 437 , so ist das in seinem Bezug auf die Freigeisterei und die plebejischen Schichten nicht richtig. 433
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Oorsprong, S . 2 0 6 . LEY, H., a. a. O., S. 378ff. L. kann die Tendenzen zu diesen Gedanken in allen wesentlichen lateinischen Schritten nachweisen. Die deutschen Werke und Predigten klammert L. vor allem deswegen aus, weil sie noch nicht kritisch bearbeitet herausgegeben wurden. (Ebd. S. 364.) Ebd. S. 413. Ebd. S. 357. Ebd. S. 444. MENS, A . ,
Gegen diese Einschätzung müssen entschiedene Einwände erhoben werden. Zunächst sei noch einmal an die seit H . D E N I F L E bekannte Tatsache erinnert, daß E. nicht nur keine persönlichen Beziehungen zur Freigeisterei nachzuweisen sind, sondern daß er auch bis 1326 keiner ketzerischen Lehren verdächtigt worden war, obwohl er zu dieser Zeit im Rheinland, vor allem in Straßburg, wirkte, man also im Rahmen der allgemeinen Verfolgungen auf ihn hätte aufmerksam werden müssen. 438 Man darf auch nicht vergessen, daß das Lehrgebäude der Freigeister am Ende des 13. Jh. bereits voll ausgebildet war und von einer etwa durch die theoretischen Bemerkungen Eckharts verursachten Weiterentwicklung oder Intensivierung der freigeistigen Ideologie nichts zu bemerken war. Im Gegenteil, E. ging nie so weit wie die Ketzer, die zu einer völligen Ablehnung von Kirche und Gesellschaft gelangten. Wenn er jedoch Theoretiker der bäuerlich-plebejischen Schichten gewesen sein soll, dann hätte er sich zwangsläufig auch mit diesem Problem beschäftigen müssen. Aber E. war sich ja, wie aus seiner Verteidigungsschrift hervorgeht, seiner ketzerischen Gedanken gar nicht bewußt und gab sogar zu einer Zeit, wo zahlreiche Freigeister für ihre Überzeugung bereits auf dem Scheiterhaufen gestorben waren, der Kirche die Blankoverpflichtung ab, alle nachgewiesenen Irrtümer in seinen Arbeiten zu widerrufen. 439 Die starken Berührungspunkte zur freigeistigen Häresie ergaben sich auf Grund des progressiven Charakters seiner Mystik. Strso und T A U L E E mußten E C K H A R T S Schriften wiederholt vor den Häretikern in Schutz nehmen und sie im Sinne der katholischen Kirche interpretieren. 440 Es ist durchaus wahrscheinlich, daß E. die freigeistigen Lehren kannte und versucht hat, sie in orthodoxem Sinn zu verarbeiten, wobei er selbst auf Abwege geriet. 441 Diese Vermutung ist vor allem deswegen gerechtfertigt, weil sich Übersteigerung des minnemystischen Vergottungsstrebens und freigeistiges Zentralthema, wenn man die Auswertung und die Anwendung nicht berücksichtigt, kaum unterschieden und daher ein progressiver Mystiker im Rheinland zu Beginn des 14. Jh. dazu Stellung nehmen mußte. Zum anderen gibt es einige Hinweise aus dem Gesamtwerk Eckharts, die seine Häresie nicht so eindeutig freigeistig erscheinen lassen, wie es nach dem Verurteilungsdekret anmutet. Z. B. unterschied Eckhart zwei „esse", einmal das „esse absolutum" im Sinne von gött438
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H., a. a. O., S. 616f. Die Angriffe erfolgten erst 1326 durch den Erzbischof von Köln, JOHANN VON DÜRBHEIM, der Erzbischof von Straßburg erwähnte 1317 mit keinem Wort ECKITART, obwohl er sich bekanntlich sehr intensiv mit der freigeistigen Häresie beschäftigt hatte und E. zu dieser Zeit in Straßburg weilte. 1327 betonte E., daß bisher kein Dominikaner in Deutschland der Häresie verdächtigt worden sei. DENIFLE, H., a. a. O . , S. 616f. Ebd. S. 630 ff. DENIFLE,
LEY, H . , a. a. O., S. 486ff.
So z. B. AEGERTER, E . , Le mysticisme, Bibliothèque de philosophie scientifique (28), Paris 1952, der feststellte, daß E . von den häretischen Ideen, die er umarbeiten wollte, geschwängert wurde.
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lichem Sein und zum anderen das „esse formale", das Sein der Geschöpfe, wodurch der pantheistisch klingende Satz „esse est Deus" sehr stark entschärft, allerdings nicht aufgehoben wird, weil auf der anderen Seite es einige nicht zufallige Formulierungen bei Eckhart gibt, wonach es nur ein einziges allumfassendes Sein gibt.442 Wenn sich nach E C K H A B T S Verurteilung verschiedentlich Häretiker auf seine Schriften beriefen, so war E. damit noch kein Theoretiker der bäuerlichplebejischen Bewegungen. Jede Häresie versuchte, alle zur Verteidigung ihrer Lehre in Frage kommenden Möglichkeiten auszunutzen. Günstige Ansatzpunkte boten dafür u. a. einzelne Lehrsätze Meister E C K H A B T S . 4 4 3 Der Irrtum L E Y S liegt darin, daß er infolge des progressiven Charakters der Eckhartschen Mystik glaubt, diese unbedingt den untersten Schichten zuordnen zu müssen. E C K H A B T predigte aber vorwiegend den Dominikanerinnen und den dem Predigerorden nahestehenden Beginen444, die bekanntlich in ihrer überwiegenden Zahl aus Patriziat und Kaufleutekreisen stammten.445 In diesen Kreisen wurde viel über das Problem der Verbindung der Seele zu Gott diskutiert, aber trotz aller dabei auftretenden Überspitzungen nie die Konsequenzen gezogen wie bei den Freigeistern. Nach den Darlegungen L E Y S scheint es vielmehr so zu sein, daß die Eckhartsche Mystik ein ideologischer Ausdruck der breiten ökonomischen und sozialen Entwicklung des Stadtbürgertums war. Alles das, was LEY über den demokratischen Charakter der Mystik herausstellt, paßt sehr gut in das Bewußtsein eines aufkommenden Stadtbürgertums, das, wie wir es gerade von Straßburg und Köln wissen, hartnäckig um seine Freiheiten und Rechte kämpfen mußte.446 Damit steht E C K H A B T aber nicht nur in einem völlig anderen sozialen Milieu, sondern unterscheidet sich auch in der Zielsetzung wesentlich von dem negierenden Charakter der freigeistigen Häresie. Aus alledem ergibt sich, daß die häretischen Tendenzen in den mystischen Kreisen nichts am plebejischen Charakter der freigeistigen Häresie änderten. Die Ursache der Ansprechbarkeit war das gemeinsame Zentralthema, das Vergottungsstreben. Die Gefahren, auf häretische Bahnen zu gelangen, lagen einmal in der Übersteigerungsmöglichkeit selbst, wesentlicher aber in der Emp4
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HETJSSI, K . , a . a . O . , S . 1 7 f f .
LÜCKER, M. A., Meister Eckhart und die devotio moderna, Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, I, Leiden 1950, S. 46 ff. MCDONNELL, E . W . , a . a . O . , S . 3 5 6 .
Die Predigten Eckharts scheinen sehr schwer verständlich gewesen zu sein (Ebd. S. 359). Eine „Laufkundschaft" dürfte es deswegen kaum gegeben haben. Hierher gehören insbesondere die zahlreichen Bemerkungen, die den Verstand und die Kenntnisse der Menschen in den Vordergrund rückten. Der einfache Mensch besitzt in sich, auf Grund der menschlichen Natur, die größten Fähigkeiten, bei deren Entfaltung dem Verstand die entscheidende Bedeutung zukommt. LEY, H., a. a. O., S. 382. Solche und ähnliche Formulierungen passen nicht zum Wesen der freigeistigen Häresie.
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fänglichkeit der Mystiker für die freigeistigen Lehren. Diese Tatsache unterstreicht noch einmal die bereits gezogene Schlußfolgerung, daß das Zentralthema, das Vergottungsstreben, zwar den eigentlichen Kern der Freigeisterei darstellte, daß aber erst die Anwendung die Möglichkeit gibt, den wirklichen Charakter der freigeistigen Häresie zu erkennen. Das Vergottungsstreben konnte verschieden ausgenutzt werden. Selbst seine häretische Form machte noch nicht das Wesen der Freigeisterei aus. Entscheidend war, welche Konsequenzen daraus gezogen wurden. Damit waren aber die mystischen Kreise, die von der Freigeisterei infiziert worden waren, nur nebensächliche Erscheinungen und dürfen nicht als Kern der häretischen Kräfte betrachtet werden. Das Wesen der Sekte der Brüder und Schwestern vom freien Geist und ihrer Ideologie ist nur in dem Milieu der plebejischen Schichten faßbar.
VIII. DAS E R F U R T E R INQUISITIONSPROTOKOLL VOM 26. D E Z E M B E R 1367 In der Quellenreihe zur Geschichte der Brüder und Schwestern vom freien Geist nimmt das Erfurter Verhör neben der Confessio J O H A N N S und A L B E R T S von Brünn aus den dreißiger Jahren des 14. J h . eine wichtige Stellung ein, da es ausführlich auf charakteristische Merkmale im Lehrgebäude dieser Sekte eingeht. Bisher war es in zwei Abschriften aus dem Ende des 14. Jh. bekannt, und zwar CL 4386, Staatsbibliothek München, fol. 89 b -91 b und X X I I I E . 100, Kirchenbibliothek St. Nicolai, Greifswald, fol. 1 0 9 b - l l l b . I. v. D Ö L L I N G E R edierte 1890 erstere ohne letztere zu benutzen, obwohl diese bereits 1887 unter Berücksichtigung von Textvarianten zu CL 4386 von W. W A T T E N B A C H gedruckt worden war. 447 Wattenbach erkannte bei dem Hs.-Vergleich, daß die Münchner den Text des Originals besser bewahrt hatte als die Greifswalder, wenn auch der Anfang unvollständig war und die Corroberationsformel fehlte, die übrigens Greifswald auch nur andeutungsweise wiedergibt, während sie die Zeugenreihe überhaupt ausläßt. Bei der Durchsicht des Hs.-Verzeichnisses der Prager Kapitelbibliothek entdeckte ich unter J , 40b eine weitere Abschrift des erwähnten Protokolls, das auf den fol. 134b—137a niedergeschrieben ist und die vollständige Fassung des Originals wiedergibt. 448 P O D L A H A setzt sie in das Jahr 1384. Der Schriftbefund 449 weist eindeutig in das letzte Drittel des 14. J h . So steht auch diese Abschrift dem Ausstellungsjahr der Urschrift sehr nahe. Dem Schreiber muß das Original vorgelegen haben, denn er hat den vollen Wortlaut kopiert. Die inquisitorischen Beziehungen zwischen Prag und Erfurt sind bekannt. 1391 und 1392 schritt der Cölestiner Martin von Prag gegen Erfurter Walden447
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DÖLLINGER, I . v., Beiträge zur Sektengeschichte, Bd. 2, S. 3 8 4 — 3 8 9 ; WATTENBACH, W., Über die Sekte der Brüder vom freien Geiste, SB 1887, Nr. 2, S. 538-543. PATERA, A . / P O D L A H A , A . , Soupis rukopisti knihovny metropolitne kapitoly prazske, Bd. 2, Prag 1922, Nr. 1145: „Instrumentum super inquisitione cuisdam beghardi Johannis Hartmanni de Astmanstete dioc. Mogutinenais de a. 1367." Vgl. das Faksimile am Schluß des Buches.
ser ein, von denen er einige verbrennen ließ.450 Die Inquisitoren, besonders die Dominikaner, waren eifrig bemüht, sich Handbücher anzulegen, in denen sie neben Abschwörungsformeln alle möglichen „Fälle" eintrugen, um bei Verhören stets das nötige Rüstzeug bei sich zu haben.451 Papst Alexander IV. hatte beispielsweise alle geistlichen und weltlichen Stellen angewiesen, den Inquisitoren in Umbrien die Dokumente vorzulegen, die mit den Häretikern zusammenhingen. Denunziationen und Geständnisse wurden von den Franziskanern und Dominikanern in der Mark Ancona, in Toscana und der Romagna zu Verzeichnissen verarbeitet und an die einzelnen Inquisitoren ausgehändigt, die wiederum ihrerseits ihre Erfahrungen austauschten.452 Erfurter Lehrer kannten Prag, waren sie doch maßgeblich an dem Aufbau der dortigen Universität beteiligt gewesen. A N D R E A S VON R E G E N S B U R G berichtet darüber: ,,. . .Karolus . . . Hic etiam dotavit et erexit Studium generale in civitate Pragensi, quod inchoavit per magistros in Artibus de collegio Erfordensi tunc etiam noviter erecto. Inter quos erat Magister Gerardus, qui primus est doctor postea in eodem studio generali Pragensi in Theologia graduatus." 453 Hinzu kam, daß sich vor allem Karl IV. mit Energie für die schonungslose Vernichtung der freigeistigen Häresie einsetzte und alle weltlichen Herren zur Unterstützung der Inquisition nachdrücklich mahnte.454 Diese Aufrufe galten selbstverständlich auch seinem Erblande Böhmen, und die Ketzerverfolger bemühten sich um möglichst ausführliche und authentische Nachrichten über diese Sekte. Derartigen Bestrebungen kam das Erfurter Protokoll weit ent450
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HAUPT, H., Waldenserthum und Inquisition, „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" 3 (1890) S. 354f., und FLADE, P., Das römische Inquisitionsverfahren in Deutschland, Leipzig 1902, S. 78. Vgl. etwa BERNARD GUT, Manuel de l'inquisiteur, 2 Bde., Paris 1926; DONDAINE, A., Le Manuel de l'inquisiteur (1230—1330). „Archivium Fratrum Praedicatorum" 17 (1947). MARIANO D'ALATRI, L'inquisizione francescana, Rom 1954, S. 54. Diese materialund kenntnisreiche Arbeit ist von einer zwiespältigen Tendenz durchdrungen. Einerseits behauptet der Verfasser, daß die Kirche auch durch den Einsatz der Inquisition immer mit geistigen Kräften gegen „ein gewalttätiges und gesetzloses Menschenpack gekämpft habe" (a combattere una genia di uomini violenti e senza leggi). Unter diesem Aspekt werden ihm die Ketzerrichter zu Gestalten voller Heroismus und Entsagung, die sich dafür eingesetzt hätten, daß über Italien, ja darüber hinaus über die europäische Christenheit, nicht die Nacht unmenschlicher Barbarei hereinbrach (S. 64). Andererseits muß er aber zugeben, daß den Ketzern ein Bekenntnis nur mittels Terror entlockt werden konnte (era solo il terrore). Die Inquisition war demnach eine unerbittliche Notwendigkeit. „ E s handelte sich um einen übertriebenen Legalismus, der weder evangelisch noch human genannt werden kann. Er autorisierte eine Praxis, die vor unserem modernen Gewissen niemals zu rechtfertigen ist" (S. 84). Da seine Untersuchung jede Klassenanalyse umgeht, er die Rolle der Kirche und des Papsttums innerhalb der feudalen Gesellschaft verkennt, muß er zwangsläufig zwischen katholischer Rechtfertigung und moralischer Verurteilung schwanken. ANDREAS VON REGENSBURO, Chronica Pontificum et Imp. Rom., ed. G. Leidinger 1903, S. 98. BÖHMER-HUBER, Regesten, Innsbruck 1889, S. 758, zum 9. 6. 1369.
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gegen. Es bringt gegenüber M. und G. inhaltlich nichts Neues und steht näher zu M. als zu G., wie das Textvariantenverzeichnis im Anhang I beweist. Die Abschrift ist viel sorgfältiger als G. Die Ausführlichkeit des Verhörs zeigt, daß dem Richter in diesen Sachen noch keine genaueren Angaben vorlagen und er deshalb Einzelheiten wissen wollte, um sich ein klares Bild über das Wesen und die Praktiken der Sekte zu machen, das ihm bei weiteren Verhören zustatten kam.456 Wer war nun dieser Mann, der die Fragen stellte und über Tod und Leben der Delinquenten befand ? Das Protokoll nennt ihn mit vollem Namen und seiner Stellung: W A L T E E K E R L I N G E R , 0 . P., Professor der Theologie und Ketzerrichter „auctoritate apostolica in certis partibus Almanie deputato". Walter stammte aus einer Erfurter Patrizierfamilie.456 Er ist bereits 1345 als Lector des dortigen Dominikanerstudiums nachweisbar.457 In einer Notiz vom 27. 12. 1349 wird er in einem Verzeichnis der Erfurter Predigermönche genannt.458 H. Ch. LEA meinte, er sei 1367 zusammen mit Ludwig von Willenberg zum Inquisitor für Deutschland durch Urban V. bestallt worden.459 Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch. Aus einem Notariatsinstrument vom 31. 1. 1367 geht hervor, daß er bereits damals in Bremen als Theologieprofessor und päpstlicher Inquisitor aufbrat.460 Ein am 4. 8. 1367 in Görlitz ausgestelltes kaiserliches Mandat forderte alle geistlichen und weltlichen Herren, besonders aber alle Städte, auf, den Inquisitor samt seinen Helfern nach Kräften zu unterstützen. 461 Kerlinger wurde bereits am 11. 10. 1364 in einem Schreiben Urbans V. an die Bischöfe Johann von Straßburg und Johann von Hildesheim zusammen mit Ludwig de Caliga, Heinrich de Agro und Johann de Moneta als ,inquisitor heretice pravitatis' bezeichnet. Er sollte in einen bestimmten Bezirk der Erzdiözesen Mainz, Trier, Köln, Bremen, Magdeburg, Salzburg, Riga und der Bistümer Kamin, Bamberg und Basel eingewiesen werden.462 Am 22. 10. des gleichen Jahres verlangt der Papst vom Erfurter Rate die Unterstützung seiner Inquisitoren, genauer Walters 463 Drei Tage später mußte sich dieser beim Bischof Johann von Hildesheim einer Prüfung unterziehen, um zum Magister zu promovieren.464 Sein Wirkungsfeld erstreckte sich auf die Erz468
S o FLADE, P . , a. a. 0 . , S. 69.
468
ÜB Stifter und Klöster, Bd. I I , 7 1 4 . UB Stifter und Klöster, Bd. II, 224. UB Erfurt, Bd. II, Nr. 331. LEA, H. CH., A History of the Inquisition, Bd. 2, London 1888, S. 387. Vgl. Anhang II. UB Halle, Bd. III, 1, Nr. 882 (1954, Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts, bearbeitet von A. B I E B B A C H ) . Päpstliche Urkunden und Regesten aus den Jahren 1353—1378. Geschichtsquellen der Provinz Sachsen 22, Nr. 632. UB Erfurt, Bd. II, Nr. 574. ,,. . . in examine magistrorum et bacallariorum in conventu Parisiensis fratrum dicti ordinis reputatus ydoneus ad obtinendum magisterium in eodem." Urkunden und Regesten, Nr. 638.
467
468 459 480 481 482 483 484
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OVERMANN, OVERMANN,
bistümer Magdeburg und Bremen, er war aber auch in Thüringen, Hessen und Sachsen tätig. Bisher wußte man nichts von seinem Eingreifen in Bremen. Das im Anhang gedruckte Notariatsinstrument beweist jedoch, daß er bereits im Januar 1367 in der Stadt weilte, um Reliquien der hl. Ärzte Cosma und Damian in Empfang zu nehmen. Sicher hat er gleichzeitig hier nach Ketzern geforscht, denn Karl IV., sein hoher Förderer, schreibt am 17. 6. 1369: ,,. . . exterminationem dictarum sectarum (die freien Geister — E.W.) mandantes et seriosius praecipientes, dictique inquisitoris magistri Walthere ministerio mediante de certis partibus, ut laete audivimus, videlicet de provincii Magdeborgensi et B r e m e n s i . . ,". 465 Welch hohe Anerkennung der Erfurter Dominikaner beim Kaiser genoß, zeigen vorausgegangene Schreiben vom 9. und 10. 6. des gleichen Jahres sowie die Genehmigung, in jeder Diözese einen Notar für die Zwecke der Inquisition zu ernennen. 466 Ursprünglich dienten dazu Kleriker, seit Karl IV. aber auch öffentliche Notare, die von den Hofpfalzgrafen ernannt wurden. 467 I n unserem Protokoll fungieren als solche Berthold von Weberstädt und Johann Helwig. Der kaiserliche Kaplan Walter wurde 1369 noch zum Dominikanerprovinzial für Sachsen ernannt. Beide Ämter, Inquisitor und Provinzial, bekleidete er bis zu seinem Tode 1373.468 Er wurde im Predigerkloster zu Erfurt beigesetzt, seine nicht unbedeutende Hinterlassenschaft vom Stadtrat beschlagnahmt, weshalb der Papst noch zwei Jahre später in mehreren Briefen energisch intervenierte. 469 Bereits am 2. 9. 1374 hatte der Nuntius Bischof Mayerien den Befehl erhalten, in den Provinzen Bremen und Magdeburg die Güter des verstorbenen Kerlinger einzuziehen, da dieser der päpstlichen Kammer 1500 Goldgulden schuldete. 470 Trotzdem konnte Gregor mit diesem Manne zufrieden sein. Wenn es auch nicht stimmte, daß er die Häresie in Deutschland zerschlagen habe, wie der Papst 1372 frohlockend schrieb 471 , so hatte er ihr doch schwere Wunden geschlagen. Allein in Erfurt zog er 400 Beginen vor sein Tribunal, von denen 200 verbrannt und 200 zum Tragen von Bußkreuzen verurteilt wurden. Vier Begarden bestiegen in den Jahren 1367/69 den ScheiterP., Corpus I, S . 219, Nr. 213. Regesten, S. 758, 759.
465
FREDERICQ,
466
BÖHMER-HUBER,
467
FLADE, P . , a. a. O . , S. 67.
468
4,9
4,0 4
"
Im Catalogus praed. provincialium provinciae Saxoniae heißt es: „Hic obiit provincialis in Erphordia anno Dom. MCCCLXXIII et ibidem in choro fratrum sepultus." FREDERICQ, Corpus I, Nr. 203, S. 202. Am 5. 8. 1375 beauftragte Gregor XI. Bürgermeister und Rat von Erfurt, alle von dem Verstorbenen deponierten Gelder der apostolischen Kammer über den Nuntius Bischof Mayerien zuzustellen. Bereits am 9. 6. hatte der Papst wegen des Nachlasses an den Magister der Dominikaner geschrieben und am 7. 7. noch einmal auf Bitten des Inquisitors Hermann von Hettatedt eingegriffen. Er beauftragte den Probst von S. Severi und zwei andere Geistliche, den Rat zur Herausgabe der Gelder zu veranlassen oder gegen ihn mit kirchlichen Strafen vorzugehen: UB Erfurt, Bd. II, Nr. 757. Urkunden und Regesten. Geschichtsquellen, a. a. O., Nr. 1189. L E A , H. CH., a. a. 0., S. 390.
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häufen, darunter wohl auch der in unserem Protokoll vernommene. 472 Dieser, Johannes Hartmann, aus dem Dorfe Ossmannstedt bei Apolda, dürfte sein erster „großer" Fall gewesen sein. Durch ihn wurde er mit dem Gedankengut der Führungsschicht des freigeistigen Begardentums vertraut. 473 Damit stellt sich für uns zugleich die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Quelle. Das Verhör hält sich durchgehend an das durch die Clementinen gegebene Schema. So werden Artikel für Artikel dem Angeklagten vorgelesen, und er muß sie beantworten. Dieses Verfahren ist bedenklich, denn dadurch erhielt der Verdächtigte Fragen vorgelegt, die er unter Umständen gar nicht beantworten konnte, weil ihm die Voraussetzungen fehlten. Aus diesem Grunde hatte sich 1375 der R a t von Köln mit einer Beschwerdeschrift an den Papst gewandt, indem er gegen dieses Vorgehen gegen die Kölner Beginen protestierte. 474 Zum Glück ist das Erfurter Protokoll so ausführlich gehalten, daß wir es nicht mit lapidaren Sätzen zu tun haben, die zusammengestellt und verworfen werden, sondern die Aussagen enthalten so viel Originelles und von den Clementinen Abweichendes, daß es sich hier nicht um Abschreiben älterer Vorlagen gehandelt haben kann. Im übrigen lag die Heranziehung des Corpus Juris Canonici einem Erfurter Magister besonders nahe, da die dortigen Schulen das Rechtsstudium nachdrücklich pflegten. 475 Gegen den Inquisiten wurde keinerlei Folter angewandt, sondern Kerlinger baute ihm sogar am Schluß der Vernehmung eine Brücke, indem er ihn nach seinem Geisteszustand befragte: „Interrogatus an talia dixerit ex demencia cordis vel debilitate capitis", was Hartmann mit den Worten „nullo istorum morborum sed ex fundo meo talia dixi" ablehnte. Das ist bedeutsam, denn Geistesgestörte wurden von der Inquisition entlassen, so in Pommern und Straßburg 476 Der Erfurter Begarde scheint jedoch von seiner Idee völlig überzeugt gewesen zu sein und dachte an keinen Rückzug. Charakteristischerweise ist in dem Protokoll auch von keinem Abschwören die Rede. Er fühlte sich so ganz als göttlich, ja als Gott, daß er jenseits von Gut und Böse stand. Der Begriff der Sünde war ihm fremd, er hatte den höchsten Vollkommenheitsgrad, der möglich und denkbar war, erreicht. Daraus leitete er alle weiteren Folgerungen ab: Bindungen, Gesetze und Sitten der ihn umgebenden menschlichen Gesellschaft verloren jeden Wert. Der anomistische Freiheitsbegriff steigerte sich zum Herrschaftswahn über die menschliche und tierische Kreatur. Töten von Menschen war ihm ebenso erlaubt wie Beraubung. Das gleiche 472
473
474
4,5 476
FLADE, P . , a. a. O., S. 7 2 f.
Kerlinger hatte bereits 1365 in Magdeburg von sich reden gemacht, als er den Geistlichen Johann Klenkok zu einer Prüfung des Sachsenspiegels vom Standpunkt der Orthodoxie veranlaßte: FLADE, P., a. a. O., S. 70. Aber damals handelte es sich nicht um eine „echte" Ketzerei, und er beschwor nur die Opposition des Rates und des Erzbischofs gegen sein überspitztes Vorgehen herauf. FLADE, P . , a. a. O., S. 7 6 , A n m . 1.
MEIER, L., Die Barfüßerschule zu Erfurt, Münster 1958, S. 94f. FLADE, P . , a. a. 0 . , S. 8 5 , A n m . 3.
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berichtete der konvertierte Freigeist Johann von Brünn, der acht Jahre lang in Köln im Zustand der geistigen Freiheit zubrachte, nachdem er zuvor 20 Jahre unter den willigen Armen als Büßer gelebt hatte. Er stellte sich dem Dominikanerorden zur Verfügung und legte ca. 1335 dem Inquisitor Gallus von Neuhaus eine detaillierte Confessio vor. 477 Genau wie Hartmann betonte er, daß jeder Mensch, der sich einem „Freien" entgegenstellt, getötet werden dürfe: „Frater percucientem percuciendo, interflcere volentem interficiendo." 478 Kinder, die einer Verbindung Geistesfreier entstammten, konnten ertränkt werden „sicut alium vermem". 479 Diese Folgerungen zog auch er aus dem Bewußtsein, eins mit Gott zu sein: „Quod unum cum Deo efficiuntur, et Deus totaliter et corporaliter est cum eis, quod angeli in speculo Trinitatis non possunt discernere inter Deum et animam, que in libertate spiritus vixerit, propter prefatam unionem ipsorum." 480 Der thüringische Begarde drückt das so aus: „Quod nec angeli nec Maria possent discernere inter deum et ipsum propter perfectam unionem ipsorum. . .". Was sollen unter solchen Umständen Gedanken an Elevation, Gebete und Passion ? Der Bruder Johanns, Albert, nannte solche Menschen, die sich damit abplagten, „grossi homines" bzw. Holzklötze (blockwerg). Echtes Menschsein erreiche man vielmehr in dem Aufstieg über sich selbst, in der Selbstbetrachtung — dann könne man auch tun und lassen, was einem beliebe.481 Bei Hartmann sind die grossi homines dadurch gekennzeichnet, daß sie unter den Gesetzen leben, während der homo über „non est sub lege quacunque, nec tenetur ad statuta Ecclesie nec precepta qualiacunque". Daher wußte er auch mit den Sakramenten nichts anzufangen. Sie konnten ihn höchstens in seiner contemplatio interiori stören. Er wandte sich ihnen nur dann zu, wenn er sich belustigen wollte. Schachspiel und Abendmahl standen damit auf der gleichen Stufe. Verglichen mit diesen für einen mittelalterlichen Gläubigen ungeheuerlichen Ansichten waren die libertinistischen Konsequenzen noch erträglich. Da der Natur eines vollkommenen Freien keine Zügel angelegt werden durften, konnte er jederzeit, an jedem Ort und mit jeder Person den Geschlechtsakt vollziehen, auch mit der Schwester und Mutter. Hartmann fügte hinzu, daß es sogar natürlicher sei, mit der leiblichen Schwester zu verkehren als mit anderen Weibern „propter conformitatem nature". 4 8 2 Die Begründung ist interessant. Sie läßt vermuten, daß nur der Verkehr zwischen freien Geistern beiderlei Geschlechts als natürlich angesehen wurde, denn man 477
478 179 480 181 482
V g l . WATTENBACH, W . , a. a. O . , S. 5 2 6 .
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. S. S. S.
533. 534. 533f. 536. D Ö L L I N G E R hat im Text der Münchener Hs. fälschlich uxor statt soror gelesen. In dieser Form wertete ich ihn in meiner Untersuchung über die böhmischen Adamiten aus ( B Ü T T N E R / W E R N E R , Circumcellionen und Adamiten, a. a. O., S. 109f.). Die von mir in dieser Hinsicht gezogenen Schlußfolgerungen bedürfen einer Korrektur in obigem Sinne.
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muß annehmen, daß Hartmann mit der conformitas den Besitz des libertas spiritus meint. Für die gewöhnlichen mulieres hat er nur den Vergleich mit Kälbern und Ochsen übrig: „Create sunt ad usum illorum, qui sunt in libertate spiritus." Daß diese Ansichten nicht Theorie blieben, beweist der Versuch eines „Vollkommenen" 1368 in Erfurt, einem Mädchen Gewalt anzutun. 483 Johann von Brünn betonte in seinen Aussagen vor allem den Umgang mit, Schwestern vom freien Geist. Mit ihnen darf der Vollkommene selbst nach der Kommunion „excercere opus nature fortiter bis vel quater, ut satisfaceret nature. . ,".484 Genauso wie für Hartmann galt jedoch auch für Johann der Grundsatz: „Est autem perfecta libertas: omnia que oculus videt et concupiscit, hoc manus assequatur."486 Der Erfurter Delinquent mißt sogar dem Verkehr eine positive Wirkung für die betroffenen Frauen bei: Sie erhielten ihre verlorene Keuschheit und Jungfernschaft zurück bzw. diese wurden überhaupt nicht berührt. Zur Verdeutlichung brachte er das ekelerregende Beispiel von den zehn Männern, die eine Jungfrau erkennen.486 Diese Berichte haben von jeher in der Forschung starken Zweifel und vielfache Ablehnung erregt. Ich habe mich bereits an anderer Stelle mit ihrem Quellenwert auseinandergesetzt487 und kann mich deshalb hier auf einige Ergänzungen, die zum Verständnis unseres Protokolls von Bedeutung sind, beschränken. Eine vollständige Leugnung libertinistischer Züge innerhalb der Führungsschicht des mittelalterlichen Sektenwesens ist nach dem derzeitigen Stand unserer Quellenkenntnisse nicht mehr möglich. In einer Beichte von Waldensern aus der Mitte des 13. Jh., die zur katholischen Barche zurückkehren wollten, heißt es von einigen rectores: „Isti omnes voverunt Deo castitatem et faciunt in contrarium. Amicus cum Biancaflor et cum Maria de Narbona et cum hospita sua sancti Antonii. Galuam cum Gencesaben de Raexac cum Brunesinen. P. R. de Coiran cum Maria de Biterris et cum Maria de Narbona. Peironet cum Maria de Narbona et fuit notum multis fratribus quod conceperat. P. Gros cum Maria de Cesteiron et ex ea habuit unum filium. P. Ros cum Benedicta. G. de Bolena cum Alasaim Dat. Laurentius Capatrola cum Maria de Narbona. Jacob de Pabis cum Peria. Symeon cum Lombarda — Isti et alii quamplurimi Valdenses versantur in tali continencia."488 483 WATTENBACH, W . , S e c t e , S . 5 4 3 . 481
Ebd. S. 535. 48« y gl. Anhang I. 487
488
485
Ebd. S. 533.
BÜTTNER/WERNER, Circumcellionen und Adamiten, a. a. 0 . , bes. S. 93—117.
GÖNNET, G., Enchiridion Fontium Valdensium I, S. 157. Die Bekenntnisse stammen aus dem Ermengaud von St. Gilles zugeschriebenen Traktat gegen die Katharer und Waldenser. R. MANSELLI hat m. E. überzeugend nachgewiesen, daß es sich lediglich um die Zusammenfassung eines Inquisitionsprotokolls aus dem 13. Jh. handelt: Per la storia dell'eresia nel secolo XII. Studi minori. „Bull. dell'Ist. stör, per il Medio Evo" 67 (1955) S. 262. Weitere Einzelheiten finden sich bei G. KOCH, Neue Quellen und Forschungen über die Anfänge der Waldenser. „Forschungen und F o r t s c h r i t t e " 3 2 ( 1 9 5 8 ) S . 148.
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Inwieweit sich hier bereits der im 14. Jh. sichtbar werdende „miscuglio di dottrine" ankündigt, in dem man u. a. „elementi panteistici e begardici" unterscheiden könne489, soll nicht untersucht werden. Unzweifelhaft ist der freie Verkehr der Geschlechter innerhalb einer Gruppe von rectores. Eine „theoretische" Begründung, wie wir sie bei den ketzerischen Begarden finden, fehlt. Ausgeprägt kultisch-rituelle Züge lassen sich bei den 1466 in Assisi festgenommenen italienischen Fraticellen (Michaelisten) aus Poli und Maiolati beobachten. In den in Rom stattfindenden Vernehmungen erzählte ihr Bischof Nicolaus von Massaro von ihren Messen, die sie barilotto nannten. Nach der Beendigung der Meßhandlung wurden die Lichter gelöscht, und unter dem Ruf „Alleluya, alleluya, ciascuno se pigli la sua" kommt es zur Permixtio. Sie meinten „se facere rem acceptam deo, et eis premissa licere ad invecem commisceri facere actum caritatis".490 Damit soll ein ritueller Knabenmord verbunden gewesen sein, der ihnen zur Bereitung der Eucharistie diente.491 Bereits D. L. DOUIE zeigte sich diesen Nachrichten gegenüber skeptisch, da sie z. T. unter der Folter gemacht wurden.492 Dagegen verdienen die libertinistischen Praktiken Aufmerksamkeit. Sie werden von vier Angeklagten bejaht. Nicolaus sagt, daß sie nicht in der Kirche stattgefunden hätten, sondern an einem profanen Ort. Nach dem Alleluia-Ruf habe „communiter capiebat illam Catharinam hic incarceratalo.".493 Seine Freundin bestätigte das mit den Worten: „Quod idem Nicolaus habuit concubitum cum ea."494 Ein weiterer Delinquent, Franz von Maglolata, machte folgende Aussage: „Dixit, quod bis interfuit, quando fuit factum dictum barriglotum in quadam gripta prope Maiolatam, ubi erant circa quadroginta viri et todidem mulieres de ista secta. Et finita missi vidit ipse Franciscus, qui tunc erat juvenis etatis circa quindecim annorum, quod extinguebant lucernam et unus ex presbyteris dicebat hec verba ,A, a, chiasche uno piglia la soa'. Et quod tunc fiebat tantus strepitus cum pedibus, sicut fuisset die veneris sancta (Karfreitag)." Dagegen bestritt er, daß ein Pulver aus der Asche eines ermordeten Knaben gereicht worden sei, „dixit, quod non vidit".495 Sein Mitbruder Franz von Maiolata bekannte sich gleichfalls zur Teilnahme „Quod ipse, dum esset juvenis, bis reperit se fuisse in barrilotto, prout alias deposuit, que dixit omnia vera esse". Angelus de Pole enthielt sich detaillierter Darlegungen und unterschrieb alles.496 Bestritten wurden die Anklagepunkte von Angelus de Maiolata, der betonte, er sei niemals bei einem barilotto zu489 480 491 492
493 494 496 498
GÖNNET, G., Delle varie tappe e correnti della protesta valdese in Europa da Lione a Chanforan. „Boll, della Società di studi Valdesi" 76 (1957) S. 26. EHRLE, F., Die Spiritualen, Archiv, Bd. IV, 1888, S. 123. Cap. XV, S. 123. DOUIE, L. D., The Nature and the Effect of the Heresy of the Fraticelli, 1932, S. 244. EHRLE, EHRLE, EHRLE, EHRLE,
S. S. S. S.
125. 126. 127. 128.
8 Mittelalterliches Flebejertum
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gegen gewesen, wisse aber „quod iuvenes et alii de populo videntes istos fratres de opinione dicebant quasi in oprobrium: Isti sunt fratres de barrilotto et deridebant eos". Diese Bemerkung ist wichtig, denn sie zeigt, daß das Wort keine inquisitorische Erfindung war, sondern vom Volke gebraucht wurde. Daß damit ein Knabenmord verbunden gewesen sei, verneinte er.497 Jannutia Petri de Turri, ein Greis von 70 Jahren, der 20 Jahre der Sekte angehörte, erklärte: „quod nunquam interfuit". Dasselbe sagte sein gleichaltriger Genosse Belleza de Turri, der sich 11 Jahre zur Sekte bekannte, aus. Ebenso bestritten die jüngeren Gefährten, Jacobella Menichicti Castro Poli, Francisca, die Tochter des Mitangeklagten Antonio de Sacco und Maria Johannis de Turris, entschieden ihre Teilnahme.498 Der schon erwähnte Antonius de Sacco, der die Frage nach dem barilotto gleichfalls verneint hatte, wurde gefoltert, auf diese Weise wurde ihm ein Geständnis abgepreßt. Vor dem Inquisitionstribunal widerrief er aber seine Aussagen und wandte sich mit folgenden Worten an seine Peiniger: „Videatis, domini mei, ego heri in tortura dixi, quod bis interfui in barilotto, hoc non est verum. Ego habeo uxorem juvenem et pulcram filiam hic detentam in carceribus apud Sanctum Spiritum, quare nunquam permisissem."499 An der Glaubwürdigkeit dieses Bekenntnisses besteht nicht der geringste Zweifel. Es wäre jedoch verfehlt, den negativen Befund einiger Angeklagter auf die positiven Aussagen anderer zu übertragen, indem man sie als inquisitorische Verleumdung stempelte und abtäte. Die vorausgegangenen Kapitel haben deutlich gemacht, daß die freigeistige Häresie doppelpolig aufgebaut war, daß ein Sektenkörper und ein Sektenhaupt bestanden, ähnlich wie bei Katharern und Waldensern. Inwieweit dem ein soziologischer Dualismus entsprach, wurde an Einzelfällen gezeigt. Daß nur ein kleiner Kreis in die Gruppe der „Freien" aufstieg, wird an dem Beispiel der Kölner Begarden sehr deutlich. Johann und Albert von Brünn mußten eine zwanzigjährige Büßerzeit durchmachen, bis sie die Vollkommenheit erlangten. Aber selbst dort, wo diese Bewährungsprobe wegfiel bzw. verkürzt und erleichtert wurde, wie etwa bei unserem Johannes Hartmann, der sine medio die Perfectio mit Gott erreichte, die er seit neun Jahren besaß, war die esoterische Lehre kein Massenanliegen. Die mittelalterlichen Plebejer des 14. Jh. wurden von der Freigeisterei durch konkretere und handgreiflichere Dinge angezogen als Vergottungsspekulationen und Libertinismus, wenn auch davon Elemente in den Sektenkörper einflössen und zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Situationen beherrschend werden konnten. Für sie galt der Ruf „Brot durch Gott", weg mit der reichen Kirche, Rückkehr zur Armut. Johann von Brünn erklärte dem Inquisitor, daß die Kölner Vollkommenen der Meinung gewesen seien, „quod in pauperibus solum veritas inveniatur, et non in sacerdotibus qui student in vanitate". 500 Die süd497
EHRLE, S. 1 2 9 .
498
EHRLE, S. 1 3 3 f .
499
EHKLE, S. 1 3 1 .
600 WATTENBACH,
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Secte, S. 534.
französischen Beginen behaupteten, daß Betteln vollkommener mache als Arbeiten.501 Die österreichischen Waldenser verlangten 1391 von ihren Novizen das Versprechen „quod amplius nolit vivere de laboribus manuum suarum, sed vivere de eleemosyna usque ad mortem."502 Die Haupttätigkeit Johanns in Köln während seiner zwanzigjährigen Läuterungszeit bestand im Betteln. 503 Von Frankfurter Beginen und Begarden aus dem Ende des 14. oder Beginn des 15. Jh. wird uns berichtet, daß sie das Betteln als Vollkommenheitsgrad ansahen, weshalb sie die Meinung vertraten, daß auch die rusticani nicht zu arbeiten brauchten. Sie begründeten das damit, daß sie Engel wären, die weder arbeiteten noch spännen. Arbeiter, Handwerker und Verheiratete zählten sie zu den groben und unvollkommenen (grosses et imperfectos) Menschen. Ihnen wäre das Los zugefallen, mit ihrer Arbeit sich, die Kinder und die Armen zu ernähren, die „onora aliorum" zu tragen.504 Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich hinter der Ablehnung der Handarbeit eine eschatologische Tendenz verbarg. J O A C H I M V . F I O R E berichtet nämlich von den Waldensern in Calabrien, sie hätten Zeichen für das Ende der Welt gesehen, weshalb sie auch nicht arbeiten wollten. Die Menschheit nähere sich dem Sabbat. Einige nannten die Arbeit eine „grande peccatum".505 Für die fluktuierenden städtischen und suburbanen Schichten bedeuteten derartige Forderungen und Praktiken eine Idealisierung ihres Seins. Johann von Homburg zählte zu ihren Anhängern, neben entlaufenen Nonnen auch Totschläger, „fures et latrones proscripti annuatim".606 Die aus freigeistigen Konsequenzen abgeleitete Verwerfung der Priester hatte unter diesen Menschen 601
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„Majoris perfectionis sit ipsis Bequinis vivere mendicando seu de mendicitate quam laborando seu de labore manuum suarum". B E R N A R D G Ü I , a. a. O . , S . 1 6 4 , 1 6 6 . F R I E S S , G. E., Patarener, Begharden und Waldenser in Österreich während des Mittelalters, „österreichische Viertel]'ahrschrift" 11 (1872) S. 258. Im Staatsarchiv zu Olmütz befindet sich im Codex Olomuc. 69, fol. 338 a—340 b (22 X 30 cm, Papier, schwarze Tinte) eine weitere Abschrift des von F R I E S S und DÖLLINGER Bd. II, S. 367—369 edierten Waldenserverhörs. Es fehlen gegenüber dem österreichischen und Pariser Codex einige Namen der anfangs aufgezählten rectores, dafür folgen am Ende deutsche Abschwörungsformeln. Ein erster flüchtiger Vergleich ergab, daß Cod. chart. saec. XV, 188, Seitenstett und Cod. Oolomuc. 69 eng verwandt sind. Beide datieren das Verhör auf den 4. September 1391. Über das Betteln fol. 338 b. W A T T E N B A C H , Secte, S. 530. Bei seiner Aufnahme in die Gemeinschaft mußte er sich, genauso wie die italienischen Apostelbrüder unter Segarelli, völlig entkleiden. Er empfing dann erst aus den Händen der Brüder eine aus Flicken zusammengenähte Tunika. Ebd. J O H A N N W A S M O D VON H O M B U R G : Tractatus contra haereticos Bekardos . . ., ,,. . . mendicitatem requirunt ad statum perfectionis, et, licet rusticani, labores corporales subterfugiunt, dicentes se volatilia coeli qui neque n e n t . . . " D Ö L L I N G E R , Bd. II, S. 409, 415f. E . D U P R É - T H E S E I D E R : Introduzione alle eresie medievali. Lezioni di storia medievale, Bologna 1953, S. 176. Ders. S. 411.
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eine positive Wirkung, denn sie trug mit zur weiteren Erschütterung der kirchlichen Autorität unter den untersten sozialen Elementen bei. Hartmann demonstrierte seine Überlegenheit gegenüber den Klerikern auf folgende Weise: „Predicatores predicant et dicent ex libris, et studio pellium obliuiscuntur eorum, sed qui in intima profunditate diuini abyssus talia perspiciunt illi verissime talia dicere possunt". Der Glaubensgenosse aus Brünn drückte den gleichen Gedanken so aus: Das Wort eines Begarden ist deshalb wirksamer als das eines predigenden Priesters, weil der Begarde sein Wissen aus dem Studium des Buches der Trinität erhält, während der Priester seine Gelehrsamkeit aus Kälberhäuten bezieht.507 Die als illiterati und ydiotae bezeichneten österreichischen Waldenser verwarfen die gesamte geistliche und weltliche Hierarchie: „Item dicunt papam esse caput omnium haeresiarcharum; et ex eo imprimis cardinales, archiepiscopos, episcopos, imperatores, reges, principes, duces et omnes iudices tarn spirituales quam saeculares una cum omnibus presbyteris esse damnandos. . ,".508 Am aggressivsten gegen die Obrigkeit gebärdete sich Hartmann. Falls ihm der Kaiser etwas verwehren sollte und er hätte die Möglichkeit dazu, dann würde er ihn bedenkenlos töten, vorausgesetzt, daß der Herrscher nicht im Besitze der geistigen Freiheit sei. Diese Äußerungen blieben in den Köpfen der Angesprochenen eher haften als Spekulationen über die Deificatio. In Erfurt waren dazu die Voraussetzungen besonders günstig. Mit über 18000 Einwohnern Ende des 15. Jh. gehörte die Stadt zu den deutschen „Großstädten".509 Bereits im 13. Jh. blühte das Handwerk. Es verarbeitete die aus der Umgebung stammenden Rohstoffe zu Tuchen, Waffen, Holzwaren, Geschmeiden u. ä. für den Eigenbedarf und den Export.510 Frühzeitig organisierten sich die Weber, Schmiede, Schuhmacher, Schilderer, Hutmacher, Bäcker und Fleischer zu Zünften.611 Nicolaus von Bibra nennt in seinem „Carmen satiricum", das er zwischen 1281 und 1283 schrieb, mercatores, fabri, textores, carnifici, carpentarii, cerdones (Pfennighandwerker), rasores cartarum (Pergamentmacher), lapicides, pelliones, calcifices, sartores und pictores.512 So607
WATTENBACH, Seote, a. a. 0., S. 536: „beghardus studuit suam doctrinam in libro Trinitatis, set saoerdos in pellibus vitulorum." 508 FRIESS, G. E., a. a. O., S. 259f. Cod. Olom. fol. 339a. Der sozialen Herkunft nach waren die Festgenommenen Bauern, Schuster, Schneider, Henker (carnifex), Schmiede, Müller und Tuchscherer (rasor pannorum): FRIESS, S. 257, Cod. Olom. fol. 338 a. 509 NEUBAUER, TH., Zur Geschichte der mittelalterlichen Stadt Erfurt. „Mitteilungen" 35 (1914) S. 11; zur Größenordnung der mittelalterlichen Städte vgl. AMANN, H., Wie groß war die mittelalterliche Stadt? „Studium Generale" 9 (1956) S. 503-506; Nürnberg und Straßburg besaßen um 1400 ca. 20000 Einwohner. 510 KIRCHHOFE, A., Die ältesten Weisthümer der Stadt Erfurt, Halle 1870, S. 32. 511 WIEMANN, E., Beiträge zur Erfurter Ratsverwaltung des Mittelalters, II, „Mitteilungen" 52 (1938), S. 49. 512
FISCHER, TH., in „Geschichtsquellen" a. a. 0 . , S. 94, 1680; S. 95, 96, 97.
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wohl innerhalb der Kaufleute als auch der Handwerker bestand eine starke soziale Differenzierung. Die Waidjunker standen als Fernhändler an der Spitze. Klein- und Mittelkaufleuten war der Nahmarkt vorbehalten. Die Handwerker teilten sich in drei Gruppen: die neun großen (Krämer, Bäcker, Lohgerber, Wollweber, Schuhmacher, Schmiede, Kürschner, Fleischer und Schneider), die neun kleinen (Weißgerber, Senkler, Büttner, Schilder, Huter, Pergamentmacher, Färber, Häringer und Reussen) und schließlich die übrigen Handwerker. 513 Sehr zeitig t r a t die bürgerliche Opposition gegen den R a t und damit die Patrizier in Aktion. 1283 ist uns ein Handwerkeraufstand überliefert, und 1309/10 griffen die Bürger erneut zu den Waffen, um die Vorherrschaft der Gefrunden zu brechen. 514 Diese fortgeschrittene wirtschaftliche und soziale Entwicklung Erfurts führte zur frühzeitigen Entstehung von Beginenhöfen. Bereits Nicolaus von Bibra spricht von ,,guten" Beginen, „quarum numerus sine fine". Sie weben wollene Tücher nicht nur für den eigenen Gebrauch, sondern auch für den Verkauf. „Sic nocte dieque laborant". 515 Der Satiriker kannte aber auch schon „schlechte", d. h. ketzerische Beginen ,,sub false religione". 516 Die wirtschaftliche Blüte, der Aufschwung des Waidhandels, vergrößerte laufend die Stadtarmut (Tagelöhner und Dienstleute aller Art). 517 Das bewog die Zünfte zu einer stärkeren Abgrenzung nach unten. Um 1300 gehörten in Erfurt zu den Aufnahmebedingungen: Bürgerrecht, persönliche Freiheit, ehrliche Geburt. Vor allem die Gesellen sahen auf die Scheidung zur Stadtarmut und den Zugewanderten, die zumeist nicht in der Lage waren, die Übernahmebedingungen zu erfüllen. 518 Diese Haltung der Gesellen entsprach ihrer sozialen Lage, die Marx und Engels wie folgt charakterisierten: „Die Gesellen und Lehrlinge waren in jedem Handwerk so organisiert, wie es den Interessen der Meister am besten entsprach; das patriarchalische Verhältnis, in dem sie zu ihren Meistern standen, gab diesen eine doppelte Macht, einerseits in ihrem direkten Einfluß auf das ganze Leben der Gesellen und dann, weil es für die Gesellen, die bei denselben Meistern arbeiteten, ein wirkliches Band war, das sie gegen die Gesellen der übrigen Meister zusammenhielt und sie von diesen trennte; und endlich waren sie schon durch das Interesse, das sie hatten, selbst Meister zu werden, an die bestehende Ordnung geknüpft. Während daher der Pöbel es wenigstens zu Erneuten gegen die ganze städtische Ordnung brachte, die indes bei seiner Machtlosigkeit ohne alle Wirkung blieben, kamen die Ge613
514
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F., Die Vorgeschichte der Erfurter Revolution von 1509. „Mitteilungen'« 32 (1911), S. 16. Diese Ereignisse behandelt E. R E I C H E R T in ihrer unveröffentlichten Diplomarbeit: Patriziat und Opposition in den thüringischen Städten, vornehmlich Erfurt, Leipzig, 1956, S. 20-25. BENARY,
FISCHER, T H . , a. a . O . , S. 9 2 , 1 6 1 9 ; 9 3 ,
1620.
Vgl. dazu oben, S. 36. Zum Umfang des Waidhandels in Thüringen und den Rheinlanden ist zu vergleichen H U R R Y , J . B . : The woad plant and its dye, London 1930, S. 117 ff. WIEMANN, E . , a. a. O., S. 58.
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seilen nur zu kleinen Widersetzlichkeiten innerhalb einzelner Zünfte, wie sie zur Existenz des Zunftwesens selbst gehören." 519 Der Pöbel selbst wurde durch die Notwendigkeit der Tagelöhnerarbeit geschaffen. Dadurch, daß er vereinzelt vom Lande in die Stadt kam und aus einander fremden Individuen bestand, war er dem organisierten Patriziertum und der in Zünften vereinigten bürgerlichen Organisation machtlos ausgeliefert. 520 Ihn hielt nichts an der bestehenden Ordnung, er hatte buchstäblich nichts zu verlieren außer seinem elenden Leben. Radikalismus, Utopismus, Schwärmertum, Quietismus, Libertinismus wechselten in bunter Folge in seinem Hirn. F E . E N G E L S hat in anderem Zusammenhang auf die Bedeutung libertinistischer Spekulationen für die in Bewegung geratenen Unterschichten einer Klassengesellschaft hingewiesen. Er schreibt: ,,Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß mit jeder großen revolutionären Bewegung die Frage der ,freien Liebe' in den Vordergrund tritt; bei einem Teil der Menschen als ein revolutionärer Fortschritt, als ein Abwerfen nicht mehr notwendiger, alter traditioneller Fesseln, bei anderen als eine willkommene Lehre, die bequemerweise alle Arten zügelloser Handlungen zwischen Mann und Frau deckt." 5203 Wie die vorausgehenden Untersuchungen dargetan haben, rang das Plebejertum um Klarheit über seine Stellung im Rahmen der städtischen Gesellschaft, suchte es nach eigenen ideologischen Positionen, die sie zur Emanzipation führen sollten. Die Bedeutung der freigeistigen Häresie lag nicht zuletzt in der Förderung dieser Tendenzen, und ihre Ausbreitung im 14. Jh. in Deutschland entsprach dem Wachstumsprozeß der Stadtarmut im gleichen Zeitraum. Trotzdem war von einem selbständigen politischen Auftreten dieser Schicht in den städtischen Kämpfen noch keine Rede. Sie bildeten den Schwanz der bürgerlichen Opposition, nicht mehr. Nur dort, wo sie in der frühkapitalistischen Produktion zu Tausenden tätig waren, wie in Italien, oder von starken Organisationen geführt wurden, wie in Thessalonike, wuchsen sie über religiöses Schwärmertum, Bettelideologie und reine Negation hinaus zu revolutionärem Kampf um ihre Rechte. Leider schweigen die Erfurter Quellen, soweit sie gedruckt sind, über die Existenz dieser Schicht. ,,Die Stadtarmut ist quellenmäßig noch nicht greifbar." 521 Daraus ihr Vorhandensein überhaupt bestreiten zu wollen, wäre selbstverständlich unsinnig, denn ganz abgesehen von den Tagelöhnern, ohne die keine große Stadt auskam, benötigte Erfurt zahlreiche Waidknechte, die den begehrten Farbstoff bereiteten, verpackten und verluden. Möglicherweise rekrutierten sich aus ihr auch die Begarden, die 1375 genannt werden und die Bestattung armer Leute übernahmen. 522 Inwieweit sie mit häretischem Gedankengut infiziert waren, steht 619
520
MARX, K./ENGELS, FB., Die deutsche Ideologie, a. a. O., S. 50.
Ebd. S . 5 0 . 6 20a K MARX/FR. ENGELS, Über Religion, Berlin 1958, S. 165. (Das Buch der Offenbarung).
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REICHERT, E . , a. a. O., S. 8.
Die Witwe Katharina vermachte am 25. 1. 1375 10 Schillinge zu jeder Weihefasten aus einer ewigen Rente den „paghardten, welche die armen toten Leute, die an den
dahin. Sicherlich gab es auch hier, genauso wie bei den Beginen, zwei Gruppen: rechtgläubige und ketzerische. Über den Werdegang Hartmanns wissen wir fast nichts. Er stammte aus einem Dorf bei Apolda, zog wahrscheinlich nach Erfurt und trat 1358 in den Stand eines Freigeistes. Ob er direkt durch einen Akt innerer Gnosis oder indirekt durch äußere Übungen ein derartiges Bewußtsein erlangte, berichtete er uns nicht. An das Weglassen einer diesbezüglichen Aussage durch den Schreiber ist nicht zu denken, da sonst alle Kleinigkeiten und Einzelheiten aufgezeichnet wurden. Schließlich fehlt jeder Hinweis, ob er zuvor einer Sektengemeinde beigetreten war oder erst nach seiner „Erleuchtung" den Anschluß an Gleichgesinnte gesucht hat. Daß er aber in einer Sektengemeinschaft stand und kein Einzelgänger war, beweist die Bemerkung des Protokolls am Anfang: „Vel dictus Johannes Spynner i n t e r beghardos." Das ist zugleich ein Fingerzeig für seine Beschäftigung: er war ein Spinner oder Weber.523 In diese Richtung weist auch die Bemerkung während seiner Vernehmung, für einen freien Geist sei es besser, einen goldenen Becher zu erwerben als grobes Tuch. Wir wissen, daß die Weber zu den ältesten Erfurter Gewerben zählten. Auf ihre Machtansprüche und ihren zünftlerischen Stolz spielte bereits Nicolaus von Bibra an, wenn er schrieb: „Sunt ibi textores, qui nolunt esse minores, Immo primatum per ineptum sepe boatum Obtinere prius, si sie sit in urbis alius Menibus ignoro." 624 An einen Meister bei Johannes zu denken, widerspräche der Quelle, die davon bestimmt etwas erwähnt hätte, wenn es sich um einen Vertreter dieses geachteten Standes handelte. Vielmehr wird er ein zugewanderter Landweber gewesen sein, der in der Stadt Lohnarbeit suchte. Unter solchen Umständen könnte er zu einer Begardenvereinigung gestoßen sein, derer es in Erfurt einige
523
Straßen und auf den Kirchhöfen sterben und liegen, zu Grabe tragen", UB Erfurt II, Nr. 473. Ein psychischer Defekt kann damit nicht ausgedrückt sein, denn diese Bedeutung nimmt das Wort erst später an, als Spinnen zur Pflichtarbeit in Spitälern u. ä. Anstalten gemacht wurde. Vgl. KLUGE-GÖTZE, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1948, S. 577. Spintisieren bietet 1530 Luther: Spintisierwerk (Grübelei), ebd. — Im Spätmittelhochdeutschen kommt vereinzelt eine übertragene mystische Bedeutung vor, und zwar bei HEINBICH VON MEISSEN (1250—1318) in einem Leich: ,,Sus vater, sun, heiliger geist in mich sich span". GRIMM, J . und GRIMM, W., Deutsches Wörterbuch X ,
1, Leipzig
1905,
Sp. 2529. KONRAD
VON MEGENBERG (1309—1374) gebraucht das Wort für erzählen: „Iedoch han ich ain klain angehebt zu spinnen von der lieb an ainer andern stat", ebd. Sp. 2527. Eine Substantivierung ist nicht nachweisbar. Ob in den Nachnamen Spinner ein mystischer Unterton eingeflossen ist, läßt sich schwer sagen. Für eine Gleichsetzung mit „Mystiker" reichen die bekannten sprachlichen Belege nicht aus. 624
FISCHER, TH., a. a. 0 . , S. 9 5 , 1 7 0 0 - 1 7 0 3 .
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gegeben haben dürfte, und zwar nicht nur Totengräber. Von den Beginen wissen wir, daß sie sich schon in den achtziger Jahren des 13. J h . mit Weberei beschäftigten. 625 Das Protokoll von 1367 macht es wahrscheinlich, daß die thüringische Metropole auch männliche Genossen beheimatete, die der gleichen Beschäftigung oblagen. Die Verbrennung von drei häretischen Begarden, unter denen sich Johann befunden haben dürfte, in den Jahren 1367/68 ist ein weiterer Beleg für unsere Ansicht, daß es eine männliche Ketzergemeinde gab. Die begardischen Irrlehren in Erfurt reichen über das Jahr 1358 hinaus, sie sind also nicht von Johannes mitgebracht, sondern im Höchstfalle von ihm fortgebildet worden. Schon acht Jahre zuvor, also 1350, mußten sich die Erfurter Patres unter Leitung des Lektors aus dem Augustinerorden, Jordanus, der sich bereits 1336 bei der Ergreifung von Luciferianern in Angermünde seine Sporen verdient hatte, mit einem Begarden namens Konstantin beschäftigen. 526 Es ist nicht ausgeschlossen, daß auch Kerlinger an den Verhören beteiligt war, denn er gehörte bereits damals dem Dominikanerorden an und lebte als Mönch im Predigerkloster. Die Inquisitoren gaben sich mit Konstantin große Mühe, denn er war ein guter „scriptor librorum textualium", wie sich der Erfurter Chronist des Petersklosters ausdrückt. 527 Nach dem Continuator I I besagter Chronik wurde er acht Wochen lang bearbeitet und beobachtet, ,,ut si esset ex litargia aut frenesi vel aliqua speciali debilitate cerebri". 528 Es unterliegt keinem Zweifel, daß ihm die Ketzerrichter so eine Brücke in die Freiheit bauen wollten. Wahrscheinlich arbeitete er für einige von ihnen, und man wollte sich die gute Schreibkraft erhalten. Konstantin ging jedoch auf nichts ein. Er war felsenfest davon überzeugt, daß er Gottes Sohn sei, der nach dem Tode in drei Tagen wieder auferstehen würde. Von Geisteskrankheiten wollte er nichts wissen.529 Es war seine Überzeugung, daß er Gott sei wie Christus „sine aliqua distinctione". 530 Scharf wandte er sich gegen alle Sakramente, die seiner Meinung nach aus Habgier von den Priestern erfunden wurden. Papst, Bischöfe und Kleriker sind für ihn 526
FLADE, P., a. a. O., S. 64, kommt für die Beginen in Erfurt zu einem viel zu späten Ansatz (1308), da er Nicolaus von Bibra nicht herangezogen hat. 52» Zur Tätigkeit Jordans vgl. BRTJNNER, G., Ketzer und Inquisition in der Mark Brandenburg im ausgehenden Mittelalter, Diss. Berlin 1904, S. 3. Cronica S. Petri Erfordensis, MGSS in us. schol. Mon. Erph. S. 381. 528 Ebd. S. 396. 529 „Ipse respondit se nullum defectum pati et esse filium Dei et post obitum suum die tercia resurrecturum", ebd., S . 3 9 6 . Die „Düringische Chronik" JOHANN ROTHES, die er zwischen 1400 und 1430 verfaßte, bringt lediglich eine freie Übersetzung des Continuators II und scheidet deshalb als Originalquelle aus (Thüringische Geschichtsquellen III, 1859, S. 597). 630 „Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium", MGSS XIV, S. 435. Von den drei Quellen sind die Gesta am ausführlichsten und zuverlässigsten. Ihnen stand wohl ein Protokoll zur Verfügung, das Jordan dem Verfasser zur Einsicht übergab, denn dieser Augustinermönch arbeitete im Dienste des Erzbischofs und lebte in Magdeburg. S. 434.
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nichts weiter als Betrüger der Menschen.531 Anders als Johannes Hartmann verhielt sich Konstantin zu den Evangelien. Er verwarf sie nicht samt und sonders, sondern ließ zwei von ihnen gelten: das Johannes- und das Matthäusevangelium. Marcus und Lucas erklärte er zu Erzählern von Lügengeschichten. 632 Warum finden gerade letztere keine Gnade vor ihm ? Leider erwähnen unsere Quellen mit keinem Wort den Grund, und wir können höchstens Vermutungen anstellen. Der Verfasser des Markusevangeliums liebte die kleinen, realistischen Episoden um Jesus. So erzählt er etwa, daß ihn seine nächsten Verwandten für wahnsinnig hielten (3,21), daß es ihm nicht gelang, in Nazaret Wunder zu tun (6, 5) und daß die Jünger wenig Verständnis für seine Botschaft und für sein Wirken zeigten (4, 13; 6, 52; 9, 10, 32). Vielleicht nahm unser Begarde, der als bewährter Schreiber selbstverständlich alle Einzelheiten der Evangelien aus eigenem Studium kannte, daran Anstoß, weil er sich gleichsam als zweiter Christus, als Gottessohn, fühlte. Für die Verwerfung von Lucas weiß ich keine Erklärung. Das in ihm enthaltene Urteil Jesu über Reichtum und Armut (Gleichnis vom reichen Kornbauern 16, 19£f., vom reichen Mann und armen Lazarus 19,2ff., die Seligpreisung der Armen und Hungernden 6,20f., der Wehruf gegen die Reichen und Satten 6,24 usw. hätte es ihm doch eher anziehend als abstoßend machen müssen. Vielleicht behagte ihm die Betonung des Gebetslebens Jesu und seine Weisungen für das Beten an die Jünger nicht (3,21; 5,16; 22,31£; 23,34,46; 11, lff.; 18,lff., 10ff.; 22, 40, 46). Das Ansehen des Johannesevangeliums in vielen Ketzergememden ist bekannt. Man denke nur an die Bogomilen und Katharer. Konstantin erwärmte sich wahrscheinlich an der Grundidee des Evangelisten: Die Zeichen Jesu sind niedergeschrieben worden, damit ihr glaubt, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist und ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen (20, 31). Seiner Überzeugung nach galt ja jedes Jesuslogion für ihn, traf jedes Charakteristikum Christi ihn persönlich. Nicht zuletzt wird er sich an der Idee des geheimen Sieges des Offenbarers über die Welt erwärmt haben.533 Was schließlich das Matthäusevangelium betrifft, so lag ihm das Bestreben zugrunde, Wahrheit und Würde Jesu gegenüber seinen Widersachern in das rechte Licht zu stellen. Der Messias war trotz Niedrigkeit und Armut der Bringer göttlichen Heils, der Vollender der Geschichte Gottes mit der Menschheit. Sein Weg führte ihn durch Leiden in den Tod, aber Gott ließ ihn in Herrlichkeit wieder auferstehen. So wurde er zum Herrscher über die ganze Welt. 534 Diesen 631
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„Item dixit, papam, episcopos et omnes sacerdotes esse hominum deceptores; item de eukaristia et aliis sacramentis ecclesie nichil tenuit, sed talia propter avariciam a clericis fore conficta asseruit." Gesta S. 435. Die Gesta schreiben ,,Mathei autem et Johannis concessit", der Continuator II „parum credidit" (S. 396). Er will auch gehört haben, daß Konstantin Lucas und Marcus Teufel (dyabolos) nannte (ebd.), während die Gesta von fabulas sprechen. Vgl. dazu die tiefschürfende und geistreiche Interpretation von B U L T M A N N , R . , Das Johannesevangelium, Göttingen 1956, 14. Aufl., S. 298ff. F E I N E , P . / B E H M , J., Einleitung in das Neue Testament, Leipzig 1951, 9. Aufl. S. 52.
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Weg wollte auch Konstantin beschreiten, denn seine Auferstehung sollte allen Menschen das greifbar vor Augen führen, was er bisher nur allein wußte: er war Gottessohn, wie Christus „sine aliqua distinctione". Unter diesen Umständen konnte er mit den Väterschriften nichts anfangen. Augustin und alle Doktoren waren Gauner und Verderber der echten Wahrheit.536 Alle Überredungskünste seiner Richter brachten ihn zu keinem Widerruf, so daß er schließlich am 3. August 1350 vor den Mauern Erfurts, „ante gradus beate virginis", den Scheiterhaufen besteigen mußte.536 Das Grundmotiv seiner Häresie war ebenfalls die Deiflcatio. Daraus leiteten sich alle anderen Ansichten ab, wie die Verwerfung der kirchlichen Hierarchie, der Sakramente und der hl. Schriften. Anders als in der Mystik handelte es sich nicht nur um ein vorübergehendes, in seltenen Augenblicken ausgekostetes Vergottungserlebnis, sondern um einen immerwährenden Zustand, um eine religiöse Erfahrung, die seine Göttlichkeit zur Gewißheit machte. Er war Gott und trat als solcher auf: hic et nunc! Noch in der zweiten Hälfte des 15. Jh. gab es in Frankreich und Deutschland gottgewordene Männer, von denen einer in Erfurt ergriffen wurde. Es handelte sich um den Gesandten des Königs von Cypern, J O H A N N E S D E C A S T R O C O E O N A T O , der zur Verteidigung der Insel in Deutschland Almosen sammeln sollte. Er behauptete, Gottes Sohn zu sein, getötet zu werden, wieder aufzuerstehen und den Winter in Sommer verwandeln zu können.637 In dieser Tradition stand auch Johannes Hartmann. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er Konstantin persönlich kannte. Auf jeden Fall ist er der Beweis, daß dessen „Lehren" mit seinem Tode nicht verschwanden, sondern ganz im Gegenteil eine erstaunliche Vitalität besaßen. Diesen Umstand allein auf die Persönlichkeit Konstantins zurückzuführen, dessen Standhaftigkeit sicher in breiteren Kreisen der Stadt Aufsehen erregte, denn als Schreiber war er kein Unbekannter, geht nicht an. Erfurt war im 14. Jh. nicht nur eine wirtschaftlich aufstrebende Gemeinde, sondern auch ein geistiger Mittelpunkt. Einen glänzenden Aufschwung nahm das Schulwesen, das in der Gründung der Universität am 4. 5. 1389 seinen Höhepunkt fand, nachdem es bereits 1362 in einer Eingabe Karls IV. an den Papst den Titel Studium Generale erhalten hatte.638 1392 wurden 97 Studenten immatrikuliert. Nach 636 536
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„Truphatores et sinoere veritatis perversores", Gesta, S. 435. CONTINTJATOR II, S. 396; Gesta, S. 435. Die Nachricht stammt von dem Erfurter Augustiner-Eremiten J O H A N N E S D O R S T E N , der zwischen 1465 und 1480 der geistige Leiter der Universität war, und einem seiner Schüler. ,,In Francia enim apparuerunt duo que se Enoch ed Heliam esse pronuntiaverunt. In Germania autem unus surrexit qui se Jesum et Salvatorem fatebatur." In den Marginalen fügte ein Schüler hinzu: ,,Joh. de Castro Coronato legatus regni Ciprie pro elemosinis fidelium ad defensionem regni, Erfordie deprehensus incarceratus in arce Moguntini, dixit se Filium Dei . . . Dixit quod infra decenarium oriens futurus occidens, et hyemem estatem"; in der „Quaestio de tertio statu" ed. R. Kestenberg-Gladstein. „The Third Reich". Journal of the Warburg and Court. Inst. 18 (1955), S. 278. MEIER, L . , B a r f ü ß e r s c h u l e , a. a. O . , S. 13.
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den Berechnungen von H. R. ABB betrug die Gesamtstärke der Studentenschaft 350-423 Mitglieder in den Jahren 1392-1400, wobei er von der Überlegung ausgeht, daß die Gesamtfrequenz einer Universität nicht nur durch Neuimmatrikulationen bestimmt wird, sondern zugleich von den „Altstudenten" der vorhergehenden Semester. In Heidelberg wurden demgegenüber 1386 nur 49 und in Köln 1388 nur 34 Studenten immatrikuliert.539 Diese Zahlen blieben weit hinter der Anzahl der Studenten zurück, die im 13. und der ersten Hälfte des 14. Jh. in Erfurt weilten. Nicolaus von Bibra spricht von 1000 Studenten, unter denen sich viele Windbeutel befanden, die sich eifrig dem Würfelspiel ergaben und sich in Betrug und Täuschung übten. Studenten waren sie nur dem Namen nach. Sie verführten auch andere zu Müßiggang und Laster. Viele wurden zu Dieben und blieben alle ungebildet wie die Ochsen. Viele bemühten sich jedoch eifrig um die Wissenschaft. Sie ermüdeten nicht angesichts der Schwierigkeiten, nährten sich mit trockenem Brot, standen frühzeitig auf und lungerten nicht herum. Ihr Eifer lohnte sich, und nach beendigten Studien nahmen sie hohe Posten ein: Prälaturen, Dekanate, Kanonikate. Oft wurden sie auch Schreiber „magnorum dominorum" oder Lektoren.540 Die Schulen waren meist mit einzelnen Kirchen und Klöstern verbunden. 1282 erhielten drei Erfurter Stiftsschulen gemeinsame Reformstatuten, in denen der Ausdruck „communio et consortium magistrorum scholarum et scholarium" vorkommt.541 Ihr Ruf ging weit über Thüringen hinaus. Levold von Northof begab sich z. B. 1294 studienhalber nach Erfurt. 1350 behauptete Karl IV., diese Schulen würden von Tausenden von Schülern besucht.542 Außer den niederen existierten vier höhere Schulen, an denen Philosophie, und zwar besonders die aristotelische, gelehrt wurde.543 Bei dem Vagantenleben der mittelalterlichen Studenten nahm es nicht wunder, daß rege Beziehungen zur Mater studiorum, zu Paris, bestanden. Von dem Rechtsbeistand Heinrich von Kirchberg schreibt Nicolaus: „Florido Parisius, que cunctis dat studii ius".544 Der Prior des Erfurter Dominikanerklosters, E C K E HABT, wurde zu Lehr- und Lernzwecken nach Paris gesandt, wo er sich 1302 den Magistertitel erwarb. In einer Urkunde von 1328 ist die Rede von der „universitas studentium Erfordensium" und von „variae nationis". Ihr Magister, J O H A N N E S VON PARIS, wandte sich in einem Bittschreiben an den Mainzer Erzbischof.545 1371 siedelte der Minderbruder Johannes Gutensperg 539
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ABE, H. R., Die Frequenz der Universität Erfurt im Mittelalter (1392-1521), Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt, H. 1, 1956, S. 23, 28. F I S C H E R , TH., a. a. O., S. 9 0 - 9 2 ; 1566-1599. CRAMEB, F., Die Erfurter Schulordnung, 1910, S. 290-292. D E N I F L E , H., Die Entstehung der Universitäten, Berlin 1885, S. 406 ff. Ders. S. 408. Die vier Hauptschulen waren bei St. Marien, St. Severi, den Reglern und Schotten. Sie standen unter einem „Rector superior". Vgl. M E I E R , L . , a. a. O . , S. 13.
544
FISCHER, T H . , a . a . O . , S . 3 9 , 6 3 .
646
OVERMANN,
U B Stifter und Kloster, Bd. I I , 61.
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nach Paris über, dessen Erfurter Ausbildung man der Pariser gleichstellte. 546 Rektoren und Scholastiker der einzelnen Schulen hatten größtenteils ihre Bildung in Paris genossen. Sie und die wandernden Scholaren lernten hier neue Lehren, Ideen, philosophische Strömungen und Ketzereien kennen. I m Jahre 1310 empörte sich der Pariser Magister aus dem Franziskanerorden, Nicolaus von Lyra, in seinen drei Quodlibeta u. a. gegen die neuen Häretiker, die sagen, man dürfe nicht den Worten der Propheten gehorchen, sondern müsse frei und nach dem Fleische leben. Der brave Magister hält diese Leute für Satansgeschöpfe und Abgesandte des Antichrists. 547 Wieweit wir es hier mit Nachkommen der Amalrikaner zu tun haben, geht aus dem wortkargen Bericht nicht hervor. Vielleicht verbargen sich hinter den geschmähten Ketzern auch Anhänger der am 7. 3. 1277 verdammten Sätze des Siger von Brabant und Boethius von Dacien. Diese beiden Scholastiker hatten u. a. behauptet, daß die Sünde wider die Natur nicht das Individuum träfe: ,,166. Quod peccatum contra naturam, utpote abusus in coitu, licet sit contra naturam speciei, non tarnen est contra naturam individui". 548 Enthaltsamkeit war für sie keine Tugend, der außereheliche Geschlechtsakt keine Sünde. Die Glückseligkeit sollte der Mensch nicht im Himmel, sondern auf Erden suchen. 649 Von einem Weg zur Vergottung ist allerdings hier keine Rede. Vielmehr überwiegen atheistische und materialistische Züge.550 Für die Ableitung einer menschlichen Deiflcatio eigneten sich dagegen die 1347 von 43 Magistern verurteilten Sätze des Johannes von Mirecourt. I n Artikel 8 vertritt er die Meinung, daß sich ein Mensch gleiche oder sogar höhere Verdienste erwerben kann als Christus. 551 Die nächste Folgerung, die ein exaltierter Leser oder Hörer daraus ziehen konnte, lief auf die subjektive Gleichsetzung mit Christus hinaus. Gab es nämlich die Möglichkeit, daß ein Mensch Christus an Verdiensten, d. h. als Heilsbringer, gleichkam oder sogar überragte, dann stand er mit ihm auf einer Stufe. Seine Natur war göttlich, er wurde zum fllius dei. Auch die Artikel über das Sündenproblem und den freien Willen bei Johannes von Mirecourt waren dazu angetan, die freigeistige Häresie zu befruchten. Niemand sündigt, ohne das zu wollen, was Gott will, heißt es in These II. 5 5 2 Sünde ist mehr ein bonum 546
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MEIER, L . , a. a. O., S. 4 5 .
PELSTER, F., Die Quaestio Heinrichs von Harclay. „Archivio ital. per la stor. della pietà" I (1951), S. 45. DENIFLE, H., Chartularium universitatis Parisiensis, Bd. I, S. 533. Ders. These 168, 169, 172, 183, 176: Quod felicitas habetur in ista vita, et non in alia (S. 553). Zum Averorroismus der beiden Scholastiker und die Thesen von 1277. LEY, H . , a. a. 0 . , S. 2 9 6 ff.
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S o LEY, H . , a. a. O . , S. 305FF.
DENTFLE, H., Chartularium Bd. II, S. 611. ,,Quod potest esse alicujus persone create meritum equale vel majoris valoris vel efficacie cum merito Christi". Zur philosophischen Stellung Johannes'. GEYER, B., Die patristische und scholastische Philosophie, 1956, S. 590f. Ebd. S. 610.
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denn ein malum.553 Der Gebrauch des freien Willens bringt keine sündige Tat hervor, auch wenn er das Weib eines anderen begehrt ,,et sie de aliis peccatis".554 Wie gut diese philosophischen Spekulationen von der freigeistigen Sekte verarbeitet werden konnten, zeigt das Handbuch eines italienischen Inquisitors, das Fälle aus den Jahren 1230—1330 verzeichnet und unter den ,,errores sectae spiritus libertatis" u. a. folgendes anführt: Es gibt weder Sünde noch Laster (vitium). Was dafür angesehen wird, sind „purgationes animarum datae a Deo". Gott wird von keinem Geschöpf verletzt, sondern alles geschieht so, wie er es verfügt. Der freie Wille vermag nichts und vollbringt nichts, weder im Guten noch im Bösen, wenn er von Gott nicht geführt wird. Das Leiden Christi war nicht zur Verhütung ewiger Verdammnis notwendig, ,,sed ad provocandum in bono". Menschen, die ihrer Sekte angehören bzw. ihren Weg beschreiten, sind pares Christi.556 Konstantin hat eine Schule besucht, er konnte lesen und schreiben und studierte die Evangelien. Wir wissen nicht, ob er seine Kenntnisse nur in Erfurt erwarb oder ob er sich auch in der Fremde bildete. Als geistig reger Mensch interessierte er sich zweifelsohne für Glaubensfragen im philosophischen Gewand. Die Gespräche und Dispute der Magister und Scholaren machten ihn mit neuen Gedanken vertraut. Dazu kamen die seit langem bestehenden Beginengemeinschaften, in denen heterodoxe Ideen zumindest nicht unbekannt waren. Aus ihnen stammten wohl auch die an die Mystik anklingenden Spekulationen Hartmanns, wenn er etwa vom „divinus abyssus" spricht, aus dem er sein Wissen herleitet, oder wenn er die „nobilitas spiritus ex effluxu divinitates et refluxu in deitate" anführt, die in der Essenz mit Gott eins ist. Seine Transformation in Gott erfolgte durch reine Kontemplation „sine medio". Er gebrauchte Ausdrücke wie ,,ad deum videndum et eo beate fruendum" und umschrieb Gott mit „lumen essenciale". Auf der gleichen Linie lag die Verwandlung in jede beliebige Person der Trinität. Man denkt bei solchen Worten unwillkürlich an E C K E H A K T S „wüsten Abgrund", in dem sich die Vermählung der menschlichen Ignoranz mit Gottes Scienz vollzieht. Bei ihm geschieht die Gottgeburt im Menschen in der Umformung der Seele, die schließlich die Einung herbeiführt und ohne Christus und die Heiligen unmittelbar zu Gott führt.556 E C K E H A B T suchte sich die Entfaltung des göttlichen Seins in den drei 563
Art. 15, S. 611. Art. 18, S. 611. DÖLLINGER, a. a. 0., Bd. II, S. 416f. (42). Das Handbuch ist in dem berühmten Codex der Biblioteca Casanatense (Rom) überliefert. Er wurde u. a. von OPITZ, G., Über zwei Codices zum Inquisitionsprozeß. Cod. Cas. 1730 und Cod. des Archivio Generalizio dei Domenicani, II, 630, „Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken" 28 (1937/38) S. 75—106, und DONDAINE, A., Le Manuel de l'Inquisiteur, a. a. O., S. 85—194 beschrieben. Er stammt aus dem ersten Drittel des 14. Jh. 556 ygj BERNHART, J., Die philosophische Mystik des Mittelalters, München 1922, S. 191 f.
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Personen durch den Ausdruck des Fließens und Rücküießens, der Emanation zu verdeutlichen. Der höchste Gegenstand des Erkennens war ihm nicht der dreipersönliche Gott, sondern der unterschiedslose Grund der Gottheit, die stille Wüste, die unbeweglich, über allem Gegensatz erhaben blieb.557 Die Seele wirft sich in die wüste Gottheit, wo es weder Werk noch Bild gibt, um sich selbst in die Wüste zu versenken und zu verlieren. In diesem Zustand ist sie an sich selbst tot, aber sie lebt in Gott.558 Der Gedanke der Gleichförmigkeit des Menschen mit Gott führte ihn zu der These der Überlegenheit und dem Vorrang des Menschen, was H. LEY mit Nachdruck betont.659 In wem einmal der Sohn geboren ist, der kann nicht mehr fallen.560 Derjenige, der Gott minnt, wird Gott selber — eine Erkenntnis, die der Meister nicht auszusprechen wagte, da er fürchtete, die Zuhörer könnten ihn steinigen.561 Die Ankläger E C K E H A B T S bezeichneten in der Tat seine Sätze als begardisch.562 Vor allem Art. 12 der 1329 verurteilten Sentenzen hat einen freigeistigen Akzent. Er lautet: „Was der göttlichen Natur eigentümlich ist, das ist ganz und gar auch einem gerechten und göttlichen Menschen eigentümlich. Deswegen tut dieser Mensch, was Gott tut, und er hat zusammen mit Gott Himmel und Erde geschaffen, und er ist Schöpfer des ewigen Wortes, und Gott würde ohne einen solchen Menschen nichts zu schaffen verstehen".563 Die Wirksamkeit der Kirche und der Sakramente sind bei ihm ausgeschaltet. Die Gottesgemeinschaft kommt regelmäßig ohne sie zustande, denn Gott wirkt ohne Mittel.563 Trotzdem bestanden zwischen beiden Häresien wesentliche Unterschiede. Die eckehartsche Erkenntnislehre paßt nicht auf unsere Quellen. Vernunft ist danach das Haupt der Seele, Erkenntnis Grund der Seligkeit. Mensch sein heißt, gemäß der Vernunft leben, da der Mensch ein vernünftiges Lebewesen ist.565 Es fällt schwer, die nobilitas spiritus, von der Hartmann redet, mit der eckehartschen Vernunft oder Erkenntnis gleichzusetzen, oder in ihr den „edlen Menschen" zu suchen, der der Menschheit den Rücken und Gott das Gesicht zukehrt.566 Ebenso entspricht die Rückführung der Seele in Gott in Form der Abgeschiedenheit, in Passivität, Aufgabe des eigenen Willens und der Individualität nicht den Gedanken der Erfurter Ketzer.567 Nach E C K E H A R T soll sich die Seele in ihrem Denken und 667
GEYER, B . , a . a . O . , S . 5 6 4 ; 5 6 6 . HAUCK, A „ B d . V , 1 , S . 2 8 9 . 669 L E Y , H., a. a. 0., S. 442. 660 GEYER, B . , a. a. 0 . , S . 5 7 0 . 561 D E N I F L E , H., Die deutschen Mystiker 568
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des 14. Jahrhunderts. Beitrag zur Deutung ihrer Lehre, Freiburg/Schw. 1951, S. 144. PREGER, W., Meister Eckhart und die Inquisition, München 1869, S. 13. Zitiert nach LEY, H., a. a. O., S. 442, Anm. 57. HAUCK, A „ B d . V , 1 , S . 2 7 9 . L E Y , H., a. a. O., S. 425. HAUCK, A „ B d . V , 1, S. 2 9 2 . G E Y E R , B „ a . a . 0 . , S . 5 6 9 , u n d HAUCK, A . , B d . V , 1 , S . 2 8 6 .
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Wissen, Wünschen und Trachten von Zeit und Raum und aller Körperlichkeit lösen, alles Äußere abstreifen, damit in ihr nur noch Wesen, Wahrheit und Güte zurückbleiben. Hartmann erhebt dagegen seine Wünsche und sein Trachten zu göttlichen Prinzipien, die ihre Erfüllung in Raum und Zeit finden. Eckehart grenzte sich in seinen deutschen Schriften selbst von den zeitgenössischen Freigeistern ab und betonte, daß es keine Kontemplation ohne Wirken gäbe, daß niemand ein kleines Gut in sich zerstören solle, um ein größeres zu gewinnen, sondern vielmehr jedes Gut im höchsten Sinne erfassen müsse, da kein Gut wider das andere streite. Auch vermöchte der Mensch nicht alles zu tun, sondern immer nur eines. In diesem könne er alle Dinge begreifen. 568 In seiner „Theologia deutsch" heißt es: „Nun soll man wissen, daß niemand kann erleuchtet werden, er sei denn zuvor gereinigt oder geläutert und geledigt. Auch kann niemand mit Gott vereinigt werden, er sei denn zuvor erleuchtet. Und darum so gibt es drei Wege. Zum ersten die Reinigung; zum andernmal die Erleuchtung; zum drittenmal die Vereinigung". An anderer Stelle beklagt er sich: „Sie wollen fliegen, eh sie Federn gewinnen. Sie wollen in einem Zuge gen Himmel fahren, das doch Christus nicht tat." 5 6 9 Sein Schüler T A U L E B machte in diesem Sinne Front gegen die Begarden, wenn er schrieb: „Dies nehmen unverständige Menschen fleischlich und sprechen, sie sollten in göttliche Natur verwandelt werden. Aber das ist zumal falsch u. böse Ketzerei, denn auch bei der allerhöchsten, nächsten, innigsten Einigung mit Gott ist doch göttliche Natur u. Gottes Wesen hoch, ja höher als alle Höhe; das geht in einen göttlichen Abgrund, was da immer eine Kreatur- wird." Die Sündlosigkeit galt auch Eckehart nur für den Augenblick, wo alle Kräfte der Seele mit Gott vereinigt sind und der Wille gefangen ist. 670 Selbstverständlich waren Teile seiner Mystik durch Wort und Schrift in den Beginen- und Begardenkonventen bekannt. 571 Sie lagen gewissermaßen zum Gebrauch freigeistiger Häresie bereit, die sie als Elemente in ihr Lehrgebäude übernahm, ohne das Gesamtsystem zu rezipieren. Die Straßburger freien Geister beriefen sich ausdrücklich auf den Meister. Ihm schrieben sie ein Gespräch zwischen einem Beichtiger und einem willigen Armen zu. 572 Vor allem S« 8 G E Y E R , B . , a . a . O . , S . 5 7 0 . 669
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Theologia deutsch, ed. F. Pfeiffer, 5. Aufl., Gütersloh 1923, Kap. 14, S. 49f.; Kap. 13, S. 49. Nach D E N I F L E , H., Die deutschen Mystiker des 14. Jahrhunderts, a. a. O. S. 168, 189, Anm. 5 D E N I F L E , H . , Über die Anfänge der Predigtweise der deutschen Mystiker. Archiv I I , 1886, S. 645f. Eckehart hatte enge Beziehungen zu Erfurt. Er war dem Predigerkloster beigetreten und in den 90er Jahren als Prior an die Spitze des Konvents berufen worden. Nach seinen Studien in Paris kehrte er 1303 in die Stadt zurück und wurde vom Provinzialkapitel in Erfurt zum Provinzial für Sachsen gewählt.
MEISTER E C K H A B T :
HAUCK, A., Bd. V, 1, S. 2 7 2 f .
SIMON, O., Überlieferung und Handschriftenverhältnis des Traktates Schwester Katrei, Halle 1906, S. lOff.
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die Leugnung alles Unterschiedes in Gott und Lehre von der Einheit der Kreatur zog sie an. Man wird sich das Verhältnis so vorzustellen haben wie die Beziehungen der symeonisch-hesychastischen Mystik zu den Bogomilen. Symeon der Neue Theologe (f 1022) lehrte die endlos wiederholbare Menschwerdung Gottes. Nach ihm und seinem Schüler Niketas Stethatos kann jede menschliche Seele durch innere Reinigung genau dasselbe Wissen und Schauen erreichen wie Christus. Es bestand nach ihnen eine vollkommene Identität zwischen dem Wissen der schauenden Seele und der Weisheit Gottes. In einem solchen Menschen (dem Asketen) fand demnach eine Einwohnung der Trinität statt, die eine spontane Offenbarung der himmlischen Arcana zur Folge hatte. 573 Von dem gleichen Bewußtsein waren die bogomilischen Perfecti erfüllt. Auch sie glaubten sich im Besitze göttlicher Weisheit, die sie über Askese und äußerste Weltflucht erreichten. I m 14. Jh.. verehrten sie in GREGOR PALAMAS eine Autorität und versteckten sich hinter seinem Namen. Trotzdem weist ihr System, auch in seiner monastischen Abart, in eine andere Richtung als die mystische Theologie der symeonischen Asketen und Hesychasten. 574 Es gab wohl auch hier Übernahmen verwandter Konzeptionen, aber keine Gesamtrezeption. Die offizielle bogomilische Lehre hatte sich schon mindestens 150 Jahre früher konstituiert. Es geht auf jeden Fall nicht an, Eckehart als Haupt der häretischen Begarden zu bezeichnen, wie das C. SCHMIDT getan hat, und beide Bewegungen mit dem Begriff des Pantheismus zu umschreiben. 576 Man wird sich vielmehr dem Urteil eines Zeitgenossen und Geistesverwandten, H E I N R I C H SETJSE, anzuschließen haben, der bemerkte, daß in der Lehre des Meisters und in jener der Brüder vom freien Geiste verschiedene Gedankenkreise vorliegen, deren Peripherien sich wohl berühren, deren Zentren aber auseinanderliegen. 576 In bezug auf die beiden Erfurter Fälle müssen wir vielmehr vor allem mit der direkten Weitergabe der freigeistigen Ketzerei durch ihre Anhänger, die ihr unstetes Leben und die kirchlichen Verfolgungen von Ort zu Ort trieben, rechnen. So stand die 1332 verhörte freigeistige Frauengruppe aus Schweidnitz mit Breslau, Striegau, Görlitz, Münsterberg, Prag, Leipzig, E r f u r t , Mainz und Aachen in Verbindung. Die Beziehungen vermittelten wandernde Prediger, die die Schwestern beherbergten. 577 Die Beeinflussung durch die 1317 verurteilten Straßburger Häretiker darf daher angenommen werden. Bischof Johann I. v. Dürbheim schrieb 1318 u. a. an seinen Wormser Kollegen: 873
GRONDIJS, L. EL, Der Hl. Geist in den Schriften des Niketas Stethatos, „Byzantinische Zeitschrift" 51 (1958), S. 329-354. 874 YGJ_