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German Pages 240 Year 2007
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Josi Rom
Identitätsgrenzen des Ich Einblicke in innere Welten schizophrenieund borderlinekranker Menschen
Mit 12 Abbildungen
2. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-49103-4 Umschlagabbildung: Zeichnung von Yasmin Suleri © 2008, 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort von Christian Scharfetter __________________
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Zur Entstehung und zum Inhalt des Buches __________ 13 Das Ich-Struktur-Modell _________________________ 21 Die Ich-Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychopathologie der Schizophrenien _______________ 27 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . Fragmentierung . . . . . . . . . . . Gespaltene Identitätsbildung . . Kohärenzverlust . . . . . . . . . Ich-Entgrenzung . . . . . . . . . Autismus . . . . . . . . . . . . . . Eigenweltlichkeit . . . . . . . . . Ausdrucksunfähigkeit . . . . . . Selbst- und Fremdverborgenheit Athymie . . . . . . . . . . . . . . . Passivierung . . . . . . . . . . . Devitalisierung . . . . . . . . . . Negativismus . . . . . . . . . . .
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Psychodynamik der schizophrenen Psychosen _________ 51 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentierung: Der unausweichliche Weg in den Wahn
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Wahn als Ausdruck der Abwehrlosigkeit . . . . . . . . . Wahn als Rückzug und Flucht . . . . . . . . . . . . . . Wahn als progressive Antwort auf die Fragmentation des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schizophrene Wahnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen des Wahns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfolgungswahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paranoide Allmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leihexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsthass als Ausdruck und Folge der Negativ-Existenz Zur Suizidproblematik bei Schizophrenen . . . . . . . . .
54 56 59 62 67 67 74 75 79 81
Psychopathologie und Psychodynamik der Borderline-Psychosen ________________________ 85 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das fluktuierende Ich und die Identitätsdiffusion . . . Borderline-Persönlichkeits-Organisation am Beispiel der DSM-IV-Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Borderline-Persönlichkeits-Organisation und Psychose Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußere Borderline-Psychose . . . . . . . . . . . . . Innere Borderline-Psychose . . . . . . . . . . . . . .
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Therapie von schizophrenen und Borderline-Psychosen Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwurf und Gestaltung des dualen Raums . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Borderline-Persönlichkeits-Organisation . . . . Bildung von Übergangssubjekten und -objekten Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Borderline-Persönlichkeits-Organisation . . . . Progressive Psychopathologie . . . . . . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Borderline-Persönlichkeits-Organisation . . . . 6
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85 91 97 102 102 104 112 119
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119 125 125 147 179 179 183 185 185 187
Reparation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . Borderline-Persönlichkeits-Organisation . . Vorbereitung auf Abschied und Trennung . . Abschluss der Behandlung . . . . . . . . . . . Die Rolle des Therapeuten in der Zeit danach
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Zusammenfassung ______________________________ 231 Dank ________________________________________ 237 Literatur _____________________________________ 238
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Vorwort
Schizophrenien und Borderline-Erkrankungen sind herausfordernde Aufgaben für den psychotherapeutisch engagierten Psychiater. Dr. Josi Rom berichtet nach vielen Jahren seiner Berufstätigkeit als Kliniker und in der eigenen Praxis, als Supervisor und Dozent in Seminarien und Fortbildungskursen von seinen Erfahrungen mit und Überlegungen zu diesen beiden Krankheitsbildern. Entstanden ist ein Werkstattbuch aus der Praxis für praktizierende Psychotherapeuten in- und außerhalb von Institutionen, besonders für Jungtherapeuten, die sich auf diese anspruchsvollen und oft auch belastenden Therapien einzulassen wagen. Solches Wagen ist immer wieder gefordert, weil jede Psychiatrie immer auch eine psychotherapeutische sein sollte, ohne Abwertung der anderen therapeutisch-rehabilitativen Angebote, sondern in Abstimmung mit diesen je nach Bedürfnis und Zugänglichkeit des Patienten. Der Autor leistet seinen Einsatz für oft schwer und jahrelang kranke Menschen, die für eine therapeutische Kooperation zu gewinnen allein schon schwer ist, in Empathie und Sympathie (»compassion«), in Toleranz, Selbstbescheidenheit, Ausdauer, im gütig-liebevollen Helferwillen, ohne den Patienten zu entwürdigen, zu verwalten, zu managen. Er versteht Psychotherapie durchaus im Sinne von Gaetano Benedetti als Annehmen einer existenziellen Bewährungsprobe, mit dem Risiko, das hohe Ziel der Heilung oft nicht zu erreichen, und mit der Bereitschaft, dennoch beim Patienten auszuharren, die Begleitung nicht aufzugeben. Dabei wird das psychotherapeutische Handeln in der Begegnung mit dem Patienten im Dualraum auch als Selbstbegegnung des Therapeuten erfasst und als sinnerfüllende Selbstverwirklichungsmöglichkeit des eigenen Potenzials an heilsamer Liebe 9
und Verstehen angenommen. Dankbarkeit gilt den Patienten, die dem Therapeuten durch ihr Vertrauen und ihr Aushalten der therapeutischen Zusammenarbeit diese Seite des Therapierens wahrzunehmen ermöglichen. In dem Buch geht es um die Psychotherapie schizophrener Menschen und von Borderline-Kranken. Im Vergleich und im Kontrast beleuchtet der Autor die Fragmentierung des Ich bei Schizophrenen und die fluktuierenden Ich-Zustände bei Borderline-Kranken. Beide erfordern je eigenen Hilfen, die anschaulich dargestellt und mit Fallvignetten illustriert werden. Die wertschätzende, gedeihliche und tolerante Haltung des Autors, seine non-egoistische Liebe im Sinne des Eros therapeutikós wird in den Abschnitten zur Vorbereitung einer Psychotherapie deutlich (Dualraum schaffen, sichern, einrichten, Behandlungsbündnis und -vereinbarung, Vertrauen und Geborgenheit in verbalen und non-verbalen Interaktionen ermöglichen). Dann folgen Aspekte des therapeutischen Handelns mit Übergangssubjekten und -objekten, das Anstreben einer Positivierung der Psychopathologie im Sinne von Gaetano Benedetti, Ich-Konsolidierung und -Stabilisierung, Reparation und Adaption an das dem Patienten Mögliche. Diese Arbeit fokussiert auf das Hier und Jetzt in der therapeutischen Kommunikation. Dabei tritt die biographische Analyse eher zurück. Die Grundhaltung des sorgfältigen, bedachten, empathischen Umgangs mit dem Patienten zeigt sich nochmals in den Abschnitten über Abschied und Trennung (ob geplant oder durch Unglücksfall bei Patient oder Therapeut), dem Abschluss der Therapie mit gemeinsamer Rückschau (TherapieAnamnese) und der Erörterung (eine sehr bemerkenswerte Rarität und ein Dokument der Treue), was der Therapeut nach der Verabschiedung des Patienten erlebt, denkt und wie er das »Beziehungsobjekt« Patient wie eine zu behütende Pflanze weiter in sich trägt in Sorge, Nachfragen, mit offener Tür für eine Wiederbegegnung. Als Vorspann zu diesen Einblicken in sein therapeutisches Handeln erörtert der Autor von der Psychopathologie der Schizophrenie besonders die Fragmentierung, daneben auch Autismus und Athymie, Wahn, Selbstzerstörung und Suizid. Dann skizziert er 10
seine Modellvorstellung, wie die Psychodynamik der Schizophrenien didaktisch und therapeutisch wegleitend anschaulich werden kann. In kontrastierender Weise erörtert er sein Modell der Borderline-Psychopathologie und -Psychodynamik. Dabei trifft er die praktisch wichtige Unterscheidung zwischen sichtbaren psychotischen, meist kurzen schizophrenieformen, paranoiden, dissoziativen Krisen von Borderline-Kranken (»äußere« Psychose) und »subkutanen«, im inneren mentalen Bereich verborgen gehaltenen Psychosen (»innere« Psychose), die oft lange währen. Beide Formen gehören insofern zusammen, als »innere« Psychosen beim Versagen der Kontrolle krisenhaft zu »äußeren« durchbrechen können. In seinen selbstrelativierend-bescheiden als didaktische Hilfsvorstellungen benannten Modellentwürfen orientiert sich der Autor an Freuds topologischem Modell von Es, Ich, ÜberIch. Ein besonderes Gewicht hat das fruchtbare Werk von Gaetano Benedetti, des Altmeisters der psychoanalytisch orientierten, zur Psychosynthese fortgeschrittenen Psychosenpsychotherapie aus der Bleuler-Klinik Burghölzli in Zürich. Aber der Autor bewahrt seine Selbstständigkeit, prüft Brauchbares, setzt eigene Gewichtungen und bleibt bodenständig beim Patienten, eklektisch-flexibel nach den Bedürfnissen und der Zugänglichkeit des Patienten, wie es die Praxis erfordert. Modellentwürfe zur Psychopathologie und Psychodynamik sind Hilfen bei den Verstehensversuchen und zum Ordnen der therapeutischen Interventionen. Verstehen selbst (das sich im Interpretieren sprachlich, im nonverbalen Handeln unter Umständen schon protopathisch im Erfühlen und Intuieren manifestiert) bedeutet Verschiedenes, je nach Interesse und Horizont eines Menschen als ein Wesen, das mens, verstehenden Verstand, gebraucht oder gebrauchen sollte. Verstehen ist unabschließbar, die oralen und schriftlichen Ausformulierungen bleiben partikular und erscheinen dem Autor gerade in der Schizophrenie- und Borderline-Literatur oft psychogrammatisch, idiosynkratisch bis gar mythopoetisch. Das beste Antidot gegen solche Weltfremdheit ist der therapeutische Alltag mit seinen Forderungen nach Bewährung, Haltung, Stand, Dauer und Demut. Ob ein Modell zum dienlich-tauglichen Instrument des Therapierens wird, ist je 11
nach Persönlichkeit und Sozialisation von Therapeut und Patient recht verschieden. Jedenfalls ist nicht die Krankheit (»morbus«) zu bekämpfen, sondern einem dysfunktionellen, infirmen und leidenden Menschen zu helfen, sein Leben besser zu bestehen – auch in Zufriedenheit mit »seinem Teil« im Leben (Talmud, vgl. S. 230). Solche Selbstbescheidung verbindet Patient und Therapeut. Bei solchen Therapien zu helfen, ist das Anliegen von Dr. Josi Rom in seinem Werkstattbuch. Möge es vielen dazu Mut und Anregung geben! Prof. Dr. Christian Scharfetter
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Zur Entstehung und zum Inhalt des Buches
Als ich vor mehr als zwanzig Jahren meinen bequemen, spannenden und erfolgversprechenden Arbeitsplatz in einer kleinen, potenten, interdisziplinären Forschungsgruppe in einem großen Pharmaunternehmen mit der schlecht dotierten, wenig geschätzten Assistenzarztstelle in einer, damals mit unterdurchschnittlichem Ruf behafteten, Psychiatrischen Klinik tauschte, verstand mich meine Umgebung nur schwer. Nach meinem ersten Arbeitstag ging es mir ähnlich. Die Gefühlsverwirrung, die ich damals durchlebte, ließ mich auf einmal kurz an der Richtigkeit meiner Entscheidung zweifeln. Es war der Abend meines ersten, anstrengenden Arbeitstages auf der geschlossenen Frauen-Akutstation. Als ich die Abteilung verlassen wollte, stand eine Frau Mitte 50 bitterlich weinend vor der geschlossenen Tür und flehte mich an, sie herauszulassen. Ich wusste aus dem Rapport, dass sie als unberechenbar und hoch suizidal eingeschätzt wurde und die Abteilung daher auf keinen Fall verlassen durfte. Ich war berührt vom Anblick dieser leidenden, bittenden Frau und schaffte es nicht, zu gehen und sie zurückzulassen. Meine bereits erfahrenere Kollegin, die zufällig dazu stieß, löste das äußere Problem für mich. Sie begleitete die Frau mit sanfter Gewalt weg von der Tür zurück ins Zimmer und ich konnte die Klinik verlassen. Meine Gedanken und Gefühle – auch Schamgefühle – in diesem Moment blieben mir jedoch noch lange im Gedächtnis; ich nahm die Patientin in Gedanken mit aus der Klinik. Einige Wochen später, bereits etwas an die neuen Verhältnisse gewöhnt, erhielt ich den Auftrag, einer psychisch schwer dekompensierten Patientin, die auf unsere Station verlegt wurde, die verweigerten Medikamente, wie damals noch üblich, zwangsweise 13
zu applizieren. Sie galt als Schrecken der Klinik, wenn sie akutpsychotisch entgleiste. Ich wollte mit ihr zuvor nochmals über die Medikamente sprechen. Kaum sah sie mich, flüchtete sie ins gemeinsame Raucherzimmer der Akut-Abteilung und verschanzte sich hinter vielen Mitpatienten. Dieses Raucherzimmer verband die beiden getrennt geführten Frauen- und Männer-Abteilungen ohne geschlossene Tür dazwischen. Die Patientin war groß gewachsen und wirkte körperlich stark. Die Pfleger waren in dieser Situation ebenso ratlos wie ich. Das Ende der Arbeitszeit nahte und wir konnten und wollten das Problem nicht dem Abenddienst überlassen. Wir wussten, dass eine Zwangsmedikation zwar »technisch« möglich, eine Eskalation mit Sekundärfolgen aber nicht auszuschließen war, obwohl sich die Patientin zu diesem Zeitpunkt den Umständen entsprechend ruhig verhielt. Ich traf meine erste, mutig-feige Entscheidung: Ich schlug dem Team vor, alle Medikamente bis auf Weiteres abzusetzen und zu beobachten, wie sich die Patientin entwickelt. Sie stimmten zu, das Einverständnis des Oberarztes vorausgesetzt. Dieser willigte ein. Ich teilte der Patientin meinen Entschluss im Raucherzimmer vor allen Mitpatienten mit, formulierte es so, dass keiner das Gesicht verlieren musste, und deklarierte es als einen Versuch. Nach wenigen Tagen ging es ihr, die zuvor täglich eine Unmenge Medikamente einnehmen musste – es füllte fast ein ganzes Kardexblatt – deutlich besser und innerhalb einer Woche war sie eine lebendige, lustige Patientin geworden, die niemandem mehr Sorge bereitete. Nach einer weiteren Woche fiel sie in einen katatonen Zustand und musste zwingend medikamentös behandelt werden. Etwas Wesentliches hatte sich verändert: Sie akzeptierte nun ohne Widerstand die von uns angebotenen Medikamente – anfänglich ausschließlich von mir, später von allen Teammitgliedern. Die gleiche Patientin spielte bekanntermaßen außerordentlich gut Halma, so gut, dass niemand mehr mit ihr spielen mochte, weil der Sieger im Vornherein feststand. Als es ihr wieder besser ging und sie kurz vor der Rückverlegung auf ihre Station stand, lud sie mich ein, mit ihr zu spielen. Ich warnte sie, dieses Spiel nicht sonderlich gut zu beherrschen, ein uninteressanter Gegner für sie zu sein und setzte mich trotzdem ans Spielbrett. Bei jedem 14
Versuch, einen Zug zu ziehen, schüttelte sie heftig den Kopf und erklärte mir, was bei der Umsetzung passieren würde. Daraufhin spielte sie den bestmöglichen Zug für mich, worauf ich ohne mein Zutun das Spiel gewann. Sie erzählte überall herum, endlich jemanden gefunden zu haben, der besser spiele als sie selbst. Fortan grüßte sie mich sehr freundlich, wenn wir uns im Areal begegneten. Solche und andere, weniger spektakuläre Episoden reihten sich im Lauf meiner Assistenzzeit aneinander. Ich begann diese so »anderen« Menschen gern zu haben, interessierte mich sehr für sie und ihre Welten und redete mehr und mehr mit ihnen. Es schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sonst als vorwiegend autistisch eingestufte Menschen nahmen mich zu Kenntnis, kamen auf mich zu und sprachen mich an. 1986 hielt Gaetano Benedetti ein Referat in der bereits erwähnten Klinik, welches ich mir, den vielen von Benedetti schwärmenden Kollegen folgend, anhören wollte. Ich verstand kein Wort und verließ zum Entsetzen vieler Anwesender frühzeitig den Raum. In meinem letzten Assistenzarztjahr in der Psychiatrie hatte ich das Glück, einen begeisterten Benedetti-Schüler und -Analysanden zum Oberarzt und gleichzeitig eine erfahrene Supervisorin zu haben. Es war dieser Oberarzt, der mich erstmals aufmerksam machte, dass meine Art, mit psychotischen Patienten umzugehen, auffallend umsichtig und für ihn beeindruckend feinfühlig sei. Ich würde ihm in der Begegnung mit diesen Menschen leicht und unbeschwert erscheinen, auch wenn es um schwierige Auseinandersetzungen ginge. Mein damaliger Chef unterstützte diese Meinung und riet mir, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. So richtete ich mein Augenmerk vorwiegend auf diese Patienten. Wenige Monate später erstand ich bei einem Besuch in Bern mein eigenes Exemplar von Benedettis »Todeslandschaften der Seele«, welches mir bis dahin nur leihweise zur Verfügung stand. Jetzt war ich begeistert und verstand den Text, mir meine Patienten vor Augen haltend, mit Leichtigkeit. Ich besuchte regelmäßig Benedettis Seminare in Riehen bei Basel, obschon ich nach der Arbeit, und nur für jeweils diesen Abend, durch die halbe Schweiz reisen musste. Ich ließ kaum noch eine Gelegenheit aus, ihn zu 15
hören, seine Bücher und Aufsätze zu lesen. Später, als ich selbst Oberarzt war, nahm ich meine und andere interessierte Assistenten aus der Klinik mit auf meine Reisen zu Benedetti. Ein sehr großes Geschenk auf meinem Weg ist, dass ich seit 1996 die Möglichkeit habe, zu Professor Christian Scharfetter in die Supervision zu gehen. Die Schärfung und gleichzeitige Erweiterung meines Blickwinkels, sowohl was die psychopathologische Sichtweise als auch die therapeutische Haltung betrifft, ist ein Inhalt dieses Geschenkes. Ein weiterer ist die Nähe zu diesem fachlich und menschlich tief beeindruckenden Mann, der es wagt, sich selbst und seine Sichtweisen ständig zu hinterfragen und wenn nötig anzupassen und zu ändern, der sich nicht scheut, neue Fragen zu stellen und ihnen nachzugehen. Die Qualität seines Zuhörens hat meinen eigenen Umgang mit dem Gegenüber ebenso geprägt wie die Behutsamkeit, mit welcher er mir, seinem Supervisanden, begegnet. Obschon ich Scharfetter in diesem Buch nicht oft zitiere, haben seine Gedanken – insbesondere sein Ich-Bewusstseins-Modell sowie sein Verständnis von Dissoziation, Spaltung und Fragmentation – wesentlichen Einfluss auf meine Überlegungen. Ein Referat von Norman Elrod (1991) über die Auseinandersetzung, welche Paul Federn 1956 über die Ich-Grenze führte, beeindruckte mich inhaltlich sehr. Bis heute begleitet mich dieses Denken über die Ich-Grenze und führte zu einem tieferen Verständnis schizophrener und später auch borderlinekranker Menschen. Ebenfalls 1991 bot ich mein erstes eigenes Psychoseseminar am Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ) an, das ich bis heute kontinuierlich durchführe und welches rege besucht wird. Später folgten Einladungen zu Referaten und Seminaren, mit der Zeit auch über die Landesgrenzen hinaus. Irgendwann bemerkte ich, dass es vielen jungen Kollegen mit Benedetti genauso erging wie mir früher, als ich ihn und seine Bücher noch nicht verstand. Als ich von der Klinik in die eigene Praxis wechselte und mehr Zeit zur Verfügung hatte als zuvor, beschloss ich, ein ganz spezielles Einführungsseminar anzubieten, in welchem ich versuchen wollte, Benedettis Sprache in »Todeslandschaften der Seele« so zu 16
»übersetzen«, dass es den Teilnehmern anschließend möglich sein sollte, ihn im Original zu lesen und (besser) zu verstehen. Ich entdeckte eine sehr kleine, karge und fast unbewohnte Insel namens Comino bei Malta, welche damals nur mit einem kleinen Boot zu erreichen war. Auf Comino befand sich lediglich ein Hotel – später zwei – und sonst keinerlei Infrastruktur. Man war auf der Insel zwar gefangen – abgesehen vom Boot, welches einen wieder an Land bringen konnte –, hatte aber einen wunderschönen und unglaublich weiten Ausblick, bei gutem Wetter bis Libyen. Als ich zum ersten Mal da war, wusste ich sofort, dass dies die Insel meines Schizophrenie-Einführungsseminars werden sollte. Das Gefangensein, der Autismus und die unendlichen Weiten, die psychotische Fragmentierung und Grenzauflösung schienen sich hier symbolisch und körperlich spürbar die Hand zu geben. So reiste ich seit 1998 viermal, mit jeweils einer Gruppe von ungefähr 25 Teilnehmern, dorthin. Das einwöchige Seminar wurde zum Erfolg: Morgens wurde intensiv gearbeitet, nachmittags »verdaut« und abends diskutiert. Die Beschränkungen, nur wenige Kollegen mitnehmen zu können, für ein so großes Thema nur begrenzt Zeit zu haben, abgesehen von den finanziellen Aufwendungen, die von jedem Einzelnen geleistet werden mussten, um teilnehmen zu können, zudem auch ökologische und private Argumente veranlassten mich, andere Wege zu suchen. Ich beschloss, die Zeit, die ich nicht mit meinen Patienten verbrachte, in Seminare und Referate zu investieren. In den letzten Jahren wurde ich oft nach Publikationen oder Vorlagen zu meinen Referaten gefragt. Da ich jeweils frei spreche, gab und gibt es solche nicht. Am Publizieren hinderte mich neben der fehlenden Zeit meine Sorge, nicht wirklich verstanden zu werden, und mein Respekt vor dem unbekannten Gegenüber, den ich weder sehen noch mit ihm direkt Fragen und allfällige Missverständnisse klären kann. Persönliche Umstände, unter anderem die Tatsache des eigenen Älterwerdens, bewegten mich umzudenken. Ich begann auf mein bisheriges, therapeutisches Tun zurückzublicken und wagte mich an den Gedanken, ein ganz »anderes«. Buch zu schreiben. 17
Anders deshalb, weil ich weder den Anspruch habe, ein wissenschaftliches Werk noch ein hoch theoretisches, methodisches Lehrbuch zu veröffentlichen. Es ist nicht meine Absicht, andere Modelle zu kritisieren, zu verwerfen oder damit zu konkurrieren. Mir geht es darum, Interessierten von Erfahrungen aus meiner Berufspraxis zu berichten und ein Modell anzubieten, welches sich im Laufe der Jahre als anwendbar erwiesen hat. Es ist ein Modell, welches mir im Alltag geholfen hat, mit Patienten zu arbeiten und mich gegenüber Kollegen im Dialog über Unsagbares verständlich zu machen. Es soll denjenigen, die mit psychotischen Menschen zu tun haben, ein Verständnis für sonst verschlossene Welten ermöglichen. »Identitätsgrenzen des Ich« nenne ich den Ort, an welchen ich den Leser einlade mitzukommen. Benedetti nannte diesen Ort, an welchen er mich vor Jahren mit seinem Buch führte, »Todeslandschaften der Seele«. Schizophrene und borderlinekranke Menschen ließen mich zu den unendlich weit entfernten Grenzen ihres Universums gelangen. Es sind einsame Orte. Gesetze, welche für uns im begrenzten Rahmen unseres Seins Allgemeingültigkeit zu besitzen scheinen, sind dort außer Kraft gesetzt oder nur verändert gültig. Das macht die Begegnung mit diesen Menschen in unserer Welt so schwierig, weil wir sie nicht einfach verstehen (können). Während uns schizophrene Menschen häufig schon bei der ersten Begegnung unerreichbar scheinen, täuscht uns auch bei schwerkranken Menschen mit Borderline-Persönlichkeits-Organisation ein Deckmantel der Normalität. Gerade dieser Aspekt ist ein wichtiger und lebenserhaltender Bestandteil ihrer Überlebensstrategie. Einer schwerkranken, borderlinegestörten Frau, die über Jahre regelmäßig wegen ihrer Unberechenbarkeit und Suizidalität hospitalisiert werden musste, gelang es, dass mir ein neues, sich damals noch in der Ausbildung befindendes Teammitglied im Anschluss an eine Visite bei ihr schon fast ärgerlich entgegnete, diese Frau wäre doch so normal wie wir alle hier. Er verstehe die vorsichtigen und für sie einschränkenden Abmachungen und Behandlungsstrategien nicht. Diese Meinung änderte er noch am gleichen Tag, als die Patientin aus der Klinik entwich und mit ihrem Wagen wegraste, nicht ohne zuvor einen 18
das Team ungerechtfertigt anklagenden Abschiedsbrief zu hinterlassen. Sie konnte nur knapp am Suizid gehindert werden. Die Patientin hat später in jahrelanger gemeinsamer psychotherapeutischer Arbeit einen weiten Weg zurückgelegt und lebt heute, ebenfalls seit Jahren, einen auf allen Ebenen ihres Seins normalen, unauffälligen Alltag. Die Zeit des Verrücktseins liegt weit zurück. Wäre alles nur unabwendbar und unlösbar, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Im Gegenteil, es sind die vorhandenen, erreichbaren und unglaublichen Möglichkeiten, welche die sensibel und menschlich durchgeführte psychotherapeutische Behandlung dieser Menschen in sich birgt, die mich veranlassen, darüber zu berichten. Wenn wir bereit sind, mit ihnen an die Grenzen ihres Universums zu gehen, sich ihnen anzuvertrauen und reflektierte Geduld zu haben, bevor sie sich uns anvertrauen können, dann tun sich oftmals Welten der Besserungs- und Heilungsmöglichkeiten auf. Dieses Sich-uns-Anvertrauen, dass wir zu oft einfach von unseren Patienten erwarten, setzt harte Arbeit voraus, die geleistet werden muss. Sie gehört bereits zur Psychotherapie der Psychosen. Damit befasst sich dieses Buch.
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Das Ich-Struktur-Modell
Mein Modell (Abbildung 1) basiert auf dem Drei-Instanzen-Modell von Freud, das von einer Dreiteilung des seelischen Apparates in Es, Über-Ich und Ich ausgeht, sowie auf seiner Grundhypothese des Vorhandenseins der Schichten Bewusstes, Vorbewusstes und Unbewusstes. Benedetti betont in »Todeslandschaften der Seele«, dass schizophrene Menschen an einer Ich-Krankheit leiden (S. 81). Auch Menschen mit Borderline-Persönlichkeits-Organisation (Kernberg 2000, S. 51) sind meiner Meinung nach wesentlich im Bereich des Ich gestört. Ich beschränke mich deshalb in den Ausführungen zur Psychopathologie und Psychodynamik von Schizophrenie und Borderline-Psychose im Wesentlichen auf das Ich. Welche Auswirkungen die Störungen auf das Ich haben, soll an meinem Ich-Struktur-Modell veranschaulicht werden. Es setzt sich aus Ich-Grenze, Persönlichkeitsstrukturen und Vernetzungen zusammen.
Die Ich-Grenze Die Ich-Grenze trennt das Ich vom Nicht-Ich. Die Ich-Grenze selbst ist dem Ich zugehörig und nicht als Element der Außenwelt zu betrachten. Bei einem Gesunden ist sie leicht durchlässig und feinporös, ohne dass sie große Löcher aufweisen würde. Sie ist kompakt, konsistent, kohärent, permeabel und ein wenig flexibel. Die Ich-Grenze setzt sich aus einzelnen gerundeten Teilen (Bogen) zusammen, die jeweils den Abschluss eines Ich-Segmentes nach außen bilden. Im Gesunden fügen sie sich zu einem stabilen Kreis zusammen. Scharfetter weist in seinen Ausführungen 21
zur Ich-Demarkation darauf hin, dass Grenze als bildlicher Ausdruck für Funktionen und nicht mechanisch zu denken sei. Dies gilt auch für mein Modell. Scharfetter schreibt über die Ich-Demarkation: »Wir sind uns unser selbst bewusst und damit auch dessen, was wir nicht sind, unterscheiden Ich und Nicht-Ich (grenzen also ab) [. . .] Ich-Abgrenzung steht in engem Zusammenhang mit der Leistung der sogenannten Realitätskontrolle« (1985, S. 48). In meinem Modell ist die Ich-Grenze durch einen Kreis mit Zentrum symbolisiert. Die Grenze ist beim gesunden und neurotisch-organisierten Ich leicht elastisch. Sie verfügt über ein kleines Fluktuationspotenzial und ist damit – wie auch die Persönlichkeitsstrukturen und Vernetzungen und damit das gesamte Ich – nur wenig flexibel. Die Ich-Grenze kann insgesamt durch ihre Flexibilität etwas weiter oder enger sein, bleibt aber immer ein Kreis mit gleichem Zentrum (vgl. Abbildung 1). Ich-Grenze
Fluktuationspotenzial
Persönlichkeitsstrukturen
Zentrum
Vernetzungen
Abbildung 1: Das Ich-Struktur-Modell
Persönlichkeitsstrukturen Die Persönlichkeitsstrukturen sind in meinem Modell durch Dreieck, Quadrat, Kreis und Sechseck symbolisiert (vgl. Abbildung 1). G. Rudolf schreibt: »Struktur als Ganzes ist ein System, 22
dessen einzelne Elemente eng miteinander verbunden sind und sich z. T. gleichsinnig auswirken; möglicherweise beschreiben manche der aufgeführten Strukturelemente verschiedene Aspekte des gleichen Geschehens, zum Beispiel den intrapsychischen und den interpersonellen Aspekt [. . .] Alle strukturellen Elemente lassen sich, bezogen auf die Gesamtpersönlichkeit, als ›Fähigkeit zu‹ kennzeichnen. Wenn das betreffende strukturelle Element auf einem guten Niveau entwickelt und integriert ist, verfügt die Persönlichkeit über eine bestimmte psychische Fähigkeit [. . .] Die strukturellen Funktionen haben drei Zielrichtungen, indem sie differenzieren [. . .], integrieren [. . .], regulieren [. . .]« (2002, S. 6f.). Zur differenzierenden strukturellen Funktion zählt Rudolf Selbst-Objekt-Differenzierung, Affektdifferenzierung, Selbstreflexion, die strukturelle Fähigkeit, variable Bindungen an verschiedene Objekte aufbauen zu können, aber auch Loslösungen, wobei er darunter das innere Loslassen eines bis dahin emotional hoch besetzten Anderen versteht. Unter integrierender struktureller Funktion versteht er ein Wechselspiel zur entgegengesetzten differenzierenden Struktur, welche jedoch zusammen ein Ganzes ergeben: »Während in der Differenzierung aus Ganzem Unterschiede herausgearbeitet werden, schließt Integration Verschiedenes zu Ganzheiten zusammen« (S. 8). Dazu zählt er die ganzheitliche Objektwahrnehmung, die Bildung von Selbstbild und Identität, die Fähigkeit zur Internalisierung sowie die Fähigkeit, objektbezogene Affekte auszubilden. Zur regulierenden strukturellen Fähigkeit bemerkt Rudolf: »Das Herstellen von Gleichgewichten ist ebenfalls eine wichtige strukturelle Funktion. Bedürfnisse und Triebimpuls drängen an und müssen gesteuert werden« (S. 9). Die Persönlichkeitsstrukturen, die bei jedem Menschen grundsätzlich vorhanden, aber individuell sehr verschieden ausgebildet sind, bilden gemeinsam einen wesentlichen Teil des IchApparates. Die Strukturen innerhalb des Ich einer Person unterscheiden sich im Detail sowie in ihren Funktionen voneinander. Die individuelle Verschiedenheit ist unter anderem auf die jeweils unterschiedliche Machtverteilung und Hierarchie sowie das unterschiedliche Zusammenspiel der einzelnen Persönlichkeits23
strukturen innerhalb ihres Verbandes (vgl. Vernetzungen) zurückzuführen. Beim gesunden Menschen passen sich die Persönlichkeitsstrukturen grundsätzlich der jeweiligen Bewegung des GesamtIch an, ohne sich grundlegend zu verändern. Ausgelöst werden Fluktuationen des Ich durch einzelne Persönlichkeitsstrukturen und/oder deren Zusammenspiel. Dies kann durch Einfluss von außen wie durch innere Auseinandersetzung mit sich selbst bedingt sein.
Vernetzungen Die Verbindungen sind im Modell durch unterbrochene und durchgezogene Linien dargestellt (vgl. Abbildung 1). Die Vernetzungen haben wenig Eigencharakter, sind jedoch sehr wichtig für das Funktionieren des Gesamt-Ich. Diese Diskrepanz lässt sich mit dem Zusammenspiel der evolutionsgeschichtlich nacheinander entstandenen Gehirnstrukturen Stammhirn, Limbisches System und Cortex (Hirnrinde) mit seinen Arealen vergleichen. Ohne Stammhirn läuft trotz aller Differenziertheit des Limbischen Systems und Cortex nichts! Gleichzeitig unterscheidet sich der Homo sapiens gerade durch diese höheren Strukturen von seinen Vorgängern. Ähnlich ist es bei meinem Modell: Ohne Vernetzungen ist das Ich trotz hochentwickelter Persönlichkeitsstrukturen auf hohem Niveau nicht funktionstüchtig. Erst die Verbindungen unter allen Persönlichkeitsstrukturen sowie mit der Ich-Grenze ermöglichen den Austausch und die Koordination, das konzertierte Funktionieren des Gesamt-Ich als Ich, nach innen wie nach außen. Die Vernetzung der Persönlichkeitsstrukturen unterstützt und gewährleistet die Kohärenz, Konsistenz und damit die Kontinuität und den Zusammenhalt des Ich-Bewusstseins und des Ich (Scharfetter 1985). Sie trägt wesentlich zur Ich-Stärke bei. Scharfetter schreibt: »Sie [die Ich-Stärke] charakterisiert einen Menschen gesamthaft in seinem Insichselbstruhen und in seinem Auftreten. Sie umfasst vor allem die Fähigkeit zur allo- und autoplastischen Adaption und zur Synthese« (S. 49). 24
Die Vernetzungen ermöglichen zusammen mit der Ich-Grenze und den Persönlichkeitsstrukturen das komplexe Zusammenspiel und Wirken nach innen wie nach außen, das bewusste Wahrnehmen, das Sein in einer existierenden Welt schlechthin. Aber auch das Funktionieren im Bereich des Unbewussten beruht auf einem Zusammenspiel der Elemente des Ich. Die Grenze, welche Bewusstes von Unbewusstem – analog, aber weniger konsequent auch von Vorbewusstem – trennt, stelle ich mir in meinem mechanistischen Modell als semipermeable Membran vor (Abbildung 2). Wir kennen dies aus der Naturwissenschaft: Befindet sich eine solche Membran zwischen zwei Kompartimenten, können Teilchen von der einen auf die andere Seite gelangen, sie aber nicht in umgekehrter Richtung passieren (Osmose). Auf diese Weise lässt sich im psychischen Bereich modellhaft Unbequemes, Bedrohliches aus dem Bewusstsein an einen Ort im Bereich des Unbewussten verdrängen. Von dort kann es nicht einfach wieder auftauchen, da die Membran grundsätzlich nur einseitig durchlässig ist. Es bleibt gebunden, verankert, manchmal nur eingeschlossen, und vergessen. Im Unbewussten findet sich auch Material, dass noch nie bewusst wahrgenommen wurde (vgl. Abbildung 2).
Semipermeable Membran
1
z
Semipermeable Membran
B
Bereich des Bewussten (B)
VB
Bereich des Vorbewussten (VB)
UB
Bereich des Unbewussten (UB)
2
y x
2
x – noch nie bewusst Wahrgenommenes y – Prozess des 1) Bewusstwerdens (Erinnerns) 2) Wieder-Vergessens/Verdrängens z – Prozess der (unbewussten) Verdrängung
Abbildung 2: Erinnern, vergessen, verdrängen
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Zwar ist die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem beim gesunden Menschen porös und einseitig durchlässig, es gibt jedoch Ausnahmen. So taucht Unbewusstes unter anderem beim Träumen zunächst im Vorbewussten und, falls der Traum erinnert wird, im Bewussten auf. Auch im Rahmen psychotherapeutischer Prozesse, wie man sie in der aufdeckenden analytischen Therapie erleben kann, wird Unbewusstes bewusst. Bei schweren, fragmentierenden Ich-Krankheiten kommt es zur Aufhebung der Semipermeabilität, das heißt, die trennende Schicht ist nun in beiden Richtungen durchlässig. Im Extremfall kann dies zur Auflösung der Grenze zwischen Unbewusstem und Bewusstem führen.
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Psychopathologie der Schizophrenien
Vorbemerkungen Schizophrenie ist eine Ich-Krankheit. Schizophrenie ist eine Psychose, aber nicht jede Psychose ist eine Schizophrenie. Schizophrenie ist ein Wort. Es ist ein Mensch, den es betrifft.
Ich orientiere mich in meinen Ausführungen zur Psychopathologie schizophreniekranker Menschen an den Primärsymptomen von Gaetano Benedetti – Spaltung, Autismus und Athymie und ihre je drei Erscheinungsformen –, welche er in »Todeslandschaften der Seele« darlegt. Sie betreffen alle Dimensionen des Ich. Auch die anderen Instanzen sind betroffen, wenn auch nicht so fundamental wie das Ich. Was ist unter Schizophrenie zu verstehen? Ich unterscheide mich im Verständnis und hinsichtlich der Definition von den heute angewendeten Diagnoseschlüsseln ICD und DSM, welche sich lediglich am Auftreten von Symptomen orientieren und die Person selbst, ihre Geschichte sowie die eigentliche Psychopathologie und Psychodynamik vernachlässigen. Wenn sich die Primärsymptome, wie Benedetti sie beschreibt, bei der gleichen Person gleichzeitig oder in zeitlicher Nähe zeigen, ist es sinnvoll, von einer schizophrenen Psychose zu sprechen. Mir geht es hier nicht um das exakte wissenschaftliche Definieren und Diagnostizieren, sondern um ein modellhaftes Verstehen, das die Orientierung während der Behandlung von an Schizophrenie erkrankten Menschen erleichtert. Das Verstehen am Modell hilft zudem, besser aus- und durchzuhalten – ein sehr wichtiger Baustein im Werkzeugkasten des Therapeuten – auf einem weiten und langen Weg durch Wüsten und unwegsames Gelände, meist ohne Wegweiser 27
und Karte und ohne die Gewissheit, auf eine Oase zu stoßen. Außerdem fehlt jede Sicherheit, nicht plötzlich vom Patienten verlassen zu werden. Der Therapeut selbst ist Kompass mit seiner Wahrnehmung, seinem Verständnis und der Interpretation der jeweiligen Situation. Im Folgenden beschäftige ich mich mit einigen Aspekten der Psychopathologie und Psychodynamik, einer Auswahl sozusagen, die mir für das tiefere Verständnis der Menschen mit einer schizophrenen Störung hilfreich erscheint. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Fragmentierung Ich ziehe den Begriff Fragmentierung dem der Spaltung vor, da heute Spaltung fälschlicherweise sehr eng mit Borderline-Störungen assoziiert wird. Spaltung im schizophrenen Geschehen hat nur wenig mit Spaltungsvorgängen, wie wir sie bei BorderlinePersönlichkeits-organisierten Menschen antreffen, zu tun. In meinem Ich-Modell muss man sich bei der Schizophrenie den Kreis vor der Fragmentierung der Ich-Grenze als deformiert und gleichzeitig in allen Segmenten bis zum Äußersten angespannt vorstellen. Der Innendruck im Ich nimmt ständig zu. Das Ich ist nicht mehr Herr im eigenen Haus und kann seine Funktionen nicht mehr wahrnehmen, weil die Persönlichkeitsstrukturen nicht mehr vollständig vernetzt und zudem selbst Opfer der fragmentierenden oder autistischen Kräfte geworden sind. Die semipermeable Schutzgrenze zwischen Unbewusstem und Bewusstem ist durch innere Kräfte gesprengt, ja aufgelöst, was zur offenen Grenze, zur ungehinderten Diffusion bis hin zum Sog unbewussten Materials ins Bewusste führt. Das ist für das Ich nicht zu verkraften. Auf der Ebene der drei Instanzen betrachtet, quillt und drückt die Energie des Es unaufhaltsam an das Ich. Das Über-Ich ist in keiner Weise Ich-bestimmt, sondern tut, was es will. Der Dirigent (Ich) hat die Kontrolle über das Orchester (Es und Über-Ich), die er auch im Gesunden nie wirklich hat, total verloren, die beiden Solisten haben die Macht übernommen, wenn auch nicht koordiniert. Sie agieren getrennt, was zu einem 28
Zusammenpressen des Ich zwischen Es und Über-Ich führt (Abbildung 3). Über-Ich
Ich
Es
Abbildung 3: Normalzustand und Zustand bei Schizophrenie im Drei-Instanzen-Modell
Daraus resultiert ein enormer Druckanstieg im Inneren des Ich und eine entsprechende Druckentwicklung auf die Ich-Grenze, die wiederum einen Gegendruck erzeugt. Die Ich-Grenze erstarrt dabei, verdichtet sich und wird spröde. Es ist der langfristig hoffnungslose Versuch, dem steigenden Innendruck etwas entgegenzusetzen, damit es nicht zur Fragmentation der Ich-Grenze und als Folge zum Verlust der Innenstrukturen und der Vernetzung des Gesamt-Ich, also zum schizophrenen Ich-Verlust oder zur Negativ-Existenz – wie es Benedetti ausdrückt –, kommt. Wir haben es demzufolge bei der Schizophrenie mit einer starren, spröden und zum Bersten gespannten Ich-Grenze zu tun, die ihre Form des Kreises wie auch das Zentrum aufgrund der Wirkung der Kräfte des Über-Ich und Es gänzlich verloren hat. Sowohl der Ich-Grenze wie dem Ich an sich fehlt jegliches Fluktuationspotenzial und Flexibilität. Wenn es zur Fragmentation der Ich-Grenze kommt, dann geschieht dies nicht punktuell, sondern betrifft große Bereiche. Ähnlich wie bei einem Vulkanausbruch mag es von weitem betrachtet faszinierend sein, in der Nähe aber führt es zu Bedrohung, Verwüstung, ja auch Vernichtung. Anders ausgedrückt ist die Selbst- wie manchmal auch Fremdgefährdung in der akuten Exazerbation einer schizophrenen Fragmentation 29
unglaublich groß. Viele schizophrene Menschen leben in einem heiklen und labilen Gleichgewicht zwischen Stabilität und Verlust. Die Spaltung/Fragmentierung stellt sich für Benedetti in drei Erscheinungsformen dar: Gespaltene Identitätsbildung, Kohärenzverlust und Ich-Entgrenzung (vgl. Abbildung 4).
deformierte, durchlässige Ich-Grenze (Ich-Entgrenzung)
Segmentierung des Ich (gespaltene Identitätsbildung)
nicht mehr oder unvollständig vernetzte Persönlichkeitsstrukturen (Kohärenzverlust)
Abbildung 4: Erscheinungsformen der Fragmentierung
Gespaltene Identitätsbildung In meinem Ich-Struktur-Modell lässt sich diese Form symbolisch wie in Abbildung 4 darstellen. Die Trennlinien zwischen den dissoziierten Ich-Segmenten sind deutlich zu erkennen. Da nicht alle dissoziierten Teile gleichzeitig bewusst und emotional besetzt sind, werden einzelne Teile als Aspekt der Außenwelt erlebt und verkannt. Benedetti schreibt dazu: »Der Kranke erlebt sich entzweit oder sogar fragmentiert; er spürt in seinem Inneren verschiedene Personen, die über ihn verhandeln [. . .] Der Kranke weiß mit einer furchtbaren inneren Evidenz sofort, [. . .] dass er diesen Teilpersonen völlig ausgeliefert ist, da er ihnen kein Selbst gegenüberstellen kann« (S. 17). So sagt eine Patientin nach neun Jahren Therapie und nach über zwanzig Jahren in ihrer schizophrenen Welt lebend: 30
Es war auch heute so schwierig, zu Ihnen zu kommen. Ich musste am Bahnhof drei Flaschen Bier trinken, um es auszuhalten, was die da immer über mich sagten und mir drohten. Auch wenn ich inzwischen ja weiß, dass nur ich sie sehe und höre, sind sie doch da und bedrohen mich, es macht mir Angst. Sie leben in mir und bewegen sich gleichzeitig auch außerhalb, mir gegenüber. Im Zug saßen sie wieder da, schauten auch von der Decke auf mich runter und redeten, wie die anderen Leute im Abteil, die ganze Zeit über mich, sagten genau das, was ich eben gerade dachte oder führten mein noch nicht zu Ende Gedachtes einfach ohne mich weiter und kommentierten es. Jede Woche erwarten mich die jungen Leute gegenüber ihrer Praxis, wissen ganz genau, wann ich ankomme, haben Helfer, die mich ab dem Bahnhof beschatten und verfolgen und wahrscheinlich mit Funk melden, dass ich jetzt dann komme. Die glauben, ich merke es nicht, machen alles still und vor mir verborgen, aber ich habe es schon lange durchschaut. Sie lachen mich aus, »Da kommt sie wieder und geht zum Rom . . .«, kommentieren meine Kleider und wie dick ich geworden bin. Sie belauschen uns auch jetzt. Wenn ich nachher von hier weggehe, repetieren sie nachäffend, was ich hier zu Ihnen sage, nur schon um mir zu zeigen, dass sie mich überall im Griff haben. Ich habe Angst, wieder auf die Straße zu gehen . . .
Heute braucht diese Patientin meine Begleitung auf die Straße nicht mehr und im Gegensatz zum Therapiebeginn in der Klinik ist es auch nicht mehr nötig, dass ich ihr aus dem Fenster nachblicke, bis sie um die Ecke in die nächste Straße einbiegt, so wie es Mütter mit ihren Kindern tun, wenn sie in die Schule gehen. Es reicht, wenn ich ihr nach der Therapiestunde mit Nachdruck Auf Wiedersehen sage und ihr innerhalb der Praxis nachblicke, solange, bis sie die Tür hinter sich schließt, nachdem sie sich zuvor nochmals kurz umgedreht hat, um mich anzublicken. Dafür musste sie einen weiten Weg zurücklegen. Zu Beginn des Jahres 1994 lag sie aus Angst vor der Sonne, die sie umbringen würde, weil sie das Tageslicht nicht verdiene, stuporös und kataton unansprechbar im fensterlosen Duschraum ihres Klinikzimmers. Jeweils gegen Abend, wenn es dunkelte, wurde sie etwas gelöster und beweglicher, manchmal auch ansprechbar. Erst in der Nacht wagte sie sich nach draußen. Heute reist sie 60 Kilometer hin und wieder zurück, um die Therapiestunde in meiner 31
Praxis wahrzunehmen: ein langer Weg, nach wie vor voller Gefahren und Bedrohungen. Sie tut es freiwillig und auf eigenen Wunsch. Beherrschende Psychose und eigener Wunsch und Wille existieren heute nebeneinander. Sie beeinflussen sich in beide Richtungen. Früher hingegen war es nur ihr schrumpfendes Ich ohne Existenzberechtigung, welches dem psychotischen Bedrohlichen gegenüberstand und ihm ausgeliefert war. Die gespaltene Identitätsbildung ist Bedrohung und Versicherung zugleich. Wie eine solche Bedrohung aussehen kann, hat das Fallbeispiel klar gezeigt. Eine Versicherung ist sie deshalb, weil sich immer nur ein Teil des Ich in der Fragmentierung und subjektiven Empfindung der Auflösung zum Nichts befindet, während andere Teile, die nicht besetzt sind und in der Wahrnehmung des Schizophrenen als zur Außenwelt gehörend erlebt werden, überleben. Sie sind jedoch unzertrennlich mit dem werdenden Nichts verbunden. Im Innersten wissen die Patienten, dass auch diese Teile zu ihnen selbst gehören. Das ist die Versicherung: Nicht alles fällt der Fragmentierung anheim. Die eben vorgestellte Patientin sagte dazu treffend: »Sie bringen mich nicht um, weil ich ihr Spielzeug, ihr Folteropfer, ja der Sinn ihres Daseins, ein Teil von ihnen bin.« Die einzelnen Sektoren des Ich sind bei Schizophrenen dissoziativ getrennt, entwickeln sich auch getrennt, das heißt, sie »wissen« nicht voneinander. Scharfetter schreibt 1999 dazu in »Dissoziation, Split, Fragmentation«: »Wo Teile überzeugend nicht mehr voneinander wissen, wo scheinbar separate Personen agieren, drängt sich die Annahme von Dissoziation auf« (S. 60). Sie erfahren sich in der Schizophrenie, im Außenspiegel der Welt, als fremd und nicht zum Ich gehörig. Es werden – im Sinne der doppelten Buchhaltung – auch mehrere Sektoren des Ich autonom besetzt, manchmal wechselnd oder sogar gleichzeitig, es gibt jedoch immer Teile des Ich, welche nicht besetzt sind. Dissoziativ abgespaltene Teile, die zwar zur Identität des Gesamt-Ich gehören, aber vom Kranken nur als Objekte der Außenwelt wahrgenommen und halluzinatorisch, manchmal auch wahnhaft eingebunden sind, können geradezu »gerettet« werden (vgl. Fallbeispiel). 32
Kohärenzverlust In meinem Ich-Struktur-Modell lässt sich dies symbolisch wie in Abbildung 4 darstellen. Persönlichkeitsstrukturen sind nicht mehr stabil vernetzt. Diese sind zum Teil vom Rest abgekoppelt und können nicht koordiniert operieren. Auch die Wahrnehmung wird dadurch fragmentiert und so das Selbst- wie Fremdbild instabil. Benedetti schreibt: »Im Leiblichen ereignet sich der Kohärenzverlust, indem der Kranke sich nicht als innere Ordnung erlebt; die Körperorgane werden verschoben, Löcher und Hügel entstehen im Innern, die Geschlechtszugehörigkeit wird gewechselt [. . .]« (S. 18). Ein Patient beschreibt dies am Beginn einer Therapiestunde so: »Warum klopft ihr Herz in mir, wenn ich die Treppe hochkomme?« Auf die Frage, wo denn sein Herz sei und wo er es spüre, antwortete er: »Mein Herz ist da« und zeigt auf das Knie. Eine andere Patientin sagt, als ich sie auffordere, auf ihren Herzschlag zu achten: »Das was da in mir schlägt, gehört sicher nicht zu mir, ist mir völlig fremd.« An dieser Stelle bietet sich ein kurzer Ausflug ins Therapeutische an: Neben dem verbalen Aspekt der Therapie ist auch konkrete körperliche Intervention manchmal hilfreich. Allerdings muss der Stand der therapeutischen Beziehung es zulassen, das heißt, die Intervention darf weder psychotische noch nichtpsychotische Angst auslösen. Der Therapeut darf grundsätzlich und definitiv nicht zu intensiv oder gar als Verfolger erlebt werden, auch nicht bei Dissens und in Konfliktsituationen. Der Zeitpunkt muss gut gewählt sein und die Übung darf, auch zeitlich, weder den Patienten noch den Therapeuten überfordern. Zuerst lasse ich den Patienten seinen Puls fühlen (und zeige es zuvor an mir), um ihn erfahren zu lassen, dass sich dieser abhängig von Atmung, Körperlage oder Anstrengung verändert. Er soll bemerken, dass sich da etwas verändert, das er beeinflussen kann: Irgendwie hängen Puls, Atmung und Ich zusammen. Vielleicht ist der Patient in der nächsten Übung bereit, seinen Puls zu tasten und gleichzeitig sein Herz mit dem Stethoskop abzuhören und ähnliche, aber von ihm bestimmte Übungen der Atmung, Bewe33
gung und Anstrengung zu machen. Er merkt, dass an verschiedenen Orten etwas abläuft, was voneinander abhängt und worauf er Einfluss hat. Im Anschluss daran hört der Patient mein Herz mit dem Stethoskop ab und tastet seinen Puls dazu. Wir bewegen uns abwechselnd und der Patient erfährt jeweils, wer wen wann und mit welcher Wirkung beeinflusst. Diese Übung muss anschließend psychotherapeutisch verbal be- und intensiv verarbeitet werden. Sie ist kein Beweis der Existenz und hält in der Wirkung oder der gewonnenen Einsicht auch nicht lange an, aber die Übung kann beliebig oft wiederholt oder daran erinnert werden. Scharfetter nennt den Kohärenzverlust Konsistenzverlust. Das ist insofern treffender, als der Verlust der Kohärenz an sich vom Kranken als solcher meist nur in der Akutphase, also wenn es gerade geschieht, wahrgenommen wird (Dissoziation). Der Kranke spürt jedoch immer wieder das Sich-Auflösen und Auseinanderfallen oder sogar Brechen im Übergangsstadium, das Wegdriften der dissoziierenden Teile, was den Dichteverlust und die Veränderung der eigenen Beschaffenheit – also die Konsistenz – ausmacht. Der Kohärenzverlust zeigt sich auch im Fehlen der Kontinuität der Bewusstseinszustände. Das Denken wirkt zerfahren und sprunghaft und ist für uns nicht mehr nachvollziehbar. Der Kranke berichtet manchmal aus seiner wechselnden Ich-Besetzung heraus – so, als würden wir einen Vorgang aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig beschreiben.
Ich-Entgrenzung In meinem Ich-Struktur-Modell fehlt bei der Ich-Entgrenzung eine durchgehende, ungespaltene Ich-Grenze (vgl. Abbildung 4). Benedetti schreibt dazu: »Sie entspricht der Spaltung im Bereich der Selbstabgrenzung und Objektbeziehung. Beide Funktionen fallen aus. Der Kranke liegt für die anderen offen da [. . .] eine Schale ohne Inhalt, deren Wandung zersplittert ist, währenddessen der Innenraum durch fremde Inhalte angefüllt wird« (S. 18). Dazu die schon erwähnte Patientin: 34
Ich bin ein Nichts und gleichzeitig alles. Ich weiß gar nicht, was es heißt, wenn ich sage, ich bin, denn X. Z. [der mächtigste Herrscher in ihrer Wahnwelt] bestimmt alles, was ich tue und was ich sein kann, jede Bewegung wird letztendlich von ihm bestimmt. Er erlaubt und verbietet, er quält und belohnt und es gibt dem nichts entgegenzustellen. Manchmal darf ich Pferd sein, das ist schön, mit und als Pegasus ins All zu galoppieren . . .
Die Ich-Entgrenzung führt zu einer speziellen Form der Spaltung, der partiellen autistischen Abkapselung. Das Ich fließt quasi durch die Poren der fragmentierten Ich-Grenze aus und löst sich so, verschmelzend mit und im gesamten Universum, auf (Superexistenz/Negativexistenz). So ist die Patientin zu verstehen, die gleichzeitig alles und nichts ist. Durch die Abkapselung von Fragmenten des Ich wird eine neu geformte Teil-Individualität gerettet. Folgende Äußerung von ihr verdeutlicht dies: Sie [und meint damit den zweiten Teil ihres Ich] schreit verzweifelt aus dem Kerker, in welchen ich sie eingeschlossen habe. Sie ist die Kreative, aber auch die Böse und Vernichtende. Sie darf nicht raus. Ich kann es nicht zulassen, dass sie raus darf, sonst zerstört sie mich. Ich halte ihre Schreie nicht mehr aus. Ohne sie bin ich aber auch nicht, ich zerfalle und verliere mich.
Durch die passive Verschmelzung mit der Welt und dem Besetztwerden durch andere rettet sich das Ich vor dem völligen Verlust. Fragmentiert, autistisch abgekapselt und fremdbesetzt zu sein ist besser, als nicht zu sein. Autismus ist hier sowohl als aktive Abwehr als auch passives Primärsymptom zu verstehen. Benedetti führt dazu aus: »Die Spaltung bzw. Auflösung zeitigt als weiteres Charakteristikum, dass die voneinander abgespaltenen Teile im Sinne einer nachträglichen Verdichtung, Kontaminierung und Zusammenballung verschmolzen werden (schizophrene Neomorphismen und Neologismen; ›Wortspiele‹) [. . .], nur ist das Untergangsgeschehen unverkennbar« (S. 19). Wenn wir uns alle drei Formen der Fragmentierung gleichzeitig bei einem Menschen vorstellen (vgl. Abbildung 4), so beginnen wir die Dimension des Leides zu erahnen. Es ist leicht zu verstehen, dass solche Vorgänge der Fragmentierung unweiger35
lich schwerste innere Desorientierung sowie Desorientierung in der Welt zur Folge haben. Die zeitliche, örtliche und autopsychische Orientierung ist nicht mehr möglich. Was ist Zeit? Was ist Raum? Wer bin ich? Alles kommt durcheinander. Wie soll der Kranke da entscheiden, wie soll er Stellung beziehen können? Einfachste Ja-Nein-Fragen können im besten Fall ambivalent bearbeitet werden. Aber gerade die Ambivalenz, die bei Schizophrenen sehr ausgeprägt anzutreffen ist, führt wieder in eine Gefangenschaft. Sie löst sich nicht durch eine Entscheidung auf, weil nicht entschieden werden kann. Der Schizophrene hält den Widerspruch lediglich fest und dies bedeutet, dass der Widerspruch zum Teil der eigenen Existenz wird. Der Kranke bleibt im und mit dem Widerspruch, der zudem ungelöst anschwillt, gefangen. Die schizophrene Ambivalenz unterscheidet sich wesentlich von unserer gesunden oder der neurotischen Ambivalenz. Ein einfaches Beispiel zur Illustration: Wir bekommen ein Stück von der dunklen oder hellen Tafel Schokolade angeboten und dürfen nur von einer Sorte nehmen. Wir sind ambivalent, weil wir uns nicht entscheiden können. Wir mögen sowohl helle als auch dunkle Schokolade. Wir wägen ab. Mit der Zeit, die kürzer oder länger sein kann, suchen wir rationale und gefühlsmäßige Kriterien zur Entscheidungshilfe. Irgendwann entscheiden wir uns, mehr oder weniger eindeutig. Die Frage nach der Wahl der Schokolade tritt für uns kurzzeitig ins Zentrum des Denkens und Fühlens, jedoch ist es möglich, die Frage in einen breiteren Kontext zu stellen, mit dem inneren Weitwinkel-Objektiv zu betrachten, abzuwägen, eine Gewichtung der Argumente und Gefühle vorzunehmen, dann wieder auf die Frage selbst zu fokussieren und zu entscheiden. Nicht so beim schizophrenen Menschen. Die Frage besetzt ihn vollständig. Jedem Kriterium für ein Stück der einen Tafel Schokolade steht ein gleichwertig besetztes Kriterium für die andere gegenüber. Die Frage selbst wird zur Entscheidungsfrage über Sein oder Nichtsein. Die Athymie (siehe Negativismus) führt dazu, dass er zudem nicht über die nötige Energie verfügt, um zu entscheiden. Die Kraft wird von der Ambivalenz eingesogen und verbraucht, analog dem Verschwinden von ganzen Systemen in einem schwarzen Loch im 36
Universum. Zurück bleibt der ausgelaugte, erschöpfte, manchmal sogar katatone Patient, der diesem Zustand nur durch autistisches Verschwinden aus der Beziehung, wahnhaftes Einbauen der Fragestellung oder durch einen Raptus entweichen und die Spannung – wenn auch nur für kurze Zeit – so auflösen oder abbauen kann. Ich hörte einst eine dazu passende Geschichte eines Patienten, der um acht Uhr morgens mit einem Croissant und Kaffee am Tisch in der Cafeteria der Klinik saß. Auch um zehn Uhr, als die Belegschaft erneut einen Kaffee in der Cafeteria trinken wollte, saß er unverändert da. Als jemand ihn fragte, was denn das Problem sei, antwortete er, dass er nicht entscheiden könne, ob er das Croissant von der einen oder anderen Seite anbeißen solle. Was wie ein guter Witz klingt, ist für den schizophreniegeplagten Menschen harte Alltagsrealität. Die Rettung in ein eigenes System mit eigenen Gesetzen und Logiken, welches dem sich dauernd Verändernden versucht Rechnung zu tragen, ist eine mögliche Abwehr des Schizophrenen; das ist der Wahn. Wahn kann aber auch Ausdruck der vollständigen Hilflosigkeit und Verzweiflung sein, der Kapitulation, diesem grauenhaften Prozess nichts entgegensetzen zu können. Zum Auf- und Ausbau eines einigermaßen »stabil-labilen« Wahnes können Jahre, ja Jahrzehnte vergehen. Es wird zum Lebenswerk, es ist das Leben. Therapie kann und darf nicht darin bestehen, ein solches abzubrechen. Therapie soll unterstützen, Leid zu mindern und ein subjektiv lebbares Leben zu ermöglichen. Benedetti sagte dazu in seiner Rede zum achtzigsten Geburtstag von Manfred Bleuler: »Ursprünglich glaubte ich, es gehe einfach darum, Schizophrene zu heilen. Später erkannte ich, dass die ›innere Qualität‹ der Besserung mindestens ebenso wichtig ist [. . .] Erst wenn man lange mit Schizophrenen gearbeitet hat, spürt man, dass die Heilung der Kranken nicht immer genügt und nicht immer möglich ist.« Psychodynamisch eng mit der Fragmentierung verknüpft, aber auch als Primärsymptom verstanden, ist der Autismus.
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eigenständige Persönlichkeitsbereiche verdichtete Außengrenzen neue Vernetzungen verdickte Innengrenzen
Abbildung 5: Autismus im Ich-Struktur-Modell
Autismus Autismus stellt sich für Benedetti in drei Erscheinungsformen dar: Eigenweltlichkeit, Ausdrucksunfähigkeit sowie Selbst- und Fremdverborgenheit. Der Autismus kann symbolisch wie in Abbildung 5 dargestellt werden. Nur wenig erinnert an das Ich aus dem ursprünglichen IchStruktur-Modell. Die Ich-Grenze ist nach außen panzerartig verdichtet und dick. Wenig dringt hinein und hinaus. Auch innen sind die Grenzen verdickt und die Bereiche eigenständig, wenn auch neu vernetzt: ein sonderbares Ich, das nun noch abgeschotteter von Es und Über-Ich funktioniert. Autismus ist sowohl als Primärsymptom als auch als Abwehr zu verstehen. Dazu schreibt M. Bleuler 1972: »Aus der Gespaltenheit erwächst unter weitgehender Opferung des Bezuges auf Wirklichkeit, ein ungespaltenes aber wirklichkeitsfremdes Ich, das wiederum Gespaltenheit schafft« (S. 22). Benedetti äußert: »Der Autismus ist die Rettung in eine, die Individualität par excellence zerstörende Psychose« (S. 23).
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Eigenweltlichkeit Dieser Aspekt ist auch dem Laien aus dem Alltag bestens bekannt: der eigenartig wirkende Schizophrene, der mit sich oder irgendjemandem, der offensichtlich nicht da ist, spricht, Unverständliches sagt, verklärt durch die Welt blickt und einen Ausdruck in den Augen hat, der manche verwirrt, ängstigt oder staunen lässt. Es gibt noch tiefere Dimensionen der Eigenweltlichkeit in der Schizophrenie. Ein Patient erklärte mir in einer Stunde mit ernstem Gesichtsausdruck: »Auf dem täglichen Weg zum Bahnhof gehe ich jeden Tag am Busch vorbei.« Anschließend lachte er mir verschwörerisch zu. Erst viel später, als mir dieser Patient ein Wörterbuch mit dem Namen »Codex 5« schenkte, verstand ich sein Lachen an dieser Stelle des Berichtes besser. Darin erklärt er unter anderem, dass »Busch« gleich Beobachter sei. Ich lernte seine Sätze ganz neu zu verstehen, so bedeutet zum Beispiel »Radio hören« Gerüchte in die Welt setzen oder »Wein trinken« tot sein. Auch enthalten sind Erklärungen zu seinen privaten inneren Mechanismen: CTX ist gleichbedeutend mit der Summe des Gesagten
Summe des Gesagten
CTG = löschen
Abbildung 6: Ausschnitt aus einem Wahnsystem
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(übersetzt: Umgang mit der Summe des Gesagten), CTG bedeutet »alles löschen« und CTF »Meditation«. Diese Mechanismen sind nicht etwa theoretischer Nonsens. Es sind von ihm erdachte eingesetzte Mechanismen, um mit speziellen, für ihn bedrohlichen Situationen umzugehen. X von CTX funktioniert zum Beispiel so: Wenn im Gespräch durch das Gesagte bei ihm großer bedrohlicher innerer Druck entsteht, den er allein mit CTG nicht mehr löschen kann, muss er über den XMechanismus die Summe des Gesagten differenzieren, das Gesagte durch einen Trichter (X) filtern. Es spaltet sich dann im Schnittpunkt auf die drei darunter liegenden Räume des X auf (Abbildung 6). So kann er mit jedem Teil separat umgehen. Er kann auf diese Weise einen Teil des Gesagten mit CTG löschen, was vorher nicht möglich war. Wir finden hier den Apparat eines Wahnsystems, das sowohl die Fragmentierung, welche der Patient so oft selbst an sich erlebt, konstruktiv einsetzt wie auch autistisch-eigenweltlich ist. Während das Wörterbuch eher als Ausdruck von Eigenweltlichkeit im Sinne des Primärsymptoms verstanden werden kann, entsprechen die CT-Mechanismen doch auch einem wahnhaften Abwehrcharakter. Eigenweltlichkeit fasziniert uns Therapeuten unglaublich, vor allem dann, wenn wir im Wahnsystem zu verstehen beginnen.
Ausdrucksunfähigkeit Benedetti schreibt dazu: »Sie rührt daher, dass viele Erlebnisse des Kranken an sich schwer sagbar sind. Diese gründen in einer unlogischen und nicht kommunikativen Existenzstruktur, entstehen in höchst privaten, außerhalb von Sprache und Verständigung liegenden Daseinsbereichen und sind deshalb für den Kranken nicht ohne weiteres formulierbar«. Er weist zudem auf den therapeutisch äußerst wichtigen Aspekt hin: »Man betont in der Psychopathologie zu sehr die autistische Zurückgezogenheit und zu wenig das Ringen des Kranken um Ausdruck, um die Aussage von nicht sagbaren Dingen« (S. 25). 40
Es scheint mir ergänzend wichtig, unsere Grenze des Verstehens und Verstehen-Wollens als zusätzlichen Faktor – bis hin zur Mitverantwortlichkeit für die Ausdrucksunfähigkeit – zu benennen. Es braucht viel Geduld und Zeit beim und mit dem Kranken sowie ständiges, interessiertes und nichtbedrängendes Nachfragen, um diese »Fremdsprache« wirklich zu verstehen, die ihre Gesetze vielleicht schon nach kurzer Zeit für ungültig erklärt. Es vergingen Jahre, bis die bereits vorgestellte Patientin überhaupt versuchte, mir den Herrscher ihres Reiches zu benennen, zu erzählen, was sie seit über zwei Jahrzehnten erlebt. Zum einen war es ihr unter Androhung schlimmster Folter und Todesstrafe verboten, über ihn zu reden, zum anderen fand sie auch gar nicht die Worte, um im Rahmen der Behandlung darüber zu berichten, obschon sie willens war. Sie versuchte es mit Bildern, die sie malte, aber die Blätter waren zu klein, um die Dimension von X. Z. – so heißt der Herrscher ihrer Welt – darzustellen. Weder Worte noch Bilder noch beides zusammen reichten aus, um ihm gerecht zu werden und ihn in eine kommunizierbare Form zu bringen. Nach unzähligen Versuchen, X. Z. zu beschreiben, konnten mir Worte, Bilder und das Erleben ihres Gesichtsausdrucks und des zitternden Körpers, ihre Verängstigung und ihr Kleinmachen vor den für mich nicht sichtbaren niederprasselnden Schlägen einen Eindruck von ihm vermitteln. Das wiederholte Aushalten dieses schrecklichen Leidens der Patientin während der Therapiestunde war mein einziger Zugang und zugleich Preis und Beitrag für das Dualisieren des Schrecklichen und Ungeheuren. Wäre es ihr zum Schluss nicht in jeder Stunde der Therapie besser gegangen, wäre es für mich nicht vertretbar gewesen, ihr dies wiederholt anzutun. Da ich nun ein wenig von ihm wusste, schämte sich X. Z. von da an, so mit ihr umzugehen. Auch er wollte gut zu ihr sein, wie ich, ihr Therapeut, er begab sich in Rivalität zu mir, was zur Folge hatte, dass die Patientin fortan mehr belohnt als bestraft wurde. Sie begann zu begreifen, dass Dualisieren mehr Freiheit für sie bringen kann, sogar wenn das Leid sich nicht unbedingt immer vermindern lässt. Ausdrucksunfähigkeit ist eine therapeutische Herausforderung, die wir annehmen müssen, sonst verlieren wir den Schizo41
phrenen und er geht im Autismus unter, in dem er sich nur noch selbst helfen kann.
Selbst- und Fremdverborgenheit Benedetti meint dazu: »Während wir in der Psychotherapie das ambivalente Streben des Schizophrenen nach Kommunikation erleben, sind wir im Falle der Selbstverborgenheit mit der besonders außerhalb der Psychotherapie häufigen Situation des eindeutigen Rückzuges, der Selbstchiffrierung, des Sich-Versteckens konfrontiert [. . .], der Kranke ist sowohl im sprachlichen wie auch in seinem übrigen Verhalten, das bis zum Negativismus gehen kann, unzugänglich [. . .] Es ist erschütternd, erleben zu müssen, wie der gleiche Patient, der sich dem Transitivismus und der Appersonierung zufolge mit seiner sozialen Umwelt dauernd verwechselt, zu einer Kommunikation mit ihr unfähig ist und undurchdringliche Barrieren gegen sie aufrichtet« (S. 26). Wenn Worte und Bilder im Erleben des Kranken ständig zerfallen, egal ob innere oder real äußere, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis er nicht mehr im Stande ist, über wahnhafte Verknüpfungen, Beziehungsideen und andere psychotische Mechanismen das »Neuentstandene« in seine Welt einzubauen und zu neutralisieren. Er ist verwirrt von dem, was da ist. Er ist sich selbst unweigerlich verborgen und fremd und somit auch für andere. Ein Patient begann nach Jahren des Schweigens eine Psychotherapie bei mir und erfüllte sich bald den Wunsch, sich endlich einen Pass ausstellen zu lassen. Nicht etwa um zu verreisen, nein, es sollte der Beweis seiner Existenz und Eindeutigkeit sein. Für ihn selbst, wie er sagte, und für die anderen. Es war der verzweifelte Versuch, sich zu finden und zu erkennen, eine Versicherung, für die anderen eindeutig zu existieren, zu sein und sich in der Ich-Du-Definition abgrenzen zu können. Verwirrt und verzweifelt berichtete er mir in der nächsten Stunde, den Pass in der Hand haltend: »Das bin ja gar nicht ich, das Bild zeigt nicht mich und die Unterschrift ist auch gefälscht, nicht meine. Es ist sicher wieder der Andere, der sich meinen Körper über Nacht ausleiht, um ihn für sich arbeiten zu lassen, während er selbst kifft und ausruht. Ich kriege
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es dann in meinem Blut nachgewiesen. Darum wache ich jeden Tag morgens auch so erschöpft, müde und abgeschafft auf, weil er mich ohne mein Wissen ausnützt. Der bedient sich an mir und ich kann nichts dagegen tun. Er tut Verbotenes und ich muss dann dafür gerade stehen und für ihn bezahlen. Dafür wollte ich den Pass und nun nützt auch dieser nichts. Nicht mal mein Fingerabdruck ist sicher. Wer bin ich denn? Sagen Sie es mir . . .« Danach verharrt er kataton tief versunken für eine kurze Zeit im Sessel.
Der Patient weiß nicht, wer er ist, weil er sich verliert und sein Ich fremdbesetzt ist. Er realisiert, wie es für andere unmöglich sein muss, ihn zu erkennen. Er ist sich selbst und den anderen verborgen. Er versucht sich diesen Umstand mit einer Wahnidee zu erklären, allerdings mit wenig Erfolg, denn er findet seine Identität dadurch nicht. Es ist einfacher, sich mit Jesus zu identifizieren, als sich mit niemandem und nichts identifizieren zu können. Die Patientin, die bereits über zwanzig Jahre in ihrem Wahnsystem lebt, fragte mich einst, nachdem wir uns zuvor zufällig auf der Straße begegnet waren: »Wie erkannten Sie mich eigentlich, wo ich doch gar nicht bin und meine Hülle sich dauernd ändert? Wenn ich in den Spiegel gucke, so sehe ich jedes Mal etwas anderes. Ich weiß gar nicht, ob und wie ich eigentlich aussehe. Ich dachte, Sie erkennen mich jeweils nur wegen der fest abgemachten Zeiten der Therapiestunden, weil Sie mich erwarten und nur ich dann zu Ihnen komme und verstehe gar nicht, wie Sie mich auf der Straße, unter so vielen Wesen, sehen und erkennen konnten.« Auf meinen Hinweis, dass sie ja auch mich erkannte, obschon sie mir in den Stunden immer wieder mitteilt, wie sehr ich mich währenddessen verändern würde, antwortet sie mit großen Augen: »Ja, das stimmt, ich habe Sie auch sofort erkannt.«
Die Patientin wirkt in diesem Moment der Therapie beruhigt, weil sie sich an einen in der Vergangenheit liegenden Moment erinnern kann, als eine Ich-Du-Situation entstanden war. Das gibt ihr für den gegenwärtigen Moment etwas Sicherheit, wenn auch nicht anhaltend. Für die Therapie wird diese Situation zu einem abrufbaren Fixpunkt, den man immer wieder therapeutisch aufnehmen und bearbeiten kann. Offenbar war es der verbindliche Zeitpunkt der Therapiestunden, die immer am selben 43
Ort stattfanden, was ihr bis dahin etwas Sicherheit in das SelbstVerborgene brachte.
Athymie Die zutreffendste Beschreibung von Athymie findet sich meiner Meinung in Hubers »Verlust des energetischen Potentials« (1961). Benedetti weist darauf hin, dass Begriffe wie die schwere narzisstische Lücke (Kohut 1973) hier dazugehören. Wie bei allen Primärsymptomen kann man die Athymie als solches ansehen aber auch psychodynamisch als Folge der Spaltung und/oder des Autismus betrachten. Wie bereits deutlich wurde, liegen Fragmentation, Autismus und Athymie manchmal zum Verwechseln nahe beieinander und sind doch gleichzeitig so verschieden. Benedetti stellt drei Erscheinungsformen der Athymie vor: Passivierung, Devitalisierung und Negativismus.
Passivierung Scharfetter nennt dies Aktivitätsstörung und schließt damit neben der Passivität (Schneider 1967) auch die kompensatorische agitierte Überaktivität ein. Benedetti führt dazu aus: »Das Erleben der Passivität bedeutet, dass der Kranke zu einer Zielscheibe der Gebärden, Gedanken und Intentionen anderer Menschen geworden ist, die ihn nach Belieben formen und lenken«(S. 28). Er beschreibt das, was wir sehen, im Kontrast zu dem, was der Patient erlebt, so: »Er zieht sich zurück, sitzt in Gedanken versunken herum und tut scheinbar überhaupt nichts mehr. In Wirklichkeit strengt er sich furchtbar an, er ›selbst‹ zu bleiben. Bei dieser Arbeit verdeckt Passivität höchste Aktivität [. . .]«(S. 28f.). Wir erkennen diese Aktivität kaum. Ein möglicher Zugang dazu sind unsere Gegenübertragungsgefühle, auf die wir uns tief einlassen und die wir reflektieren müssen. Weiter beschreibt Benedetti: »Der Kranke erlebt sich als Schauplatz von verschie44
denen Welten, Systemen und Kräften, die in ihm um die Oberhand kämpfen. Er selbst steht manchmal als unbeteiligter Zuschauer vor Ereignissen, die ihn eigentlich zentral angehen und doch bloß wie ein Film vor ihm ablaufen. Oder er erlebt sich als Akteur [. . .], als Akteur, der entscheidet« (S. 29). Ich selbst habe auf einer Visite eine diesbezüglich eindrückliche Erfahrung machen können, welche dem Beispiel, das Benedetti dazu anführt, fast zum Verwechseln ähnlich ist: Als ich zur Visite komme, sitzt der Patient da, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet und reagiert überhaupt nicht auf meine Begrüßung. Ich gehe mit den Worten, ihn später nochmals zu besuchen, weiter und komme etwa eine Stunde später erneut zu ihm. Er sitzt unverändert da und eine Krankenschwester kommentiert: »Er guckt ständig aus dem Fenster und tut sonst nichts.« Ich setze mich ungefähr fünf Minuten zu ihm hin und sage dann: »Sie scheinen es sehr streng zu haben. Ich jedenfalls könnte nicht so lange den Schneeflocken zusehen, ich würde das nicht aushalten«, worauf er erstmals wieder spricht und sagt: »Wie könnte ich aufhören, die Schneeflocken zu zählen. Wenn ich aufhöre, dann geht die Welt unter.«
Benedetti schreibt: »In diesen Fällen verbindet sich die Passivität mit einer grandiosen Aktivität, durch die der Kranke die Welt erretten, der Wahrheit zum Durchbruch, das Böse vernichten will« (S. 29). Dieses Beispiel zeigt, wie weit weg von der Realität wir mit unserer Einschätzung des Gegenüber liegen und ihm so auch Unrecht tun können. Er verharrt so unverstanden und verloren in seiner autistischen Welt und hört irgendwann auf, den Kontakt zu uns suchen. Da bleibt nur noch das Leben im Wahn. Steck (1951) bemerkt dazu: »Wenn der Versuch scheitert, die Kommunikation mit den Mitmenschen zu erzwingen, entsteht der Wahn« (S. 233). Solche Fehleinschätzungen haben Konsequenzen in unserem Fühlen dem Patienten gegenüber und können so auch therapeutische Erfolge gefährden. Wir entwickeln zum Beispiel Wut, wenn Patienten »nichts tun«, obschon wir uns bemühen und Angebote machen. Wir beharren auf Regeln, die uns wichtig erscheinen. Unsere Legitimation heißt dann, dass der Schizophrene doch Struktur braucht, um nicht zu zerfallen. Struktur stabilisiert. Er 45
soll sich an Regeln gewöhnen. Dies und mehr kann zutreffen, wenn bereits ein Dialog mit dem Patienten zu Stande gekommen ist und wir uns gegenseitig verstehen und mitteilen können. Wenn der Schizophrene um sein und das Überleben der Welt kämpfen muss und dies mit allem, was er in dem Moment zur Verfügung hat, so ist er oft zu weit von uns entfernt, um wirklich zu verstehen, was in ihm abläuft und wie wir ihn adäquat unterstützen können. Fehlinterpretationen sind also an der Tagesordnung. Auch verborgene Aktivität in der Passivität und Gefangensein in der Ambivalenz ist nicht dasselbe, beides erscheint uns jedoch auf den ersten Blick gleich. In der Ambivalenz braucht der Schizophrene eher unsere Intervention, das heißt Strukturen und Regeln, um den Ausweg aus dem quälenden Gefangensein zu finden. In der Passivität der Athymie hingegen benötigt er unser Mitgefühl und unser passives Dabeisein im Sinne der Entlastung, damit er im dualen Raum der Therapie loslassen kann und sich für das gegenwärtige Geschehen in seinem Erleben nicht mehr allein verantwortlich fühlen muss. Ihm in solch einer Situation Struktur und Regeln anzubieten, ist für ihn quälend. Er muss auf diese Weise zusätzlich denken und fühlen, wir rauben ihm Energie, die er zur Erhaltung des Seins braucht, und werden so zu Gegnern, die seine Einsamkeit und Verzweiflung vergrößern und die Athymie fördern anstatt sie zu verringern.
Devitalisierung Benedetti beschreibt die Devitalisierung so: »Die Kranken fühlen sich entleert, versteinert, verpuppt, verfault, in Maschinen verwandelt, tot von Geburt an. Sie können die Arme, die Hände nur scheinbar bewegen, so wie Automaten [. . .] Das Sistieren des Lebens bringt es mit sich, dass die Zeit stillsteht, dass der Zustand seit Jahrmillionen dauert, dass der Patient seit seinem Ursprung der Tod selber ist« (S. 29). Wer länger in einer Klinik arbeitet, kennt das Gefühl, dass der eine oder andere Patient schon ewig, ja vielleicht schon seit Inbetriebnahme der Klinik da gewesen sein müsse. Dieses Zeitlose 46
und Unendliche, das gewisse Patienten ausstrahlen und uns damit erreichen und berühren, kann auch Ausdruck der Devitalisierung des Kranken in unserer Gegenübertragung sein. Die Devitalisierung erleben zu müssen, dabei gleichzeitig im Autismus eingeschlossen zu sein und unausweichlich weiter zu fragmentieren, übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Nur im Rahmen des schizophrenen Wahns ist es möglich, all das irgendwie zu integrieren. Dafür benötigt der Schizophrene manchmal mehrere Zeitachsen gleichzeitig, die nebeneinander, aber auch sich überschneidend existieren und uns vollends verwirren. Auf diese Weise bringt er Spaltung, Autismus sowie die Athymie, welche gleichzeitig an verschiedenen Orten, also in verschiedenen Segmenten des Ich vor sich gehen, irgendwann »problemlos« unter.
Negativismus Benedetti schreibt dazu: »Der klassische psychiatrische Begriff bezeichnet damit den Widerstand des Kranken gegen alle Zuwendung seines Mitmenschen und die Umkehrung ihrer Aufforderungen in ein gegenteiliges Verhalten [. . .] Darüber hinaus verstehe ich den schizophrenen Negativismus als die Handlungsgestalt des negativen Seinsgefühls und der Destruktivität des Kranken. Die affektive Grundlage des Miteinanderseins fehlt, ebenso wie auch jede affektive Grundlage zur Entschlussfähigkeit: Keine Vorstellung, Intention oder Entscheidung erreicht die nötige Intensität, um sich von der Gegenvorstellung abheben, differenzieren zu können« (S. 30). Versetzen wir uns versuchsweise in die Lage des schizophrenen Menschen. Sowohl Fragmentierung, also Auflösung des Ich, wie auch Autismus, also das Abkapseln des Ich, führen weg von der Möglichkeit, wirklich mit einem Gegenüber zu kommunizieren, sich mit ihm auszutauschen. Es ist eher ein Reden mit oder zu sich selbst, der Austausch mit Teilen des eigenen Ich. In beiden Extremen – Fragmentierung und Autismus – verliert sich das Ich letztendlich: entweder in der Auflösung im Nichts (Negativexistenz) respektive der Fusion mit der Welt (Superexistenz) oder in 47
der Verdichtung im Eigenen, Eigenweltlichen mit der Folge der Selbst- aber auch Fremdverborgenheit. Der Negativismus kann, wie alle Erscheinungsformen der drei Primärsymptome, auch als sekundäre, psychodynamische Folge der anderen Primärsymptome verstanden werden. Hier bedeutet dies, dass der Schizophrene im Negativismus eine Möglichkeit findet, sich dialogisch abzugrenzen. Wenn ich mich der Zuwendung des Gegenübers, der Welt entgegenstelle, wenn auch um den Preis dieser Zuwendung, bin ich. Negativismus wird zu einer verzweifelten Leistung der Selbstrettung. Die Energie zu Entscheidungen bei einer Auswahl fehlt (Ambivalenz). Negativismus aber ist nicht die Antwort auf eine Auswahl, sondern die Antwort auf den Ich-Verlust. Bei der Annahme eines Angebotes verliert sich der Schizophrene durch die Fusion mit dem Anbieter. Es wäre also nur eine Weiterführung der Fragmentation. Jede Krankenschwester und jeder Pfleger kennt die Situation, in der dem Patienten ein attraktives Angebot gemacht wird, um ihn aus seiner Welt herauszuholen und die Antwort meist Nein lautet. Dieses Nein ist jedoch nicht als Ablehnung zu verstehen, auch nicht als Antwort auf die Wahl zwischen Ja und Nein, sondern Rettung des Ich vor der Fusion und des Sich-Verlierens. So gesehen ist das Angebot von außen eine konstruktive Hilfe für den Schizophrenen, weil es ihm die Möglichkeit gibt, sich kurzzeitig abzugrenzen und damit sich selbst indirekt zu definieren. Das ist keine Theorie, wie ich an folgendem Beispiel aufzeigen möchte: Ein Patient verhielt sich auf Station sehr eigensinnig, entzog sich allem, lehnte jedes Angebot launisch ab und wurde mehr und mehr zum Eigenbrötler, zum Sonderling. Zudem war er dem Pflegepersonal mitunter auch unheimlich. Man wusste nicht, wie gefährlich er werden könnte, wenn man zu beharrlich bliebe. Ich beschloss, ihm eine Therapie anzubieten. Er lehnte ab. Ich bot ihm an, wenigstens einmal in der Woche zu mir ins Büro zu kommen und mit mir einen Tee zu trinken, was er als Angebot wohl annahm, aber ohne sichere Zusage, dann auch zu kommen. Die Abmachung lautete konkret: Ich bereite alles für einen Tee in meinem Büro vor und warte 15 Minuten auf ihn. Wenn es ihm nicht möglich ist zu kommen oder er nicht kommen will, gehe ich in die Cafeteria Tee trinken.
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Beim ersten Termin wartete ich vergeblich, beim zweiten kam er und von da an einige Male regelmäßig. Die Begegnungen dauerten jeweils fünf bis zehn Minuten, Tee trank er nur wenige Schlucke. Ich begrüßte ihn erfreut, aber nicht überschwänglich. Ein Gespräch kam nie zu Stande, eher führte ich einen Monolog oder stellte belanglose Fragen, auf die er mit Ja oder Nein antwortete. Einmal kam er nicht. Auf dem Weg zur Cafeteria begegnete ich ihm und er war sehr angespannt, aggressiv und wartete offensichtlich auf mich, hatte aber gleichzeitig auch Angst, mir zu begegnen. Ich ging auf ihn zu und spürte, dass die Anspannung in ihm wuchs, worauf ich es dabei beließ und sagte: »Ist schon in Ordnung, ich melde mich später wieder«, und in die Cafeteria ging. Von der Station wurde berichtet, dass er voller Angst, aber auch Erwartung auf mich wartete. So kündigte ich mich ihm übers Pflegepersonal an und bat ihn, diesmal mir einen Tee vorzubereiten, wenn ich zu ihm käme. Das tat er. Beim Gespräch, das nun zum ersten Mal in Gang kam, war er sichtlich entspannt. Er erzählte mir, wie erfreut er über die Einladung anfänglich gewesen sei, mit mir in meinem Büro Tee zu trinken, aber dass es ihm auch Angst machte. Er glaubte, ich wolle ihn so zur Therapie zwingen, bei der er sich verlieren würde. Im Weiteren wurde klar, dass er zunächst mit sich kämpfte zu kommen, weil er trotz der Angst Lust dazu hatte. Deshalb erschien er zum ersten Termin nicht. Er grenzte sich beim ersten Besuch, den er nicht wahrnahm, im Sinne des Negativismus ab. Mit dem Nichtkommen war er. Dann wurde es zur Ambivalenz im Sinne einer Wahl, denn er hatte schon einmal Nein gesagt und es geschah ihm von meiner Seite nichts Negatives, was er aber befürchtet hatte (deutliche Ich-Du-Definition). Er konnte sich jetzt dafür entscheiden, doch zu kommen. Als es zur angenehmen Gewohnheit wurde, mich zu besuchen, begann er sich erneut zu verlieren. Er konnte nicht kommen und doch wollte er. Ambivalenz und Negativismus standen sich nun im Kampf gegenüber. Als ich, wie verabredet und von ihm erwartet, in der Nähe der Cafeteria auftauchte, verschärfte sich dieser innere Konflikt. Das nahm ich wahr und ging aus diesem Grund nicht weiter auf ihn zu, hinterließ jedoch ein Angebot aus der Ferne. Als wir darüber reden konnten, entschied sich der Patient, nicht mehr zu mir zum Teetrinken zu kommen. Vielleicht würde er einmal doch eine Therapie beginnen, was wir offen ließen. Die Spannung auf Station war gemindert und er nahm von da an wesentlich öfter Angebote der Abteilung an. Unsere Beziehung war bis zu meinem Weggang distanziert freundlich.
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Dieses Fallbeispiel soll das Kapitel zur Psychopathologie der Schizophrenie beschließen. Ich wende mich im Folgenden der Psychodynamik dieser Störung zu.
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Psychodynamik der schizophrenen Psychosen
Vorbemerkungen Eigentlich müsste man zur Entwicklung der Psychodynamik von allen drei Primärsymptomen gleichzeitig ausgehen. Da dies nicht möglich ist, wähle ich aus rein didaktischen Gründen als Ausgangspunkt meiner Überlegungen die Fragmentation des Ich. Man könnte ebenso gut vom Autismus oder der Athymie ausgehen. Während beim schizophrenen Menschen alles gleichzeitig nebeneinander oder auch hintereinander abläuft, ist der Gesunde nur im Stande, in einer »Buchhaltung« gleichzeitig zu denken. Deshalb bedarf es für uns eines Kunstgriffes, um uns alle Primärsymptome in einer Abfolge vorzustellen. Wir Nicht-Schizophrenen gehen vom Kontinuum der Zeit mit einer Zeitachse aus. Diese bewegt sich für uns nur in eine Richtung, nämlich vorwärts. Ganz anders in der Schizophrenie. Dort sind mehrere Zeitachsen nebeneinander möglich. Diese können sogar ineinander übergehen, sich kreuzen oder parallel laufen, windschief aneinander vorbeigehen und vieles mehr. Die Zeit läuft also nicht einfach linear ab, sondern ist unstetig, macht Sprünge und kann durchaus rückwärts laufen oder stehen bleiben. Wie das beim Einzelnen genau abläuft, hängt unter anderem von den inneren Grenzen im Ich, der Abgegrenztheit oder der diffusen Vermischung der einzelnen Buchhaltungen sowie von der inneren Konstruktion der jeweiligen Wahnwelt ab und ist bei jedem Schizophrenie-Kranken anders. Das Leben des Schizophrenen ist anstrengend, die Orientierung kann sehr schwierig werden. Die Sicherheit von Ort und Zeit ist nicht mehr garantiert. Nicht einmal eine Sicherheit zur eigenen Identität ist ihm immer gewiss, wie wir im vorangehenden Kapitel an Beispielen gesehen haben. Dies schließt nicht aus, dass der Schizophrene 51
unsere Fragen, zum Beispiel im Rahmen einer psychopathologischen Untersuchung, trotzdem exakt und richtig beantworten kann. Wir meinen dann, manchmal auch irrtümlich, er sei eindeutig und allseits orientiert. Ein anderes Mal hingegen wird die Verwirrung oder die Mehrspurigkeit seines Denkens in verschiedenen Systemen, die sich auch durchmischen können, sofort deutlich und manifestiert sich in entsprechenden Antworten bei der Klärung seiner Orientierung oder im Verlauf eines hoch psychotischen Mono- oder Dialogs. Die Psychodynamik der Schizophrenie gibt es nicht. Ich werde einige ausgewählte, klinisch relevante Psychodynamiken modellhaft darstellen. Sie können uns helfen, unser schizophrenes Gegenüber besser zu verstehen und uns ihm anzunähern.
Fragmentierung: Der unausweichliche Weg in den Wahn Wenn wir uns die Fragmentierung des Ich als unaufhörlichen Prozess ohne Gegenkraft vorstellen, so zerfällt das Ich stetig weiter – so weit, bis keine Strukturen mehr erkennbar sind und wir es bildhaft im Modell nur noch als chaotischen Punkthaufen, aufgegangen in der Umwelt, darstellen können (Abbildung 7). Aber wie geht es dann weiter? Und welche Kräfte stehen dem Schizophrenen zur Verfügung, die Fragmentation zu bremsen, aufzuhalten oder abzulenken? Kann er sie aufheben, rückgängig machen und sich wieder zu einem Ganzen zusammenfügen? Gleicht dieses Ich dann dem Ich vor dem Zerfall? Klare, endgültige Antworten werde ich darauf nicht geben können, ich kann jedoch Modelle aufzeigen, um sich solchen Fragen zu stellen. Ich folge dabei dem Weg von der psychopathologischen Primärsymptomebene zur Psychodynamikebene, vom ganzen Ich zum fragmentierten Ich, und zeige drei Entwicklungen auf, die letztendlich alle im Wahn münden – allerdings in einem Wahn mit ungleichen Qualitäten und Bedeutungen für den Betroffenen (Abbildung 7). Auch wenn der von außen wahrgenommene Wahn auf den 52
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Abbildung 7: Wahnbildungsformen
ersten Blick oft ähnlich wirkt, kann man doch verschiedene Formen unterscheiden. Benedetti schreibt zur Wahnbildung: »Wir unterscheiden den Wahn, der Ausdruck einer Abwehr ist vom Wahn, der Anzeichen fehlender Abwehr zu erkennen gibt« (S. 106). Hartwich nennt zwei Formen von Wahn, die beide eine Entpathologisierungshaltung einnehmen und viele Jahre Psychiatriegeschichte zusammenfassen: »1. Wahn ist Ausdruck des Versuches, einer unerträglichen Wirklichkeit zu entgehen. 2. Der Wahn ist eine gelungene Kompensation im Sinne einer Selbstheilung« (Hartwich u. Barocka 2004, S. 85). Anlehnend an und ergänzend zu Benedetti und Hartwich unterscheide ich Wahn als Ausdruck der absoluten Abwehrlosigkeit, Wahn als Rückzug oder Flucht (Autismus) und Wahn als aktive progressive, kreative, aber letztendlich nur teilerfolgreiche Abwehr gegen den Zerfall. Insbesondere in den letzten zwei Formen finden andere psychodynamische Ansätze, wie der Wahn als Parakonstruktion im Sinne eines Gegenregulationsmechanismus (Hartwich u. Barocka 2004), ihren Platz. Auch das Konzept des psychotischen Dilemmas, welches Mentzos (2003, S. 62ff.) ausführt, wird in meinen Überlegungen berücksichtigt. Einige konkrete Wahnformen führe ich explizit aus und erkläre diese aus psychodynamischer Sicht.
Wahn als Ausdruck der Abwehrlosigkeit Wenn die Fragmentation des Ich unaufhörlich weiterschreitet, weil das Abwehrpotenzial auf das Minimale geschrumpft ist, das heißt, die Energie für die Abwehr und Bremsung der Fragmentation nicht oder kaum mehr zur Verfügung steht, löst sich das Ich mehr und mehr auf. Es geht soweit, bis es keinen Unterschied zwischen außen und innen mehr gibt, weil weder die Ich-Grenze noch die Strukturen und Vernetzungen diesen Prozess überstehen. Das nennt Benedetti auch Negativ-Existenz: »Mit den Begriffen ›Nicht-Existenz‹ oder ›Negativ-Existenz‹ versuche ich ein anthropologisches Konzept darzulegen, das über das hinausgeht, was 54
man im streng medizinischen Sinne als Schizophrenie bezeichnet. Damit möchte ich nur die geistige Befindlichkeit dieser Patienten beschreiben: eine Art Erfahrung der Nicht-Existenz [. . .] Man könnte auch die Bemerkung anbringen, dass die Erfahrung der Nicht-Existenz eine Folge der psychischen Fragmentierung ist: sobald sich die psychischen Strukturen (denen wir das Bewusstsein verdanken) auflösen, fällt die Existenz der Zerstörung anheim.« Weiter schreibt er zum Erleben des Patienten: »Negativ-Existenz stellt nur die Erlebnisseite des Ichzerfalls dar« (S. 48f.). Irgendwann bleibt dem wehrlosen, sich auflösenden Ich des Patienten unter Umständen nur noch die Identifikation mit der Welt oder Teilen davon übrig, in der er symbiotisch verschmelzend aufoder besser gesagt untergeht. Der Preis ist in diesem Fall der Verlust der eigenen Identität (Negativ-Existenz), Folge davon ist die Verwechslung von sich mit der Welt. Dem Schizophrenen bleibt lediglich noch die Identifikation mit den mächtigen Kräften wie Gott oder Teufel. Diese Macht, also er selbst, ist jetzt Lenker der Weltereignisse und zugleich Lenker des eigenen Zerfalls. Benedetti nennt dies Superexistenz: »Dem progressiven inneren Kleiner-Werdens setzen die Kranken das sich steigernde Gefühl entgegen, die Lenker dieses Zerfalls – den ich auch ›psychotische Superexistenz‹ nenne – zu sein. Die negative Allmacht ist das Spiegelbild der negativen Existenz, ist deren bittere Alternative« (S. 63f.). Gleichzeitig ist für den Patienten auch das verschwindende Ich so präsent, dass er paradoxe, widersprüchliche Aussagen zu sich in der Welt macht. Ich möchte dies an einem eindrücklichen Beispiel aufzeigen, das ich vor Jahren in meiner Klinikzeit mit einer Patientin erlebt habe. Am Morgen des Beginns des 1. Golfkriegs begegne ich der Patientin auf der Hauptstraße der Klinik. Sie kommt, kaum sieht sie mich, mit erhobenen Armen und wild gestikulierend auf mich zugerannt und sagt verzweifelt: »Ich habe mich in der Nacht im Bett umgedreht und den Golfkrieg ausgelöst und jetzt reden alle darüber.« Die Großartigkeit, den Golfkrieg auslösen zu können, mischt sich mit der Verzweiflung, nichts dafür oder dagegen tun zu können, da es ihr einfach passiert sei, nämlich im Schlaf, beim Umdrehen im Bett. Im nächsten Satz, in welchen sie ohne Pause überleitet, berichtet sie mir: »Frau T. hat mich beim Frühstück wieder völlig fertiggemacht.«
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Allmacht und Ohnmacht sind in einer verzweifelten Patientin vereint, die sich kaum mehr mit einer eigenen Identität in der Welt bewegen kann. Alles ist vorgegeben und gesteuert durch die »Anderen«. Ihr bleibt nur noch die Verschmelzung mit der Welt und die Identifikation mit dem Mächtigen, der lenkt und steuert. Gleichzeitig fühlt sie ihre schwindende, kleiner werdende Existenz gegenüber der in ihren Augen mächtigen Mitpatientin, der sie sich ausgeliefert fühlt. Sie gewinnt im ersten Satz ein bisschen Existenz für den hohen Preis der sie fast erdrückenden Schuld, Krieg ausgelöst zu haben. Im zweiten Satz wirkt die Abgrenzung zur Mitpatientin zwar existenzversichernd, aber auch nur mit dem Resultat des hilflosen Gefühls, ausgeliefert zu sein, zum Nichts zu werden – ein Geschäft, dass wir wohl kaum freiwillig eingehen würden. Die Kehrseite zeigt sich klinisch in mutistischen und katatonen Zuständen, im starren Verharren. Der schizophrene Mensch ist dann nicht mehr. Die zunehmend bedrohlichere Wahrnehmung, das Gefühl der Ich-Auflösung und die damit verbundene, steigende innere Spannung und existenziell-bedrohliche Angst können nur noch durch Unbeweglichkeit und Erstarrung ausgehalten werden. Solche Zustände können auch plötzlich in den Raptus umschlagen, in die Explosion und Entladung dieser Spannung. Negativ-Existenz hat viele Gesichter, einige werden später dargestellt.
Wahn als Rückzug oder Flucht Wenn die Fragmentation gebremst oder umgelenkt werden kann, dann löst sich der schizophrene Mensch in seinem Gefühl nicht einfach auf, sondern rettet sich mit einem Teil der Fragmente des Ich in eine eigene Welt. Auf diese Weise erhält der Kranke wieder eine Existenz, allerdings eine wesentlich veränderte. Falls der Weg in den Autismus beschritten werden kann, ist die eigene autistisch zugepanzerte Welt irgendwann vom Rest der Welt abgeschnitten. Zwar ist die Existenz so etwas besser gesichert, da es keine äußere 56
Bedrohung mehr gibt, jedoch führt Autismus in eine Isolation: Eine Existenzsicherung durch die Abgrenzung zur Welt ist nicht mehr möglich, der Kranke muss für sich allein stehen. Mentzos schreibt dazu im Zusammenhang seiner Darstellung des psychotischen Dilemmas: »Er versucht sich dagegen zu schützen, entweder durch einen totalen Rückzug zum Autismus – was aber den Objektverlust bedeutet – oder umgekehrt durch die ebenfalls totale Fusion und Verschmelzung mit dem Objekt – was den Selbstverlust impliziert« (2004, S. 77). Im Fall des Autismus steht etwas mehr Abwehrpotenzial zur Verfügung als im Fall der totalen Auflösung. Der Gewinn ist die Rettung in eine eingepanzerte, einsame Identität, die von uns draußen in der Welt nicht mehr gesehen und verstanden wird. Der Schizophrene kann uns im Extremfall nicht mehr erreichen. Ich nehme an, dass sich der Fragmentationsprozess auch im autistisch-eingeschlossenen Ich weiter fortsetzt, zumindest in der akuten Phase der Psychose, die Jahre dauern kann, auch wenn dies klinisch nicht unbedingt auffällt. Wir begegnen einem unerreichbaren oder nur schwer erreichbaren Gegenüber, das sich eingekapselt hat. Benedetti schreibt zum Autismus, der hier psychodynamisch betrachtet wird: »Aber der eigentlich Schizophrene kontrolliert seine gespaltene Welt im wesentlichen durch die autistische Auseinandersetzung mit der Spaltung, durch eine daraus entstehende Welt von eigentümlichen ›privaten‹ Symbolen der Weltereignisse, die man durch einen ›Verstehenssprung‹ vom Allgemeinmenschlichen Reproduzierbaren, zum Gespaltenen, Unvollziehbaren und uns doch Erschütternden verstehen kann [. . .] Der Autismus ist die Rettung der Individualität in eine die Individualität par excellence zerstörende Psychose« (S. 23). Auch die autistische Abwehr darf man sich in der Schizophrenie keinesfalls als aktive und/oder bewusst eingesetzte Abwehrstrategie vorstellen, vielmehr passiert dies autonom mit der noch zur Verfügung stehenden Energie – quasi wie der Autopilot ein Flugzeug so lange steuert, wie Energie vorhanden ist, wobei der Autopilot nicht abgeschaltet werden kann, wenn der Pilot selbst ausgefallen ist. Die Aktivität des Schizophrenen besteht mehr in der Ausgestaltung der Abwehr und wie diese (aus)gelebt wird. Wenn 57
sich also der schizophrene Mensch zum Beispiel selbst verletzt, so geschieht es ihm. Er kann meist nur tun, was ihm im Wahn befohlen oder von ihm abverlangt wurde. Er ist im Allgemeinen nicht mehr oder nur vermindert zurechnungsfähig und bestimmt im eigenen Erleben sein Handeln nicht mehr bewusst selbst. Die existenzbedrohende Angst, die der Schizophrene nicht einfach nur spürt und wahrnimmt, sondern die er selbst ist, kann kaum abgewehrt werden. Der Borderline-Persönlichkeits-organisierte Mensch berichtet hingegen: »Ich musste mich schneiden, sonst wäre ich durchgedreht«. Er erlebt sich selbst als entscheidende und handelnde und damit in der Ohnmacht doch auch noch handlungsfähige Person, welche der Angst, Durchzudrehen, etwas entgegenzusetzen hat. Der Zustand des Autismus bleibt beim Schizophrenen nicht einfach stabil und stationär. Der Schizophrene pendelt lange Zeit zwischen Fragmentierung und Autismus hin und her, fast vergleichbar mit einer chemischen Gleichgewichtsreaktion. Der Ausbau des autistischen Wahns kann, wie bei vielen anderen Wahnsystemen auch, manchmal Jahrzehnte dauern, um sich dann in einem stabil-labilen Gleichgewicht zu beruhigen. Erst jetzt findet der schizophreniekranke Mensch Ruhe im »Eigenheim« Wahn. Benedetti schreibt dazu: »Für den Ausbau dieser Abwehrstrategien opfert der Patient unter Umständen zwanzig, dreißig Jahre seines Lebens. Die Verfeinerung des Abwehrsystems, wird zum Hauptziel seiner Existenz. Es wäre ein therapeutischer Nonsens, wollte man sich darauf versteifen, das wahnhafte Meisterwerk eines chronisch Schizophrenen zu zerstören. Uns fällt nur die Aufgabe zu, seine Kreativität in der Psychopathologie anzuerkennen« (S. 117). Ich bin der Meinung, dass der Rückzug in den autistischen Wahn, in ein ausgebautes autistisches Wahnsystem, viel Energie verbraucht, aber das Resultat den Kranken dennoch von uns fernhält und sein Leid nur sehr beschränkt lindert. Es ist für mich daher eine teilerfolgreiche Abwehrstrategie, aber nicht der kraftvollen Art, wie es sich beim kreativen und progressiven Wahngeschehen, beispielsweise beim Verfolgungswahn, zeigt. Dort bleibt der Schizophrene mit uns im Kontakt, er braucht uns für seine 58
Abwehr und für seine Wahnbildung, wir werden einbezogen, eingebaut, ja wichtiger Bestandteil seiner Überlebensstrategie. In diesem Fall steht mehr aktives Abwehrpotenzial zur Verfügung als beim Autismus.
Wahn als progressive Antwort auf die Fragmentation des Ich Natürlich steht auch hier die Bedrohung und Angst, sich in der Negativ-Existenz zu verlieren, im Vordergrund. Nur steht hier im Rahmen der Wahnbildung mehr Energie für die Abwehr (im Sinne der Parakonstruktion) zur Verfügung. Ich werde diesen Weg in den Wahn hier nicht ausführlich darstellen. Zwei eindrückliche Fallbeispiele, welche das Resultat einer jahrelang entwickelten Wahnbildung zeigen, sowie einige ergänzende theoretische Bemerkungen sollen zur Verdeutlichung dienen. Eine damals ungefähr Mitte 50-jährige Patientin mit etabliertem, kompliziertem Wahnsystem wohnte schon seit Jahren auf der Langzeitstation. Sie besuchte regelmäßig die im Nebenhaus stattfindende Ergotherapie. Einst erklärte sie der Psychiatrieschwester, warum sie dort manchmal 30 Minuten zu spät ankomme, obschon sie rechtzeitig von der Station losgehe. Auf dem Weg dahin zerfalle sie andauernd und müsse sich zuerst wieder zusammenfügen, um weitergehen zu können und möglichst als Ganzes und vollständig anzukommen. Das Sich-Zusammensetzen tat sie jeweils mit den eigenen Ritualen von wiederholten Verbeugungen in Richtung der Station, wo sie herkam, und Verbeugungen in Richtung des Gebäudes, wo sie hinwollte, was dem Betrachter doch sehr wirr und eigenartig vorkommen musste. Im gleichen Wahn begründet, schloss sie nie die Tür hinter sich, wenn sie einen Raum oder ein Haus betrat oder verließ, auch nicht im Winter. Schloss unmittelbar danach eine Mitpatientin die Tür, kehrte sie um und öffnete diese wieder. Darauf angesprochen erklärte die Patientin, dass die Tür offen bleiben müsse, bis alle ihre Teile nachgekommen wären. Eines Tages versuchte sie der Psychiatrieschwester die erlebte Fragmentation und die Körpergefühlsveränderung klarzumachen. Immer wenn sie die Treppen hinuntersteige, verkleinere sie sich mit jeder Stufe. Um dies zu
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demonstrieren, stieg sie die Treppe vor der Schwester hinab und rief ihr zu: »Sehen Sie, jetzt passiert es schon wieder!«
Von dieser Patientin und ihrer etablierten Wahnwelt gäbe es noch vieles zu erzählen. Sie steht jedenfalls in engem Kontakt zur Umwelt, baut diese ein und verwendet den Wahn auch, um sich gegen den Zerfall »erfolgreich« zur Wehr zu setzen und sich mitzuteilen, zu erklären, im Kontakt mit der Welt zu sein. Wahn ist so zum großen Teil eine aktive und teilweise auch »erfolgreiche« Abwehrund Überlebensstrategie: erfolgreich in dem Sinne, dass Angst gemindert und der Kontakt zur Umwelt gehalten werden kann, wenn auch um den Preis des teilweisen bis größtenteils wahnhaften Erlebens von sich und der Welt. Es gibt ganz persönliche Aspekte, die in der Wahnbildung eine wichtige Rolle spielen und den Wahn gestalten. Die Wahnbildung ist eine individuell geprägte Konstruktion, wenn auch gewisse Gesetzmäßigkeiten in (fast) jedem Wahn wieder zu finden sind. Wir müssen daher das Wahnkonstrukt eines jeden schizophreniekranken Menschen individuell verstehen lernen, soweit es überhaupt möglich ist, den Wahn wirklich zu verstehen. Erst so gelangen wir von der Psychopathologie, die wir im Psychostatus erheben können, zum psychodynamischen Verständnis des jeweiligen Wahngebildes dieser Person. Warum aber sollen wir den Kranken verstehen und ihn nicht einfach lassen, könnte man sich fragen? Ein weiteres eindrückliches Beispiel von einer meiner Patientinnen, welche über Jahrzehnte an ihrem Wahnsystem gearbeitet hat, macht dies klar. Eine damals bereits über 80-jährige Frau mit einem seit ihrer Jugend bestehenden Wahnsystem wohnte auf der Langzeitstation, die ich damals leitete. Beliebt, fleißig, überall mithelfend, aber auch distanziert und unnahbar, fast distinguiert wirkend und sonderbar in ihrer Welt lebend, fiel sie auf den ersten Blick nicht auf und war »pflegeleicht«. Seit Jahren kehrten in großen Abständen, aber regelmäßig, Phasen wieder, in welchen sie plötzlich ihr Geld verschenkte, Kleider verteilte, sich weigerte zu essen und zu trinken. Früher führte dies oft zu dramatischen Interventionen gegen ihren Willen. Dies wollte ich nicht wiederholen. So nahm ich mir die Zeit, mit ihr zu sprechen. Um mehr über sie zu erfahren, studierte ich vorgängig die umfangreiche Krankenge-
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schichte und sprach mit langjährigen Mitarbeitern auf der Station. Gestalten, die sie bestraften, waren für diesen Aspekt ihres Wahns, der nicht ständig im Vordergrund stand, aber sich wiederkehrend bemerkbar machte, prägend und fokussierten ihre Wahrnehmung in dieser Zeit jeweils explizit darauf. Für einen Blick, den sie als Kind an einem Sonntag aus der Kirche kommend einem jungen Mann zugeworfen hatte, sollte sie nun büßen. Die Stimmen befahlen ihr jeweils, sich auf den nahenden Tod vorzubereiten und sich zu verabschieden. Trotz Hunger und Durst war es ihr verboten, Nahrung zu sich zu nehmen. Sie litt in diesen Phasen unglaublich, weshalb früher, jeweils gegen ihren Willen, medikamentös interveniert werden musste, was für die Patientin allerdings sehr traumatisch war und die Beziehung zu den behandelnden Personen im Team gestört und oft für längere Zeit von ihr abgebrochen wurde. Dies führte unweigerlich zu Spannungen auf der Station. Es gelang mir in einer solchen Phase, in Dialog mit der Patientin zu treten. Da ich Bezug auf ihre Geschichte und ihr Wahnsystem nehmen konnte und zudem sehr empathisch und besorgt mit ihr umging, (v)erkannte sie mich wahnhaft als den »guten Engel«, der ihr doch noch eine Chance zum Weiterleben schenkte. (Dies ist laut Benedetti ein Beispiel für progressive Psychopathologie.) Kaum war diese Phase vorüber, weigerte sie sich, mit mir zu sprechen und bezeichnete mich als frechen Jungen, der auf der Station eigentlich nichts zu suchen hätte. Kamen die Phasen des Abschieds wieder, so reichte es fortan, dass ich vorbeikam und sie »befreite«. Es wurde möglich, auf der Station auch andere Personen einzubeziehen, so dass es nicht nur von mir abhing, intervenieren zu können. Ihr doch erhebliches und sie vital bedrohendes Leid in diesen Zeiten konnte fortan ohne Zwangsmaßnahme schnell und anhaltend gemildert werden.
Dafür braucht es das Sich-Einlassen, die Bereitschaft, tiefes Verstehen zu lernen, sich mutig und aktiv in den Dialog zu begeben und die Einsamkeit zu durchbrechen, um damit neue Möglichkeiten zu eröffnen, allerdings ohne sie erzwingen zu wollen. Ich musste zudem akzeptieren lernen, dass die die Patientin verständlicherweise zunehmend bedrängenden Themen wie die des Sterbens und des Todes einem Dialog nicht zugänglich gemacht werden durften. Eine wahnexterne Deutung wurde bei dieser Patientin nicht mehr möglich. Es gibt Formen des Wahns, die wir immer wieder antreffen, sei es der Verfolgungswahn, Liebeswahn oder Beziehungswahn. 61
Wenn man sich die einzelnen Formen genauer ansieht, merkt man bald, dass sich das Gemeinsame auf die Hülle, auf die Grundkonstruktion beschränkt. Das Wissen und Verstehen der Grundkonstruktion kann in der psychotherapeutischen (Klein-) Arbeit mit dem Patienten nur eine untergeordnete Rolle spielen. Somit wird es auch den psychotherapeutischen Weg oder die Methode zur Behandlung zum Beispiel des Verfolgungswahns nicht geben. Nun folgt das Wichtigste, das alles noch komplexer und komplizierter macht: Die Primärsymptome (Fragmentation, Autismus und Athymie) müssen nicht zwingend in einer Reihenfolge chronologisch hintereinander ablaufen, sondern können parallel im gleichen Ich oder Teilen davon – also in verschiedenen Sektoren, soweit noch vorhanden – zur gleichen Zeit auftreten. Ebenso finden wir unter Umständen sogar alle drei Wahnvarianten bei der gleichen Person. Sowohl das fragmentierende Ich wie die sich dynamisch weiterentwickelnden Wahnsysteme bewegen sich teils unabhängig voneinander. Manchmal bewegt sich der Schizophrene durch das Universum seiner (stabilen) Wahnsysteme, um sich so vor der Fragmentation des Ich zu schützen und manchmal bewegt sich der Wahn durch sein Ich und gibt ihm so existenziellen Halt gegen die Fragmentation. Beides kann auch zugleich geschehen. Wir hingegen begegnen der schizophreniekranken Person nur in einem Bereich des komplexen Wahnsystems. Das muss noch lange nicht »das ganze Haus und alle Zimmer« sein. Insbesondere autistisch abgeschottete Wahnräume bleiben uns oft jahrelang oder gar für immer verborgen.
Schizophrene Wahnbildung Benedetti schreibt zur schizophrenen Wahnbildung einführend: »Bei beginnender Ich-Auflösung nimmt der Wahn den Platz der nunmehr ausgefallenen Abwehr ein. Alles Geschehen der Außenwelt verstrickt sich mit dem Ich des Kranken, alle Objekte stülpen sich in sein Ich ein« (S. 106). Es ist mir wichtig, neben den allgemeinen Unterscheidungen, die ich zuvor traf – Wahn als Aus62
druck der Abwehrlosigkeit, Wahn als Rückzug und Wahn als aktive progressive Abwehr –, auch den graduellen Unterschied von Wahn sowie seine jeweilige Beziehung zur Ich-internen Umgebung und seine eigentliche Ausgestaltung aufzuzeigen. In unserem Alltag passiert es im Stress nicht selten, dass nur das Kranke gesehen wird, weil es sich in den Vordergrund unseres Blickes und unserer Betrachtung schiebt. Unsere so eingeschränkte Sichtweise kann für den Patienten fatale Folgen haben. Dies werden wir auch im Zusammenhang mit der Behandlung der BorderlinePsychose diskutieren. Ein Wahn kann strikt eingegrenzt sein und bleiben (z. B. Paranoia) oder sich über viele Sektoren erstrecken. Angrenzende Ich-Bereiche können von der Wahnbildung unberührt sein und bleiben. Im Rahmen von Wahnverschiebungen oder Rückbildungen können einzelne Bereiche wieder wahnfrei werden. Unbedingt hinweisen muss ich auf die Sprache und Mitteilungen des Kranken durch den Wahn. Die Mitteilungen, welche auch an uns gerichtet sind, müssen richtig verstanden werden. Was wir hören und glauben daraus zu verstehen, muss nicht identisch sein mit dem, was der Patient uns sagen will. Es sind Botschaften aus einer anderen Welt. Wenn sie nicht gehört, übersetzt und verstanden oder medikamentös in den Hintergrund gedrängt werden, kann das schlimme Auswirkungen auf das Leben des Patienten in unserer Welt haben, insbesondere auf seine weitere, nun zwingende Fortsetzung der Wahnbildung. Ich zeige diesen Aspekt am Beispiel eines »normalen« Dialogs auf, der aus Missverständnissen bestand. Der Patient wurde, bevor ich ihn kennen lernte, auf einer kleinen Intensiv-Rehabilitations-Station einer Klinik behandelt. Nach anfänglich erfreulichem Verlauf beschmierte er eines Tages unerwartet sein Zimmer mit Kot und lag unerreichbar, zurückgezogen und halluzinierend in einer Ecke. Sein Therapeut bat mich, ihn auf unsere Akut- und später Langzeitstation zur medikamentösen Behandlung und weiteren Versorgung aufzunehmen, da er nicht rehabilitierbar sei. Erstaunlicherweise reagierte der Patient auf die Mitteilung, verlegt zu werden, gut und kam freiwillig, selbstständig und gern mit. Ich entschied mich, ihn direkt auf die Langzeitstation aufzunehmen und intensiv zu behandeln. Er ließ sich von Anfang an auf Gespräche mit mir ein und teilte mit,
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dass er auf der Rehabilitationsstation genauso wenig verstanden worden sei wie vor Jahren bei der Erstaufnahme in einer anderen Klinik: Er wurde seinerzeit vom Arzt bei der Aufnahme gefragt, ob er Stimmen höre. Zwar wunderte er sich, dass der Arzt offenbar sehr schlecht hören musste, wenn er diese schrillen Stimmen im Raum nicht selbst wahrnehmen konnte, war jedoch sehr erleichtert, dass offenbar jemand sein Leid, von diesen Stimmen belästigt und drangsaliert zu werden, erkannte und bejahte die Frage. Daraufhin erhielt er lediglich Medikamente, was er nicht verstand. »Wenn der andere die Stimmen nicht selbst hört, warum lässt er es sich dann von mir nicht sagen, was die da reden, warum schimpft er nicht mit ihnen und sagt ihnen, dass sie aufhören sollen?«, fragte sich der Patient verwirrt. Die Neuroleptika, welche er erhielt, ermüdeten und schlossen ihn nach seinen Worten mit den Stimmen so ein, dass er den Kontakt zur Außenwelt fast vollständig verlor und diesen Wesen noch mehr ausgeliefert war. Er konnte sich kaum noch bemerkbar machen. Von weitem hörte er am nächsten Tag die Stimme des Arztes, der ihn erneut nach den Halluzinationen fragte und er in seiner nun gesteigerten Verzweiflung bejahte erneut, in der Hoffnung, dass ihm nun richtig geholfen werde. Er wollte sich mitteilen und wenigstens nicht mehr damit allein gelassen werden. Die erneut erhöhte Neuroleptika-Dosis trieb ihn derart in Verzweiflung, dass er auf das Dach der Klinik stieg, um sich hinunterzuwerfen. Ein aufmerksamer Mitpatient rettete ihm das Leben. Er beschloss nach diesem Ereignis, nie mehr jemandem von seinen Stimmen zu berichten. Von da an blieb er damit allein und entwickelte seine eigene Abwehr. Er verstand das gerettete Leben als Hinweis, leben zu müssen und begann die Stimmen in einem ausgeklügelten Wahnsystem unterzubringen. Die Bedrohung war zwar nicht verschwunden, aber durch die Einbettung und Verknüpfung in eine komplexe Ordnung seiner Wahnwelt vermindert und zum Teil sogar von ihm steuerbar. Ich fragte in unserem Gespräch vorsichtig weiter, weil ich aus den Mitteilungen an mich indirekt zu entnehmen glaubte, dass er sich jetzt öffnen und mir Einlass in seine innere Wahnwelt verschaffen wollte. Er wiederum wagte sich ebenso vorsichtig vor und berichtete mir schrittweise davon, was ihn auf der Rehabilitationsstation zur Verzweiflung getrieben hatte. Weitere Gespräche eröffneten mir einen Zugang zu ihm und ich begann, seine Welt etwas besser zu »verstehen«. Er wiederum nahm die von mir angebotenen Medikamente an. Er litt nach wie vor sehr und starrte mich oft angstvoll an, was ich nachfragend spiegelte. Wir vereinbarten, uns
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anfänglich stündlich über die Wirkung der Medikation auf ihn auszutauschen und diese gemeinsam anzupassen. Als er wenige Wochen später aus der Klinik in ein Wohnheim zog, bedankte er sich bei mir in gesprochenen Bildern: »Ich war solange in einem goldenen Käfig isoliert und einsam eingesperrt, hatte den Schlüssel für das Schloss an einer Kette um den Hals gehängt, aber so gedreht, dass der Schlüssel für mich unsichtbar und nicht spürbar auf dem Rücken lag. Sie haben mir geholfen zu merken, dass man die Halskette auch drehen kann. So konnte ich den Schlüssel nach vorne kriegen, ihn entdecken und dann meinen Käfig damit öffnen. Jetzt kann ich, wie ein Vogel, glücklich aus dem Käfig in die weite Welt fliegen, die ich zuvor nur von weitem und für mich unerreichbar gesehen hatte.«
Ich treffe diesen Patienten auch heute noch von Zeit zu Zeit zufällig auf der Straße. Es sind jeweils kurze Begegnungen mit einem Menschen, der nun seit über 15 Jahren außerhalb der Klinik sein Leben glücklich lebt und nur vor Jahren noch einmal für kurze Zeit in einer Krise in die Klinik eintreten musste. Er wurde vor dem Übertritt auf meine Station auf der Rehabilitationsstation nicht gehört. Seine wirren Mitteilungen im Halluzinieren wurden nicht verstanden, weil er sich in den Jahren seiner Krankheit trotz der wiederkehrenden Klinikaufenthalte zunehmend verschloss und sich von uns entfernt hatte. Es blieb ihm jahrelang nur noch die weitere Ausgestaltung seiner eigenen inneren Welt übrig – mit dem Ziel und der Folge des stabilisierten Wahnsystems. Mein Ziel war es, willkommener Gast in seiner Welt zu werden, zuzuhören, ihn in seiner Sprache und Welt verstehen zu lernen, um in einem Dialog ohne Missverständnisse mit ihm kommunizieren zu können. Es lohnt sich, Gast in fremden inneren Welten zu sein, da uns sonst die schizophrene Wahnbildung aus- und den Patienten in seiner Wahnwelt einschließt und ihm nur noch das Herumirren im selbstgebauten Labyrinth bleibt. Das Ausmaß der schizophrenen Wahnbildung wird von uns zu oft unterschätzt. Deshalb wiederhole ich hier das Zitat von Steck: »Wenn der Versuch scheitert, die Kommunikation mit den Mitmenschen zu erzwingen, entsteht der Wahn« (1951). Ein weiter psychodynamisch wichtiger Aspekt in der Wahnbildung des schizophrenen Menschen ist die Animierung und De65
animierung im Sinne der Abwehr in Anlehnung an Margarete Mahler. Es geht darum, diese Prozesse auf das schizophrene Denken und Fühlen zu übertragen, um so seinen Umgang mit einer für den Patienten unberechenbaren Welt besser zu verstehen. Benedetti beschreibt dies in »Todeslandschaften der Seele« so: »M. Mahler hat eindrücklich beschrieben, wie beim psychotischen Kind ›Entseelungsprozesse‹ in Gang kommen: Indem der kleine Patient sich ausschließlich mit unbelebten Objekten zu umgeben versucht, gelingt es ihm, sich der auf unvorhersehbare Weise stets wechselnden Reizwirkung des lebendigen Objektes zu entziehen« (S. 91). Ich denke zurück an einen Patienten der Klinik, der sein Zimmer bis zum Rande mit Objekten gefüllt hatte und sich auch für längere Zeit dahin zurückzog. Es erschien dem fremden Eintretenden wie eine chaotische Unordnung. Niemand durfte ohne seine Erlaubnis und Begleitung sein Zimmer betreten oder gar etwas darin verändern. Mit der Zeit wurde dies wegen seiner zusätzlich bestehenden Verwahrlosungstendenz zu einem Problem für die Station. Von Zeit zu Zeit wagten sich dann einzelne Personen aus dem Pflegedienst, meist neue Mitarbeiter, entgegen der Abmachung in sein Zimmer und räumten etwas – meist nur Kleinigkeiten – weg, was ausnahmslos zu einem akuten psychotischen Schub des Patienten führte. Er nahm beim Betreten des Zimmers jede kleinste Veränderung sofort wahr, weil seine Welt für ihn dadurch unberechenbar verändert worden war.
Der Patient organisierte einen Teil seiner Außenwelt, nämlich sein Zimmer, zu einem sicheren Ort nach dem Deanimierungsprinzip. Wurde dieses Konzept durchbrochen und gestört, blieb ihm kein anderer Ausweg, als über Animierung alles wieder in den Griff zu bekommen, was nur mit einem paranoid-psychotischen Schub machbar war, in welchem er alles auf sich bezog und entsprechend animiert deutete. So ordnete er selbst alles wieder neu und erlangte auf diese Weise wieder Kontrolle über sich und die Welt. Die Deanimation war hier die erste, und Animation die zweite Abwehr. Benedetti schreibt dazu: »Nehmen wir einmal an, es handle sich bei der Objektanimierung um eine zweite Abwehrform, um eine zweite Verteidigungslinie gewissermaßen, bei der eine neue – entgegengesetzte – Taktik zur Anwendung gelangt. 66
Die gefährliche Welt wird nun statt mit Skotomisierung, Negation und Leere mit Kausalitätsdenken abgewehrt. Die ganze Welt wird in ein System von ›Parakausalität‹ gebracht« (S. 91f.). Diese psychodynamischen Aspekte der Wahnbildung lassen uns Konzepte des Wahns allgemein besser verstehen. Von den unendlich vielen Wahnformen wende ich mich im Folgenden zunächst der wohl häufigsten Form, dem Verfolgungswahn, zu. Meine Ausführungen können sich nur auf die Grundkonstruktion beziehen, denn jeder Verfolgungswahn ist für den jeweils betroffenen Menschen ein »individuelles Werk«.
Formen des Wahns Verfolgungswahn Wenn wir uns nochmals vor Augen führen, dass bei der Schizophrenie sowohl die innere Grenze zum Unbewussten wie die äußere Ich-Grenze durchlässig und beide im Extremfall des Wahnes auch völlig aufgehoben sein können, wird klar, dass Angstauslösendes weder über Verdrängung oder Verleugnung noch mittels Projektion, projektiver Identifizierung und Spaltungsvorgängen allein, wie wir sie von der neurotischen und/oder der borderlineorganisierten Persönlichkeit kennen, abgewehrt werden kann. Die Verlegung in einen sicheren inneren Bunker – in das Unbewusste – oder in die Außenwelt ist nicht möglich. Ständig überflutet unbewusstes Material von innen das zerfallende oder schon fragmentierte Ich. Von außen ist alles gefährlich, was nicht kontrolliert und gesteuert werden kann, weil es ja als Aspekt des Inneren erlebt wird. Die Verfolgung ist aber auch die Existenzgarantie des Schizophrenen. So lange ich verfolgt werde, gibt es mich, nämlich als Verfolgten. Oder wie es Mentzos ausdrückt, indem er den Satz von Decartes (»cogito ergo sum«) umwandelt: »Ich werde verfolgt, also bin ich« (2004, S. 89). Die Verfolgung ist also Garant des Seins und Bedrohung mit Vernichtungsangst in einem und muss daher gesichert werden und erhalten bleiben. Dies kann nur 67
im unantastbaren Wahn geschehen, im Verfolgungswahn, wo Widersprüchliches problemlos nebeneinander untergebracht werden kann. Deshalb fehlt der Verfolgungswahn in der Schizophrenie so gut wie nie. Wie kann es aber ein Außen und Innen geben, wenn doch die Ich-Grenze im Rahmen der Fragmentierung zunehmend aufgelöst wird? Teilantworten bieten uns Konzepte der Dissoziierung wie das von Sullivan und modernere Konzepte wie das Splitting von Kernberg oder Dissoziation, wie sie zum Beispiel von Scharfetter in »Dissoziation, Split und Fragmentation« eindrücklich dargelegt werden. Ich habe schon bei der Fragmentierung des Ich – gestützt auf Benedettis Verständnis der Superexistenz – dargestellt, dass sich das schizophrene Ich fusionierend mit der Welt an sich oder den darin agierenden Mächten identifizieren kann, allerdings unter Opferung der eigenen Identität. Auch möglich und hier relevant ist aber, dass sich das Ich als schuldig am eigenen Zerfall erleben kann, sich also neben sich selbst stellt und so zwei Ich-Bruchstücke entstehen, wovon das eine das eigentliche Rest-Ich darstellt und das andere als Teil der Außenwelt wahrgenommen wird. Es ist, als ob sich das Ich entweder mit dem Einsatz vorhandener Kräfte oder aber mit letzter Energie im Sinne einer inneren Fragmentation selbst»aktiv« in zwei Teile aufsplittet. Das nicht Ich-besetzte Fragment bindet im Gegensatz zur Superexistenz den Rest der Welt an sich (Fusion mit der Welt bedeutet Superexistenz in der Negativ-Existenz). So wird die Außenwelt über die Selbstfragmentierung des Ich-Rests gesichert, allerdings nicht über eine Stabilisierung der Ich-Grenze an sich, sondern um den Preis der Schrumpfung des Rest-Ich und mit einem »Spiegel« des Eigenen in der Außenwelt. Gleichzeitig muss sich das Ich aber mit dem fremden, mit der Außenwelt assoziierten Ich-Teil immer wieder arrangieren, um diesen Teil des Eigenen nicht gänzlich an die Außenwelt abzugeben, wo er unkontrolliert und unwiederbringlich verloren gehen könnte. Diese Form der Spaltung des Teil-Ich in ein Innen und Außen beschreibt auch Sullivan, dessen Konzept der Dissoziierung für das Verständnis des Verfolgungswahns nötig ist. Benedetti führt dazu an anderer Stelle aus: »Unverdrängt tauchen die ›unbewussten‹ Inhalte im Bewusstsein auf, können jedoch in der Folge nicht auf 68
zufrieden stellende Weise ins Ichsystem integriert werden. Sie sind zwar bewusst, gehören deswegen noch lange nicht zum Ich, denn sie erscheinen ihm bloß im Spiegel der Außenwelt, welche dadurch einen beängstigenden Charakter annimmt. Der Patient kann nicht anders, als sich mit den eigenen, von der Außenwelt zurückgeworfenen Inhalten und deren überbedeutungsvollem Symbolwert identifizieren. Die Dissoziierung ist also eine weit primitivere und regressivere Abwehrform als die Verdrängung. Das von Kernberg als ›Splitting‹ bezeichnete Phänomen, bei dem ›gute‹ und ›böse‹ Objekt- und Subjektteile auseinanderfallen, muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Diese archaische Abwehrform bricht später in dem Moment zusammen, in dem sich der Patient mit dem äußeren Objekt, auf das er sein Teilselbst verschoben hat, projektiv identifiziert (Rosenfeld). Wenn wir beide Modelle, das der Dissoziierung und das der Identifizierung, ineinander überführen, merken wir, wie sich das Ich des Kranken vor etwas zu schützen versucht, mit dem es sich gleichzeitig identifiziert. Hierin verbirgt sich nun die Gefahr des lauernden Verfolgers, wie sie sich im schizophrenen Wahn artikuliert. Seine Allgegenwart erklärt sich aus der Tatsache, dass der Patient dem unbewussten Zwang erliegt, ausgerechnet das suchen zu müssen, vor dem er sich am meisten fürchtet. Denn dieses vehement abgelehnte Etwas ist Bestandteil seiner Identität« (S. 76f.). So gelangen wir nun zu den einzelnen Verständnisformen des Verfolgungswahns. Bevor ich eigene Überlegungen und Erfahrungen darstelle, sollen jedoch theoretische Hinweise von Benedetti zum Verfolgungswahn und das Konzept des psychotischen Dilemmas mit dem Verfolgungswahn als psychodynamisch konsequente Antwort, wie Mentzos es darlegt, berücksichtigt werden. Benedetti erklärt zum Verfolgungswahn weiter: »In dieser Psyche [gemeint ist die schizophrene] wurzelt eine selbstzerstörerische Tendenz, die sich mit den Außen-Aggressionen verbündet und sie als Verfolgungen erleben lässt [. . .] Meiner Meinung nach existiert indes ein intrapsychischer Mechanismus rein psychotischer Prägung« (S. 109). Er weist einführend auf die allgemein bekannte psychoanalytische Auffassung hin, dass das Ich nicht nur für das Auffangen der aggressiven Regungen des Es zuständig 69
ist, sondern dass es eine Hauptaufgabe des Ich ist, diese zu integrieren, in konstruktive Bahnen zu lenken und auf ein äußeres Ziel hinzuführen. Dabei werden sie gleichzeitig ins Über-Ich hineingegeben, welches als Kontrollinstanz des Es konstituiert ist: »Die Gesamtheit dieses Prozesses, der sich aus Organisation, Neutralisation und Sublimierung zusammensetzt, übersteigt die beschränkten Möglichkeiten des schizophrenen Ich bei weitem [. . .] Es ist anzunehmen, dass die aggressiven Triebkräfte, über die das Ich nicht Herr wird, sich gegen dasselbe – in seiner Organisationsaufgabe so kläglich versagende – Ich wenden.« Er schließt daraus: »Im bisher Gesagten zeigt sich der Verfolgungswahn als eine Maske des autoaggressiven Zustandes« (S. 109f.). Benedetti weist auch auf die andere Option hin, welche sich in der exzessiven Identifikation zeigt, wenn Schizophrene sich mit dem vom Gegenüber ausgesprochenen Leid vollständig identifizieren und deren Leid mit dem eigenen fusioniert. So kann der Erzähler zum Verfolger werden, dessen sich der Schizophrene zu erwehren hat. Der aufmerksame, empathische Zuhörer, unser schizophrener Patient, wird plötzlich zum aggressiven Gegenüber, was beim Erzähler für Verwirrung sorgt. Mentzos wiederum schreibt: »Mir imponiert der Verfolgungswahn gleichsam als ein Kompromiss zur Regelung des psychotischen Dilemmas« (2004, S. 76). Zu erwähnen ist, dass hier mit psychotisch schizophren-psychotisch gemeint ist. Mentzos ist der Meinung, dass diese Menschen nicht in der Lage sind, die grundsätzlich vorhandene Tendenz von Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit – also Autonomiebedürfnisse und Bindungsbedürfnisse zum Objekt – zu integrieren. Er schreibt zu den Folgen, nämlich zum psychotischen Dilemma: Der Psychotiker »gerät [. . .] in eine ausweglose Situation, in ein Dilemma, welches eine unerträgliche intrapsychische Spannung hervorruft. Er versucht sich dagegen zu schützen, entweder durch einen totalen Rückzug zum Autismus – was aber den Objektverlust bedeutet – oder umgekehrt durch die ebenfalls totale Fusion und Verschmelzung mit dem Objekt (z. B. ekstatische Psychose) – was den Selbstverlust impliziert. Häufiger kommt es aber zu dazwischen liegenden, sozusagen Kompromisslösungen, z. B. Externalisierungen (d. h.Ver70
lagerung nach außen) eines der beiden Komponenten des Dilemmas [. . .] Unter vielen solcher ›Lösungen‹ stellt nun der Verfolgungswahn die häufigste psychotische Kompromisslösung dar: Die Beziehung zum Objekt wird in ihm nicht wie beim Autismus endgültig und total aufgegeben, das Objekt wird lediglich zu einem feindlichen und verfolgenden verwandelt. Diese ›eingebaute‹ Feindseligkeit sorgt für die erforderliche Distanz« (2004, S. 77). Verfolgungswahn wird hier als Kompromisslösung dargestellt. Ergänzend kann die Auffassung von Hartwich zum Wahn genannt werden, der mit dem Konzept der Parakonstruktion als Gegenregulation in eine ähnliche Richtung geht. Beide Autoren gehen von einer aktiven Abwehrkraft des Kranken aus. Demgegenüber möchte ich bei meiner künstlichen Dreiteilung der Wahnbildung bleiben. Entsprechend müssen wir den Verfolgungswahn psychodynamisch differenziert für jede der drei Varianten getrennt betrachten. Verfolgungswahn als Ausdruck des Zusammenbruchs der Abwehr: Hier wird in der Verfolgung alles einbezogen – alle Personen und Objekte sowie der Patient in seiner Grenzenlosigkeit selbst. Die einzelnen Positionen bleiben aber nicht stabil, dazu fehlt die Energie. Alles ist sehr wechselhaft. Einmal bin ich als Gegenüber der Freund, der Retter und kurz danach der Verfolger, der Abgesandte des Teufels, der ihn zerstören will, vielleicht sogar als Wolf im Schafspelz. Solche Situation kenne ich aus der Akutaufnahme zuhauf, wo es keinen Unterschied zwischen Bekannten und Unbekannten mehr gab und alle dem Wechselbad der Interpretationen durch den Kranken in gleichem Maß ausgeliefert waren. Das ist auch nicht verwunderlich, weil es beim Zusammenbruch der Abwehr nur noch den Weg in die Negativexistenz gibt und die Energie für eine differenzierte Wahnbildung nicht mehr ausreicht. Ein Patient sollte sich ein Lipom operieren lassen. Obschon wir uns sehr gut kannten, tobte der sonst zwar sehr eigene und paranoide, aber meist ruhige Mann an diesem Morgen. Er bedrohte Mitpatienten der Langzeitstation verbal und begann im Frühstücksraum das Mobiliar zu demolieren. Als ich dazukam, wandte er sich sofort gegen mich, was er noch nie getan hatte, ging auf mich los und musste mit Gewalt daran
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gehindert werden, mich oder sich selbst zu verletzen. Ich brachte ihn, der nun weinte, auf die Akutstation und blieb bei ihm, als er mich nach wenigen Minuten darum bat, ihm das Fenster etwas zu öffnen, da er zu wenig Luft bekäme. Auffallend war, dass er mich keine zehn Minuten später bereits als seinen Retter erkannte. Wenig später wiederum verhöhnte er uns alle. Er selbst sei Jesus und werde es uns schon beweisen, verfluchte mich als Abgesandten des Teufels aufs Schlimmste. Wiederum kurze Zeit später bat er mich, ihm etwas Salbe auf die Brust zu streichen, weil seine Nase verstopft war. Ich tat es und rieb ihn mit Pulmex ein und er genoss es, wenigstens für einen Moment, keine Angst haben zu müssen. In der Folge schlug sein Verhalten wieder um und er drohte, als Jesus ab sofort keine Nahrung mehr aufzunehmen, was er auch konsequent durchführte. So ging es tagelang, in welchen das Team und ich ihn sehr intensiv betreuten und versuchten, seine Ich-Grenze zu stabilisieren, bis er wieder auf dem Niveau vor der Krise angelangt war.
Verfolgungswahn als Ausdruck des Rückzuges: Hier zeigt sich der Verfolgungswahn ganz anders. Wir sind gar nicht einbezogen, es sind meist unbekannte und zufällig auftauchende Menschen, von denen uns in wahnhafter Weise berichtet wird. Der Patient erzählt es uns später, wenn überhaupt, wie einem Dritten, Unbeteiligten, Neutralen. Hier reicht die Energie lediglich für einen ausgebildeten Verfolgungswahn im Inneren der autistischen Kapsel, abgetrennt von der Außenwelt. Wieder zeigt sich hier die klassische Doppelfunktion von Bedrohung und Existenzsicherung im geschrumpften Ich, da der Patient der verfolgenden Bedrohung im Autismus nicht entfliehen kann, diese aber gleichzeitig seine Existenz beweist. Der Patient, der mir wie bereits erwähnt ein Wörterbuch und eine Bedienungsanleitung für sich schenkte, zeigte einen solchen eingekapselten Verfolgungswahn, über den er mir nach akuten schizophren-psychotischen Schüben jeweils berichten konnte. Dieser war von außen nicht erkennbar, da der Patient in diesen Phasen eher in sich gekehrt und verschlossen, ja kataton angetroffen wurde. Meist saß er stundenlang, einmal sogar über zwei Tage in der Kirche, um sich vor den Verfolgern zu verstecken. Als er auffiel und darauf angesprochen wurde, reagierte er in keiner Weise. Deshalb wurde er in die Klinik eingewiesen. In einem Fall wie diesem können die Konzepte von Mentzos und Hartwich 72
zur psychodynamischen Hypothesenbildung angewendet werden und kommen auch bei der dritten Gruppe zum Tragen. Verfolgungswahn als progressive Antwort auf die Fragmentation: Diese Form des Verfolgungswahnes tritt sehr häufig auf und ist auch für den Laien erkennbar. Die energetischen Verhältnisse sind gut und der Verfolgungswahn kann genutzt werden, Mentzos zufolge zum Beispiel zur Distanzregulierung. Der Verfolgungswahn ist nicht einfach vorhanden, sondern in ein wahnhaftes Abwehr-System eingebaut, das zum Teil vom Schizophrenen aktiv gesteuert werden kann. Ein eindrückliches Beispiel ist eine langjährige Patientin, die sehr dosiert mit dem Verfolgungswahn umgehen konnte. Trotz der Drohungen in ihrem Wahn, von den dort herrschenden Wesen geplagt, gefoltert und umgebracht zu werden, wenn sie es wage, zu mir in die Therapie zu kommen, was ihr auch Leute auf der Straße unterwegs – mittels Halluzinationen – laufend bestätigten, sie warnten und zudem auslachten, ließ sie es sich nicht nehmen, regelmäßig zu den Terminen zu erscheinen. Zu Hause hingegen kann sie vor Angst tagelang verharren und nicht hinausgehen. Sie steuert so ihren autistischen Wunsch nach Ruhe und Abgeschirmtheit, kann sich aber durchaus auch den Wunsch nach Beziehung erfüllen und beispielsweise in die Therapie kommen. Das Tragische daran und an der Schizophrenie allgemein ist, dass das mittel- und langfristige Leid sowie die Angst nicht wirklich überwunden werden können, egal welcher Weg beschritten wird. Ich möchte zum Abschluss dieses Abschnitts über Verfolgungswahn davor warnen, nach meinen Ausführungen zu glauben, man könne nun Verfolgungswahn genau einteilen und entsprechend diagnostizieren und sogar behandeln. Diese Aufteilung ist ein Kunstprodukt, lediglich ein didaktisches Mittel, um die nicht darzustellende Komplexität und Gleichzeitigkeit der Phänomene in der Schizophrenie vereinfachend zu verdeutlichen. In der schizophrenen Welt können alle Formen vermischt, gleichzeitig und nebeneinander auftreten, denn wir haben es mit einem fragmentierten oder zerfallenden Ich zu tun, welches nicht als Einheit funktioniert und dem die Koordination fehlt. Wir hingegen erle73
ben etwas dominant im Vordergrund und neigen dazu, das gesamte Ich damit gleichzusetzen. Zu den schizophrenen Wahnbildungen gehören für Benedetti auch der Liebeswahn, der ekstatisch-religiöse Wahn und vieles mehr, wobei ich auf die entsprechende Literatur verweise, da es hier nicht um eine vollständige Ausführung zu all den Themen gehen kann. Nur einige Aspekte der paranoiden Allmacht möchte ich kurz darstellen.
Paranoide Allmacht Benedetti weist auf die verschiedenen Blickwinkel der paranoiden Allmacht hin. So kann paranoide Allmacht beispielsweise die Folge abgebrochener Objektbeziehungen sein. Beziehungsabbrüche erleben schizophrene Menschen häufiger, gerade in der heutigen Zeit, in welcher der, der nicht gesund, sportlich, schön und reich ist, fast keinen Platz mehr in der Gesellschaft findet. Stabile Beziehungen sind jedoch für den schizophrenen Menschen darum so wichtig, weil diese unter anderem die Funktion haben, das Ich immer wieder von neuem abzugrenzen und gleichzeitig zu stärken, ohne dass dadurch fragmentierende Prozesse ausgelöst werden. Es ist in diesem Fall nicht ihr Rückzug von den Menschen, sondern die Verdrängung und Ausgrenzung der Kranken an oder sogar über die Grenze der Gesellschaft hinaus, die zu Beziehungsabbrüchen führt. Solche Beziehungsabbrüche haben zur Folge, dass das omnipotente Ich grenzenlos und schwach bleibt – wie »eine Sonne ohne Strahlen, die nichts erwärmt und sich in jedem Gegenstand widerspiegelt«, wie Benedetti es ausdrückt (S. 111). Die paranoide Allmacht lässt sich auch als Abwehr des latenten Nichtigkeitsgefühls verstehen, wie ich es bereits im Zusammenhang mit der Superexistenz dargestellt habe. Benedetti weist zudem darauf hin, dass die Ich-Fragmentierung mit der projektiven Ausstreuung von Ich-Bruchstücken über die gesamte Umwelt zum Gefühl der paranoiden Allmacht führen kann, da sich das schwache Ich als über das ganze Universum verteilt erfährt. Auf diese 74
Weise fühlt sich der Patient omnipotent und verhält sich entsprechend, was manchmal für uns arrogant wirkt, oder erliegt der Ohnmacht. Beides aber geschieht, weil es Ausdruck des Gleichen ist und so sind Allmacht und Ohnmacht ein untrennbares siamesisches Zwillingspaar. Ein schönes Beispiel für die Allmacht ist meine Begegnung mit einem autistisch eingekapselten Patienten, der äußerst selten und nur mit wenigen Menschen sprach: Ich begegnete ihm eines Tages bei wunderbarem Sonnenschein im Klinikareal, wo er sich auf einer Bank sonnte. Auf meinem Rückweg von der Visite saß er noch immer da, was mich veranlasste, bei ihm vorbeizugehen und zu versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich begrüßte ihn mit seinem Namen und sprach: »Es ist sicher schön und warm, hier in der Sonne zu sitzen! Darf ich mich auch ein bisschen an der Sonne auf dem Bänkchen wärmen?« Er sagte: »Nein, es ist meine Sonne!« Ich beharrte auf meinem Wunsch. Er schaut mich kritisch an und sagt dann großzügig lächelnd: »Also gut, aber nur von der hinteren Seite der Sonne.«
Leihexistenz Als ein Beispiel von Wahn im Sinne der Negativ-Existenz wähle ich die von Benedetti beschriebene Leihexistenz. Diese Erscheinungsform ist jedem, der in der Psychiatrie tätig ist oder war, aus der Rehabilitationsarbeit bekannt. Benedetti schreibt zur Leihexistenz: »Eine besondere Erscheinungsform der Nicht-Existenz ist die stellenweise totale Identifikation des Patienten mit den Vorstellungen, die seine Mitmenschen von ihm entwickeln. Der Patient hat seine Ich-Grenzen verloren und lebt gewissermaßen auf Kosten der anderen. Die überaus anstrengenden Anpassungsmanöver an die introjizierten Bilder führen zum Verlust seiner Autonomie. Es stellt sich also nicht bloß eine affektive Abhängigkeit ein, denn der Partner, von dem der Patient abhängt, befriedigt nicht einfach einen Teil seiner Bedürfnisse, sondern beeinflusst ihn in seinem eigensten Kern. Dadurch wird unser Patient zu einem Ding, einem Bildnis, einem Gedanken des anderen [. . .] Für den Kranken ist das Aus-sich-Herausfallen, um in der Vor75
stellung des anderen aufzugehen, die einzige mögliche Überlebensweise und gleichzeitig Verzicht auf eine eigene Existenz« (S. 52). Was heißt das konkret? Nehmen wir als Beispiel die vielen jungen Patienten, die akut psychotisch in die Klinik eingewiesen werden. Nach Abklingen der akuten Psychose findet meist eine intensive Phase der Rehabilitation, oft mit einem hoch motivierten Team, statt. Über eine gewisse Zeit läuft es sehr gut, aber dann folgt, nicht selten und ganz unerwartet, ein plötzlicher Einbruch oder gar Zusammenbruch, welcher sich beispielsweise in einem akut-psychotischen Schub zeigen kann. Ich erinnere mich an einen Patienten, den ich als junger Oberarzt übernahm und der nach einem über sieben Jahre dauernden, fast ununterbrochenen, von unausgesprochenem Ärger und Enttäuschung geprägten Klinik- und Rehabilitationsaufenthalt nun als hoffnungsloser, therapieresistenter Schizophrener auf die von mir geleitete Langzeitstation verlegt wurde. Er war vor Krankheitsausbruch erfolgreich ausgebildeter Grafiker, hatte zudem die Aufnahmeprüfung in die Kunsthochschule geschafft, allerdings ohne in diese einzutreten, malte eindrückliche Skizzen und Bilder. Später, nach Ausbruch der Krankheit, präsentierte er sich wiederholt, immer nach kurzer, heftiger und aggressiver psychotischer Krise, doch noch als Hoffnungsträger. Dieser junge Mann müsse doch rehabilitierbar sein und einen Ausweg aus der Krankheit finden, hieß es in jeder Klinik, in der er entdeckt und gefördert wurde. Er machte zu Beginn sehr gut mit, erfüllte alle Erwartungen und wurde Vorzeigepatient, allerdings nur über eine gewisse Zeit. Die Ideen, was aus ihm noch alles werden könnte, stiegen in den Teams ins Phantastische. Vergessen waren die bedrohlichen Situationen, die völlig wirren Gedanken, Hypothesen und Argumentationen im akuten Geschehen, ebenso die unzähligen, wiederholt gescheiterten Rehabilitationsversuche. Die in den Teams ins Unbewusste verdrängte Angst vor seiner Aggression wurde in Optimismus verwandelt und so verdrängt und gar verleugnet – so wie auch die Grenzen, die seine Krankheit ihm offensichtlich setzte. Es war alles vergessen, nur die Hoffnung zählte. Der Patient lebte in den Hoffnungen der Menschen um ihn herum so auf, dass er sich vollständig mit ihren Gedanken und Plänen zu seiner Person identifizierte und nicht mehr unterscheiden konnte, was er selbst ist und was die Bilder der anderen von ihm. Der Zusammenbruch folgte nach wenigen Wochen.
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Schizophrene lesen aufgrund der Ich-Entgrenzung in uns, als ob wir offene Bücher wären, nur ist es ihnen nicht bewusst, dass das nicht sie selbst sind, sondern nur die Bilder, die wir uns von ihnen machen. Sie können nichts damit anfangen, außer es sich einzuverleiben, sich damit zu identifizieren und so gegen das eigene Vernichtende zu kämpfen. Jedoch erschöpfen sie sich in dem Versuch, diese positiven Bilder auch kontinuierlich zu besetzen, unsere wunschgeprägten Vorstellungen von ihnen umzusetzen. Sie überfordern sich mit der Zeit maßlos und brechen plötzlich zusammen, werden akutpsychotisch, aggressiv oder verweigern sich und niemand versteht so recht, warum.Mit viel gutem Willen,aber auch unbewusster Verleugnung wird immer wieder ein Versuch gestartet. Im Falle des eben erwähnten Patienten fanden die wiederholten Enttäuschungen in den Teams mit der Zeit ihren festen Platz und konnten nicht mehr verdrängt werden. Ärger und Wut ersetzten die vorherigen Hoffnungen und den Stolz. So wurde der Hoffnungsträger zum therapieresistenten Fall, der abgeschoben wurde. Die Enttäuschung – und sicher die unbewusste Scham – sowie das wahnhaft Böse des Patienten dualisierten sich und gingen so unbemerkt auch auf das Team über. Sie identifizierten sich nun mit diesem Teil so, wie sie es zuvor abwehren mussten. Bis zu meinem Kommen hatte es in dieser Abteilung so gut wie keine Fallbesprechungen und Supervisionen gegeben. Deshalb gingen wiederholt gute Ansätze im Rahmen der Soziotherapien, die aber im Prozess zu wenig reflektiert wurden, bedauerlicherund unnötigerweise in ein Fiasko über. Gerade von diesem Patienten selbst sowie in der eigenen Supervision und den Reflexionen im Team lernte ich über Jahre hinweg, ihn in vertretbaren Grenzen sich selbst sein zu lassen, auf ihn zu hören und zu versuchen ihn zu verstehen. Ich lernte, ihn mit einem fein dosierten und stetig angepassten Wechselspiel von hohem Engagement sowie Zurückhaltung und Distanz auf seinem wirklich eigenen Weg zurück in die Gesellschaft zu begleiten und mich weder mittels positiver noch negativer Gegenübertragungsgefühle aus dem dualen Therapieraum katapultieren zu lassen. Wichtig war es, da zu sein – mal näher, mal weiter entfernt. Er hat seither, und das nun über 14 Jahre, keine Klinik mehr gebraucht. Er wird von mir 77
heute noch in 6-Wochen-Abständen und dann jeweils 45 Minuten psychotherapeutisch behandelt und kommt mit einer fast schon homöopathischen Dosis Clozapin (25mg) aus. Homöopathisch deshalb, weil er früher auch mit Höchstdosen kaum therapierbar war. Zu Beginn unserer Behandlung schuf die Auseinandersetzung und Verhandlung zu Sinn und Dosis der Medikation eine wichtige Basis für spätere, auch schwere und bedrohliche Krisen. Bisher konnten wir den Weg aus allen Krisen gemeinsam ohne schwere Dekompensation und ohne ausgelebter Selbst- oder Fremdgefährdung im dualen Raum der Behandlung finden und gehen. Eine allgemeine Bemerkung noch zu Zwangsbehandlungen, die ja leider, gerade auch bei gescheiterten Rehabilitationen, ein Thema werden können: Ich erlebte schon in frühen Zeiten meiner Weiterbildung im Rahmen von reflektierenden und nachbesprechenden Supervisionen zu Zwangsbehandlungen, die ich teils selbst verordnet oder durchgeführt hatte, wie manchmal keine reale Gefahr vom Patienten selbst ausging, obschon wir uns im Team einig waren, dass dies so sei. Es waren eher seine projektiven Identifizierungen mit uns: nicht reflektierte Gegenübertragungsgefühle, welche in uns Phantasien von Bedrohung sowie Gewalt hervorriefen und uns Angst machten, beantworteten wir mit unserem Handeln. Wir reagierten mehr auf diese Aspekte in uns selbst als auf den Patienten. Seine Not, die in Gefühlen der extremen Hilflosigkeit bestanden, übertrug sich auf uns und wir reagierten darauf. Nicht selten mussten wir im Nachhinein erkennen, dass wir bereits im Vorfeld alles abgewehrt hatten, was auf eine solche Entwicklung der Eskalation, manchmal über Stunden oder gar Tage, hinwies. Die nach der Supervision durchgeführten, klärenden Nachbesprechungen mit dem betroffenen Patienten bestätigten uns in fast allen Fällen, das dies so war. Solche Einsichten prägten mich zunehmend im Umgang mit Bedrohung auf der Akutstation sowie bei Notaufnahmen, die gegen den Willen des Patienten vorgenommen werden müssen. Auch unter Zeitdruck stehend wurde es für mich fortan wichtig, zuerst das Eigene und das Fremdausgelöste in mir zu unterscheiden und zu reflektieren, auch wenn dafür nur wenige Minuten zur Verfügung 78
standen, weil die Situation sonst zu eskalieren drohte. Erst dann ging ich gemeinsam mit dem Team auf den Patienten zu. Erfahrungsgemäß geschah dies jetzt mit einer ruhigeren und dem Patienten zugewandten Haltung, was sich auch bei sehr erregten und/oder manischen Patienten positiv auswirkte und sich für alle auszahlte. Später konnte ich als Oberarzt gemeinsam mit meinem Team konsequent nach diesem Modell arbeiten, was zu einer rapiden Senkung von Zwangsmaßnahmen und Gewalt auf unserer Akut-Station führte. So unkompliziert das klingen mag, umso erstaunlicher ist es für mich, regelmäßig in Supervisionen feststellen zu müssen, das solche einfachen Methoden im Klinikalltag wenig Platz haben und im Stress des Alltags untergehen. Die Leihexistenz ist eine häufig vorkommende und subtile »Verführung« für beide Seiten. Sie bietet keine wirkliche, dauerhafte Lösung an und ist bereits mittelfristig für viel Frustration und Leid verantwortlich. Wenn man sie rechtzeitig erkennt, kann man die sich dann bietende psychotherapeutische Chance ausnutzen: Die Leihexistenz kann, wenn reflektiert, eine konstruktive Übergangslösung auf dem langen Weg zur Besserung sein.
Selbsthass als Ausdruck und Folge der Negativ-Existenz Es gibt eine teilweise existenzsichernde, aber zusätzlich großes Leid verursachende Variante, sich gegen den Prozess der Auflösung in die Negativ-Existenz zu wehren, die des Selbsthasses. Benedetti schreibt dazu: »Wir heben diese desintegrierende Komponente des schizophrenen Hasses schon deshalb hervor, um später die Relevanz der Liebe innerhalb der Therapie um so deutlicher verteidigen zu können. Eine psychotische Abwehrform des desintegrierenden Hasses ist die negative Allmacht [. . .] Gewisse Schizophrene sind von Schuldgefühlen erfüllt und werden dadurch in die Nähe der Depressiven gerückt; in der Klinik spricht man bisweilen von ›Mischpsychosen‹. Diese Kranken stehen nicht nur im Erleben der inneren Fragmentierung, sondern fühlen sich deswegen auch schuldig« (S. 63). 79
Der Kranke stellt sich neben sich selbst und verurteilt sich. Dadurch gewinnt er subjektiv Kraft und ist existent, nimmt aber zugleich eine sich selbst entwertende Position an. Diese sowie die daraus resultierende Schuld ist nicht mehr auflösbar, da er sich sonst wieder ganz der Negativ-Existenz preisgibt und es zur Wiederholung dieser Dynamik kommen kann. Das heißt, die Schuldgefühle werden noch massiver oder er wird, inzwischen erschöpft und energielos, der weiteren Fragmentation ausgeliefert. Benedetti schreibt weiter: »Der Krankheitsverlauf kann jetzt nur noch zwischen zwei Wegen wählen: Der eine ist der Selbstverachtung verschrieben; durch den Selbst-Hass stellt sich der Kranke neben sich selbst. Beim anderen betrachtet sich der Kranke als der Schöpfer des eigenen Übels, um so – auf eine zwar negative Weise – immerhin eigenen Aktivität und eigene Existenz wahrnehmen zu können« (S. 63). Es ist mir auch darum wichtig, diese Variante darzustellen, weil ich immer wieder erlebe, dass Schizophrene, die depressiv werden, diagnostisch sehr schnell mit der schizoaffektiven Psychose abgestempelt und konsequent mit zusätzlicher antidepressiver Medikation behandelt werden, was oft zur Verschlechterung ihres Zustandes führt. Erst das Absetzen der Antidepressiva und die Erhöhung der Neuroleptika führt, was die pharmakologische Komponente der Behandlung betrifft, bei diesen Patienten zur deutlichen Besserung. Insbesondere kann diese Dynamik im psychotherapeutischen Gespräch, im dualen Therapieraum erkannt, formuliert und erfolgreich bearbeitet werden. Unter dem enormen Zeit- und Leistungsdruck, dem heute die Behandelnden ausgesetzt sind, werden solche für den Patienten existenziell wichtigen Überlegungen nicht oder erst zu spät, nämlich in der Supervision, eingebracht. Würde man sich im Klinikalltag, aber auch schon im Rahmen der Ausbildung unserer Kolleginnen und Kollegen bezüglich der Zusammenhänge von Psychodynamik und pharmakologischer Behandlung mehr öffnen, könnte dem Patienten zusätzliches Leid erspart werden.
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Zur Suizidproblematik bei Schizophrenen An Suizidalität und Suizid kommt kein Therapeut, der mit Schizophrenen arbeitet, vorbei. Benedetti entwickelte mehrere metapsychologische Hypothesen über die psychodynamischen Aspekte zur schizophrenen Suizidalität. Drei möchte ich hier explizit anführen. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass durch die Ich-Schwäche in der Schizophrenie die anderen Mitspieler im Drei-Instanzen-Modell von Freud eine mächtige und bestimmende Rolle ohne jede Grenzsetzung erfahren können: das Über-Ich, welches wir bereits bei der depressiven Reaktion im Zusammenhang mit dem Selbsthass kennen gelernt haben, und das Es, welches seine vernichtende Rolle gerade bei der Suizidalität ungehindert spielen kann. Benedetti meint: »Paradoxerweise lässt sich der Suizid als eine Ich-Abwehr auffassen, die sich gegen die aus dem Es einströmenden autoaggressiven Impulse richtet« (S. 130). Es geht hier also um eine Abgrenzung des Ich vom Es. Patienten, die am Rande des Suizids standen, aber rechtzeitig das Gespräch suchten, berichteten davon, dass es Momente des totalen Ausgeliefertseins, der Verzweiflung und Einsamkeit gibt, in denen ihnen im Wahn befohlen wird, sich umzubringen oder zu schädigen, ohne dass sie es selbst wirklich wollen. Die Wut, die sonst ertragen werden kann, schlägt manchmal aus dieser Abwehrlosigkeit plötzlich um und wird für den Patienten subjektiv verfügbar, wenn auch nach wie vor in Form der Selbstdestruktion, die sich gegen ihre Existenz richtet. Mit der Selbstvernichtung reißt er entweder das Es mit in die Vernichtung oder lässt es allein zurück und entzieht sich ihm: Ich werde nicht vernichtet, ich vernichte mich selbst. Da wir keine Gelegenheit haben, uns mit »erfolgreich« suizidierten Patienten darüber zu unterhalten, bleibt lediglich der Austausch mit suizidalen Patienten oder solchen, die den Suizidversuch überlebt haben. Daraus ergeben sich zwar keine wirklich haltbaren Auskünfte, aber Anstöße zu Hypothesen. Ich habe mich mit vielen Patienten, die ihren Suizidversuch überlebt haben, über die Zeit vor dem Suizidversuch unterhalten. Nur bei Einzelnen blieb der Triumphaspekt erhalten und somit auch der Drang 81
nach Wiederholung. Die Scham und Verleugnung über den nicht vollendeten Suizid sowie die Gefühle des Versagens müssen abgewehrt werden. So tritt die eigentliche Erinnerung in den Hinter- und die Abwehr in den Vordergrund, was zu verfälschten Aussagen führt. Wir kommen nur sehr schwer an das heran, was sich wirklich unmittelbar in der perakuten Suizidalität abspielt. Nur meine wenigen Begegnungen mit Patienten, die gerade im Begriff waren, sich umzubringen, als ich meist nur zufällig dazukam, ermöglichten mir, diese Hypothese des Triumphes im Suizid als doch mögliche, ja wahrscheinliche Variante zuzulassen. Im Gegensatz dazu steht die nächste von Benedetti genannte Variante, die in Anlehnung an den Todestrieb von Freud eindeutig den Lustaspekt in den Vordergrund stellt: »Bei einzelnen Patienten nimmt man tatsächlich eine wahre ›Todesleidenschaft‹ wahr [. . .] Damit scheint im Suizid die grundlegende Voraussetzung geschaffen, die gegen das eigene Selbst gerichtete Aggression in eine körpernahe Abfuhr zu rücken: Es findet eine Verschmelzung mit dem Lustprinzip statt. ›Lust und Verschmelzung‹ erinnern uns gleichzeitig an gewisse Abwehrreaktionen, wie sie sich gegen das schizophrene Erleben der negativen Existenz in Gang setzen« (S. 131). Ich erinnere mich an eine Patientin, die regelmäßig und oft lebensgefährlich große Objekte wie Messer oder Gabeln verschluckte und dann von massiven Bauchkrämpfen geplagt, aber gleichzeitig mit friedlichem Lächeln, im Bett lag. Manchmal schrie sie, manchmal lag sie seelenruhig da. Für uns war nie so recht klar, ob es Schreie des Schmerzes oder der Lust waren. Beide Phantasien gab es im Team. Die Patientin bestätigte mir aber, dass das Lustgefühl den Schmerz auffraß und sie den eintreffenden Tod glücklich erwartete. Das unterscheidet sie deutlich von sich selbst schwer verletzenden Borderline-Patienten, die nach einem Suizidversuch, der zu Beginn auch mit Lust gekoppelt sein kann, Todesängste ausstehen und letztendlich sehr froh sind, dass sich nun jemand um sie kümmert. Diese schizophrene Patientin hingegen war wütend auf uns, weil wir sie jeweils retten konnten. Wir hatten uns darauf verständigt, uns mit dem Aspekt des Schrecklichen zu identifizieren und sie in ihrer Lust-Haltung zu 82
belassen, zu unterstützen und auf keinen Fall zu »Helfern« des Über-Ich zu werden. Mit der Zeit wurden diese Aktionen weniger und sie verlangte in Krisen immer häufiger, zu uns auf die Akutstation verlegt zu werden, wo sie intensiv über den Suizid sprach. Im Gespräch pflichteten wir auf der einen Seite mit »Verständnis« dem mit Lust verwobenen Todeswunsch bei, den wir in Anerkennung ihres bestehenden Leides im Ich-Verlust gut verstehen konnten, stellten dem aber unseren Wunsch gegenüber (und nicht dagegen), bei ihr zu bleiben und sie nicht zu verlieren. Unsere engagierte und auch emotional betonte Absicht, wirklich in der Dualität ausharren und sie nicht einfach kontrollieren und am Suizid hindern zu wollen, überzeugte sie. Der suizidale Patient beginnt den Verlust wahrzunehmen. Wenn er sich umbringt, ist er (wieder) allein und/oder ist nicht mehr und lässt uns außerdem zurück – Verlust auf der ganzen Linie. Dazu bemerkt Benedetti: »In der Dualität bricht der kommunikative Faden nie ab. Zusammen spricht man über den Tod, gemeinsam lebt man in ihm« (S. 133). Die dritte Variante, welche sich auf den ersten Blick nicht vom Vorhergehenden unterscheidet, stellt nicht die Lust und nicht den Triumph, sondern die Aktivität in den Vordergrund der Überlegung: »In der suizidalen Phantasie oder Handlung bewegt sich das Ich aktiv auf das Es zu. Es gibt die passiv abwartende und ständig angstdurchsetzte Position auf, um sich mit dem Es zu vereinigen« (Benedetti 1983, S. 131). Wichtig ist hier, dass nicht die Vernichtung von sich selbst und dem Es im Vordergrund steht, sondern die Vereinigung im Suizid, was zwar de facto auf dasselbe hinausläuft, nicht aber im Erleben des Patienten, der damit seine Existenz (vermeintlich) rettet. Benedetti bemerkt dazu: »Wahrnehmung eigener Existenz heißt in erster Linie die eigene Aktivität wahrnehmen [. . .] Die von der Krankheit verursachte extreme Passivität und Determiniertheit erfährt plötzlich einen Durchbruch zur eigenen Handlung. Es ist, als ob der Kranke ein Bild seines Handelns in den Spiegel des Nichts zu schleudern versuchte« (S. 131). Die Dualität mit Zuwendung zu koppeln, ist in solchen Momenten die beste Behandlung und auch Suizidprophylaxe. Es geht Benedetti zufolge darum, »durch Zuwendung 83
und Liebe das Überleben zu ermöglichen« (S. 132). Isolieren oder medikamentöses Ruhigstellen sind oftmals unbewusste Abwehrreaktion von uns Behandelnden. Solche Maßnahmen lassen jedoch den leidenden Kranken allein. Benedetti schreibt treffend: »Und sollte sich ein Therapeut in die Rolle des Über-Ich begeben, entfernt er sich vom Kranken« (S. 132). Was der duale Raum der Therapie gerade in solchen Momenten bedeutet, werde ich im Kapitel zur Psychotherapie darlegen. Umgang mit Suizidalität fordert uns extrem. Wir müssen auch bereit sein, eigenen destruktiven Gedanken ins Auge zu blicken, ohne uns damit zu identifizieren. Nur so dualisieren wir glaubhaft mit dem Patienten, der selbst suizidal ist und in uns liest. Dann spürt er die Alternative, ein Leben, mit dem er sich, wenn auch anfänglich nur im Sinne der Leihexistenz, identifizieren kann. Die Ablösung von der Leihexistenz ist der weiteren Therapie nach überstandener Krise vorbehalten. Leider bleibt die Suizidrate schizophrener Menschen erschreckend hoch: nicht wegen unserem Versagen, sondern wegen der destruktiven Kraft, die in dieser schlimmen Krankheit steckt. Hier schließe ich mein Kapitel zur Psychodynamik der Schizophrenie in der Hoffnung, dazu angeregt zu haben, sich vertieft mit diesem Thema zu beschäftigen und wende ich mich nun dem Thema Borderline-Persönlichkeits-Organisation zu, das in der Fachliteratur zurzeit ein Hoch erlebt und zudem ein breit diskutiertes Thema in der Öffentlichkeit ist.
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Psychopathologie und Psychodynamik der Borderline-Psychosen
Vorbemerkungen Bei den folgenden Ausführungen zu Psychopathologie und Psychodynamik der Borderline-Persönlichkeits-Organisation lege ich besonderen Wert auf ein in der Fachliteratur meist übergangenes und wenig beachtetes, aber für die Behandlung sehr wichtiges Thema. Es sind die psychosenahen Zustände, vor allem die schizophrenieähnlichen Psychosen, mit denen ich mich befassen möchte. Die Flut der Veröffentlichungen über Borderline wächst seit Jahren und wird zunehmend unübersichtlich. Will man sich zu diesem Thema informieren, ist meiner Meinung nach die vertiefte Auseinandersetzung mit Scharfetters Verständnis von Spaltung und Dissoziation, mit der Objektbeziehungstheorie und Kernbergs Auffassung von Borderline sowie mit der Bindungstheorie im Allgemeinen und den neueren Beiträgen dazu von Fonagy empfehlenswert. Hilfreich sind außerdem die Ausführungen von Rohde-Dachser zu Borderline-Störungen im »Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie«, in welchem sie wichtige Ansätze der Theorien kurz, aber verständlich zusammenfasst. Auch ihre Einführung im in Zusammenarbeit mit Wellendorf herausgegebenen Buch »Inszenierung des Unmöglichen« eignet sich für eine Übersicht gut. Das umfassende »Handbuch der Borderline-Störungen« von Kernberg et al. empfiehlt sich als Nachschlageband und für das vertiefte Studium ausgewählter Themen. In meinen Ausführungen beziehe ich mich auf Kernbergs Modell der verschiedenen Persönlichkeitsorganisationen (Neurotische und Psychotische Persönlichkeitsorganisation), namentlich 85
auf die Borderline-Persönlichkeits-Organisation. BorderlinePersönlichkeits-Organisation beinhaltet mehr als die BorderlinePersönlichkeitsstörung nach den Diagnoseschlüsseln DSM und ICD und wird definiert durch Identitätsdiffusion bei meist erhaltener Realitätskontrolle und durch primitive Abwehrmechanismen, die um die Spaltung gruppiert sind (Projektion, projektive Identifizierung etc.). Wie in den vorangegangenen Kapiteln geht es auch hier nicht um eine systematische und vollständige Darstellung von Psychopathologie und Psychodynamik. Ich konzentriere mich auf Aspekte, welche dem tieferen Verständnis für die klinische Arbeit mit psychotischen Phänomenen bei Borderline-Persönlichkeitsorganisierten Menschen dienen und einen Zugang zu diesen Patienten erleichtern können. Da ich mich auf das Kernberg-Modell der Borderline-Persönlichkeits-Organisation beziehe, soll hier zunächst ein Schema vorgestellt werden, aus dem die Beziehungen unter den Persönlichkeitsstörungen und Organisationen hervorgehen (vgl. Abbildung 8). Rohde-Dachser fasst in der Einführung zu »Inszenierung des Unmöglichen« das Kernbergmodell treffend kurz zusammen: »Kernberg hat 1975 zum erstenmal eine systematische Theorie der Borderline-Persönlichkeits-Organisation vorgelegt und diese seitdem kontinuierlich weiterentwickelt (Kernberg 1975, 1984, 1989, 2000). Hauptmerkmal der Borderline-Persönlichkeits-Organisation ist nach Kernberg die Unfähigkeit, frühe Selbst- und Objektbilder, die sich um die Erfahrung von ›gut‹ und ›böse‹ gruppieren, in reifere Selbst- und Objektbilder zu integrieren. Die frühen, schwarz-weiss gezeichneten Selbst- und Objektbilder bleiben im Gegenteil präsent und werden auch im Erwachsenenleben ständig neu in Szene gesetzt. Dabei werden sie vom Patienten nicht als vergangen erlebt, sondern als aktuelle Realität (Clarkin et. al., 1999, S.14f.). Nach Kernberg kann die Spaltung der Objektrepräsentanzen in ›ganz gut‹ und ›ganz böse‹ vor allem deshalb nicht aufgegeben werden, weil Borderline-Patienten unbewusst befürchten, dass ihre guten inneren Objekte zerstört werden, wenn sie mit den bösen inneren Objekten in Verbindung 86
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Introversion
Schizotypische
atypisce Psychosen
Antisoziale
Extraversion
Borderline
schizoid
Hypochondrische
maligner Narzissmus
Narzisstische
Abhängige Zyklothyme Histrionische
Hysterische
Hypomanische
Sadomasochistische
Depressiv-masochistische
Paranoide
Zwanghafte
Abbildung 8: Die Beziehung der Persönlichkeitsstörungen untereinander (Kernberg et al. 2000, S. 51)
Psychotische Persönlichkeitsorganisation
„niedriges Niveau“ der BorderlinePersönlichkeitsorganisation
„hohes Niveau“ der BorderlinePersönlichkeitsorganisation
Neurotische Persönlichkeitsorganisation
schwerster Schweregrad
leichter Schweregrad
kämen. Diese bösen Objekte werden als übermächtig erlebt, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie durch die projizierte Aggression des Patienten ständig weiter aggressiv aufgeladen werden« (S. 15). Wesentlich ist also, dass die konsequente Einteilung in »gut« und »böse« auch im Erwachsenenalter zumindest teilweise beibehalten wird, nicht aufgegeben werden kann. Der Patient befürchtet, dass die bösen Objekte gegenüber den guten im Extremfall übermächtig oder gar allmächtig werden und sie vernichten. Dies ist dem borderlinekranken Menschen allerdings nicht bewusst. Zur Borderline-Persönlichkeits-Organisation auf niedrigem Niveau gehört neben der Borderline-Persönlichkeitsstörung auch die Schizoide und Schizotypische Persönlichkeitsstörung, die Paranoide, die Hypomanische, die Hypochondrische sowie die Narzisstische und die Antisoziale Persönlichkeitsstörung. Schweregrad und Niveau der Persönlichkeitsorganisation werden im Schema mit Extraversion und Introversion in Beziehung gesetzt (vgl. Abbildung 8). Die bei all diesen erwähnten Persönlichkeitsstörungen vorhandene Identitätsdiffusion ist zentraler Aspekt meiner Ausführungen. Kernberg hat sich auf die klinischen Hinweise zur Identitätsdiffusion beschränkt. Er weist zudem auf die Komponente des Über-Ich im Sinne der Degeneration hin. Dazu schreibt er: »Alle diese Patienten leiden an einer Identitätsdiffusion, an den Manifestationsformen primitiver Abwehrmechanismen und in einem unterschiedlichen Ausmass an einer Über-Ich Degeneration« (S. 52). Den Aspekt der Über-Ich-Degeneration werde ich hier nicht ausführen und mich auf die Instanz des Ich beschränken. Die Diagnoseschlüssel DSM und ICD tragen nicht viel zum tiefen Verständnis der Erkrankungen bei. Symptome werden beschrieben und zu Gruppen zusammengestellt, die, verknüpft mit weiteren Kriterien, ein Krankheitsbild definieren sollen. Dies ermöglicht, sich in der gleichen Sprache austauschen und verstehen zu können. Ich führe die Kriterien des DSM-IV zur BorderlinePersönlichkeitsstörung hier deshalb an (vgl. Abbildung 9), weil viele Kolleginnen und Kollegen im Klinikalltag mit diesem Diagnoseschlüssel arbeiten. Das ist Grund genug zu versuchen, eine Verknüpfung zu meinem Modell und Verständnis herzustellen. 88
Diagnostische Kriterien für den Borderline-Typus 301.83 (F60.31) Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedensten Lebensbereichen. Mindestens 5 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: (1) verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. (2) Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. (3) Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung (4) Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Fressanfälle“). Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. (5) Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. (6) Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). (7) Chronisches Gefühl von Leere. (8) Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z.B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen). (9) Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.
Abbildung 9: DSM-IV-Kriterien für die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Saß et al. 1998, S. 739)
Die Beschreibungen in den Diagnoseschlüsseln reichen für eine Behandlung nicht aus. Diagnosen stellen ist die eine, Behandeln eine ganz andere Sache. Es bedarf eines tiefen Verständnisses des Beschriebenen, um patientengerecht, nachhaltig und effizient behandeln zu können. Im Hinblick auf die Bearbeitung des Verhältnisses der Borderline-Persönlichkeits-Organisation zur Psychose ist es unerlässlich, Benedettis Bemerkungen zur Unterscheidung von Grenzpsychosen und Schizophrenie anzuführen. In »Todeslandschaften der Seele« widmet er den grenzpsychotischen Krankheitsbildern ein ganzes Kapitel. Seine einleitende Definition, welche den Aspekt der inneren Leere aufnimmt, scheint mir für eine Grundhaltung, wie 89
ich selbst sie fordere, geradezu zentral. Er schreibt: »Unter Grenzpsychosen verstehen wir jenes Krankheitsbild, bei dem sich hinter der Fassade eines neurotischen Verhaltens psychotische Erlebensweisen verbergen, die von Spaltung- und Depersonalisationsvorgängen, von Selbstverlust und innerer Leere geprägt sind« (S. 133). Benedetti versteht unter Grenzpsychosen das, was wir heute allgemein mit Borderline bezeichnen und verwendet den Begriff synonym. Zudem weist er darauf hin, dass es fließende Übergänge nicht nur zwischen Neurosen und Psychosen, sondern auch zwischen Schizophrenie und Depression gibt. Zur Qualität der Leere führt er aus: »Mitunter meldet sich die Psychose durch die Präsenz eines unauslotbaren, unerklärlichen ›Abgrundes‹, der dem Kranken ständig bewusst ist und der sein ganzes Wesen in einem Ausmaß erfüllt, wie sich das bei dem neurotischen Symptom nicht beobachten lässt. Der Psychotherapeut spürt sehr gut, wie sich im Ich des Kranken Risse und Lücken auftun, Absenzen auftreten, die nur noch von letzten hauchdünnen Fäden der Selbstidentität überspannt sind [. . .] Ich kenne Kranke, die bei oberflächlicher Untersuchung fast unauffällig wirken; dennoch ist ihre ganze Existenzweise, insbesondere die Leiblichkeit, psychotischer Natur [. . .] Grenzpsychotiker leben bisweilen zwanzig, dreißig Jahre lang in einem solchen Zustand, ohne das je aussprechen zu können. Man verkehrt, lebt, spricht mit ihnen und merkt von alledem meist wenig« (S. 134). Seit meiner Tätigkeit in der eigenen Praxis bestätigt sich für mich diese Aussage in beängstigendem Ausmaß. Zu meiner Klientel gehören Menschen, die im Alltag verantwortungsvolle und wichtige Positionen besetzen, sehr geschätzt, oft sogar idealisiert werden. Kaum jemand erahnt, welche Abgründe sich in ihrer Innenwelt, ihrer Einsamkeit auftun. Solche Menschen stehen oft am äußersten Rande des Abgrundes und haben keine Möglichkeit, ihre Erfolge als solche wahrzunehmen und emotional für sich zu besetzen. Mentzos, den ich hier im Kontrast zu Kernberg kurz zitieren will, geht von einem psychodynamischen Modell des Oszillierens zwischen Selbst- und Objektpol aus. Es besteht aus zwei Grunddilemmata: 90
– Selbstidentität (Autonomie) versus Verschmelzung (Verlust des Selbst); – Autonome Selbstwertigkeit versus einer vom Objekt abhängigen Selbstwertigkeit.
Mentzos schreibt: »Diese Dilemmata stellen ursprünglich eigentlich normale und universale Bipolaritäten des Menschen dar und werden erst unter ungünstigen Bedingungen nicht dialektisch aufgehoben sondern konfliktualisiert, das heißt zu Entweder-OderGegensätzen fixiert. Die dadurch entstehende unerträgliche intrapsychische Spannung wird entweder durch selbstorientierte oder objektorientierte defensive, psychotische Mechanismen abgewehrt« (S. 63). Daraus entwickelt er sein Modell, in welchem er das Alternieren und Oszillieren zwischen zwei Polen herleitet. Er stellt im Gegensatz zu Kernberg fest, dass bei der Borderline-Persönlichkeits-Organisation weniger der Aspekt der primären Aggression und Wut als zentraler Affekt im Vordergrund steht, sondern die Angst. Mentzos sieht den speziellen Umgang des Patienten, sich gegen diese Angst zu wehren, als typisch für Borderline-Störungen an. Es ist die spezifische, nicht beliebige Form der Wechselhaftigkeit, zwischen selbstorientierter und objektorientierter Abwehr hin und her zu pendeln. Nicht Spaltung, sondern alternierende Spaltung ist für ihn der wesentliche Begriff im Verständnis der Psychodynamik dieser Krankheit.
Das fluktuierende Ich und die Identitätsdiffusion Die Ich-Grenze ist bei der Borderline-Persönlichkeits-Organisation nicht spröde und rigide wie beim Schizophrenen. Zudem wirken die Innenkräfte nicht im selben Ausmaß schwächend auf das Ich wie bei der Schizophrenie. Somit ist das Ich grundsätzlich und im »Normalfall« nicht der großen Gefahr der Fragmentation ausgesetzt. Die Ich-Grenze bleibt als intakte und durchgehende Struktur erhalten und zeichnet sich, ganz im Gegensatz zur schizophrenen wie auch der neurotischen Ich-Grenze, durch eine hohe Elastizität aus. Diese Eigenschaft wird vor allem für den Um91
gang mit inneren Drucksituationen im Ich kompensatorisch und regulierend eingesetzt. Die Ich-Grenze, aber auch das gesamte Ich des borderlinekranken Menschen hat dank der Elastizität der IchGrenze die Fähigkeit, in hohem Ausmaß zu fluktuieren. Das hohe Fluktuationspotenzial stellt gleichzeitig aber auch ein Problem dar, welches psychopathologisch im Zusammenhang mit der Identitätsdiffusion relevant wird. Scharfetter schreibt in »Dissoziation, Split und Fragmentation«: »Das System, so fragil es erscheinen mag, hat doch eine gewisse elastische Stabilität. Deshalb, so könnte man im Bildhaften folgern, zerbricht das System selten: das heißt, eine multiple Persönlichkeitsstörung geht ähnlich wie eine schwere Borderline-Störung relativ selten in eine Schizophrenie über. Das heißt: die Fluktuation scheint selbst schizopräventiv zu sein. Ein Zerbrechen des Ich im schizophrenen Syndrom ereignet sich eher bei einer gewissen Starre, Unelastizität des Ich – entweder im autistischen Bollwerk des Rückzugs (IchAnachorese) oder im grenzenlosen Sichverströmen (Ich-Diffusion)« (1999, S. 80). Das Ich ist aufgrund der Elastizität in seiner Stabilität und Konstanz der Form geschwächt. Gleichzeitig wird es im Sinne der Schizoprävention oder Schizoprotektion durch eben dieses hohe Fluktuationspotenzial auch gestärkt. Anders das schizophrene Ich: Hier droht der Zerfall des rigiden, spröden Gesamt-Ich und damit der Ich-Grenze, weil der enorme andauernde Innendruck nicht abgebaut werden kann und praktisch kein Fluktuationspotenzial zur Verfügung steht. Bei der Schizophrenie haben wir es vorwiegend mit einer strukturell-destruktiven Störung des Ich zu tun. Die Strukturen verändern sich teils irreversibel. Sie zerfallen und zerbrechen und können verloren gehen. Bei der Borderline-Persönlichkeits-Organisation dagegen erscheint die Ich-Schwäche auf den ersten Blick nur funktionell. Beim genauen Betrachten wird jedoch deutlich, dass eine stabile Ich-Grenze, die Standorte und Form der Persönlicheitsstrukturen in ihren Positionen untereinander nicht aufrechterhalten werden können. Deshalb handelt es hier nicht nur um eine funktionelle, sondern auch um eine strukturelle Störung des Ich, jedoch nicht 92
um eine strukturell-destruktive Form. Die Strukturen sind verändert, aber nicht oder nur sehr selten in ihrer Kontinuität und Vernetzung unterbrochen oder gar zerstört. Es gehen keine Teile der Strukturen verloren wie beim Substanzverlust im Rahmen der Fragmentation des schizophrenen Ich. Sogar bei der so genannten äußeren Borderline-Psychose besteht der Riss – bedingt durch die Fragmentation in der Ich-Grenze – nur kurzzeitig und ist reversibel. Bei Neurotikern wiederum handelt es sich um eine rein funktionelle Störung. Es gibt zwar ein kleines Fluktuationspotenzial (vgl. Abbildung 10), aber die Form der Ich-Grenze, der Persönlichkeitsstrukturen und der Vernetzungen verändert sich bei der Fluktuation kaum, das Zentrum des Ich bleibt immer konstant. Die Ich-Störung bei der BorderlinePersönlichkeits-Organisation ist zwischen funktioneller und strukturell-destruktiver Ich-Störung anzusiedeln, was der Begriff Borderline auch ausdrückt. Mit dieser Betrachtungsweise verstehen wir Scharfetters Aussage gut, dass Borderline-Störungen selten in eine Schizophrenie münden, was katamnestisch wiederholt belegt wurde. Weil diese Einsicht klinisch sehr relevant ist – noch heute sehen einige Kollegen die Borderline-Störung als milde Form oder sogar als Vorläufer der Schizophrenie an –, gehen wir dem etwas genauer nach: Benedetti weist bereits 1967 in seinem Aufsatz »Psychopathologie und Psychotherapie der Grenzpsychosen« darauf hin, dass dem Begriff und der dahinter stehenden Vermutung der präschizophrenen Psychose (Aliez u. Cain 1948; Mendonca-Unchoa 1940) durch katamnestische Untersuchungen von Ernst (1956) widersprochen wurde, der nur einen Fall in Dutzenden von studierten Krankengeschichten fand, in welchem sich aus einer BorderlineStörung eine Schizophrenie entwickelte. Scharfetter weist in seinem Artikel »Schizophrenie, Borderline und das Dissoziationsmodell« ebenfalls auf diese Tatsache hin und zitiert dazu die Katamnesen von McGlashan (1985) und Stone (1987): »Die Katamnesen zeigen auch, das Borderline-Persönlichkeitsstörung keineswegs ein Prodrom einer schizophrenen Erkrankung sein muss. Ich vermute in den so sehr instabilen, fluktuierenden Ich-Zuständen geradezu einen schizoprotektiven 93
Mechanismus. Das Ich ist zu ›locker‹, zu fluktuierend, als dass es zu einer Fragmentierung des Ich wie bei der Schizophrenie käme« (S. 104). Mentzos bezieht diesbezüglich im Handbuch der BorderlineStörungen ebenfalls klar Stellung und betont, dass er in der Borderline-Persönlichkeits-Organisation kein Vorstadium der Schizophrenie oder Psychose sehe: »Betrachtet man nämlich die Borderline-Zustände und die Borderline-Persönlichkeitsorganisation nicht als die ›Hauptpforte‹ zur Psychose, als die schwache Stelle bzw. als die das psychotische Entgleisen fördernde Hauptbedingung, sondern umgekehrt gerade als eine ›Bastion‹, ein ›stabil labiles Bollwerk‹ gegen die Psychose (das ist unsere Annahme), dann gewinnen die gelegentliche psychotische Symptomatik oder auch die seltenen regelrechten psychotischen Episoden einen anderen Stellenwert« (S. 414). In »Borderlinestörung und Psychose« schreibt Mentzos dazu: »Borderline-Zustände erinnern zwar an Psychosen, sie entwickeln sich jedoch erstaunlich selten zu bleibenden psychotischen Zuständen [. . .] obwohl das Borderline nicht das Tor zur Psychose, sondern umgekehrt eher das (vielleicht letzte) Bollwerk gegen sie darstellt« (S. 60). Es ist wichtig zu differenzieren, was genau welche Psychose ausmacht, wie sie sich voneinander unterscheiden und was für behandlungsrelevante Konsequenzen sich daraus ergeben, weshalb ich auf die Borderline-Psychosen, wie ich sie verstehe, später ausführlich eingehen werde. Kommen wir zu einem weiteren Aspekt: Die in meinem Modell definierte innere Grenze, die semipermeable Membran zwischen Unbewusstem und Bewusstem, ist beim borderlinekranken Menschen ebenfalls elastischer, dehnbarer, flexibler und somit durchlässiger als beim Neurotiker, aber nicht im selben Maß gelockert oder gar aufgehoben wie beim Schizophrenen. Die innere Grenze kann aber in extremen Belastungssituationen ihre schützende Eigenschaft der Semipermeabilität vermindern oder gar verlieren. So kann unbewusstes Material ungewollt in den Bereich des Bewusstseins geraten. Diese Durchlässigkeit gilt selbstverständlich auch in umgekehrter Richtung. Bewusstes Material 94
kann plötzlich ins Unbewusste verloren gehen, was zum Vergessen von Erinnerungen führen kann. All das heißt in mein Ich-Struktur-Modell übertragen, dass sich die Form des Kreises aufgrund der hohen Elastizität und des hohen Fluktuationspotenzials der Ich-Grenze nicht anhaltend aufrecht erhalten lässt. Es entsteht eine Ellipse. Das eindeutige und »sichere« Zentrum des Kreises ist bei der Borderline-Persönlichkeits-Organisation nicht mehr garantiert. Es handelt sich also um eine sich wandelnde Ellipse, je nachdem, wie und wo der Druck im Ich gerade ansteigt und das Gesamt-Ich darauf formverändernd reagiert. Das Ich versucht tendenziell die Form der Ellipse, wie auch immer im Raum stehend, zu bewahren. Es entspricht der stabilisierenden Bestrebung, wenigstens eine kreisähnliche Struktur zu erhalten. Die Brennpunkte weisen nur selten feste Positionen auf. Sie verändern ihre Lage je nach Druckverteilung, sprich Fluktuation des Ich (vgl. Abbildung 10).
Brennpunkte
Abbildung 10: Das elastische Ich
Dies wirkt bei großem Druckanstieg im Gesamt-Ich nicht nur schizopräventiv, sondern sogar schizoprotektiv. Ein weiterer Druckanstieg im Inneren des Ich wird so vermieden. Sonst käme es zur Fragmentation der Ich-Grenze, zur so genannten äußeren Borderline-Psychose. Es kann in einzelnen Sektoren des Ich selten und nur kurzfristig zu enormen Drucksteigerungen kommen, wobei das Gesamt95
Ich unter Umständen nicht mehr schizoprotektiv ausgleichen kann, obschon genug Fluktuationspotenzial vorhanden wäre. Mehr und mehr unbewusstes, sonst verdrängtes Material strömt unkontrolliert durch die »Poren« der nicht mehr schützenden semipermeablen Membran in den Bereich des Bewusstseins und überflutet das Ich. Es kommt zu dem, was Autoren – meiner Ansicht nach fälschlicherweise – als Minipsychose oder Mikropsychose bezeichnen, denn diese Bezeichnung wird dem subjektiven Erleben des Patienten in keiner Weise gerecht. Eine andere – seltene – psychosenahe Form der BorderlinePersönlichkeits-Organisation zeigt sich dann, wenn die Ellipse aufgrund einer extremen Fluktuation für kurze Zeit ihre einigermaßen stabile Form gänzlich verliert und vorübergehend zur »Amöbe« wird, ohne dass es zu einer Fragmentation an der IchGrenze kommt. Bei der Amöbe entfällt nun sogar die Garantie der Brennpunkte, aufgrund der ständig wechselnden Struktur gibt es kein Zentrum mehr (vgl. Abbildung 11).
Amöbe
Abbildung 11: Psychosenahe Form der Borderline-Persönlichkeits-Organisation
Kehren wir zum typischen und alltäglichen Geschehen bei der Borderline-Persönlichkeits-Organisation zurück: Durch die Fluktuationen verändern sich auch die Positionen der einzelnen 96
Persönlichkeitsstrukturen im Ich an sich und ebenso die Beziehungen zueinander. Vernetzungen werden gedehnt oder können sich schrumpfend zusammenziehen. Das entspricht dem Bild einer Struktur des Ich, welches zwar keine Substanz wirklich verliert, aber in der Eindeutigkeit seiner Form (Identität) gefährdet ist. Die Verwirrung über sich und die Welt, welche durch die Fluktuation entsteht und im Modell den sich verändernden Ellipsen entspricht, ist die Basis zum Verständnis der Identitätsdiffusion. Zusammenfassend kann Folgendes gesagt werden: Die Borderline-Persönlichkeits-Organisation ist durch eine sehr schwere funktionelle Störung des Ich gekennzeichnet, die auf einer schweren strukturellen, aber nicht destruierenden Störung des Ich basiert, welche ohne Substanzverlust einhergeht. Dem liegt die äußere elastische Ich-Grenze mit entsprechend großem Fluktuationspotenzial des Gesamt-Ich sowie die entsprechende Dehnbarkeit der Strukturen und Vernetzungen im Inneren des Ich zugrunde, welches als Ganzes und in allen Teilbereichen bei Druck nicht zerbricht, sondern sich dehnt oder schrumpft. Diese Anpassungsfähigkeit hat grundsätzlich eine schizopräventive und zeitweise protektive Wirkung, allerdings um den Preis der Eindeutigkeit der Identität, was zur Identitätsdiffusion oder fluktuierenden Leihidentität führt. Die Realitätskontrolle bleibt dabei meist intakt. Somit bewegt sich diese Störung zwischen Neurose und Schizophrenie, ganz dem Begriff Borderline entsprechend.
Borderline-Persönlichkeits-Organisation am Beispiel der DSM-IV-Kriterien Ausgewählte diagnostische Kriterien für DSM-IV (301.83/ICD10/F60.31, S. 739): – Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. – Ein Muster instabiler, aber intensiver menschlicher Beziehung, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. 97
– Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. – Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung. – Chronisches Gefühl von Leere. – Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren.
Diese DSM-IV-Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung sollen nun mit psychodynamischen Überlegungen zur Borderline-Persönlichkeits-Organisation verknüpft werden. DSM-IV geht grundsätzlich vom Außenbetrachter in der Funktion des Diagnostikers und nicht von der Sicht des Therapeuten aus. Die Kriterien beschreiben zwar, was wir vom Patienten hören, wahrnehmen und nachweisen können, nicht aber, was der Patient wirklich empfindet und erlebt. Ich werde diesen Aspekt, gestützt auf Aussagen von Patienten, hier darlegen. Warum hat der Patient Angst verlassen zu werden und versucht dies um jeden Preis zu vermeiden? Was erlebt der borderlinekranke Mensch, wenn er allein ist, verlassen wird oder droht allein gelassen zu werden? Warum treten meist instabile, aber doch intensive Beziehungen und so heftige Emotionalität auf? Im Alleinsein taucht das Gefühl der unerträglichen Desorientierung und der inneren Leere auf. Die sonst verborgene Leere (Entleerung bei primärer Depression/blande Psychose; Green 2000) droht aufzubrechen, das heißt, für den Patienten spürbar zu werden. Ihm fehlt ein äußerer Bezugspunkt zur Strukturierung und Orientierung. »Tote« Objekte reichen dafür mittelfristig nicht aus. Er braucht das lebende Gegenüber. Sonst steigt die Angst, sich in der Verwirrung zu verlieren. Das kann zur Angst vor der Psychose, also vor dem »Durchdrehen« oder »Verrücktwerden« führen, nur selten aber zur Angst vor dem Tod, dem Nichtsein. Der borderlinekranke Mensch muss aus diesem Erleben heraus dafür sorgen, dass er nie allein bleibt. Was geschieht, wenn er nicht allein ist? Gehen wir von der Ellipse mit ihrem Fluktuationspotenzial und der resultierenden Veränderung des Identitätsgefühls aus und betrachten die Bezie98
hung zum Gegenüber und ihre Dynamik etwas genauer. Der Borderline-Patient hat keine verlässliche Gewissheit, wie und wer er wirklich ist. Vieles verändert sich aufgrund der Fluktuation in seinem Erleben, was sowohl die Innenwelt wie auch die Außenwelt betrifft, und er muss versuchen, damit umzugehen. Ein auf ihn bezogenes Gegenüber gibt ihm grundsätzlich die Garantie, sich in der Abgrenzung und Beziehung zu diesem Gegenüber selbst besser zu spüren und immer wieder neu orientieren zu können. Ein Mensch, der emotional, aber auch physisch reagiert, gibt dem Patienten die Möglichkeit der Ich-Du-Abgrenzung. Das können »tote« Objekte nicht oder nicht anhaltend leisten. Das Gegenüber garantiert für den Moment die Identität des Borderline-Persönlichkeits-organisierten Menschen oder gibt ihm die Möglichkeit, sich immer wieder einer eigenen Identität anzunähern. Er versucht sich diese Identitäts-Garantie zu sichern und idealisiert anfänglich das Gegenüber: »Es tut ja so gut, zusammen zu sein.« Am liebsten würde er zu diesem Zeitpunkt sein Gegenüber auf ewig binden. Dafür begibt er sich selbst intensiv in diese Beziehung. Der Verschmelzungswunsch treibt ihn mit der Zeit in eine symbiotische Nähe, was die klare Grenze zwischen dem Anderen und dem Selbst verwischt. Es ist zunächst diese Verwischung, welche zur Umkehr der Interpretation des Patienten führt. Der geliebte, bewunderte und idealisierte Andere ist (plötzlich) derjenige, der das eigene Ich auffrisst, auflöst. Die Verschmelzung führt also unweigerlich zur Verwischung der Ich-DuGrenze und auf diesem Weg erneut zur Identitätsdiffusion. Die angestrebte und ersehnte Garantie der Identitätsgewissheit durch Beziehung wird jetzt bei erhaltener Realitätskontrolle zur Gefahr des gefühlsmäßigen Identitätsverlustes. Die Angst sich zu verlieren und durchzudrehen steigt, die eigene innere Desorientierung nimmt zu. Die mögliche Rettung aus diesem Dilemma scheint, den Anderen als bedrohlich zu erkennen und eine Grenze zu ziehen, um sich selbst wieder als selbstständiges Wesen erfahren zu können. Damit beginnt die Entwertung des Gegenübers. Der Betroffene reagiert mit der Zeit irritiert, verwirrt oder ungehalten und wird sich früher oder später aus der Beziehung zurückziehen oder wird aus ihr »hinausgeworfen«. Der borderlinekranke 99
Mensch findet sich wieder allein mit seiner Identität, was aber nur kurzfristig eine Erholung bedeutet und langfristig wieder in diesen Teufelskreis führt. Egal ob er allein ist oder sich in eine Beziehung begibt – der Borderline-Persönlichkeits-organisierte Patient leidet unter Identitätsdiffusion. Das Hin- und Herpendeln ist wohl die einzige mögliche Form des Überlebens. Es ist der hohe Preis, welchen der Patient für den Schutz vor der sonst drohenden Psychose im Sinne der Fragmentation (Schizophrenie) bezahlt. Diese unabwendbare, sich wiederholende Dynamik führt mit der Zeit zu einer Zermürbung und zur instabilen Stimmung des Patienten, geprägt von Wut und Verzweiflung, in Beziehungen immer wieder enttäuscht zu werden. Eine der Folgen ist die sich einstellende depressive Erschöpfung. Wenn die ganze Welt böse und bedrohlich wäre, hätte der borderlinekranke Mensch kaum eine Chance, zu überleben. Er benötigt jederzeit sowohl gute wie böse Gegenüber. Die guten Objekte können nicht konstant als gut wahrgenommen werden, ebenso nicht die bösen. Nur die wiederholte Spaltung und die Neuordnung der Welt um den Patienten herum gibt ihm eine mittelfristige Überlebenschance. So wechselt er die Beziehungen häufig, die wohl sehr intensiv, aber nicht stabil sind. Es ist sehr anstrengend, so leben zu müssen, vor allem, wenn einem selbst diese Dynamik gar nicht bewusst ist. Ohne spezifische psychotherapeutische Behandlung ist all das für den Betroffenen nicht durchschau- und erkennbar. Es ist eine unbewusste kompromisshafte Überlebensstrategie, welche bei borderlinekranken Menschen zum Zuge kommt, um mit der Identitätsdiffusion in ihren Varianten umgehen zu können – eine Sisyphusarbeit, eine Strategie auf niedrigem Abwehrniveau, wie Kernberg es ausdrückt. Dieses Abwehrniveau ist von Spaltungsmechanismen, Verleugnung, Projektion und projektiver Identifizierung geprägt. Es folgt ein konkretes, veranschaulichendes Beispiel: Im Anschluss an eine kurze, aber heftige und dramatisch verlaufende psychotische Borderline-Episode (äußere Borderline-Psychose), die über gut eine Woche andauerte, sagte eine Patientin im gleichen Gespräch, in welchem wir diese Krise besprachen: »Er [ihr Lebenspartner] ist mein Liebster und einziger Freund, er ist der Einzige, der mich aus-
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hält und wirklich versteht, der weiß, wie er mich in meinen Krisen nehmen muss, der Einzige, den ich dann ertrage, der Einzige, den ich dann immer und die ganze Zeit um mich haben will.« Sie zögert und korrigiert: »Nein, Sie und er, ihr zwei seid dann meine liebsten Menschen . . . Alle anderen sind böse und gemein.« Im weiteren Verlauf des Gespräches, nur etwa fünf Minuten später, ging es um eine konkrete Situation zu Hause, als sie ihren Partner in eben dieser Krise hart beschuldigte und sich sogar von ihm trennen wollte. Dazu erklärt sie, als ob sie die anderen Sätze nie ausgesprochen hätte: »Ich hielt ihn nicht mehr aus. Er kam mir dauernd zu nahe, lief mir auf mich einredend nach, saß mir fast auf. Ich ertrug seine Umarmungen nicht mehr. Ich hätte ihn auf den Mond schießen und ihm eine knallen können. Deshalb habe ich mich damals zurückgezogen, in der Dusche eingeschlossen und ihm gedroht, mir nicht nachzukommen . . .«
Es ist borderlinekranken Menschen grundsätzlich nicht oder nur punktuell möglich, dieses Fluktuieren und die Identitätsdiffusion als Widerspruch und als Veränderung der Position des gleichen Menschen wahrzunehmen. Die emotionale Besetzung ist für den Patienten jeweils nur in einem Extrem möglich, da die strikte Trennung von Gut und Böse garantiert sein muss. Kernberg weist auf die fehlende Fähigkeit dieser Menschen hin, gute und böse Objektund Subjektrepräsentanzen zu integrieren. Kleinianisch ausgedrückt heißt das: In der paranoid-schizoiden Position sind die gute und böse Brust strikt voneinander getrennt, also zwei verschiedene, völlig unabhängige Brüste. Es ist nicht möglich, die Mutter, die sowohl für die Frustration wie für die Erfüllung der Bedürfnisse verantwortlich ist, als gleiche Person wahrzunehmen. Das hat Konsequenzen. Es ist für die Patientin im Fallbeispiel so, wie sie es aus der im Moment besetzten Position heraus erlebt. Es ist ihr zudem nicht bewusst, dass sie nicht nur die Außenwelt, sondern auch im Ich selbst Gut und Böse voneinander trennt. Sie projiziert zeitweise sogar ihr Böses, Verfolgendes auf ihr Gegenüber und wirkt so projektiv, ja projektiv-identifizierend. Ihr Lebensgefährte verwandelte sich auf diese Weise in der beschriebenen Situation vom fürsorglichen, liebevollen Partner zum Verfolger. Er übernahm unbewusst die ihm von der Patientin zugespielte Rolle des Bösen und bestätigte sie damit. Erst in der intensiven Psychotherapie mit Reinszenierung dieser Verfolgungssituation – nun aber 101
in der Übertragung/Gegenübertragung – gelang es der Patientin, die abgespaltenen Teile im Rahmen der Spiegelung und Deutung einander anzunähern, diese Annäherung überhaupt zuzulassen und zu ertragen sowie ihre für Außenstehende widersprüchlichen Aussagen als solche zu erkennen. Identitätsdiffusion kann im Extremfall auch zur Verwirrung über sich selbst (erlebte Unsicherheit der Selbstidentität) und die Welt führen und die Realitätskontrolle derart beeinträchtigen, dass diese Patienten sich dem Reich der Psychose bedrohlich nähern oder gar die Grenze kurzzeitig überschreiten.
Borderline-Persönlichkeits-Organisation und Psychose Vorbemerkungen Bei Borderline-Persönlichkeits-organisierten Menschen muss auch der Aspekt des Psychotischen vertieft diskutiert werden. In diesem Zusammenhang kritisiere ich die bis heute häufig anzutreffende synonyme und damit verwirrende Verwendung der Begriffe Psychose und Schizophrenie und halte hier nochmals die banale Tatsache fest: Schizophrenie ist eine Psychose, aber nicht jede Psychose ist eine Schizophrenie. In der historischen Entwicklung des Borderline-Konzepts zeigt sich von Beginn an die Unsicherheit in der diagnostischen Einordnung zwischen Neurose und Psychose, vor allem zur Schizophrenie. 1949 prägen Hoch und Polantin den Begriff der pseudoneurotischen Schizophrenie (vgl. auch Lewis 1949). Neun Jahre später, 1958, sprechen Alexander und Moore von der pseudoschizophrenen Neurose. Klare und ausführliche Äußerungen zum Thema Borderline und Psychose finden sich bis heute nur selten und häufig am Rande. Rohde-Dachser erwähnt den Begriff der Minipsychosen, Gunderson spricht von minipsychotischen Episoden, Linehan von Mikropsychosen. Kernberg äußert sich nur vage zur psychotischen Übertragung. Mentzos, der sich eingehend mit dem Psychotischen – auch im Rahmen der Borderline-Diskussion – 102
auseinander setzt, schlägt die sinnvolle aber bisher selten angewandte Einteilung in drei Borderline-Typen vor (Thymo-, Schizoaffektives und Schizo-Borderline) (2000, S. 420). Unter »Psychoanalytische Konzepte der Borderline-Struktur« in »Psychotherapie der Borderline-Störungen« (Dammann u. Janssen 2001) zeigt sich in der kurzen und übersichtlichen Chronologie und dem Abriss der Geschichte deutlich, wie in den diagnostischen Beurteilungen von Borderline bis heute das ganze Spektrum von Neurose bis Psychose – und häufig ist hier nicht nur die Schizophrenie gemeint – vorkommt. Im »Handbuch der Borderline-Störungen« weist Kind im Kapitel »Zur Entwicklung psychoanalytischer Borderline-Konzepte seit Freud« ebenfalls ausführlich auf diesen Umstand hin. Im DSM-IV (Schizophrenie und andere psychotische Störungen) finden wir, dass »psychotisch« auch als Verlust der Ich-Grenze oder als eine weitgehende Beeinträchtigung der Realitätskontrolle definiert wird. In diese Richtung orientiert sich auch mein Zugang zum Psychotischen bei der Borderline-PersönlichkeitsOrganisation. Während sich die Diagnoseschlüssel wie DSM und ICD an der Beschreibung und Zusammenstellung von Symptomen zu Kriterien der Diagnostik orientieren, fokussiere ich ganz auf das Geschehen im Ich und an der Ich-Grenze. Ich verwende den Ausdruck Borderline-Psychose übrigens nicht im Sinne der Neueinführung eines diagnostischen Begriffes. (Dies wurde am ICD-9-Kongress 1966 in Oslo bereits diskutiert.) Ich möchte damit der von uns meist ungesehenen Dimension des Leides mehr Gewicht geben, denn meines Erachtens können Begriffe wie minipsychotisch oder mikropsychotisch dem nicht wirklich gerecht werden. Sie sind zudem zu diffus und ungenau, lassen keine differenzialdiagnostischen Überlegungen innerhalb des Psychotischen zu. Ich stelle die Betrachtung des Psychotischen aus psychoanalytischer, Ich-psychopathologischer Sicht in den Vordergrund. Aus unzähligen Supervisionen scheint es mir klinisch relevant und wichtig, das Schizophrenie-Ähnliche separat herauszuarbeiten und genauer darzustellen. Gerade in diesem Bereich sind therapeutische Fehlüberlegungen mit fatalen Konsequenzen für die Patienten an der Tagesordnung. Die Folge sind 103
falsche Beurteilungen – nicht nur der Krankheit, sondern auch der Therapiechancen. Psychotherapeutisch gehbare Wege bleiben diesen Patienten – und ihren Therapeuten – so verborgen. Die Nähe der Borderline-Persönlichkeits-Organisation zu den Affektiven Psychosen sehe ich ebenso wie Mentzos. Es würde jedoch das Konzept und den Rahmen dieses Buches sprengen, hier darauf einzugehen.
Äußere Borderline-Psychose Aus jahrelanger Erfahrung und Analyse von grenzpsychotischen und psychotischen Zuständen bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeits-Organisation scheint es mir sinnvoll, die äußeren und inneren Vorgänge bei extremer Drucksteigerung innerhalb des Ich genauer darzustellen. Aus der dekompensierten inneren Borderline-Psychose entwickelt sich die für den Außenstehenden deutlich wahrnehmbare äußere Borderline-Psychose, wie ich sie hier nenne. Sie imponiert häufig schizophrenieähnlich und kann, wenn sie länger andauert, wiederholt oder besonders heftig auftritt, eher in Kliniken beobachtet werden. Sie dauert im Vergleich zu schizophren-psychotischen Episoden meist nur kurzzeitig an. Die Patienten werden mit einem akuten und schizophren-psychotisch anmutenden Schub in die Klinik eingewiesen. Das Symptombild klingt mit, oft auch ohne, neuroleptischer Behandlung in kurzer Zeit, meist über Nacht oder spätestens nach wenigen Tagen, vollständig ab. Es kann in kurzen (oder längeren) Abständen zu wiederholten, kurzen, punktuellen und reversiblen »Löchern« in der Ich-Grenze kommen, die vom Symptombild sowie der Heftigkeit an eine Schizophrenie denken lassen, was aber beim genauen Hinsehen eben nicht zutrifft. Der wesentliche Unterschied ist, dass grundsätzlich keine Fragmentierung innerhalb des Ich stattfindet, wie dies beim Schizophrenen der Fall ist. Es betrifft nie die ganze oder große Teile der Ich-Grenze (Grenzauflösung/Ich-Entgrenzung). Auch die Ich-Grenze bleibt als durchgehende Struktur trotz »Löchern« erhalten. Um das zu verstehen, betrachten wir das Ich nun im Modell nicht mehr 104
als zweidimensionalen Kreis, Ellipse oder Amöbe, wie ich dies zur Vereinfachung und Einführung meines Models bereits dargelegt habe, sondern als dreidimensional. Wie erwähnt, tritt die Zerstörung der Ich-Grenze nur punktuell auf und eine vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen, unversehrten Zustands ist die Regel. Was geschieht hier? Zur Veranschaulichung möchte ich ein klinisches Beispiel etwas ausführlicher darstellen: Die Patientin war zum Zeitpunkt des schizophrenieähnlichen, borderline-psychotischen Schubes ungefähr vierzig Jahre alt. In der frühen Adoleszenz fiel sie mit einer nicht lebensbedrohlichen, eher milden Anorexie auf. Im Alltag litt sie zudem an plötzlich auftretenden, unerklärlichen, kurzen Absenzen. Davon unabhängig entwickelte sie sich zu einer sehr erfolgreichen Geschäftsfrau in einem typischen Männerberuf. Mit 23 Jahren wurde sie am Tag einer bestandenen Abschlussprüfung akut suizidal und trat auf Anraten ihres damaligen Therapeuten freiwillig bei uns auf die offen geführte Psychotherapiestation ein. Sie wurde mit der Diagnose »Suizidalität bei einer narzisstischen Neurose« und mit Hinweis auf eine früher stattgefundene Adoleszentenstörung eingewiesen. Bei der Aufnahme wirkte sie wie ein scheues Reh, das niemandem etwas zu Leide tun könnte. Sie war eine außerordentlich schöne, grazile, eher jünger und bubenhaft wirkende Frau. Es folgte eine lange, fast einjährige erste Phase der stationären Behandlung. Kaum hospitalisiert, drohte die Patientin ständig mit Suizid und unternahm regelmäßig massive Versuche auf der Station. Sie verhinderte damit, auch aus juristischen Gründen, die Entlassung. Erst unter der Hospitalisation zeigte sich die Borderline-Erkrankung, die bis dahin unter der neurotischen Decke verborgen war. Die hochfrequente analytische Psychotherapie brachte mit der Zeit eine Beruhigung. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Team der Station war erforderlich. Aus therapeutischen Überlegungen behandelte ich die Patientin grundsätzlich auf der offenen Station, egal wie suizidal sie war. Konkret bedeutete dies: Nach jedem der anfänglich häufigen Suizidversuche, welche üblicherweise mit Verlegung ins somatische Akutspital einhergingen, nahm ich sie sofort wieder auf die offene Station zurück, nachdem sie jeweils die Nacht nach Rückverlegung auf der geschlossenen Station verbringen musste. Ich empfing sie jeweils empathisch mit den Worten, dass ich sehr froh sei, sie zu sehen. Zudem schimpfte ich ernst-liebevoll mit ihr und äußerte meine Sorge um sie. Ich betonte jeweils, dass sie unsere Therapiebeziehung gefährden würde und es nicht in meiner Macht ste-
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he, ihr das Leben zu retten oder sie vor dem Suizid zu bewahren. Ich wolle mit ihr am Leben arbeiten und nicht für den Tod. Sie war jeweils erschüttert über mein Engagement. Eher erwartete sie Vorwürfe, Drohungen und Bestrafung, auf welche sie mit einem Machtkampf hätte reagieren können. Mit der Zeit vertraute sie mir ihr großes Geheimnis an. Seit der Kindheit besäße sie eine zweite, für niemanden bekannte und zugängliche Welt mit zwei Unterwelten. Sie etablierte diese als Fluchtort wegen ihrem anderen Geheimnis, welches sie bisher mit niemandem teilen konnte. Sie wurde als Kind wiederholt und über einen längeren Zeitraum von einem »guten« Freund der Familie, welcher sie regelmäßig hütete, grob sexuell missbraucht. Er legte sich jeweils auf sie. Dabei stand sie Ängste aus, zu ersticken. Die eine Unter-Welt, die ich hier X nenne, war die böse Welt. Dort stand ein großer furchterregender Bär am Eingang und ließ niemanden herein und auch keine der bösen Gestalten hinaus. In der anderen Welt, die ich Y nenne, herrschten idyllische Verhältnisse. Das war ihr Paradies mit Schutz und Frieden. Dort hielt sie sich all die Jahre täglich, wenn möglich für Stunden, auf. Mit den Jahren verließ der Bär X. Danach überfluteten die bösen Gestalten die zweite Welt der Patientin. Dagegen war sie machtlos. Die schöne paradiesische Welt war von nun an zeitweise bedroht und besetzt von bösen Eindringlingen. Manchmal stand sogar der Bär selbst am Eingang von Y und ließ sie nicht mehr hinein. Verzweiflung war die Folge. Es waren zugleich die Zeiten der Verweigerung, der Absenzen und später dann der Suizidversuche in der Realwelt. All das spielte sich vorerst unter Ausschluss der »Öffentlichkeit« ab. Die sehr gut bestandene Prüfung war für sie zugleich die Aufforderung, von der Kinderwelt Abschied zu nehmen. Sie sollte nun selbstverantwortlich in der Welt stehen – Grund genug, mit einem Suizidversuch zu kapitulieren.
Nach der stationären Behandlung folgte eine intensive Psychotherapie, die nach Absprache mit dem vorgängigen Therapeuten durch mich weitergeführt wurde. Im Laufe der Zeit entwickelte sie eine eigene reife und stabile Identität. Inzwischen ist sie Mutter geworden und steht mit beiden Füßen (fast) ganz im Leben. Die zweite Welt gehörte für länger als zehn Jahre der Vergangenheit an. Zu ergänzen ist, dass sich bereits auf der Station ein Grüppchen von drei Borderline-Patientinnen bildete, die auch nach der Hospitalisation eng miteinander verbunden blieben. Die beiden anderen Frauen suizidierten sich nach einiger Zeit im Abstand von ungefähr drei Jahren trotz des intensiven Kontaktes unterei106
nander. Sie versuchten sich jeweils gegenseitig in Krisen zu unterstützen. Meine Patientin ist die einzige Überlebende. Zudem suizidierte sich in den Jahren zwischen den zwei Suiziden der Frauen ihr eigener Vater. Damit verknüpft waren kurzzeitige suizidale Krisen der Patientin, die jedoch ambulant aufgefangen werden konnten. Die Patientin erkrankte, inzwischen 13 Jahre nach der Hospitalisation, an einer rheumatischen Gelenkerkrankung. Vom Rheumatologen wurde ihr in Unkenntnis ihrer Anorexie-, Borderline- und Psychiatrie-Vorgeschichte eine strikte Diät verordnet. Diese Diät verursachte bei ihr wiederholt ein kurzes Abgleiten in ihre Geschichte von früher, was mit Körpersensationen, die sie von damals kannte, einherging. In den Ferien im Ausland träumte sie intensiver und von sich als Kind. Der »Freund« der Familie, der sie als Kind wiederholt missbraucht hatte, tauchte zwischendurch bereits am Rande, aber nur in kurzen Sequenzen ebenso auf wie die Freundinnen, die sich suizidierten. Sie konnte sich tagsüber nur schwer von den Träumen distanzieren, zog sich deshalb von der Familie zurück und blieb für sich allein am Strand. Unmittelbar nach der Rückkehr aus den Ferien konnte sie nachts nicht mehr gut einschlafen oder erwachte bereits nach kurzem Schlaf verzweifelt wegen sehr intensiven Träumen. Sie blieb stundenlang wach und hatte Angst, wieder einzuschlafen. Nach kurzer Zeit dekompensierte sie akut submaniform und paranoid-psychotisch. Sie fühlte sich verfolgt, interpretierte ihre Umgebung falsch, wurde distanzlos und fiel in der Nachbarschaft unangenehm auf. An einem Tag wusch sie wiederholt die gesamte Wäsche. Ich erhielt in der Nacht und auch am Tag Dutzende von SMS von ihr. Von Liebesangeboten bis zu Verwünschungen war alles vorhanden. Sie wollte mich in der Klinik treffen und berichtete gleichzeitig, von dort würde eine Verschwörung gegen sie laufen oder lud mich zu einem Konzert in ihrem Wohnort ein. Schlaf bräuchte sie nicht mehr, erklärte sie anfänglich, sie sei hellwach und werde nun die Welt verändern. Nach wenigen Tagen kippte die Stimmung und sie klagte über ihre Schlaflosigkeit bei sich abzeichnender Müdigkeit, war aber noch nicht bereit, Medikamente einzunehmen. Nachdem wir jeweils telefoniert hatten – ich weilte in einem anderen Teil der Schweiz und konnte sie nicht zu Hause besuchen –, beruhigte sie sich nach kurzer Zeit vollständig. Sie erkannte ihr »Spinnen«, distanzierte sich davon und kehrte bereits während des Telefonates in die Normalität zurück. Ihr Mann war über die rasche Änderung ihres Zu-
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standes sehr verwundert, bestätigte mir, alles sei wieder in Ordnung. Die Stabilität hielt leider nie lange an. So musste eines Abends der Notarzt im Ort involviert werden. Er nahm Rücksprache mit mir. Ich empfahl den kurzen Einsatz eines Neuroleptikums, wovon ich zuvor die Patientin am Telefon endlich überzeugen konnte und beruhigte den Kollegen, dass der Spuk, wenn sie Schlaf fände, voraussichtlich am Tag darauf vorbei sein werde, was er mit (verständlicher) Skepsis zur Kenntnis nahm. Er erbot sich am nächsten Tag erneut nach der Patientin zu sehen, was ich schon zur Beruhigung der Familie begrüßte. Er fand sie wohlauf. Der Spuk war, wie »prophezeit«, vorbei. Die Medikamente setzten wir wieder ab. Danach bearbeiteten wir die »Psychose« intensiv in einer weiteren Tranche der Psychotherapie.
Wie ist das Geschehene zu verstehen? Da ich die inneren Vorgänge im Rahmen der Darstellung der inneren Psychose später detailliert ausführen werde, beschränke ich mich hier auf das Wesentliche zum psychodynamischen Verständnis der äußeren Borderline-Psychose. Damit es zur äußeren Borderline-Psychose, auch psychotische Episode genannt, kommt, muss die Ich-Grenze im Modell irgendwo einreißen und ein Loch entstehen, welches die Grenze zwischen außen und innen punktuell auflöst. Dies kann durch eine enorme Druckentwicklung in sehr kurzer Zeit an mindestens einem Punkt der Ich-Grenze oder durch länger andauernde Druckbelastung, welche den Druck langsam, aber unabwendbar ansteigen lässt, geschehen. Natürlich gibt es auch die Kombination der beiden Vorgänge. Eine langsame Druckentwicklung wird durch einen zusätzlichen, schnellen Druckanstieg so ergänzt, dass die kompensatorischen schizoprotektiven Mechanismen überfordert werden und die Ich-Grenze an einer Stelle punktuell undicht wird. Bei meiner Patientin war Letzteres der Fall. Der Druck stieg nach der Verordnung der Diät an, bedingt durch die Konfrontation mit der eigenen anorektischen Vergangenheit als Adoleszente. Diese Zeit war durch emotional heftiges Erleben und zeitweise unerklärliche Absenzen geprägt, die auftraten, wenn der Patientin alles zuviel wurde. Wie sich in der Psychotherapie später herausstellte, war diese Phase eng mit dem Protest gegen die Mutter 108
verknüpft, welche sie damals bei den Missbräuchen in ihrer Not nicht wahrnahm und nicht schützte. Die verordnete Diät löste eine punktuelle emotionale Verwischung der Zeitorientierung bei ihr aus. Sie konnte Gefühle der Vergangenheit und solche der Gegenwart nicht immer voneinander trennen und entsprechend chronologisch einordnen. Das führte zur Fusionierung von früher erlebten und nun reproduzierten Angst- und sekundär Wutgefühlen. Im Erleben der Patientin kam es zur Potenzierung von bedrohlichen Gefühlen. Zu Hause konnte sie diese anfänglich trotz ihres sehr besetzten Alltags und des Rückzugs von der Familie über ihre elastische Ich-Grenze schizoprotektiv abwehren und kompensieren. Da die Anorexie und die Absenzen in der Adoleszenz eng mit dem Missbrauch verknüpft sind, den sie als Kind erlebte, tauchten zusätzlich assoziativ existenziell bedrohliche Erinnerungen aus dieser Ebene auf, die ebenfalls abgewehrt werden mussten. Anstatt sich selbst als bedroht erleben zu müssen, spaltete sie zuerst den bedrohlichen Teil in sich ab und trennte ihn vom guten schützenden Teil. Sie erinnerte sich an die Suizide der ihr nahe stehenden Personen, was zwar auch bedrohlich für sie war, aber wenigstens außerhalb von ihr geortet werden konnte. Das eigene Bedrohliche musste nun vorübergehend nicht erinnert werden. Die Ferienreise nahm ihr auch noch die Option der Selbstregulation und des Druckabbaus. Sie schlief und träumte schlecht. Die Ferien dauerten diesmal wesentlich länger als sonst. In den Träumen tauchten inzwischen unberechenbar auch in langen Sequenzen Szenen aus der Kindheit auf. Sie träumte zunehmend intensiver. In der Therapie erinnerte sie sich später, zuerst vor allem intensiv von den Freundinnen geträumt zu haben. Dann aber vermischten sich Traumreste mit langen Sequenzen vom Missbrauch darin. Diese Sequenzen tauchten mit der Zeit sogar vermehrt auf. Sie schaffte es kaum noch, sich am Tag zu ordnen, Vergangenheit und Gegenwart zu trennen. Sie musste mit alldem für sich allein bleiben, da sie die Familie nicht belasten wollte (so wie als Kind). Am ehesten hätte sie sich noch in der Therapie geschützt über die bedrohlichen Aspekte unterhalten können, aber diese stand zu dem Zeitraum nicht zur Verfügung. Ein Gespräch mit dem Partner 109
hätte erfahrungsgemäß den Druck eher gesteigert als verringert. Zudem hatte sie Angst, dass sie ihre zunehmenden Wutgefühle auf die Familie abwälzen würde, was ihr Schuldgefühle verursacht und sie zusätzlich belastet hätte. Das wollte sie verhindern. Dafür waren während der Ferien die äußeren Umstände des Alltags wie die Essenszubereitung für sie entlastend ausgelagert. So schaffte sie es über die ganze Zeit der Ferien knapp, unauffällig über die Runden zu kommen und nicht äußerlich sichtbar zu dekompensieren. Dass sie sich in den Ferien oft etwas mehr zurückzieht, ist für die Familie seit Jahren bekannt und wird akzeptiert.Auf der Heimreise am Flughafen überkam sie plötzlich ein richtiger Heißhunger. Während sie in den Ferien das Essen eher gemieden hatte, verspürte sie jetzt den Drang, sich schnell aufzufüllen, die innere Leere zu stopfen. Es war der erste Schritt, sich selbst mehr zu spüren und zurückzuholen. In der Schweiz erwartete sie der belastende Alltag und forderte mehr von ihr als in den Ferien. Rückzug war zeitlich nur noch sehr beschränkt möglich. Alle Kompensationsmechanismen reichten bald nicht mehr aus. Es kam zunächst zu diskreten, sehr kurz dauernden psychotischen Episoden,welche von der Umwelt noch nicht wahrgenommen wurden. Diese reihten sich in immer kürzer werdenden Abständen aneinander und konnten irgendwann nicht mehr verdeckt gehalten werden. Die psychotischen Episoden nahmen nun an Intensität, Heftigkeit und Dauer zu. Im nächsten Schritt dekompensierte die Patientin vollends, und die paranoide Psychose (Verfolgung) war für alle wahrnehmbar und eigendynamisch in vollem Gang. Der Druck, der sich über drei Wochen langsam aufgebaut hatte, nahm kontinuierlich und unabwendbar zu. Zudem wurde die Grenze zum Unbewussten und Vorbewussten inzwischen durchlässig und vermischte sich mit dem Bewussten. Überflutet von Bildern und Erinnerungen aus ihrem gesamten Leben und unter Aufhebung der zeitlichen Ordnung musste sie aufgrund des die Ich-Grenze sprengenden Drucks psychotisch nach außen sichtbar dekompensieren. Die Telefonate mit mir, in denen ich eine unverrückbare, klare Haltung ihr gegenüber einnahm, wirkten kurzzeitig druckentlastend und stärkten die eigene Abwehr. Das Neuroleptikum hat zudem das Ziel, der Patientin zu einer ganzen Nacht mit viel Schlaf ohne bedrohliche 110
Träume zu verhelfen, sie physisch zu stabilisieren und durch die neuroleptische Wirkung das Loch in der Ich-Grenze zu stopfen. Die Stabilität zu konsolidieren und zu bewahren, war nun Aufgabe der folgenden intensiven psychotherapeutischen Behandlung. Solche inneren Krisen, welche in der Psychotherapie früh erkannt und behandelt werden können, müssen nicht unbedingt zur äußeren Borderline-Psychose führen. Ich habe jedoch einige Patienten erlebt, welche im Rahmen der Behandlung in der Therapiestunde eine heftige Druckentwicklung erlebten, die unmittelbar zur äußeren Psychose führten. Diese konnten bereits in der Sitzung mit therapeutischer Unterstützung abgebaut werden. Auch wenn psychotische Vorgänge innerlich, unsichtbar für die Außenwelt, noch über Stunden oder Tage anhalten konnten, kehrten die Patienten äußerlich geordnet ins Leben außerhalb des Therapieraumes zurück. Sie kompensierten diese Restzustände meist selbst. Die kontinuierliche psychotherapeutische Bearbeitung solcher Episoden führt mit der Zeit in der Mehrheit der Fälle zum vollständigen Abklingen dieser Ereignisse. Um dieses Stadium zu erreichen, braucht es viel Geduld auf beiden Seiten. Wenn sie trotzdem erneut auftauchen, werden sie von den Patienten oft früh erkannt und in kürzester Zeit eigenständig abgebaut. Das trifft auf die massiven, selbstdestruktiven Handlungen genauso zu. Von Seiten des Therapeuten bedarf es der großen Bereitschaft, sich mit seinen negativen Gegenübertragungsgefühlen, die über lange Zeit andauern, immer wieder aufflackern und sehr heftig sein können, positivierend auseinander zu setzen, um den Patienten therapeutisch sowie verständnis-, ja liebevoll zu begleiten. Das heißt nicht, dass es für Ärger, Wut, Verzweiflung und andere schwierige Gefühle des Therapeuten keinen Platz geben darf. Es braucht jedoch unbedingt die von Benedetti wiederholt geforderte Positivierung des Negativen, auch für den Therapeuten selbst. Dies geschieht durch Bearbeitung des eigenen Gegenübertragungsgefühls im Rahmen der ehrlichen und offenen Supervision. Das ist lediglich ein Aspekt, welcher für eine erfolgreiche Behandlung Voraussetzung ist. 111
Innere Borderline-Psychose Die folgenden psychodynamischen Ausführungen sind nicht nur theoretische Gedanken zu psychotischen Episoden bei Borderline-Persönlichkeits-organisierten Patienten, sondern von diesen beschriebene Erlebnisweisen, die in einer Vielzahl von Therapiestunden deutlich geworden sind und von mir zusammengefasst und interpretiert werden. Deshalb habe ich in diesem Kapitel auf die Darstellung einzelner Fallvignetten verzichtet. Heutzutage werden Begriffe wie Dissoziation, Depersonalisation oder Derealisation uneinheitlich verwendet. DSM-IV beschreibt die eigentliche Dissoziation so: »Das Hauptmerkmal der Dissoziation ist eine Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt« (S. 543). Die darunter aufgeführte Dissoziative Identitätsstörung wird so definiert: »Die Dissoziative Identitätsstörung ist charakterisiert durch das Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen, die wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen [. . .]«. Unter Depersonalisationsstörung wird Folgendes verstanden: »Bei der Depersonalisationsstörung kommt es zu einem ständigen oder wiederholt auftretenden Gefühl von Losgelöstsein von den eigenen geistigen Prozessen oder dem Körper; eine intakte Realitätskontrolle bleibt bestehen« (S. 543). Scharfetter erwähnt in »Dissoziation, Split und Fragmentation« zu Dissoziation: »Wo die Teile überzeugend (aber woran ermisst man das?) nicht mehr voneinander wissen (im präsentischen Bewusstsein wie in der Erinnerung), wo scheinbar separate Personen agieren (Doppel-Ich, dédoublement, alternierende, multiple Persönlichkeit), drängt sich die Annahme von Dissoziation auf« (1999, S. 60). Zur dissoziativen Identitätsstörung schreibt er im weiteren Verlauf: »Erst wo die Verselbständigung der Subpersönlichkeiten so weit gediehen ist, dass diese sich der übergeordneten Kontrollinstanz entziehen und das Verhalten jeweils allein bestimmen – ohne Einfluss und Kontrolle, ohne Wissen, ohne Erinnerung der dann ausgeschaltet erschei112
nenden anderen Teile –, kann, darf man sinnvoll von dissoziativer Identitätsstörung reden« (S. 61). Für das Verständnis der inneren Borderline-Psychose ist wichtig, dass die beiden Ich-Teile nicht die gleichen Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen. Man muss bei dissoziativen Vorgängen neben der Sicht, die wir von außen einnehmen, auch die subjektive (Erlebens-)Sicht beider Ich-Teile berücksichtigen und verstehen. In vielen Supervisionen meiner Patienten und in intensiver Diskussion darüber habe ich mich inzwischen entschieden, eine kleine Abweichung im Sinne einer Erweiterung des Begriffes Dissoziation, gekoppelt mit Depersonalisation/Derealisation, vorzunehmen, weil es der Realität meiner Patienten näher kommt und sonst keine adäquate psychopathologischen Definitionen vorhanden sind. Ergänzend zu Scharfetters Ausführungen beschreibe ich die Situation, in der nur ein Ich-Teil vom anderen weiß, aber nicht umgekehrt. Hinsichtlich der dissoziativen Identitätsstörung weiche ich zudem soweit ab, als ich »ohne Wissen, Erinnerung« nicht berücksichtige. Bei mir reicht die Bedingung, dass keines der beiden direkten Einfluss auf das andere Teil-Ich nehmen kann. Was den Aspekt der Erinnerung betrifft, so ließen sich nur sichere Aussagen vom für uns »sichtbaren« Teil-Ich machen. Dieses erinnert sich sehr wohl an den anderen, unerreichbaren, aber wahrnehmbaren Teil des Ich, der im Rahmen der Dissoziationsvorgänge gleichzeitig in eine »andere Zeit« abgeglitten ist. Durch Worte, Bilder oder auch Geruch ausgelöst, kann wegen der zeitweise erhöht durchlässigen Grenze zwischen Unbewusstem und Bewusstsein auf assoziativem Weg damit verknüpftes, bis zu diesem Zeitpunkt im Unbewussten vorhandenes, bedrohliches »seelisches Material« langsam oder manchmal auch blitzschnell und unkontrolliert auftauchen. Gleichzeitig und parallel dazu kann bewusstes Material in den Bereich des Unbewussten verschwinden, also vergessen werden. Für den unbewussten Teil, der unerwünscht und blitzartig auftaucht, reichen die typischen Borderline-Abwehrmechanismen wie Spaltung, Projektion und projektive Identifizierung nicht aus oder kommen gar nicht zum Zug. Es geht alles zu schnell, um etwas nach außen verlagern zu 113
können. Die druckaufbauende Überschwemmung im Inneren des Ich ist wegen der zunehmend durchlässigeren Grenze vom Unbewussten zum Bewussten, welche nicht mehr abschottend und schützend funktioniert, zu groß. Auch die Schizoprotektion über die Elastizität der Ich-Grenze reicht zur Abwehr bald nicht mehr aus, um den enormen Druck, der sich in kürzester Zeit aufbaut und die Ich-Grenze bis zum Platzen spannt, aufzuhalten. Das noch verfügbare Fluktuationspotenzial sinkt mit zunehmender Spannung. Es droht die punktuelle Fragmentation innerhalb der Ich-Grenze, was zur äußeren Borderline-Psychose führen würde und manchmal auch führt. Wenn es nicht zum punktuellen Durchbruch, sprich Teil-Fragmentation der Ich-Grenze kommt, setzt sich der innere Prozess wie folgt fort. Aus einem Kollaps der Zeitachse, also einem kurzen Zusammenbruch der Zeitwahrnehmung, resultiert eine erste schnelle Entlastung des Druckerlebens. Dies ist Basis für die folgende Aufspaltung und Etablierung von zwei parallel laufenden Zeitachsen. Diese innere Erlebens-Spaltung führt zum weiteren, vorübergehenden Druckabbau und dient somit zum Schutz vor der akuten Gefahr zu fragmentieren. Ein Teil des gespaltenen Ich funktioniert auf der Zeitachse der Gegenwart als Ich nach außen mehr oder weniger unauffällig weiter. Zeitgleich nimmt es zusätzlich die Funktion des »beobachtenden Ich« (»observer ego«) nach innen wahr, um den zweiten, nicht mehr kontrollierbaren Teil des Ich nicht »aus den Augen zu verlieren«. Dieser zweite Ich-Teil bewegt sich zugleich auf der anderen Zeitachse: verloren in der Vergangenheit und an den Erinnerungen leidend, die in diesem Ich-Teil als gegenwärtige Realität erlebt werden. Dieser Teil ist in gewissem Sinne eingeschlossen, autistisch gefangen und bewegt sich eigendynamisch, ohne in der akuten Phase die Gegenwart oder das beobachtende Ich noch wahrnehmen zu können. Auf der Symptomebene erleben wir eventuell von außen, wie sich der Patient schrittweise verändert, zunehmend abwesend wirkt und doch präsent ist. Wir nehmen zum Beispiel eine diskrete Konzentrationsverminderung wahr. Wenn für ihn der innerliche Druck sehr heftig wird, kann es sein, dass er für uns unerwartet der dualen Situation physisch entweicht, indem er 114
vorzeitig und abrupt, in sich gekehrt und sich kaum verabschiedend die Therapiesitzung fluchtartig verlässt. Umgekehrt kann sich dies auch in einem stuporösen Zustand manifestieren, welchem das Davonlaufen aus der Therapie später folgt oder nicht. Eine häufige Zwischenvariante stellt sich so dar, dass der Patient zwar bis zum Ende der Therapiestunde durchhält, aber unkonzentrierter wird und über weite Strecken sogar unansprechbar ist. Danach zieht er sich meist so schnell als möglich an einen abschottenden und schützenden Ort zurück, um der Überforderung durch die Einflüsse der Umwelt zu entgehen und sich innerlich neu zu sammeln und zu ordnen. Häufig wird hier, vor allem in frühen Phasen der Therapie, auch die Selbstverletzung als eine Möglichkeit der schnellwirksamen »Selbsthilfe« eingesetzt. Das Doppelleben des beobachtenden Ich, das Sich-getrenntErleben, ohne jedoch aufeinander einwirken zu können, ist energieraubend und aufwändig. Das eigentlich »psychotische« Leiden wird in solchen Zuständen autark vom abgedrifteten und für uns nicht wahrnehmbaren zweiten Teil-Ich erlebt, weshalb wir die Dimension des Geschehens und damit das tief Inner-Psychotische nicht wirklich abschätzen können. Das Ich wird im akuten Drucksteigerungsfall solange durch die Elastizität der Ich-Grenze vor weiterer Druckentwicklung geschützt, solange es dem »observer ego« gelingt, den anderen Ich-Teil wahrzunehmen und nicht aus der Sichtkontrolle zu verlieren, auch wenn es nicht direkt auf ihn einwirken kann. Aus energetischen Gründen muss die Spaltung mittelfristig wieder aufgehoben werden. Die zwei getrennten Ich-Teile dürfen sich jedoch nicht zu schnell annähern, da diese Trennung, welche die Qualität einer Dissoziation hat, auch protektiv wirkt. Die Folge wäre eine erneute gewaltige akute Drucksteigerung, die zum Bruch an der Ich-Grenze führen würde, also eine psychotische Entgleisung. Zu schnelle Annäherungsprozesse der Ich-Teile, die vom beobachtenden Ich nicht beeinflusst werden können, erleben die Patienten in Form von Angst, verrückt zu werden, durchzudrehen. Durch die gleichzeitig stattfindende innere Spannungszunahme droht das differenzierte Selbstgefühl durch das 115
alles verdrängende Druckgefühl verloren zu gehen oder überlagert zu werden. Die Patienten beschreiben das Gefühl, den Druck zu spüren, aber nicht mehr sich selbst. Wenn die protektiven Mechanismen überfordert sind, kann es zur zusätzlichen Drucksteigerung und wie bereits beschrieben zur kurzzeitigen Fragmentation in der Ich-Grenze kommen. Die innere Borderline-Psychose, wie ich sie nenne, setzt sich aus dem Erleben des regredierten Ich-Teils und aus der asymmetrischen Beziehung zum »observer ego« zusammen. Sie entlastet die bedrohliche Drucksituation. Es hat mich erstaunt, wie viele meiner Patienten eine innere Borderline-Psychose aufweisen, ohne dass es jemals zu einer äußeren Borderline-Psychose kommt. Es gibt Varianten, in welchen der Patient, während er mit uns im Kontakt steht, von uns unbemerkt nebenbei jedoch ständig halluziniert, sich im Inneren in einer ganz anderen Welt befindet und bewegt. Es gibt Formen der »doppelten Buchführung«, die wir jahrelang nicht bemerken, bis unsere Patienten es uns erzählen können. Sie erkennen im entlasteten Zustand ihr Doppelleben und wissen, dass es für uns als Außenstehende nicht selbstverständlich wahrnehmbar ist. Wiederholt wurde mir von verschiedenen Personen das Ritual der »Selbstheilung«, das heißt aus eigenen Kräften aus akuten Zuständen zu gelangen, ähnlich beschrieben. Es handelt sich um ein Zurückziehen, um den Film rückwärts laufen zu lassen und um der Drucksteigerung entgegen zu wirken. Das dosierte »Zurückdrehen« erfolgt sehr langsam. Das beobachtende Ich benötigt dafür fast die ganze zur Verfügung stehende Energie und steht aus diesem Grund für Prozesse der Anpassung an die Außenwelt kaum mehr zur Verfügung. Deshalb kommt es zum Rückzug in die Einsamkeit, etwas, was Borderline-Patienten sonst eher zu vermeiden versuchen. Dieser Prozess führt letztendlich zur Reintegration und Synthese der Ich-Teile, zur »restitutio ad integrum«. Die Zeitachse etabliert sich wieder. Die Spaltung ist aufgehoben. Es ist wie die Rückkehr des einen Ich-Teils auf den Hauptweg – zurück aus einer Sackgasse, in die er sich verirrt und den anderen Teil dabei verloren hatte. Dieser konnte den Verirrten, der in die falsche Richtung blickte und zu weit weg war, um zu hören, wohl sehen, aber ihn nicht beeinflussen. Erst wenn sich 116
der verirrte Teil umdreht, wenn er am Ende der Sackgasse angekommen ist, wo es nicht weitergeht, kann er vom Wartenden zurückgelotst werden. Wenn er unachtsam losspringen würde, wäre die Gefahr des Stolperns zu groß, deshalb muss er langsam und behutsam zurückkehren, um danach vereint mit dem anderen Ich-Teil den Hauptweg weiterzugehen. Das alles hat therapeutische Konsequenzen, die ich an dieser Stelle nur andeute. Diese Zustände können, wenn sie erkannt und thematisiert werden, mit den Patienten in den folgenden Stunden immer wieder besprochen und aufgearbeitet werden. So erhält der Therapeut mit der Zeit einen Platz im Geschehen, und kann anfänglich den Patienten eventuell mit Hilfe des (therapeutischen) Monologes (Benedetti 1975, S. 145) vor der Einsamkeit bewahren, ohne zu nahe zu kommen, aber doch wahrgenommen werden. Der Therapeut kann ein Zwischenglied, eine Brücke zwischen dem »observer ego« und abgedriftetem Ich-Teil werden. Er kann später in solchen Zuständen mit dem Patienten kommunizieren und ihn, ohne dass es zur Angstentwicklung kommt, vorsichtig aus diesem Zustand hinausbegleiten. Während der Therapeut anfänglich ein energieabziehender und damit bedrohlicher Störfaktor war, wird er nun zum Verbündeten. Gemeinsam holt man den abgedrifteten Ich-Teil zurück oder redet darüber und verliert ihn nicht. Es entsteht eine neue Form der Nähe und Dualität, welche lange und um jeden Preis vom Patienten vermieden werden musste.Sie getrauten sich nicht, uns diesbezüglich einzubeziehen, sich zu öffnen und mitzuteilen. Die Angst, uns zu überfordern, weil wir es nicht verstehen und nicht damit umgehen könnten und sie damit letztendlich allein lassen, gegen sie arbeiten oder ihnen dabei zu nahe kommen, ist groß. Der Umgang mit dem Innerpsychotischen geschieht deshalb über lange Zeit im Verborgenen. Wir sehen von außen oft nur die Folgen. So kommt es zum Beispiel zu Selbstverletzungen, welche auch zur Entlastung und zum Druckabbau angewendet werden, weil kein anderes weniger destruktives Mittel verfügbar ist. Wir interpretieren die Selbstverletzung zu oft nur als Bedrohung und sehen den Schutzfaktor nicht, der den Patienten vor Schlimmerem bewahrt. Wir wollen den Patienten deshalb unbedingt vor weiterer Selbstverletzung bewahren. Sachsse weist in die117
sem Zusammenhang auf die verschiedenen Qualitäten der Selbstverletzung hin: so auf die lebensrettende, im Sinne des fokalen anstelle des vollzogenen Suizides, auf die Tranquilizer- sowie die antipsychotische (neuroleptische) Wirkung (2000, S. 360f.). In diesem Zusammenhang möchte ich ganz kurz auf die unterschiedlichen Angstqualitäten eingehen, um deutlich zu machen, dass Angst nicht gleich Angst ist. Die des Neurotikers, nicht geliebt zu werden, zu versagen, keine Anerkennung zu bekommen, ist etwas völlig anderes als die Angst des Borderline-Persönlichkeits-organisierten Menschen vor dem Verrücktwerden oder Durchdrehen oder – als weiteren Kontrast – des Schizophrenen, der nicht Angst hat, sondern die Angst ist, der den Zerfall und die Selbstauflösung wahrnimmt und dem völlig ausgeliefert ist, der höchstens noch mit Wahn reagieren, sich darin bewegen oder auch verlieren kann. Es ist mir wichtig, zum Abschluss dieses Kapitels nochmals auf den enormen Leidensdruck Borderline-Persönlichkeits-organisierter Patienten hinzuweisen, aber auch ermutigend zu bemerken, wie hilfreich therapeutisches Wirken sein kann, was es bedeutet, mit innerer Verwirrung und Verunsicherung in einer fordernden Welt funktionieren zu müssen, sich wiederholt und ständig unverstanden zu fühlen, von sich wie von der Welt. Was eben noch gut war, ist im nächsten Moment bedrohlich und böse, auch der Therapeut. Es ist unsere therapeutische, aber nicht zuletzt auch menschliche Pflicht, mit allen Patienten, die sich uns anvertrauen oder uns anvertraut werden, sorgsam umzugehen, auch mit den Borderline-Persönlichkeits-organisierten Menschen, die in uns teils heftige negative Gegenübertragungsgefühle wecken. Es ist die hohe therapeutische Kunst, sich ihnen vorsichtig zu nähern und gleichzeitig in angemessenem Abstand dabei zu bleiben. Das gilt für die Untersuchung ebenso wie für die Behandlung. Wir haben nur eine Chance, diesen sehr leidenden Menschen gerecht zu werden und den Weg mit ihnen zusammen zu gehen, wenn wir uns nicht von den sich in uns abbildenden negativen Gefühlen führen lassen, sondern uns der ganzen Dimension des Schrecklichen öffnen und dazu gehört das Akzeptieren des Psychotischen, welches sich uns nicht immer offen zeigt. 118
Therapie von schizophrenen und Borderline-Psychosen
Vorbemerkungen Für die Therapie psychischer Erkrankungen, insbesondere von Psychosen, kann es kein allgemeingültiges Rezept zur Behandlung geben. Dazu verstehen wir Psyche und Bewusstsein viel zu wenig. Trotz großartiger Forschung und dem rasenden technischen Fortschritt entzieht sich die Psyche bisher erfolgreich der tieferen Entdeckung und vollständigen Erforschung. Die klassische, somatische Schulmedizin hat sich auf eine ihr angepasste Form der wissenschaftlichen Forschung eingelassen und ist heute tonangebend, ebenso die biologische Psychiatrie. Soll die Wirksamkeit einer Behandlung anerkannt werden, muss diese nach heute gültigem Standard nicht nur beschrieben, sondern wissenschaftlich, möglichst mittels Doppelblindstudien und statistisch signifikanten Daten, evaluiert, reproduziert, qualitätsabgesichert und zertifiziert werden. Sonst hat sie einen schweren Stand. Objektiv betrachtet, ist kein Mensch und kein Organ mit dem eines anderen auf allen Ebenen wirklich deckungsgleich. Äußerlich mögen viele Ähnlichkeiten unter den Individuen bestehen, aber schon auf der Ebene der Genetik und Zellinformationen sind wir grundsätzlich sehr verschieden voneinander. In der medizinischen Forschung muss Deckungsgleichheit zu Gunsten von »in wesentlichen Aspekten vergleichbar« großzügig vernachlässigt werden, was sinnvoll und legitim ist. Ähnlich ist es mit den Vernachlässigungen der Physik gegenüber der Mathematik. Vieles bleibt auch da ungenau und ist nur relativ gültig. Das stört in der Anwendung kaum. Es geht lediglich um Reproduzierbarkeit von evaluierten Resultaten und um Wahrscheinlichkeit, nicht um De119
ckungsgleichheit oder gar Wahrheitsfindung. Zur Erforschung und Vermessung der Psyche fehlen jedoch bis heute wissenschaftlich haltbare Methoden. Menschen können trotz aller Ungenauigkeiten der Physik auf dem Mond landen. Sonden werden sogar bereits auf dem Mars platziert oder aus dem Sonnensystem ins Universum geschickt. Wir speichern Unmengen von Informationen auf Mikrochips, fahren Auto, fliegen mit zunehmend größer werdenden Flugzeugen immer schneller von einem Ort zum anderen, sehen Ereignisse über Satelliten-TV, die Tausende Kilometer von uns entfernt stattfinden, in Sekundenbruchteilen nach dem Ereignis selbst und sind dabei, die Quantenphysik und vieles mehr besser zu verstehen. Trotzdem haben wir nur wenig Ahnung davon, was Psyche und Bewusstsein genau sind. Was unterscheidet den toten Menschen vom lebenden, was geschieht mit dem Fühlen, Denken im Sterben und nach dem Eintreten des Todes? Wo könnte die Psyche, das Bewusstsein, materialistisch betrachtet, an Körperstrukturen gekoppelt sein und wie? Welche Strukturen sind es, die wir erforschen müssten? Wie könnten wir vorgehen, um mehr als nur erahnen zu können, wie die Psyche wirklich funktioniert? Die weit verbreitete Vermutung, das Gehirn sei der Sitz der Psyche, drängt sich vielleicht auf, ist jedoch nur unbefriedigend und nicht restlos überzeugend dargelegt. Erwiesen ist heute lediglich, dass das Gehirn und gewisse Strukturen davon eine wichtige Rolle beim Funktionieren der Psyche spielen. Die Psyche selbst muss deshalb nicht zwingend im Gehirn ihr (materialistisches) Substrat haben. Und sogar wenn dem so wäre – nicht einmal das Gehirn an sich verstehen wir wirklich. Ist vielleicht Bewusstsein die dynamische Brücke zwischen materiellem Soma und Psyche? Es fällt uns schwer, die Grenze zu akzeptieren, die uns bis heute gesetzt ist, was das Verständnis von Psyche und Bewusstsein betrifft. Aus dem Stand des Wissens heute ergibt sich eine unbequeme Konsequenz: Wenn es in der Psychiatrie und Psychotherapie bereits Manuale gibt, die wissenschaftlich evaluiert worden sind und dadurch auf den ersten Blick den Anschein erwecken, dass es die erfolgreiche Behandlung einer Krankheit oder Störung gä120
be, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es mehr mit dem vorherrschenden Zeitgeist und Wunschdenken als mit definitiver Wahrheit zu tun hat. Die Diskussion dieser Fragen ist wichtig, wenn wir uns vertieft über die Therapie der Psyche mit Ausblick in die Zukunft auseinander setzen wollten. Bleiben wir jedoch in der Gegenwart und bei meinem eigentlichen Thema, der Behandlung der Psychosen. Mit denkbar schlechten Karten in der Hand stelle ich meine Behandlungsansätze der psychotisch »kranken« Menschen dar. Es ist der Weg vom Modell zur Intuition – Modell deshalb, weil uns die Einsicht in die Wirklichkeit (noch) fehlt. Wir benötigen ein Konstrukt, um uns zu orientieren, und Resultate, die sich auf dem Weg, den wir gehen, ergeben, um das Modell zu überprüfen. Dafür benötigen wir den Austausch und die Rückmeldung des Patienten und der Umgebung. Mein deklariertes Ziel als Therapeut ist es, mich mit der Zeit vom Modell weg- und über die Erfahrungen in der Gestaltung einer Beziehung zum Patienten und seiner inneren wie äußeren Welt zu einer tiefen, echten und reinen Intuition hinzubewegen. Das heißt, sie sollte so weit möglich frei von Agieren sein und darf nicht der eigenen Abwehr dienen und somit nicht von ihr gesteuert werden. Ich gehe von meinen Beobachtungen und Erfahrungen der letzten zwanzig Jahren aus und versuche diese, gekoppelt an Beobachtungen und Erfahrungen von anderen, zu reflektieren, zu verstehen und daraus meine Ideen abzuleiten. Ich habe die Hoffnung, einigen Therapeuten und Patienten mithelfen zu können, eine partnerschaftliche Beziehung einzugehen, damit ein gemeinsamer, konstruktiver Weg über eine gewisse Strecke möglich wird. Die Angst, Fehler zu machen, ist heute bei zunehmendem Druck sehr groß und kann die gesunde Entwicklung des zukünftigen Therapeuten behindern. Unsere jungen Kolleginnen und Kollegen müssen heute in kürzerer Zeit und mit inzwischen unglaublich aufwändigen administrativen Methoden kostengünstig die »Wahrheit« über die Krankheit des Patienten finden, erfolgreich behandeln und natürlich ausführlich dokumentieren. Es erinnert mich an das Märchen, in dem die Müllerstochter nach der 121
Äußerung des Vaters vor dem König, sie könne aus Stroh Gold machen, ihre Aufgabe nur noch mit Rumpelstilzchens Hilfe bewältigen konnte. Aber wo ist unser Rumpelstilzchen heute? Die Patientenbeziehung leidet gegenwärtig in der gesamten Medizin sehr. Auch die Psychiatrie und Psychotherapie steht analog der Somatik und der biologischen Psychiatrie unter dem Druck, wissenschaftlich anerkennenswerte Beweise für ihre Wirksamkeit zu erbringen. Deshalb wird bereits im Stadium des Assistenten mehr gemessen als erfahren. Das ist meines Erachtens ein fataler Irrweg. Ich empfehle den jungen Kolleginnen und Kollegen, die zu mir in Supervision kommen und im Alltag an ihren Patienten oft verzweifeln, das Kapitel 7 der Einführung im DSM-IV zu lesen. Dort steht: »Inzwischen hat sich dank der Einfachheit in der operationalisierten Diagnostik ein ›Kriteriendenken‹ breit gemacht. Gerade viele Anfänger glauben sich hier die Anamnese ersparen zu können, da mit den umschriebenen Kriterien alles für die Diagnose vorgegeben sei. Dies ist ein entscheidender Irrtum, weil die Feststellung der Kriterien ausschließlich im Rahmen einer gründlichen Anamnese geschehen kann« (S. XIX). Ganz Ähnliches gilt für die Therapie. Der Therapeut muss sich mit dem Gegenüber in eine wirkliche und intensive therapeutische Beziehung einlassen. Er muss das Leben des Patienten vor der Begegnung oder dem Krankwerden einbeziehen. Sonst gerät er unter Umständen auf den Weg des Zufallsgenerators, welcher entscheidet, ob die Behandlung erfolgreich werden wird oder versagt. Der Faktor Zeit spielt in der Psychotherapie eine wesentliche, ja entscheidende Rolle. Sparen wir an Zeit für direkte Begegnungen mit unseren Patienten, werden wir diesen Scheingewinn später teuer bezahlen, weil uns wichtige Mosaikteile fehlen. Damit meine ich nicht, dass jede Therapie sehr lange dauern muss. Die Zeit, die man sich nimmt, soll sowohl was die Zeiteinheit einer Sitzung wie die Frequenz angeht, der Situation entsprechen und angemessen sein. Neben der Zeit zählt die individuelle Fähigkeit des Therapeuten selbst wesentlich. Er braucht manchmal Mut, diese zu entdecken, an sie zu glauben, sie ehrlich durch das Sam122
meln von Erfahrungen und im Rahmen von Supervisionen zu überprüfen, sie zu fördern und offen zu deklarieren. Das Erkennen der eigenen Möglichkeiten und Grenze ist unabdingbar. Ich widme mich in diesem Kapitel vor allem dem Erlernbaren. Eine gute Voraussetzung, ein erfolgreicher Therapeut für psychotische Menschen zu werden ist meines Erachtens, Mut zu haben, sich wirklich auf sich selbst und den Patienten einzulassen: Mut, sich der Situation des Nicht(weiter)wissens auszusetzen; sich in fremde und teils unberechenbare Welten zu wagen, Welten mit anderen, wechselnden Gesetzen; den Mut zu haben Neues zu entdecken, was den Therapeuten wiederholt vor die Aufgabe stellt, sich und seinen Weg zu überdenken. Es braucht Mut zur selbstkritischen und kritischen Reflexion, Ausdauer und Kraft, Spannungen auszuhalten. Ich könnte mit dem Aufzählen von Wünschenswertem fortfahren und würde lügen, würde ich behaupten, all das am Beginn meines Weges gehabt oder heute zu haben. Die eigene Psychoanalyse ist meiner Erfahrung nach eine wesentliche Voraussetzung und echte Chance, sich dem anzunähern. Die vorgängige eigene Psychoanalyse, ergänzt durch die therapiebegleitende Supervision, hilft uns, das eigene Unbewusste vom Fremden, das in uns abgebildet wird, zu erkennen und zu unterscheiden. Wann löst der Patient in mir eigene verborgene Parallelaspekte aus und weckt diese, ohne dass sie sich deutlich zeigen? Wann ist es nur die Abbildung des Gegenüberaspektes in mir als Spiegel, den ich wahrnehme und auf den ich eingehe? Wann reagiere ich auf mich selbst und wann auf den Patienten? Wird meine Reaktion zum untherapeutischen Agieren oder zu einer therapeutischen Intervention? 1998 verfasste ich ein Abstract zu einem damaligen Referat mit dem Titel »Psychotherapie schizophrener Menschen: Der Psychotherapeut als mit erfahrender Mitmensch, Dolmetscher, Anwalt und Unterhändler«. Ich gebe es hier wieder, weil es mir so treffend erscheint, die Rolle des Therapeuten in der Psychosenpsychotherapie des Schizophrenen zu beschreiben: »Zeit ist in der Psychose oder in Bereichen davon keine verlässliche Größe, an der sich der schizophrene Mensch orientieren könnte. Sie ist zerrissen, verformt, gedehnt, steht still oder rast, manchmal beides zugleich und kann als unbeeinflussbare Bedro123
hung von außen, im Sinne der Fremdsteuerung, erlebt werden. Auch die Sprache kann auseinander brechen. Aus Bruchstücken konstellieren sich für uns unverständliche neue Worte. Das Wort verliert seine uns bekannte Form und Bedeutung. Begriffe wie Rückfall oder Vorbeugen werden von uns und in der Psychose nicht unbedingt deckungsgleich verstanden. Oft besteht nur noch die Möglichkeit des Kommunizierens über das Dabei-Sein, um auch in der Psychose verstehen zu lernen, um erahnen zu können und sich emotional berühren zu lassen. Psychotherapie gestaltet sich zu Beginn als vorsichtiges Anklopfen an den Pforten der oft geheimen und fremden Welten, um nach Besuchsrecht zu fragen. Mit der Zeit nehmen wir etwas davon wahr, was es bedeuten mag, in einer unberechenbaren oder erstarrten Welt zu leben und nicht entrinnen zu können. Später beginnen wir Sequenzen von den vielen Sprachen, die da gesprochen werden, zu verstehen und können wahnintern, aber auch im Sinne einer Brücke zur Außenwelt als Dolmetscher zu agieren. Manchmal benötigt der in seiner eigenen Welt fremd gewordene psychotische Mensch einen Anwalt, wenn sich innerhalb und außerhalb seines Universums alles gegen ihn stellt und ihm nur das Erstarren in der Unverstandenheit und Hilflosigkeit bleibt. Wenn die Grenzen zwischen Innen und Außen bedrohlich verschwimmen oder gar aufgehoben werden, bedarf es eines vertrauenswürdigen Unterhändlers, der für die Grenzverhandlungen eine Basis der Verständigung schafft. Der Therapeut wird zum flexiblen, verlässlichen und partnerschaftlichen Fixpunkt in der sonst verschlossenen, unsteten und oft auch bedrohlichen Welt der Psychose. Die Basis-PsychosenPsychotherapie schafft die Voraussetzung dafür, dass andere wichtige, hilfreiche und notwendige Behandlungen wie der zeitweise oder wenn nötig andauernde Einsatz von Medikamenten, Soziotherapie und Familientherapie, um nur drei zu nennen, neben der spezifischen Psychosenpsychotherapie langfristig fruchten können. Diese Form der Psychotherapie vermag die Fragmente in einen für beide Seiten verständlichen Kontext zu bringen, welcher in der Psychose angenommen und als hilfreiches Angebot verstanden werden kann.« 124
Ganz anders und doch ähnlich ist die Rolle des Therapeuten in der Behandlung des Borderline-Persönlichkeits-organisierten Patienten. Im Folgenden wende ich mich verschiedenen, meiner Ansicht nach wesentlichen Aspekten der Behandlung dieser zwei Krankheiten zu. Ich stelle sie an einem künstlichen Modell des Ablaufes einer Therapie dar: 1. Entwurf und Gestaltung des dualen Raums 2. Bildung von Übergangssubjekten und -objekten 3. Progressive Psychopathologie 4. Reparation 5. Vorbereitung auf Abschied und Trennung 6. Abschluss der Behandlung 7. Die Rolle des Therapeuten in der Zeit danach Es orientiert sich an Ansätzen von Benedetti, wie er sie in »Todeslandschaften der Seele« und später in »Psychotherapie als existenzielle Herausforderung« und anderen Schriften darlegt. Eigene Erfahrungen und Ideen erweitern diese Ansätze. Die genannten Stadien, insbesondere von 3 bis 5, stellen keinen chronologischen Ablauf einer Therapie dar, sondern sind nur aus didaktischen Gründen so gewählt und aneinandergereiht worden. Verschiedene Phasen können zeitgleich und nebeneinander ablaufen, die Rückkehr in eine bereits durchlaufene Phase kommt ebenfalls häufig vor. An Fallbeispielen zeige ich praktisch auf, wie ich mit verschiedenen Situationen in der Therapie umgegangen bin und umgehe.
Entwurf und Gestaltung des dualen Raums Schizophrenie Bevor ein Therapieraum, den ich fortan dualer Raum nenne, entstehen kann, braucht es die direkte Begegnung des Schizophrenen mit dem Therapeuten. Diese wird manchmal fremdbestimmt, kann zufällig sein oder ergibt sich durch die Wahl des Patienten selbst. Einige meiner Patienten habe ich kennen gelernt, weil sie 125
schon vor meiner Zeit in der Klinik auf einer meiner zukünftigen Stationen lebten. Andere haben mich aufgesucht und gewählt, weil sie mich zum Beispiel in der Klinik aus der Ferne über lange Zeit (unbemerkt) beobachtet hatten. Einige Patienten hatten von mir durch andere Gutes gehört. Sogar innere Stimmen führten schon Patienten zu mir, also wurde eine Therapie paradoxerweise durch direktive Stimm-Halluzination eingeleitet. Es gab Zuweisungen ad personam, oft für Abklärungen, die sich später zu einer Therapie weiterentwickelten. Manchmal dauerte es Jahre, bis es zur bewusst wahrgenommenen Erstbegegnung kam. Ich habe bemerkt, dass Patienten, welche ich für eine Therapie gewinnen wollte, oftmals abgelehnt haben oder später ausgestiegen sind. Diejenigen hingegen, welche mich gewählt hatten, ließen sich eher auf den Prozess einer intensiven Therapie ein und blieben auch bei schwierigen Etappen dabei. Es scheint mir nachträglich, dass ich gewählt werden musste und nicht umgekehrt. Es folgen einige Beispiele, wie es zur Therapie bei mir kam (oder eben nicht): Ein Mann wollte die Station lediglich deshalb wechseln, weil er sich an der Art eines Mitpatienten störte, der seiner Meinung nach unschön essen würde. Er bat mich mitten auf der Straße der Klinik, ihn auf eine von mir geführte Station aufzunehmen. Es kam zum Vorgespräch, später zur intensiven und schlussendlich erfolgreichen Psychotherapie. Er lebte zuvor mit der traurigen Perspektive, den Rest seines Lebens in der Klinik verbringen zu müssen und hatte sich entsprechend eingerichtet. Als ich ihn kennen lernte, war er Mitte zwanzig. Inzwischen lebt er seit vielen Jahren mit Frau und Kind in einem normalen Alltag außerhalb jedes Klinikrahmens. Er hatte von einem Mitpatienten auf seiner Station Gutes von mir gehört und sprach mich deshalb an. Dieser Mitpatient, welcher ihn auf mich aufmerksam gemacht hatte, war jemand, mit dem ich mich auf meinen Rundgängen durch die Klinik regelmäßig kurz unterhielt. Er stand fast jeden Tag stundenlang am geöffneten Fenster seines im untersten Stock gelegenen Zimmers und stellte mir beim Vorbeigehen die Frage nach dem genauen Zeitpunkt des bevorstehenden Unterganges der Welt. Er lauschte den ganzen Tag den speziellen Wellen aus dem All (Halluzinationen), manchmal mit Hilfe seines Radios (Illusionen), über die er von Verbündeten mit Botschaften versorgt wurde, um daraus über die Wahrheit informiert zu werden. Manchmal konnte er auch feindliche Stimmen über die Wellen abhö-
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ren. Ich ging jeweils positivierend und offenbar beruhigend auf ihn ein, indem ich erwiderte, dass es noch lange nicht soweit sei. Er wiederum versorgte mich mit Informationen aus dem All, die er mir über die Distanz vom Fenster zu mir vertraulich und komplizenhaft »zuflüsterte«. Einmal wurde ich im Hintergrunds-Notdienst zu eben diesem Patienten gerufen, weil er akut gewalttätig dekompensierte. Anlass war, dass er wegen einer Schwellung am Ellbogen ins Spital gebracht werden sollte, um Flüssigkeit abzupunktieren. Diese bevorstehende Punktion löste bei ihm schlimmste psychotische Ängste aus, ausgeliefert und gefoltert zu werden. Er empfing mich trotz seines Erregungszustandes gewaltfrei, wahrscheinlich wegen der bereits länger bestehenden Beziehung vor dem Fenster. Da ich die somatische Situation nicht als perakut behandlungsbedürftig einschätzte, riet ich ihm und der Station, den geschwollenen Ellbogen zuerst eine Stunde zu kühlen und zu beobachten, was geschehe. Glücklicherweise schwoll der Ellbogen bald ab. Er war erleichtert und ging nun ohne Probleme zur Kontrolle ins nahe gelegene Spital. Über Jahre bedankte er sich bei mir und erzählte überall herum, ich sei der beste Arzt der Welt. Leider aber kam er, im Gegensatz zum oben genannten Patienten, nie zu mir in Therapie. Eine damals Anfang zwanzigjährige Patientin mit einer mehrjährigen, sehr selbstdestruktiven, schlimmen Vorgeschichte, sollte nach einigen schwierigen Hospitalisationen in einer weiteren akuten Phase ihrer Schizophrenie erneut auf eine geschlossene Station in einer anderen Klinik aufgenommen werden. Der Leitende Arzt, der das Vorgespräch mit ihr führte, kannte mich. Sie weigerte sich, dort auf eine geschlossene Station einzutreten, was er respektierte. Er empfahl ihr eindringlich, sich an mich zu wenden. Ich würde sie noch am ehesten auf einer offenen Station und ohne Medikamente behandeln. Daraufhin telefonierte sie umgehend mit mir. Während des Gespräches entwickelte sich in mir das Gefühl, dass sie akut selbstgefährdet sein könnte, es jedoch verbarg. Deshalb sprach ich meine Befürchtung am Telefon direkt an. Sie bestätigte mir, dass sie beschlossen hatte, sich nach diesem Gespräch umzubringen, falls sie nicht auf die offene Station aufgenommen würde. Dieses Telefonat mit mir sei für sie nur noch Pflichterfüllung gewesen. Für sie gäbe es keinen Platz mehr in der Welt, das hätten ihr die anderen gesagt (akustische Halluzinationen). Ich widersprach dem und lud sie trotzdem erst für den nächsten Tag zu einem Vorgespräch ein. Sie akzeptierte und versprach, sich bis dahin nichts anzutun. Wir handelten einen sehr speziellen Behandlungsvertrag aus, auf den ich später
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zurückkommen werde, und nach einer weiteren Phase von einigen Tagen, in welchen sie sich erst zum Entscheid durchringen musste, trat sie auf die offene Station ein. Es ergab sich eine einjährige stationäre und anschließend eine langjährige Nachbehandlung, welche wir beide als sehr erfolgreich einschätzen, auch wenn die Patientin weiterhin, zeitweise sehr, unter ihrer Schizophrenie leidet. Einen anderen Patienten sah ich von weitem bereits vor Jahren zu Klinikzeiten, ohne direkten Kontakt zu ihm gehabt zu haben. Als ich 1995 meine eigene Praxis eröffnete, sah ich ihn manchmal am Bahnhof und wir grüßten uns. Irgendwann erhielt ich einen Anruf von einer Betreuungsperson aus einem Wohnheim, es gäbe da einen Patienten, der unbedingt nur zu mir in Behandlung wolle und ob er vorbeikommen dürfe. Ich antwortete, dass er sich selber melden müsse, ohne zu wissen, dass es sich um diesen Patienten handelte. Über ein Jahr hörte ich nichts. Dann rief er an und bat um einen Termin. Erst als er kam, erkannte ich ihn. Er berichtete mir, dass er jahrelang gegen seinen Willen und mit Verfügung in der Klinik verbracht hatte. Ein Anwalt paukte ihn mit Rekurs heraus. Seither wohne er im Wohnheim und arbeite im geschützten Rahmen. Er habe mich seinerzeit in der Klinik genau beobachtet. Ich sei immer fair zu den Patienten gewesen. Deshalb wolle er mir eine Chance geben. Ebenso wichtig sei ihm, eine konstante Person für die ärztliche Betreuung zu haben, welche über längere Zeit zur Verfügung stehen könne, nicht wie in den Institutionen, in welchen die Mitarbeiter ständig wechseln.
Nicht jeder Beginn einer Therapie endete in einer erfolgreichen Behandlung mit gutem Abschluss, wie immer erfolgreich auch definiert werden mag. Psychosentherapie mit schizophrenen Menschen ist oft bedroht von der hohen Wahrscheinlichkeit des Suizides. Ich habe bis heute das große Glück, »nur« eine Patientin durch Suizid während der Behandlung verloren zu haben. »Nur« wenige Patienten haben sich später, lange nach der Behandlung, das Leben genommen. Es ist mir bewusst, dass dieses »statistisch gute Resultat« nur wenig mit meiner Leistung als Therapeut zu tun hat. Ich möchte gleich zu Beginn sagen, dass Suizide nicht zu verhindern sind, insbesondere bei schizophrenen Menschen. Suizidgefahr soll weder davon abhalten, diese Menschen zu behandeln, noch soll die Anzahl Suizide, die ein Therapeut bei seinen Patienten hinnehmen 128
muss, als (Miss-)Erfolgsparameter verstanden werden. Trotzdem muss jeder Suizid eines Patienten selbstkritisch, vor allem aber mit Hilfe der Supervision reflektiert werden. Den dualen Raum verstehe und definiere ich in der Behandlung schizophrener Menschen grundsätzlich anders als das, was wir üblicherweise an Setting in analytischen (und nicht-analytischen) Therapien begegnen. Ich finde mich da in bester Gesellschaft erfahrener Therapeuten und Therapeutinnen. In »Psychosentherapie: Psychoanalytische und existentielle Grundlagen« (Benedetti et al. 1983) schreibt Theresa Corsi Piacentini im Kapitel »Der Wahn, der Patient und der Analytiker«: »Daher kann der Unterschied zwischen einer Therapie am Patienten mit intakter Ichstruktur und der beim Patienten mit fragmentiertem Ich kurz mit den Ausdrücken Psychoanalyse contra Psychosynthese charakterisiert werden. Trotz dieser Prämisse möchte ich vor allem hervorheben, dass auch die Psychosynthese vom Freudschen metapsychologischen Modell der Seele ausgeht [. . .] Die Unterschiede bestehen einmal in der größeren Variationsbreite des Settings und in den Kommunikations- und Interpretationstechniken. Wenn aber der Analytiker die Disziplin-Regel befolgt, sich immer bewusst zu machen, was er tut, und auf was für ein Ziel er zusteuert, nutzt er eben deswegen auch das psychoanalytische Rüstzeug. Das Konzept des Settings geht ja nicht unter; im Augenblick – nehmen wir einmal an – da der Analytiker beschließt, mit dem psychotischen Patienten spazieren zugehen oder mit ihm über den verbalen Kontakt hinaus auch einen körperlichen herzustellen, tut er ja nichts anderes als einen speziellen Parameter einzuführen, der dieser Situation angepasst ist. Mit anderen Worten, die Beweglichkeit in der Therapieführung kann, wenn nur das kritische Bewusstsein des Analytikers garantiert ist, jeden Parameter zulassen, der der spezifischen Dynamik irgendeines analytischen Prozesses entspricht« (S. 194). Der Rahmen der Behandlung kann in allen Komponenten über lange Zeit, sogar wenn der duale Raum bereits etabliert ist, innerhalb einer gewissen Grenze variabel sein und sich verändern, muss es aber nicht. Das betrifft Ort, Zeit und Dauer der Therapiesitzung genauso wie den Platz des Patienten im Raum 129
oder den Inhalt der Sitzung. Demgegenüber steht unverrückbar fest, was die Transparenz des Therapeuten seinem Patienten gegenüber und seine eigene Position im dualen Raum betrifft. Der Therapeut ist und bleibt bei allen Veränderungen, die sich subjektiv für den Patienten durch seine akute Wahnverformung und seine entsprechende Wahrwahrnehmung ergeben, ein absolut verlässlicher Fixpunkt in Haltung und Zugewandtheit, auch wenn der Patient das nicht glaubt und in Frage stellt. Dies gilt ebenso bei realen, objektiven Veränderungen, welche durch reaktive Bewegungen des Patienten im dualen Raum oder außerhalb sowie durch Veränderungen im Umfeld bedingt sind. Er nimmt den Therapeuten unter Umständen anders wahr und unterstellt ihm deshalb eine Verschiebung seiner Position. Trotzdem sollte der Therapeut nichts an seiner Grundhaltung ändern und seine Position empathisch verteidigen und verstehend, eventuell sogar wahnintern, später wahnextern, deutend auf ihn eingehen. Die Nähe-Distanz-Verbindung zwischen Patient und Therapeut, kann sich zeitweise extremer verändern als bei anderen Krankheitsbildern. Nie aber sollte sich der Therapeut aus dem dualen Raum hinauskatapultieren lassen oder umgekehrt eine verbündend-symbiotische Verschmelzung mit dem Patienten eingehen. Außerdem sollte es der Therapeut vermeiden, seine negativen und positiven (Gegenübertragungs-)Gefühle innerhalb des dualen Raums unreflektiert und unangemessen zu zeigen, sondern damit besonnen und zurückhaltend umgehen und allenfalls sich selbst deuten. In der Supervision dagegen ist Platz für die ungefilterte Mitteilung der eigenen Gefühle, die beim Therapeuten dem Patienten gegenüber entstanden sind. Sie können gemeinsam besprochen und verstanden werden. In der Therapie werden die gewonnenen Einsichten entsprechend verbal oder averbal eingebracht. Das kann aktiv deutend oder zurückhaltend in der reflektierten Haltung und Handlung geschehen. Je nach Stand und Fortschritt der therapeutischen Beziehung wird der Therapeut den Patienten an der Deutung in adäquater Form daran teilhaben lassen: in einer dem Patienten verständlichen Sprache, eventuell wahnintern übersetzt oder, in fortgeschrittenen Stadien der Behandlung, wahnextern gedeutet. Dieser Prozess erfordert 130
insbesondere zu Beginn der Behandlung viel Energie und bedarf wie erwähnt der intensiven supervisorischen Begleitung. An Fallbeispielen zeige ich exemplarisch auf, was es heißt, Fixpunkt im dualen Raum zu werden, zu sein und zu bleiben. Damit soll deutlich werden, was unter dem dualen Raum, wie ich ihn erlebe, zu verstehen ist. Verständlicherweise kann ich damit nicht einmal einen kleinen Teil aller möglichen Varianten abdecken. Mir geht es mehr darum, meine Haltung und meinen Umgang darzulegen als technische Regeln aufzustellen. In »Psychotherapie als existenzielle Herausforderung« schreibt Benedetti zu der ersten Phase der dort genannten vier Phasen der Therapie: »In einer ersten Phase versuche ich, durch eine stets rekonstruierende Form des Zuhörens das Grundmuster zu erfassen, aus der sich die ›Welt‹ ergibt, in der der Kranke lebt [. . .] Auch verzichte ich während dieser ersten Phase auf eine deutende oder allzu früh die soziale Anpassung verlangende Aktivitäten, die mir den Kranken entfremdet. Stattdessen wiederhole ich seine Erlebnisse in einer möglichst vereinheitlichenden und rationalisierenden Sprache, die gleichzeitig Anteilnahme ausdrückt. Weiter entwickle ich ein vorsichtiges Angebot von Nähe, von MitSein, das dem Kranken aber die Freiheit lässt, Distanz zu wahren« (1992, S. 55). Zur zweiten Phase, in welcher es um die Dualisierung geht, führt er aus: »Die zweite psychotherapeutische Phase besteht in einer zunehmenden Dualisierung des Verhältnisses [. . .] Die psychotherapeutische Haltung besteht in einer Bereitschaft, durch eigene Phantasien, Assoziationen und Deutungen solche Transitivismen und Appersonierungen in archaische Kommunikationsformen zu transformieren, auf Grund derer eine Art Symbiose mit einem stets positivierenden Partner stattfindet« (S. 56). Kehren wir zur oben genannten Patientin zurück, die ich im Rahmen eines speziellen Behandlungsvertrags zum Eintritt in die Klinik bewegen konnte. Es ging um das vorsichtige Nähe-Distanz-»Spiel« in der Vorphase der möglichen Therapie. Bereits das aktive Nichteingehen meinerseits auf die von mir erkannte und benannte Suizidalität der Patientin sollte ihr zeigen, dass ich die
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Verantwortung für ihr Leben grundsätzlich nicht übernehmen werde, solange wir uns nicht im dualen Raum befinden, also einen Therapievertrag haben und solange sie selbst dazu im Stande ist. Mit dem Angebot eines Termins offerierte ich ihr gleichzeitig einen Platz in einem möglichen dualen Raum, den es zuvor auszuhandeln galt. Misstrauisch fand ich sie tags darauf, als ich sie zum Vorgespräch abholen kam, nicht etwa im Wartezimmer, sondern davor stehend. Sie weigerte sich, mich anzusehen sowie mir die Hand zur Begrüßung zu reichen und ging in gebührendem Abstand hinter mir her. Sie trat, als ich sie dazu einlud, nicht vor mir ins Zimmer ein, sondern verzog ihr Gesicht zu einer verächtlichen Miene, als würde ich das Absurdeste der Welt von ihr verlangen. Sie wollte, dass ich vor ihr hineingehe und folgte mir skeptisch um sich blickend und stellte den für sie vorgesehenen Stuhl in die Position der maximal möglichen Distanz zu mir um. Sogleich eröffnete sie, arrogant wirkend und fordernd, das Gespräch, indem sie einen Zettel vorlas. Es wirkte auf mich, als würde sie ein Urteil im Gericht verkünden. Darin enthalten waren Anweisungen und Vorschriften für mich und die Klinik. Es machte den Eindruck, als ob wir etwas von ihr wollten und nicht umgekehrt. Die Gegenübertragungsgefühle in mir schwankten hin und her, zwischen Ärger, Wut und einem amüsiertem, distanziertem Lächeln bis hin zu tiefem Mitleid für das völlig grotesk wirkende Geschöpf vor mir. Sie war völlig in Schwarz gekleidet, mit zwei verschiedenen Männerschuhen und zweifarbigen Schnürsenkeln versehen. Zudem trug sie einen holzkreuzähnlichen Zweig mit ausgestrecktem Arm und gegen mich gerichtet vor sich her und war mit großem, auffallendem Schmuck behangen. Ich unterbrach sie mit ruhiger Stimme und wies darauf hin, dass es mir wichtig sei, ihr ein Angebot zu machen, das auch für mich einhaltbar sei und mich nicht überfordere. Sonst würde die Therapie nach kurzer Zeit gefährdet sein. Es gehe hier nicht darum, wer wem sein Diktat auferlege, sondern ob wir uns auf einen für beide verbindlichen und akzeptablen Vertrag der Behandlung einigen können. Es gehe ihr doch offensichtlich schlecht und sie scheine auch Angst zu haben. Ich bat sie, ihre Wünsche langsam zu formulieren, damit wir diese einzeln diskutieren könnten. In moderatem Ton und etwas zugewandter und ruhiger eröffnete sie mir, sie wolle auf die offene Station und ohne jede medikamentöse Behandlung therapiert werden, egal was passiere. Zudem bestehe sie auf einem, nur von ihr abschließbaren Einzelzimmer. Sie wünsche jeden Tag zwei bis drei Therapiegespräche in ihrem Zimmer. Zudem wolle sie keine Mahlzeiten mit anderen einnehmen und auch an keinen Gruppengesprä-
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chen und -aktivitäten teilnehmen. Sie müsse jederzeit austreten können, wenn sie es für richtig halte und in einer Fortsetzung der Therapie keinen Sinn mehr sehe. Ich antwortete ihr, dass ich auf alles, was von ihr gesagt wurde, in einer kompromisshaften Form eingehen könne. Allerdings sei es mir unmöglich, ihre Wünsche als unveränderliches Naturgesetz anzunehmen. Ich wolle diese mit dem Zusatz versehen, dass sich die Bedingungen mit zunehmendem Vertrauen ändern können und müssen. Ich bot ihr also ein Einzelzimmer an – alle Patienten auf dieser Station hatten Einzelzimmer –, allerdings für das Team und mich jederzeit aufzuschließen. Ich versprach damit verknüpft, dass wir immer anklopfen und ihre Antwort abwarten und üblicherweise ein Nein akzeptieren können. Eintreten würden wir nur dann, wenn wir keine Antwort erhielten oder uns um sie sorgten. Es sei auch für uns unzumutbar, in Angst um sie leben zu müssen, sollten wir uns auf eine intensive Behandlung mit ihr einlassen. Sie sei uns nicht egal. Eine intensive Therapie sei eine harte Arbeit für beide. Schließlich seien ihre Wünsche, die zum Großteil der Abwehr ihrer Ängste dienten, auch Ausdruck der Angst vor uns. Dies sei wohl verständlich und daher berechtigt, da wir uns noch nicht genügend kennen würden, um Vertrauen zueinander zu haben, aber es entspreche keiner Wahrheit, sondern momentaner, subjektiver Wahrnehmung. Auch wir hätten Ängste, und dies sei von ihr ebenso wie umgekehrt zu respektieren und zu akzeptieren. Wir müssten lernen, uns anzunähern, ohne Angst voreinander zu haben. Dies gelte für uns beide sowie für das behandelnde Team. Zu den Medikamenten und der Suizidalität bemerkte ich, dass ich mich als gleichberechtigter Partner in der Therapie verstehe und am Leben mit ihr arbeiten würde und nicht für den Tod. Wir müssten den Tod als reale Möglichkeit ausschließen, weil er uns trenne und uns jede Möglichkeit der Therapie und damit des Lebens und der Zukunft nehme. Darüber reden könnten wir immer, es aber nicht ausleben. Dafür hätte sie mich nicht aufgesucht. Das könne nicht mein Angebot an sie sein. Ich versprach ihr zudem, nie medikamentös gegen ihren Willen zu intervenieren, auch wenn es mir schwer falle, ihr Leiden zu ertragen, solange sie klar Stellung beziehen könne und mich am Prozess teilhaben lasse. Eine Ausnahme sei, wenn sie akut fremdgefährdend werde. Ich hätte auch mit den anderen Patienten ein Therapieverhältnis, welches ich verbindlich einhalten wolle und müsse, sonst könne ja auch sie nicht mehr sicher sein, ob ich Abmachungen mit ihr wirklich einhalten würde. Eine zweite Ausnahme der Regel wäre die akute starke Bedrohung
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oder Lebensgefahr für sie selbst. Das würde ich nicht zulassen, soweit meine Möglichkeiten es erlaubten. Dann nicht zu intervenieren und jetzt einfach zustimmend zu ihrer Bedingung Ja zu sagen, wäre ein Widerspruch, sie ernst zu nehmen. Ich sagte ihr eine tägliche Therapiesitzung an fünf Arbeitstagen zu Beginn von maximal 30 Minuten zu, später erweitert auf 50 Minuten und zu fest vereinbarten Zeiten. Müsse ein Termin aus zwingenden Gründen von mir abgesagt werden, würde ich mich um einen Ersatztermin bemühen. Im Notfall ändere sich die Frequenz der Situation angepasst. Wir würden, solange wie möglich, alles gemeinsam aushandeln. Wenn sie nicht mehr mit mir kommunizieren könne, würde ich die Behandlung nach bestem Wissen und Gewissen für sie, aber allein festlegen. An Gruppenaktivitäten und den gemeinsamen Essen müsse sie vorerst nicht teilnehmen. Da war sie keine Ausnahme auf der Station, was ich ihr auch vorbeugend mitteilte, um ihr keine spezielle Stellung auf der Station zuzugestehen. Ich versicherte ihr, eine bestmögliche Transparenz zu schaffen, was meine Handlungen, Interventionen, so wie meine Gedanken zu ihr und den Prozess betreffe, soweit es für die Therapie erforderlich sei. Was und wie ich es sage, entscheide ich für mich selbst, so wie sie für sich entscheiden werde, wann, was und in welcher Form sie mir mitteilen wolle und könne. Ich versprach, alle Abmachungen nach Möglichkeiten einzuhalten, ausgeschlossen höhere Gewalt. Ich versicherte ihr meine feste Absicht, im Rahmen der Therapie dabei zu sein und bleiben zu wollen. Das Gleiche forderte ich von ihr. Ehrlichkeit müsse von beiden gegeben sein. Ziel sei es, ihr Leben angstfreier zu gestalten und eine Therapiebeziehung aufzubauen, an der sie sich wieder zurück in die Welt orientieren könne. Das sei damit verknüpft, dass ich sie und ihre Welt (auch die psychotische) wirklich und soweit wie möglich verstehen wolle. Dazu brauche ich ihre Hilfe, da ich ein »normaler« Mensch sei und über keine übernatürlichen oder hellseherischen Fähigkeiten verfügen würde. Sie willigte nach einer Bedenkzeit von einigen Tagen in diesen Vertrag ein.
Dieser Ausschnitt des Vorgesprächs zeigt, wie anstrengend das Aushandeln des dualen Raums – des Rahmens wie der Spielregeln – sein kann, wie viel Flexibilität und vor allem Empathie nötig sind und wie viel Aufmerksamkeit und Energie abverlangt wird, um nicht in einen Machtkampf zu geraten. Alle Aufmerksamkeit sollte darauf angelegt sein, jeden Machtkampf, der sich ankündigt, unmittelbar und nicht kränkend oder schuldzuwei134
send zu benennen, diesen wenn möglich (noch) nicht zu deuten und dem dafür das partnerschaftliche Therapiekonzept des dualen Raums gegenüber zu stellen. Wenn die Therapie im dualen Raum ausgehandelt ist, gilt es im nächsten Schritt zu lernen, sich darin zu bewegen, ohne ihn zu verlassen. All dies zu definieren ist eines, es umzusetzen etwas anderes. Im weiteren Verlauf wurde ich in diesem Sinne von ihr hart auf die Probe gestellt. Sie musste den Vertrag und mich als neue Bestandteile in ihre psychotische Welt integrieren. So trieb sie mich zeitweise an die Grenze des Möglichen, meine im Vertrag zugesicherte Position mit meinem verpflichtenden Teil aufrecht erhalten zu können. Bereits am ersten Tag nach ihrem Eintritt, der unspektakulär ablief, erschien ich zur ersten abgemachten Therapiesitzung in ihrem Zimmer auf der Station, so wie sie es sich ausbedungen hatte. Ich vernahm von der Pflege, dass sie die ganze Nacht aufgewesen war, mit der Nachtwache gut und klar geredet habe, sich aber am frühen Morgen ins Zimmer zurückgezogen habe und seither nicht mehr gesehen wurde. Als ich an der Zimmertür anklopfte, rührte sich nichts und ich erhielt auf meine Anfrage keine Antwort. Ich sagte durch die geschlossene Tür, ich würde jetzt hineinkommen, um die abgemachte Therapiesitzung mit ihr wahrzunehmen. Die Tür war nicht verschlossen. Die Patientin selbst befand sich jedoch nicht im Zimmer. Die Tür zum integrierten Bad war leicht angelehnt, ihr Atemgeräusch hörbar. Ich trat nach erneuter Ankündigung ein. Sie lag mit einem weißen Tuch bedeckt auf der Matratze, die sie vom Bett dahin geschleppt hatte, schwitzend, unansprechbar und ohne jede Reaktion. Sie erschien mir wie eine lebendige Leiche. Ich kniete mich nieder, worauf sie mit Lauten auf mich reagierte, nicht aber mit klaren Worten. Sie war körperlich starr und ich befürchtete, sie wäre in einen katatonen Zustand geraten. Ich nahm nach Vorankündigung ihre Hand, um Muskeltonus und Puls zu überprüfen. Dabei drückte sie meine Hand deutlich und stark. Ich begann im Sinne von Benedettis therapeutischem Monolog mit ihr zu sprechen. Dabei legte ich ihr mein Dilemma dar, sie behandeln zu wollen, aber nicht zu wissen, ob sie damit einverstanden sei. Ich betonte dabei meine Angst um sie. Ebenso teilte ich ihr mit, sie solle durch Händedruck bekunden, wenn sie eine Medikation zulasse, ich würde sie anschließend auch das Gegenteil fragen, um ihre eindeutige Haltung zu erfahren. Bei nicht
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eindeutiger Antwort durch Händedruck sei ich auf mich allein gestellt und würde sie medizieren, da mir an ihrem Leben liege und wir uns für die Therapie entschlossen haben. Sie drückte eindeutig die Hand bei der zweiten Frage und bekundete damit klar, keine Medikation zu wünschen, was ich schweren Herzens respektierte. Meiner Einschätzung nach bestand aus langjähriger Erfahrung als Akutpsychiater für sie zu diesem Zeitpunkt noch keine lebensbedrohliche Gefahr. Ich forderte sie auf, genügend Flüssigkeit und Nahrung zu sich zu nehmen oder sich eingeben zu lassen, da dies ihre Verantwortung für ihr Leben und damit für die Therapie sei. Wir stellten ihr Essen und Trinken hin. Ich bat sie, die regelmäßige Kontrolle der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme sowie Fiebermessung durch das Personal genauso zuzulassen wie allfällige Interventionen und erklärte ihr, dass dies zur Feststellung eines Temperaturanstieges diene, der, wenn er einträte, eine Medikation (febrile Katatonie) zwingend erfordern würde. Erstaunlicherweise ging es tagelang so weiter. In der Nacht war sie jeweils nicht kataton und aktiv, versorgte sich gut und reichlich mit Nahrung und Flüssigkeit und redete mit der Nachtwache über dies und jenes, teilte dabei wiederholt fordernd mit, wenn ich mit ihr sprechen wolle, müsse ich eben in der Nacht kommen. Dies tat ich nicht. Nicht etwa aus Trotz oder Bestrafung, sondern aus der klaren Abmachung heraus, die wir getroffen hatten. Meine Position im dualen Raum sicher besetzend kam es darauf an, diese nicht zu verlassen, wenn es nicht zwingend erforderlich wurde. Das zahlte sich langfristig aus. Sie merkte schon zu diesem Zeitpunkt, dass ich mich absolut zuverlässig an Abmachungen halte. Alles was ich aus medizinischen Gründen dringend wissen musste – und nur das – wurde über die Nachtwache erfragt und mir mitgeteilt. Alles andere, was gesprochen wurde, wollte ich nicht hören, obschon es mich brennend interessiert hätte, was die Patientin alles mitteilte. Die Nachtwache war wissend und ich als Therapeut der Unwissende. Das musste ich aushalten. Die Patientin erfuhr von der Nachtwache, dass ich nichts über die Gespräche mit ihr erfahren wolle und geduldig darauf warte, bis wir im Rahmen der vereinbarten Therapie miteinander sprechen könnten. Ich vermutete, dass es dabei für sie um die alles entscheidende Auseinandersetzung mit ihrer psychotischen Innenwelt ging, sich auf die Behandlung mit mir einlassen zu dürfen, was sie eigentlich wünschte oder aufzugeben, abzubrechen und sich damit den inneren Mächten zu unterwerfen. Am Tag lag sie weiterhin in der Dusche auf ihrer Matratze, war kataton, aber zunehmend erreichbarer, leicht gelöster und nicht mehr so extrem angespannt. Mit der Zeit
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sprach sie sogar einige Worte zu mir. Ich kam jeden Tag zum abgemachten Termin und blieb die vereinbarte Zeit bei ihr, ihre Hand haltend und mit ihr sprechend, indem ich ihr Teile meiner inneren Bilder, die entstanden, empathisch zugewandt mitteilte. Es entstand zunehmend eine Nähe in der Distanz. Sie konnte mir Wochen später alles von mir Gesagte exakt wiederholen und betonte, dass dies für sie mit jedem Tag wichtiger, ja überlebenswichtig geworden sei. Meine Stimme wäre das einzig Gute gewesen, was sie motiviert habe, den Mut aufzubringen, sich in einem Kampf um Leben und Tod ans Tageslicht und damit in den Dialog mit mir zu begeben. Ich hätte sie immer gefunden, wo immer sie auch im Universum gewesen sei. Nie wäre ich böse mit ihr umgegangen, im Gegenteil, sie habe meine Zugewandtheit gespürt und sehnlichst meinen Besuch erwartet. Einen guten Moment in einem grauenhaften und bedrohlichen Universum erleben zu dürfen, nicht allein und ausgeliefert zu sein, habe sie überzeugt. Ihr Herrscher hätte ihr gedroht, wenn sie sich mit mir auf die Therapie einließe, würde das Sonnenlicht sie verbrennen. Deshalb mied sie anfänglich das Tageslicht und fürchtete sich vor mir und meinem Kommen. Gleichzeitig wurden meine Besuche zur einzigen Brücke und dem einzigen ungefährlichen Lichtblick, um ins eigene Leben zu gelangen. Der katatone Zustand war die konkrete Darstellung und Ausdruck der Ambivalenz von ihrem unglaublichen und unausweichlichen Gefangensein. Es entspricht einem (reaktiven) Totstellreflex, da weder Fluchtweg noch offener Kampf gegen ihre mächtigen Gegner in der Psychose möglich waren. Den Vertrag mit mir hatte sie gegen den Herrscher ihrer Welt und hinter seinem Rücken abgeschlossen. All das wusste ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht und musste mein Unwissen und Nichtverstehen aushalten. Ich war im Alltag ganz auf meine Intuition gestellt. Einmal in der Woche hatte ich die Möglichkeit, bei meiner damaligen Supervisorin, die mich sehr unterstützte und mir half, all das im Nachhinein tiefer und besser zu verstehen.
Es folgt ein weiteres Beispiel, das andere Aspekte der Flexibilität im dualen Raum aufzeigt. Viel später, als die Patientin mich bereits in meinem Büro zur Therapiesitzung aufsuchte, erschien sie manchmal nicht pünktlich. Ich wusste, dass sie kommen wollte und vermutete, dass ihr Herrscher sie daran zu hindern versuchte und ihr Angst machte. So ging ich sie, wenn sie nicht pünktlich da war, suchen und fand sie, oft weit ab meines Büros,
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im Klinikareal, manchmal versteckt hinter einem Strauch. Ich fand sie immer, nahm sie mit ins Zimmer und führte die Therapiesitzung, die inzwischen auf die Dauer von fünfzig Minuten angesetzt war, der Vereinbarung entsprechend durch und beendete diese pünktlich. Allerdings fragte ich zehn Minuten vor Ende, ob ich sie zur Station zurückbegleiten solle oder ob sie es gegen ihren Herrscher auch allein schaffe. Je nach dem begleitete ich sie, was der Therapiezeit abging oder wir beendeten unser Gespräch nach 50 Minuten und sie ging allein zurück. Mit der Abteilung (die inzwischen nicht mehr die gleiche war) und der Patientin war vereinbart worden, mich zu informieren, wenn sie zehn Minuten nach Ende der Therapiesitzung nicht eingetroffen wäre. Dieser Fall trat nie ein. Die Therapiestunde gab ihr meist genügend Kraft, um gegen den Herrscher zu kämpfen. Wenn sie allein auf die Station zurückgekehrt war, sprach ich dies in der folgenden Sitzung nicht-deutend an. Ich stellte mit neutralem Ton in der Stimme fest: »Sie sind nach der letzten Stunde gut auf die Station zurückgekehrt.« Ich überließ es ihr, darauf einzugehen oder nicht. Im Laufe der weiteren intensiven Therapie konnte sie das Holzkreuz gemeinsam mit mir auf dem Areal der Klinik begraben. Sie vermochte inzwischen diese Form des Schutzes aufzugeben: eine symbolische Handlung, die für sie alles andere als symbolisch war. In einem nächsten Schritt ließ sie Farben an sich zu, und dies nach über zehn Jahren, in denen sie ausschließlich schwarz gekleidet war. Das bewegte mich sehr, was ich ihr mitteilte. Es war mir offensichtlich auch anzusehen, was sie wahrnahm. Als sie gegangen war, realisierte ich die Bedeutung dieses Schrittes und es rührte mich zu Tränen. Daran ließ ich sie nicht teilhaben.
Analytische Arbeit mit Schizophrenen heißt auch handeln: Nicht einfach so, aus dem momentanen, unreflektierten Gefühl heraus, auch nicht aus einer äußeren Notwendigkeit, welche den Druck reduzieren oder eine Situation erträglicher machen würde. Es bedarf der Reflexion vor dem Handeln. Es ist wichtig, sich zuvor Rechenschaft abzugeben, warum man etwas tut. Dem Patienten wird dieses Handeln nicht in der Tiefe der Reflexion erklärt, sondern in klaren Worten, auf die Realebene bezogen mitgeteilt. Eine schwere Arbeit in dieser Zeit der Behandlung war für mich, verstehen zu müssen, ohne die Patientin in die Überlegungen einbeziehen zu können. Es war zu früh, um sich selbst vom Standpunkt 138
einer Metaebene aus (einer »Terrasse«, wie Benedetti es bezeichnete) zuzusehen und reflektierend darüber zu reden. Die Arbeit mit externen Deutungen, das heißt auch der Konfrontation mit der Realität, kann erst später geschehen. Lebensgeschichtliche Deutungen sind unter Umständen selten und manchmal nie möglich und wenn, dann erst in einer späten Phase der Therapie. Eine der schlimmsten Herausforderungen für mich als Therapeut war, als sie nach einigen Monaten aus der Klinik verschwand und mich abends von irgendwo aus zu Hause anrief. Wie ich später erfuhr, hatte sie sich schon vor Eintritt in die Klinik einen Zettel mit wichtigen Telefonnummern angelegt, unter anderem meine, die sie aus dem Telefonbuch gesucht und dazugelegt hatte. Sie trug diesen als selbsterfundenen »Notfallkoffer« immer mit sich herum. Spät nachmittags hatte es eine Auseinandersetzung mit einer Pflegeperson gegeben. Die beiden waren sich noch nicht vertraut. Die Pflegeperson war offensichtlich auch nicht genau über die Regelungen mit der Patientin informiert. Sie beauftragte diese, etwas zu erledigen, was die Patientin ausdrücklich noch nicht hätte tun müssen, weil es ihr zu diesem Zeitpunkt zuviel Angst bereitete. Deshalb floh sie verzweifelt und sich unverstanden fühlend aus der Klinik Richtung Stadt. Als sie mich abends anrief, war sie noch immer sehr verängstigt und schuldbeladen. Sie hatte die Idee, versagt und deshalb kein Recht mehr auf die Therapie bei mir zu haben. Sie brauchte Stunden, um sich durchzuringen, mich anzurufen und bat mich, sie so schnell als möglich abzuholen. Aber wo war sie? So verstört wie sie war, konnte sie es mir nicht sagen. Ich ließ sie, nachdem ich sie etwas beruhigen konnte, alles beschreiben, was sie von der Telefonzelle aus sehen konnte und wusste bald, dass es der hintere Teil des Bahnhofs sein musste. Ich bat sie, vor der Telefonzelle auf mich zu warten und nicht wegzugehen. Zudem ließ ich mir die Telefonnummer der Telefonzelle geben, um sie anrufen zu können, sollte ich sie, wo ich sie vermutete, nicht finden. Als ich dort 15 Minuten später erschien, war sie nicht zu sehen. Die Telefonnummer hingegen stimmte. Weit weg konnte sie nicht sein. Meine bereits fortgeschrittene Erfahrung und Übung im Suchen und Finden der Patientin half mir. Ich vermutete sie im Gebüsch und ging hinein. Unter den erstaunten Blicken der Passanten suchte ich nach ihr, rief sie und fand sie schließlich auch. Zu zweit kamen wir heraus. Ich informierte die Station, welche zu diesem Zeitpunkt noch nicht bemerkt hatte, dass sie fehlte, und brachte sie zurück. Am nächsten Tag fand ein klärendes Ge-
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spräch mit allen Beteiligten in guter Atmosphäre und ohne Anklage statt. Die Patientin erlebte, vielleicht zum ersten Mal, dass mit ihr und ohne jeden Machtkampf ein Missverständnis besprochen und aus dem Weg geräumt werden konnte. Es gab nur Gewinner und keine Verlierer. Schon vor diesem Ereignis sah sie mich als einen möglichen Verbündeten, war sich jedoch nicht sicher, ob ich mich ihr nicht nur in böser Absicht annähern würde, um sie später aus der entstandenen Vertrautheit heraus besser vernichten zu können. Ihr Misstrauen legte sich nach diesem Ereignis deutlich zu Gunsten einer vorsichtigen und stabileren Vertrautheit.
Dieses Beispiel zeigt auf, wie flexibel der Therapeut in verschiedensten Positionen (hier als Retter, Anwalt und Vermittler) sein und trotzdem im Rahmen analytischer Arbeit bleiben muss. Es gilt, innerhalb des dualen Raums und des Settings wenn nötig ungewohnte Sichtweisen einzunehmen, jede mögliche Interpretation für den Patienten zu finden und sie mutig zu leben, also ganz real zu handeln. Den dualen Raum verlässt der Therapeut dabei nicht und gefährdet weder sich noch den Patienten. Der duale Raum ist hier so weit, wie der Patient ihn spannt und der Therapeut mit ihm in Kontakt bleiben kann. Das heißt nicht, dass der Therapeut überall hin folgen kann oder soll. Der Patient kann bis ans Ende seines Universums gehen, wir bleiben grundsätzlich an Ort und Stelle, blicken ihm (analytisch) nach, um ihn nicht zu verlieren. Für den Analytiker ungewohnt fremd, eilen wir bei akuter Not zu ihm, so nah er es zulässt, wenn wir gerufen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Patient den dualen Raum verlässt und vielleicht unwiederbringlich verloren geht. Wie kann nun ein Therapieraum aussehen, ein Setting gestaltet werden? Ich möchte einige allgemeine Hinweise aus meiner Praxis geben. Im Therapieraum selbst biete ich dem Patienten einen Platz an, welcher nahe der Tür gelegen ist und nicht durch mich versperrt wird, so dass er jederzeit eine »Fluchtmöglichkeit« hat. Bei potenziell gefährlichen Patienten sorge ich auch für mich vor. Es ist äußerst selten zu wirklich gefährlichen Situationen gekommen und wenn, war es mit einer Ausnahme immer möglich, diese allein zu deeskalieren. Leider bietet meine Praxis keine Möglichkeit, es zu arrangieren, 140
dass für beide ein Fluchtweg offen ist. Es gibt mehrere Optionen, wie und wo der Patient im Raum sitzen kann. Nicht zur Verfügung stehen mein Platz und mein Stuhl. Ich erwähne dies, weil in Ambulatorien immer wieder die Situation entsteht, dass der Therapeut seinen Stuhl und Platz wechselt. Das hat schon zu Irritationen in der Therapie geführt, die erst, als dieser Aspekt erkannt und behoben wurde, konstruktiv fortgesetzt werden konnte. Ein kleines Detail kann zu einer ernsthaften Behinderung des Therapieprozesses führen, weil es dem Patienten unter Umständen nicht mehr möglich ist, angstfrei in der Therapie zu sein, da diese unberechenbare Änderung ihn zu sehr destabilisiert. Ihm ist dies nicht bewusst und kann daher von ihm nicht thematisiert werden. Es ist ein Aspekt, den man mit wenig Aufwand prophylaktisch vermeiden kann. Das Zimmer selbst ist einfach, möglichst neutral, nicht zu persönlich (zum Beispiel Bilder von der Familie), aber hell, freundlich und schön eingerichtet. Die Therapiesitzung findet zur möglichst fest abgemachten Zeit statt. Diese beginnt weder zu früh noch zu spät – der Therapeut sollte nicht in letzter Sekunde und gehetzt erscheinen, sondern Ruhe ausstrahlen und sein Gegenüber einladend willkommen heißen – und hört spätestens auf, wenn die vereinbarte Zeit abgelaufen ist. Er überzieht die Stunde nicht. Die diesbezügliche Verantwortung trägt der Therapeut allein. Wenn es für den Patienten nicht auszuhalten ist, kann er die Therapie einseitig früher beenden. Dieses Recht räume ich gleich zu Beginn ein, sowie ich mir das reduzierte Recht herausnehme, die Therapie zu beenden, sollte ich mich ernsthaft bedroht fühlen. Wichtig ist, dass ein vorzeitiges Beenden in der nächsten Therapiestunde oder sobald wie möglich (was vom Zustand des Patienten abhängt) vorsichtig, neutral und auf keinen Fall vorwurfsvoll nachbesprochen wird. Der feste, vom Therapeuten zuverlässig eingehaltene Zeitrahmen gibt dem Gegenüber auf Dauer wichtige stabilisierende Sicherheit. In frühen Stadien der Behandlung kann es notwendig sein, den nächsten Termin ad hoc zu vereinbaren, ebenso die Dauer der Sitzung. Möglichst bald, aber auf keinen Fall zu früh, kommt es in gemeinsamer Absprache zum Vereinbaren eines fes141
ten Settings, das sich allerdings erst in mühsamer und geduldiger Arbeit etablieren muss. Stabilität stellt sich erst mit der Zeit ein. Das Setting kann zu Beginn sowie in Not- oder außergewöhnlichen Situationen in Frequenz und Dauer dem Patienten und seinen vorhandenen Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechend kurzfristig angepasst und verändert werden. Der Therapeut muss dabei selbstkritisch und ernsthaft reflektieren und versuchen, die Dynamik zu verstehen. Wenn ich mich als Therapeut von einem Patienten ständig bedroht fühle, ohne dass es realen Anlass dafür gibt und dieser den Wunsch äußert, früher zu gehen, kann es mir unreflektiert sehr entgegenkommen, ihn gehen zu lassen. Damit werde ich zwar mein unangenehmes Gefühl los, allerdings ohne es analysiert zu haben. Ich habe in solchen Momenten oft erlebt, dass das Thematisieren meines unangenehmen Gefühls in adäquater Weise Ausgangspunkt wurde, die Angst des Patienten im Spiegel meiner Person zu erkennen. Mit mir darüber zu reden, verringerte die Angst mit dem Erfolg, dass es so zu einer erweiterten Mitteilung über die Innenwelt des Patienten kam. Hätte ich ihn gehen lassen, wäre es uns entgangen, uns im Dualen zu treffen. Ich hätte ihn allein gelassen und indirekt seine vorhandene Befürchtung bestätigt, dass ich seine Angst mit ihm zusammen nicht aushalte. Das darf kein Grund sein, die Therapiestunde vorzeitig zu beenden. Von mehreren Gesprächen täglich (insbesondere im stationären Rahmen) bis zu ein bis vier Sitzungen pro Woche bis später zu einem Termin alle sechs Wochen ist alles möglich. Die Dauer der einzelnen Sitzung reicht von wenigen Minuten bis zu 50- bis 60-Minuten-Einheiten. Dies gilt für alle Phasen der Therapie. Das Setting in der Schizophrenie-Behandlung wird maßgeschneidert, angepasst und ist nicht starr vorgegeben, ganz anders, als wir es aus der klassischen Psychoanalyse kennen. Bisher habe ich aufgezeigt, wie sich der Therapeut im dualen Raum mit seinen flexiblen, sich verändernden Grenzen bewegt. In welcher Beziehung steht der duale Raum jedoch zur realen Welt, die für den schizophrenen Menschen im besten Fall zu Beginn der Behandlung nur Teilmenge des dualen Raums sein kann? Es gibt wohl viele Überschneidungen, aber damit auch Rei142
bungsflächen. Wie verhält sich der Therapeut im Konflikt zwischen den Welten, im Konflikt des Schizophrenen mit der Welt und umgekehrt? Auch dafür kann es keine allgemein gültigen Regeln geben. Es gibt Empfehlungen und Richtlinien, die dem Therapeuten helfen, sich zu orientieren und therapieerhaltend zu agieren. Er muss dabei den Spagat beherrschen, zwischen den Welten Brücken zu bilden, ohne zerrissen zu werden. Alle Seiten verpflichten ihn, was widersprüchlich werden kann. In alle Richtungen wird viel Loyalität verlangt. Wie will man so die Therapie weiterführen und diese nicht zum Abbruch kommen lassen? Arbeitsplatz, Familie und Gesellschaft – alle vertreten sie begründete und legitime Interessen, oft sogar im Sinne des Patienten und ehrlich gemeint. Da der Therapeut nie ein doppeltes Spiel spielt, kann er sich nicht immer voll und ganz auf eine Seite stellen. Es gilt abzuwägen, was wirklich in dem Moment gelöst werden muss und wie man dies den verschiedenen Parteien beibringt. Der Therapeut ist oft in einer heiklen Position dazwischen: Wenn das eigene Kind mit Schneebällen im tiefen, kalten Winter dem Nachbarn das Fenster zum Wohnzimmer einschlägt und sich dabei selbst verletzt und blutet, wird die Mutter ihr Kind verteidigen, auch wenn der Nachbar aufgebracht an der Tür läutet und mit der Mutter in entwertender Art und Weise über ihr Kind schimpft und Forderungen stellt. Sie wird ihm Recht geben und die Entwertung trotzdem nicht zulassen. Was den Umgang mit ihrem Kind betrifft, wird sie zuerst die Wunden des weinenden Kindes liebevoll-tröstend verbinden. Erst später, wenn das Kind wieder zugänglich und für Kritik erreichbar ist, wird sie mit ihm ins Gericht gehen. Analog verteidigt der Therapeut seinen Patienten vorerst soweit möglich nach außen hin, genau wie der engagierte Anwalt seinen Klienten oder Mutter und Vater ihr Kind verteidigen. Er muss zudem viel Übersetzungsarbeit leisten, weil die Sprachen und das Verständnis füreinander oft weit auseinander liegen. Er versucht zu vermitteln und dem Außenstehenden Unverständliches zu erklären. Dabei wirbt er um Verständnis für seinen Patienten. Er wird sich aber nicht dazu hinreißen lassen, diesen in jedem Fall und um jeden Preis zu decken. Ziel ist es, die Behand143
lung nicht zu gefährden und gleichzeitig den Kontakt zur Außenwelt des dualen Raums nicht zu verlieren. Später, wenn es möglich wird, und das kann sehr lange dauern, wird der Therapeut mit dem Patienten auf solche Situationen zurückkommen und mit ihm adäquat besprechen. Manchmal ist es auch der Patient selbst, der darauf zurückkommt. Es ist vorprogrammiert, dass dualer Raum und reale Welt in Konflikt miteinander geraten können. Was in solchen Prozessen von außen betrachtet geschehen kann, hat mit einer »folie à deux« nichts gemein, sondern ist reflektiertes, therapeutisches Vorgehen. Die oben genannte Patientin begann nach einer längeren Angewöhnungszeit auf der Station auch am Tag länger wach zu sein. Trotzdem unternahm sie auch in der Nacht, manchmal bis in den frühen Morgen, ausgedehnte Spaziergänge im Klinikareal. Dabei kam es vor, dass sie die Nachtwache oder Passanten, die noch unterwegs waren, erschreckte, indem sie eigenartige Töne wie ein Pferd von sich gab, im Areal »herumgaloppierte« und anderes mehr veranstaltete. Dies tat sie nicht in böser Absicht, sondern aus dem psychotischen Erleben heraus. Zudem wurde sie in den Zeiten, in welchen sie sich in der Nacht auf der Station befand, lauter. Sie weckte ihre Mitpatienten durch das Verschieben von Schränken und andere Aktivitäten. Es hagelte Beschwerden von allen Seiten. Sie war auf der offenen Station bald nicht mehr tragbar. Das brachte uns in ein Dilemma: Auf der einen Seite ging es in der Therapie langsam voran, sie erweiterte ihren »Bewegungsraum«, was wichtig war, aber zum Konflikt mit der großen und kleinen Umwelt führte. Es brauchte viel Arbeit von meiner Seite, die Patientin bei Klinikrapporten zu vertreten, ohne sie zu verraten und die Fortsetzung der Therapie zu ermöglichen. Dies war der unbequemere Weg. Ich hätte mir durch erklärende Mitteilungen aus der vertraulichen Therapie oder durch neue Abmachungen über ihren Kopf hinweg vorübergehend Ruhe schaffen können. Auch hätte ich sie unter Druck setzen oder gar entlassen können; sie war nicht mehr suizidal. Ich wählte den Weg, zuerst die inzwischen unter Beschuss geratene Station zu motivieren und dafür zu gewinnen, unseren Kurs weiterzufahren. Gleichzeitig mussten wir dafür sorgen, dass auf der Station Ruhe einkehrte. Es brauchte harte Verhandlungen mit der Patientin selbst, die sich inzwischen recht gut fühlte, ja in der Nacht mit ihrem anstoßenden Verhalten sogar subjektiv glücklich war. Sie berichtete mir über ihre psychotische Erlebensweise offen
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und gestand mir dabei ihr Geheimnis, in Wirklichkeit ein Pferd zu sein und endlich auch leben zu können. Für sie war das die Realität und sie konnte aus ihrer Sicht die Kritik, die ich ihr überbrachte, nicht verstehen. Sie wollte sich aber für mich bemühen, nur bis 22 Uhr hinauszugehen und danach ruhig im Zimmer zu bleiben. Die Verhandlungserfolge hielten nicht lange an. Die Patientin fiel bald aus diesem künstlich gefundenen Gleichgewicht. Sie wurde nachts wieder kataton. Tagsüber war sie wesentlicher besser ansprechbar. Die Situation fand ihren Höhepunkt in einer Nacht, als sie im Rahmen der inzwischen üblichen Katatonie zusätzlich in einen febrilen Zustand geriet. Ich musste notfallmäßig auf die Station kommen. Ich flößte ihr Wasser ein, bis das Fieber sich legte. Eine Verlegung ins Akutspital konnte so knapp verhindert werden. Diese Episode veranlasste mich, sie mit ihrem Einverständnis auf eine geschlossene Station zu verlegen, um die Therapie unter neuen Vorzeichen und mit vertretbarem Aufwand und Risiko fortsetzen zu können. Ich handelte mit ihr und für sie aus, dass sie die Station nach eigenem Wunsch verlassen könne, wenn ihr Zustand es erlaubt, solange sie sich an gewisse Regeln der Nachtruhe hielt und mithelfe, die Therapie nicht zu gefährden.
Zu Beginn waren fast alle unzufrieden mit mir. Die vorgängige Station hätte die Behandlung gern weiter übernommen, weil ich dort Gasttherapeut war und sie nur selten Gelegenheit hatten, an einer Psychotherapie mit einer psychotischen Patientin beteiligt zu sein. Wir hatten gut zusammengearbeitet. Nebst vielen (Fall-) Besprechungen verstanden wir uns auch zwischenmenschlich sehr gut miteinander. Die Patientin war enttäuscht, dass es mir nicht gelungen war, sie so zu verstehen und zu vertreten, dass sie ihr Leben als Pferd ungestört auf der offenen Station weiterleben konnte. Die nachfolgende, geschlossene Station fühlte sich zuerst von mir genötigt. Ich würde meine Machtstellung als leitender Arzt missbrauchen, um meine Therapie mit der Patientin durchzuboxen. Dies wäre bei keinem anderen Arzt möglich gewesen. Ich hätte ihre Station dafür ausgewählt, weil ich das meiner eigenen Akutstation, die sie oft als Konkurrenz empfanden, nicht hätte zumuten wollen. In Wahrheit wählte ich mit Absicht nicht meine Station, weil ich dort grundsätzlich in der Funktion eines Oberarztes, nicht aber als Therapeut tätig war. Ich wollte bei den Patienten keine Rivalitäten entstehen lassen. Dies hätte für meine 145
Assistenten eine Drucksituation geschaffen. Auf der anderen Station hingegen war ich lediglich Gasttherapeut. Es war den anderen Patienten klar, dass ich für sie nicht zur Verfügung gestanden hätte. Mein Chef ließ mich gewähren, weil er großes Vertrauen in mich und meine Arbeit als Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker hatte. Er wusste, dass sein Vorgänger mich für die Therapie mit Psychotikern in die Klinik geholt hatte. Es war ihm ein Anliegen, noch während seiner Amtszeit die Langzeitstationen von einem Analytiker führen zu lassen. Dies war verknüpft mit einer berechtigten Hoffnung, dass neuere Konzepte der Behandlung psychotischer Menschen Einzug halten und Platz finden können. Zudem war ich inzwischen zum stellvertretenden Chefarzt der Klinik geworden. Mein Kollege, der damals Oberarzt der geschlossenen Station war, unterstützte mich in allen Phasen im Hintergrund und arbeitete wesentlich an der Motivation seiner Station mit. Ich entschied mich, konsequent meiner therapeutischen Überzeugung zu folgen und den inzwischen recht unbequemen Weg mit der Patientin weiterzugehen. Über eine kurze Zeit hatte ich ähnlich wie meine Patientin eine einsame Position in der Klinik inne – dualisierte Einsamkeit. Nach einiger Zeit wendete sich alles zum Guten. Die neue Station war bald sehr zufrieden mit meinem Umgang mit der Patientin und mit ihnen. Sie erkannten die Fortschritte an, welche die Patientin inzwischen auf ihrer Station machen konnte und staunten darüber, wie viel Sympathie sowohl bei Mitpatienten wie beim Personal die zuvor autistische und abweisende Patientin in kurzer Zeit gewinnen konnte. Dieser gefiel es inzwischen gut. Sie fühlte sich vor den bedrohlichen Mächten besser geschützt als zuvor. Auf der offenen Station trauerte man der Patientin, die man verloren hatte, nach. Man war andererseits erleichtert, weniger Druck zu haben und bot mir dennoch an, weitere »solche« Patienten bei ihnen zu behandeln. Die Assistenten der geschlossenen Station waren froh, so hautnah meine Arbeit mitzuerleben und mir über die Schultern blicken zu können.
Andere oder ähnliche Konfliktsituationen, in denen sich die Welten berühren oder gar überschneiden, aber inkompatibel scheinen, gibt es häufig auch mit der betroffenen Familie, öffentlichen 146
Ämtern, Vormundschaftsbehörden oder Krankenkassen. Sie stellen eine echte Herausforderung für alle Beteiligten dar und sind leider nicht immer auflösbar.
Borderline-Persönlichkeits-Organisation Der duale Raum bei der Therapie von Patienten mit BorderlinePersönlichkeits-Organisation unterscheidet sich wesentlich vom dualen Raum bei der Schizophrenie-Behandlung. Das betrifft Rahmen und Grenzen sowie die Art der Beziehung und deren Gestaltung. Dass dies so sein muss, ergibt sich aus den verschiedenen Ausgangslagen, sprich Grundproblematiken, welche ich für beide ausführlich dargelegt habe. Es lässt sich vereinfacht so beschreiben: Der Schizophrene fusioniert im Rahmen der ungesteuerten Fragmentation und Auflösung seines Ich mit der Welt, geht darin auf und verliert sich dabei (Negativexistenz). Gleichzeitig rettet er (s)ein Ich über die wahnhafte Verknüpfung der Welt mit sich selbst. Er wird dabei subjektiv zum (wahnhaft) Wissenden, zum Schöpfer und Lenker der Welt (Superexistenz). Daraus resultiert, dass es in der Behandlung des schizophrenen Menschen grundsätzlich zuerst um das Trennen der zuvor fusionierten Welten zurück in die Komponenten Psychose und Realität gehen muss. Der Patient setzt sich mit Teilen seines eigenen Ich im Spiegel und mit Hilfe des Therapeuten zusammen, zuerst in der Psychose und später in der Realität, wo es auch zur Ablösung vom Therapeuten kommt. So gewinnt er sein Ich zurück und kann es, vorerst psychotisch, positionieren, ohne gleich wieder dem Zerfall anheim zu fallen. Auch wenn es im Übergangsstadium weiterhin beide Welten mit wechselnden Machtpositionen geben kann, rückt die psychotische Welt beim erfolgreichen Prozess zuerst in eine Neben-, später in eine Unterposition mit gewissen Vetorechten und erst zuletzt in eine Archivposition. Das heißt, dass die Psychose zwar abgelegt, archiviert, vielleicht sogar im Tresor eingeschlossen ist, aber jederzeit wieder auftauchen kann. Das Ich soll dabei soweit wie möglich rekonstruiert, die Psychose dagegen zumindest zurückgedrängt werden. In der 147
Therapie geht es vorerst um das Bilden eines neuen gemeinsamen Raumes, dem dualen Raum, in welchem sich das Ich zusammenfügen und stufenweise vom Nicht-Ich abgrenzen kann. Die Grenzen des dualen Raums passen sich dabei dem Prozess der Therapie an. Der Borderline-Persönlichkeits-organisierte Mensch wehrt primär über die Spaltung ab, um innere Angst und Spannungen zu vermeiden. Dabei dehnt er den Innenraum des Ich weit aus und benutzt den Außenraum für die Projektion und die projektive Identifizierung, damit die abgespaltenen Teile nicht aufeinander treffen. Deshalb geht es in der Behandlung grundsätzlich darum, die abgespaltenen Teile zunächst näher, später ganz zusammenzubringen. Der Borderlinekranke soll sein Ich in allen Teilen verbinden und zum Ganzen werden lassen. Deshalb muss die Bewegung der Teile in der Therapie im Vordergrund stehen. Der duale Raum sollte sich möglichst nicht verändern und muss in sich konstant, sicher und stabil bleiben. Die Grenzen und die Regeln sollten, fast wie Naturgesetze, »unveränderlich« gelten. Der duale Raum soll den Bewegungsraum der Ich-Teile einschränken und der dadurch verstärkten Angst und Spannung gleichzeitig durch die Therapie und die Beziehung zum Therapeuten entgegenwirken. Diese Gegensätzlichkeit wirkt sich auf die Gestaltung des dualen Raums aus. Die heute wahrscheinlich bekanntesten Manuale für die Behandlung von Menschen mit Borderline-Persönlichkeits-Organisation und Borderlinestörung sind das analytische Manual TFP (Transference Focused Psychotherapy) von Kernberg et al. (2001) und das fast gleichzeitig herausgegebene verhaltenstherapeutische Manual namens DBT (Dialectic Behavioral Therapy) von Linehan et al. (1996). So verschieden beide Manuale sind, so ähnlich sind sie sich, was das Festsetzen der Verbindlichkeit des Rahmens betrifft. Meine Skepsis gegenüber solchen Manualen habe ich bereits erwähnt. Sie können für einige Patienten eine echte Hilfe sein, nicht für alle. Die Radikalität, in der sie dargelegt und angewendet werden sollen, ist es wert, hinterfragt zu werden. Wie ich von erfahrenen Therapeuten und Supervisoren beider Seiten erfahren 148
habe, sind sie wohl selten konsequente Realität im Therapieraum. Am besten ist, wenn man beide Methoden kennt und ihre Techniken beherrscht. So kann man auswählen und das gezielt und reflektiert im Therapiekonzept einsetzen, was für den einzelnen Therapeuten brauch- und machbar ist. Es sollen Werkzeuge in einem individuellen, großen Werkzeugkasten sein, nicht aber der ganze Werkzeugkasten selbst. Der Therapeut ist letztendlich selbst Mitspieler im dualen Raum und so verantwortlich für sein Tun. Manuale mögen den Beginn und erste Schritte in der Borderline-Therapie erleichtern. Langfristig können sie auch behindernd wirken. Beginnen wir erneut mit der Betrachtung, wie der Patient einen Therapeuten auswählt. Häufig wird der Erstkontakt nicht vom Patienten selbst hergestellt, sondern von Angehörigen, die sich, häufig ohne sein Wissen, mit mir in Verbindung setzen und nachfragen, wie eine Therapie des Betreffenden bei mir in die Wege geleitet werden könnte. An dieser Stelle besteht Klärungsbedarf. Die Angehörigen sind überfordert und können sich nicht mehr genügend abgrenzen. Sie formulieren einen Auftrag, der sie selbst nicht betrifft und nur als »Helfer« erscheinen lässt. Das benenne ich empathisch, verstehend, spiegelnd: »Es scheint, dass Sie selbst Mühe mit der schwierigen Situation haben, Ihre Tochter/Ihr Sohn selbst aber keine Hilfe von mir wünscht.« Ich biete in einem solchen Fall zwei Varianten an. Entweder sie wollen etwas für sich, unabhängig davon, was der Patient möchte oder sie setzen sich mit ihm zusammen und diskutieren die Option, dass alle gemeinsam zu maximal zwei unverbindlichen Gesprächen zu mir kommen, in welchen wir die Bedürfnisse der einzelnen Betroffenen klären und eventuell gemeinsam Vorschläge und Abmachungen zur Abgrenzung treffen. Ich selbst werde danach im Allgemeinen für keinen als Therapeut zur Verfügung stehen, helfe jedoch mit, geeignete Therapieplätze zu finden. Wenn der Patient sich selbst meldet, gibt es verschiedene Varianten der Inszenierung, die ich hier nicht alle diskutiere. Dabei spielt eine Rolle, wie krank der Betreffende ist, wie jung oder alt, wie viel Therapieabbrüche er schon hinter sich gebracht hat, wie viele Klinikaufenthalte stattgefunden haben, wie narzisstisch ver149
letzlich er ist, wie schwer die Selbstverletzungstendenz ist und vieles mehr. Bereits bei der telefonischen Anmeldung wird die Situation desjenigen oft eindrücklich klar. Allerdings muss man genau hinhören und nicht im Alltags-Stress schnell einen Termin vereinbaren und das Telefonat beenden wollen. Einige typische Beispiele klingen so: »Ich bin eine schwere und schwierige Bordelinepatientin und brauche dringend einen guten Therapeuten, der mir gewachsen ist.« oder: »Ich habe von Ihnen nur Gutes gehört. Ich bin verzweifelt und Sie müssen mir helfen. Sie sind der Einzige, der mir helfen kann, sonst muss ich mich umbringen.« oder ganz unspektakulär: »Ich habe ein Problem mit Frauen und bin sehr depressiv, ich habe seit längerem keine Arbeit mehr und brauche Unterstützung.« Weil es sich so variantenreich darstellt, ist eine gute und transparente Vorabklärung nötig. Ich betone bereits am Telefon, dass ein Termin für ein Vorgespräch keine Gewähr für eine folgende Therapie ist. Ich deklariere es als ein für beide unverbindliches Kennenlernen. Bei der Terminsuche beginnen oft schon die Probleme. Nichts, was ich anbiete, passt dem anderen. Das gehört zur Ambivalenz und Angst des Gegenübers. Es kann schon da leicht zu einer sadomasochistisch gefärbten Dynamik ausarten. Ich erkläre deshalb ruhig und neutral, dass dies meine Möglichkeiten sind und er sich die Termine nochmals in Ruhe durch den Kopf gehen lassen kann und sich melden soll, wenn er einen Termin wahrzunehmen wünscht. Allerdings könne es natürlich auch sein, dass dieser bis dann schon anderweitig vergeben sei. Ich lasse mich sogar darauf ein, einen der Termine zeitlich beschränkt zu reservieren. Bevor es zum Vorgespräch kommt, kann es ein Vorgeplänkel geben, bei welchem der Patient absagt, zusagt oder verschieben will. Das ist typisch für die Borderline-Dynamik. Ausnahme ist, wenn es wirklich »brennt«. Aber auch dann gilt es aufzupassen: Ein Vorgespräch ist keine Therapie! Ich bespreche nichts Akutes in der vereinbarten Zeit des Vorgespräches und verweise auf andere Zuständigkeiten. Wenn ich es am Telefon bereits heraushöre, spreche ich es offen aus und sage: »Falls Sie zurzeit akut Hilfe benötigen, kann ich es Ihnen nicht anbieten. Mein Angebot ist vorerst ein unverbindliches Gespräch zur Vorabklärung 150
einer eventuellen späteren Behandlung.« Auch da inszeniert sich zu Beginn häufig ein Drama. Der Patient kommt zu mir, ist in schwerer Not und sagt, ich könne ihn so doch nicht unbehandelt und damit allein lassen. Darauf reagiere ich einfühlsam und mit Verständnis, aber meine Grenzen signalisierend. Ich könne ihn wohl in eine Klinik einweisen und würde dies als Notfall anerkennen, was allerdings eine Behandlung später bei mir ausschließen würde. Ich würde im Einweisungsschreiben deutlich darlegen, dass er nicht mein Patient sei und auch nicht zu mir in Nachbehandlung kommen könne. Dies mache ich dem Patienten klar und trenne so die Aufträge. Ich musste aus einer solchen Situation heraus noch nie jemanden einweisen. Wenn auf diese Weise Klarheit geschaffen wird und der Patient dabei sein Gesicht nicht verliert, wirkt dieses Vorgehen angstsenkend und hilft ihm, seine Ambivalenz zu klären und sich für das Vorgespräch anstatt für die Einweisung zu entscheiden. Eine weitere Schwierigkeit kann sein, wenn der Patient zu spät zum Vorgespräch erscheint, obschon ich den Weg in die Praxis und die dafür benötigte Zeit mit ihm besprochen hatte. Ein paar wenige Minuten zu spät, welche den Ablauf nicht gefährden, kommentiere ich feststellend mit der Nachfrage, ob er Probleme hatte, die Praxis zu finden. Dies ist selten der Fall. Meist folgt eine andere Begründung. Doch zeigt es dem Gegenüber, dass sein Zuspät-Kommen von mir nicht unbeachtet bleibt, sondern gesehen und benannt wird. Wichtig dabei ist, sich nicht verärgert in eine Position zu begeben, die der Patient nutzen kann, um sich gegen mich zu wenden und mich als eine Person wahrzunehmen, die Macht gegen ihn ausübt. Die gleiche Tatsache wird in der Therapie anders angegangen. Im Vorgespräch weise ich lediglich auf die knappe Zeit hin, die uns bleibt und beginne das übliche Procedere. Wenn der Patient hingegen sehr viel später erscheint und sich auf dem Weg nicht gemeldet hat, frage ich neutral nach und weise ohne jeden Ärger, egal wie entwertend für mich die Begründung für das Zu-spät-Kommen ausfällt, auf die Unmöglichkeit hin, das Vorgespräch in der verbleibenden Zeit durchzuführen. Die Zeit reiche nicht aus, um mir seine Problem ausführlich darzulegen und von meiner Seite in Ruhe und überlegt darauf ein151
zugehen. Ich betone, dass ich die abgemachte Zeit von fünfzig Minuten nicht überziehen werde, da sonst der nächste Patient darunter leide. Ich frage nach, wie er sich die Lösung unseres Problems vorstelle. Während ich die Finanzierungsfrage bei Zu-spät-Kommen oder ausgefallenen Stunden im Vertrag regle, besteht zu diesem Zeitpunkt noch kein Vertrag. Ich vereinbare lediglich einen neuen Termin, wenn dies gewünscht wird und weise darauf hin, dass ich einen Ausfall erleiden würde, wenn es sich wiederholt und daher einen Ausfall in Rechnung stellen müsse, was von der Krankenkasse nicht rückerstattet werde. Ich erkläre diesbezüglich, dass es unter anderem darum geht, dass wir beide darauf achten müssen, uns mit ausgeglichenen Gefühlen begegnen zu können. Wenn ich dasitze und auf ihn warte und er unentschuldigt nicht erscheine, so sei es doch verständlich, dass ich mir Sorgen machen würde. Es könne auch Ärger darüber entstehen. Ich bitte den Patienten dafür zu sorgen, dass er pünktlich zum nächsten Termin erscheint. Wiederholt sich die Geschichte, was ich äußerst selten erlebe – meist erfolgt die Wiederholung in der Anfangsphase der Therapie –, beende ich diese mit den neutral ausgedrückten, aber deutenden Worten, dass die Ambivalenz offenbar zu groß und es klüger sei, sich mehr Zeit zu geben, um nochmals über den Therapiewunsch nachzudenken. Natürlich steht dem Betreffenden meine Tür weiterhin offen, allerdings ohne jede Zusage für eine Therapie. Wenn es zum eigentlichen Vorgespräch kommt, welches üblicherweise fünfzig Minuten dauert, was ich dem Patienten schon am Telefon mitteile und zu Beginn wiederhole, leite ich das Gespräch direktiv, aber zugewandt, wohlwollend und höflich. Über die Jahre hat sich ein vorgegebenes Procedere durchgesetzt und bewährt. Der korrekte Umgang mit Zeit als Grenze ist schon im Vorgespräch sehr wichtig. Weder der Therapeut noch der Patient sollten das Gespräch verlängern und damit manipulieren können. Der Therapeut darf die Zeit nicht aus den Augen verlieren! Ich begrüße den Patienten und erkundige mich, ob er meine Praxis leicht gefunden habe und wiederhole kurz, was ich von ihm bereits am Telefon erfahren und was wir vereinbart haben (5 Mi152
nuten). Ich bitte ihn, in ungefähr zehn Minuten sein Anliegen zu formulieren, für mich räume ich dafür innerlich 15 Minuten ein. Anschließend stelle ich klärende Fragen (15 Minuten). Gegen Ende haben wir genügend Zeit, ein mögliches Angebot von mir grundsätzlich, aber nicht im Detail, zu diskutieren (10 Minuten). Abschließend klären wir das weitere Procedere (5 Minuten). Früher plante ich immer neunzig Minuten für ein Erstgespräch ein, da genügend Zeit vorhanden sein muss, um nicht unter Druck zu geraten und unbedachte Fehler zu machen. Wenn schon der Erstkontakt am Telefon sich als ungewöhnlich schwierig erweist, plane ich heute noch 75 bis 90 Minuten ein, was nicht selten vorkommt. Die Abklärung durch das Vorgespräch verschafft mir Aufschluss über das deklarierte Problem des Patienten und gleichzeitig einen ersten Eindruck. Üblicherweise stelle ich fest, dass wir mehr Zeit benötigen, den Patienten in seiner Geschichte zu erfahren, um besser zu verstehen, wie es zum eigentlichen Problem und Anlass dieser Sitzung gekommen ist. Ich schlage fünf weitere Gespräche vor, welche der Anamnesenerhebung und der Vereinbarung eines Therapie-Vertrags vorbehalten sind, falls er nach einer Bedenkzeit und/oder weiteren Abklärungsterminen bei Kolleginnen oder Kollegen überhaupt für sich in Betracht ziehen kann, zu mir in Therapie zu kommen. Wir vereinbaren einen verbindlichen Telefontermin, in welchem er mir seine Entscheidung mitteilen soll. Diese zweite Phase dient der erweiterten Abklärung. In Krisen stehe ich noch nicht zur Verfügung und weise deutlich darauf hin. Wir überlegen gemeinsam, wer in dieser Zeit zuständig sein könnte. Oftmals ist es der Hausarzt. Dies gibt dem Gegenüber mittelfristig mehr Sicherheit, auch wenn es ihn zu Beginn erst einmal in Angst vor der Einschränkung seines Agierpotenzials versetzt. Das benenne ich zum Beispiel so: »Ich weiß, dass dies ein großer und nicht leichter Schritt für Sie ist, sich so verbindlich einzulassen, auch wenn sich in dieser Zeit Angst bei Ihnen einstellt oder Sie in eine Krise geraten und hier nur wenig Bewegungsspielraum haben. Je sicherer der Rahmen ist, den wir gemeinsam definieren, desto mehr Bewegungsfreiheit ergibt sich später für den Innenraum der Behandlung. Wir können mutiger 153
miteinander umgehen. Bisher konnten Sie sich freier bewegen, was kurzfristig Erleichterung brachte oder haben Therapien abgebrochen, aber es hat offensichtlich nicht zur anhaltenden Besserung Ihrer Störung geführt.« Es macht Sinn, diese Phase auf drei bis vier Wochen zu beschränken. Danach werten wir in einem Standortgespräch den bisherigen Verlauf aus, einigen uns verbindlich auf eine Behandlung im Rahmen des ausgehandelten Vertrages und beginnen mit der eigentlichen Therapie. Wie sieht so ein Vertrag aus? Ich verstehe darunter nicht ein juristisch einwandfreies Konstrukt, dessen Inhalt auf Biegen und Brechen buchstabengetreu eingehalten wird. Es gibt kein unterschriebenes Dokument. Was gilt, sind die miteinander mündlich erarbeiteten und vereinbarten Bedingungen zum Schutz der Therapie und des Therapieraumes. Es geht dabei um das Ansprechen und Vermeiden von therapiestörenden oder gar gefährdenden Möglichkeiten, sowie um den Umgang damit, wenn sie eintreten. Wenn wir uns einig sind, fasse ich mündlich die Vereinbarung nochmals zusammen und erstelle für die Krankengeschichte eine schriftliche Zusammenfassung. Der Patient liest diese vor dem Therapiebeginn durch und wir bringen gemeinsam letzte Korrekturen an. Tritt im Verlaufe der Behandlung Uneinigkeit über Grundsätzliches auf, können wir darauf zurückgreifen. Der Vertrag soll ein stabiles Basisgerüst bilden und gleichzeitig ein Arbeitswerkzeug sein. Das Abstecken von Grenzen und agierendes Ausprobieren im Rahmen des Widerstands gegen die Therapie füllen erfahrungsgemäß die ersten Stunden. Settingfragen sind häufig das wichtigste Thema. Zum Setting gehört vorab die Klärung, wie oft und wann eine Therapiestunde stattfindet, wie lange eine Sitzung dauert (üblicherweise 50 Minuten, ein bis drei Mal die Woche), ob sie im Liegen oder Sitzen stattfindet (je nach Indikation), wie die Behandlung finanziert wird und wie mit Ausfällen beiderseits fair umgegangen wird. Zudem beinhaltet der Vertrag eine Ehrlichkeitsformulierung und die diesbezügliche Verbindlichkeit für beide Seiten. Sie beinhaltet zum Beispiel, alles ohne Verzug zu benennen und kein Versteckspiel zu spielen, falls Vertragsbrüche stattgefunden haben. Eine Prioritäten154
liste der Themen, die in der Therapiestunde vorrangig angegangen und behandelt werden müssen, gehört ebenso in den Vertrag. Lebensgefährdende und selbstverletzende Impulse und Verhaltensweisen, sowohl den Patienten wie andere Personen betreffend, sowie anderes therapiegefährdendes Denken oder Handeln haben erste Priorität. Es macht keinen Sinn, über Träume zu reden oder Beziehungsfragen anzugehen, wenn eine Gefährdung im Raum steht. Konkrete Settingverletzungen zähle ich dazu. Das heißt, dass mehrmaliges Zu-spät-Kommen hintereinander und Verspätungen von mehr als fünf Minuten (sowohl von Patient wie Therapeut, versteht sich) nicht autoritär, aber doch konfrontativ besprochen und geregelt werden müssen. Wie man dies therapeutisch tut, ohne in die Täter-Falle zu geraten, stelle ich später dar. Zu Beginn der Stunde frage ich jedes Mal, ob es ein prioritäres Thema zu besprechen gibt. Wenn dies offensichtlich der Fall ist, weil ich bereits vorgängig etwas erfahren habe, spreche ich es meinerseits als Erstes an und warte nicht ab, ob es vom Patienten selber thematisiert wird. Würde ich dies nicht sofort tun und er versuchte, es vor mir zu verheimlichen, würde ich ihn damit entlarven, beschämen und kränken. Dies würde die Partnerschaft empfindlich ins Ungleichgewicht bringen und der Therapie mittelfristig schaden. Die Möglichkeit unverhofft eintretender Absenzen des Therapeuten, welche durch Notfälle anderer Patienten bedingt sind, müssen frühzeitig vorbesprochen und geklärt sein. Ich setze mich, wenn dieser Fall eintritt, mit dem Patienten so bald wie möglich in Verbindung, entschuldige mich und biete, so weit verfügbar, Ersatztermine an. Im Vertrag wird zudem festgehalten, wie beide Seiten mit dem vorzeitigen Wunsch, die Therapie zu beenden, umgehen und wie ein Abbruch gehandhabt wird, damit die Tür sich nicht für immer verschließt. Damit eine vorzeitig abgebrochene Therapie eventuell wieder aufgenommen werden kann, müssen die Voraussetzungen und Bedingungen vorab benannt werden. Ich finde es sehr wichtig, diese Option zu erwähnen, weil es die Verletzlichkeit der Therapie und der Beteiligten hervorhebt und sie auffordert, vorsichtig miteinander umzuge155
hen. Noch ein Wort zu einem seltenen aber wichtigen Spezialfall, den sowohl der Therapeut wie der Patient gern ausklammert und den es schon deshalb zu erwähnen gilt: Ein vorzeitiges Ende der Behandlung kann ungewollt eintreten, auch wenn die Therapie gut verläuft. Es sind unerwartete Geschehnisse wie die schwere Erkrankung oder der Unfall des Patienten oder Therapeuten. Darüber spreche ich schon zu Beginn offen. Es scheint mir sehr wichtig, dass der Patient früh erfährt, wie weit die Verlässlichkeit des Therapeuten reicht. Es kann vorkommen, dass der Patient für längere Zeit das Bett hüten muss, hospitalisiert ist oder vielleicht aus eigenen Kräften nicht in die Praxis kommen kann. Die Grenze des Therapeuten, die individuell sehr verschieden sein kann, wird aufgezeigt und kann helfen, Verletzungen in einer dann ohnehin schwierigen Phase der Therapie zu vermeiden. Es tut weh, diese Grenze real erfahren zu müssen, ist aber weniger schmerzhaft, wenn dem Patienten schon vorher bewusst war, dass eine solche Situation eintreffen könnte. Das Ansprechen, dass es ein Ende gibt, hilft beiden, nicht unreflektiert in eine Open-end-Dynamik zu geraten. Es folgen nun einzelne, zum Teil heute kontrovers diskutierte Setting-Aspekte, welche ich aus meiner Sicht darstelle. Grenzverletzungen allgemein: In diesem Zusammenhang erwähne ich Benedetti, der in seinem Aufsatz »Psychopathologie und Psychotherapie der Grenzpsychosen« auf wichtige Aspekte des speziell zu erwähnenden Widerstandes bei Grenzpsychotikern eingeht, was für Patienten mit einer Borderline-PersönlichkeitsOrganisation grundsätzlich zutrifft. Er erwähnt, dass weniger die Angst vor Ablehnung, Kritik und Liebesentzug den Widerstand bestimmen, wie dies beim Neurotiker der Fall ist, sondern vielmehr die Gefahr einer totalen Kommunikationsstörung und die eines Identitätszerfalls. Das betrifft den dualen Raum wesentlich. Er beschreibt sieben Merkmale, auf die ich hier nicht weiter eingehe, sondern lediglich auf den letzten Punkt hinweise (vgl. Abbildung 12). Benedetti hat schon früh erkannt, dass die hohe Therapie-Abbruchrate in der Behandlung von Borderline-Patienten eine wesentliche Gefahr ist. Das findet sich in vielen Publikationen der letzten Jahre bestätigt. Er schreibt: »[Es besteht eine] Tendenz, 156
Abbildung 12: Merkmale des Widerstands (aus Benedetti 1975, S. 139)
Bemerkungen des Therapeuten, die eine inadäquate Haltung in Frage stellen möchten, sofort als schwere Kritik und totale Infragestellung der eigenen Person zu hören [. . .] Dementsprechend werden vom Kranken wiederholt Versuche unternommen, die Behandlung abzubrechen, wobei keine klaren Motive für den Entschluss gegeben werden« (1975, S. 139). Benedetti weist auf den speziellen und anderen Widerstand, den Kontaktwiderstand hin, den wir bei neurotischen Patienten nicht finden. Dazu schreibt er: »Der neurotische Patient ist grundsätzlich mit dem Kontakt, mit der Beziehung zu seinem Psychotherapeuten einverstanden [. . .] Der Widerstand des neurotischen Patienten beginnt dort, wo der Therapeut ihn mit Situationen, Zusammenhängen, Einstellungen, Problemen, Konflikten, Affekten konfrontiert, die ihn belasten und denen er sich dann eben in einem Widerstand verschließen 157
möchte. Der Widerstand des neurotischen Patienten ist in allererster Linie ein Inhaltswiderstand [. . .] bei ihnen [damit meint er grenzpsychotische Menschen] ist aber noch eine zweite Form von Widerstand vorhanden, die meistens dem Inhaltswiderstand vorausgeht: das ist der Kontaktwiderstand, also die Angst davor, mit einem fremden Menschen, dem Therapeuten, in einen seelischen Kontakt zu treten, ihm eine Seite seines Selbst anzuvertrauen« (S. 145). Grenzverletzungen gehören zum umfangreichen Arsenal der unbewussten Abwehrstrategien, die für den Borderline-Patienten meist schnell, aber nur für kurze Zeit zu Spannungsabbau führen. Diese basieren häufig auf dem Kontaktwiderstand und sind Zeichen und Ausdruck einer tiefen inneren, meist unbewussten Konflikthaftigkeit. Es gilt, dies hinter der oft arroganten Fassade zu erkennen. Sie sind kein Beweis von bewusstem Agieren, auch wenn es den Anschein haben kann. Unsere Gegenübertragungsgefühle können sich in die falsche Richtung verirren. Wenn wir dies nicht bemerken, gefährdet es unser therapeutisches Vorgehen und wir agieren aus unseren negativen Gefühlen heraus. Die Interventionen beim Kontaktwiderstand unterscheiden sich wesentlich von den spiegelnden und deutenden Interventionen beim Inhaltswiderstand des Neurotikers. Deshalb gehe ich bei negativen (wie positiven) Gefühlen mit einem inneren Stopp vor. Ich gebe mir Zeit, um zu verstehen und aus dem Verstehen zu arbeiten, ohne die Emotionalität auszuklammern. Ich sage zum Beispiel nach einer verbal verletzenden Attacke des Patienten: »Das macht mich im Moment sprachlos. Ich brauche einen Augenblick, um nachzudenken, um es für mich einzuordnen. Ich will versuchen zu verstehen, was Sie so angriffig macht. Ich bin bereit, mich auch selbstkritisch zu hinterfragen, dafür muss ich aber zuerst die notwendige innere Ruhe finden.« Meist beruhigt sich die Situation. Der Patient hat den »Erfolg« errungen, mich sprachlos zu machen und zu erleben. Es gibt mir die Möglichkeit, sogar wenn die Attacke nach meiner Intervention fortgeführt wird, eine Grenze zu setzen, die nicht unreflektiert bleibt und in den meisten Fällen die Fortsetzung der Therapie doch noch ermöglicht. Einen solchen Stopp drücke ich zum Beispiel so aus: 158
»Auch wenn Sie im Moment sehr aufgeregt sind oder ich Sie aufgeregt habe, sind wir doch Partner und ich möchte, dass es so bleibt. Sie hoffentlich auch.« Bringt auch das nichts, schlage ich vor, für den Moment das Thema so zu belassen und zu einem anderen überzugehen, in zehn Minuten nochmals darauf zurückzukommen oder, wenn auch das nicht möglich ist, die Stunde vorzeitig zu beenden (was eine Settingverletzung ist) und beim nächsten Mal darüber zu reden. Ich argumentiere in diesem Fall so: »Mir erscheint es für uns beide besser, hier einen vorläufigen Schlussstrich zu ziehen. Lieber diese Stunde früher beenden, als die Therapie gefährden. Reden wir nächstes Mal darüber.« Wenn die Grenze des dualen Raums verletzt wird, ist das ein Notfall, wie ein Leck auf einem Schiff. Es muss verhindert werden, dass es sich vergrößert und muss zuerst geflickt werden, bevor man die eigentliche Fahrt fortsetzen kann. Eine Settingverletzung kann eventuell nur mit einer Settingverletzung kompensiert und die Therapie geschützt werden. Darüber im Nachhinein zu reflektieren und sich die Gefahr bewusst zu machen, ist wesentlich für das Vermeiden von weiteren solchen Situationen. Zu-spät-Kommen in der Therapie: Kommt ein Patient zu spät, gehe ich davon aus, dass er gute Gründe dafür hat, seien es äußere und/oder innere. Ich erkundige mich sachlich, aber ihm zugewandt, interessiert und ohne Vorwurf nach dem Grund: »Hatten sie heute Probleme, hierher zu kommen, dass sie sich so verspätet haben?« Ich kommentiere den Grund neutral und weise auf meine Situation während des Wartens hin. War es Sorge, so benenne ich dies, war es Ungeduld und Ärger, so sage ich vielleicht: »Ich verstehe nicht recht, was dies in und für unserer Beziehung bedeutet.« Das wird häufig vom Tisch gefegt, etwa: »Das hat gar nichts zu bedeuten.« oder »Sie machen ein Riesentheater, wenn ich mich mal verspäte . . .« und ich gehe so darauf ein: »Es geht für uns kostbare Therapiezeit verloren und dies meine ich nicht in erster Linie finanziell. Wenn für uns die Therapie wichtig ist, wovon ich ausgehe, müssen wir uns darüber unterhalten, was der Grund für Ihre doch wesentliche Verspätung ist. Sind es ›nur‹ schicksalhafte Umstände, so kann es einmal vorkommen, ist es 159
aber zum Beispiel Ausdruck Ihres Ärger auf mich, Ausdruck sonstiger Enttäuschung oder ein negatives Gefühl, welches Sie zu spät kommen lässt, so müssen wir es sehr wohl benennen, verstehen und bereden, um die Wiederholung zu verhindern. Zudem macht Ihr Zu-spät-Kommen auch etwas mit mir, Ihrem Therapiepartner. Auch das möchte ich klären, um in einer ausgewogenen Stimmung die Therapie mit Ihnen fortsetzen zu können.« Auf diese Weise gebe ich auch mir einen Platz im Geschehen, nämlich den des Betroffenen. Tritt es gehäuft auf, muss ich innere Konflikte annehmen. Dann folgt eine klare Stellungnahme: »Wir müssen heute darüber reden, warum Sie in letzter Zeit regelmäßig zu spät kommen. Es geht mir dabei nicht darum, Sie zu maßregeln oder zu beschämen, sondern zu klären. Ich kann nicht weiter glauben, dass es nur Zufälle sind. Es steht etwas zwischen uns, das wir erkennen und beseitigen müssen. Sonst laufen wir Gefahr, dass die Fortsetzung unserer Arbeit gefährdet wird.« Was das Regeln des finanziellen Aspektes der ausgefallenen Zeit betrifft, ist es wichtig, sehr vorsichtig damit umzugehen. Es scheint mir nicht sinnvoll, den Ärger über den Patienten sofort damit abzudämpfen, dass ich auf der Bezahlung der ausgefallenen Stunde bestehe. Ein mögliches Gefühl des Patienten, dass der Therapeut sich damit rächt, Macht ausübt und am längeren Hebel sitzt, wäre sehr wahrscheinlich. Ich ziehe es vor, als höchste Priorität den Grund gemeinsam zu eruieren und zu bewerten. Erst dann benenne ich den Schaden, der auf beiden Seiten entstanden ist, den materiellen Aspekt einbeziehend. War es Agieren aus unreflektierter Wut oder einfaches Vergessen, schlage ich vor, dass der Patient den Schaden zu einem Tarif entschädigt, welcher seinem Stundenverdienst entspricht. Es würdigt seine Verhältnisse und ist eine Geste der Wertschätzung. Es ist oft absurd oder unverhältnismäßig, den üblichen Betrag zu verlangen. Bei Wiederholung geht es ohnehin nicht mehr ums Geld, sondern um den Widerstand und die Frage, ob die Therapie weitergeführt werden kann. Das habe ich äußerst selten erlebt. Wird der tiefere Grund verständlich, schlage ich vor, den Schaden, der mir durch das Nichterscheinen entstanden ist, partnerschaftlich zu teilen. Er bezahlt die Hälfte des Betrages oder die Hälfte seines Stunden160
einkommens. Zeigt es sich jedoch, dass es ein Notfall war, auch ein innerpsychischer, verlange ich keine Vergütung. Ich betrachte und deklariere es als höhere Gewalt. In jedem Fall erwähne ich, dass er mir dafür keinen Dank schuldet. Dies sei unsere gemeinsame Lösung. Auch sein Schaden, die Stunde unwiederbringlich verpasst zu haben, müsse gewürdigt werden. Ich wurde übrigens noch nie ausgenutzt. Eher ist es so, dass die Patienten nach der Besprechung über die erarbeitete Lösung erleichtert sind. Es wirkt sich sehr gut auf die Therapie aus und öffnet in der Regel, was die Überwindung des Kontaktwiderstandes betrifft, Türen und Tore – soviel zu diesem heiklen Thema. Liegen oder Sitzen: Entgegen der heute weit verbreiteten Überzeugung, dass Borderline-Patienten nicht liegend behandelt werden sollten, schließe ich mich eher Benedetti an, der sich in seinem bereits zitierten Aufsatz »Psychopathologie und Psychotherapie der Grenzpsychosen« mit dem Thema beschäftigte: »Die allgemein anerkannte Technik in der Behandlung der Neurosen [er meint damit im Rahmen der Psychoanalyse] lässt den Patienten auf der Couch liegen. Schizophrene Patienten lässt man dagegen sitzen [. . .] Und die Grenzpsychose? Sie liegt zwischendrin [. . .] man unterscheidet von Fall zu Fall und man verzichtet auf eine strenge Regel. Nicht etwa dass der Therapeut hier unsicher wird und dass die Entscheidung ganz dem Patienten überlassen wird! Der Therapeut entscheidet sicher mit. Aber er soll sich bei der Grenzpsychose weniger von festen Regeln als von seiner eigenen Flexibilität leiten lassen und seine Entscheidung zusammen mit dem Patienten in Anbetracht verschiedener Faktoren treffen« (S. 146). Ich habe über Jahre diese Option sehr sorgfältig unter Supervision geprüft und genau analysiert. Die Möglichkeit der Behandlung im Liegen ist eine wichtige Erweiterung geworden, allerdings nur unter bestimmten Rahmenbedingungen. Grundsätzlich gilt es, die Wirkungen, welche das Liegen bei der Psychoanalyse von neurotischen Menschen hat, zu begreifen. Zusätzlich müssen die spezifischen Wirkungen bei Borderline-Patienten berücksichtigt werden. Neben der bekannten Regressionsförderung muss die 161
Auswirkung auf das Angstgefühl beim Patienten sehr genau beachtet werden. Liegen kann grundsätzlich Angstgefühle auslösen und verstärken, aber auch senken. Interessanterweise spielt in beiden Fällen der gleiche Grund eine wesentliche Rolle: Der direkte Blickkontakt ist unterbunden. Es kann den Zwang, alles, auch den Therapeuten, kontrollieren zu müssen, senken und damit Erleichterung schaffen. Im Gegenteil kann sich der Kontrollzwang gerade durch das Wegfallen der optischen Komponente ungebremst verstärken. Es kann sogar in kurzer Zeit fluktuierend hin und her pendeln. Schambesetzte Aspekte können im Liegen entweder leichter benannt werden oder es wird für den Patienten dadurch viel schwieriger oder gar unmöglich. Deshalb benötigt der Therapeut selbst eine hohe Flexibilität im Umgang und ein sehr feinfühliges Sensorium für den Patienten, wie es ihm in jedem Moment geht, um darauf rechtzeitig adäquat reagieren zu können. Ich kann hier nicht alle Möglichkeiten abhandeln, aber einige Aspekte herausgreifen. Es darf dabei nie vergessen werden, dass es in erster Linie um die Grundhaltung und nicht um Handlungsanweisungen geht. Grundsätzlich reagierten in meinen Behandlungen erwartungsgemäß neurosennahe Borderline-Patienten weniger problematisch auf den Settingwechsel als psychosenahe Borderline-Patienten. Liegen macht vorherrschend Angst, wenn der Analytiker oder Therapeut im Hintergrund als mächtige, drohende oder bedrohliche Gefahr verkannt wird. Eine häufige Phantasie ist, dass dieser jederzeit aufstehen und den Patienten bedrohen oder angreifen könnte. Die Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins, die Unausgeglichenheit, die Abgabe der Sichtkontrolle und vieles mehr spielen bei der manchmal blitzschnellen Angstentwicklung eine wesentlich größere Rolle als beim Neurotiker. Bei diesem hält sich die Angstentwicklung dank gut funktionierender Abwehr auf hohem Niveau in Grenzen. Er kann damit anders und besser umgehen. Für psychosenahe Borderline-Patienten ist es unter anderem auch deshalb wichtig, dass der Fluchtweg zur Tür hindernisfrei offen steht. Der Abstand zwischen dem liegenden Patienten und dem hinter ihm sitzenden Analytiker/Therapeuten sollte größer 162
sein als üblich. Mich trennt zusätzlich ein niedriges Pult von der Couch, auf welchem viele Dinge vorhanden sind, welche das Gefühl des großen Abstandes unterstützen. Die Couch ist im Kopfteil zudem leicht angehoben. Der angehobene Kopfteil gibt dem Patienten ein größeres Sicherheitsgefühl. Auch wenn umgekehrt der Patient das Sitzen nicht mehr aushält, weil Fehlinterpretationen der Mimik des Therapeuten oder auch grenzwahnhafte Verkennung beim Patienten ausgelöst werden und diese ihn sehr beanspruchen, gibt es keine Gewähr, dass es im Liegen besser gelingt. Es geht beim Settingwechsel zum Liegen letztendlich immer darum, die Angst zu senken, um die vertiefte Therapie zu ermöglichen und zu unterstützen. Deshalb gehört die geduldige und intensive Vorbereitung des Patienten auf das Liegen als Bedingung dazu. Der Settingwechsel vollzieht sich in einem langsamen, stufenweisen Übergang vom Sitzen zum Liegen. Mit dem darüber Reden und Erklären, wie man das Leiden des Patienten wahrgenommen hat, folgt in Form eines Angebotes das Benennen der Option zu liegen. Erst wenn der Patient alle seine ambivalenten Gefühle ausgesprochen hat, folgt ein dem Zustand des Patienten angepasstes und vorsichtiges Ausprobieren. Er wählt bei mir zuerst ein farbiges Tüchlein aus, welches später vor jeder Stunde für ihn am Kopfteil der Couch bereitgelegt wird. Es ist ihm zudem erlaubt, eigene Hilfsmittel, die das Liegen erleichtern oder erst ermöglichen, mitzubringen und bei mir allenfalls zwischen den Terminen zu deponieren (Decke, Kissen oder ein eigenes Tüchlein). Zudem wird vereinbart, dass sich der Patient notfalls, also wenn es für ihn wirklich nicht mehr auszuhalten ist, ohne Vorankündigung jederzeit umdrehen oder aufstehen und zum Stuhl zurückkehren darf. Er kann sogar die Therapiestunde verlassen. Damit verbunden ist die Bedingung, die folgende Therapiesitzung wahrzunehmen. Zudem vereinbaren wir, in der nächsten Therapiestunde oder sobald wie möglich das Vorgefallene im Rückblick zu besprechen und zu analysieren. Sowohl Patient als auch der Therapeut sprechen über ihre Wahrnehmungen und Gefühle der Situation der damaligen Therapiestunde mit dem Ziel, gemeinsam zu verstehen, was genau geschehen ist. Das ist deshalb wichtig, weil der Patient dadurch 163
als gleichberechtigter Partner behandelt wird und für ihn wichtige, therapeutisch notwendige Einblicke in die Gegenübertragungsgefühle des Therapeuten erhält. Dies kann ihm helfen, sich selbst im Spiegel des Therapeuten wiederzuerkennen. Wenn sich eine neue Krise in der Therapiestunde anbahnt, kann dieser Prozess jederzeit wiederholt werden. Die veränderte Wahrnehmung, die der Patient an sich über einen Zeitraum erlebt, hilft ihm, seine Entwicklung und Gesundung indirekt nachzuvollziehen und mitzuerleben. Dieses Vorgehen lehnt sich an Benedettis Behandlungstechnik bei schizophrenen Menschen an, die er so beschreibt: »Was ich meinen psychotischen Patienten in erster Linie deute, ist nicht ihre Psychopathologie, sondern meine Reaktion auf diese – also meine Gegenübertragung. Ich deute dem Patienten mich selber, damit er sich verstehen und am Ende auch selber deuten kann [. . .] Meine Definition der Psychosentherapie als Deutung der eigenen Gegenübertragung relativiert den Begriff der objektiven Psychopathologie« (1992, S. 62, S. 65). Selbstverständlich gehört eine wichtige Präzisierung zum Begriff Gegenübertragung dazu. Ich zitiere dazu erneut Benedetti: »Es gibt also beim Therapeuten eine ›Gegenübertragung‹, die nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart stammt. Im Grunde ist dann der Terminus ›Gegenübertragung‹ nicht mehr angebracht; er hat nur noch eine historische Bedeutung [. . .] Aber die umgekehrte Übertragung, die der Beziehung aus der Gegenwart auf die Erfahrung der Vergangenheit, ist das Anliegen besonders der Therapie der Psychosen« (S. 66). In der Behandlung von fluktuierenden Borderline-Patienten ist der Therapeut gefordert, zwischen verschiedenen Techniken pendeln zu können und stets reflektiert zu handeln. Medikation: Den kontinuierlichen Einsatz von Neuroleptika, Antidepressiva und Benzodiazepinen halte ich aus meiner Erfahrung heraus für wenig sinnvoll. Im Gegensatz dazu kann der punktuelle, gezielte Einsatz dieser Medikamente wichtig sein und die Psychotherapie unterstützen. Das gilt vor allem bei psychosenahen Borderline-Patienten. Medikamente werden manchmal vom Patienten gefordert oder erzwungen. Da gilt es abzuwägen, 164
ob der Patient wirklich in Not und behandlungsbedürftig ist oder ob der Patient gegen die Therapie und den Therapeuten agiert und diese indirekt entwertet und der Meinung ist, dass die Behandlung nichts taugt und daher Medikamente her müssen, um das Leben auszuhalten. Wenn das ohne Zweifel der Fall ist, gilt es die Entwertung auf eine den Patienten nicht beschämende und den Therapeuten nicht schwächende Art zu benennen. Dies könnte bei einem Patienten, den man gut kennt und mit dem man schon einiges erfolgreich zusammen durchgestanden hat, etwa so lauten: »Ich denke, dass Sie über den Weg der Medikamenteneinforderung eigentlich etwas anderes sagen wollen. Es kommt bei mir nicht als aus einer Not gesprochen an. Mehr erscheint es mir Ausdruck eines Ärgers zu sein, so wie damals (hinweisend auf eine ähnliche Episode, die seinerzeit geklärt wurde), nur dass ich nicht verstehe, um was es jetzt geht. Bitte klären Sie mich auf.« Wenn es die erste Konfrontation dieser Art ist, sollte vielleicht eher so vorgegangen werden: »Ich höre, dass Sie nach Medikamenten fragen oder besser gesagt mich auffordern, Ihnen solche zu verordnen. Ich verstehe aber nicht, um was es wirklich geht. In der Art, wie Sie es formulieren, sind zwischen uns die Rollen praktisch vertauscht. Sie fragen mich nicht als Ihren Arzt an oder wollen meine Meinung dazu erfahren, sondern geben mir eine Order und das macht mich stutzig. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie sich kundig gemacht haben und eine aktive Rolle in dieser Frage besetzen wollen. Grundsätzlich schätze ich das, aber wie Sie es in unsere Beziehung einbringen, spricht für eine tiefer sitzende Botschaft, die ich gern mit Ihnen herausfinden will. Natürlich werden wir medikamentöse Fragen gemeinsam angehen und diskutieren.« Wir neigen als Therapeuten, insbesondere als Ärzte manchmal dazu, in eine negative Gegenübertragungsfalle zu geraten, weil wir uns in jedem Fall durch ein solches Vorgehen von Seite des Patienten angegriffen fühlen können – speziell wenn der Patient das Produkt und die Dosierung, die wir ihm verordnen sollen, konkret benennt. Wir fühlen uns vielleicht zu seinem Handlanger degradiert und nicht mehr als therapeutischer Partner verstanden. Die verdeckte Botschaft könnte lauten: »Du siehst zu wenig oder du kannst zu wenig!« 165
Wenn er wirklich leidet und wir nehmen es nicht wahr, ist es eine wichtige, auch schambeladene Mitteilung, ja ein Eingeständnis, welches eventuell nur in dieser Art von ihm vorgetragen werden kann. Es einfach abzutun hieße, die dahinter stehende Not nicht zu sehen und sich selbst die eigenen Grenzen der Wahrnehmung bewusst oder unbewusst nicht einzugestehen, die vom Patienten damit aufgedeckt werden. Wenn wir ihm abweisend oder belehrend begegnen, wird er sich berechtigt in den Rückzug begeben und sich vielleicht nie mehr öffnen. Deshalb ist im Umgang mit Forderungen nach Medikamenten höchste Sorgfalt und Vorsicht geboten. Ich frage aus diesem Grund immer nach: »Ich scheine da etwas nicht zu sehen oder wahrzunehmen, was Sie betrifft. Können Sie mir genau erklären, was Sie auf die Idee gebracht, hat Medikamente einnehmen zu wollen?« Ich frage so lange nach, bis es für beide klar wird, um was genau es geht. Dazu gehört auch die Formulierung: »Ich habe mich gefragt, ob Sie sich hier so unverstanden fühlen könnten, dass Ihnen nur der Weg über Medikamente als gehbar erscheint, Ihr Leiden zu vermindern? Oder gibt es etwas, dass Sie sich nicht getrauen zu benennen oder dessen Sie sich schämen? Könnte das zutreffen?« Meine Erfahrung zeigt, dass genaues Nachfragen bei Ungewissheit oft bereits ausreicht, um den Weg psychotherapeutisch ohne Medikamente weiterzugehen. Dies zeigt sich sogar bei solchen Konfrontationen, in denen es wirklich um das Agieren gegen die Therapie geht. Manchmal ist es notwendig und hilfreich, eine Medikation über eine gewisse kurze Zeit einzusetzen. Oft stellt sich leider ein Widerstand ein, wenn es zur medikamentösen Behandlung kommt. Die Diskussion über Dosierung und Nebenwirkungen muss ernst genommen werden, kann vom Patienten jedoch in der Therapie vorgeschoben werden, um nicht über andere Themen sprechen zu müssen. Dann wird deutlich, dass Abwehr und Widerstand thematisiert werden müssen. Ich weise darauf hin, wie wichtig es ist, nichts pharmakologisch Relevantes zu übersehen. Benedetti führt in »Psychopathologie und Psychotherapie der Grenzpsychosen« wichtige Aspekte der Patienteninformation an: »Es soll erstens dem Patienten ausdrücklich und wiederholt gesagt werden, dass einige seiner Symptome – z. B. die 166
Angst, die Schlaflosigkeit usw. – unter der Einwirkung der Medikamente zwar abnehmen können, ohne dass jedoch die Persönlichkeitsstruktur sich weitgehend verändere. Der Patient soll sich also bewusst werden, dass die Abnahme der Symptome ihn von der Aufgabe, an sich selber zu arbeiten, nicht befreit, sondern vielmehr den Anfang einer solchen Arbeit erleichtern soll [. . .] Es ist wichtig zu sehen, welchen tiefen Kontakt die Patienten mit dem Therapeuten gewinnen können, wenn sie so aufgeklärt werden« (1975, S. 144). Benedetti weist auf die Falle hin, aus der Gegenübertragung heraus Medikamente zu verordnen und schreibt: »Es ist wichtig, dass der Therapeut beim Verordnen eines Medikamentes sich immer überlegt, ob diese Verordnung dem objektiven Zustand des Patienten entspricht oder unbewusst eine Gegenübertragungsantwort auf den Zustand des Patienten ist. Das Medikament soll nie Folge einer Gegenübertragungsangst sein« (S. 144). Ich ergänze dazu, dass die Verschreibung von Medikamenten keine unbewusste Machtausübung des Therapeuten sein und der Ruhe des Therapeuten vor dem ihn bedrängenden Patienten dienen sollte. Ein heutzutage heißes Eisen – das Splitting der Behandlung – hat Benedetti schon vor fast vierzig Jahren angesprochen, wenn er auf die Aspekte Psyche und Soma hinweist: »Es ist wünschenswert, dass die pharmakologische Behandlung und die Psychotherapie bei grenzpsychotischen Patienten in den Händen eines einzigen Arztes bleiben – damit der Patient sich selber nicht als Mittelpunkt der Spannung zwischen psychologisch denkenden und organisch denkenden Therapeuten erlebt [. . .] Vielmehr soll der Patient erleben, dass er sowohl als Körper wie auch als Psyche eine Einheit darstellt und als Einheit vom Therapeuten empfangen und behandelt wird« (S. 144). Bei diesen Hinweisen zum Thema pharmakologische Behandlung, die bei der Bildung und Aufrechterhaltung des dualen Raums eine wesentliche Rolle spielen können, belasse ich es. Spezielle Situationen bei äußerer und innerer Borderline-Psychose: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es vorkommen kann, dass der feste, sichernde Rahmen des dualen Raums plötzlich flexibel werden muss. 167
Einer Patientin, die ich zuerst im Sitzen und später im liegenden Setting und mit einer fest vereinbarten Sitzungsdauer von fünfzig Minuten behandelt hatte, entgleiste die Kontrolle über einen Teil von sich regelmäßig und dies bei kleinsten Anlässen. Sie fiel äußerlich manchmal ins Stuporöse, krümmte sich anfänglich auf dem Stuhl, aber später auch auf der Couch zusammen, was mich an die Stellung eines Embryos im Mutterleib erinnerte. Sie zitterte jeweils am ganzen Körper, gab manchmal unerkennbare Laute von sich, und es war ihr unmöglich, in Worten weiter zu sprechen. Zu Beginn, als sie in der Therapiestunde noch saß, erschien sie jeweils sehr dominant und stark und ich wusste noch nicht um ihre innere Borderline-Psychose. Ich glaubte damals, in einer solch schwierigen Situation das Setting der fünfzig Minuten nach Möglichkeit durchhalten zu müssen. Sie begab sich plötzlich in eindeutig suizidaler Absicht zu meinem Fenster und hielt im letzten Moment inne, bevor ich hätte gewaltsam einschreiten müssen. Die Stunde musste abgebrochen werden, da die Patientin sich nicht mehr fassen konnte. Es gelang ihr noch knapp zu formulieren, ich müsse keine Angst haben, sie würde sich nichts antun, aber sie müsse jetzt gehen. Kaum hatte sie die Schwelle des Therapieraumes überschritten, durchquerte sie das Wartezimmer und schien dabei bereits viel geordneter als noch Sekunden zuvor. Sie hatte mit ihrer Entscheidung Recht. In meiner Sorge schrieb ich ihr in der verbleibenden Zeit der Stunde einen kurzen Brief, in welchem ich darauf einging, dass die letzte Stunde offenbar sehr schwer und die Grenze des für sie Aushaltbaren überschritten gewesen sei. Ich wolle dies mit ihr zusammen besprechen, um solche Situationen zu verstehen und eventuell in Zukunft vermeiden zu können. Ich bestätigte die nächste Stunde und schrieb, dass ich sie erwarten würde. Ich beendete den Brief in Sorge um sie, aber mit Zuversicht, dass wir es schaffen werden.
Die Analyse dieser und weiterer ähnlicher Situationen mit ihr zeigten, dass es ganz im Gegenteil nicht darum ging, solche zu vermeiden, sondern dass es ein Gewinn für die Patientin war, sich endlich einmal in ihrer vollen Not und Schwäche darstellen zu können, ohne verlassen zu werden und sich endlich nicht mehr innerlich einsam erleben zu müssen. Den Brief trug sie, wie sie mir berichtete, einige Zeit mit sich herum, bevor sie ihn öffnen konnte, weil sie überzeugt war, ich würde darin die Therapie mit ihr aufkündigen. Entsprechend wichtig wurde dieses Schreiben für sie auch bei 168
späteren Krisen. Wir beschlossen, dass sie jeweils die Stunde vorzeitig verlassen kann, bevor es für sie zur Qual wird, dies aber verbalisiert und nicht einfach tut. Ich wusste mittlerweile um ihre innere Psychose und dass sie vorerst noch besser allein in solchen Situationen mit sich umgehen konnte als in der Dualität der Therapie. Sie wurde jeweils nach kürzester Zeit nach außen hin wieder alltagstauglich. Zuerst zog sie sich nach solchen Therapiestunden zurück. In dieser Zurückgezogenheit fand sie die notwendige Ruhe, das Geschehen der Therapiestunde, welches sie wegdriften ließ, in Gedanken vorsichtig bis zum Punkt des Beginns zurückzudrehen. Etwas später konnte das beobachtende Ich seine wichtige Funktion, nach außen zu funktionieren, wieder voll aufnehmen. Nach innen brauchte es hingegen manchmal Stunden oder auch Tage, bis sie sich wieder geordnet, defragmentiert hatte. Die üblichen protektiven und stabilisierenden Mechanismen waren überfordert worden, insbesondere später unter dem regressionsfördernden, aber sie zugleich schützenden Setting des Liegens. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, dass sich die innere an den Rand der äußeren Borderline-Psychose begibt und sich uns über die erwähnten Symptome zeigt. So erst kann sie von uns erkannt und behandelt werden. Die vereinbarte Setting-Unterbrechung war gekoppelt an die verbindliche Bedingung, sich inzwischen nichts anzutun, wiederzukommen und gemeinsam mit mir die asymmetrisch gespaltene Situation der letzten Stunde auf allen Ebenen zu analysieren und zu dualisieren. Asymmetrisch deshalb, weil ich als Therapeut sie die ganze Zeit wahrnahm, während sie sich im Prozess zusehends in sich zurückzog und den Kontakt nach außen weitgehend verlor. Beim Abschied war ich nur noch ein unspezifisches Objekt mit knapper und vager Ähnlichkeit zu Doktor Rom, aber ohne emotionalen Bezug. Es war der Rest des beobachtenden Ich, der noch zur Verfügung stand, um den Ausbruch einer äußeren Psychose zur vermeiden, ein Rest angepassten Verhaltens nach außen. Wegen der bestehenden »Terrasse mit Geländer« ist diese Form der Aufarbeitung in der folgenden Sitzung möglich, ohne dass der Patient gleich wieder in denselben Zustand zu verfallen droht. Es gehört eine hohe Sensibilität des Therapeuten dazu, diesen Weg gemeinsam und an den Patienten angepasst zu gehen. 169
Diese Technik kann wiederholt angewendet werden, man kann nach Jahren darauf zurückkommen und dieselben Situationen jeweils vertiefter gemeinsam verstehen. Die betreffende Patientin wählte übrigens schon bald nach dieser Episode das Liegen, weil es ihr zwar die Kontrolle über mich nahm, zugleich aber mehr Raum schuf, mit sich selbst und mir zusammen zu sein und das Psychotische überhaupt zuzulassen. Sie verließ die Therapiestunde noch einige Male nach schlimmen Zuständen, mit der Zeit jedoch mit weniger Schuld- und Versagensgefühlen. Sie erhielt jedes Mal einen Brief von mir und kam wieder. Oftmals sei der Brief die einzige Brücke zum Leben und zur Therapie geworden, wie sie mir versicherte. Nicht flexibel zu sein oder gar nach der Devise »Schwamm drüber« zu handeln, wäre fatal. Menschen, die so leiden, haben das Recht, dass wir uns dem stellen und sie begleiten. Diese Patientin hat sich im Laufe der Therapie aus dem sie einschließenden Kokon des versteckten Autismus befreien können. Sie musste nicht mehr davonlaufen, auch nicht regredieren und stuporös werden oder zittern. Ihre zusätzlichen psychosomatischen Beschwerden, welche im Leben behindernd waren und eine wichtige Rolle spielten, sind zudem fast alle verschwunden oder wesentlich milder geworden. Sie lebt heute ein gesundes und zufriedenes Leben, entdeckt ständig für sie jahrzehntelang verborgene Aspekte des Lebens und genießt es manchmal wie ein kleines Kind, Neues zu entdecken. Benedetti schreibt in »Todeslandschaften der Seele« zu dem Aspekt der Fragmentierungsphänomene Folgendes, was zum Verständnis des Fallbeispieles wichtig ist: »Nun lassen sich aber zwischen einem Neurotiker und einem schizophren Erkrankten drei grundlegende Unterschiede feststellen (ich erwähne hier zwei davon): a) Da ist einmal in der Neurose die feststehende ›Aussichtsterrasse‹ von der aus der Patient sich selbst beobachten kann [. . .] Dem Schizophrenen fehlt indessen das Geländer: Wenn er sich zu beschreiben versucht, findet er nirgends Halt, nirgends einen Anhaltspunkt, er fällt ins Leere. b) Bei der Neurose melden sich die Fragmentierungsphänomene höchstens während der psychoanalytischen Sitzung. Kaum überschreitet der Patient die Schwelle des Therapiezimmers, 170
um sich wieder der Außenwelt zuzuwenden, finden die einzelnen ›Teile‹ in ihm wieder zusammen. Beim Psychotiker halten die Phänomene auch nach der Sitzung in unverminderter Stärke an« (S. 168). Bei borderlinekranken Patienten bewegen wir uns in einem Zwischenfeld der Phänomene, die von Benedetti für die Neurose und Psychose beschrieben werden, was am Fallbeispiel eindrücklich deutlich wird. Bei der Borderline-Persönlichkeits-Organisation mit innerer oder äußerer Psychose kommt es nicht in dem Ausmaß wie beim schizophrenen Menschen zu einem Fall ins Leere oder zur Fortsetzung der Fragmentation auch nach der Therapiestunde, sondern es ist, wie das Ellipsenmodell es zeigt, wohl ein Geländer vorhanden, das sich jedoch verschieben kann und nicht fest bleibt. So ist mit dem Überschreiten der Grenze zum Therapieraum das Ich nicht immer wieder zusammengesetzt wie beim Neurotiker, der in der Analysenstunde kurz destabilisiert wird. Der Zerfall geht nicht ungehindert und zeitlich unbegrenzt weiter, wie wir dies beim schizophrenen Menschen antreffen. Die Dimension der Destabilisierung erreicht nie oder höchst selten das Ausmaß, welches wir sogar bei schizophrenen Menschen mit hohem Abwehrpotenzial finden. Das Ich stabilisiert sich hier mit der Zeit, wenn der Patient die Kontrolle über sich in allen IchTeilen wiedererlangt hat, was grundsätzlich ohne äußere Intervention erreicht wird. Man kann es im Modell so ausdrücken: Stabilität tritt dann wieder ein, wenn die Brennpunkte der Ellipse wieder einigermaßen stabil zueinander stehen und die Fluktuation weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Es entsteht zwar subjektiv das Gefühl des freien Falls, allerdings ohne dass dieser stattfindet. Es ist in milden Fällen vergleichbar mit uns, wenn wir in einem IMAXKino einen Film wählen, den wir zusätzlich mit einer 3-D-Brille ausgerüstet ansehen und das Gefühl haben, mitten im Geschehen zu sein, obschon wir sicher im Stuhl sitzen. In schweren Fällen ist es eher vergleichbar mit Bungeejumping aus sehr großer Höhe. Der Unterschied ist, dass wir diese Situationen bewusst wählen, darauf vorbereitet sind und wissen, dass der Film respektive der 171
(fast) freie Fall nach einer gewissen Zeit vorüber ist. Wir können damit »neurotisch« umgehen. Ganz im Gegensatz dazu treten psychosennahe Zustände ohne Vorankündigung und ungewollt auf, darüber hinaus können sich Borderline-Patienten mit und in diesen Phänomenen nur schwer einordnen. Bei Episoden, in denen sich die innere der äußeren Borderline-Psychose gefährlich nähert, was im Alltag nur selten geschieht, aber in und durch die analytische Therapie evoziert werden kann, setzt die Therapie an. Das Dualisieren in der Sitzung danach senkt den Leidensdruck des Patienten merklich. Das gemeinsame Besprechen und Betrachten der Geschehnisse in der Episode führt dazu, dass ein gemeinsames Erleben zukünftiger Episoden möglich wird – wenn auch aus verschiedenen Positionen, aber doch vernetzt und nicht mehr abgekoppelt voneinander. Der Therapeut erhält so neben dem beobachtenden Ich und dem regressiven Ich-Teil einen festen Platz, von welchem er stabilisierend agieren kann. Vergleichbar ist dies mit dem Fluglotsen im Radarturm, der die Flugzeuge beobachtet und durch seine Anweisungen mithilft, auch in schwierigen Situationen sicher zu starten und zu landen. Er unterstützt den Piloten, ohne selbst im Flugzeug zu sitzen und ohne direkt eingreifen zu können. Im Gegensatz zum Fluglotsen, der eine international vereinbarte und von allen Beteiligten verstandene Sprache benutzen kann, um mit dem jeweiligen Piloten zu kommunizieren, ist dies in der Therapie nicht möglich. Wie genau solche Therapiegespräche und die Interventionen ablaufen, lässt sich aufgrund der Komplexität nur praktisch erfahren, aber nicht rezeptartig beschreiben. Deshalb äußere ich mich nicht im Detail dazu und verweise auf Mosaikteile aus meinen Fallbesprechungen und auf die individuelle Supervision, die sowohl auf den Supervisanden wie Patienten zugeschnitten ist. Dies gilt auch für den Umgang mit einem Patienten, der plötzlich in einen Zustand der äußeren Borderline-Psychose gerät. Benedetti schreibt in diesem Zusammenhang Folgendes: »Zwar gibt es im Erleben des Grenzpsychotikers nichts, was auf der psychodynamischen Ebene nicht ›verständlich‹ wäre [. . .] Es handelt sich nicht immer um eine klar umschreibbare Grenze zwischen psychotisch und nicht-psychotisch; wir alle wissen, wie einem zumute ist, wenn 172
man ins Kreuzfeuer allzu heftiger sozialer Spannungen gerät und dabei ›das Gesicht verliert‹. Was aber für uns metaphorische Wendung ist, bedeutet für den Grenzpsychotiker plötzliche uns überraschende Realität; Er erlebt den physischen Verlust seines Gesichtes. Beim Grenzpsychotiker überlappen sich die beiden Erlebensweisen [. . .] Psychotisches und Nicht-Psychotisches gerät durcheinander« (S. 168). Dieser sich manchmal zwischen Neurose und Schizophrenie bewegenden Dynamik gilt es mit einer klaren Haltung zu begegnen, die es erlaubt, einen festen therapeutischen Stand im dualen Raum zu haben und daraus flexibel agieren zu können. Der zunehmenden psychischen »instabilen Stabilität« des Patienten setzen wir flexible Interventionsmöglichkeiten entgegen. Ein anderes, eher unübliches therapeutisches Mittel im dualen Raum war, einer Patientin mit temporärer Sprachlosigkeit und mangelndem Glauben an ihre Existenz als Mensch mit von mir beschriebenen Zetteln zu begegnen. Sie erlebte solche Zustände in der Therapiestunde als eigenen Zerfall, den sie, im Gegensatz zum Schizophrenen, zudem aus einer Außenposition beobachten konnte. Ich händigte ihr diese Zettel jeweils nach der Stunde aus. Das gesprochene Wort reichte nicht aus. Es brauchte über die Stunde hinausgehende Sicherheiten. Sie konnte solche Zettel in der Stunde auch einfordern, wenn ihr Geländer der »Terrasse« zu unsicher wurde. Jeder Zettel, von denen es Dutzende gab, begann mit den Worten: »Es ist wahr, dass . . .« und endete mit Datum und meiner Unterschrift. Diese Zettel bewahrte sie sorgfältig auf, trug sie manchmal in der Handtasche mit sich, um sich in Zeiten der sie übermannenden Fragmentierungsgefühle zu orientieren und zusammensetzen zu können. Diese Zettel haben sowohl die Bedeutung von Übergangssubjekten wie auch -objekten. In solcher Not, die sich außerhalb der Therapie einstellt, mit dem Therapeuten zu telefonieren, ist für die meisten Patienten nicht möglich. Das würde als zu bedrohlich und zu nah erlebt werden. Trotzdem hat sich das Angebot, in solchen Situationen telefonieren zu dürfen, als wichtig erwiesen. Viele Patienten spielten wohl mit dem Gedanken, ohne es zu tun. Sie müssen allein sein und doch etwas vom Therapeuten bei sich haben – etwas, 173
das ungefährlich verbindet. Deshalb biete ich seit Jahren die zusätzliche Option an, mich auf meinem abgeschalteten Handy zu erreichen. Der Patient hat die Möglichkeit, mich zu hören, ohne mit mir sprechen zu müssen und kann, je nach seinen Möglichkeiten, auf der Combox um einen Rückruf bitten, eine kurze Meldung hinterlassen oder einfach aufhängen. Nach der Arbeitszeit ist zusätzlich in der Praxis der Telefonbeantworter eingestellt. Ich höre die Combox sowie den Telefonbeantworter zu festen Zeiten ab und kann erkennen, wer inzwischen versucht hat, mich zu erreichen. Wenn keine Nachricht hinterlassen wurde, spreche ich es in der kommenden Stunde an und frage nach, was da geschehen ist. So gibt es unzählige Varianten von Lösungen, wie der Therapeut den dualen Raum und die therapeutische Beziehung darin sichert. Die Handhabungen und Meinungen dazu sind sehr verschieden. Ich bin überzeugt, dass es kein Richtig oder Falsch gibt, sondern jeder seinen Weg finden muss. So sind meine Beschreibungen aus dem Praxisalltag keine allgemein gültigen Regeln, sondern lediglich Vorgehensweisen, welche sich für mich bewährt haben und die für den einen oder anderen Therapeuten nützliche Hinweise geben können. Ich belasse es dabei und wende mich nun einem kaum beschriebenen Thema zu. Schwere Erkrankung des Therapeuten im Verlauf der Therapie: Ich habe in den letzten Jahren mehrfach die Situation erlebt, Patienten von Kollegen zu übernehmen, die zum Beispiel ihre Praxis in einen anderen Ort verlegt haben oder selbst schwer erkrankt sind. Leider kann auch der plötzliche Tod oder der völlig unerwartete Suizid des Therapeuten aus dem vollen Arbeitsleben heraus Grund für einen Therapieabbruch sein. Wollen wir schwerkranke Menschen behandeln, übernehmen wir neben der vertraglichen Verpflichtung eine große menschliche Verantwortung. Diese Verantwortung ist bei den in diesem Buch beschriebenen Patienten größer als bei neurotischen Patienten. Menschen mit Ich-Störungen von diesem Ausmaß können mit solchen existenziell bedrohlichen Veränderungen wie Trennungen oft nicht umgehen. Verzweiflung, Wut, aber auch 174
Trauer in der Übergangszeit, in welcher sie damit allein gelassen werden, können zur Stärkung ihres Ich, aber leider auch zum Gegenteil führen. So ist der eigene Suizid, um dem Therapeuten in den Tod zu folgen, nicht ausgeschlossen. Es kann auch im Rahmen einer schweren, paranoid-psychotischen Verarbeitung zum Suizid kommen, wenn beispielsweise den fordernden Stimmen im Wahn, die den »Freitod« des Patienten befehlen, nichts mehr entgegengesetzt werden kann. Die Therapie und der Therapeut als Gegengewicht sind weggefallen. Es gibt keine Alternative, die in diesem Moment zur Verfügung steht. Auch bei schwersten depressiven Reaktionen kann ein Suizid die Folge sein, wenn das gesamte Denken und Fühlen nur auf den Verlust fokussiert ist und das Gefühl, keinen Sinn mehr im Leben zu erkennen, übermächtig wird. Dazwischen liegen viele Varianten von Schuldgefühlen, wie zum Beispiel den Therapeuten krank gemacht, in den Tod getrieben zu haben und vieles mehr. Wie geht man mit dem sonst im Rahmen der Abstinenzregel aus der Therapie Herauszuhaltenden um? Da ich selbst zu meinem Glück nicht in genau so einer extremen Situation gestanden habe, sehr wohl aber aus der Supervision darüber berichten kann, schreibe ich als indirekt Betroffener. In einer extremen, den Therapeuten persönlich betreffenden Situation geht es um eine die Therapie wesentlich und nachhaltig beeinflussende Tatsache. Der Patient hat ein Recht darauf, mit größter Sorgfalt und im geeigneten Rahmen und Umfang über die Verfügbarkeit des Therapeuten aufgeklärt zu werden. Wichtig erscheint mir, keine Unsicherheiten oder gar unnötige und belastende Details bekannt zu geben, etwa so: »Heute muss ich mit Ihnen etwas sehr Ernstes besprechen. Es betrifft mich, wird sich aber auf unsere Therapie auswirken. Ich werde Sie deshalb soweit als nötig informieren. Ich bin leider von einer sehr schweren Krankheit betroffen, was ich selbst erst kürzlich erfahren habe. Wir werden gemeinsam weitersehen, wie wir damit auch längerfristig umgehen können.« Je nachdem, wie es um den Therapeuten steht, könnte dies anders lauten: »Wir werden nach noch ungewisser Zeit unsere Arbeit nicht mehr (so) weiterführen können. Es geht nicht um heute oder morgen, aber um demnächst. Wir sind ein gutes Stück 175
Weg gemeinsam gegangen und nun geht es darum, zusammen zu planen, wo, bei wem und wie Ihr Weg mittel- bis längerfristig weiter begleitet werden kann und soll. Ich werde Ihnen dabei helfen, einen anderen Therapeuten zu suchen und zu finden und wir werden, wenn es soweit ist, einen Übergang schaffen. Es geht jetzt nicht darum, alles konkret zu klären und zu regeln, sondern mir geht es heute darum, Sie persönlich zu informieren. Ich bin auch bereit, jetzt auf Ihre Fragen einzugehen, soweit es der Therapie und Ihnen nicht schadet. Sie haben immer die Möglichkeit, in unseren Stunden darauf zurückzukommen, wenn es Sie beschäftigt. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch negative Gefühle mir gegenüber auftauchen mögen. Darüber sollten wir offen reden können. Solange ich Ihnen die Stunden anbieten kann, werde ich das tun, was ich immer tue. Solange soll es möglich sein, alles, was Sie beschäftigt und Ihnen einfällt, mir gegenüber auszusprechen. Also, was möchten Sie jetzt von mir wissen . . .?« Es braucht höchste Sorgfalt, dem Patienten nicht das Gefühl zu geben, er sei ausgeschlossen, sondern ihm zu vermitteln, gemeinsam eine schwierige Situation zu meistern. Stimmlage, Wortwahl und Ausstrahlung spielen in solchen Momenten eine große Rolle. Ist der Patient wieder allein, fallen ihm die Worte vielleicht wieder ein. Er soll durch die Klarheit der Formulierungen möglichst wenig Möglichkeit haben, diese falsch zu interpretieren. Der besprochene vorzeitige Therapieabschluss und die sorgfältige Übergabe ermöglicht später einen würdigen Abschluss der Behandlung. Den Therapeuten entlastet es von der ungewollten Schuld, den Patienten verlassen zu müssen und unterstützt ihn dabei, loszulassen. Für den Patienten wiederum ist es die Möglichkeit, einen Abschied bewusst üben und erleben zu können. Dem zukünftigen Therapeuten gibt es die Möglichkeit, einen guten Einstieg zu planen und mit negativen Übertragungsreaktionen des Patienten auf ihn therapeutisch verständnisvoll umzugehen. Ich habe selber eine schwierige Erfahrung, wenn auch anderer Art, machen müssen, welche die Therapien mehr indirekt betroffen haben. Deshalb hoffte ich, mit meinen Patienten nicht darüber sprechen zu müssen. Im Falle einer Patientin erwies sich das als fataler Irrtum. Durch einen unglücklichen Zufall wusste 176
sie bereits ein Jahr von diesem Schicksalsschlag. Sie konnte aber kein Wort dazu sagen und hoffte jede Stunde, ich würde es ansprechen. Sie brauchte dieses Jahr, das sie allein und mit viel Leid, aber auch Ärger und Wut auf mich durchstand, um dann von sich aus mit mir darüber reden zu können. Es auszusprechen war ihr erst in einer sehr schwierigen Stunde möglich. In diesem Fall wendete es sich zum Guten. Es hätte bei einem anderen Patienten ebenso zu einem, für mich unbegreiflichen, Therapieabbruch führen können. Schwere Erkrankung des Patienten im Verlauf der Therapie: Auch diese Variante muss besprochen werden. Sie ist zum Glück nicht häufig. Entscheidend ist, wie der Therapeut damit umgeht und für seinen Patienten da ist, da sein kann. Für einige Menschen allerdings ist erst die schwere, lebensbedrohliche Erkrankung Anlass, in Verzweiflung und Not einen Therapeuten aufzusuchen. Darüber schreibe ich hier nicht. Es geht um den schizophrenen oder borderlinekranken Patienten, der während der Therapie schwer somatisch erkrankt. Hier geht es um das Aufrechterhalten des dualen Raums in speziellen und extremen Situationen. Es kann der Fall eintreten, dass ein Patient verletzt und immobil ist oder im Krankenhaus liegt und über eine kürzere oder längere Zeit nicht mehr zur Therapie in die Praxis kommen kann. In seltenen Fällen führt dies zu einer einschneidenden Settingänderung, die sehr problematisch werden kann, hat man dies zuvor nicht überlegt und folgende Fragen nicht geklärt. Bin ich als Therapeut auch langfristig bereit, Hausbesuche zu machen? Wie gehe ich mit dadurch entstehenden, nicht abgedeckten Unkosten um? Wie steht der Patient dazu? Wie kann sich die Übergabe an einen Kollegen gestalten, der ein besseres Angebot machen kann? Bei Borderline-Patienten mit dissozialen Zügen kann es vorkommen, dass sie in Haft genommen werden. Grundsätzlich mache ich dem Patienten in einem für mich möglichen therapeutischen Rahmen ein Angebot. Bei einer Haft trifft den Patienten meistens eine Schuld. Damit verknüpft ist sein selbst- und/oder fremdgefährdendes Verhalten. Da dies wichtiger Teil der Therapie ist, muss es später thematisiert werden, allerdings nicht morali177
sierend und nicht aus der unreflektierten Gegenübertragung heraus. Mein Angebot beschränkt sich während der Haft darauf, die Beziehung von meiner Seite nicht abzubrechen. Soweit es die äußeren Umstände erlauben, stehe ich ihm therapeutisch und menschlich zur Verfügung. Dies kann über Telefonate und Briefe geschehen, selten durch einen oder regelmäßige Besuche, wenn dies von der Behörde erlaubt und die Finanzierung vorgängig geregelt ist. Ziel ist es, die Therapie später vertieft weiterführen zu können. Ich lasse mich von ihm jedoch keinesfalls für seine Bedürfnisse einspannen, was wiederholt versucht wurde. Für Patienten, die von einer zum Tode führenden Erkrankung betroffen sind, kann die Zeit, die noch zur Verfügung steht, knapp werden. Hier wird das Aufräumen und Abschließen zum dringlichen Thema. Was ist unerledigt? Was lässt den Betroffenen nicht in Ruhe sterben? Was muss noch geregelt werden? Ich bespreche all dies nicht im Sinne der sozialpsychiatrischen Klärung oder Bestandsaufnahme. Es findet im Rahmen von sorgsam geführten Gesprächen statt, die der tief gehenden Erforschung der oft schambeladenen, verborgenen Aspekte dienen. Der Therapeut muss heikle Themen wie Schmerzen, Sterben, Tod und was danach folgt, thematisieren können. Wichtig ist zu begreifen, dass der Patient uns verlassen wird und vielleicht an einem anderen Ort der inneren Auseinandersetzung, ja Reifung steht und so eventuell über uns verschlossene Einsichten und Wissen verfügt. Wichtig erscheint mir auch, dass der Therapeut seine eigene Grenze des Lebens nicht verleugnet, jeden Moment kann auch uns der Tod ereilen: Ein tödlicher Unfall kann uns vor dem Patienten aus dem Leben ausscheiden lassen. Ich habe wiederholt festgestellt, wie wichtig es in solchen Momenten der Begegnung ist, Humor zu bewahren, auch wenn es um existenzielle und ernste Themen geht. Der Einbezug von Angehörigen und das offene Regeln von alle betreffenden, praktischen Fragen gehört ebenfalls in diese Therapie. Der Patient soll in dieser Phase des Lebens mit jemandem, der ihm emotional nicht zu nahe steht, aber auch nicht zu entfernt ist, offen über alles sprechen können. In solchen Momenten zahlt sich ein umsichtiges, die Abstinenz respektierendes Verhal178
ten aus der bisherigen Therapie aus, welches den Patienten durch zugelassene therapeutische Nähe nicht allein lässt und doch eine Distanz garantiert.
Bildung von Übergangssubjekten und -objekten Schizophrenie Wenn der duale Raum installiert ist, das heißt die Rahmenbedingungen stehen und die Basisbeziehung etabliert worden ist, geht es darum, innerhalb dieses Therapieraums mit der Arbeit zu beginnen. Das Erleben des anderen in der gemeinsamen, inhaltlichen Arbeit ist die nächste Stufe der Therapiegestaltung. Benedetti führte in diesem Zusammenhang den Begriff des Übergangssubjektes ein. In seinem Buch »Psychotherapie als existentielle Herausforderung« schreibt er dazu: »Durch die anteilnehmende Zuwendung zum Patienten entsteht ein Netz beidseitiger Projektionen und Introjektionen, die ihren Niederschlag finden in dem, was ich das ›Übergangssubjekt‹ nenne: Ein Bild, das aus Teilen von uns und Teilen vom Patienten besteht, das oft eine phantasmatische Gestalt, eine Stimme, ein Traumbild, eine Zeichnung ist, ein ›Etwas‹ jedenfalls, das sich von den übrigen Halluzinationen dadurch unterscheidet, dass es Symbolcharakter auch für den Patienten gewinnt – offenbar dadurch, dass es nun das sich zwischen uns entwerfende positive Unbewusste integrieren kann [. . .] Wir werden zu Brücken, zu ›Übergangssubjekten‹ zwischen dem abgespaltenen Unbewussten und dem abgespaltenen Ich« (1992, S. 39). Ich habe während einer Therapiestunde in einer sowohl für eine Patientin wie für mich verzweifelten Situation intuitiv das Übergangssubjekt »Verzweiflung« für sie, aber doch mit ihr in ein gemeinsames konkretes Objekt umsetzen können, welches symbolisch für das Übergangssubjekt stand. Es entwickelte sich in mir aus der gemeinsamen Not heraus, die für jeden von uns verschieden gelagert war, aber in der Sitzung dualisiert ihren Platz besetzte. Ich berichte hier von diesem untypischen, aber eindrücklichen 179
Fall zum Thema Übergangssubjekt, obschon genau dieser Aspekt nicht ganz einfach zu verstehen ist: Diese Patientin glaubte in der akuten Phase ihrer Erkrankung und zu Beginn unserer Therapie, dass sie selbst und ich, wenn ich sie verlassen würde, von ihr bekannten, bösen Mächten vernichtet würden. Diese bösen Mächte der Welt, vor denen sie mich beschützte (Superexistenz), um damit selbst eine Existenzberechtigung zu haben (Negativexistenz), würden über mich und sie siegen, wenn wir getrennt wären. Dass sie mich verlassen könnte, lag nicht im Bereich des für sie Denkbaren. Schon ihre Idee, dass unser Leben und das Am-Leben-Bleiben aneinander gekoppelt sei, ist bereits Aspekt eines pathologischen, verzweifelten Versuches, über eine Übergangssubjektbildung ihr Leben zu retten. So sollte ihre zerfallende und der Vernichtung verschriebene Existenz über die Koppelung an eine externe Existenz – nämlich die meinige, die symbiotisch einverleibt wird – gerettet werden. Diese symbiotische, mich einverleibende Gestaltung war aber nur für kurze Zeit von Bestand. Sie half damals jedoch wesentlich zur Überbrückung einer akuten Suizidalität im Wahn, der Vorstellung, sich selbst vernichten zu müssen, um mich zu retten. Ich musste für eine Woche zwingend verreisen. Sie war durch die Arbeit in der Therapie inzwischen etwas stabiler geworden, als diese Reise anstand. Sie reagierte heftig auf die Ankündigung meiner bevorstehenden Abwesenheit. In meiner Not ergriff ich in der Stunde vor dem Abschied einen vor mir auf dem Tisch liegenden Radiergummi, teilte diesen mit einem Kugelschreiber-Strich quer in zwei Hälften und schrieb auf die eine Seite ihre und auf der anderen meine Initialen. Ich übergab ihr den Gummi mit den Worten: »Das ist nicht nur mein Pfand und meine Versicherung an Sie, dass ich zurückkommen will und nach Möglichkeit auch kommen werde. Dies ist von jetzt an unser gemeinsamer Gummi, den ich nicht weiter als Gummi, der auslöscht, verwenden werde, sondern als Garant für unsere Therapie. Wenn ich weg bin, verwalten Sie diesen unseren Gummi, bis ich zurück bin. Danach bleibt er jeweils bei mir in der Schublade, wo wir ihn jederzeit hervorholen können und ich verwalte ihn. Sie tragen ab jetzt die Verantwortung dafür. Es ist der Beweis unserer Therapie. Diese geht mit diesem Auftrag auch weiter, wenn ich nicht da bin. Alles, was bis heute in und durch die Therapie möglich wurde, ist Realität und geht nicht verloren, sofern Sie es nicht auslöschen. Gemeinsam führen wir diese weiter, wenn ich in einer Woche zurück bin.«
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Warum ist der Radiergummi nicht ein einfaches Übergangsobjekt? Ein solches gehört dem Therapeuten und wird lediglich als Sicherheitspfand anstelle der abwesenden Person des Therapeuten zur Überbrückung ausgeliehen. Es ist ein symbolisches Pfand. Die Übergabe ist ein Akt, welcher der Wichtigkeit der Therapie Ausdruck verleiht und zudem die Angst des Patienten senkt, da er inzwischen etwas Konkretes in der Hand hält, das ihn symbolisch daran erinnert, dass es den Therapeuten gibt und dass dieser zurückkommt. Mein Gummi aber wurde von mir zum gemeinsamen Besitz erklärt. Der Gummi war mein Startkapital in und für das gemeinsame Überwinden der großen, jedoch dualisierten Verzweiflung in der Zeit vor der Abreise. Auf diesen aufzupassen, war ihr Anteil, ihre Startinvestition. Nach meiner Rückkehr machte es erstmals wirklich Sinn, vom gemeinsamen Gummi zu sprechen. Der gemeinsame Besitz des Radiergummis musste durch meine Abwesenheit und unser getrenntes Überleben erst entstehen können. Die Patientin hatte den Auftrag und damit eine weitere Lebensberechtigung, nun unseren Gummi anstelle von meiner Person (und damit die Therapie) vor den bösen Mächten zu bewahren, was sowohl Übergangssubjekt- wie Übergangsobjektcharakter hat. Es gab ihr zudem wahnintern ein Argument in der Diskussion mit den Mächten, die ihr nicht glauben wollten, dass ich zurückkomme. Einen Übergangssubjektcharakter hat auch die damit geschaffene Option, auf eine neue Art und Weise mit der Bedrohung durch die bösen Mächte umzugehen. Wie Scharfetter wiederholt in den Supervisionen betonte, ist es wichtig, dass der Patient in dieser Phase mit den Mächten im Dialog steht und bleibt und sich nicht schweigend ergibt, so die Kontrolle gänzlich aufgibt und sich damit vollständig ausliefert. Dass ich nicht einfach verschwinden wollte, glaubte die Patientin mir aufgrund meines bisherigen Einsatzes für sie. Ansonsten wäre diese Intervention untauglich gewesen. Sie hätte den Gummi als Trick und Ablenkung interpretiert. Genau genommen hütete sie sich selbst mit diesem Auftrag, der vermeintlich eine Brücke zwischen ihr und mir schaffte, noch mehr jedoch eine Brücke zwischen ihren abgespaltenen Ich-Teilen bildete. Das allerdings war ihr damals noch nicht bewusst, da wir seinerzeit vorwiegend wahnin181
tern arbeiteten. Ihre Befürchtung bestand ja vorwiegend in meiner Gefährdung ohne ihren Schutz. Seither verletzte sie sich übrigens nicht mehr, da sie es nach dieser Erfahrung nicht mehr nötig hatte. Sie war im Rahmen ihrer Ich-Reparation gereift. Sie wurde durch den Auftrag nicht nur zu einer Partnerin im Umgehen mit meiner Abwesenheit, sondern Partnerin für und mit Fragmenten von sich selbst. Üblicherweise geht es beim Übergangssubjekt um An- und Bereicherung durch gegenseitige Projektionen/Introjektionen, die zu Symbolen werden können. Zum Beispiel werden Träume positivierend (um)gedeutet und so als Übergangssubjekte in die Therapie integriert. Der Patient bringt etwas von sich mit, trägt es in den dualen Raum und wir ergänzen es mit unserem Beitrag. So entsteht etwas positiviertes Gemeinsames. Übergangssubjekte sind wie Möbel, die wir erst gemeinsam finden müssen, bevor wir sie in unseren dualen Raum stellen. Jeder trägt dazu bei und gestaltet mit, so gehört es beiden. Es geht mir hier weniger darum, Benedettis Idee des Übergangssubjektes minuziös und theoretisch abzuhandeln, sondern vielmehr darum, diese Idee aufzunehmen und als therapeutische Option vor allem für die wahninterne therapeutische Arbeit mit schizophrenen Menschen zu verwenden, um so dem leidenden Wahnkranken näher zu kommen. Leider geschieht es häufig, dass sich der Therapeut vom Kuriosen abwendet und den Patienten nur noch als psychopathologisches Forschungsobjekt aus der Distanz betrachtet. Benedetti schreibt dazu: »Der schulpsychiatrische Gesichtspunkt hat den großen Nachteil, dass er uns oft gleichgültig macht, so dass wir zu Menschen werden, die im Wahn das Kuriose, Seltsame, Abnorme lediglich registrieren, die aber kein Verstehen leisten und die den Graben, den der Kranke zwischen sich und uns aufreißt, bestehen lassen, den Patienten also ebenso distanziert erleben, wie er uns erlebt. Dabei ist beides in meiner Sicht notwendig: auf der einen Seite der unermüdliche Versuch, das Unverstehbare zu verstehen, auch auf das Risiko hin, dass wir auf die Wahnidee unsere Vermutungen projizieren, wohl im Vertrauen darauf, dass auch solche ›Verstehensprojektionen‹ eine Art Brücke zwischen uns und dem Kranken bilden, einen Gesprächsstoff schaffen, ein 182
Übergangssubjekt stiften können, das heißt ein Bild, dass teils vom Patienten und teils vom verstehenden Psychiater stammt und das seine letzte Wirklichkeit im ›operationalen‹ Sinn, das heißt in der Auswirkung, im Stoß und Gegenstoß des Dialoges hat. Auf der anderen Seite ist der ›Respekt‹ vor dem uns verhüllten Dasein, vor der Irrationalität der Psychose notwendig. Bei allem Verstehen darf das Sich-Wundern und Staunen nicht aufhören. Der Verzicht auf billige Rationalisierung, die nur den Psychiater beruhigen, muss immer wieder geleistet werden« (1992, S. 22). Die Möglichkeit, gemeinsam mit dem schizophrenen Menschen Übergangssubjekte bilden zu können, ist in meiner täglichen Arbeit zur unglaublichen Quelle von Leben und Bereicherung in der therapeutischen Beziehung geworden, die ich nicht missen möchte.
Borderline-Persönlichkeits-Organisation Übergangssubjekte gehören nicht wirklich zum Instrumentarium der Borderline-Behandlung, außer bei psychosenahen Zuständen. Bei borderlinekranken Patienten kommen anstelle von Interventionen, wie wir sie bei schizophrenen Menschen antreffen, andere, bestens bekannte Techniken zum Einsatz. Da die Literatur wie bereits erwähnt mit Therapievorschlägen und Manualen übersät ist, verzichte ich hier, darauf ausführlich einzugehen. Meine Vorschläge, wie mit äußerer und innerer BorderlinePsychose grundsätzlich umgegangen werden kann, habe ich bereits ausgeführt. Jeder Patient muss mit seinen individuellen Episoden verstanden werden. Daraus erst ergibt sich die therapeutisch kluge Intervention. Bei Borderline-Patienten spielen eher Übergangsobjekte als Übergangssubjekte eine Rolle, die jedoch am Rande der Behandlung zum Zug kommen können. Die bereits erwähnten Zettel, welche ich der Patientin in den Stunden gab, in denen sie an einer schweren inneren oder zeitweise sogar grenzwertigen äußeren Borderline-Psychose litt, kann als Form eines konkreten Übergangssubjektes gesehen wer183
den. Das Thema der Zettel wurde immer durch sie eingebracht und bestimmt. Die Idee, die Struktur, die Formulierung des Textes sowie der Zettel an sich kamen von mir. Insofern sehe ich es auch als eine spezielle Form des Übergangssubjektes an, da die Patientin in mir Vorstellungen auslöste, die mich zum Inhalt der Zettel führten. Bei borderlinekranken Menschen geht es nicht in erster Linie darum, gemeinsame Elemente als feste Basis der Beziehung und Sprache zu entwerfen und zu entwickeln wie bei schizophrenen Menschen, weil die Gefahr der Fragmentation der Person nicht im Vordergrund steht. Zudem werden Übergangssubjekte durch die Fluktuation des Ich verändert, nicht immer gleich wahrgenommen und zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich interpretiert. Bei der schizophrenen Fragmentation überlebt das Übergangssubjekt erstaunlicherweise gut, weil es auch externen Charakter hat und nicht oder nur selten vom Prozess existenziell betroffen ist. Der Therapeut kann immer wieder darauf zurückkommen und der Patient erinnert sich, es wird sogar zu einem Rettungsanker, während beim Großteil der Borderline-Persönlichkeits-organisierten Menschen das gemeinsam Gebildete immer wieder in Frage gestellt wird. Deshalb sind Objekte, also konkrete, sich nicht verändernde Mittel wahrscheinlich wichtiger. Während meine schizophrene Patientin nie auf die Idee gekommen wäre, während meiner Abwesenheit etwas, das wir zuvor im Sinne des Übergangssubjektes entwickelt hatten, grundsätzlich anzuzweifeln, würde der borderlinekranke Patient vieles anders erinnern, interpretieren und missverstehen können. Bei der Psychosentherapie mit schizophrenen Menschen ist die flexible Haltung des Therapeuten von seinem grundsätzlich fixen Standort aus maßgebend. Dagegen stehen bei Therapien mit Borderline-Patienten andere wichtige Aspekte im Vordergrund. Es geht hier trotz der verständlichen und unvermeidbaren Fluktuation des Patienten vorwiegend um die Stabilisierung der Beziehung in einem vorgegebenen dualen Raum: Die Möbel des dualen Raums sind bereits vorhanden, man handelt im Therapievertrag bereits die möblierte Wohnung aus. Wenn die Fragmentation droht, der Borderline-Patient sich der Psychose nähert oder gar über diese Gren184
ze geht, spielen plötzlich auch bewährte Methoden und Interventionen, wie wir sie bei schizophrenen Menschen anwenden, eine Rolle, so auch Übergangssubjekte. Die stabile, transparente und im Gegensatz zur Schizophrenie eher fixe Haltung des Therapeuten, die je nach Schule streng abstinent sein sollte oder auch supportiv sein kann, ist hier wesentlich. Die unverrückbaren, vertraglich geregelten Abmachungen werden immer wieder genau in Erinnerung gerufen und besprochen. Insbesondere müssen Abweichungen geklärt werden. Die festen, sicheren Grenzen des dualen Raums sowie ein stabiler zugewandter Therapeut, der unerschütterlich seine Stellung verteidigt, dies aber dem Patienten zugewandt und mit viel Verständnis tut, garantieren letztendlich am ehesten einen Therapieerfolg. Das jedenfalls ist meine Erfahrung. Übergangssubjekte finden also eher bei psychosenahen Borderline-Patienten ihre Anwendung.
Progressive Psychopathologie Schizophrenie Nachdem der duale Raum als Raum definiert wurde und die darin entworfenen und gebildeten Übergangssubjekte eingerichtet sind, beginnt der eigentliche innere Prozess der Veränderung der psychotischen Welt. Benedetti schreibt zum Begriff der progressiven Psychopathologie und seiner Bedeutung für die Psychosentherapie Folgendes: »Darunter verstehe ich freilich nicht allein den therapeutischen Fortschritt, der als Progression die Regression aufhebt. Es handelt sich viel mehr um eine Zweigleisigkeit und eine Neuausgabe der Psychopathologie beim sich entwickelnden Patienten, die formal der prätherapeutischen ähnlich ist, sich also noch der psychotischen Form bedient, um aber durch sie bereits ›antipsychotische Intentionen‹ auszudrücken, das heißt, authentische, kommunikative Inhalte zu äußern und zu integrieren, die in ihrem zaghaften Beginn wie eine Dualisierung des Autismus anmuten und die buchstäblich genommen, in der symbolisierenden Sprache wie eine therapeutische folie à deux aussehen 185
können« (1992, S. 69). Eine eindrückliche Fallvignette soll zeigen, was progressive Psychopathologie bedeuten kann. Die Patientin, die früher mich retten wollte, war inzwischen bereits in fortgeschrittener Therapie bei mir. Sie erlaubte sich neuerdings, im Sommer im See schwimmen zu gehen und es in vollen Zügen zu genießen. Bis dahin war der See von bösen, sie bedrohenden Gestalten besetzt, so dass sie sich diesem nicht nähern konnte. Eines Nachts im Winter, als sie wieder einmal eine schwere psychotische Krise durchlebte, befahl man ihr im Wahn, sich in den See zu begeben. Die Stimmen waren so imperativ, ultimativ und für sie zwingend, dass sie auf der Stelle dorthin eilte, sich auszog und in den eiskalten See gehen wollte, wie ihr befohlen worden war. Plötzlich sah sie mich (sie halluzinierte mich) in kurzer Entfernung vor sich stehend und streng, aber doch liebevoll zu ihr sagend: »Gehen Sie da nicht rein, es ist kalt und Sie bringen sich ja um.« Sie zog sich an und kehrte sehr glücklich nach Hause zurück. In der Therapiestunde am nächsten Tag bedankte sie sich bei mir, dass ich ihr das Leben gerettet habe, was ich verständlicherweise nicht verstand und es mir erklären ließ. Ich erkannte die progressive Psychopathologie und deutete es ihr zunächst wahnintern und danach gleich wahnextern. Ich erklärte ihr, dass die Therapie-Beziehung in dem Moment stärker war als die bösen Mächte der Psychose, dass die Realität und das Leben, ihr Lebenstrieb und Lebenswunsch über die Psychose, die sie vernichten wolle, gesiegt habe. Erst danach sagte ich zu ihr, sie habe sich das Leben selbst gerettet, indem sie sich traute, der Halluzination des Guten mehr Gewicht zu geben als dem Bösen. Ich betonte, ich sei real nicht da gewesen, hätte zu dieser Zeit tief und gut in meinem Bett geschlafen. Offenbar sei ich aber (als Introjekt) für sie innerlich verfügbar und so indirekt da gewesen. Erst jetzt begriff sie meine Nachfragen. Sie konnte diese Erklärung nach kurzer Diskussion annehmen und als progressive Psychopathologie an sich selbst erkennen. Wie könnten sich sonst Wahnmächte von einem nicht da gewesenen Rom vertreiben und besiegen lassen? Entweder waren wir beide (Wahnmächte und Rom) am See, was bedeuten würde, dass ich sie belüge oder wir waren alle außer ihr nicht da und es war alles wahnhafte Vorstellung. Wieso aber sollte ich auf einen so heroischen Sieg über die Mächte verzichten wollen und es freiwillig als nicht realen Sieg deklarieren? Diese Inkompatibilität konnte sie für kurze Zeit erkennen und vollständig gesund besetzen. Der Fortschritt war, dass sie in der Situation selbst zwar mit psychotischen Mechanismen funktionierte, aber mich pro-
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gressiv dualisierend integrieren und benutzen konnte. In der Therapiestunde gelang es ihr, die Wahnwelt auszuschließen und als solche zu erkennen. Es entstand für einen kurzen Moment eine »Terrasse mit Geländer«, von welcher sie zusammen mit mir die Psychose von außen betrachten konnte. Es war in der besagten Nacht eine wesentlich gesündere Form des Halluzinierens möglich geworden als früher.
Benedetti fasst zur progressiven Psychopathologie Folgendes zusammen: »Progressive Psychopathologie ist eine ursprünglich regressive und autistische Psychopathologie, die durch den Kontakt mit dem sie kommentierenden, deutenden, ergänzenden Therapeuten, aber auch durch die Erweiterung des Abnormen mittels der kreativen Einfälle, der Phantasien und der Träume des Therapeuten und durch seine Bereitschaft, nicht nur Symptome auszulegen, sondern auch fabulierend die flexibleren und sinnträchtigeren Teile des Wahns zu neuen Aussichten hin zu erweitern, eine Dimension des Fortschrittes, der kommunikativen Entwicklung, der beginnenden Ichsynthese entfaltet. Im Verlauf einer solchen progressiven Psychopathologie nähert sich der Patient seinem Therapeuten; er übernimmt dessen Gedankengänge – so wie dieser umgekehrt an den Symbolen des Patienten mitgestaltend teilnimmt. Grandiosität und Nicht-Existenz treten zurück [. . .] So entsteht in der Psychotherapie eine ›Intersubjektivität‹, die noch keine ›Interpersonalität‹ › sondern nur eine Vorstufe zu jener reiferen Wahrnehmung ist, in der die abgetrennte eigenständige Person des Therapeuten für den Patienten schließlich fassbar wird« (1987, S. 75).
Borderline-Persönlichkeits-Organisation Wie schon im Zusammenhang mit der Bildung von Übergangssubjekten bemerkt, geht es in der Behandlung dieser Patienten nicht zentral um die Entwicklung von progressiver Psychopathologie. Zeigt sie sich, dann in anderer Form, was ich an einer Fallvignette darstellen werde. In der Phase der Therapie, in der es bei schizophrenen Menschen um die Entwicklung einer progressiven Psychopathologie als grundsätzliche Annäherung an ein eigenes 187
Ich geht, geht es bei Borderline-Patienten darum, zu akzeptieren, dass es abgespaltene Teile des vorhandenen Ich gibt, die deshalb intern getrennt und mittels Abwehrmechanismen zum Teil nach außen verlagert werden, weil sie zuviel Angst evozieren, wenn sie ungespalten erlebt würden. Bei früh traumatisierten Patienten, die im Rahmen der Borderline-Persönlichkeits-Organisation recht häufig anzutreffen sind, wäre dies die Zeit, die eigene traumatisierende Geschichte vielleicht zum ersten Mal ungeschützt zu erinnern. Es ist die Zeit, da die Einsicht möglich wird, dass eigene Interpretationen und Beurteilungen von Situationen und anderen Menschen objektiv so nicht weiter bestehen können und relativiert werden müssen. Während und nach dem Installieren des dualen Raums, was mittels intensivem Arbeiten am Vertrag stattfindet, beginnen bereits teils heftige Auseinandersetzungen, die von beiden Seiten durchgestanden werden müssen. So wird der duale Raum als Basis gesichert und etabliert. Der Patient erkennt in dieser Phase im Therapeuten, wenigstens zeitweise, den Partner und nicht mehr den bösartigen und ihn quälenden Feind. Dadurch entstehen Momente von Kraft und Mut, die eigene Tragödie des Lebens gemeinsam in den Blick zu nehmen und teilweise an der Dynamik der Reinszenierung in der Gegenwart zu bearbeiten. Dies ist auch die Zeit, in welcher Borderline-Patienten, die an inneren oder äußeren Psychosen leiden, diese Prozesse durchschauen lernen und beginnen, wenigstens vorübergehend Abstand zu gewinnen. Man könnte sagen, dass für diese Patientengruppe die Terrasse erstmals, wenn auch noch unsicher, begehbar wird. Während sie bei der Borderline-Persönlichkeits-Organisation zuvor wohl bestanden hat, aber nicht erkannt und benutzt werden konnte, muss sie bei schizophrenen Menschen erst gebildet werden. Wenn sich progressive Psychopathologie beim borderlinekranken Patienten in späteren Phasen der Therapie einstellt, berichtet er darüber und erkennt bereits die Bedeutung. Das sieht konkret so aus: Eine Patientin musste als 13-Jährige den Großvater, der sie seit Jahren regelmäßig missbrauchte, in einem fremden Land, dessen Sprache sie im Gegensatz zu ihm perfekt beherrschte, zu Verwandten bringen. Sie reiste wie eine erwachsene Person, nahm diese Verantwortung ohne je-
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den Zweifel und Angst wahr und brachte ihn und sich selbst sicher ans Ziel. Fast vierzig Jahre später: Die gleiche Patientin, welche jetzt in fortgeschrittenem Stadium ihrer inzwischen laufenden Therapie ist, macht dieselbe Reise erneut, diesmal allein. Sie will Freunde treffen, die sich bereits vor Ort befinden. Beim Umsteigen an einem Bahnhof einer großen Stadt, wo sie den geplanten Anschlusszug aufgrund einer Verspätung verpasst hatte, bleibt sie plötzlich völlig verwirrt, ja fast kataton stehen und starrt vor sich hin, glaubt sich nicht mehr zurechtzufinden, ist verzweifelt wie ein Kind. Nach zehn Minuten Erstarrung findet sie sich im erwachsenen Zustand wieder und erinnert die Bilder von damals heftig. Sofort ist es ihr bewusst und klar, dass sich jetzt, mit einer Latenz von so vielen Jahren, der damals abgespaltene Teil der Angst zurückgemeldet und für sie erstmals wahrnehmbar gezeigt hat. Sie begreift die Bedeutung und beschließt, dies in der nächsten Therapiestunde zu besprechen. Anschließend entscheidet sie sich, wieder ganz erwachsen und vernünftig, den Bummelzug zu nehmen, um ihre Reise an den Bestimmungsort fortzusetzen. Sie informiert die Freunde von der Verspätung und alles geht glatt. Am kommenden Tag überlegt sie sich, ob sie allein einen Ausflug unternehmen sollte. Sie entschließt sich jedoch auf Wunsch der Gruppe, gemeinsam mit dieser nach Hause zu fahren und darauf zu verzichten. Sie realisiert, dass sie sich früher nie getraut hätte, an so einen Ausflug allein auch nur im Stillen zu denken, da sie sich für diesen Wunsch hätte hart bestrafen müssen. Sie nimmt erstaunt zu Kenntnis, dass sie dies heute entspannt denken und für sich entscheiden kann. Sie begreift unmittelbar den Zusammenhang zum Ereignis des vorigen Tages. Sie deutet selber den Reifesprung, den sie durch das Durchleben des jahrelang abgespaltenen Teils nun machen kann. Sie erkennt den Kollaps der Zeitachse von zehn Minuten am Tag zuvor.
Was die Patientin am Bahnhof erlebte, war eine völlig andere Form progressiver Psychopathologie, weil der pathologische Teil als Kind von ihr erfolgreich abgespalten werden konnte, sich also gar nicht zeigte. Progressiv ist, dass es zu diesem späteren Zeitpunkt nicht mehr abgespalten werden musste. Sie konnte die Pathologie jetzt allein durchleben und ertragen. Zuvor erlebte sie solches lediglich im Rahmen der Therapie und in kurzen psychotischen Episoden. Meine wiederholten Deutungen in diesen psychotischen Momenten wurden ihr jetzt zugänglich und verfüg189
bar. Früher wäre das für sie in eine nicht auszuhaltende Dimension gerückt und hätte nur mit Selbstdestruktion und eventuell sogar mit Suizid gestoppt werden können. Die Bahnhofepisode führte zwar zu einer sichtbaren Verschlechterung ihres Zustandes, aber nur für kurze Zeit. Danach ging sie gestärkt und stabilisiert aus der Krise. Diese Episode und die Nachbearbeitung in der Therapie führten im Weiteren zu einem Quantensprung ihrer Entwicklung zu einer wesentlich gesünderen Frau. Progressive Psychopathologie ist also nicht gleich progressive Psychopathologie.
Reparation Es gilt zu betonen, dass sich die Bedeutung von Reparation in den Therapien schizophrener und borderlinekranker Patienten grundlegend unterscheiden. Bei schizophreniekranken Menschen geht es um die Psychosynthese des Ich, um die vorwiegend strukturelle Reparation des Ich. Eine funktionelle Reparation, das heißt Alltagsbewältigung, die sehr wichtig ist, auf die aber heutzutage zu früh zuviel Gewicht gelegt wird und die den Patienten überfordert, kann erst dann anhaltend erfolgreich sein, wenn sie auf einer erfolgreichen strukturellen Reparation des Ich basiert. Diese wiederum ist neben der spontanen Autoreparation nur mittels vertiefter, erprobter Beziehung zum Therapeuten möglich. Dabei geht es um die Rettung eines zerfallenen und eventuell weiter zerfallenden Ich aus seinen noch bestehenden, zum großen Teil nicht mehr vernetzten Bruchstücken. Das aus Grundelementen seines Ich neu gebildete Ich soll und muss als etwas Eigenes erkannt und akzeptiert und nicht als fremd abgelehnt und abgestoßen werden, das heißt wieder zurück in den Zerfall geschickt werden. Es muss zudem in eine für den Patienten lebensgerechten und auch in der Gesellschaft lebbaren Form des Selbst gebracht und integriert werden. Das Ich muss in einem gut funktionierenden Apparat mit Über-Ich und Es als Orchester wieder die Rolle des Dirigenten übernehmen können. Wenn im psychischen Apparat die Ordnung wieder einigermaßen stabil ist, gilt es, diesem 190
Ich zu helfen, sich mit dem Nicht-Ich auseinander zu setzen, sich davon zu unterscheiden und zu lernen, sich abzugrenzen. Dabei muss der Patient lernen zu erkennen, die Psychose als eigenen Innenteil zu sehen, der sich der Außenwelt bedient, ohne selbst Außenwelt zu sein. In der Auseinandersetzung mit der Außenwelt gilt es, sich in die Gesellschaft so weit möglich zu integrieren, allerdings ohne sich dabei in der Anpassung selbst wieder aufzugeben (Leihexistenz). Wie wir gesehen haben, muss das Labor für diese Arbeit zuerst erfunden und aufgebaut, die Fragmente eingesammelt, studiert und zusammengesetzt werden. Der Therapeut dient auch als Spiegel, in welchem sich der Patient erstmals und ohne Gefahr über den Weg der Identifikation mit dem Therapeuten (»gesunde« Leihexistenz) ansehen und später selbst reparieren oder zumindest stabilisieren kann. Unter Reparation verstehe ich nicht in erster Linie die Herstellung eines Bezuges zur eigenen Geschichte, sondern primär das Wiederherstellen eines irgendwie funktionierenden Ich aus seinen Teilen, welches über mehr Kraft und Abwehrmöglichkeiten verfügt als früher und nicht gleich wieder dem schizophrenen Zerfall anheim fällt. Die dadurch entstehende neue realistischere Sichtweise der eigenen Lebensgeschichte relativiert den früheren psychotischen Blickwinkel und die daraus resultierenden Interpretationen. Bei Borderline-Patienten dagegen geht es bei der Reparation im ersten Schritt um strukturstabilisierende und funktionelle Reparation, also um die Herstellung stabiler Beziehungsfähigkeit beim vorhandenen, zu stabilisierenden, weil fluktuierendem Ich in einem klar definierten Therapieraum. Der Patient steht dem Therapeuten mit einem in seiner Struktur oft intakten, aber instabilen Ich gegenüber. An der Beziehungsfähigkeit sowie der Stabilisierung des Ich wird mit einer analytisch-orientierten Therapie wie der TFP gearbeitet, Thema einer Therapiestunde kann beispielsweise die stattfindende Übertragung und Gegenübertragung in der Gegenwart zwischen diesen zwei Personen sein. Es wird gespiegelt, geklärt und gedeutet, was im Moment geschieht und zu bereits früher in der Therapie Erlebtem in Beziehung gesetzt. In nichtanalytischen Therapieformen gibt es weitere Möglichkeiten, das Ich in sehr instabilen Phasen zu stabilisieren. So bietet bei191
spielsweise die DBT neben dem Fertigkeitentraining (skills) auch andere verhaltenstherapeutische Hilfsmittel an, die einen Patienten in akuten Phasen unterstützen können, sich selbst zu helfen und sich so dem therapeutischen Aufarbeitungsprozess in einer analytischen Therapie wie der TFP zu stellen. Später kann es in einer weiteren Phase der Behandlung um die Integration des durch den Therapieprozess inzwischen stabiler gewordenen Ichs in seine eigene Geschichte gehen. Viele Borderline-Patienten beenden die Behandlung bereits dann, wenn es ihnen subjektiv besser geht und sie deutlich stabiler geworden sind. Hier darf nicht von einem Therapieabbruch gesprochen werden. Ob eine vertiefte Aufarbeitung der Lebensgeschichte im psychoanalytischen Verständnis sinnvoll und möglich ist, hängt weitgehend von der Bereitschaft des Patienten (und des Therapeuten) ab, sich auf einen solchen, die Stabilität des Patienten vorübergehend erneut erschütternden, aber voraussichtlich nicht mehr wirklich gefährdenden Prozess einzulassen. Das heißt, dass geklärt werden muss, ob dieser inzwischen wirklich neurosenah stabilisiert werden konnte,damit die Analyse zu einem echten Gewinn für ihn werden kann. Angestrebtes Resultat wäre eine Konsolidierung der Stabilität auf mindestens neurotischem Niveau und den damit verbundenen Möglichkeiten, im Leben auf einer reiferen Ebene zu funktionieren und davon zu profitieren. So kann die eigene Geschichte vom Patienten neu gesehen und neu interpretiert werden, ohne dass ein Schamgefühl Angst auslösen oder erneut zur Borderline-Abwehr führen müsste. Die kurzfristige Destabilisierung durch das analytische Setting im Liegen ist davon zu unterscheiden. Dort ging es um die unumgehbare Bearbeitung von psychotischen Zonen, um eine Chance zu haben, später im Rahmen einer Borderline-Behandlung überhaupt ein einigermaßen stabiles und neurosenahes Niveau zu erreichen. Es ist vergleichbar mit dem zwingend notwendigen, operativen Entfernen eines gefährdenden Tumors und der späteren Nachbehandlungsform im Sinne der Konsolidierung und Prophylaxe.
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Schizophrenie Zum Thema Erfolg und Grenzen der Psychosentherapie zitiere ich zu Beginn Auszüge von Benedettis Rede zu Manfred Bleulers achtzigstem Geburtstag, in der er seine tiefe Einsicht in Machbarkeit und Grenzen der Behandlung schizophrener Menschen, auch in die Grenzen der Reparation, eindrücklich und ehrlich dargelegt hat. In seinem Artikel »Meine Entwicklung in der Schizophrenietherapie« schreibt er: »Als ich vor 35 Jahren meine psychotherapeutische Arbeit mit schizophrenen Kranken bei Manfred Bleuler im Burghölzli begann, habe ich mir, entsprechend meiner naturwissenschaftlichen Ausbildung, einen einfacheren Weg als den tatsächlich vollzogenen vorgestellt. Eine spezifische Methodik soll da erlernt werden; diese therapeutische Methodik wird dann an der klinischen Entwicklung der Patienten geprüft, verifiziert, teilweise korrigiert, erweitert, verfeinert; eine immer größer werdende Anzahl Patienten wird später katamnestisch nachuntersucht; womöglich findet man, wenn im Laufe der Jahre Fortschritte stattfinden, dass Kranke, welche zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden, besser und schneller heilen, als solche, die man noch in den Anfängen therapierte [. . .] Ursprünglich glaubte ich, es gehe einfach darum Schizophrene zu heilen. Später erkannte ich, dass die ›innere Qualität‹ der Besserung mindestens ebenso wichtig ist wie die klinische Heilung, dass z. B. die Verwandlung eines Wahnsystems in etwas vielleicht originell Sonderlinghaftes, in eine vielleicht noch autistisch wirkende, aber nun sozial vertretbare Lebensansicht fast so wichtig ist, wie die Auflösung des Wahns, die Anpassung an die Norm [. . .] Besonders in der Betreuung solcher nicht geheilter Patienten lernte ich, dass die Schizophrenie eine Welt ist, in der ein Mensch manchmal jahrelang leben muss, um sich dort zu entwickeln. Es kommt darauf an, in welcher Weise er sich dort entwickelt und welche Erfahrungen der Dualität dabei für ihn möglich werden [. . .] (Aus dem Zitat von Bleuler 1980): ›Erst wenn man lange mit Schizophrenen gearbeitet hat, spürt man, dass die Heilung der Krankheit nicht immer genügt und nicht immer möglich ist. Wir sehen dann nicht 193
mehr jeden Schizophrenen als einen Gesunden, der von einer Krankheit befallen ist, sondern eher als einen Menschen, der in seiner Art um sein inneres Gleichgewicht ringt und dem wir helfen können, in seiner Art seinen Weg zu finden [. . .]‹ In dieser Arbeit haben sich mir auch Grenzen der Psychoanalyse gezeigt. Da ist etwa das Erleben mancher Kranken, wie ohne Lebensgeschichte zu sein; der gegenwärtige Ichzerfall lässt dann keine Zeit und keinen Raum für eine historische Betrachtungsweise; manche destruktive Potentiale scheinen dem Kranken selber aus einer Tiefe zu kommen, die keine lebensgeschichtliche Dimension mehr hat [. . .] Der Arzt wird für den Kranken nur real, indem er Partner ist, indem er erschüttert wird, sich herausfordern lässt [. . .] Es ist eine tröstliche Erfahrung, auch in der klinischen Arbeit, wie dankbar selbst autistische Kranke, die sich nur wenige Male verstanden fühlen, sein können. Nicht nur, was am klinischen Erfolg messbar ist, spielt in der Psychiatrie eine Rolle« (1985, S. 23ff.). Ich finde es wichtig zu respektieren, dass es hier nicht um »restitutio ad integrum« gehen kann, sondern darum, dem Leiden des Schizophrenen mitmenschlich eine Grenze zu setzen, die Psychose in Schranken zu halten und das Leben des Kranken mit mehr Lebensgefühl und Freude anreichern zu können. Therapie und Reparation können auch großes Leid nicht verhindern und garantieren keinen Erfolg,wie ich nun an einem Fallbeispiel zeigen möchte: Ich erinnere mich an eine meiner jungen Patientinnen, die ich über einen längeren Zeitraum intensiv behandeln konnte. Nach langer Zeit des Herumvegetierens zu Hause wurde sie von den Behörden des Wohnortes gegen ihren Willen in einem akut-psychotischen, verwahrlosten und desolaten körperlichen Zustand bei uns eingewiesen. Nach der Phase der Akutbehandlung, welche sowohl medikamentös wie psychotherapeutisch durch einen meiner damaligen Assistenten erfolgte, übernahm ich sie auf unsere Rehabilitationsstation. Dort gab es zwei respektive drei Gruppen von Patienten: Diejenigen, welche zeitlebens da bleiben wollten und die Station zu einer Langzeitstation machten und diejenigen, die längerfristig die Klinik verlassen wollten, für die es also eine Übergangs- und Rehabilitationsstation war. Dann gab es natürlich auch diejenigen, die in ihrer Meinung ambivalent waren und
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sich erst später für die eine oder andere Variante entschließen konnten. Meine Patientin nahm grundsätzlich verbal keine Stellung dazu ein, machte aber freiwillig und sehr aktiv in der Gruppen- wie in der Einzeltherapie bei mir mit. Bei ihr stellten sich nach einer gewissen Zeit fast unglaubliche und wunderbare Fortschritte ein. Sie konnte ihre Psychose als psychotisch erkennen, Abstand gewinnen und sich in weiteren Schritten davon anhaltend distanzieren. Sie versorgte ihre psychotische Welt in ihrem Innersten und schloss sie dort gut ein, im Wissen, dass diese dort lauert und ausbrechen will, um sie in die Welt der Psychose zurückzuholen. Wir sprachen viel über diese Ausbruchversuche und sie stabilisierte sich zusehends. Später traten wir in eine weitere Phase der Behandlung ein. Sie begann außerhalb der Klinik, etwa dreißig Kilometer entfernt, in einer Arbeitsrehabilitation zuerst halbtags, dann ganztags zu arbeiten, um einen Beruf, den sie gewählt und jahrelang davon geträumt hatte, zu erlernen. Dafür musste sie früh morgens mit der Bahn eine Stunde reisen und mittags, später abends, in die Klinik zurückkehren. Die intensive Psychotherapie, inzwischen meist ohne medikamentöse Unterstützung, musste daher reduziert und auf den Abend verlegt werden. Die Fortschritte stellten sich auch weiterhin ein. Sie besuchte inzwischen zusätzlich eine öffentliche, die Berufsausbildung begleitende Schule. Inzwischen war sie auch eine Beziehung zu einem gut kompensierten, manischen Patienten eingegangen. Dieser wiederum stand selbst in Behandlung, allerdings, im Sinne der medikamentösen und sozialpsychiatrischen Behandlung, ohne Psychotherapie. Es war die erste Liebesbeziehung in ihrem Leben. Die beiden begannen die Welt gemeinsam zu entdecken. Es stellten sich später Beziehungsprobleme ein, die wir therapeutisch angingen und meist erfolgreich lösen konnten. Wie zu erwarten, kam es zwischendurch zu Loyalitätskonflikten, wenn sie sich zwischen Therapeut und Freund nicht orientieren konnte. Es gab Eifersucht von Seiten des Freundes auf mich. All das konnte nicht nur besprochen, sondern auch bereinigt werden, obschon der Freund nicht zu gemeinsamen Gesprächen bereit war. So nahte der Moment des Austritts aus der Klinik. Sie beschloss, mit ihrem Freund zusammen in einer Wohnung zu leben. Inzwischen hatte sie die Abteilung gewechselt und wohnte in der letzten stationären Phase auf einer anderen offenen Station, in welcher man sich intensiv unterstützt auf den Austritt vorbereiten kann. Es war die Annäherung an die Normalität. Ich bot ihr die Möglichkeit an, danach weiterhin zu mir ambulant in die Therapie zu kommen. Aber sie begann sich nun vor mir zu schämen, was ich an ihrem zunehmend zögerlichen Verhal-
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ten mir gegenüber in den Therapiestunden bemerkte. Darauf angesprochen konnte sie dies verbalisieren und erklärte mir, dass ich sie in den schlimmsten, psychotischen Zeiten gesehen habe und sie dies heute nicht mehr ertragen könne. Sie schäme sich nur noch vor mir und sie wolle mich nicht mehr sehen. Sie wolle kranke Zeiten und gesunde Zeiten definitiv trennen. All meine Versuche, darauf verstehend einzugehen und dies zu bearbeiten, insbesondere mein Argument, dass man seine Geschichte nicht ablegen, loswerden oder gar verstecken könne, überzeugten sie nicht. Sie brach die Therapie bei mir unvermittelt ab. Sie wechselte zu einer Therapeutin, welche die Behandlung ambulant fortsetzte. Über drei oder vier Jahre meldete sie sich einmal pro Jahr schriftlich bei mir. Sie schickte mir einmal ein Buch, welches ich doch lesen solle, es habe ihr sehr geholfen oder sie schrieb mir, wie gut es ihr ginge. Plötzlich kam nichts mehr, bis ich von ihr einen verzweifelten Anruf aus einer weit entfernten Klinik erhielt, in die sie eingetreten war. Mein Angebot, in die Therapie zu mir zurückzukommen, konnte sie nicht annehmen. Wie ich erfuhr, war sie wieder tief in ihre Psychose zurückgefallen. Der Ausflug in die Gesundheit endete nach einer Latenz leider mit der Rückkehr in die psychotische Welt.
Ich habe dieses Beispiel angeführt, weil man meist von den erfolgreichen Behandlungen hört und liest, aber wenig von deren Grenzen. Diese Therapie zeigt sowohl Erfolg, aber auch die Grenze und Ohnmacht des Therapeuten, was den Verlauf betrifft. Trotz den vielen Gefahren und Grenzen ist es eine unendlich dankbare Aufgabe, sich mit schizophrenen Menschen auf eine Therapie einzulassen. Sie führen auch uns an unsere Grenzen und helfen mit, die eigene Entwicklung reifer zu gestalten, denn sie führen uns an Orte, wo wir sonst nie hinkämen. Was aber sind die therapeutischen Werkzeuge, die für eine Reparation benötigt werden? Die Positivierung des Negativen, die wahninterne und wahnexterne Deutung gehören dazu. Positivierung des Negativen: Wenn der duale Raum geschaffen und von beiden als gemeinsamer Ort der Begegnung akzeptiert ist, die Übergangssubjekte zum Alltag der Therapie werden können, sich Zeichen der progressiven Psychopathologie zeigen, wagt der Therapeut zunehmend Stellung in der Wahnwelt zu beziehen und den Patienten, auch gegen den Wahn, zu entlasten. Eine 196
durchgehende Strategie der erfolgversprechenden Psychosentherapie ist es, emotionale Betroffenheit zu zeigen und den unermüdlichen Versuch zu unternehmen, das Gefährliche und Bedrohliche, sogar das Destruktive, zu positivieren und ihm dadurch eine neue Gestalt zu geben. Die sonst weit verbreitete Konfrontation mit der Wirklichkeit treibt den Patienten in den Widerstand und zwingt Therapeut und Patient auf zwei verschiedene und gegensätzliche Seiten. Therapeut und Patient bleiben bei der nichtkonfrontativen Strategie im dualen Raum anfänglich noch durch den Wahn verbunden. Wenn der Patient mir berichtet, sich verletzen oder umbringen zu müssen, weil er ein Nichts sei und keine Berechtigung zum Leben habe, weise ich ihn darauf hin, dass ich es nicht so erlebe und er mir wichtig sei, wie er ist. Außerdem könne ein Nichts doch wohl nicht derart stören, dass es eliminiert werden müsste! Wenn er das Argument des Schlechten und Bösen vorbringt und daraus schließt, sich umbringen zu müssen, lautet meine mögliche Antwort, er sei für mich weder schlecht noch böse. Ich glaube daran, dass die Kraft, die ihm jetzt als negativ vorgeworfen werde, sich zum Guten wenden und er dadurch der Welt und sich mehr bringen könne, als wenn er sich jetzt verletze oder umbringe. Ich mache die Erfahrung, dass es durchwegs gelingt, allem Negativen eine positive Betrachtungsweise nicht entgegen, sondern vorerst daneben zu setzen und dem Patienten für diese eine Gleichberechtigung abzuringen. Oft ärgert er sich deswegen, weil ihm vielleicht die Schuld oder das Schlechte eine Existenzberechtigung gibt, die er selbst im Positiven nicht finden kann. Gerade dann ist es wichtig, eine Dualität sichtbar zu machen, in welcher der Patient es nicht mehr mit sich im Wahn allein abhandeln kann, sondern sich eine Gegenkraft im dualen Raum abzeichnet. Ich habe noch nie erlebt, dass solche Interventionen sich gegen die Therapie, gegen mich als Therapeuten und gegen den Patienten gerichtet haben. Im Gegenteil, oft erfahre ich viel später, wie lebenserhaltend und sogar lebensrettend meine gegensätzliche Stellungnahme für ihn damals war. Bedingung dafür ist jedoch, dass es geschehen muss. Ich darf mich nicht aus einer distanzierten, abstinenten Außenposition heraus, wenn auch einfühlend, für ihn wehren. Ich muss mich 197
zeit- und teilweise mit ihm identifizieren können, so dass ich die Unausweichlichkeit, welcher der Patient ausgeliefert ist, real spüren und mitfühlen kann. Das gelingt im Alltag nicht immer. Manchmal hilft das Unbewusste und Vorbewusste nach, zum Beispiel im Rahmen von Träumen: Ein junger, sehr schwieriger Patient, mit dem ich intensiv und recht erfolgreich – allerdings zu dem Zeitpunkt nur wahnintern – arbeiten konnte, wurde eines Nachts akut suizidal. Nach seinem Suizidversuch, den er nicht etwa versteckt beging, sondern verzweifelt auf der Station und vor der Nachtwache, die eingreifen konnte, berichtete er, er werde verfolgt und es gebe für ihn kein Entweichen mehr, er werde aus der Luft erschossen. In derselben Nacht hatte ich folgenden Traum: Ich war in einem Keller und wollte mich vor einem eben stattfindenden Luftangriff durch Militärflugzeuge verstecken. Die Tür zum Schutzraum war bereits verschlossen und ich konnte nicht zu den anderen hinein. Ich war den Blicken aus der Luft ausgeliefert und bot ein gut sichtbares Ziel. Ich sah durch die Fenster die Flugzeuge auf mich zurasen. Sie wirkten auf mich wie Miniaturflugzeuge, Spielflugzeuge, aber ich sah die Gesichter der Piloten, die auf mich zielten, deutlich vor mir und erschrak zutiefst. Aber mein direkter Blick in die Augen der Piloten schützte mich vor dem Abschuss. Sie drehten ab und flogen weiter. Im Traum war ich zuerst völlig verzweifelt und erkannte meine Hoffnungslosigkeit, war dann aber froh, entkommen zu sein. Morgens wusste ich nur noch, dass ich schlecht geträumt hatte. Als ich in die Klinik kam und vom Suizidversuch des Patienten hörte, sprach ich mit ihm darüber. Er schilderte mir in etwa meinen Traum als sein Realerlebnis im Wahn. Sofort war der eigene Traum präsent.
Mir war klar, dass ich über nicht bekannte Kanäle die Not des Patienten wahrgenommen und auf meine Art gelöst hatte – eine Koinzidenz, die ich wie viele andere Therapeuten immer wieder erlebe, was nicht einfach als Zufall abgeschrieben werden kann. Benedetti schreibt dazu: »Ja, aufgrund meiner mehrere Jahrzehnte umfassende Tätigkeit als Therapeut und Supervisor sind mir manche Erscheinungen doch so – relativ – häufig begegnet, dass ich sie nicht mehr als ›Ausnahmen‹ oder gar ›Zufälle‹ bezeichnen kann [. . .] Dabei rücke ich zwei Dinge in den Vordergrund. Einmal die Erscheinung des Traumes, diesmal beim Therapeuten 198
(nicht beim Patienten) und seine Bedeutung für den Fortgang der Therapie, die erweitert wird durch die Erscheinung der therapeutischen Phantasie. Zum andern wende ich mich dem Grundprinzip jeder Psychotherapie zu: der Dualität, die auch eine Dualisierung seelischer Phänomene einschließen kann.« Benedetti unterscheidet zwei Gruppen von Träumen: »Auf der einen Seite haben wir jene Träume, in denen der Therapeut in die trostlose Welt seines Patienten versetzt wird [. . .] Solche Träume scheinen mir die Funktion zu haben, dem Therapeuten zu helfen, sich die innere Situation seines Patienten zu vergegenwärtigen, diese mit ihm zu teilen, um dann, aus dessen miterlebten Welt heraus, nach neuen, gemeinsamen Wegen zu suchen [. . .] Auf der anderen Seite haben wir therapeutische Träume, die die Situation des Patienten direkt gestalten, verändern – wohl im Sinne einer Wunscherfüllung. Sie gehen aber über bloße Wunscherfüllung des Therapeuten hinaus, weil sie meiner Erfahrung nach auch eine gewisse prognostische Bedeutung haben. Gelingt es dem therapeutisch Unbewussten, dem Patienten im Traum eine neue Aussicht zu eröffnen, so ist dies auch ein Zeichen, dass tatsächliche Möglichkeiten dafür vorhanden sind. Wenn hingegen der Therapeut, träumend, nur trostlose Bilder von der Lage seines Patienten bekommt, ist die psychotherapeutische Prognose ernster [. . .] Eine interessante Erfahrung, die ich als Supervisor von Schizophrenietherapien mache, ist die, dass manche Therapeuten in ihren eigenen Träumen nicht nur in die Nähe, sondern auch an die Stelle ihrer Kranken treten, um deren Belastungen und Ängste zu übernehmen und zu überwinden« (1992, S. 129f.). Ich kommentierte den Suizidversuch des Patienten in unserem Gespräch mit einfachen Worten, die aber aufgrund meines Traumes emotional sehr stark besetzt waren: »Sie haben eine solch gewaltige Gefahr überlebt und es ist nicht geglückt, Sie zu eliminieren. Ich bin sehr froh, dass wir nun darüber sprechen und den Weg wieder gemeinsam weitergehen können.« Der Patient beruhigte sich und berichtete mir, er habe nicht mehr die Kraft gehabt, mich zu suchen, aber er habe gewusst, dass ich, wäre ich da, ihn nicht allein lassen und ihn beschützen würde. Ich verstand und fühlte sehr genau die Not, in welcher er sich befunden hatte. Hätte 199
er seinen Suizidversuch im Verborgenen unternommen, wäre dieser mit Sicherheit geglückt. Dieser junge, noch unmündige Patient wurde später von seinen Eltern gegen meinen ausdrücklichen Rat und gegen seinen Willen von meiner Station in eine andere, leider nicht psychotherapeutisch orientierte Klinik verlegt und die Therapie bei mir so abgebrochen. Es war wohl der einzige Patient, der sich physisch heftig dagegen wehrte, aus der geschlossenen Station, wo ich ihn damals behandelte, herausgenommen zu werden. Zu meinem größten Bedauern brachte er sich nach kurzer Zeit um. Positivieren ist für mich der Boden jeder Deutung. Es gibt unendlich viele Beispiele, wie auf den ersten Blick für uns banale, negativ angehauchte Äußerungen des Patienten konsequent positivierend umgedeutet werden können und sollen. Positivieren ist eine harte psychotherapeutische Arbeit und darf auf keinen Fall mit Schönreden oder mit banalem, tröstendem Wegreden verwechselt werden. Wahninterne Deutung: Interessanterweise bespricht Benedetti in »Psychotherapie als existenzielle Herausforderung« zuerst die wahnexterne Deutung, obschon meiner Ansicht nach im therapeutischen Prozess die wahninterne Deutung über lange Zeit der externen vorangeht. Wahninterne Deutungen tragen entscheidend zur Entwicklung und Etablierung der therapeutischen Beziehung, der gemeinsamen Sprache und Sprachentwicklung im dualen Raum bei. Wahninterne Deutung beschreibt Benedetti so: »Diese zielt darauf, dass der Therapeut bereit ist, in den Wahn seines Patienten wie in eine inszenierte Handlung, die sich am Rande der normalen Realität abspielt, einzutreten, freilich immer er selbst bleibend, bis zu dem Zeitpunkt, da es ihm gelingt, dem Patienten das ›progressive Symbol‹ anzubieten, das die Szene von selbst erweitert, so dass schließlich auch unsere logische Realität im ehemaligen Raum des Wahns Platz findet. Eine Auseinandersetzung mit dem Wahn als solchem findet hier also nicht statt. Vielmehr wird eine phantasmatische Kommunikation innerhalb der vom Wahn diktierten Grenze angestrebt« (1992, S. 87). 200
Ich fragte vor Jahren einen Patienten, warum er sein Generalabonnement, welches er sich auf meine (naive) Empfehlung hin für einen kleinen Aufpreis hatte erstehen können, nur für den Arbeitsweg benutze – er blieb in seiner Freizeit meist zu Hause oder in der Nähe seiner Wohnung –, obschon er damit auf allen Schweizer Bahnen, Schiffen wie Postautos freie Fahrt gehabt hätte. Er erklärte mir dazu, dass er eingeschlossen und gefangen in einer sehr kontrollierten und engen Welt lebe. Dort sei auch die Kraft beheimatet, welche ihn überhaupt erst am Leben erhalte. Er könne sich nicht weit entfernen, da er aus energetischen Gründen an sein Gefängnis gebunden sei. Entferne er sich zu weit, so löse er sich auf und verliere sich, weil die Energie, von der sein Leben abhänge, nicht mehr bis zu ihm reiche. Der gleiche Patient fuhr aber jeden Tag 20 Kilometer in eine größere Stadt zur Arbeit. Wollte er dieselbe Strecke am Wochenende reisen, geriet er bald in Panik und kehrte um. Diese für uns offensichtliche Widersprüchlichkeit war ihm zu diesem Zeitpunkt, zu dem zwei getrennten Buchhaltungen gleichzeitig in ihm abliefen, nicht bewusst. Darauf angesprochen, antwortete er mit einer Selbstverständlichkeit, dass ich dies nicht verstehen könne, da mir wie auch allen anderen Menschen seine spezielle Optik fehle. Ich interessierte mich von da an sehr für seine Welt und wollte mehr verstehen. Als er bemerkte, dass es mir nicht darum ging, ihn zu widerlegen, ihm zu widersprechen und ihn von einer anderen Sichtweise zu überzeugen, wie er es in den Jahren zuvor mehrfach erlebt hatte, öffnete er sich, erzählte und erklärte mir wie einem Schüler, wie es in der Welt wirklich sei und wie diese eigentlich funktioniere. Wir redeten intensiv über das sein Leben garantierende Zuhause. Wiederholt berieten wir, wie er da hinaus finden könne, was es für Möglichkeiten gäbe, die Energie mitzunehmen und vieles mehr. In einer Therapiestunde, in der er sehr leidend vom Wochenende berichtete, hatte ich einen Einfall und sagte ihm, er müsse für die Mächte, die ihn steuerten, eine sehr wichtige Person sein: so wichtig, dass man ihn nicht verlieren wolle. Er könne doch aushandeln, ein wenig mehr Energie mitzunehmen – gegen ein Pfand und das Versprechen, dass er wieder zurückkehren werde. Ihm seien die Mächte doch auch wichtig und sie seien gemeinsam schon so viele Jahre gegangen. Er nahm diese Idee und die Umdeutung begeistert, ja mit Freude und erleichtert an. Diese positive Umdeutung, dass er nicht ein Gefangener der Mächte sei, sondern eine wichtige Person, ein Partner, den man nicht verlieren wolle, änderte vieles in unserer Beziehung und konkret auch in seinem Leben.
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Hier handelte es sich um eine reine wahninterne Deutung, eine Positivierung, die es dem Patienten erlaubte, die Dinge im Wahn anders zu sehen. Im folgenden therapeutischen Prozess ging es rasant vorwärts. Wie mir bekannt ist, reist er heute in ferne Länder, geht regelmäßig mit einem Freund in die Ferien und lebt ein aktives Leben mit zwar immer noch doppelter Buchhaltung, was aber für Außenstehende nicht so unmittelbar erkennbar ist. Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass es im frühen Stadium oft darum geht, die wahnexterne Deutung nicht kategorisch auszuschließen, sondern so weit nötig in die notwendigen Konfrontationen mit der Realität zu integrieren. Diese sollte in der Anfangsphase der Behandlung nur dann stattfinden, wo es sich im Konflikt mit und aus gesellschaftlichen Problemen heraus nicht vermeiden lässt. Wenn der Therapeut nur seine intern-deutende Stellung in Konflikten mit der Außenwelt konsequent weitergehen würde, müsste er sich zu stark auf die Seite des Wahns stellen (Kollusion), was nicht zur Lösung beiträgt. Er bleibt, auch wenn er sich sonst im Rahmen der Deutung ganz der Sprache und Logik des Wahns bedient, als Person und mit seiner Identität immer Teil der Außenwelt. Es kann praktische Probleme geben, wo es dringend notwendig ist, dem Patienten klar zu machen, dass er hier in einen Konflikt gerät, der ihm schadet und man dies als therapeutischer Partner nicht zulassen wird, obwohl man seine Position versteht. Wenn der Kranke sich als Herrscher, Jesus oder sonst eine Figur fühlt und deshalb seine ihm zustehende und existenzsichernde Rente zurückweist und ärgerlich ablehnt, so nützt alle wahninterne Deutung nichts, wohl aber das Kombinieren von zugewandter, wahninterner Deutung, gekoppelt an eine nicht verletzende Konfrontation mit der Realität. Ich hatte einmal einen Patienten, der sich in dieser Situation befand. Zu ihm sagte ich mit Erfolg: »Ich glaube nachfühlen zu können, dass es Sie kränkt und für Sie eine unzumutbare Beleidigung sein muss, wenn jemand Ihnen Geld anbietet, wo Sie in Ihrer Position und aus Ihrem Erleben heraus auf nichts und niemanden angewiesen wären. Doch Sie leben jetzt diesbezüglich in einem Land, in welchem Sie mit Ihrer Währung wohl kaum einen Kaffee in der Cafeteria erhielten, wenn Sie sich der Ihnen angebotenen Währung nicht bedienen kön-
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nen. Sie sind in Ihrer Situation vielleicht vergleichbar mit einem reichen Menschen aus einem anderen Land. Niemand kennt hier wirklich seinen Reichtum. Er kann mit seiner Währung, die aber eine andere ist, hier nichts einkaufen. Es sind auch keine Wechselstuben vorhanden, wo er seinen Reichtum in Geld der Landeswährung wechseln könnte. Es ist ein menschliches Angebot, Ihnen dieses Geld anzubieten und ich denke, wenn Sie nicht verhungern wollen, müssen Sie es annehmen. Es würde ansonsten auch unsere Beziehung und Therapie existentiell bedrohen.«
Solche Interventionen, die weder zynisch, noch humorvoll, noch von oben herab, sondern mit erforderlichem Respekt vor der Not des Patienten ernst und glaubhaft formuliert werden und die der Therapeut oft erst erfinden muss, bilden die Brücke. Sie sind der heikle Spagat zwischen den zwei, sonst unversöhnlich aufeinanderprallenden Welten. Wahninterne Deutung erfordert das sich emotional tiefe Einlassen in die Systeme der Wahnwelt, deren sich der Kranke bedient. Ein Patient, der mich angriff und auf meine Akutstation verlegt werden musste und über den ich bereits berichtet habe, erklärte mir, dass er als Schöpfer der Welt keine Nahrung mehr zu sich nehmen werde, obschon er an Hunger und Durst litt. In der Not wählte ich einen wahninternen Deutungsweg, um schonend und verständnisvoll wahnextern zu deuten. Es war derselbe Patient, der mich unmittelbar nach der Verlegung um vieles (Einreiben mit Pulmex, Öffnen des Fensters etc.) gebeten und mir also auch seine menschliche, nicht-göttliche Seite gezeigt hatte, was für ihn nicht unlogisch oder widersprüchlich war. Er signalisierte mir ständig, dass er die Nähe zu mir benötigte und mich auch akzeptierte. Ich erklärte ihm seinen »Irrtum«, trotz Hunger und Durst keine Nahrung zu benötigen, in der Sprache der Bibel, in der er sich gut auskannte. Ich wies ihn auf die Schöpfungsgeschichte des Menschen hin. Da steht, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf. Dieses Argument stellte ich ihm zur Verfügung: »Ich fühle, dass Sie zum einen Hunger und Durst haben, es aber nicht in Ihrem Bild von sich als Gott unterbringen können. Ich verstehe auch warum. Das, was ausmacht, dass Sie sich selbst als Gott fühlen, ist der Aspekt des Ebenbilds Gottes. Als Hilfe auf dem schweren Weg, den Sie zurzeit gehen müssen, schenkt Ihnen Gott, dass Sie, auch wenn Sie sich selbst nicht so intensiv spüren können, sich nicht ohne ihn fühlen müssen, sondern sich trotzdem als
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nach seinem Ebenbild erschaffen intensiv erleben können. Deshalb müssen Sie auch nicht an Hunger und Durst leiden, sondern dürfen und sollen gut für sich sorgen.«
Nach dieser Deutung lud er mich zu einem Tee ein, den er für uns zubereiten wollte. Dafür mussten wir diesen zuerst zusammen aus seinem Zimmer auf der offenen Station holen gehen. Der Grundstein für eine lang dauernde, intensive und erfolgreiche Therapie war damit gelegt. Abschließend noch ein Zitat von Benedetti, welches wie das Beispiel selbst eine Brücke zum Thema wahnexterne Deutung schlägt: »Die wahninterne Deutung erfolgt durch ein positivierendes Symbol, das zunächst nicht als Alternative zum Wahn entsteht, sondern seine Wurzel eher im psychopathologischen Erleben des Kranken hat und noch dessen psychotische Sprache spricht oder sprechen lässt [. . .] Indem der Therapeut den Wahn nicht von außen, vom Standpunkt der normalpsychologischen Realität her deutet, sondern den präverbalen ›Überstieg‹ (Conrad) zur Tiefenperson des Kranken leistet, entwickelt sich ein ›dialogischer Autismus‹ – man verzeihe mir diesen Neologismus –, indem eine Ich-Du-Beziehung in der Chiffrensprache des Wahns stattfindet [. . .] Durch das Austauschen der Wahnaussagen des Patienten und der sie konstellierenden therapeutischen Gegenvorstellung ergeben sich bei der wahninternen Deutung keine Zusammenstöße, sondern ›Übergangssubjekte‹, ›transaktionelle Objekte‹, in denen Teile des Patienten und Teile des Therapeuten in progressiver Weise fusioniert werden, aus denen dann die realen Verhältnisse hervortreten [. . .] Innerhalb eines solchen gegenseitigen ›Überstiegs‹ kann der nicht mehr in seinem Autismus geborgene Patient eine große Angst verspüren [. . .] Gleichzeitig mit dieser Angst entsteht aber auch Hoffnung; denn er schreitet nun vom Imaginären, das heißt, rein Wahnhaften, zum echt Symbolischen, das heißt, zu Projektionen fort, in denen die Person des Anderen mehr und mehr in ihrem Eigenrecht erkannt wird« (1992, S. 90). Wahnexterne Deutung: Benedettis Beschreibung lässt uns verstehen, was er grundsätzlich damit meint: »Die ›wahn-externe‹ Deu204
tung beinhaltet die Konfrontation des Wahns mit unserer Realität« (1992, S. 86). Wann und wie man diese wahnexterne Deutung an den Patienten heranträgt, werde ich hier besprechen, da gerade dazu heutzutage verschiedene Auffassungen und Formen der Anwendung bestehen. Benedetti führt in diesem Zusammenhang aus: »Die wahn-externe Deutung akzeptiert die Wahn-Aussage als solche nicht – sie widerspricht ihr –; aber sie akzeptiert den Kranken; das heißt, jedes Anliegen, dass wir in der WahnAussage spüren oder ahnen und das wir mit der Identifizierung mit der Tiefenperson des Kranken vollziehen. ›Wahn-extern‹ nennen wir also eine Deutung, die den expliziten Wahn-Inhalt zwar in Frage stellt, ihn aber durch etwas ersetzt, das in unserer psychotherapeutischen Sicht als eine positive, latente Intention des Wahns erscheint« (1992, S. 86). Gerade die Art und Weise, wie Konfrontation geschieht, kann entscheidend sein, ob all unser vorgängiges Arbeiten und Bemühen mit und um den Patienten letztendlich an diesem heiklen Übergang zum Bruch führt oder man konstruktiv die Tür zur Realität zu öffnen vermag, um den Patienten einzuladen und ihn vorsichtig zu begleiten, die ersten Schritte als ganzes Ich in unsere Welt zu tun. Konfrontation bedeutet für den Patienten im ersten Moment zunehmende Distanz und Entfernung des Therapeuten und Angst, in Frage gestellt, nicht verstanden zu werden. Für uns Therapeuten bedeutet es, eine unangenehme Spannung zu erzeugen, Harmonie und Gleichgewicht in der Beziehung kurzfristig zu stören, denn wir konfrontieren den schizophrenen Menschen nur in Phasen der Entspannung. Sonst erreichen wir gar nichts. Wir lösen Destabilisierung aus und bewirken damit Gefühle wie Ärger, Wut und Unverständnis für unser Tun. Dies alles bedeutet, sich emotional in einen anstrengenden Prozess einzulassen, in welchem es um alles gehen kann. Wie konfrontiert man therapeutisch in alltäglichen Situationen? Zunächst gilt es eine Ausgangslage des Vertrauens und der Zuwendung zu schaffen. Dazu gehört, sich selbst als Therapeut vor Augen zu führen und bewusst zu machen, wie unsinnig die Forderung ist, von einem schizophrenen Menschen Einsicht zu erwarten. Jeder, der schon einmal eine politische Sendung im Fernsehen gesehen hat oder eine 205
Diskussion live mitverfolgen konnte, weiß, wie uneinsichtig wir Menschen grundsätzlich sind. Hat jemals ein Politiker zugegeben, die eigene Meinung überdenken und die des Gegners noch einmal prüfen zu wollen, weil in der Diskussion neue inhaltliche Aspekte aufgetreten sind, die man zuvor selbst nicht hatte sehen und denken können? Das Gleiche gilt für Kontroversen zum Thema somatische Medizin und Psychiatrie, biologische Psychiatrie und psychotherapeutische Psychiatrie, Psychiatrie und Psychotherapie oder Hirnforschung und Psychiatrie/Psychotherapie. Auch wir Therapeuten verteidigen beharrlich unsere Schulen; Überzeugungen und Lehren, die sich seit Jahrzehnten unversöhnlich starr gegenüberstehen und sich kaum aufeinander zu bewegen. Wie gern lassen wir uns als Privatperson und Fachmann mit etwas Unangenehmen konfrontieren? Und wenn, von wem? Was löst es bei uns aus? Erst, wenn wir Rechenschaft über uns selbst ablegen, begreifen wir, was es wohl für einen, bedingt durch seine Krankheit, wiederholt gekränkten Menschen bedeuten muss, schon wieder zu erfahren, dass man seine Sicht der Welt nicht so wahrnimmt wie er. Ein damals etwa 30-jähriger Patient, der nach mehreren Jahren Klinikaufenthalt – anfänglich ohne jede Aussicht auf Entlassung – bereits einige Jahre stabil in der Welt außerhalb der Klinik lebte, wurde in dieser Zeit ambulant von mir behandelt und machte große Fortschritte. Nach Jahren gut verlaufener Therapie setzte er plötzlich und für mich absolut unerwartet die gemeinsam vereinbarte Medikation von 25 mg Clozapin eigenständig ab. Dies geschah nach einem Seminar einer religiösen Gemeinschaft, die einen Gastredner eingeladen hatte. Der Patient erhielt die Gelegenheit, persönlich mit diesem zu sprechen. Auf dessen Ratschlag hin beschloss er, ab sofort ohne Medikamente weiterzuleben, um sich nicht gegen Gott zu versündigen, der sagt (Zitat Bibel): »Ich bin dein Gott, dein Heiler.« Die diesem Seminar folgende Therapie-Sitzung machte die Konfrontation auf allen Ebenen nötig. Wir hatten die Dosis seinerzeit bereits nach Austritt aus der Klinik von 400 mg in größeren Schritten auf 150 mg reduziert. Wir setzten die Medikation langsam und sehr vorsichtig bis zur homöopathischen Dosis von 25 mg Clozapin herunter, was der Patient als unterste Grenze schlussendlich akzeptiert hatte. Dem war vorausgegangen, dass ich den Schritt unter 100 mg auf 75 mg eigentlich nicht eingehen wollte. Aus
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meiner damaligen Sicht betonte ich ihm gegenüber, damit ein sehr hohes Risiko einzugehen. Wegen der guten Compliance des Patienten und der sehr stabilen therapeutischen Beziehung auch in Krisenzeiten ließ ich mich dennoch darauf ein. Er konnte mich später für den weiteren Schritt auf 50 mg gewinnen, weil ich zugeben musste, dass sich äußerlich nichts verändert hatte und er aus seinem Innenleben auch keine wahnhaften Veränderungen berichtete. Dort angelangt bemerkte ich nach einer Weile eine subtile Instabilität, die zuvor nicht da gewesen war. Auch er registrierte sie, konnte aber selbst sehr gut gegensteuern. Er berichtete mir zum Beispiel, dass er jedes Mal, wenn er zu mir komme und bei der Praxistür angelangt sei, von bewaffneten Soldaten erwartet würde, welche das Schwert gegen ihn richteten und ihn daran hindern wollten, einzutreten. Er wisse inzwischen sehr wohl, dass diese nicht wirklich existierten. Er würde sie mit der Hand wegwischen, eine symbolische Handlung, wie er betont, und ohne jede Furcht und gern zu mir kommen. Seine Möglichkeit, Realität und Psychose in unmittelbarer Nähe auszuhalten und im Sinne von zwei Realitäten unterschiedlicher Hierarchie zuzulassen und dabei ruhig und gelassen im Sinne der »Normalität« damit umzugehen, beruhigte mich. Er bestand später gegen meinen ausdrücklichen Rat auf einer weiteren Reduktion auf 25 mg, weil der Gewinn seines Selbstgefühls und seiner Freiheit groß, aber noch nicht optimal sei und er den Verlust dieser zusätzlichen Freiheit, der durch die Medikamente bedingt sei, nicht weiter in Kauf nehmen wolle. Er habe in den Jahren genug begriffen und gelernt, um damit umgehen zu können. Er wolle nie mehr in eine Klinik gehen müssen und sei bereit, allein auf meine festgestellte negative Veränderung hin die Medikamente wieder auf 50 mg zu erhöhen. Es stellte sich die Frage des gegenseitigen Vertrauens. Vertraue ich ihm, dass er inzwischen so herangereift ist und selbst entscheiden kann oder gebe ich der Krankheit mehr Gewicht, obschon er bisher immer Recht behalten hatte? Anderseits: Vertraute er auf meine Erfahrungen als Arzt nicht mehr? Auf mich als Person, der doch jede Veränderung bisher mutig mitgemacht hatte? Ich entschied mich, es nicht auf einen Machtkampf ankommen zu lassen, sondern auf die Partnerschaft zu setzen. Es wurde deutlich, dass er unter 25 mg schon bald etwas mehr halluzinierte, aber der Fortschritt der Psychotherapie zahlte sich nach wie vor aus. Er gab dankbar an, sich so wohl wie nie zuvor zu fühlen. Tatsächlich traf er in dieser Phase im Alltag sehr kluge Entscheidungen, die mich überraschten. Medikamente waren kein Thema mehr. Über ein Jahr ging dies gut, bis er an dieser Veranstaltung teilnahm.
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Wir arbeiteten damals in einem bereits sehr reduzierten Setting von einem Termin pro Monat, der 50 Minuten dauerte. Zuvor begab er sich jeweils ins Labor, in welchem die Leukozyten kontrolliert wurden. Die Labor-Resultate wurden mir umgehend durchgefaxt, bevor der Patient gleichentags zu mir kam. An diesem besagten Tag kamen aber keine Labor-Resultate und der Patient war zur vereinbarten Zeit nicht bei mir in der Praxis erschienen. Das war unüblich und untypisch für ihn. Ich rief besorgt im Labor an. Die Laborantin warnte mich vor; der Patient sei zwar da gewesen, aber seine Werte wären atypisch abweichend und zudem sei er aggressiv gewesen, hätte über die Medikamente geschimpft und sich bedrohlich gegen meine Person geäußert. Etwa zehn Minuten später läutete es und ich hörte ihn die Treppen hinaufstampfen. Er betrat die Praxis mit den mir von früher bekannten Augen des akuten Psychotikers. Der bohrende, stechende und durch mich hindurchgehende Blick sagte mir sofort, was los war. Ich bat ihn in den Therapieraum herein und nahm wie üblich Platz auf meinem Stuhl, er jedoch nicht. Er tigerte durchs Zimmer, von einer Ecke in die andere, schimpfte über mich und näherte sich mir immer wieder in drohender Gebärde, allerdings nur bis zu einer sicheren Entfernung. Dabei mied er konsequent den direkten Blickkontakt zu mir, was akute Psychotiker sonst eher nicht tun. In mir löste dieses Verhalten gleichzeitig verschiedene Gefühle aus: Solche der Angst vor ihm, der möglichen Gewalt gegen mich, aber auch Gefühle des Mitleids und die Befürchtung, er könnte alles, was er sich bisher erfolgreich aufgebaut und erreicht hatte, zerstören. Ich ließ es in mir gären und ihn sich aussprechen, alles darzustellen, was er an Argumenten gegen die Therapie, insbesondere gegen die Medikamente und mich als Person vorzubringen hatte, ohne zu widersprechen und hörte ihm aufmerksam zu. Er war sehr wütend, aber es hatte einen allgemeinen Charakter und war weniger auf mich gerichtet, auch wenn er verbal alles auf mich bezog. Obschon es objektiv viele Gründe dafür gegeben hätte, ihn zu unterbrechen, hielt ich es aus. In meinem Aushalten bemerkte ich zunehmend, dass sich meine Angst erstaunlicherweise legte, ja sogar meine emotionale Nähe zu ihm wieder ihren Platz einnehmen konnte. Trotz seiner inneren Ambivalenz konnte er jetzt seinem Konstrukt von mir, das er sich seit dem Seminar aufgebaut hatte, nicht mehr treu bleiben, weil es ihm langsam möglich wurde, mich wahrzunehmen und er sich mir real gegenüber fand. Er begann offensichtlich zunehmend, mich im Raum wahrzunehmen und zu spüren. Vorsichtig warf er mir Blicke zu. Sein gesunder Anteil »setzte« sich neben den kranken! Ich realisierte, dass es um sehr viel ging.
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Er durfte in diesem entscheidenden Moment sein Gesicht nicht vor mir verlieren, nicht in eine unerträgliche Scham geraten. Ich sagte sehr ruhig und bestimmt, dass er mir die Chance geben solle, auch zu Wort zu kommen, mit ihm zu reden, um mich ihm mitzuteilen. Er schwieg und ich begann zu sprechen: Ich sei erschreckt, dass er mich jetzt offenbar so anders wahrnehme als die ganzen letzten Jahre. Ich sei der Gleiche wie zuvor. Vielleicht hätte sich in ihm etwas geändert, trotzdem sei auch er der Gleiche wie zuvor. Ich betonte, es bleibe nach wie vor seine alleinige Entscheidung, die Medikamente abzulehnen oder zu akzeptieren. Es bliebe seine Entscheidung, die Therapie wegzuwerfen oder gemeinsam weiterzugehen, auch wenn wir unterschiedliche Ansichten hätten. Immerhin sei ich ihm auch mutig gefolgt, als er seinen Weg der Reduktion gehen wollte, den ich nicht akzeptieren, aber wohl respektieren konnte und hätte mich ihm nie in den Weg gestellt. Ich zeige Verständnis dafür, dass ein Gelehrter, den er schätze und dem er begegnet sei, ihn so gesund erlebe und einschätze, dass er ihm empfohlen habe, die Medikamente abzusetzen. Ich fragte ihn, ob aber nicht gerade dies der Beweis für die gute Wirkung der Behandlung hier sei. Und ich fügte hinzu, ob er sich nicht erinnere, wie es ihm vor Jahren gegangen sei, als er so krank war, dass die Frage Medikamente gar kein Thema war, auch für ihn nicht? Ich könne seinen Stolz und seine Zuversicht sehr gut verstehen, dass er sich endlich bestätigt fühle, gesund zu sein und dass die Verführung groß sei, jetzt alles als negativ zu verwerfen. Ich sei aber auch sein Anwalt, ob er mir glaube oder nicht, und ich hätte Angst, miterleben zu müssen, wie er vor lauter Begeisterung die Realität aus den Augen verlöre. Ich musste offenbar so heftig und engagiert auf ihn gewirkt haben, dass er sich weiter beruhigte, von sich aus Platz nahm und wir begannen sehr vorsichtig, in Ruhe darüber zu reden. Ich fügte im Sinne der wahninternen Deutung einiges hinzu, das hier nicht Thema ist. Er begann sehr zu weinen und sagte, er sei jetzt so hin- und hergerissen, dass er nicht mehr wüsste, was richtig sei. Er selbst schlug vor, die Medikamente bis zum nächsten Termin wieder einzunehmen und dann alles nochmals in Ruhe zu diskutieren. Er nahm die Medikamente seither wieder in der Dosis von 25 mg ein und kehrte innerhalb weniger Tage in die Ruhe seines Alltags zurück. Diese Krise haben wir seither im Rahmen der Therapie immer wieder aufgegriffen. Im Anschluss daran öffnete er sich weiteren Themen und Problemen, die zuvor nur wenig oder keinen Platz finden konnten. Der Horizont der Therapie erweiterte sich dadurch wesentlich. Es ging zum Beispiel um seine nicht erfüllte Sexualität und sein Älterwerden. Unter
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anderem äußerte er die Angst, wegen seiner Krankheit vieles im Leben verpasst zu haben und weiterhin zu verpassen.
Die geschilderte Situation scheint mir typisch für viele alltägliche Situationen in Kliniken wie Praxen, die kritisch sind und manchmal sogar zu Gewalt führen können. Wer kennt sie nicht, die Diskussionen um Medikamenteneinnahme im Klinikalltag, auf der Akutstation oder auch in der Praxis? Wie oft argumentieren wir mit rationalen Argumenten, die in der Währung und Sprache des Patienten so nicht gelten? Nötig ist viel Zeit, Geduld und Verständnis, nicht zuletzt auch Erfahrung, um in solchen Alltagssituationen kreativ zu sein und bleiben zu können und konstruktive Wege mit dem Patienten zu finden. Dies ist meiner Ansicht nach die wichtige, vornehmliche Aufgabe im Rahmen der Weiterbildung »on the job«, also der erfahrenen Oberärzte, Leitenden Ärzte und Chefärzte, dieses Können, über welches der Assistent noch nicht verfügen kann, zu vermitteln, sie dafür zu gewinnen, sie zu ermutigen und am Patienten erleben zu lassen. Die jungen Kollegen sollen teilhaben am eigenen Fundus der Erfahrungen. Konfrontation kann, therapeutisch genutzt, zur Chance für die Beziehung werden, wenn es gelingt, sich gemeinsam gegen die Krankheit zu stellen. Es kann aber gerade in solchen Situationen und im Stress des Alltags zur Überforderung der Beteiligten und daraus resultierend zur Eskalation von Gewalt führen. Das heißt nicht, dass es immer möglich ist, Gewalt zu vermeiden. Oft ist es unsere unausweichliche Antwort auf eine bedrohliche Situation mit Fremd- und/oder Selbstgefährdung von Seiten des Patienten, der sich so verloren hat, dass es nicht mehr zur Kontaktbildung mit uns kommen kann. Unsere Hilflosigkeit und Ohnmacht lässt uns dann nur noch die Sprache der physischen Gewalt sprechen. Eine verrückte Form der erzwungenen, dualisierten, aber nicht mehr konstruktiven Form der gemeinsamen Sprache! Die Nachbesprechung jeder Zwangsmaßnahme mit dem Patienten, aber auch den daran beteiligten Personen beinhaltet immer auch das Thematisieren der Hilflosigkeit von uns, den scheinbar Mächtigen, sowie das Spiegeln, wie mächtig der Patient uns gleichzeitig in seiner Unerreichbarkeit erschienen ist. 210
Erst das gemeinsame Verstehen der beidseitigen Ohnmacht öffnet den Weg zur weiteren Arbeit miteinander. Eine Entschuldigung und Erklärung für die angewandte Gewalt, ohne sich zu einem Unrecht zu bekennen, ist essenziell wichtig. Oft habe ich solche Gespräche führen müssen und tat dies in etwa so: »Ich glaube zu wissen und zu verstehen, dass Sie sehr wütend und vielleicht auch enttäuscht von mir/uns sind. Es tut mir aufrichtig leid, was geschehen ist und dass Sie Gewalt erfahren mussten. Es ist mir aber auch sehr wichtig, dass Sie meine/unsere Seite wenigstens für einen Moment anhören.« Wenn der Patient sich bereits durch mein Kommen oder Sprechen wieder erregt, gehe ich mit den Worten, dass ich verstehe, dass es offenbar zu früh sei, miteinander zu sprechen und ich später wiederkomme, was ich solange wiederhole, bis er mir zuhört – aber höchstens zwei bis drei Mal pro Tag. Dann erkläre ich: »Wir wussten uns nicht mehr zu helfen. Sie waren für uns unerreichbar und unzugänglich. Wir hatten Angst vor Ihnen und Ihrem unberechenbaren, aggressiven Potenzial. Sicher hängt es auch mit Ihrer sehr schwierigen Situation zusammen, deretwegen Sie hergekommen sind/gegen Ihren Willen eingewiesen wurden. Vielleicht haben wir uns beide, jeder auf seine Art, vom anderen bedroht gefühlt, vielleicht auch zu Unrecht, aber wir hatten in dem Moment beide keine Möglichkeit mehr, darüber zu sprechen. Sie haben uns in Ihrer Not bedroht, und wir haben aus unserer Not gehandelt, um noch Schlimmeres zu verhindern. Was geschehen ist, können wir nicht ungeschehen machen, aber wir haben jetzt die Chance, darüber zu reden und vielleicht daraus etwas für die Zukunft zu lernen, das uns hilft, einen guten Weg zusammen zu gehen und solche kränkenden Zusammenstöße zu vermeiden. Also, wie haben Sie es erlebt, erzählen Sie es mir bitte genau . . .« Damit beende ich das Thema Reparation bei Schizophrenie, die als Ich-Reparation im Sinne der Ich-Synthese und -Entwicklung verstanden werden muss.
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Borderline-Persönlichkeits-Organisation Allgemeines zum Thema Reparation bei Borderline habe ich bereits in der Einführung dargelegt. In diesem Abschnitt konzentriere ich mich auf die psychosenahen Borderline-Patienten. Natürlich können diese Techniken auch bei nicht-psychosenahen Borderline-Patienten angewendet werden. Bei psychosenahen Patienten aus dem Borderlinebereich sind die schizoprotektiven Mechanismen bis an die Grenze be-, manchmal ausgelastet und kurzfristig sogar überlastet. Deshalb muss Reparation vorerst darin bestehen, diese Mechanismen nicht etwa wegzubehandeln, sondern sie zu stützen und zu stabilisieren, um ihre Gefährlichkeit im Erleben des Patienten zu mindern. Das heißt für die Therapie, dass aus den vielen bereits gemeinsam gemachten Erfahrungen eine Sicherheit entstanden ist, die benannt und bewusst gemacht werden muss. Die wiederholte Analyse und Erkenntnis, dass Krisen und psychotische Entgleisungen nicht zum Bruch des Ich führen, sind bereits Teil der Reparation. Wenn der Therapeut in diesen Krisen nicht mehr ausgeschlossen, sondern viel mehr wichtiger Teil geworden ist, analysieren wir gemeinsam auch in den krisenfreien Zeiten immer und immer wieder den Prozess der Entstehung, der Entwicklung und den Ablauf der Krisen bis hin zur Bewältigung. Dabei können erneute Krisen ausgelöst werden. Davor darf sich der Therapeut nicht fürchten, da er sonst in die Falle der scheinbaren Stabilisierung gerät, die mehr der Vermeidung der psychosenahen Krise als deren Bearbeitung dient. Solche Krisen existierten im Erleben des Patienten schon eher, nur wurden wir herausgehalten, solange es ging. Nun sind wir beteiligt. Diese Chance der dualisierten, progressiven Psychopathologie dürfen wir nicht verpassen. Im gleichen Ausmaß, wie der Therapeut sich an solche Situationen gewöhnt, an das Potenzial dieses Zweier-Teams glaubt und sich seine Angst vermindert, geht es dem Patienten – mit einer zeitlichen Verzögerung – besser. Solche Krisen werden meiner Erfahrung nach immer seltener, bis sie zuletzt aus dem Alltag des Patienten in das Reich seiner Erinnerungen verschwinden, wo sie aber weder verdrängt, noch abgewehrt werden müssen. 212
In akuten psychotischen Episoden stelle ich oft direkte Bezüge zur Anamnese her. Nicht etwa zur Anamnese als Ganzes, sondern zu punktuellen Erlebnissen in der Anamnese, die eine Rolle in der akuten Episode spielen. Wenn mir als Therapeut in der Therapiestunde beispielsweise klar wird, dass der Patient mit mir gerade so umgeht, als wäre ich sein leiblicher, ihn schlagender Vater und mich als seinen Therapeuten nicht mehr erkennt, deute ich dies vorerst nicht, wie ich es beim neurotischen Klienten tun würde, sondern beantworte dies emotionalbetont und realitätskonfrontierend: »Ich bin nicht Ihr Vater, der Sie schlägt, ich bin Ihr Therapeut. Sie brauchen hier im geschützten Therapieraum keine solche Angst zu haben!« Eventuell ist dann bereits der Zusatz möglich: »Sie verwechseln mich jetzt mit Ihrem Vater und haben deshalb Angst vor mir, obschon Sie gleichzeitig wissen, dass dem in Realität nicht so ist.« In der Aufarbeitung der psychotischen Episode hingegen deute ich explizit und wiederholt, wie wir es aus der Arbeit mit neurotischen Patienten kennen. Erst wenn die psychotischen Episoden zurückgehen oder nicht mehr auftreten, beginnt in der Therapie die Rekonstruktion der Therapie-Anamnese. Ziel ist es, aus Fragmenten der gemeinsamen Geschichte, die zuerst erarbeitet werden müssen, eine gemeinsame Version, das heißt, eine gemeinsame Geschichte der Therapie zusammenzusetzen. Einzelne Phasen der Therapie und deren Erleben durch Patient und Therapeut werden, basierend auf dem aktuell in die Therapie getragenen Material, gemeinsam betrachtet. Das kann so beginnen: »Was Sie mir heute berichten/was sich zwischen uns jetzt abspielt, erinnert mich an die Phase von dann und dann. Erinnern Sie sich auch?« Wenn dies der Fall ist oder sogar der Patient die Analogie benannt hat und man sich als Therapeut erinnert,kann weiter gefragt werden: »Wie haben Sie sich damals gefühlt und wie haben Sie mich damals erlebt?« Anschließend schildert der Therapeut, was sonst in analytischen Therapien unüblich ist, sein Erleben der Situation. Es wird darüber diskutiert, insbesondere da, wo Abweichungen im Erinnern bestehen. Es geht dabei nicht darum, welche Version richtig oder falsch ist, sondern dem Patienten Möglichkeiten zu schaffen, verschiedene Erlebensweisen aus zwei Perspekti213
ven zu realisieren und Stellung zu beziehen. Oft erschreckt ihn unsere Version wegen der Verschiedenheit zu seiner eigenen. Die gleiche Episode wird wiederholt in zeitlichen Abständen aufgegriffen und erneut bearbeitet. So können verschiedene, erneut abweichende Erinnerungen desselben vorsichtig angesprochen und die entstandene Divergenz gespiegelt werden: »Als wir kürzlich schon einmal über diese damalige Therapiesituation sprachen, erwähnten Sie, dass Sie sich so und so erlebt haben/mich so und so erlebt haben und heute scheint eine andere Erinnerung vorhanden zu sein.« Erklärend füge ich hinzu: »Sie wissen inzwischen, dass ich damit nicht sagen will, dass eine der beiden Varianten nicht stimmt, sondern dass es sich um Wahrnehmungen aus verschiedenen Position und zu verschiedenen Zeitpunkten betrachtet handelt. Jetzt geht es darum, gemeinsam die übereinstimmende Version zu finden, von der wir beide sagen können, dass es sich so und so zugetragen hat oder Sie sich/ich mich so und so gefühlt habe.« An diesem Prozess lässt sich gut verfolgen und evaluieren, wie sich das Fluktuationspotenzial zurückbildet. Es ist sehr wichtig, diesem Prozess viel Zeit und Raum zu lassen, weil es entscheidend ist, ob sich eine Rückbildung auch stabil einstellen kann. Dieses Vorgehen schafft Vertrauen und insbesondere Ich-Stabilität beim Patienten. Mit der Zeit entsteht aus den vielen aufgearbeiteten Fragmenten eine kontinuierliche Therapiegeschichte. Erst wenn das geschafft ist, kann es einen Schritt weitergehen, das heißt, die Lebensgeschichte miteinander angesehen und bearbeitet werden. Während der neurotische Patient die eigene Geschichte im Licht der Gegenwart und mit der Erkenntnis der Entwicklung auch verändert (verfälscht) erinnert, kommt beim borderlinekranken Patienten die Fluktuation hinzu, wodurch Ereignisse ständig neu und auch anders erinnert werden können. Deshalb ist die Analyse der Lebensgeschichte schwieriger. Es wird einfacher, wenn der Analytiker aus der Analyse der Therapiegeschichte die Fluktuationsmechanismen besser zu verstehen gelernt hat. Eine Patientin erinnerte sich erst nach vielen Jahren Therapie, dass zwei Ereignisse in ihrem Leben gleichzeitig stattgefunden haben mussten, während sie diese in ihrer Version überzeugend chronologisch voneinander entfernt hielt. Erst die Analyse ihrer Fluktuation öffnete ihr die
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Tür zu erkennen, dass die Ereignisse gleichzeitig stattgefunden hatten, was sie übrigens wesentlich von einer Schuld entlastete, von der sie bis dahin unerschütterlich überzeugt war. Ihre frühere Veränderung der Geschichte stand im Dienst der Aufrechterhaltung der Spaltung und der Fluktuation. Sie litt zwar unter der vermeintlichen Schuld, aber dafür blieb die Möglichkeit zu fluktuieren offen und half so in der Abwehr der Psychose mit, welche bei dieser Patientin punktuell sehr bedrohlich war. Es war für sie insofern schizoprotektiv und somit einfacher mit der großen Schuld zu leben, als von der sonst anhaltenden Psychose zerstört zu werden. Erst als das Psychotische im Alltag in den Hintergrund trat, wurde auch die Analyse der Therapiegeschichte und danach die Analyse einzelner wichtiger Abschnitte ihrer Lebensgeschichte möglich.
Reparation bei Borderline-Patienten ist ein lange dauerndes Puzzlespiel, in welchem es auch Teile gibt, die so nicht in das Puzzle gehören und ausgesondert und andere hingegen erst bearbeitet werden müssen. Als mich einst ein Verwaltungsdirektor einer Klinik anlässlich eines Referates fragte, ob ich ihm den Unterschied zwischen der Therapie mit neurotischen, psychotischen und Borderline-Patienten erklären könne, fiel mir in dem Moment nichts Besseres ein als das Beispiel des Puzzles. Ich sagte ihm: »Beim Neurotiker sind Puzzleteile eines gerahmten Bildes in einem Zimmer verstreut und es geht darum, die Teile zu suchen, zu finden und wieder einzubauen. Beim schizophren-psychotischen Menschen ist es, als würden aus einem Film, der im Open-air-Kino gezeigt wird, die Bilder aus der Leinwand herausspringen und wir müssten versuchen, so viele Bilder wie möglich einzufangen und zu retten, um später nicht den Film, aber die Hauptfigur zu rekonstruieren. Beim Borderline-Patienten ist es, als wären die Teile des Puzzles im ganzen Haus verstreut, aber ältere Versionen desselben Puzzles sind auch darunter und wir müssen zuerst unterscheiden, welche Teile zu unserem dazugehören und welche unbrauchbar sind. Manche, die dazugehören, sind verändert und müssen erst zurecht geschnitten werden, bis sie wirklich passen und eingefügt werden können.« Damit schließe ich das Thema Reparation bei Borderline-Patienten ab und wende mich dem Thema Behandlungsabschluss zu. 215
Vorbereitung auf Abschied und Trennung Zum Thema Abschied, Trennung und Abschluss der Therapie findet sich wenig Fachliteratur. Trennung und ungewollter Abschied sind bei Menschen mit beiden hier diskutierten Störungen oft bereits früh und immer wieder Thema der Therapie. Beim Schizophrenen führt die unvorhersehbare Gefahr der Suizidalität, eine unversöhnliche Verärgerung des Patienten über den Therapeuten oder psychotische Mächte, die gegen die Therapie agieren, zur Gefahr des Abbruchs der Behandlung. Es kann für den Patienten aber auch unmöglich sein, sich auf ein verbindliches Setting einzulassen. Sprache, Verständnis und Zeit werden auf Seiten des Patienten und Therapeuten unterschiedlich gewertet. Über den Beginn der Behandlung habe ich vieles geschrieben, was sich als Grundhaltung auch hier anwenden lässt, um den allfällig drohenden Abbruch möglichst zu verhindern oder wenigstens die Tür für den Patienten so weit offen zu halten, dass er ohne Hindernisse wieder eintreten kann, wenn er das später wünscht. Bei Borderline-Patienten ist der Abbruch der Therapie ein wiederkehrendes, zentrales Thema, insbesondere in der Anfangsphase der Behandlung. Gründe dafür sind bestens bekannt. Wenn es zum Abbruch kommt, was ich zum Glück nur sehr selten erleben musste, habe ich immer als letzten Schritt versucht, die Tür für eine spätere Wiederaufnahme der Behandlung weit zu öffnen – allerdings nicht so weit wie beim schizophrenen Patienten, da sich dieser in der Unendlichkeit der Psychose eher verlieren kann und dadurch gefährdeter ist als der Borderline-Patient. Er will sich im begrenzten Raum mittels Abbruch der Behandlung davor schützen, die drohende Annäherung seiner abgespaltenen Teile zu erleiden. Darum lade ich ihn zu einem abschließenden Gespräch mit der Begründung ein, sich persönlich voneinander verabschieden zu können. Ich teile ihm mündlich oder schriftlich mit: »Leider haben Sie beschlossen, die Therapie nicht weiterzuführen, was ich bei allen Schwierigkeiten, die sicher mitspielen, sehr bedaure. Ich bin nach wie vor grundsätzlich optimistisch, dass wir es hätten schaffen können, gemeinsam weiterzukommen. Vielleicht sieht es für Sie später einmal ähnlich aus. Ich lade 216
Sie ein, dass wir uns wenigstens persönlich verabschieden können.« Oft möchte der Patient nicht kommen, was aus seiner Sicht betrachtet auch verständlich ist. Er hat Angst, dass wir ihn doch noch überzeugen können und das wäre in seinem Erleben ein schambeladener Gesichtsverlust. Es gibt noch weitere Gründe. Seine Wut auf uns kann so groß sein, dass er uns nicht mehr sehen mag. Vielleicht will er auch nur nicht noch eine Stunde mehr bezahlen. Dann schreibe ich, was ich bei einer persönlichen Begegnung sagen würde. Kommt er zum Termin, beginne ich so: »Ich bin erleichtert und finde es wirklich gut, dass Sie uns doch noch die Chance geben, uns persönlich voneinander zu verabschieden. Mir ist es sehr wichtig, Ihnen mitzuteilen, dass meine Tür für Sie offen bleibt, auch wenn wir uns jetzt nicht einvernehmlich trennen können. Sollten Sie Ihre Meinung irgendwann revidieren, die Therapie in einem anderen Licht betrachten und zum Schluss kommen, doch hier weiterarbeiten zu wollen, sollten Sie sich nicht zurückhalten, dies zu tun und mich zu kontaktieren. Ich werde weder den Mahnfinger heben noch überheblich sagen ›Ich habe es ja gewusst‹ noch werde ich Sie auslachen. Ich werde mich freuen, Sie wiederzutreffen und so für uns eine neue Chance zu erhalten, gemeinsam weiterzugehen.« Bei schizophrenen Patienten gehe ich in der Formulierung und im Umgang noch offener, einfühlsamer vor und betone meine Besorgnis um sie. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass schizophrene Patienten zwar kaum die Therapie abbrechen, aber dass sie, wenn es geschieht, fast nie wiederkommen. Einige Borderline-Patienten haben sich später wieder bei mir gemeldet, nachdem sie weitere, erfolglose Therapieversuche unternommen hatten. Das ist Chance und Falle zugleich. Die Falle besteht darin, dass wir in unserer Freude darüber und der narzisstischen Befriedigung dazu neigen könnten, unvorsichtig die Gefahren zu verdrängen, die sich mit diesem Patienten früher ergeben und zum Abbruch geführt haben. Beide Seiten sind sich in der Situation der Wiederbegegnung positiv zugewandt, ja erleichtert. Der Patient ist erleichtert, dass wir ihn wirklich nicht beschämen. Für uns kann es eine Form der Befreiung sein, weil wir Versagens217
und Entwertungsgefühle, die seinerzeit beim Abbruch vielleicht doch in uns entstanden sein könnten, als aufgehoben und wieder gutgemacht empfinden. Wenn eine Wiederaufnahme der Behandlung eintritt, ist es wichtig, die Rahmenbedingungen sehr gut zu klären und keine Abweichungen zuzulassen, außer wenn objektiv Gründe dafür vorliegen. Oft versichert uns der Patient, wie sehr er sich inzwischen entwickelt habe und heute an einem ganz anderen Ort stehe als damals. Er würde die Therapie heute ganz anders sehen. Oftmals ist es jedoch nicht die Einsicht, sondern die Verleugnung und damit verbunden seine Verzweiflung nach weiteren Abbrüchen. Er sieht eventuell die einzige Chance darin, die Vorgänger zu entwerten und uns zu verführen, indem er unser Angebot der offenen Tür annimmt. In diesen Prozess der Verhandlung um die Wiederaufnahme gehört deshalb unbedingt, zuvor in vorsichtiger, nicht-wertender Art und Weise auf den Abbruch zu sprechen zu kommen: »Aufgrund unserer letzten Erfahrung, die zum Abbruch der Behandlung geführt hat, scheint es mir wichtig, dass wir versuchen, aus der zeitlichen Distanz heraus zu verstehen, was damals genau geschehen ist, um eine Wiederholung zu vermeiden.« Darin liegt die Gefahr, dass man sich blitzartig im alten Dilemma wiederfindet. Das wäre fatal und könnte zur Bestätigung für den Patienten führen, dass mit uns nicht zu arbeiten ist. Deshalb fordere ich mein Gegenüber auf, seine Version zuerst anzuführen und höre aufmerksam und geduldig zu, gleichermaßen auf meine Gegenübertragungsgefühle achtend. Es wird sich nun zeigen, ob der Patient inzwischen in seiner Introspektionsfähigkeit weitergekommen ist oder nicht. Danach richtet sich meine Intervention. Steht er am gleichen Ort wie damals, ist es sehr ratsam und wichtig, sofort auszuhandeln, was wir tun werden, wenn sich nochmals eine Situation wie damals ergeben würde, so dass es diesmal nicht zum Abbruch kommen muss: »Wir können bei aller Mühe, die wir uns beide geben, nicht ausschließen, dass wir uns vielleicht wieder einmal in einer Situation wiederfinden, die der damaligen ähnlich ist. Was könnten wir heute vorsorglich dafür tun, dass wir uns dann nicht wiederholen und es zur Trennung und zum Abbruch kommt? Was denken Sie und 218
was haben Sie für Vorschläge, wie wir damit umgehen könnten? Mir ist es sehr wichtig, schon heute kreativ darüber nachzudenken, um dann flexibel und konstruktiv miteinander umgehen zu können. Auf diese Weise müssen wir auch keine Angst vor so einer Situation haben und können freier arbeiten.« Ich kann hier nicht alle Details anführen, die zur Bildung eines solchen Neuvertrages gehören. Mir geht es mehr darum, eine solche Chance der Wiederaufnahme der Therapie auch nutzen und umsetzen zu können und nicht in die Falle der Wiederholung zu geraten. Diese würde mit Sicherheit zu einem unwiderruflichen Abbruch führen und beim Patienten Blockaden zurücklassen, die ihm bei einem erneuten Therapieversuch an einem anderen Ort im Wege stehen könnten. Im Folgenden geht es um Abschied, der mit dem Abbruch der Behandlung nichts zu tun hat. Die vielen Therapie-Pausen, bedingt durch Abwesenheit des Therapeuten oder auch des Patienten, führen zu Miniabschieden und Trennungen auf Zeit. Selbst verlassen zu werden oder den Therapeuten zu verlassen, ist im Erleben des Patienten nicht dasselbe. Viele Kollegen kennen die Dramen, die sich vor, während und nach unserer Abwesenheit zutragen können und die averbale Mitteilungen an uns sind: den Patienten allein gelassen, gekränkt und nicht gut versorgt zu haben. Manchmal bestrafen sie uns unbewusst oder gar bewusst, manchmal sind es echte Verzweiflungstaten, weil das Verlassenwerden damit zusammenhängende alte Verletzungen und Ängste aktualisiert. Trotzdem werden wir in die Ferien gehen oder Kongresse besuchen, auch wenn wir uns bewusst sind, was das für unsere Patienten bedeuten kann. Deshalb sind solche Miniabschiede und Trennungen wichtig. Zum einen müssen sie als solche in ihrer Inszenierung bearbeitet werden und zum anderen sind es Vorbereitungen für den großen Abschied am Ende der Therapie. Es braucht oft sehr viel Fingerspitzengefühl, mit schwierigen Situationen, die in diesem Zusammenhang auftauchen, sorgfältig umzugehen. Der Patient kann zum Beispiel während unserer Abwesenheit einen Kollegen aufsuchen, der uns nicht gut kennt, vielleicht mit uns rivalisiert, andere Therapierichtungen ausübt oder unerfahren ist. Es besteht die Möglich219
keit, dass ganz anders behandelt wird. Vielleicht stellt der uns Vertretende sogar die Medikation um und bringt dabei Argumente gegen die bisherige Verfahrensweise vor oder suggeriert sie dem Patienten, was unsere Therapie danach erschwert. Dies geschieht sicher oft in guter Absicht, aber mit wenig Reflexion. Solche Episoden können bei uns zunächst und spontan negative Gefühle dem Patienten und dem Kollegen gegenüber auslösen. Wir glauben angegriffen worden zu sein und uns verteidigen zu müssen. Es zeigt sich schon hier, wie heikel die Trennung werden kann, wenn wir sie nicht früh genug zum Thema machen und es immer wieder ansprechen, dass wir uns irgendwann wirklich trennen werden. Die Therapiebeziehung ist eine spezielle, paradoxe Situation. Im normalen Leben lernen sich Menschen kennen, vertiefen ihre Beziehung. Je besser das gelingt, desto näher werden sie sich kommen und bleiben. In der Therapie ist das anders. Therapeut und Patient bauen gemeinsam ein Vertrauensverhältnis auf, um sich nach erfolgreicher Behandlung wieder zu verlassen, obschon sie eine, durch die Abstinenzregel zwar asymmetrische, aber tief gehende Beziehungserfahrung miteinander gemacht haben. Es empfiehlt sich, jede Gelegenheit zu nutzen, wenn Trennung und Abschied – auch in ganz anderem Zusammenhang – in die Sitzung eingebracht werden, das Trennen nach der eigenen Therapie mindestens im Nebensatz anzuführen. Irgendwann kann über die Realtrennung gesprochen werden und über die heftigen Gefühle, die damit verbunden sind. Es werden Szenarien durchgespielt, was dem Patienten wohl helfen könnte, im Wissen, dass er um den Schmerz der Trennung und den damit verbundenen Verlust nicht herumkommen wird – wir jedoch auch nicht! Dazu möchte ich im entlastenden Sinne für uns Therapeuten Benedetti zitieren, der sehr realistisch beschrieben hat, was Trennung von so schwerkranken Menschen, die ein gutes Stück Weg mit dem Therapeuten zurückgelegt haben, bedeutet und wie damit umzugehen ist. In »Psychopathologie und Psychotherapie der Grenzpsychosen« widmet er diesem Thema einen ganzen Abschnitt: »Der grenzpsychotische Patient muss das Gefühl bekommen, dass er jederzeit bei einer allfälligen Krise zu seinem Therapeuten zurückkommen kann und bei ihm Mut und Einsicht 220
›tanken‹ darf. Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass die Patienten sich allmählich in ihrer infantilen Abhängigkeit wandeln und Selbstständigkeit wie von selbst erreichen, wenn der Therapeut keine Angst vor ihrer Abhängigkeit hat [. . .] Im Ganzen scheint uns aber die Prognose der behandelten Grenzpsychosen nicht so ungünstig wie die spontane Verlaufsstatistik [. . .] doch haben wir die Erfahrung gemacht, dass sich, bei geeigneten Therapeuten – und bei richtiger Therapie – viele chronische Fälle wesentlich bessern können« (1975, S. 149f.). Ich möchte hier nicht verschweigen, dass es ebenfalls die Situation gibt und nicht einmal so selten, in welcher ein Patient erst nach vielen Stationen oder vielleicht auch nie im Stande ist, sich wirklich von der Therapie zu trennen, um seinen eigenen Weg zu gehen. Ich habe in meiner Klientel einige Patienten, die ich im Lauf der Jahre zur Weiterbetreuung überwiesen bekommen habe. Der Grund war, dass sehr erfahrene Kollegen, die in Rente gingen, ihre inzwischen unter Therapie stabilen Patienten, die sie teils über Jahrzehnte behandelten und begleiteten, übergeben mussten. Eine Destabilisierung ohne Weiterführung der Therapie wäre sehr wahrscheinlich geworden. Da ist zum Beispiel eine ältere Patientin, die seinerzeit, als sie adoleszent war, noch von Manfred Bleuler im Burghölzli gesehen wurde. Einige, später sehr bekannt gewordene Therapeuten haben sich damals und im weiteren Verlauf mit ihr befasst und sie auf einem Stück Weg begleitet. Sie ist heute noch, inzwischen bei mir, in Therapie, nachdem der letzte Therapeut unverhofft und viel zu früh aus dem Leben geschieden ist. Er sagte ihr etwa ein halbes Jahr vor seinem Ableben, dass sie sich an mich wenden solle, wenn ihm etwas zustoße. Er habe großes Vertrauen in mich. Er war etwas älter als die Patientin selbst. Ich bin in ihrer Therapielaufbahn der erste »jüngere« Therapeut und sie eröffnete unsere Beziehung in der ersten Stunde mit den Worten: »Hier bei Ihnen habe ich wenigstens eine echte Chance, dass ich Sie verlassen werde, bevor Sie sterben und mich zurücklassen.« Zu erwähnen ist, dass alle ihre ambulanten Therapeuten sie über weite Zeiträume behandelten, bevor sie pensioniert wurden oder starben. Die letzte Therapiephase dauerte 25 Jahre und fand in einem gut reflektierten, indizierten, langjährigen und absolut notwendigen Setting von zwei und später einer
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Wochenstunde statt. Mittlerweile kommt sie alle 14 Tage zu mir in die Therapie, was einen gewaltigen Fortschritt für sie darstellt. Wahrscheinlich wird sie irgendwann im Lauf dieser Therapiephase sterben, in einer Therapie, die ihr Leben und Überleben über Jahrzehnte erst ermöglichte.
Diese Patientin lebt als auffällig-unauffälliges Original selbstständig inmitten der Gesellschaft. Ohne lebenslange Therapie hätte sie sich entweder sehr früh umgebracht oder wäre in einer Station für chronisch Kranke einer Klinik gelandet, wo sie, autistisch und verzweifelt, untergegangen wäre. Das hatten alle meine Vorgänger erkannt. Auch ich habe kurz nach Beginn der Behandlung bei mir selbst die unendliche und verzweifelte Dimension des autistischen Potenzials kennen lernen müssen, als ich in einer Stunde im Übermut unvorsichtig mit ihr umging, um danach zu begreifen, was es auslöst, sie allein zu lassen. Ich werde hier allerdings, wie mit ihr vereinbart, nicht weiter über sie berichten. Es gibt fast so viele Szenarien eine Therapie zu beenden, wie es Therapien gibt. Sobald sich das Ende der Behandlung am Horizont zeigt, bewährt es sich, gemeinsam konkrete Phantasien dazu zu entwickeln. Von dieser Phantasie ausgehend, nähert man sich behutsam, aber stetig der Umsetzung in die Realität. Korrekturen bei der Annäherung der Phantasien an die Realität sind angebracht, soweit sie nicht im Dienst des Widerstandes stehen und die Therapie künstlich verlängern. Solche Widerstände spiegle und deute ich, die schwere Situation anerkennend. Ich habe schon erlebt, dass es mehrere Anläufe brauchte, dass das Setting über einen längeren Zeitraum langsam und behutsam verdünnt werden musste oder dass umgekehrt ein klar deklariertes Ende mehr half, wenn es einfühlsam begleitet und unverrückbar eingehalten wurde. Auch hier kann ich also keine allgemein gültigen Regeln nennen. Es gibt nur Eckpfeiler und Hinweise zu einem möglichen Weg, den man gemeinsam finden und definieren muss, um sicher und gut am Ende der Therapie anzukommen. Die Bearbeitung der eigenen Gegenübertragungsgefühle beim Thema Abschied ist wichtig, auch wenn mit dem Patienten nicht oder nur am Rande darüber gesprochen werden kann. Für das Abschließen einer Therapie braucht auch der Therapeut Hilfe 222
und Unterstützung, die er in der Supervision oder Intervision erhält. Zusammenfassend halte ich fest, dass der Abschied von Beginn an thematisiert werden muss – im Wissen, dass es schwere psychische Krankheiten gibt, deren adäquate und indizierte Therapie nicht einfach irgendwann beendet werden kann, weil das Beenden der Behandlung dem Absetzen des Insulins beim Diabetiker oder dem Absetzen der Schmerzmedikation bei massiven Schmerzen entsprechen würde, was keinem Arzt in den Sinn käme. Man darf das ruhig einmal benennen, auch wenn es in der heutigen Zeit des Sparens und der Effizienzoptimierung unpopulär ist. Das Zur-Sprache-Bringen des Therapieabschlusses sollte sich dem Entwicklungsstand der Behandlung und dem Patienten anpassen und ihn weder bedrohen noch überfordern. Es muss feinfühlig erarbeitet und bearbeitet werden, immer die Lebensgeschichte des Gegenübers im Auge behaltend, die eventuell diesbezügliche schwere und wichtige Traumata beinhaltet, die reaktiviert werden könnten. Das Paradoxe einer Therapie muss aufgezeigt werden, weil es die hohe Anforderung an beide Seiten stellt, sich nach einer guten, intensiven Beziehungsentwicklung zu trennen. Open-end-Therapien müssen regelmäßig in Supervisionen reflektiert werden. Der Therapeut tut gut daran, sich in der Supervision kritische Gedanken zur Behandlungen zu machen und dabei zu überprüfen, ob eigene Interessen, eine Therapie künstlich zu verlängern oder ob Angst und Vermeidung der Trennung Grund des langen Verlaufes sein könnten. Soll die Angst vor Krisen beim Beenden der Therapie auf diese Weise vermieden werden? Sind es eventuell nur unsere Gegenübertragungsgefühle, die aus einer projektiven Identifizierung mit dem Patienten heraus entstanden sind, welche letztendlich der Abwehr des Patienten dienen, den Abschied und das Ende der Behandlung zu verhindern? Abschied und Trennung sind schwere Prüfungen, die beide zu bestehen haben. Manchmal braucht es mehrere Anläufe, bis der Patient reif dazu ist, sich mit Freude und Trauer zugleich zu verabschieden und seinen Weg allein weiter zu gehen. 223
Abschluss der Behandlung Irgendwann kommt der letzte Monat, die letzte Woche, die letzte Sitzung der Therapie. Ich beginne dieses Thema einen Monat vor dem vereinbarten Therapieende anzusprechen, wenn mein Gegenüber es bis zur letzten Viertelstunde der entsprechenden Sitzung nicht tut. Mit Feingefühl weise ich darauf hin, dass der letzte Monat unserer Therapie mit dieser Stunde eingeläutet wurde und frage nach, ob dem Patienten dies bewusst sei und welche Gefühlen das bei ihm auslöst. Sehr oft höre ich, dass sich Patienten Gedanken machen, wie denn die letzte Stunde ablaufen würde. Wird es eine normale Stunde sein? Schüttelt man sich die Hände und geht oder gibt es etwas Besonderes? Sollte ein Abschiedsgeschenk mitgebracht werden? Der Abschluss einer Therapie mit Patienten, welche eine Psychose durchgemacht haben, gestaltet sich verständlicherweise wesentlich anders als ein Abschluss in einer klassischen Psychoanalyse. Ich habe bemerkt, wie wichtig es ist, dass man sich den Prozess der Therapie nochmals gemeinsam im Überflug ansieht und offen darüber redet. Ich schlage dem Patienten vor, in den letzten Therapiestunden keine neuen Themen anzuschneiden, sondern gemeinsam einen Rückblick und Ausblick zu wagen. Beim Ausblick benenne ich Möglichkeiten, wie es für ihn weitergehen könnte und scheue mich nicht, auch auf Unvorhersehbares und Unerwartetes hinzuweisen. Ich vereinbare mit ihm, dass er sich nach sechs Monaten telefonisch bei mir meldet, um mich wissen zu lassen, wie es ihm ergangen ist und geht. Ich weise darauf hin, dass meine Tür für ihn offen sei, wenn es eine Krise oder Not gäbe, betone aber, dass ich es nicht erwarte. Ich verwende dafür das Bild der Sicherheitshinweise beim Fliegen, die man sich anhört, obschon im Allgemeinen niemand erwartet, dass ein Notfall eintritt, weil das Flugzeug gut gewartet und der Pilot gut ausgebildet ist. Doch selten kann es vorkommen, dass etwas Unerwartetes geschieht. Die Therapie sei ein Sicherheitsnetz. Im Gegensatz zum Flugzeug, dass vielleicht im Notfall vor einem Absturz nicht bewahrt werden könne, sei dieses Netz von uns hart erprobt worden und der Patient wisse daher, dass wir eine große 224
Chance hätten, aus einer Krise, sei sie noch so schwer, mit Erfolg wieder herauszukommen. Die letzte Stunde bleibt offen und das benenne ich so: »Es gibt kein Gesetz, wie unsere letzte Begegnung inhaltlich zu verlaufen hat. Es ist vielleicht gerade das Unberechenbare, das Spontane, das wir uns nun auch zumuten dürfen. Vielleicht fällt Ihnen plötzlich noch eine wichtige Frage oder Bemerkung ein, die bisher keinen Platz fand, vielleicht schweigen wir zusammen, jeder für sich, aber nicht allein. So wie es wird, wird es sein. Auf jeden Fall wissen wir beide, dass wir uns nach Ablauf der letzten Stunde voneinander verabschieden und in einem halben Jahr miteinander sprechen werden, wenn sie sich wie vereinbart bei mir telefonisch melden, was ich mir im Terminkalender eingetragen habe.« Ich weise darauf hin, dass unsere Abstinenz-Regeln auch für die letzte Stunde gelten. Ich wurde auch schon gefragt, ob wir uns beim Abschied umarmen können, da die Therapie nun zu Ende sei oder ob wir einen Kaffee miteinander trinken gehen. Es scheint mir wichtig zu erwähnen, dass gerade die letzte Stunde heikle Hürden beinhaltet. Die Gefahr, den Patienten zu kränken oder zurückzuweisen, ist vorhanden. Ich betone, dass wir nichts tun werden, was die Rückkehr, falls es notwendig wird, verhindern könnte. Wir verabschieden uns so, dass die Therapie im gleichen Stil wieder aufgenommen werden könnte. Somit werden wir weder Kaffee trinken gehen noch uns umarmen und uns doch gebührend verabschieden. Ich betone, dass ich mich nach Ablauf der Therapiezeit pünktlich verabschieden werde und dass die spezielle Abschlusssituation etwas Inneres sei, das sich im Moment der Verabschiedung nicht unbedingt äußerlich zeigen werde oder müsse. Die Trennung werde oft erst danach bewusst erlebt. Ich weise darauf hin, dass ich den nächsten Termin, den wir gehabt hätten, würde die Therapie nicht enden, nicht vergebe, sondern dazu benutze, über die Therapie nachzudenken. So geschieht der Abschied meist unspektakulär, manchmal auch mit einem längeren Händedruck, den ich zulasse. Es sind auch schon Tränen geflossen, was ich verstehend und auch ein bisschen tröstend kommentiere. Wiederholt habe ich später vernommen, dass sich heftige, emotionale Reaktionen beim Verlassen des Hauses 225
oder kurz danach eingestellt haben. Eigentlich wird es immer als befreiend beschrieben, wenn der Patient jetzt, wo er wirklich allein ist, auch allein weitergehen kann. Es erinnert mich an meine eigene, letzte Analysestunde. Nach dem üblichen Abschied von meinem Analytiker folgte, als ich im Auto saß, eine starke emotionale Reaktion. Ich weinte heftig und fühlte mich dabei verlassen, glücklich und befreit zugleich. Bei schizophrenen Menschen ist es auch schon zu einem symbolischen Geschenk meinerseits gekommen. So gebe ich zum Beispiel ein Objekt, das vielleicht früher einmal als Übergangsobjekt wichtig war, mit. Nichts soll unreflektiert bleiben. Das heißt, dass ich die Therapie in der Supervision oder für mich selbst abschließe. Das führt mich zum letzten Abschnitt.
Die Rolle des Therapeuten in der Zeit danach Was wird eigentlich aus uns Therapeuten im Verlauf einer Therapie? Kann man uns mit einem Katalysator bei einer chemischen Reaktion vergleichen, welcher einen Prozess erst ermöglicht und in Gang bringt, um danach unverändert wieder daraus hervorzugehen? So ist es nicht. Auf der einen Seite wirken wir, wenn wir abstinent behandeln und die Regeln der Therapie einhalten, wie Katalysatoren, aber wir gehen nicht unverändert aus dem Prozess hervor. Wir helfen dem schizophren-psychotischen Patienten wesentlich in seiner Psychosynthese, dem Borderline-Patienten, der psychotisch wurde, in seiner Ich-Stabilisierung, ohne wirklich Teil seines Ich zu werden. Wir lernen jedoch, werden reifer und reicher an Erfahrungen, die uns helfen, uns in der Funktion des Therapeuten positiv zu verändern, was ohne die spezifische Begegnung mit dem Patienten nicht geschehen würde. Das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung nicht nur bestätigen, sondern erlebe es immer wieder von neuem. Ich denke viel darüber nach. In der Zeit danach sollten wir die Therapie nicht nur passiv in uns nachhallen lassen, sondern aktiv weiterdenken und weiter fühlen. In der Zeit danach sind wir immer noch für den Patienten da, aktiv wie passiv, spielen in seinem Leben noch über eine lange 226
Zeit eine wichtige Rolle, er aber auch in unserem. Vielleicht sind wir zu Teilen des Ich im Sinne von Introjekten geworden, welche andere, negative Introjekte verdrängt haben. Vielleicht sind wir zu reifen, äußeren Objekten geworden, was wir uns wünschen würden. Vielleicht bleiben wir noch lange ein wichtiges Hilfs-Ich, ein Gestell des Ich, ohne das der Patient innerlich in seiner Identität kollabieren, zusammenbrechen, fragmentieren und sogar untergehen würde. Sicher sind wir zu einem Container geworden, in welchem auch nach Abschluss der Therapie die Sicherheitskopie des Therapieprozesses aufbewahrt wird und bei einer etwaigen späteren Krise von uns hervorgeholt und zur Verfügung gestellt werden kann. Das ist nicht gleichbedeutend damit, ewig für den Patienten verantwortlich zu sein. Es ist seine Aufgabe, durch das Leben zu gehen, Entscheidungen zu treffen und verantwortlich dafür zu sein. Wir haben ihm keine fremde Identität aufgezwungen, sondern ihm geholfen, seine Identität zu finden, zu stabilisieren und seinen Weg weiterzugehen. Konkret zuständig werden wir, wenn seine Stabilität gefährdet wird und er uns aufsucht. Ich weise auf das diesbezügliche, bereits erwähnte Zitat von Benedetti hin. Leider erlebe ich es immer wieder, dass mich Patienten aufsuchen, für die der frühere Therapeut gerade keine Zeit hat oder die Therapie als abgeschlossen betrachtet und sich nicht mehr zuständig fühlt. Das geht so nicht. Ich versichere meinen Patienten deshalb beim Beenden der Therapie erneut, bereits aber im Vorgespräch vor dem eigentlichen Beginn, dass ich sie auch nach Abschluss der Behandlung, falls es notwendig würde, wieder aufnehmen werde. Sie haben gegenüber neuen Patienten eine höhere Priorität. Das führt mich zum Thema Zeitplanung. Die Tagesplanung ist wichtig: Man sollte sich den Tag nicht voll ausbuchen. Sonst lebt man ständig in Angst und Stress, dass etwas Unvorhergesehenes dazwischen kommen könnte. Natürlich gibt es auch in meinem Kalender Tage, an welchen besser nichts Zusätzliches hinzukommen sollte. Ich bin immer bereit, gerade an solchen Tagen, falls es notwendig wird, Prioritäten kurzfristig neu zu setzen. Zudem achte ich neben den eingebauten Pausen zwischen den Sitzungen und den Zwischenstunden, die man gut für die wachsende Administration verwenden kann, 227
zudem auf die Reihenfolge, in welcher ich die Patienten einplane und die Fixtermine vereinbare. Es gibt schwierige und es gibt entlastende Kombinationen. Was die Zeit danach in Bezug auf den Patienten bedeutet, kann man so zusammenfassen: Wir warten ab und stehen bereit, wenn wir da sein müssen, sonst schließen wir nach einem halben Jahr anlässlich des vereinbarten Telefonates ab. Natürlich bleibt die Tür auch weiter offen. Wenn der Patient nochmals vorbeikommen möchte, soll dies möglich sein. Es gibt immer wieder Patienten, die sich von Zeit zu Zeit bei mir melden, sei es mit einer Karte, einem Brief, einem Telefonat oder weil sie einen Termin in einem halben Jahr oder einmal im Jahr vereinbaren wollen. Für all das bleibe ich bei diesen Patienten flexibel und offen. Ich habe schizophrene Klienten, die seit Jahren alle sechs oder acht Wochen zu einem Termin kommen, weil sie es so brauchen und wünschen. Ich frage regelmäßig nach, ob dieses Setting gut ist. Manchmal wird es gestreckt, manchmal gekürzt, langfristig pendelt sich meist ein Rhythmus ein, der sich als optimal herausstellt. Es gibt auch Patienten, die mich selten, unregelmäßig und eher spontan telefonisch um meinen Rat fragen und den Kontakt so locker aufrechterhalten. Mit zunehmendem Alter erweitert sich unser Patientenkreis und die Wahrscheinlichkeit, dass wir erneut aufgesucht werden, steigt an. Damit nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, nicht mehr genügend Zeit für alle zu haben, außer wir blicken weit und vorsorgend voraus und planen entsprechend. Es gibt mit den Jahren viele »Zeiten danach«, weil sich inzwischen eine große Klientel gebildet hat und wir uns verpflichten, Zeit für alle zu haben, wenn sie uns brauchen. Das muss frühzeitig bedacht werden. Wir selbst werden auch älter und mögen, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, nicht mehr jeden Tag intensiv mit so vielen Patienten arbeiten, wie dies früher der Fall war. Es ist ratsam, nicht zu früh, aber rechtzeitig zu beginnen, neue Patienten nur mit Vorsicht und abnehmender Zahl anzunehmen. Dies ist individuell sehr verschieden und hängt von der persönlichen Belastbarkeit ab. Ein guter Ausgleich ist, sich auch als Supervisor zur Verfügung zu stellen, wenn man dafür geeignet ist. Diese zwei Maßnahmen 228
schaffen etwas Luft, wenn es zeitlich eng wird. Im Notfall eine Supervision abzusagen, wenn sonst wirklich keine freie Stunde mehr in nützlicher Frist zur Verfügung steht, ist nicht optimal, aber weniger einschneidend als eine Therapiestunde. Bis zum Alter von vierzig Jahren konnte ich mit voller Power arbeiten, auch mal Notfälle einschieben oder länger arbeiten. Irgendwann machten sich meine Grenzen deutlich bemerkbar. Ich begann, zehn bis zwanzig Prozent meiner Arbeitszeit für Supervisionen und anderes einzusetzen. Gleichzeitig wurde dies meine Garantie, Zeit zu finden. Inzwischen war die Anzahl ehemaliger Patienten angestiegen. Manche meldeten sich in Not wieder bei mir und ich fand ohne allzu großen Druck Zeit, auf sie einzugehen. Inzwischen bin ich weitere gute zehn Jahre älter geworden und arbeite inzwischen dreißig bis vierzig Prozent ohne Direktkontakt zum Patienten. Glaubwürdig bleibt man als Supervisor nur, wenn man trotzdem täglich und solange wie möglich direkt mit Patienten therapeutisch arbeitet. Einen gesunden Mix aus Praxis und Supervision für sich zu finden, ist eine sich immer wieder neu stellende Aufgabe. Sie fordert von uns, die eigenen Grenzen zu erkennen und sich diesen nicht mittels Verdrängung und Verleugnung zu verschließen. Das Burnout lauert und schlägt sonst unbarmherzig zu, was nicht nur für den Therapeuten, sondern auch für seine Patienten fatal sein kann. Hier tragen wir selbst die Verantwortung. Noch ein Wort zur Supervisorenrolle: Es gibt leider zunehmend Personen, die in ihrer Karriere nur wenige Patienten gesehen und über lange Strecken begleitet haben, aber fleißig Bücher schreiben, Seminare und Supervisionen anbieten. Das hilft besonders dem Unerfahrenen kaum weiter, weil zwar alles theoretisch brillant aufgeht, die Umsetzung in die Praxis sich jedoch schwierig gestaltet, weil die Realität eben doch ganz anders aussieht. Das führt nicht selten beim Supervisanden zu unnötigen Versagensgefühlen. Zukünftige Supervisanden sind darauf angewiesen, dass wir sie nicht täuschen, sie partnerschaftlich begleiten, ihnen helfen, sich zu entwickeln und sie nicht dabei behindern. Supervisor zu werden ist eine heikle Entscheidung, die nicht nur von der fachlichen und menschlichen Qualität des Einzelnen abhängt. Ich war jedenfalls 229
sehr froh und dankbar, als mir einer meiner Chefs das Angebot machte, unter seiner supervisorischen Begleitung, die sehr wohlwollend, aber kritisch, äußerst motivierend und unterstützend war, eine erste eigene Supervision zu machen. Der Patient bestimmt, was er braucht. Wir reflektieren dabei, ob wir einen zu bearbeitenden Widerstand erkennen, den wir gemeinsam angehen wollen oder ob es die für den Patienten notwendige Absicherung ist, um stabil auf seinem Weg weitergehen zu können. Ich erinnere an das Referat Benedettis zu Bleulers Geburtstag, in welchem er festhält, dass wir uns von dem zwingenden Gedanken, schizophrene Patienten zu heilen, trennen müssen, um all denen, die das nicht erreichen können, auch gerecht zu werden und für sie mit viel Geduld offen zu bleiben. Das gilt ebenso für unsere Borderline-Patienten. Die Zeit danach hört oft erst auf, wenn wir aufhören zu arbeiten. Dies ist der Zeitpunkt, unsere Klientel rechtzeitig zu informieren und mit jedem Einzelnen für die Fortsetzung der Kontinuität zu sorgen. Es gilt, mit ihnen einen guten Ort zu finden, wo es weitergehen kann. Dann erst können wir in Ruhe abtreten. Aufhören kann auch durch unseren eigenen Tod bedingt sein. Das ist nicht planbar. Deshalb müssen wir darüber reden, insbesondere wenn unsere Patienten wesentlich jünger sind als wir selbst. Ich möchte dieses letzte Kapitel mit einem Satz aus den »Sprüchen der Väter« beenden, welcher ein guter Begleiter auf dem schwierigen Weg der Therapie schwerkranker Menschen sein kann. Uns, die nur selten mit unseren Patienten das erreichen können, was wir uns wünschen würden und ihnen, unseren Patienten, die sich oft mit sehr wenig begnügen müssen, sei gesagt: »Wer ist reich? Derjenige, der sich mit seinem Teil freuen kann!«
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Zusammenfassung
Ich beende dieses Buch irgendwo in meinem Alltag, unglücklich über das unendlich Viele, das ich nicht schreiben konnte und glücklich, dass es mir überhaupt und mit Hilfe anderer gelungen ist, soweit zu kommen. Auf die Frage, was denn das wahre Wesen der Schizophrenie oder der Borderline-Störung ist, findet sich auch hier keine Antwort. Kann es überhaupt Antworten geben? Es sind von Menschen geschaffene Definitionen und Begriffe, die die Dimension einer Konvention nicht verlassen können. Es sind eben keine Wahrheiten. Ich habe über Menschen berichtet, die an dem leiden, was wir heutzutage Schizophrenie und BorderlinePersönlichkeits-Organisation nennen. Es war nicht die Wahrheitssuche oder das rein theoretisch-wissenschaftliche Interesse, die mich zum Schreiben dieses Buches motiviert haben. Es waren die Menschen, denen ich auf meinem beruflichen Weg begegnen durfte – Menschen wie du und ich, die für uns oft unerreichbar weit weg und bei aller Ähnlichkeit ganz anders sind als wir. Ich habe sie in meiner Funktion eines Dolmetschers und Vermittlers in den Fallbeispielen zu Wort kommen lassen. Ausgehend vom Drei-Instanzen-Modell von Freud (Über-Ich, Ich und Es) habe ich zunächst das Ich in einem einfachen, von mir konstruierten, mechanistischen Kreis-Modell beschrieben. Die Idee des Kreises basiert auf Scharfetters Modell des Ich-Bewusstseins, das er in seinem Werk »Allgemeine Psychopathologie« vorgestellt hat. In diesem Modell durchdringen die inneren Dimensionen die äußeren und ermöglichen sie erst. Bereits als junger Student hat mich diese Sichtweise fasziniert und sie überzeugt mich bis heute. Die Psychopathologie der Schizophrenie, die Benedetti in »Todeslandschaften der Seele« mit seinen Primärsymptomen eindrücklich dargelegt hat, ließen mich früh das 231
Kreismodell von Scharfetter dazu assoziieren. Die Primärsymptome von Benedetti (Spaltung, Autismus, Athymie) stellte ich anhand des mechanistisch-konkretistischen Ich-Kreismodells dar. Ergänzt und veranschaulicht wurden diese Ausführungen mit Beispielen aus Patienten-Begegnungen. Unter Schizophrenie verstehe ich die wahrscheinlich schlimmste Krankheit des Ich, die es gibt, soweit es überhaupt legitim ist, Krankheiten zu bewerten. Es scheint sich vor allem um eine strukturelle Ich-Zerfallskrankheit zu handeln. Verschiedene Wege, welche der Betroffene mit und ohne äußere Hilfe und Behandlung gehen muss, haben leider, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit »restitutio ad integrum«, was gelungener, vollständiger Reparation gleichkommt, wenig zu tun. Mit Fragen, wie sich der schizophrene Ich-Zerfall modellhaft verstehen lässt, wie er sich in unserer Realität inszeniert, warum und unter welchen Bedingungen verschiedene Wege von den betroffenen Menschen gegangen werden, befasste sich der Psychodynamik-Teil. Aus didaktischen Gründen habe ich diese nur eindimensional vom Primärsymptom der Spaltung des Ich ausgehend entwickelt und die gleichwertigen Betrachtungsmöglichkeiten von Autismus und Athymie vernachlässigt, da unser Denk- und Vorstellungsvermögen sonst wahrscheinlich überfordert wäre. So erschienen die Primärsymptome Autismus oder Athymie hier vorwiegend im Licht der sekundären, psychodynamischen Konsequenzen. Ich habe drei Wege in den Wahn dargestellt, welche das Ich in der Fragmentation nehmen kann. Welcher dieser Wege beschritten wird, ist weitgehend abhängig von der für die Abwehr zur Verfügung stehenden psychischen Energie. Wenn nur sehr wenig psychische Energie für die Abwehr zur Verfügung steht, bleibt dem Ich des Kranken nur, sich der Fragmentation passiv zu ergeben. Dem Zerfall hilflos ausgeliefert, findet er sich dann im Wahn der zunehmenden Negativexistenz wieder. Eine Ausdrucksform davon ist, sich zu Beginn und so lange wie möglich abgetrennt neben sich selbst zu stellen, das heißt sich vom zerfallenden Großteil seines Ichs zu distanzieren und diesen an die Welt außerhalb ab- und damit aufzugeben (Nicht-Ich). Dieser verlorene Teil des Ich wird dann konsequent als fremd und der Au232
ßenwelt angehörend erlebt. Mit seinem schrumpfenden RumpfIch wird der Kranke unweigerlich zum Beobachter des eigenen Zerfalls, aber er ist. Zuletzt, vor der totalen Ich-Auflösung und dem Ich-Verlust, bleibt ihm nur noch die symbiotische Verschmelzung und Identifikation mit der stetig um seinen zerfallenden Ich-Teil wachsenden Außen-Welt und/oder den mächtigen Kräften darin. Der Preis dafür ist der Verlust des Eigenen. Klinisch manifestiert sich dieser Wahn und die unaufhaltsame Entwicklung der Negativexistenz im Mantel der maniformen bis hin zur größenwahnsinnigen Superexistenz. Alles-Sein und Nichts-Sein berühren sich. Während dem Zerfall kann sich das auflösende Rumpf-Ich auf dem Weg zur Negativexistenz insofern existenzrettend neben sich stellen, als es sich die Schuld am eigenen Zerfall gibt. Ich bin schuld, also bin ich! Dies ist eine mögliche depressive Form im Rahmen der Abwehr. Früher wurde das auch Mischpsychose genannt. Heute finden wir eher den Begriff der Schizoaffektiven Psychose. Schizophrene Psychose und Depression können zwei unterschiedliche Krankheiten sein. Allerdings gibt es auch die Variante, in welcher diese psychodynamisch verknüpft betrachtet und verstanden werden müssen. Das hat therapeutische Konsequenzen, nachweislich auch auf der medikamentösen Ebene. Ein anderer, etwas progressiverer Weg der Abwehr ist, sich so weit möglich aktiv in den Autismus als Gegenpol zu flüchten. Dafür ist mehr psychische Kraft nötig als beim Weg in die reine Negativexistenz. Die zerfallenden Teile werden, so weit möglich, in einen stark abgedichteten psychischen Raum gerettet und neu zusammengesetzt. Dieser Weg führt in eine private Wahnwelt, in der wir auch Neologismen, skurrile Gebärden und Rituale vorfinden können, die letztendlich von den Mitmenschen nicht oder nur schwer verstanden werden. Sie führen den Kranken von uns weg und schützen ihn gleichzeitig auch vor weiterer Fragmentation, soweit es ihm gelingt, Autismus und Fragmentation in ein stabiles Gleichgewicht zu bringen. Im Autismus, der hier ebenfalls nicht als Primärsymptom, sondern als psychodynamische Konsequenz des Zerfallsprozesses verstanden wird, erscheint uns der Kranke fälschlicherweise athym, das heißt uninteressiert, ne233
gativistisch, passiv, ja kataton, obschon er in Wirklichkeit sehr aktiv am Gestalten und Erhalten seiner Innenwelt arbeitet. Nicht zuletzt gibt es noch die energetisch aufwändigste Form der Abwehr, die progressive Wahnbildung, welche die Welt und den Kranken in einer, uns meist nicht nachvollziehbaren, Art und Weise verknüpft. All diese Möglichkeiten können sich beim Schizophrenen gleichzeitig, nebeneinander und übereinander abspielen, was unsere Vorstellungskraft erst recht vollständig überfordert. Vielleicht ist es vergleichbar mit der Quantenphysik, die für uns nicht mehr vorstellbar ist, schon gar nicht, wenn es um Verschränkungen, Teleportation von Photonen und Ähnliches geht. Im Weiteren stellte ich ausgewählte mögliche Konsequenzen dar, wie sich aus diesem Prozess heraus veränderte Sichtweisen der Welt und der Mitmenschen für die Betroffenen ergeben können. Es ist ein Versuch, dem Leser die so eigen erscheinenden Welten und Logiken unserer schizophrenen Mitmenschen etwas näher zu bringen. Dazu sind neben theoretischen Überlegungen, welche sich aus meinem Modelldenken ergeben, auch zahlreiche Fallbeispiele nötig, die uns nicht unberührt lassen können. Sie zwingen uns, die theoretische Ebene zu verlassen, um uns, wenigstens für kurze Momente, persönlich berühren zu lassen. Danach ging es im Vergleich und zur Abgrenzung von der Schizophrenie um die verknüpft dargestellte Psychopathologie und Psychodynamik von Menschen am äußersten Rand der Borderline-Störung. Auch diese spielt sich zu einem großen Teil im erhaltenen, aber in seinen Grenzen hoch flexiblen Ich ab. So jedenfalls habe ich es hier theoretisch im Kreismodell basierend auf meinen Erfahrung mit Patienten dargestellt. Hier zeigt sich ein Ich, das nicht verlässlich ist und bleibt, das keine sichere und einigermaßen konstante, feste Struktur hat, obschon das Potenzial der Struktur erhalten bleibt. Die Borderline-Persönlichkeits-Organisation ist eine Art Zwischending zwischen struktureller- und funktioneller Störung des Ich. Ähnlich wie bei der Schizophrenie, aber meistens weniger heftig, kommt es zu einem unkontrollierten Aufsteigen von unbewusstem, bedrohlichem Material ins Bewusstsein. Das führt bei manchen Borderline-Persönlichkeits-organisierten Menschen wiederholt zu enormen Drucksteigerungen im Ich. Die 234
Ursache dafür ist die für Borderline typische zu offene, nicht mehr gänzlich semipermeable Abgrenzung zwischen Unbewusstem und Bewusstsein. Das Ich begegnet und beantwortet solche Situationen der inneren Bedrohung und Drucksteigerung mit seiner elastischen, flexiblen Ich-Grenze, was dem Schutz vor der Fragmentation des Ich dient, aber auch zur Verunsicherung über sich selbst und die Welt führt (Identitätsdiffusion). Zustände im Ich bei der inneren Borderline-Psychose, die für uns normalerweise unsichtbar bleiben, können die erste Folge einer Dekompensation dieser Abwehr sein. Selten manifestiert sich im Rahmen der weiteren Dekompensation des Abwehrsystems eine äußere Borderline-Psychose. Wir nehmen sie in Form einer psychotischen Entgleisung wahr, welche sich klinisch ähnlich zeigt wie eine schizophrene Exazerbation. Dies hat trotz der klinischen Ähnlichkeit gar nichts mit der großen, umfangreichen Fragmentation der Ich-Grenze im Rahmen der Schizophrenie zu tun. Ich ist nicht gleich Ich und Psychose nicht gleich Psychose. Die Unterschiede habe ich überall deutlich hervorgehoben und auf die Konsequenzen im Erleben und Leben dieser stark leidenden Menschen hingewiesen. Wir können mit schizophrenen wie borderlinekranken Menschen aufgrund ihrer teils sehr destruktiven Art manchmal sehr schwer umgehen. Das hat Konsequenzen für unseren therapeutischen Zugang zu ihnen. Ich habe mich eines künstlichen chronologischen Ablaufs einer Therapie in Phasen bedient und bin einigen therapierelevanten Aspekten nachgegangen: wie sich zwei Menschen finden, die sich in einem noch nicht existierenden dualen Raum der Therapie begegnen wollen und welche Probleme dabei auftreten können; wie man einen dualen Raum installiert und wie sich diese Räume und der Umgang mit ihnen bei den zwei besprochenen Diagnosen unterscheiden; was die Positionen der Beteiligten sind und wie sie sich im Prozess und Verlauf der Therapie verändern; was die Elemente sind, die die Therapie im dualen Raum benötigt, um nicht im frühen und vorzeitigen Fiasko des Therapieabbruchs zu enden. Dabei bin ich unter anderem näher auf Benedettis Übergangsubjekt eingegangen. Ich legte dar, was er unter progressiver Psychopathologie versteht und wie sich das in beiden, hier diskutierten Krankheitsbil235
dern darstellt. Ich habe mich damit beschäftigt, was Reparation ist, wie man sie erkennt und wie weit diese überhaupt möglich ist, wie ich mich dem fernen und nahenden Abschied vorsichtig annähere und ihn wiederholt anspreche. Die konkrete Gestaltung des Abschiedes sowie die Rolle und Funktion des Therapeuten nach Abschluss der Behandlung waren wichtige Bestandteile meiner Ausführungen. Ich habe aus meiner Werkstatt berichtet und darüber, wie ich mit den mir zur Verfügung stehenden Werkzeugen umgehe. Ich habe meine therapeutische Haltung, spezifische Interventionen mit schizophrenen oder borderlinekranken Menschen und deren Umsetzung in die Praxis vorgestellt. Ich biete jedoch kein Manual und die allgemein gültige Lösung an, sondern hoffe, mit meinem Buch zu ermutigen, sich für diese Menschen zu interessieren, sie nicht schemahaft zu managen, sondern sich ihnen konstruktiv und einfühlsam mit den individuell vorhandenen Mitteln zuzuwenden. Vorerst sind wir in einer Therapie nur interessierte Fremde und werden zu Gästen. Mit der Zeit ergibt es sich über Gegenübertragungsreaktionen der Gegenwart, dass der Therapeut eigenen versteckten Aspekten begegnet, die sonst verborgen geblieben wären, auch wenn er bereits eine tiefe, ausgedehnte Psychoanalyse durchlaufen hat. Der Patient und seine Welt ist unser Spiegel. Wir sind das Umgekehrte gewohnt, nämlich selbst Spiegel und, in manchen Therapieformen, auch Wegweiser zu sein. Wie aber, wenn der Spiegel und Wegweiser selbst als Begleiter Wege beschreiten muss, die er eigentlich noch nie gegangen ist? Die Arbeit mit solchen Menschen bietet dem Therapeuten eine einmalige Chance: Er kann sich mit Hilfe dieser Menschen und ihren eigenen Welten selbst begegnen und sich sinnerfüllt weiterentwickeln. Diese Chance sollten wir für uns wie zum Vorteil des Patienten nutzen.
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Dank
Dieses Buch wäre nie zu Stande gekommen, gäbe es nicht die vielen Patienten, die mich in all den Jahren in ihre Universen und Welten geführt hätten. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Es gab nur wenige Personen, die von meinem Projekt, ein Buch zu schreiben, wussten. Meine Lebenspartnerin war in doppelter Hinsicht mehr als eine Stütze: Sie hat meine Texte im ersten Entwurf immer wieder geduldig durchgelesen, korrigiert, ergänzt und meinen Ideenschwall, der sich anfänglich in endlosen Sätzen ergoss, gebremst und geordnet, so dass es dem Leser heute möglich ist, den roten Faden zu erkennen. Mit viel Geduld hat sie die vielen Dispute, die wir führten, welche teils sehr engagiert, ja heftig waren, immer zu einem konstruktiven Ende geführt. In Zeiten des Zweifelns und der Unlust hat sie mich ermutigend zurück auf den Weg geschickt. Ohne sie wäre es nie zu einer Fassung gekommen, welche ich dem Verlag zur Durchsicht und zur Bearbeitung hätte unterbreiten können. Ohne meinen Supervisor Professor Christian Scharfetter hätte ich oftmals die Tiefen, in welche meine Patienten mich führten, nicht erkennen und verstehen können. Er war wie die Brille, durch die ich klarer sehen konnte. Mein Augenlicht allein hätte dafür oft nicht ausgereicht. Er war für mich die Orientierungshilfe in den fremden Welten, für die es keine Landkarte und keinen Kompass gibt. Frau Englisch unterstützte mich mit ihrer Fachkenntnis und ihrer menschlichen, ungezwungenen Art des Umgangs auf dem heiklen Weg vom Entwurf zum druckreifen Manuskript. Allen danke ich.
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