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German Pages 388 Year 2022
Daniel Schönefeld, Wolfgang von Gahlen-Hoops (Hg.) Soziale Ordnungen des Sterbens
Kulturen der Gesellschaft Band 54
Daniel Schönefeld, geb. 1979, ist Soziologe und Professor an der Hochschule Neubrandenburg. Er analysiert die kommunikative Herstellung des Sozialen. Zu seinen Forschungsfeldern zählen Bildung, Medizin und Pflege. Wolfgang von Gahlen-Hoops (Prof. Dr. phil), geb. 1974, ist Professor für Didaktik der Pflege und Gesundheitsberufe an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Systematik des pflegerischen Handelns, Interprofessionalität, Umschulen in Pflegeausbildungen, Lehren und Lernen in Gesundheitsausbildungen. Er hat u.a. zu den Themen soziale Ordnungen des Sterbens und Pflege als Performance publiziert.
Daniel Schönefeld, Wolfgang von Gahlen-Hoops (Hg.)
Soziale Ordnungen des Sterbens Theorie, Methodik und Einblicke in die Vergänglichkeit
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Inhalt
EINLEITUNG Dreimal Sterben Einführung in den Sammelband
Daniel Schönefeld und Wolfgang von Gahlen-Hoops | 11 Danksagung
Wolfgang von Gahlen-Hoops und Daniel Schönefeld | 17
I. THEORETISCHE ZUGÄNGE Das Problem sozialer Ordnung und der Tod Über das Verschwinden des Todes aus der Theoriegeschichte
Jakob Schultz | 21 Fragilität und Sterben Soziale Ordnungsversuche im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Definition, gesellschaftlicher Ausgrenzung und erinnernder Kommunikation
Klaus R. Schroeter und Christine Matter | 53 Der Tod und die Liebe Die Metaphysik der Kommunikation
Christian Fuchs | 75 Der Tod als Andersheit
Martin W. Schnell | 103 Die Angst vor dem sozialen Sterben
Matthias Hoffmann | 115
II. METHODOLOGIEN UND METHODIKEN Wie erforscht man das Sterben? Methodologische Überlegungen
Christine Dunger und Martin W. Schnell | 137 Dabei-Sein, Mit-Machen, Wahr-Nehmen Ethnografische Zugänge in der Sterbeforschung
Melanie Pierburg | 157 Die Leichen der Ethnomethodologie
Daniel Schönefeld | 177 Palliative Performance Pflegewissenschaftliche Analysen zur Handlungssystematik am Lebensende
Wolfgang von Gahlen-Hoops | 199 I bid you farewell A phenomenological study of saying goodbye
Sine Maria Herholdt-Lomholdt | 221
III. EMPIRISCHE ARBEITEN Organisierte Gegenwarten Kommunikation mit Familienangehörigen in der ambulanten Sterbebegleitung und Palliativversorgung
Anna Bauer | 241 Gesundheit und Lebenssinn Sterbeideale in der Palliativversorgung aus der Perspektive einer wissenssoziologischen Thanatologie
Felix Tirschmann | 263 Die Vulnerabilität sterbender Menschen als Vermittlungsproblem im Pflegeunterricht
Jonas Hänel | 289 Die tiefe und kontinuierliche Sedierung am Lebensende und ihre soziale Dimension
Claudia Bozzaro, Anne Letsch und Claudia Schmalz | 325
Digitalisierung des Todes Perspektiven der Sozioinformatik und Thanatologie auf digitale Systeme der Thanatopraxis
Nele Wulf, Dominic Lammert, Stefanie Betz, Enno Edzard Popkes und Ullrich Schiller | 341 Digitaler Nachlass als Herausforderung für gesellschaftliche Neuordnungen
Kirsten Brukamp | 361 Autor*innen | 379
Einleitung
Dreimal Sterben Einführung in den Sammelband Daniel Schönefeld und Wolfgang von Gahlen-Hoops
Der Prozess des Sterbens lässt sich aus einer Vielzahl an wissenschaftlichen Perspektiven erforschen und rekonstruieren. Zwei Sichtweisen sind besonders dominant: (1) Bei der ersten handelt es sich um die medizinische Perspektive auf das Lebensende. Sie gewann vor allem mit dem Übergang in die Moderne an Relevanz (vgl. Knoblauch 2011; Schäfer 2015). In dieser Phase entwickelte sich die Medizin zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin. Sie versachlicht das Sterben, indem sie den Blick in den Körper richtet. Das heißt: Als Ursache des Lebensendes gelten hier physiologische Prozesse und nicht mehr Faktoren außerhalb des Individuums, wie etwa der Zorn eines strafenden Gottes, Flüche oder Sternkonstellationen. In der Medizin gibt es heute zwei prominente Definitionen des Sterbens bzw. des Todes: Die erste betrachtet den Herz-/Lungentod als Hauptursache des Lebensendes, die zweite nimmt das Absterben des Gehirns als Markierung des Todes. Beide Konzepte konvergieren in einem Punkt: Für die Medizin stirbt nicht ein Mensch, sondern ein Körper. (2) Eine zweite dominante Perspektive auf das Sterben ist die psychologische Sichtweise. In deren Zentrum stehen kognitive und emotionale Prozesse. Diese Form der wissenschaftlichen Konstruktion des Lebensendes gewinnt in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts an Relevanz. Geprägt ist diese Phase durch eine zunehmende Entwicklung von Ratgeber-Literatur, der Hospizbewegung und der Etablierung der Palliativmedizin (vgl. Knoblauch 2011). Stilprägend für die psychologische Beschreibung des Sterbens ist die Studie von Elisabeth Kübler-Ross (2018 [1969]). Auf Basis zahlreicher Interviews mit Sterbenden hat sie einen Entwicklungsverlauf rekonstruiert, den Menschen im Angesicht ihres Lebensendes durchmachen. Den Beginn markiert dabei vor allem eine Abwehrhaltung: „‚Ich doch nicht, das ist ja gar nicht möglich!‘“ (Kübler-Ross
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2018: 68) Es folgen die Phasen des Zorns, des Verhandelns und der Depression, bis die jeweilige Person schließlich in ihr eigenes Ende einwilligt und ihren Tod bewusst und offen erwartet. Sterben wird in dieser Logik als eine Lebensphase konstruiert, in der das denkende und fühlende Subjekt Entwicklungsaufgaben lösen muss, bis es schließlich einen spezifischen Reifegrad erlangt hat. Diese Vorstellung dominiert bis heute unser Bild vom ‚Guten Sterben‘, das in Lehrbüchern der Sozial- und Gesundheitsberufe zirkuliert (vgl. Saake u.a. 2019). (3) Auch in den Sozialwissenschaften wird zu Sterben und Tod geforscht, werden also akademische Konstruktionen zu diesem Themenfeld entwickelt und diskutiert (vgl. z.B. Benkel/Meitzler 2021; Jakoby/Thönnes 2017; Knoblauch/ Zingerle 2005). Im Unterschied zu medizinischen und psychologischen Beschreibungen werden sozialwissenschaftliche Perspektiven außerhalb ihrer Grenzen jedoch vergleichsweise wenig diskutiert. Das betrifft zunächst das alltägliche Reden der Leute: Welche Angehörigen diskutieren Formen von Sprachlosigkeit am Sterbebett aus zivilisationstheoretischer Perspektive? Wer zitiert klassenspezifische Sterberisiken, um die schwere Krankheit eines Familienmitglieds einzuordnen? Aber auch innerhalb der Wissenschaften werden sozialwissenschaftliche Einsichten zu Sterben und Tod eher zögerlich rezipiert. Das fällt insbesondere in den Pflegewissenschaften auf, innerhalb derer der vorliegende Sammelband verortet ist.1 Diese Beobachtung ist für uns deshalb von Relevanz, weil jedes Jahr Hunderte von Absolvent*innen entsprechender Studiengänge die Hochschulen und Universitäten verlassen und später an verschiedenen Stellen des Gesundheitswesens auch die Praxen des Sterbens und des Todes mitgestalten. Diese Praxen werden wiederum von anderen individuellen und korporativen Akteur*innen beobachtetet und übernommen (vgl. Hasse/Krücken 2005): seien es Pflegende im unmittelbaren Kontakt mit Patient*innen, Lehrende in der Aus-, Fort- und Weiterbildung oder Entscheider*innen in gesundheitspolitischen oder -administrativen Positionen. Es stellt sich die Frage: Wie lässt sich dieser Befund erklären? Warum werden sozialwissenschaftliche Theorien und Ergebnisse zum Lebensende so selten im Alltag der Leute und in den Pflegewissenschaften diskutiert? Zunächst liegt das sicherlich am Begriff Sozialwissenschaften selbst. Im Unterschied zur Medizin und Psychologie wird damit kein einzelnes Fach be-
1
Die Vernachlässigung einer sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Sterben und Tod wird hier etwa erkennbar bei einer Durchsicht von Lehrbüchern. Sie zeigt sich aber auch in den (veröffentlichten) Debatten innerhalb verschiedener Arbeitsgruppen, wie etwa jenen zur Reform des Pflegeberufegesetzes. Anders ist es international; vgl. dazu z.B. O’Gorman 1998; Copp 1998.
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zeichnet, sondern eine Reihe verschiedener Disziplinen, die ihren Fokus auf das gesellschaftliche Zusammenleben richten (vgl. Lehner 2011). Dazu zählen etwa Soziologie, Ethnologie, Politikwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Erziehungswissenschaften oder die Geschichtswissenschaft. Mit dieser Pluralität an akademischen Sichtweisen ergibt sich eine überwältigende Bandbreite an Perspektiven auf das Sterben und den Tod. Erkennbar wird das an den verschiedenen Ebenen, auf denen das Lebensende rekonstruiert wird. Erstens finden sich hier gesellschaftstheoretisch orientierte Arbeiten, die der Frage nachgehen, wie die mit Sterben und Tod verkoppelten Deutungen unterschiedliche soziale Prozesse begünstigen und vorantreiben. Hierzu gehören beispielsweise die Entstehung einer Wirtschaftsordnung oder das Gefühl, eine Gemeinschaft zu bilden (vgl. Weber 1988; Durkheim 2014). Zweitens gibt es zahlreiche Arbeiten, die ihren Fokus auf das Organisieren des Sterbens und des Todes richten. Sie untersuchen Formen der praktischen Herstellung des Lebensendes und Differenzen zwischen professionsspezifischen Perspektiven auf Sterbende (vgl. z.B. Sudnow 1973; Saake u.a. 2019; Mayr/Barth 2021; Streckeisen 2005). Drittens finden sich auch Arbeiten, die von einem Gesellschafts- oder Organisationsbegriff absehen und ihren Fokus auf Individuen und deren (biografisch sedimentierten) Wissenshaushalt richten. Sie fragen etwa, wie der bevorstehende Prozess des Sterbens biografisch konstruiert wird (vgl. z.B. Seltrecht 2013). Mit dieser Vielfalt an Beobachtungspositionen geht zum anderen auch eine enorme Bandbreite methodischer Haltungen und forschungspraktischer Untersuchungsstrategien einher. So finden sich einige Arbeiten, die Sterben und Tod eher als illustrative Beispiele einer bereits ausgearbeiteten Theorie diskutieren. So rekonstruiert beispielsweise Norbert Elias (1982) die Situation von Sterbenden auf Basis seiner zivilisationstheoretischen Überlegungen. Daneben finden sich zahlreiche Arbeiten, die mit verschiedenen Verfahren der Datenanalyse eigens für ihre jeweiligen Forschungszwecke erhobenes empirisches Material untersuchen. Neben rekonstruktiven Verfahren – wie etwa der Framework Analysis (vgl. Dunger/Schnell 2018) oder der Konversationsanalyse (vgl. Pino/Parry 2019) – finden sich auch quantitative Studien, die beispielsweise Sterbequoten im Längsschnitt analysieren. Es wird also deutlich, dass sozialwissenschaftliche Zugänge zu Sterben und Tod sehr heterogen sind. Dieses lockere Nebeneinander verschiedener Perspektiven ist begrüßenswert, weil es Ermöglichung und Ausdruck komplexer Diskussionen ist. Hinsichtlich der Debatten in den Pflegewissenschaften ist es aber auch eine verpasste Chance: So wird nicht deutlich, dass das Soziale – neben dem Körper und dem Bewusstsein – ein Phänomen eigener Art ist und als sol-
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ches gewürdigt werden sollte (vgl. Luhmann 2018 [1984]; Garfinkel 1967). Ohne diese Haltung haben sozialwissenschaftliche Einsichten aber auch eine geringere Chance, als eigenständige Perspektiven in Diskussionen verschiedener Gremien durchzudringen (wie etwa der Curriculumentwicklung in den Pflegestudiengängen) oder bei der theoretischen Rahmung empirischer Studien der klinischen Pflegewissenschaft mitgedacht zu werden. Und auch innerhalb der Sozialwissenschaften mangelt es an einem klaren Fixpunkt, der dabei hilft, das Verbindende in der Perspektivenvielfalt zu erkennen. Eine Lösung für diese Problematik bildet unserer Auffassung nach die Suche nach einem Begriff, über den die verschiedenen Sozialwissenschaften in Beziehung treten können und damit als Angehörige einer Wissenschaftsfamilie erkennbar werden. Mit dem vorliegenden Sammelband wollen wir der Frage nachgehen, inwiefern sich der Begriff Soziale Ordnungen des Sterbens dafür eignen könnte. Die in diesem Band versammelten Beiträge nähern sich diesem Begriff auf dreierlei Weise: Die erste Gruppe von Beiträgen nimmt eine theoretische Konturierung vor. Mithilfe verschiedener Methoden – der Einnahme einer spezifischen theoretischen Position, dem Vergleich verschiedener Theorien und der Suche nach dem Potenzial bisher kaum beachteter Konzepte – zeigen die Autor*innen, wie man Soziale Ordnungen des Sterbens systematisieren und modellieren kann. In der zweiten Abteilung des Bandes stehen methodische Zugänge zu den Sozialen Ordnungen des Sterbens im Zentrum. Neben einer Übersicht zu verschiedenen Formen der Datenerhebung und -analyse, finden sich vor allem Beiträge, die eine spezifische Forschungshaltung darlegen und anhand ausgewählter empirischer Materialen zeigen, wie man methodisch kontrolliert zu empirischen Einsichten gelangen kann. Eben solche empirischen Einsichten in die Sozialen Ordnungen des Sterbens bilden den Fokus der dritten Gruppe von Beiträgen. Aus verschiedenen theoretischen und methodischen Positionen heraus untersuchen die Autor*innen die Konturen von Sterbeidealen, Praxen und Deutungen der Palliative Care, Herausforderungen einer Digitalisierung von Sterben, Trauer und Nachlass sowie neue Formen der Vermittlung von Sterben als Thema im Pflegeunterricht.
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LITERATUR Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias (Hrsg.) (2021). Wissenssoziologie des Todes. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Copp, Gina (1998). A review of current theories of death and dying. In: Journal of Advanced Nursing, 28 (2), S. 382-390. Dunger, Christine/Schnell, Martin W. (2018). Was ist die Framework Analysis? In: Schnell, Martin W./Schulz-Quach, Christian/Dunger, Christine (Hrsg.). 30 Gedanken zum Tod. Die Methode der Framework Analysis. Wiesbaden: Springer. Durkheim, Émile (2014). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Berlin/ Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag/Suhrkamp. Elias, Norbert (1982). Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Garfinkel, Harold (1967). Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice-Hall. Hasse, Raimund/Krücken, Georg (2005). Neo-Institutionalismus. Bielefeld: transcript. Jakoby, Nina/Thönnes, Michaela (Hrsg.) (2017). Zur Soziologie des Sterbens. Aktuelle theoretische und empirische Beiträge. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Knoblauch, Hubert (2011). Der populäre Tod? Obduktion, Postmoderne und die Verdrängung des Todes. In: Groß, Dominik/Tag, Brigitte/Schweikardt, Christoph (Hrsg.). Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod. Frankfurt/M./New York: Campus Verlag. Knoblauch, Hubert/Zingerle, Arnold (Hrsg.) (2005). Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens. Berlin: Duncker & Humblot. Kübler-Ross, Elisabeth (2018). Interviews mit Sterbenden. Freiburg u.a.: Herder. Lehner, Franz (2011). Sozialwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Luhmann, Niklas (2018). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mayr, Katharina/Barth, Niklas (2021). Interaktion mit Sterbenden. Die Differenzierung von Bewusstseinskontexten auf der multiprofessionellen Palliativstation und die Bearbeitung von Kommunikationsabbrüchen. In: Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias (Hrsg.). Wissenssoziologie des Todes. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa.
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O’Gorman, Stella Mary (1998). Death and dying in contemporary society: an evaluation of current attitudes and the rituals associated with death and dying and their relevance to recent understandings of health and healing. In: Journal of Advanced Nursing, 27, S. 1127-1135. Pino, Marco/Parry, Ruth (2019). How and when do patients request life-expectancy estimates? Evidence from hospice medical consultations and insights for practice. Patient Education and Counseling, 102 (2), S. 223-237. doi: 10.1016/j.pec.2018.03.026. Saake, Irmhild/Nassehi, Armin/Mayr, Katharina (2019). Gegenwarten von Sterbenden. Eine Kritik des Paradigmas vom „bewussten“ Sterben. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 71, S. 27-52. Schäfer, Daniel (2015). Der Tod und die Medizin. Kurze Geschichte einer Annäherung. Berlin/Heidelberg: Springer. Seltrecht, Astrid (2013). Lernen im Angesicht des Todes? In: Nittel, Dieter/Seltrecht, Astrid (Hrsg). Krankheit: Lernen im Ausnahmezustand? Brustkrebs und Herzinfarkt aus interdisziplinärer Perspektive. Berlin/Heidelberg: Springer. Streckeisen, Ursula (2005). Das Lebensende in der Universitätsklinik. In: Knoblauch, Hubert/Zingerle, Arnold (Hrsg.). Thanatosoziologie: Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens. Berlin: Duncker & Humblot. Sudnow, David (1973). Organisiertes Sterben. Eine soziologische Untersuchung. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag. Weber, Max (1988). Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. (9. Aufl.; Photomechanischer Nachdruck der 1920 erschienenen Erstaufl.). Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Danksagung
Einen Sammelband zu konzipieren, umzusetzen und zu finalisieren, bedeutet eine lange Wegstrecke, die man mit vielen Menschen gemeinsam zurücklegt. Am Beginn dieses Weges stand ein gemeinsam gestaltetes Forschungsseminar an der Hochschule Neubrandenburg. Dieses Seminar, mit seinen Diskussionen, Vorträgen und Planungen, wie man Prozesse des Sterbens aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive theoretisch denken und empirisch erforschen könnte, war der Ausgangspunkt für diesen Sammelband. Aus diesem Grund danken wir vor allem unseren (ehemaligen) Studierenden der Berufspädagogik für Gesundheitsberufe und der Pflegewissenschaft an der Hochschule Neubrandenburg, die sich auf dieses Abenteuer eingelassen haben. Sie haben uns motiviert, einen Sammelband zu diesem Thema, zu den Sozialen Ordnungen des Sterbens, herauszugeben. Wir bedanken uns überdies bei allen Autor*innen für die professionelle Zusammenarbeit, den sehr guten disziplinären und transdisziplinären Austausch und die Geduld, die eine nachhaltige Text- und Bildgestaltung erfordert. Schließlich danken wir den Mitarbeitenden des transcript Verlags, der Lektorin Frau Schaller und Georg Rasener, der uns als studentische Hilfskraft bei der Produktion des Bandes unterstützt hat. Nicht zuletzt danken wir Ihnen, den interessierten und kritischen Leser*innen, dass Sie sich mit den Sozialen Ordnungen des Sterbens beschäftigen. Herzlichen Dank sagen Wolfgang von Gahlen-Hoops und Daniel Schönefeld
I. Theoretische Zugänge
Das Problem sozialer Ordnung und der Tod Über das Verschwinden des Todes aus der Theoriegeschichte Jakob Schultz
1.
EINLEITUNG – ODER: DAS PROBLEM SOZIALER ORDNUNG UND SEIN ENDE?
In The Structure of Social Action von 1937 hat Parsons das Problem sozialer Ordnung für nachfolgende Generationen von Sozialtheoretiker*innen verbindlich formuliert.1 Sein Ausgangspunkt war Hobbes’ Bestimmung des Naturzustands als eines „state of war“, die unter der Voraussetzung spezifisch neuzeitlicher Annahmen über die natürlichen Rechte von Menschen entstanden sei. Das Recht auf „individual freedom from authoritarian control“ – die „säkularisierte“ Fassung der protestantischen Idee einer „freedom of conscience“ – impliziere eine grenzenlose Anspruchshaltung des Menschen, die Hobbes zufolge ohne „the coercive authority of the state“ zum Krieg eines jeden gegen jeden führe (Parsons 1968 [1937]: 87-89). Zwar teilte Parsons nicht Hobbes’ Lösungsvorschlag, war er doch der Ansicht, dass eine fehlende staatliche Zwangsgewalt gerade nicht zwangsläufig einen Kriegszustand zur Folge haben würde (vgl. ebd.: 97); ihn überzeugte aber der Problembefund. Die allgemeine Frage, die sich aus Parsons’ Auseinandersetzung mit Hobbes ergab und die noch viele weitere Theoretiker*innen nach ihm beschäftigen sollte, lautete dann: Wie ist soziale Ordnung möglich? In seinem weiteren Theorievorhaben ging es Parsons denn
1
Insofern nämlich, als sich viele weitere Theoretiker*innen bis heute an dieser von Hobbes inspirierten Parsons’schen Fassung des Ordnungsproblems – ob eher affirmativ oder kritisch – abarbeiten (vgl. Joas/Knöbl 2004: 37 f., 56).
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auch darum, die „adäquaten“ Gründe dafür anzugeben, weshalb der Hobbes’sche (Kriegs-)Zustand einer grenzenlosen individuellen Interessenverfolgung lediglich einem hypothetischen Konstrukt und – zumindest in den meisten Weltregionen – nicht der Realität entsprach. Seine Lösung des Ordnungsproblems bestand bekanntlich in dem, was später „Wertekonsensus“ genannt werden sollte: in der Annahme von mit anderen geteilten Werten und Normen (vgl. ebd.: 249). In seiner Theoriegeschichte zur Ordnungsthematik führt Parsons zwei weitere Autoren an, die den problemhaften Charakter sozialer Ordnung auf unterschiedliche Weise herausgestellt haben: Malthus (vgl. ebd.: 102-107) und Marx (vgl. ebd.: 107-110). An allen diesen Problematisierungen (inklusive Hobbes) fällt auf, so sehr sie sich auch in ihren theoretischen und praktischen Ambitionen unterscheiden, dass darin dem vorzeitigen menschlichen Tod jeweils eine zentrale Rolle zukommt. Insofern nämlich, als er – im Sinne eines nicht wünschenswerten, gesellschaftlich erzeugten und daher auch prinzipiell vermeidbaren Phänomens – das entscheidende normative Kriterium liefert, womit die betrachtete soziale Ordnung jeweils zum Problem erklärt wird. 2 Dahingegen nahm das frühzeitige Ableben in Parsons’ eigenem Lösungsversuch eine erstaunlich randständige Stellung ein, und das obwohl er Hobbes’ Naturzustand als Ausgangspunkt wählte.3 Mehr noch: Mit seinen späteren Überlegungen zu symbolisch generalisierten Interaktionsmedien verschwand das Problem des Todes vollends aus seiner Sozialtheorie4 – von Hobbes keine Spur mehr. Dem war eine bedeutende
2
Etwas anderes ist es, wie Simmel (1999 [1918]: 297-345) nach den lebens- und gesellschaftsstrukturierenden Wirkungen des zwar ebenfalls menschlichen, aber nicht vorzeitigen Todes zu fragen. Ein solcher Tod mag in nachchristlichen Zeiten ein Anlass für Verzweiflung oder Rastlosigkeit sein; er bietet jedoch keinerlei (normatives) Skandalisierungspotenzial, mit dessen Hilfe soziale Ordnung problematisiert werden könnte.
3
Dies ist nicht verwunderlich, da Parsons das zentrale normative Kriterium, womit Hobbes den Übergang vom Naturzustand in einen staatlich befriedeten Zustand (vermeintlich) begründete, in dem legitimen Interesse eines jeden Menschen sah, seine je eigenen Ziele zu erreichen (vgl. Parsons 1968 [1937]: 92 f.). Aus meiner Sicht spricht jedoch vieles dafür, dass es Hobbes in normativer Hinsicht stattdessen in erster Linie um die Selbsterhaltung des Menschen ging (siehe 2.1).
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Dass Parsons (1963) in den frühen 1960er Jahren die veränderte Bedeutung des Todes in den Vereinigten Staaten untersucht hat, widerspricht meiner Behauptung nicht. Der menschliche Tod wurde für ihn zu einem Thema neben anderen – für die Kritik sozialer Ordnung, wie es mit dem Hobbes’schen Ausgangspunkt nahegelegen hatte, spielte er keine Rolle. Sicherlich ist es kein Zufall, dass dieser Text von Parsons in eine Zeit
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Kritik an Parsons’ Hobbes’scher Fassung des Problems sozialer Ordnung durch seinen Schüler Garfinkel vorausgegangen, der die Idee vom Natur- als Kriegszustand de(kon)struierte. Weiter ging dann nur noch Luhmann, der die Operationen sozialer Systeme so sehr temporalisierte, dass sich das Problem sozialer Ordnung – ganz zu schweigen von dem des Todes – vollends auflöste. Mit seinem „Antihumanismus“ führte er schließlich die Vorstellung, dass Gesellschaft mit Blick auf menschliche Bedürfnisse adäquat kritisiert werden könnte, gänzlich ad absurdum. Die vorliegende Untersuchung möchte diese Theoriegeschichte zum Thema sozialer Ordnung rekonstruieren und geht dabei von der These aus, dass im Laufe der sozialtheoretischen Auseinandersetzungen mit der Ordnungsthematik diese zunehmend vom Problem des menschlichen Todes losgelöst wurde – und dass diese zunehmende Irrelevanz des Todes, wie sie mit Marx’ und Engels’ Insistieren auf der Leistungsfähigkeit der (technischen) Produktivkräfte ihren Anfang nahm, schließlich zur Auflösung des Ordnungsproblems als solchem führte. Mit anderen Worten: Von Hobbes bis Luhmann verschwanden der Tod und damit auch der problemhafte Charakter sozialer Ordnung aus der Theoriegeschichte. Denn was nun fehlte, war ein klares normatives Kriterium (wie das zu vermeidende frühzeitige Ableben),5 das eine Problematisierung sozialer Ordnung erlaubt hätte. Der erste Hauptteil der Untersuchung widmet sich den Ausführungen von Hobbes (2.1), Malthus (2.2), Marx und Engels (2.3) – und damit den Problematisierungen, die bei allen Differenzen allesamt von der (normativen) Zentralität des vorzeitigen menschlichen Todes ausgehen. Dem steht der zweite Hauptteil gegenüber, der sich hingegen mit neueren Entproblematisierungen sozialer Ordnung – mit Garfinkel und dem späten Parsons (4.1) sowie Luhmann (4.2) – befasst, denen gerade die Irrelevanz der Todesthematik gemeinsam ist. Dabei soll exemplarisch gezeigt werden, dass das Verschwinden des Todes und
fällt, in der er auch sein Theorem der symbolisch generalisierten Interaktionsmedien entwickelt hat, mit dem er eine Entproblematisierung sozialer Ordnung vollzogen hat (siehe 4.1). 5
Die Betonung liegt auf klarem normativem Kriterium, denn es wäre absurd, zu behaupten, dass in neueren Sozialtheorien nicht auch andere normative Kriterien (Forderungen nach Autonomie, Resonanz, u.a.) als der zu vermeidende vorzeitige menschliche Tod – mehr oder weniger explizit – die jeweilige Kritik anleiten. Aus der Sicht des Verfassers hängen diese Kriterien jedoch zu sehr von spezifischen Menschenbildern ab und sind daher zu sehr interpretationsoffen, als dass sie robuste Maßstäbe zur Gesellschaftskritik bereitstellen könnten. Diese Sicht bedarf aber gewiss weiterer begründender Ausführungen, als es im Rahmen dieses Beitrags geleistet werden kann.
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der Ordnungsproblematik aus der Theoriegeschichte seinen theoretischbegrifflichen Grund in der Umstellung von materiell-essenzialistischen auf temporal-antiessenzialistische Kategorien hat. In jüngerer Zeit ist jedoch – vor allem mit dem Werk von Latour – eine Rückkehr des Problems sozialer Ordnung zu beobachten, wobei nicht mehr nur der vorzeitige Tod des Menschen, sondern viel drastischer: der des gesamten Planeten im Zentrum steht (5.). Zwei Zusätze scheinen mir erforderlich zu sein: 1. Handelt es sich hier lediglich um eine Theoriegeschichte, die in der Auswahl der Autoren keineswegs erschöpfend zu sein beansprucht. Die Absicht ist vielmehr eine doppelte: unterschiedliche Möglichkeiten des theoretisch-begrifflichen Denkens über soziale Ordnung zu präsentieren – und dabei eine möglichst interessante Geschichte zu erzählen; die genannte These stellt den Versuch dar, vor allem der letzteren Absicht gerecht zu werden. 2. Handelt es sich um eine Theoriegeschichte, sprich: eine Geschichte über die besagten Möglichkeiten des theoretischen Nachdenkens über das Ordnungsthema.6 Dabei stehen die mehr oder weniger expliziten Beiträge der behandelten Autoren im Zentrum – und nicht so sehr die (darin weitgehend implizit bleibenden) gesellschaftsstrukturellen Bedingungen, unter denen diese Beiträge eine besondere Plausibilität für ihre jeweilige Zeit besitzen mögen. Nichtsdestotrotz soll dieser äußerst komplexen Problematik zumindest versuchsweise Rechnung getragen werden, indem die beiden Hauptteile der Untersuchung durch – zwangsläufig spekulativ bleibende – Zwischenüberlegungen zu den praktisch-geschichtlichen Voraussetzungen der Entproblematisierung sozialer Ordnung verknüpft werden. Der Fokus wird dabei auf der Rolle der Technik bei der Lösung des Problems der materiellen Ressourcenknappheit liegen (3.). Generell können die hier angestellten Überlegungen ihren skizzenhaften Charakter nicht verleugnen.
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In diesem Sinne ließe sich auch von einer „Theoriegeschichte in systematischer Absicht“ sprechen, wie sie Schluchter (2009: V, 1-4) für sich (und für Parsons sowie Habermas) reklamiert. Denn es geht nicht um (reine) „Theoriekonstruktion“ – und auch nicht um „reine Theoriegeschichtsschreibung“, da durchaus eine „gesichtspunktabhängige Analyse“ der behandelten Theorien vorgenommen wird. Der hier relevante Gesichtspunkt kommt in der Frage zum Ausdruck, wie die ausgewählten Autoren die Ordnungsthematik bearbeiten und welche Rolle dabei der vorzeitige menschliche Tod spielt.
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2.
DIE PROBLEMATISIERUNG SOZIALER ORDNUNG UND DIE ZENTRALITÄT DES VORZEITIGEN MENSCHLICHEN TODES
2.1 Hobbes’ „Krieg eines jeden gegen jeden“ Im dreizehnten Kapitel seines Leviathan (1651) nimmt Hobbes seine berühmte Bestimmung des menschlichen Naturzustands vor, die Parsons zur Formulierung des Problems sozialer Ordnung herangezogen hatte. Ein solcher Zustand liege dann vor, wenn die Menschen „ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben“, und entspreche im Wesentlichen einem „Krieg eines jeden gegen jeden“ (Hobbes 1984 [1651]: 96). Hobbes weist zwar umgehend darauf hin, dass „das Wesen des Kriegs nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen“ bestehe, „sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann“. Diese Betonung der bloßen Potenzialität des Kampfes ändert jedoch nichts an den katastrophalen Folgen, die der „Kriegszustand“ für das menschliche Zusammenleben zeitige: Alles, was eine geordnete Gesellschaft nach Hobbes’ Auffassung ausmacht (Ackerbau, Schifffahrt, Künste, u.a.), habe hier keine Chance, zu entstehen, denn der dafür erforderliche „Fleiß“ werde von niemandem aufgebracht, „da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann“. Stattdessen „herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“. (Ebd.) Dass die Hobbes’sche Problematisierung sozialer (Un-)Ordnung im Naturzustand eng mit der Todesthematik zusammenhängt, ist offenkundig. 7 Der vorzeitige menschliche Tod – oder zumindest die realistische Aussicht auf diesen bildet den Schreckenshorizont, angesichts dessen es Hobbes als unmittelbar plausibel und wünschenswert erscheint, dass sich die Menschen einer „alle im Zaum haltenden Macht“, dem (leviathanischen) Staat, unterwerfen und auf diese Weise den Naturzustand hinter sich lassen. So heißt es ganz zu Beginn des siebzehnten Kapitels: „Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen – das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen […]“ (ebd.: 131).
7
So konstatiert auch Blumenberg (1966: 259), dass Liberalismus und – der von Hobbes befürwortete – Absolutismus sich „in der Beurteilung der Tödlichkeit des Ausgangszustandes und der in ihm wirksamen Kräfte“ unterscheiden.
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Interessant für die vorliegende Untersuchung ist jedoch weniger Hobbes’ Lösung des Ordnungsproblems als die Frage, wie er zu einer derart pessimistischen Konzeption des menschlichen Naturzustands gelangt, von der ja seine Problematisierung sozialer (Un-)Ordnung wesentlich abhängt. Dazu gilt es, sich seinen anthropologischen Prämissen zuzuwenden. Ebenfalls im dreizehnten Kapitel konstatiert er, dass die körperlichen und geistigen Fähigkeiten unter den Menschen weitgehend gleich verteilt seien: „[W]as die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten – entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden. Und was die geistigen Fähigkeiten betrifft, so finde ich, daß die Gleichheit unter den Menschen noch größer ist als bei der Körperstärke.“ Diese „Gleichheit der Fähigkeiten“ bewirke wiederum „eine Gleichheit der Hoffnung, unsere Absichten erreichen zu können“, wobei die Versuche zur Durchsetzung dieser Absichten nötigenfalls gewaltsam erfolgen. (Ebd.: 94 f.) Worin aber bestehen diese Absichten konkret? Was treibt den Hobbes’schen Menschen dazu an, den Naturzustand als einen Kriegszustand auszuagieren? Laut Hobbes stellt die menschliche Natur vor allem drei Konfliktursachen bereit: „Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen, drittens Ruhmsucht“. In der Konkurrenzsituation steht die materielle Ausstattung im Vordergrund, denn die hier unterstellten Absichten beziehen sich auf Gegenstände, die aus Selbsterhaltungs- oder Genussgründen verfolgt werden und aufgrund derer Menschen „sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen“ bestrebt seien. Als Beispiel nennt Hobbes „ein geeignetes Stück Land“, dessen Besitzer „mit Wahrscheinlichkeit“ davon auszugehen habe, „daß andere mit vereinten Kräften anrücken, um ihn von seinem Besitz zu vertreiben und ihn nicht nur der Früchte seiner Arbeit, sondern auch seines Lebens und seiner Freiheit zu berauben. Und dem Angreifer wiederum droht die gleiche Gefahr von einem anderen.“ Mit anderen Worten: Der Angreifer kann selbst im Erfolgsfall nicht zur Ruhe kommen, da er – verfügt er jetzt doch über das geeignete Stück Land – mit weiteren Angriffen rechnen muss. Aus diesem dauerhaften Drohszenario ergebe sich zwangsläufig das Erfordernis, allen anderen zu misstrauen und bestenfalls durch „Vorbeugung, das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden“ (ebd.: 95). Hobbes’ Anthropologie zeichnet bis hierhin das Bild eines Menschen, der einer natürlichen Ausdehnungsneigung zu unterliegen scheint, die ihn immer wieder – in kriegerischer Auseinandersetzung mit anderen – über die Grenzen
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der eigenen territorialen Verfügungsgewalt hinausschreiten lässt.8 Und da Angriff Hobbes zufolge die beste Form der Verteidigung ist, trifft dies selbst auf bescheidenere Menschen zu. Allein: Dass sich Menschen aufgrund materieller Ressourcen bekriegen, hängt von einer hier weitgehend unausgesprochenen Annahme ab, die keineswegs selbstverständlich ist: dass diese Ressourcen prinzipiell knapp sind. Das ist insofern nicht unwichtig, als durchaus eine Situation vorstellbar ist, in der reichlich materielle Ressourcen für alle vorhanden wären und die Menschen daher einander gar nicht ins Gehege kommen müssten. In diesem Szenario entfiele nicht nur die potenzielle Gewaltsamkeit des Naturzustands und damit auch das Problem sozialer Ordnung (in der Hobbes’schen Fassung), sondern folglich auch das Erfordernis einer Staatsgründung. Ob bewusst oder unbewusst, trifft Hobbes jedoch eine theoretische Vorkehrung, damit seine Konzeption des Naturzustands nicht allein von der impliziten Annahme der materiellen Ressourcenknappheit abhängt – hier kommt nun die dritte Konfliktursache, die Ruhmsucht, ins Spiel. Die natürliche Ausdehnungsneigung des Menschen hat auch eine immaterielle Seite, denn dieser sei „von Natur aus bestrebt“, „größere Wertschätzung“ zu erlangen – und dies im Falle von „Verächtern“ nötigenfalls auch mithilfe von Gewalt (ebd.). Entscheidend ist, dass wir es bei der Ruhmsucht mit einem genuin sozialen Verhältnis zu tun haben, das heißt: mit einem Verhältnis zwischen Menschen, in dem es nicht in erster Linie auf die Ausstattung mit materiellen Ressourcen ankommt – auch wenn letztere zweifelsohne als Erfolgsindikator fungieren kann. Entscheidend ist dies deshalb, weil der oben an den Hobbes’schen Konnex zwischen Menschenbild und Staatsgründung adressierte Einwand nun nicht mehr zu greifen scheint: In Angelegenheiten der Wertschätzung kommen Menschen einander immer ins Gehege, müssen sie dies doch tun, wollen sie bekommen, worauf sie aus sind. Anders als im (hypothetischen) Falle eines unendlichen materiellen Ressourcenüberschusses können sich die ruhmsüchtigen Menschen nicht einfach aus dem Weg gehen – sie sind wechselseitig
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Entsprechend hat Henrich (1982: 83 f.) dem Hobbes’schen Menschen „die Freude am steten Erfolg, alle gewünschten Dinge zu erlangen“, attestiert und Hobbes selbst als „erste[n] Theoretiker der modernen Gesellschaft“ bezeichnet. Anders als in der aristotelischen Anthropologie sei das menschliche Streben bei Hobbes nämlich gerade nicht an einem „Ziel- und Ruhepunkt“ – der „Wesensvollkommenheit“ eines jeden Seienden – ausgerichtet. Fetscher (1984: XVIII) sieht passend dazu Hobbes’ politische Theorie als „Konsequenz“ der damals im Entstehen begriffenen „bourgeoisen Konkurrenzgesellschaft“.
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aufeinander angewiesen, womit ein permanentes Konfliktpotenzial einhergeht, das es schließlich staatlich einzuhegen gilt. 2.2 Malthus’ „Bevölkerungskatastrophe“ Was bei Hobbes weitgehend implizit bleibt – die Annahme der materiellen Ressourcenknappheit –, steht anderthalb Jahrhunderte später ausdrücklich im Zentrum der Malthus’schen Problematisierung sozialer Ordnung. Vor dem Hintergrund einer kontroversen Debatte um die Armengesetzgebung im Großbritannien des späten 18. Jahrhunderts, aber auch der Fortschrittsverheißungen der Französischen Revolution, präsentiert Malthus ein fortschrittspessimistisches Argument zum Verhältnis von Bevölkerungswachstum und der Vervollkommnungsfähigkeit von Mensch und Gesellschaft. In seinem Essay on the Principle of Population von 1798 stellt er die These auf, „daß die Vermehrungskraft der Bevölkerung unbegrenzt größer ist als die Kraft der Erde, Unterhaltsmittel für die Menschen hervorzubringen. Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe an. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu.“ (Malthus 1977 [1798]: 18). Und dies erweise sich insofern als problematisch, als „[d]ie Nahrung […] für die Existenz des Menschen notwendig“ sei, so die erste anthropologische Annahme von Malthus. Wie aber gelangt er zu dieser doch recht düsteren Vorstellung? Die These vom geometrischen Bevölkerungswachstum stützt Malthus auf seine zweite anthropologische Prämisse, wonach die „Leidenschaft zwischen den Menschen“, die permanent für neuen Nachwuchs sorge, „notwendig“ ist und dies auch künftig so bleiben wird. Dass die Nahrungsmittelproduktion einem solchen Wachstum nicht standhalten könne, sie also nur arithmetisch verlaufe, ergebe sich wiederum aus „allen unseren Kenntnissen von den Eigenschaften des Bodens“. (Ebd.: 17, 21) Zwar konzediert Malthus durchaus einen gewissen Handlungsspielraum (Ausweitung des bebauten Bodens, verbesserte Düngung u.a.), aber dieser ändere letztlich nichts an der unüberwindlichen Diskrepanz zwischen geometrischer und arithmetischer Entwicklung: Könne kurzfristig vielleicht tatsächlich eine größere Bevölkerung ernährt werden, könne dies langfristig schon deshalb nicht funktionieren, weil eine Zunahme der Nahrungsmittel immer einen noch höheren Anstieg der Bevölkerungszahl hervorrufe – die „Beschaffenheit des Bodens“ eine so schnelle Anpassung der Nahrungsmittelerzeugung jedoch verunmögliche. (Ebd.: 88 f.) Wie bei Hobbes so ist auch hier der Bezug zur Todesthematik unschwer zu erkennen. Denn wenn die existenziell notwendigen Nahrungsmittel für die prinzipiell schneller anwachsende Bevölkerung niemals ausreichen können (voraus-
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gesetzt, dass das Bevölkerungswachstum ungehindert erfolgt), dann ist der vorzeitige menschliche Tod das zwangsläufige Resultat.9 Dies kommt in den von Malthus identifizierten – „vorbeugenden“ und „nachwirkenden“ – „Hemmnissen“ zum Ausdruck, die gerade verhindern sollen, dass die geometrischen Möglichkeiten des Bevölkerungswachstums tatsächlich realisiert werden. Am interessantesten für die vorliegende Untersuchung sind sicherlich die nachwirkenden Hemmnisse, die Malthus in „Laster“ und „Elend“ unterteilt. Um die Drastik der Malthus’schen Vision vor Augen zu führen, lohnt es sich, ihn hier ausführlicher zu zitieren: „Die Laster der Menschheit sind eifrige und fähige Handlanger der Entvölkerung. Sie stellen die Vorhut im großen Heer der Zerstörung dar; oftmals vollenden sie selbst das entsetzliche Werk. Sollten sie aber versagen in diesem Vernichtungskrieg, dann dringen Krankheitsperioden, Seuchen und Pest in schrecklichem Aufgebot vor und raffen Tausende und Abertausende hinweg. Sollte der Erfolg immer noch nicht vollständig sein, gehen gewaltige, unvermeidbare Hungersnöte als Nachhut um und bringen mit einem mächtigen Schlag die Bevölkerungszahl und die Nahrungsmenge der Welt auf den gleichen Stand.“ (Ebd.: 68) Wenn man diese Ausführungen liest, fragt man sich durchaus, worin für Malthus eigentlich das Problem (sozialer Ordnung) besteht, klingt es doch fast so, als würde er – trotz der Verwendung perhorreszierender Adjektive – diese „Ausgleichsmechanismen“ sogar begrüßen oder zumindest als etwas Unvermeidliches akzeptieren. Denn immerhin vollstrecken sie etwas, das er als Naturgesetz erkannt zu haben meint: Sie halten Bevölkerungsvermehrung und Nahrungserzeugung „im Gleichgewicht“ (ebd.: 19). Tatsächlich stellt sich Malthus in erster Linie als Wissenschaftler dar, der lediglich rekonstruiert, was (angeblich) der Fall ist. Allein: Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er bei alledem einen klaren normativen Standpunkt einnimmt, der in seiner Intervention in der Debatte um die Armengesetzgebung deutlich hervortritt. Darin argumentiert er, dass die Not der Armen – in allen ihren oben genannten Ausprägungen – niemals ganz behoben, sondern nur gelindert werden könne, wobei das „Linderungsmittel“ seiner Wahl darin besteht, das besagte Naturgesetz zur Balancierung von Bevölkerungszahl und Nahrungsmitteln möglichst ungehindert walten zu lassen
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So heißt es bei Malthus explizit: „Die Kraft zur Bevölkerungsvermehrung ist umso viel stärker als die der Erde innewohnende Kraft, Unterhaltsmittel für die Menschen zu erzeugen, daß ein frühzeitiger Tod in der einen oder anderen Gestalt das Menschengeschlecht heimsuchen muß.“ (Ebd.: 68) Daher ist Winch recht zu geben, wenn er konstatiert, dass viele der (moralischen) Fragen, mit denen sich Malthus beschäftigt, „are matters of life and death in the most literal sense“ (Winch 2013: 5).
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(ebd.: 49-51). Das heißt im Umkehrschluss, dass er jede fiskalische Unterstützung der Armen, wie es die englischen Armengesetze vorsahen, ablehnt – weil sie Anreize zur Bevölkerungsvermehrung schaffen, ohne zugleich mehr Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, was noch größeres Elend nach sich ziehen würde (ebd.: 45). Aus denselben Gründen – der Akzeptanz eines naturgesetzlich begründeten und damit unüberwindlichen Übels, aber doch immerhin: eines Übels! – kann er sich letztlich ebenso wenig für die utopisch-revolutionären Ambitionen von Condorcet und Godwin begeistern, die Mensch und Gesellschaft für vervollkommnungsfähig halten, auch wenn er für deren normative Ambitionen durchaus Sympathien äußert: „Ich wünsche mir sehnlichst einen dermaßen beglückenden Fortschritt. Zu meinem Leidwesen sehe ich aber große und – nach meiner Ansicht – unüberwindliche Hindernisse, die den Weg zu seiner Verwirklichung versperren.“ (Ebd.: 15) Nach alledem geht es Malthus (in normativer Hinsicht) weniger darum, den vorzeitigen menschlichen Tod gänzlich zu unterbinden; vielmehr möchte er das quantitative Ausmaß dieser Todesproblematik zumindest möglichst begrenzt sehen. Insofern scheint Malthus den Hobbes’schen Problembefund zu teilen, diesen aber – unter der ausdrücklichen Annahme der materiellen Ressourcenknappheit – zugleich deutlich zu radikalisieren. Denn während es bei Hobbes noch prinzipiell möglich war, das Problem sozialer Ordnung mithilfe der Staatsgründung vollständig in den Griff zu bekommen und damit immerhin theoretisch den vorzeitigen menschlichen Tod zu beseitigen,10 sieht Malthus’ Problematisierung sozialer Ordnung eine solche prinzipielle Lösungsmöglichkeit nicht vor. Er beschreibt stattdessen sein „Bevölkerungsgesetz“ als eine Pendelbewegung (eine Metapher, die er von Condorcet übernimmt), wonach – immer je nach der relativen Anzahl der vorhandenen, für die menschliche Existenz notwendigen Nahrungsmittel – sich zeitliche Phasen des Wohlstands mit solchen des Elends abwechseln: „[d]as notwendige Pendeln, jene dauernd wirkende Ursache immer wiederkehrenden Elends, hat es gegeben, seitdem wir die Geschichte der Menschheit überhaupt kennen, gibt es auch gegenwärtig und wird es in Zukunft stets geben – außer es ereignet sich ein entscheidender Wandel in der physischen Beschaffenheit der Natur“ (ebd.: 73).
10 Unter dem Vorbehalt, dass die dann eingerichtete Staatsgewalt über das Tötungsmonopol im betreffenden Territorium verfügt, wovon zur Sicherung innerstaatlichen Friedens und im Krieg gegen „auswärtige Feinde“ Gebrauch gemacht werden kann (vgl. Hobbes 1984 [1651]: 134).
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2.3 Marx’ und Engels’ „Klassenkampf“ Es verwundert nicht, dass Marx und Engels Anstoß an Malthus’ Bevölkerungsgesetz genommen haben, sind ihre geschichtsphilosophischen Spekulationen doch mit einem deutlich positiven Vorzeichen versehen. Trotz ihrer Anerkennung der Malthus’schen Einsicht in den prinzipiell konflikthaften Charakter alles Sozialen (vgl. Marx 1976 [1861/63]: 52) ist ihre Kritik an seinen Überlegungen letztlich fundamental: Anders als Malthus gehen sie gerade nicht davon aus, dass es sich bei der materiellen Ressourcenknappheit um eine unwiderlegbare Prämisse handelt; vielmehr setzen sie auf die Möglichkeiten der Produktivkräfte, vor allem der wissenschaftlich angeleiteten Technik, den Bodenertrag geradezu „unendlich“ zu vermehren (vgl. Engels 1981 [1844]: 521). Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass das Elend der (armen) arbeitenden Bevölkerung nicht wie bei Malthus auf ein Naturgesetz, sondern auf die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen – und damit prinzipiell änderbar ist.11 Dieser geschichtsspekulativ fundierte Fortschrittsoptimismus hat jedoch keineswegs zur Konsequenz, dass Marx und Engels das Soziale als völlig konfliktfrei denken; im Gegenteil: Auch sie problematisieren die soziale Ordnung, wobei sie diese allerdings deutlich stärker historisch situieren, als dies bei Malthus und erstrecht bei Hobbes der Fall war. Bei der von ihnen – allen voran im Manifest der kommunistischen Partei (1848), das im Fokus der folgenden Ausführungen stehen soll – problematisierten sozialen Ordnung handelt es sich nämlich konkret um die Ordnung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Insofern ist es sicherlich richtig, wenn Parsons darauf hinweist, dass Marx’ Position nicht einfach als „a revival of the Hobbesian struggle for power“ zu begreifen sei, schließlich sei doch in der von ihm vorgefundenen bürgerlich-kapitalistischen Ordnung, die sich durch eine spezifische Verteilung der Produktionsmittel auszeichne, eine gewisse Einhegung des physischen Gewalteinsatzes bereits gewährleistet (Parsons 1968 [1937]: 109). Die Problematisierung sozialer Ordnung bedient sich hier also nicht des Bildes von einem menschlichen Naturzustand – überhaupt wird im Manifest auf (explizite) anthropologische Annahmen verzichtet. Aber warum liegt es dann überhaupt nahe, den Marx’schen und Engels’schen „Klassenkampf“ in eine Reihe mit dem Hobbes’schen „Kriegszustand“ und der Malthus’schen „Bevölkerungskatastrophe“ zu stellen? Worin genau besteht für sie das Problem sozialer Ordnung – und welche normativen Kriterien liegen ihrer Problematisierung mehr oder weniger ausdrücklich zugrunde?
11 Zu Marx’ und Engels’ Kritik an Malthus siehe zusammenfassend Meek (1956: 2039).
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Das „kommunistische Manifest“ widmet sich in seinem ersten weitgehend historisch-analytisch verfahrenden Teil der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat im frühen 19. Jahrhundert. Da „[d]ie Geschichte aller bisherigen Gesellschaft […] die Geschichte von Klassenkämpfen“ sei, überrascht es nicht, dass Marx und Engels ihre Epoche, „die Epoche der Bourgeoisie“, als die Epoche eines spezifischen Klassengegensatzes: dem zwischen Bourgeois und Proletariern charakterisieren. Während es in früheren Geschichtsepochen zwar auch einigermaßen deutliche Gegensatzpaare („Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell“), dabei aber immer auch „eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen“ gegeben habe, bestehe das Spezifikum des bourgeoisen Zeitalters in der allmählichen Vereinfachung des gesellschaftlichen Antagonismus zu nur noch einer zentralen Konfliktlinie. (Marx/Engels 1990 [1848]: 462 f.) Klar ist für Marx und Engels, dass ohne den historischen Erfolg der Bourgeoisie, die die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse an die Stelle der „buntscheckige[n] Feudalbande“ gesetzt habe, das Proletariat gar nicht hätte entstehen können. Denn „[i]n demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt.“ Auf diese Weise habe die Bourgeoisie „ihren eigenen Totengräber“ produziert, denn der „Klassenkampf“ der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft laufe letztlich „unvermeidlich“ auf den „Sieg des Proletariats“ hinaus. (Ebd.: 464-474) Der Hauptgrund für diese „unausweichliche“ Entwicklung gibt auch Auskunft über das normative Kriterium, womit Marx und Engels zu ihrer Problematisierung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung gelangen. Kämpfen die Arbeiter anfänglich noch vereinzelt gegen die sie jeweils ausbeutenden Bourgeois, gleichen sich ihre Lebensbedingungen aufgrund der „Verbesserung der Maschinerie“ und der damit einhergehenden Reduktion der Löhne immer mehr auf einem niedrigen Niveau an. Trotz gelegentlicher Rückschläge, unter anderem „durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst“, organisieren sie sich zunehmend als Klasse, um dieser voranschreitenden Verelendung ihrer Situation etwas entgegenzusetzen: „Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren.“ (Ebd.: 470 f.) Abstrakter sprechen Marx und Engels auch von der „Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind“. (Ebd.: 467)
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Und es ist genau diese „Empörung“ gegen die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen der Hauptantrieb für den am Ende koordinierten proletarischen Aufstand gegen die sie unterdrückende Klasse, die nicht nur die Arbeiter selbst, sondern auch Marx und Engels teilen. Und auf die sich letztlich ihre Problematisierung der konkreten sozialen Ordnung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zurückführen lässt. Denn zwar handelt es sich beim „kommunistischen Manifest“ nicht zuletzt um den Versuch einer historisch-wissenschaftlichen Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnisse; aber als Manifest stellt es zugleich eine politische Intervention dar, die sich klar zu einer Seite – der proletarischen – im Klassenkampf bekennt und deren Ausbeutung durch die andere – die bourgeoise – Seite skandalisiert. Wenngleich hier an keiner Stelle explizit vom vorzeitigen menschlichen Tod die Rede ist, lassen sich doch deutliche Hinweise finden, die die körperliche Unversehrtheit ins Zentrum des normativen Interesses rücken. So heißt es im zweiten Teil des „Manifests“ in deutlich problematisierender Absicht: „Was […] der Lohnarbeiter durch seine Tätigkeit sich aneignet, reicht bloß dazu hin, um sein nacktes Leben wieder zu erzeugen.“ Der „elende[n] Charakter dieser Aneignung“, „worin der Arbeiter nur lebt, um das Kapital zu vermehren“, solle aufgehoben werden. In der kommunistischen Gesellschaft hingegen soll sich das Verhältnis von „lebendiger Arbeit“ und „angehäufter Arbeit“ (Kapital) genau verkehren: Darin „ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern.“ (Ebd.: 476) Wenn also schon nicht der vorzeitige menschliche Tod die Marx’sche und Engels’sche Intervention motiviert hat, so doch immerhin das Leben (der Arbeiter) bzw. dessen durch Unterdrückung gesellschaftlich beschnittene Entfaltungsmöglichkeiten. Hinzu kommt, dass es keineswegs abwegig ist, davon auszugehen, dass eine Arbeit unter derart elenden Bedingungen, wie sie Marx und Engels beschreiben, die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Ablebens erhöht. Eine solche Überlegung findet sich denn auch ganz ausdrücklich in der drei Jahre zuvor erschienenen Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) von Engels, die es sich hier ausführlicher zu zitieren lohnt: „Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen läßt – so ist das
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ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibt Mord.“ (Engels 1972 [1845]: 325) Diesem „heimtückischen Mord“ hält das „Manifest“ die Entwicklungsgesetze der Geschichte der Klassengegensätze entgegen, die schließlich – infolge des finalen Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der von „einem mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg“ zur „offenen Revolution“ voranschreite – in die kommunistische Gesellschaft münden soll. Die Lösung des Ordnungsproblems, die Marx und Engels vorschwebt, besteht demnach im – durchaus gewaltsam ausgetragenen – Klassenkampf selbst, wodurch sich ein bemerkenswerter Unterschied zu Hobbes ergibt, der ja gerade mithilfe des gewaltmonopolisierenden Staates den Kriegszustand hinter sich lassen wollte. Was den Arbeitern mit Blick auf die kommunistische Gesellschaft allerdings in Aussicht gestellt wird, ist mehr als nur eine weitgehend gewaltfreie soziale Ordnung; es ist eine soziale Ordnung, in der jeglicher Klassenantagonismus und damit auch jegliches Unterdrückungsverhältnis aufgehoben ist: „Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.“ (Marx/Engels 1990 [1848]: 473)
3.
ZWISCHENÜBERLEGUNGEN ZU DEN PRAKTISCH-GESCHICHTLICHEN VORAUSSETZUNGEN DER ENTPROBLEMATISIERUNG SOZIALER ORDNUNG
Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den behandelten Problematisierungen sozialer Ordnung sollen an dieser Stelle kurz rekapituliert werden. Während Hobbes den Naturzustand im Hinblick darauf problematisierte, dass darin die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen menschlichen Todes allgemein hoch sei – weshalb ein schutzgewährender Staat eingesetzt werden müsse, der die Todesproblematik zumindest prinzipiell ein für alle Mal lösen soll – ging es in Malthus’ radikalisierter Konzeption vor allem darum, das quantitative Ausmaß des frühzeitigen Ablebens möglichst gering zu halten, lasse sich – aufgrund prinzipiell knapper Nahrungsmittel – dieses Ableben doch nicht ganz vermeiden. Letztlich handelt es sich bei der Malthus’schen „Bevölkerungskatastrophe“ um
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ein naturgesetzlich wiederkehrendes Problem, das sich vermittels entsprechender Hemmnisse gleichsam von selbst, aber anders als bei Hobbes niemals vollständig löst. Lösung und Problem wechseln sich in einer pendelhaften Bewegung im Zeitverlauf ab. Deutlicher noch konzipieren Marx und Engels ihre Problematisierung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung in temporalen Kategorien, kombinieren diese allerdings mit der geschichtsspekulativen Aussicht auf eine Ein-für-alle-Mal-Lösung, die in die Zukunft projiziert wird. 12 Die Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen münde schließlich in die kommunistische Gesellschaft, in der alle Klassengegensätze aufgehoben seien. Dem „heimtückischen Mord“ an der Arbeiterklasse, der einen langsamen, aber doch immer noch vorzeitigen menschlichen Tod bewirke, soll künftig keine Relevanz mehr zukommen. Die rasante Entwicklung der (technischen) Produktivkräfte, deren Veränderungspotenziale Malthus noch gering eingeschätzt hatte, mache dies möglich. So sehr sich diese Problematisierungen sozialer Ordnung in ihren Annahmen, Problembefunden und Lösungsangeboten unterscheiden, ist ihnen doch immerhin gemeinsam, dass sie 1. die soziale Ordnung überhaupt zum Problem erklären und dass sie dies 2. ausgehend von dem normativen Kriterium der Nichtwünschbarkeit des vorzeitigen menschlichen Todes tun. Dass eine derartige Zentralität der Todesproblematik in der Behandlung des Ordnungsthemas keineswegs selbstverständlich ist, wird im folgenden (vierten) Teil zu zeigen sein, in dem unterschiedliche Entproblematisierungen sozialer Ordnung rekonstruiert werden, mit denen – so ja die These der Untersuchung – der Tod aus der Theoriegeschichte verschwindet. Für den Fortgang der Argumentation scheint es mir jedoch zunächst erforderlich zu sein, nochmal zur Marx’schen und Engels’schen Problemlösung zurückzukehren, da mit dieser bereits der praktisch-geschichtliche Grundstein für eine solche Entproblematisierung zumindest in Aussicht gestellt wurde. Die proletarische Revolution, die sie anvisieren, ist ja nicht zuletzt die der Produktivkräfte selbst und damit eine Revolution der technischen Aneignung der nicht sozialen Umweltbedingungen.13 Was im Rahmen des Mal-
12 Auf diese Parallele in Bezug auf die prinzipielle Lösbarkeit des Ordnungsproblems zwischen Hobbes einerseits, Marx und Engels andererseits verweist mit leicht anderer Akzentuierung auch Fetscher (1984: XXIII). 13 Auf die weltkonstruktive Bedeutung der Technik als „ein konstitutives Element der Neuzeit“ hat Blumenberg aufmerksam gemacht. Mit der (spezifisch neuzeitlichen) „Technisierung“ des menschlichen Lebens habe sich „eine fundamentale Wandlung im Verstehen der Welt und in den darin implizierten Erwartungen, Einschätzungen und Sinngebungen“ vollzogen; diese Wandlung fasst Blumenberg unter dem Begriff
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thus’schen Denkens nicht vorstellbar war, rückte nun in die greifbare Nähe der Realisierbarkeit: die Lösung der materiellen Ressourcenproblematik, mit der sich zugleich auch – unter der Voraussetzung einer einigermaßen gleichmäßigen Ressourcenverteilung – die Lösung des Problems des vorzeitigen menschlichen Todes und mehr noch: die Lösung des Problems sozialer Ordnung abzeichnete. Darin schien jedenfalls das mehr oder weniger implizite Versprechen einer künftigen kommunistischen Gesellschaft zu bestehen. Auch wenn es schließlich nicht zur vollständigen Realisierung dieses Versprechens kam, Ausbeutungsverhältnisse und soziale Konflikte bis heute weiterhin Bestand haben (von Kriegen und Völkermorden ganz zu schweigen), so sollten sich doch immerhin die Hoffnungen von Marx und Engels in die Kapazitäten der Technik zur Weltveränderung weitgehend bestätigen. Zumindest was die Weltregionen betrifft, von denen aus Parsons, Garfinkel und Luhmann im 20. Jahrhundert ihre Schriften verfassten. Insofern überrascht es nicht, dass in ihren Theorien – wie noch zu zeigen sein wird – der vorzeitige menschliche Tod kaum eine Rolle spielt.14 Selbst Parsons’ eigene Lösung des Ordnungsproblems – mit
der „Selbstbehauptung“, wonach der Mensch die Voraussetzungen der eigenen Existenz nunmehr selbstständig technisch hervorbringen zu können meint (Blumenberg 1962: 37-40; siehe auch Blumenberg 1966: 265 f.). In diesen Zusammenhang dürfte auch der sich seit 1945 – jedenfalls in den sogenannten westlichen Staaten – vollziehende „Triumph der Medikalisierung“ gehören: der „Fortschritt der chirurgischen und ärztlichen Techniken, die eine komplexe Apparatur, ein kompetentes Personal und entsprechend zahlreiche medizinische Eingriffe ins Spiel bringen“ und die daher – das ist hier durchaus von Bedeutung – lediglich im Krankenhaus zur Anwendung kommen zu können scheinen. Dies führt Ariès zufolge zu einem „neue[n] style of dying“, der mindestens zwei für die vorliegende Problemstellung wichtige Aspekte aufweist: 1. dass sich das Leben prinzipiell mit technischen Mitteln verlängern bzw. der Tod hinauszögern lässt; und 2. dass die räumliche Konzentration auf das Krankenhaus eine Invisibilisierung des Todes bewirkt. (Ariès 2015 [1978]: 747-753) Für ein angemessenes Bild der praktisch-geschichtlichen Voraussetzungen der zunehmenden sozialtheoretischen Irrelevanz des vorzeitigen menschlichen Todes (was hier nicht zu leisten ist) ist dieser „Triumph der Medikalisierung“ sicherlich ein wichtiges Element. 14 Verwunderlicher ist hingegen das, was Joas und Knöbl (in Anlehnung an die Freud’sche Psychoanalyse) eine „Kriegsverdrängung“ in der Sozialtheorie genannt haben. Denn obwohl Autoren wie Parsons, Garfinkel und Luhmann durchaus auf eigene Kriegserfahrungen zurückblicken konnten, fanden die Themen Krieg und Gewalt nicht Eingang in deren systematische Theoriebildung. Diesen Sachverhalt führen
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anderen geteilte Werte und Normen, die den Zusammenbruch einer Gesellschaft selbst ohne staatliche Strukturen verhindern sollen – überzeugt eigentlich nur vor dem Hintergrund der bei ihm unausgesprochenen Annahme, dass das Problem der materiellen Ressourcenknappheit überwunden ist. Denn warum sollten die Menschen, wenn die Ressourcen zum Überleben tatsächlich nicht für alle ausreichen, wie es Malthus am drastischsten postuliert hat – warum sollten sie dann weiterhin normkonform auf den Einsatz physischer Gewaltmittel verzichten? 15 Fest steht, dass Parsons für diese Problematik keine adäquate Lösung gefunden hat, schon deshalb nicht, weil er sie schlichtweg ignoriert hat. Dass er sie ignorieren konnte, lag aber vermutlich daran, dass die praktisch-geschichtlichen Voraussetzungen – die hier bei Weitem nicht vollständig erfasst sind – dies hergegeben haben. Dieser Hinweis scheint mir wichtig zu sein, um in Erinnerung zu rufen, dass die behandelten Autoren ihre theoretischen Überlegungen in unterschiedlichen historischen Kontexten angestellt haben, die sie für das Todes- und Ordnungsproblem in unterschiedlichem Maße sensibilisiert haben dürften. Da es sich hier jedoch um eine Theoriegeschichte handelt, wäre es zu einfach, die Problematisierungen und Entproblematisierungen sozialer Ordnung auf die jeweils vorherrschende gesellschaftsstrukturelle Konstellation zurückzuführen. Mich interessieren vor allem die theoretisch-begrifflichen Gründe, weshalb für die eine oder andere Variante optiert wurde – und dabei zeigen sich (wie schon bei Hobbes, Malthus, Marx und Engels gesehen) bemerkenswerte Unterschiede trotz immerhin ähnlicher historischer Umstände. Die Entproblematisierungen von Garfinkel, dem späten Parsons und Luhmann, die es nun im Folgenden nachzuvollziehen gilt, mögen also vor dem Hintergrund neuer technischer Möglichkeiten der Weltveränderung besonders plausibel erscheinen; es genügt aber keineswegs, sie darauf zu reduzieren.
Joas und Knöbl zum einen auf psychische Verdrängungsmechanismen zurück, zum anderen auf die „Verformung sozialtheoretischer Reflexion über den Krieg“ durch die Dominanz liberalistischen Denkens, mit dessen normativen Prämissen kriegerische Auseinandersetzungen nicht vereinbar waren und daher als – wenn auch schlimme – sozialtheoretisch nicht weiter bemerkenswerte Ausnahmen erschienen. (Vgl. Joas/ Knöbl 2008: 8-18) 15 Zu den möglichen desaströsen Auswirkungen von „Hungersnöten“ („famines“) auf „the moral order of society“ – mit entsprechend erhöhter Wahrscheinlichkeit der physischen Gewaltanwendung – siehe de Waal (2005 [1989]: XIV).
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4.
DIE ENTPROBLEMATISIERUNG SOZIALER ORDNUNG UND DIE IRRELEVANZ DES (VORZEITIGEN) MENSCHLICHEN TODES
4.1 Garfinkels De(kon)struktion des Hobbes’schen Naturzustands und Parsons’ theoretische Modifikationen Während Parsons 1937 das Problem sozialer Ordnung ausgehend von Hobbes’ Natur- als Kriegszustand bestimmt hatte, problematisierte Garfinkel in seiner fünfzehn Jahre später – unter der Betreuung von Parsons selbst – verfassten Dissertationsschrift (The Perception of the Other: A Study in Social Order, 1952) gerade diese Hobbes’sche Konzeption des Ordnungsproblems seines Lehrers. Der Hauptvorwurf lautete, dass sich aus den von Hobbes explizierten Prämissen keineswegs „a sustained quarrel“ ergebe, dass dafür vielmehr zusätzliche Annahmen erforderlich seien, die Hobbes so jedoch an keiner Stelle ausdrücklich eingeführt habe. Diese „analytic problems“ demonstrierte Garfinkel an den von Hobbes identifizierten drei wesentlichen Konfliktursachen: „competition, diffidence, and prestige“. (Garfinkel 1952: 32) Für das vorliegende Erkenntnisinteresse dürfte es genügen, lediglich einige besonders augenfällige der von Garfinkel erhobenen Einwände bzw. das ihnen allen gemeinsame Grundschema nachzuvollziehen. Was Garfinkel hauptsächlich am Hobbes’schen Naturzustand moniert, ist, dass darin lediglich der Faktizität der Situation Rechnung getragen werde, also den Voraussetzungen, die die Menschen in den Situationen, in die sie sich begeben, tatsächlich antreffen. Der Fokus auf „the factual order“ allein biete jedoch keinerlei Anhaltspunkte für die situativen Orientierungen der Menschen. Es brauche deshalb außerdem eine „ideal order“, die die konkrete Situation immer schon transzendiere, um „the pursuit of rationally characterized activity“ zu erklären – was Hobbes so allerdings nicht explizit mache. Diese ideale Ordnung bezieht Garfinkel nun auf unterschiedliche Elemente, die in der Handlungssituation vorkommen können. Am eindringlichsten sind dabei sicherlich seine Ausführungen zur Konkurrenz um materielle Ressourcen, der bei Hobbes an erster Stelle genannten Konfliktursache. In diesem Zusammenhang scheine eine „normative order“ erforderlich zu sein, denn „[o]therwise it is difficult to see how one actor could know that the object which the other actor was making for, or that the other actor held, was the same object that he wanted himself“. Nur so – unter Zuhilfenahme weiterer Annahmen, die nicht nur die faktische, sondern auch die ideale Ordnung betreffen – könne tatsächlich „the Hobbesian state of chaos“ geschlussfolgert werden. Denn ziehe man diese idealen Ordnungsvorstel-
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lungen ab, so Garfinkels Pointe, ergebe sich stattdessen „a state of confusion“, in dem die Menschen ziellos umherstreifen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen – ohne allerdings über ein Wissen bezüglich der adäquaten Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zu verfügen. Zu Konflikten um materielle Ressourcen käme es dann lediglich zufällig und auch nur punktuell. (Ebd.: 74 f.) Was folgt nun aus diesen Ausführungen von Garfinkel für das vorliegende Thema? Indem Garfinkel die Hobbes’sche Konzeption des Naturzustands mit (offenbaren) analytischen Problemen konfrontierte, de(kon)struierte16 er diese Konzeption zugleich. Hatte Parsons den Problembefund von Hobbes noch geteilt (und lediglich dessen Problemlösung als unzureichend kritisiert), war dieser Weg für Garfinkel nicht mehr gangbar; er machte hingegen Hobbes’ Überlegungen selbst zum Problem und gelangte auf diese Weise zu einer Entproblematisierung sozialer Ordnung. Denn der „state of confusion“, dieses ironisch anmutende Konstrukt, beschreibt keinen Kriegszustand, sondern einen Zustand völlig orientierungsloser Menschen, die nur wenig Anlass dazu haben, einander vernichten oder unterwerfen zu wollen. Vom Problem des (vorzeitigen) menschlichen Todes – keine Spur mehr. Dem Naturzustand war dadurch der normative Stachel gezogen – die soziale Ordnung daher auch kein Problem mehr. Bei aller Wertschätzung für die theoretisch-begrifflichen Leistungen seines Lehrers kritisierte Garfinkel dessen Zugriff auf die Ordnungsthematik dahingehend, dass Parsons ausgehend von einem rein theoretischen Konstrukt (dem Hobbes’schen Naturzustand) der sozialen Welt ein spezifisches (Un-)Ordnungsverständnis aufoktroyiere, das mit den Perspektiven der handelnden Menschen selbst nichts zu tun habe. Entsprechend unterliege Parsons einer „fallacy of imposed order“. (Ebd.: 127) In Kontrast dazu entwickelte Garfinkel denn auch sein eigenes (Theorie-)Programm, das später unter dem Namen „Ethnomethodologie“ berühmt werden sollte und sich in seinen Grundzügen bereits in seiner Dissertationsschrift abzeichnete. Soziale Ordnung sollte nun nicht mehr vorab theoretisch als (mögliches) Problem definiert werden; vielmehr interessierte sich Garfinkel bereits 1952 für die Frage, wie soziale Ordnung bzw. Ordnungskon-
16 Hier handelt es sich sicherlich nicht um eine „Dekonstruktion“ in dem engeren Sinne, wie ihn etwa Rorty (1995: 171) (in Anlehnung an Derrida u.a.) bestimmt hat: „the term ‚deconstruction‘ refers in the first instance to the way in which the ‚accidental‘ features of a text can be seen as betraying, subverting, its purportedly ‚essential‘ message“. Dass Garfinkel mit seinem Hinweis auf analytische Probleme bei Hobbes bei diesem einen „Selbstbetrug“ erkannt hätte, wäre zu viel behauptet; es ging ihm aber durchaus darum, die „Essenzialität“ des Hobbes’schen Naturzustands infrage zu stellen.
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zeptionen in den alltäglichen Handlungen der Menschen (re-)produziert werden – und damit für eine Frage, die sich fundamental von den Perspektiven der bereits behandelten Autoren auf soziale Ordnung unterscheidet. (Vgl. ebd.: 114; auch vom Lehn 2014: 57-78) Ob nun Garfinkels Perception of the Other daran seinen Anteil hatte oder nicht (vgl. Wenzel 2017: 195 f.) – sicher ist, dass Parsons in den frühen 1960er Jahren bemerkenswerte theoretische Modifikationen vornahm, die sich auch auf seine Auseinandersetzung mit der Ordnungsthematik auswirkten.17 Dies soll hier kurz anhand seines Aufsatzes „On the Concept of Influence“ (1963) vor Augen geführt werden. Unter „influence“ versteht Parsons (1963: 37) „a generalized mechanism by which attitudes or opinions are determined“. Als „a means of persuasion“ bringe Einfluss eine spezifische Handlungsentscheidung derart hervor, dass die handelnde Person diese Entscheidung von sich aus für die richtige halte. Dies funktioniere jedoch nur, solange die einflussnehmende Person imstande sei, ihre Behauptungen auch zu rechtfertigen, womit sie ihr „right to state them without alter‘s needing to verify them“ begründe. (Ebd.: 48, 50) Ohne diesen generalisierten Mechanismus, so Parsons’ gesellschaftstheoretische Schlussfolgerung, „there would either be a much more pervasive atmosphere of distrust than in fact obtains, or the level of trust could be raised only by introducing more rigid specification as to who could be trusted in what specific ways, which would greatly limit the ranges of flexibility so important to a complex society.“ (Ebd.: 58 f.) Mit anderen Worten: Einfluss leistet Parsons zufolge einen unerlässlichen Beitrag zur Integration komplexer Gesellschaften. Was aber hatte sich im Vergleich zu Parsons’ früherer Ordnungskonzeption verändert? Setzte Parsons in seinem dreißig Jahre zuvor erfolgten Lösungsversuch noch auf ein bereits bestehendes geteiltes Wertesystem, ging er nun davon aus, dass vermittels von Einflussnahme die Handlungsorientierungen der Menschen erst hervorgebracht werden. Diese Konzeption war zwar noch immer deutlich abstrakter als Garfinkels Überlegungen; beide teilten jetzt aber die „Einsicht“ in den hergestellten Charakter sozialer Ordnung. Denn um nichts anderes ging es Parsons bei seiner Beschäftigung mit Einfluss und symbolisch generalisierten Interaktionsmedien allgemein: deren gesellschaftsordnende Effekte aufzuzeigen. So schreibt er denn auch: „Such mechanisms are ways of structuring intentional attempts to bring about results by eliciting the response of other actors to approaches, suggestions, etc.“ (Ebd.: 42) Und nicht nur das. Was aus der Teilnehmerperspektive entsprechende Orientierungspunkte für die eigenen
17 Die folgenden Ausführungen zu Parsons’ theoretischen Modifikationen verdanken viel der Lesart von Wenzel (2002).
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Handlungsentscheidungen liefere, sei „from the point of view of the system, a set of conditions under which process in it can be carried on stably, without disturbance to its integration and other essential functions“ (ebd.: 46). Indem Parsons in seinem späten Systemfunktionalismus seine Begriffe auf (aktive) Ordnungsproduktion bzw. Integration umstellte,18 passierte das, was schon Garfinkels Neukonzeption zur Folge hatte: der Hobbes’sche Naturzustand als jederzeit zu lösendes Problem verlor an Relevanz – und damit auch der (vorzeitige) menschliche Tod. In der Folge büßte auch bei Parsons die soziale Ordnung ihren Problemcharakter ein. 4.2 Luhmanns Auflösung des Problems sozialer Ordnung in der Zeit Zu einer noch radikaleren Entproblematisierung sozialer Ordnung gelangte wenige Jahre später Luhmann, der so wie Garfinkel stark unter dem Einfluss von Parsons gestanden hatte. Seine Radikalität verdankte sich vor allem zwei theoretisch-begrifflichen Manövern, die im Folgenden rekonstruiert werden sollen: einer kompromisslosen Temporalisierung alles Sozialen sowie einer Gesellschaftskonzeption ohne Menschen. Beides hatte schließlich zur Konsequenz, dass kein normatives Kriterium (erst recht nicht der vorzeitige menschliche Tod) zur Problematisierung sozialer Ordnung mehr bereitgestellt werden konnte. Um Luhmanns diesbezügliche Argumentation nachzuvollziehen, werde ich zunächst seinen für das vorliegende Thema einschlägigen Text Wie ist soziale Ordnung möglich? (1981) konsultieren und anschließend spätere seiner Schriften einbeziehen. Nach einer ideengeschichtlichen tour d’horizon (von Aristoteles bis Parsons!) zur titelgebenden Frage konstatiert Luhmann, dass es bis hierhin nicht gelungen sei, „die richtige Theorie freizulegen“ (Luhmann 1981: 273). An Parsons’ Systemfunktionalismus, der zu diesem Zeitpunkt „elaboriertesten“ Sozialtheorie, kritisiert er, dass sie zu viele partikularistische Eigenschaften enthalte,
18 Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass diese begriffliche Umstellung nicht vollständig erfolgte, denn in Parsons’ Überlegungen zu den symbolischen generalisierten Interaktionsmedien finden sich durchaus noch Restbestände aus seiner ursprünglichen Lösung des Ordnungsproblems. So weist er darauf hin, dass sowohl die Ökonomie als auch die Politik in ihrem Funktionieren jeweils von einer „normative structure“ abhängen, über die sie selbst nicht verfügen (Parsons 1963: 47). Dieser Einwand ändert jedoch nichts daran, dass Parsons nun die Ordnungsthematik – wenn auch nicht vollumfänglich – auf deutlich veränderte Weise behandelte.
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die sich aus der Theorieanlage selbst nicht ergeben; dies betreffe unter anderem das „Hobbesian problem of order“ selbst, das als Ausgangspunkt viel zu eng und voraussetzungsreich sei, um die Frage nach der Möglichkeit von (geordneter) Handlung angemessen zu bearbeiten – weshalb man diesen Ausgangspunkt aufgeben müsse (ebd.: 284). Was aber war die Alternative? Hatte Luhmann an Parsons’ Überlegungen insbesondere deren Eigenschaftsreichtum moniert, konnte es ihm stattdessen nur um die Entwicklung einer „‚Theorie ohne Eigenschaften‘“ gehen (ebd.: 274). Wodurch zeichnet sich diese eigenschaftslose Theorie aus – und welchen Beitrag leistet sie zur Ordnungsthematik? Wie also ist Luhmann zufolge soziale Ordnung möglich? Seine Antwort darauf könnte kaum knapper ausfallen: „durch Sinn“ (ebd.: 285). Sinn ist die Antwort auf „das Problem der Mehrheit von Systemreferenzen“ bzw. „Weltstandpunkten“, wobei sich das Problemhafte hier keineswegs aus einer normativen Perspektive ergibt, sondern auf einen grundlegenderen, man könnte auch sagen: ontologischen Sachverhalt 19 abstellt. Das Problem ist hier nämlich, wie „trotz mehrfacher Systemzugehörigkeit“ (die besagte „Mehrheit von Systemreferenzen“) „die Einheit einer Handlung“ bewerkstelligt werden könne. Eine solche Handlungseinheit sei deshalb erforderlich, weil sich unterschiedliche personale und soziale Systeme in ihren Bewusstseinsakten und Kommunikationen ansonsten niemals auf etwas Gemeinsames beziehen könnten, eine Situation, die – ohne dass Luhmann selbst diese Referenz herstellt – mit dem Garfinkel’schen „state of confusion“ vergleichbar wäre. Sinn gilt Luhmann nun als „das allgemeinste, für personale und soziale Systeme überhaupt Zugängliche, allgemeiner als Position und Negation, denn die Operationen des Bejahens und Verneinens haben ihrerseits nur in bezug auf Sinnhaftes Sinn. Sinn ist für diesen Systembereich der personalen und sozialen Systeme (dem wir selbst zugehören) die Form der Erlebnisverarbeitung schlechthin und deshalb für die Theorie (die solche Systeme über sich selbst und anderes anfertigen) ein differenzloser Begriff. Alles, was Differenz sein könnte, kann nur sein als sinnhaft angezeigt und hat selbst wiederum Sinn. Daher muß man vom Sinnbegriff ausgehen bzw. auf ihn zurückkommen, wenn es um die zuvor skizzierten Probleme der Mehrheit von Systemreferenzen und der Interpenetrationen geht.“ (Ebd.: 275-279)
19 Luhmann selbst spricht an einer späteren Stelle von „phänomenologischer Reduktion“, die sich durch „ein Durchbrechen des Scheins der Normalität“ – und gerade nicht durch ein (normatives) Interesse an sozialen Problemen, die es zu beheben gelte – auszeichne. In diesem Zugang zur Ordnungsthematik sieht er auch Parallelen zur Ethnomethodologie. (Luhmann 1984: 162, 165)
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Wenn nun aber das Ordnungsthema so grundlegend, nämlich in Bezug auf die Sinnhaftigkeit der personalen und sozialen Systemoperationen behandelt wird, dann lässt sich soziale Ordnung nicht mehr derart (normativ) problematisieren, wie dies noch Hobbes, Malthus, Marx und Engels (und teilweise Parsons) getan haben. Letztlich kann es dann nur noch darum gehen, dass es – das heißt: Gesellschaft – weitergeht. Und dafür, dass es weitergeht oder zumindest weitergehen kann, liefert Sinn die erforderliche Garantie, indem er „alles, was erlebt wird, mit einer Vielzahl von Verweisungen auf andere Möglichkeiten“ überschütte; Luhmann spricht auch von seiner (des Sinns) „Offenheit für ein ‚Undsoweiter‘“ (ebd.: 279 f.). Zumindest vonseiten des Sinns soll demnach der Zukunftsfähigkeit von Gesellschaft in einem basalen, nicht emphatischen Sinne nichts im Wege stehen – und diese prinzipielle Zukunftsfähigkeit, diese sinngestützte Möglichkeit des Undsoweiter von Gesellschaft scheint es in erster Linie zu sein, womit Luhmann zu seiner Entproblematisierung sozialer Ordnung gelangt (unter der Voraussetzung, dass damit auch schon das Problem der unterschiedlichen Weltstandpunkte gelöst ist). So lautet eine weitere Variante seiner Antwort auf die Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, denn auch: „durch Bildung sozialer Systeme, die sich in Grenzen gegenüber einer überkomplexen Umwelt eine Zeit lang stabil halten können“ (ebd.: 285). Von normativen Kriterien zur Bestimmung einer solchen Stabilität ist dabei keine Rede. Was Luhmann im Text von 1981 nur andeutet, entwickelt er in seinem drei Jahre später veröffentlichten Buch Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984) systematisch weiter. Hatte Luhmann zunächst noch Parsons’ Theorem der „doppelten Kontingenz“ als unfortschrittlich kritisiert (ebd.: 260 f.), beurteilte er dieses jetzt deutlich positiver; dabei bediente er sich derselben Theoriestrategie, wie sie bereits Parsons auf Hobbes angewandt hatte: Er teilte das „Problem der doppelten Kontingenz“, nicht aber Parsons’ Lösungsvorschlag (Wertekonsensus). Dieses Problem bestehe ganz allgemein darin, „daß kein Handeln zustandekommen kann, wenn Alter sein Handeln davon abhängig macht, wie Ego handelt und Ego sein Verhalten an Alter anschließen will“. Diesem Deadlock, dem Parsons in der Sozialdimension von Sinn zu begegnen versucht habe, möchte Luhmann stattdessen in der Zeitdimension entkommen (Luhmann 1984: 149 f.; vgl. auch Parsons/Shils 1951). Treffen zwei personale Systeme aufeinander, die füreinander zwangsläufig „black boxes“, also undurchsichtig bleiben, und beobachten sich gegenseitig, dann falle die Emergenz einer sozialen Ordnung bzw. eines sozialen Systems schon deshalb leicht, weil sie in einer solchen Situation „für nahezu beliebige Bestimmungen“ „hochsensibel“ seien, und so schnell eine Systemgeschichte entstehe (ebd.: 166, 184). Wenngleich „[d]er Zusammenhang von dop-
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pelter Kontingenz und Systembildung“ dem so entstandenen Sozialsystem „keinerlei Bestandssicherheit mit auf den Weg“ gebe, liefere doch „Zufall“ immerhin genügend – zunächst noch ungeordnetes – Material zur potenziellen Systemreproduktion (ebd.: 170 f.). Wenn nun selbst schon die Unordnung (der Systemumwelt) konstitutive Voraussetzung für die Ordnung (des Sozialsystems) ist, dann bestätigt sich auf eindringlichere Weise das, worauf Luhmann bereits mit seinem Sinnbegriff hinauswollte: dass es ihm nicht auf Wertungen ankommt, sondern auf die Möglichkeit des bloßen Kontinuierens bzw. der inzwischen sogenannten „Autopoiesis“ von Gesellschaft. Und dann bleibt nur noch (mit Blick auf die Zeitdimension) lakonisch festzuhalten: „Die Kommunikation ist der autopoietische Prozeß sozialer Systeme, der weiterläuft über alle kooperativen oder antagonistischen Episoden hinweg, solange er weiterläuft.“ (Ebd.: 530) Mit dieser radikalen Temporalisierung von Gesellschaft (vgl. auch Nassehi 1993) wurde das Ordnungsproblem im normativen Sinne vollständig aufgelöst. Der vorzeitige menschliche Tod war hier schlicht und ergreifend irrelevant – und ein alternatives normatives Kriterium nicht in Sicht. Auch die Moral konnte keine Abhilfe leisten: Sie spiele in „komplexer werdende[n] Gesellschaften“ zwar noch eine Rolle, sei darin aber letztlich zu sehr „pluralisiert“, als dass sie „eine Gesamtprogrammierung der Sozialdimension“ adäquat leisten könnte (ebd.: 121 f.). Hier soll abschließend nur kurz auf das (zweite) theoretisch-begriffliche Manöver eingegangen werden, das die Irrelevanz des frühzeitigen Ablebens vollends besiegelt hat: Luhmanns „antihumanistische“ Gesellschaftskonzeption. Im ersten Band von Die Gesellschaft der Gesellschaft von 1997, ein Jahr vor seinem Tod, behauptete Luhmann, dass die Annahme, dass sich Gesellschaft aus Menschen zusammensetze, überwunden und stattdessen akzeptiert werden müsse, dass der Mensch „voll und ganz, mit Leib und Seele, als Teil der Umwelt des Gesellschaftssystem anzusehen“ sei (Luhmann 1997: 24, 30). Damit war keineswegs gemeint, dass es den Menschen gar nicht gäbe, und auch nicht, dass Gesellschaft auf ihn und seine Bewusstseinsleistungen verzichten könnte. Es hieß aber, dass der Mensch bzw. das menschliche Bewusstsein nicht Einfluss darauf nehmen könne, wie das kommunikative Geschehen verlaufe (ebd.: 35, 103 f.; vgl. auch Fuchs 2012: 101). Eben: Nur Kommunikation kommuniziere Kommunikation – so ja Luhmanns Autopoiesispostulat. Der Luhmann’sche „Antihumanismus“, der sich in seinen früheren Arbeiten bereits mehr oder weniger deutlich angekündigt hatte (vgl. etwa Luhmann 1981: 258; Luhmann 1984: 286), war letztlich schon in seiner Präferenz für den Begriff des Sinns vorgezeichnet, galt ihm doch dieser (und nicht der Mensch!) als gemeinsamer Nenner von personalen und sozialen Systemen und damit als Grundbegriff seiner Theorie (vgl. Fuchs 2015). Denjenigen Sozialtheoretiker*innen,
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die hingegen weiterhin an „einem menschenbezogenen ‚humanistischen‘ Gesellschaftsbegriff“ festhielten, warf er vor, dass sie dies aufgrund der „Befürchtung“ tun, „andernfalls jeden Maßstab für die Beurteilung der Gesellschaft und jedes Recht auf die Forderung, die Gesellschaft solle ‚menschlich‘ eingerichtet werden, aufgeben zu müssen“ (Luhmann 1997: 30). Ohnehin sei auf „jede substanzialisierte Auffassung von Individuen oder Akteuren“ zu verzichten (Luhmann 1984: 155). Damit lagen die Karten offen auf dem Tisch. Indem Luhmann den Menschen aus der Gesellschaft in deren Umwelt verfrachtete, schien er die Entproblematisierung sozialer Ordnung perfekt machen zu wollen. Denn wenn nicht einmal der Mensch Teil der sozialen Ordnung ist, wie sollte diese dann unter Hinweis auf menschliche Bedürfnisse – geschweige denn: auf den (vorzeitigen) menschlichen Tod – problematisiert werden?20
5.
AUSBLICK – ODER: DAS PROBLEM SOZIALER ORDNUNG UND KEIN ENDE?
Die Entproblematisierung sozialer Ordnung und das damit einhergehende Irrelevant-Werden des (vorzeitigen) menschlichen Todes hatten insbesondere bei Garfinkel und Luhmann einen Grund: dass sie den normativen Problembefund selbst zum Problem machten. Soziale Ordnung erschien ihnen nur noch insofern als „Problem“, als sie zwar „normal“, aber doch „unwahrscheinlich“ sei (so ausdrücklich Luhmann 1984: 162-166). Eine derartige Umstellung der Perspektive von normativer auf phänomenologische bzw. ethnomethodologische Problematisierung hatte sich keineswegs zufällig vollzogen, sondern war das Resultat aus der theoretisch-begrifflichen Umstellung von materiell-essenzialistischen auf
20 Nur weil Luhmann (abgesehen von Latour, auf den in 5. eingegangen wird) am Ende dieser Theoriegeschichte steht, soll damit keineswegs suggeriert werden, dass sein Zugriff auf das Thema sozialer Ordnung die Sache am adäquatesten erfasst hätte. Auf derartige Qualifikationen soll hier möglichst verzichtet werden. Trotz seines Anspruchs, selbst „die richtige Theorie freizulegen“, weist Luhmann im Übrigen darauf hin, dass angesichts der zügigen Binnendifferenzierung innerhalb des Fachs Soziologie „keine übergreifenden Theorien mehr denkbar sind, die sich als Beherrschung und Zusammenfassung des soziologischen Wissens verstehen können“ (Luhmann 1981: 267).
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temporal-antiessenzialistische Kategorien.21 Hantierten Hobbes und Malthus noch ganz offen mit Annahmen über das Wesen des Menschen und die Natur der Dinge (bei Malthus: die physikalische Bodenbeschaffenheit), waren die Autoren des 20. Jahrhunderts darum bemüht, den Menschen und seine natürliche wie soziale Umwelt möglichst eigenschaftsfrei zu konzipieren. Garfinkels „state of confusion“ und Luhmanns „Theorie ohne Eigenschaften“ sind dafür nur die schillerndsten Beispiele; aber auch Parsons’ weniger spektakuläre Ausführungen zur Systemintegration durch symbolisch generalisierte Interaktionsmedien zielten in diese Richtung. Soziale Ordnung war jetzt etwas, das durch die (alltäglichen) Handlungen der Menschen oder durch Kommunikationen hervorgebracht wird, aber nur: solange sie hervorgebracht wird – und nicht mehr angemessen in Bezug auf theoretisch bereits vorausgesetzte Wertvorstellungen problematisierbar. Allen voran Luhmann trieb in seiner Systemtheorie die Temporalisierung und damit auch die Antiessenzialisierung sozialer Operationen systematisch voran. Dies unterscheidet ihn (sowie Garfinkel und den späten Parsons) denn auch von Marx und Engels: Diese setzten zwar ebenfalls auf „Zeit“ im Sinne von Veränderungspotenzialen für die Zukunft; aber letztlich war die Aktualisierung der von ihnen in Aussicht gestellten Veränderungspotenziale (kommunistische Gesellschaft) im Rahmen ihrer geschichtsspekulativen Teleologie schon zu sehr festgelegt, als dass dies mit temporal-antiessenzialistischer Theoriebildung vereinbar gewesen wäre. Wie Hobbes und Malthus konnte sich auch ihr historischer Materialismus – wenn auch unausgesprochen – essenzialisierenden Annahmen über den Menschen (Nichtwünschbarkeit des vorzeitigen menschlichen Todes) und den Verlauf der Geschichte (als Geschichte von Klassenkämpfen) nicht entziehen. Im 20. Jahrhundert war es demnach mit der beschriebenen doppelten Umstellung zu einer Revolution in der Thematisierung sozialer Ordnung gekommen. Ist damit aber die Geschichte sozialtheoretischen Denkens über das Ordnungsthema an ihr Ende gelangt? Lässt sich nach den De(kon)struktionen von Garfinkel und Luhmann nichts mehr theoretisch-begrifflich Neues zum Thema beitragen? 1996 kam es bei einer Konferenz in Bielefeld zu einer verbalen Konfrontation zwischen Luhmann und Latour, die nicht nur anekdotischen Charakter haben sollte, sondern sich auf ihre konträren theoretischen und vor allem praktischen Ambitionen zurückführen lässt. Nachdem Luhmann – offenbar entgegen der Erwartungen der Veranstalter*innen – einfach seine soziologische Systemtheorie prä-
21 Damit waren sie Teil einer breiteren philosophischen Strömung im 20. Jahrhundert, die sich gegen geschichtsphilosophische und anthropologische Essenzialismen wandte. Vgl. Marquard (1996 [1979]), der dies mit Fokus auf die Identitätsthematik zeigt.
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sentiert hatte, machte ihm Latour den Vorwurf, dass vor allem seine differenzierungstheoretische Perspektive die Materialität und Vernetztheit alles Sozialen nur verfehlen konnte (vgl. Wagner 1996: 480 f.). Diese Szene mag teilweise auf Missverständnissen von Latour beruht haben; seine nachfolgenden Publikationen sollten jedoch deutlich machen, dass sein Vorhaben tatsächlich nicht mit Luhmanns systemtheoretischen Begriffen kompatibel war. Dies führen insbesondere seine „Acht Vorträge über das neue Klimaregime“ vor Augen, die unter dem Titel Kampf um Gaia (2015) erschienen sind. In diesem bemerkenswerten Buch behauptet Latour, dass es im „Anthropozän“ zu einem Novum gekommen sei: dass nun die „Erde“ mit all ihren nichtmenschlichen Entitäten – lange schon Gegenstand des „Raubbaus“ durch den Menschen – „uns die Existenz absprechen“ könne, sie also ihrerseits über eine eigenständige „Wirkungsmacht“ verfüge. Daher leben wir – wie Latour im Anschluss an Hobbes, vor allem aber an Schmitt konstatiert – in einem Kriegszustand, der an ganz unterschiedlichen „Stätten, an denen radikal fremde Entitäten die wechselseitige existenzielle, ‚seinsmäßige Negierung‘ praktizieren“, auftrete. Genau dieser polyterritoriale Kriegszustand ist es, den Latour als „Gaia“ bezeichnet (Latour 2017 [2015]: 401-403). Wer bekämpft hier aber eigentlich wen? Es seien die „Menschen“, die sich im traditionellen oder besser: „modernen“ Sinne von „Landnahme“ die Erde einfach nehmen, und die „Erdverbundenen“, „die von ihr vereinnahmt werden“. Den „Modernen“ fehle jegliche Reflexivität in Bezug auf die materiellen Voraussetzungen ihres Überlebens, während die „Erdverbundenen“ für genau diese Voraussetzungen besonders sensibel seien, weshalb sie auch die für die „Subsistenz der anderen Akteure“ notwendigen nicht menschlichen „Akteure“ „repräsentieren“ (ebd.: 423-426). Latour geriert sich hier offen als Schmittianer, indem er dessen Begriff des Politischen: der Unterscheidung zwischen „Freund“ und „Feind“ eine zentrale Rolle in seinen Überlegungen einräumt. Wir müssten wegkommen von der Idee eines „Staates der Natur“, der als „unbeteiligter“ und „unparteiischer Dritter“ (die „neutralen“ Naturwissenschaften) den Streit einfach zugunsten der „Natur“ zu schlichten können meine – und stattdessen ganz auf eine „Repolitisierung“ der Ökologie, auf eine „politische Ökologie“, setzen. Wir müssten zu einem „neuen Klimaregime“ gelangen (ebd.: 377-382; vgl. auch Schmitt 2015 [1932]). Und das heißt in letzter Konsequenz: Krieg.22
22 Zwar betont Latour seine fehlende kriegerische Veranlagung, und dass es ihm letztlich um die Aufnahme von „diplomatischen Beziehungen“ zwischen den „Menschen“ und den „Erdverbundenen“ gehe, wofür die Anerkennung des Kriegszustands eine notwendige Voraussetzung sei (Latour 2017 [2015]: 406, 402); aber selbst wenn man
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Dass ein solcher theoretischer Aktivismus, der das Primat der Politik wenn nicht voraussetzt, so doch immerhin fordert, in Luhmann einen Feind oder mit der Däubler’schen Formel: die eigene Frage als Gestalt erkennen muss, ist offenkundig. Um den Eindruck der Intensität dieser Dissoziation zu steigern, denke man nur an Luhmanns nüchterne Ausführungen zur „ökologischen Kommunikation“, wonach das politische System in Bezug auf „ökologische Anliegen“ „unmittelbar gar nichts ausrichten kann“, weshalb es sich mit „loose talk“ begnügen könne (Luhmann 1986: 225; vgl. auch Werber 2016). Offenkundig ist aber auch, dass in Kampf um Gaia etwas wiederkehrt, was zwischenzeitlich verlorengegangen war: das Problem des Todes, hier: des planetarischen Todes, und damit in einem gewissen Sinne auch das des vorzeitigen menschlichen Todes – und: das Problem sozialer Ordnung. Nur gehören jetzt zur sozialen Ordnung – im Sinne der Latour’schen Akteur-Netzwerk-Theorie – ganz unterschiedliche „Aktanten“, neben menschlichen auch nichtmenschliche Entitäten. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (mit neuen Problemlagen)! (Vgl. Latour 2007 [2005]) Erstaunlich bei all dieser „Neuheit“ ist, dass Latour mit seiner Reproblematisierung zu einer unwahrscheinlichen Verknüpfung zwischen Hobbes, Malthus, Marx und Engels zu gelangen scheint. Er behauptet den Hobbes’schen Schreckenshorizont des Kriegszustands als etwas schon Gegenwärtiges, der sich ihm zufolge – quasi-malthusianisch – aus dem Knappwerden der materiellen Lebensgrundlagen des Menschen ergibt. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, müssen wir jetzt handeln – nicht „zwangsläufig“, aber nötigenfalls mit Gewalt –, uns „Gaia“ stellen, um das (noch unrealisierte) „Ideal der Universalität“ immerhin in Zukunft umzusetzen (Latour 2017 [2015]: 401, 414). Dabei kehrt Latour insofern zu materiell-essenzialistischen Annahmen zurück, als er der Erde gewisse Fähigkeiten zuschreibt, vor allem aber die: dem Menschen seine physischen Lebensgrundlagen zu entziehen. Somit scheint er auf mehr als würdige Weise das Erbe des Ordnungsproblems anzutreten; ob es sich dabei – gerade angesichts dieser Amalgamierung unterschiedlicher Theoriebestände – um eine theoretisch-begriffliche Innovation handelt, kann hier allerdings nur versuchsweise und sehr knapp beantwortet werden. Vielleicht besteht diese Innovation – neben der enormen Ausdehnung des Sozialen und den daraus erwachsenden Konfliktpotenzialen – in der Gewinnung eines neuen normativen Kriteriums zur (Re-) Problematisierung sozialer Ordnung: in der zu vermeidenden Sinnlosigkeit (im
dieses Ermöglichungsverhältnis akzeptiert, wird nicht so recht klar, wie aus Krieg plötzlich Diplomatie werden soll.
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basalen, Luhmann’schen Sinne) eines künftig nicht mehr belebbaren Planeten.23 Wie überzeugend ein solches normatives Kriterium wäre, muss hier offenbleiben. Fest steht, dass mit Latour die hier erzählte Theoriegeschichte weitergeht – solange sie weitergeht.
LITERATUR Ariès, Philippe (2015 [1978]). Geschichte des Todes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Blumenberg, Hans (1962). Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche. In: Kuhn, Helmut/Wiedmann, Franz (Hrsg.). Das Problem der Ordnung. Meisenheim am Glan: Verlag Anton Hain, S. 37-57. Blumenberg, Hans (1966). Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. De Waal, Alex (2005 [1989]). Famine that Kills. New York: Oxford University Press. Engels, Friedrich (1981 [1844]). Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. In: MEW. Bd. 1. Berlin: Dietz Verlag, S. 499-524. Engels, Friedrich (1972 [1845]). Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: MEW. Bd. 2. Berlin: Dietz Verlag, S. 225-506. Fetscher, Iring (1984). Einleitung. In: Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. IX-LXVI. Fuchs, Peter (2012). Mensch/Person. In: Jahraus, Oliver u.a. (Hrsg.). Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler. Fuchs, Peter (2015). DAS Sinnsystem. Prospekt einer sehr allgemeinen Theorie. Weilerswist: Velbrück. Garfinkel, Harold (1952). The Perception of the Other: A Study in Social Order. Cambridge/MA.: Harvard Univ.
23 Bereits Jonas’ Prinzip Verantwortung (auf das auch Latour rekurriert) hatte ein ähnliches normatives Kriterium entwickelt: die „Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (Jonas 1979: 36), aber doch immer noch: nur menschlichen Lebens. Ob der Verweis auf Luhmanns Sinnbegriff den Ansprüchen der Latour ’schen AkteurNetzwerk-Theorie mit ihrem allumfassenden Aktantenbegriff gerecht wird, ist allerdings fraglich. Allein: Ohne Sinn ist auch Latours Unbehagen am gegenwärtigen Klimaregime nicht mehr kommunizierbar – und nicht einmal mehr denkbar.
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Fragilität und Sterben Soziale Ordnungsversuche im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Definition, gesellschaftlicher Ausgrenzung und erinnernder Kommunikation Klaus R. Schroeter und Christine Matter
EINLEITUNG In modernen Gesellschaften mit einem steigenden Anteil älterer und hochaltriger Menschen wird das Lebensende oftmals – wenngleich auch nicht zwangsläufig – von einem Prozess nachlassender Kräfte, zunehmender Fragilisierung, einsetzender Pflegebedürftigkeit und verstärkter Abhängigkeit begleitet. Dies stellt nicht nur für die davon direkt betroffenen Menschen eine Herausforderung dar, sondern wirkt sich auch auf deren soziales Umfeld aus, weil gewöhnlich unhinterfragte Weisen des gegenseitigen Umgangs plötzlich infrage gestellt sein können und das Soziale neu „geordnet“ werden muss. Auch die Wissenschaft hat vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen fachlichen und professionellen Zuständigkeiten mit Blick auf das fragile Alter spezifische „Ordnungen des Sterbens“ hervorgebracht, die in den entsprechenden Theorien und Diskursen ihre Spuren hinterlassen. Diesen möchte der folgende Beitrag ein Stück weit nachgehen. Auch wenn Hochaltrigkeit erst in der modernen Gesellschaft zu einem Massenphänomen und zu einem eigenen wissenschaftlichen Untersuchungsfeld geworden ist (vgl. u.a. Lalive d’Épinay/Spini 2007), zeigt ein Blick in die historische Altersforschung, dass die „eigentümliche Dichotomisierung und Spaltung des ‚höheren Lebensalters‘ in das Reich der ‚Gesundheit‘ und jenes der ‚Krankheit‘, bzw. das des ‚Normalen‘ und jenes des Pathologischen‘“ (von Kondratowitz 2000: 75) keine Erfindung der Moderne ist. Die schon auf die antike Vorstellung von senectus ipsa morbus zurückgehenden Lehren von den „Greisen-
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krankheiten“ und „Altersschwächen“ zeigen ihre Spuren in den historischen und aktuellen Altersdiskursen. Die zeitlich aufeinanderfolgenden Dichotomisierungen des Alters – von „hohem vs. abgelebtem“, „rüstigem vs. Gebrechlichem“, „normalem vs. pathologischem“, „bedürftigem vs. hinfälligem“, „aktivem vs. pflegebedürftigem“, „jungem vs. altem“, „drittem vs. viertem“, „autonomem vs. abhängigem“ (vgl. von Kondratowitz 2000: 138) oder neuerdings von „erfolgreichem vs. nicht erfolgreichem“ bzw. „gescheitertem“ oder „produktivem vs. nicht produktivem“ bzw. „unproduktivem“ Alter (vgl. Schroeter 2002, 2004a) – ziehen sich durch die Geschichte. Auffällig dabei erscheint, dass in der ersten Dichotomie (18. Jh. bis zur ersten Hälfte des 20. Jh.) „in der Deutung eines ‚abgelebten Alters‘ immer auch der Tod als unausweichliches Ergebnis des lebensgeschichtlichen ,Verzehrens‘ an Lebenskraft mitgedacht (ist)“ (von Kondratowitz 2000: 141), der in den folgenden Diskursen aus dem Betrachtungshorizont verschwand. Heute wird das hohe Alter bzw. das „vierte Alter“ vor allem in Bezug zu dem mehr oder weniger unscharfen Begriff der Fragilität mit seinen „mutiple and slippery meanings“ (Kaufman 1994: 48) gesetzt (vgl. u.a. Becker 1994; Grenier 2006, 2007; Grenier/Hanley 2007; Lalive d’Épinay/Spini 2008; Gilleard/Higgs 2010, 2011; Kolland 2011; Sternberg et al. 2011; Nicholson et al. 2012; Higgs/Gilleard 2014;), wodurch Hochaltrigkeit gleichsam „kulturell als Antimodell bzw. als negative Utopie des Alter(n)s konstruiert (wird)“ (Amrhein 2013: 13). Die wie auch immer konturierte Phase der Hochaltrigkeit oder des „vierten Alters“ wird sowohl in der Geriatrie als auch in der Sozialen Gerontologie, der Pflegewissenschaft und neuerdings auch in der kulturwissenschaftlichen Altersforschung in jeweils unterschiedlichen Kontexten und Sinnverständnissen mit der Verletzlichkeit bzw. Verwundbarkeit (Vulnerabilität) und Ge- bzw. Zerbrechlichkeit (Fragilität) alternder Körper in Bezug gesetzt. Dabei wird Vulnerabilität zumeist als eine Dynamik von Belastungen und Ressourcen und als Ausdruck eines mehrdimensionalen Schwächungsprozesses und als Mangel an Ressourcen in einem oder mehreren Lebensbereichen verstanden, der sowohl Einzelpersonen als auch Gruppen und Kollektive betrifft (vgl. Spini et al. 2017). Fragilität (Frailty) erscheint als die spezifische Form der Verwundbarkeit auf dem Weg durch das hohe und sehr hohe Alter und als das „Ergebnis der Distanzierung älterer Menschen von ihrer Umwelt […], die zu Rollenveränderungen führt, die durch einen Verlust an Autonomie gekennzeichnet sind“ (Spini et al. 2007: 574, eigene Übersetzung). Zwischenzeitlich ist der Begriff zwar verstärkt in den Aufmerksamkeitsbereich der Wissenschaft gedrungen und aus der Geriatrie und Gerontologie liegen
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verschiedene Versuche vor, Frailty näher zu operationalisieren (vgl. Kap. 2). Gleichwohl fehlt aber immer noch eine allgemein anerkannte Definition. Dennoch lassen sich nach Spini et al. (2007) zwei Modellarten erkennen, die Frailty als eine Übergangsphase – als ein Zwischenstadium zwischen Autonomie und Tod – im Prozess des Alterns beschreiben. Demnach beschreibt das lineare Modell einen mehr oder weniger irreversiblen Prozess des Abbaus, der von der Autonomie ausgeht und sich zunächst zur Beeinträchtigung hin entwickeln kann, dann in eine Behinderung umwandelt und schließlich im Tod endet (Spini et al. 2007: 575). Beim zyklischen Modell wird davon ausgegangen, dass der zur Frailty führende Prozess im Allgemeinen auf die Seneszenz zurückgeht, aber oft erst nach dem Eintreten eines auslösenden Ereignisses (z.B. einer Hüftfraktur, einer Krankheit, eines Krankenhausaufenthalts) beobachtet wird, sodass ein auslösendes Ereignis eine Spirale des Rückgangs verschiedener (physischer, sozialer, psychologischer) Ressourcen in Gang setzt und mit Erreichen einer bestimmten Reservenschwelle zur Frailty führt (Spini et al. 2007: 576 f.). Alltagssprachlich ist der Frailty-Begriff im Deutschen kaum präsent, da dürften eher vage Vorstellungen von „Altersschwäche“, „Gebrechlichkeit“ oder „Senilität“ aufscheinen. Die ursprüngliche Bedeutung von Gebrechen i. S. von Fehlen und Mangeln verweist auf ein mit einem Schaden versehenes Etwas, auf etwas Fehlerhaftes, Unzureichendes und Unvollkommenes wie auch auf „mit krankheit, kränklichkeit behaftet“ (DWB 1971, Bd. 4: 1857). Der englische Ausdruck frail (hergleitet aus dem lat. fragilis, afranz. fraile, frêle) steht zum einen für zerbrochen oder zerstört, plötzlich erschlagen, vergänglich, zum anderen für schwach i. S. von gebrechlich, Kraft benötigend, leicht zu überwinden sowie für moralisch schwach, unfähig, Versuchungen zu widerstehen, anfällig für Verstöße (OED 2017a). Frailty bedeutet demnach eine Art Hang zur Zerbrechlichkeit, Verderblichkeit, Vergänglichkeit und Schwäche, sowohl im materiellen als auch immateriellen Sinne, aber auch moralische Schwäche, labiler Geist oder die Neigung, sich zu irren oder Versuchungen zu erliegen sowie ein aus der Gebrechlichkeit oder Hinfälligkeit abgeleiteter Mangel, eine Schwäche oder Schwächlichkeit (OED 2017b). Die im Sprachgut des Alltags verankerten Verständnisse von Fragilität und Gebrechlichkeit verweisen zum einen auf negativ konnotierte körperliche wie auch geistige und moralische Dimensionen, die sich in so unterschiedlichen Sinnzusammenhängen wie körperlichen und mentalen Abbaus, Beeinträchtigungen, Verlusten, Schwächen sowie Ohnmacht oder Machtlosigkeit verdichten (Grenier 2007: 430). Zum anderen beinhaltet der Begriff „fragil“ jedoch auch die positive Konnotation von „zart“ bzw. „Zartheit“, welche auch der Duden erfasst (Duden online). In dieser Bedeutung verweist der Begriff mit Bezug zu sozialen
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Umgangsweisen auf Schutz(-bedürftigkeit), Vorsicht, Sorgfalt, Sorge, Rücksichtnahme oder Sensibilität. Diese Bedeutungsdimension scheint jedoch im Frailty-Diskurs – soweit erkennbar – keine zentrale Rolle zu spielen.
FRAILTY AUS GERIATRISCHER, PFLEGESOZIOLOGISCHER UND PSYCHOGERONTOLOGISCHER PERSPEKTIVE Der an diesen Vorstellungen anschließende medizinische Diskurs entwirft jedoch ein etwas anders konturiertes Bild von „Gebrechlichkeit“, das in den entsprechenden Debatten unter dem Label von „Frailty“ geführt wird. Darunter wird eine Art „pathologic condition“ (Ferrucci et al. 2003: 132) verstanden, die durch eine hohe Anfälligkeit und drohenden Abbau physischer Funktionen und durch ein hohes Todesrisiko charakterisiert wird. Trotz einer beträchtlichen Anzahl vorliegender Definitionsvorschläge (vgl. z.B. die Überblicksdarstellungen von Markle-Reid /Browne 2003 sowie von Gobbens et al. 2009), gibt es immer noch keine allgemein anerkannte Begriffsbestimmung. Die verschiedenen Definitionsversuche vereint das Verständnis, Frailty als ein mehrdimensionales Syndrom und eine Art gemeinsamen Auftretens oder Zusammenwirkens verschiedener Symptome zu verstehen, die vor allem durch abnehmende Funktionsreserven und durch verminderte Resilienz gegenüber Stressoren zu fassen versucht werden. Vereinfacht ließe sich sagen, dass Frailty im Wesentlichen die erhöhte Verletzbarkeit nicht nur alter Menschen bezeichnet, wobei die Gebrechlichkeit als eine Art Kontinuum zwischen den Polen Kraftlosigkeit bzw. allgemeiner Vulnerabilität und Robustheit bzw. Vitalität anzusiedeln ist (vgl. Verbrugge 1991). Im bio-medizinischen Diskurs der Geriatrie gehen die verschiedenen Frailty-Konzepte zumeist entweder auf das Modell der Defizitkumulation (Rockwood et al. 1994) oder auf das phänotypische Modell nach Fried et al. (2001) zurück. Bei dem einen Modell wird Frailty über eine 7-Punkte Skala von 1 (sehr fit) bis 7 (schwer gebrechlich) auf der Grundlage von 70 klinischen Variablen definiert, sodass sich der Frailty-Status an der kumulierten Anhäufung gesundheitlicher Defizite bemisst. Bei dem anderen Modell wird der Frailty-Status anhand der Ausprägung verschiedener Phänotypen (Gewichtsverlust, Schwäche, Antriebslosigkeit, langsame Gehgeschwindigkeit und geringe Aktivität) zugeordnet. Sofern keine dieser Symptome auf einen Menschen zutreffen, gilt er als „non-frail“, treffen ein oder zwei Symptome zu, gilt er als „pre-frail“ und wenn drei und mehr Symptome vorhanden sind, gilt die Person als „frail“. Zudem wird in einigen Studien auch versucht, die psychische und die soziale Dimension verstärkt
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in das Konzept einzubeziehen und entsprechend zu operationalisieren (vgl. zusammenfassend u.a. de Vries et al. 2011). In der geriatrischen Vermessung erscheint Frailty damit nicht als irreversibler Prozess, vielmehr können als pre-frail eingestufte Personen durchaus zum nicht-fragilen Phänotyp zurückkehren. Damit wird Frailty – zumindest im geriatrischen Diskurs – gewissermaßen entdämonisiert und verliert seinen Schrecken (vgl. Schroeter 2018: 113). In den Gesundheits- und Pflegewissenschaften gilt Frailty als soziales Konstrukt, das sichtbar wird, sobald die Ausführung wichtiger Aktivitäten des täglichen Lebens entscheidend geschwächt wird (vgl. u.a. Brown et al. 1995). In der soziologischen Pflegewissenschaft lässt sich – in Anlehnung an die Bourdieu’sche Kapital- und Feldtheorie – die Gebrechlichkeit als Grundlage einer spezifischen Kapitalform für das soziale Feld der Pflege betrachten. Hier werden korporale Vulnerabilität und Fragilität als Sonderformen des korporalen Kapitals – als Vulnerabilitätskapital (Schroeter 2004b: 137) – pflegebedürftiger Menschen gesehen, das gleichsam die Grundlage des Pflegekapitals (Schroeter 2004b: 135 ff., 2006: 40 f.; Longchamp et al. 2018, 2020: 44 f.) als spezifische Kapitalform des sozialen Feldes (Schroeter) bzw. des sozialen Raums der Pflege (Longchamp et al.) ist. Doch auch wenn der „Nursing Gaze“ (Schroeter 2004c) vordergründig auf die Vermessung und Klassifizierung gebrechlicher Körper fokussiert, reduziert sich dieser Blick nicht einzig auf die im Zuge des „Case-Managements“ vollzogene positivistische Verobjektivierung des „Pflegefalls“. Ihm steht auch eine aus dem „Autonomie-Paradigma“ (Kaufman 1994: 46 f.) hergeleitete Sichtweise zur Seite, die auf die Selbstbestimmung und Optionierung von Praktiken bei Gebrechlichkeit gerichtet ist. Dabei wird die Dialektik von „Frailty and Strength“ (Gadow 1983) hervorgehoben und Frailty nicht nur als zugetragenes Leid, sondern auch als gestaltbare Aufgabe im Rahmen eines „Doing Age in Small Ways“ (Schroeter/ Zimmermann 2012; Schroeter 2018) gesehen. Im Anschluss an das geriatrische Verständnis wird Frailty auch in der psychogerontologischen Sichtweise als ein Kontinuum erhöhter körperlicher Verletzlichkeit gesehen (Kruse 2017: 201 ff.). Prominent sind hier vor allem die Überlegungen zur unvollendeten Architektur der Humanontogenese (Baltes 1997) und die daran anknüpfend weitergeführte Annahme, dass es insbesondere im vierten Alter schwierig sei, eine positive Balance zwischen Gewinnen und Verlusten zu erzielen und hier eher die Verluste überwiegen (Baltes/Smith 2003).1 Demnach sei mit zunehmendem Alter die Vermeidung und Kompensa-
1
Dieser Gedanke tauchte auch schon früher auf, als in einem Papier zur White House Conference festgehalten wurde: „[…] in fact, aging has sometimes been defined as the
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tion von Verlusten gegenüber der Verwirklichung von möglichen Gewinnen immer wichtiger. Das wird in der Soziologie als existenzielle Knappheit (vgl. Balla 1978: 22 ff.) bezeichnet und lässt das Altern als „eine naturhafte Veränderung des Lebendigen“ erscheinen, „die durch Verluste und Einschränkungen gekennzeichnet ist“ (Rosenmayr 1989: 153, Originalhervorhebung). Rosenmayr wählt dafür die plakative Formulierung des Alterns als naturhaftes Verlieren unter Widerstand (Rosenmayr 1989: 153), das auch neue Dimensionen des Denkens, Fühlens und Handelns einschließen könne, sodass sich durch eine „verstärkte Wahrnehmung der eigenen Endlichkeit … eine neue Qualität mit veränderten Aufmerksamkeiten und Sichtweisen“ (Rosenmayr 1989: 153, Originalhervorhebung) entwickeln kann. Das kann von der „bewusst angenommenen Abhängigkeit im Alter“ (Kruse 2005: 276) bis zur Entfaltung spezifischer Sinndimensionen führen, die auch Chancen eröffnen, „Gelassenheit im sich selbst ‚zukehrenden‘ Denken und Handeln zu finden“ (Rosenmayr 2005: 27) bzw. „eine kritische Gelassenheit gegenüber unwichtigen Dingen, Illusionen und Ideologien zu entwickeln und Formen von Lebenszufriedenheit zu erlangen“ (Rentsch 2014: 268).
FRAILTY AUS SYMBOLISCH-INTERAKTIONISTISCHER UND ETHNOMETHODOLOGISCHER PERSPEKTIVE Im Anschluss an symbolisch-interaktionistische und sozialphänomenologische Zugänge und deren Sichtweisen auf die menschliche Handlungsfähigkeit bei chronischer Krankheit (Strauss 1975; Bury 1982; Charmaz 1983, 1997;) und im Sterbeprozess (Glaser/Strauss 1965, 1968; Marshall 1980) lassen sich Analogien herleiten, die auch für den Zugang zu Frailty oder zur Gebrechlichkeit dienlich sein können. Dazu muss man nicht zwangsläufig auf rollentheoretische Konzepte der chronisch Kranken (Kassebaum/Baumann 1965) oder Sterbenden (Parker-Oliver 2000) zurückgreifen, weil der analytische Wert des abstrakten Rollenbegriffs zur Beschreibung des Alterns und Sterbens zumindest insofern als gering einzuschätzen ist, wenn damit ein stabiler Satz von Erwartungshaltungen an das Verhalten einer kranken, gebrechlichen oder sterbenden Person verbunden ist (Marshall 1980: 92). Aber es scheint als legitim, das Bild eines kranken und gebrechlichen alten Menschen heranzuziehen, „who constructs an identity composed of many selves, and who seeks to direct his or her interaction with
period in life in which losses exceed gains“ (White House Conference 1960, zit. n. Kutner 1962: 6).
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others in ways compatible with this sense of identity as it changes over time“ (Marshall 1980: 93). Gleichwohl ist zu bedenken, dass die Erfahrungen und Wahrnehmungen chronisch Kranker nicht mit denen von Sterbenden gleichzusetzen sind, weil die chronisch Erkrankten und die Gebrechlichen noch inmitten ihrer Krankheitserfahrungen stecken und ihre Erzählungen und Berichte noch nicht abgeschlossen sind (Chatterjee 2004). Hilfreich ist der von Gubrium und Holstein (1995: 557 f.) unterbreitete Vorschlag, die individuellen Handlungsfähigkeiten und -möglichkeiten im Kontext der Erfahrungen und Nutzungen dessen zu rekonstruieren, was gewöhnlich im Alltagsleben zur Verfügung steht. Ein solcher Ansatz lässt erahnen, dass das Handeln – und damit auch die Techniken der Sorge um sich (Foucault 2005: 966-999) – und die Agency älterer Menschen unter den Bedingungen von Frailty und der erforderlichen Inanspruchnahme medizinischer und pflegerischer Hilfen am Lebensende ganz besonderen Herausforderungen unterliegt (Kellehear 2017). Bislang liegen nur wenige Erkenntnisse dazu vor, wie sich der Alltag und die Agency alter und fragiler Menschen im Einzelnen gestalten. Empirische Studien zu den Strategien und Praktiken älterer Menschen – insbesondere im Übergang vom dritten zum vierten Alter sowie zu deren Wahrnehmung und Deutung des Prozesses der Fragilisierung – sind eher rar. Und die wenigen bislang dazu vorliegenden Studien sind in ihren Ergebnissen und Erkenntnissen auch unterschiedlich. So wird zwar auf die Differenz von äußerlich zugeschriebener Frailty und subjektivem Empfinden oder von being frail und feeling frail (Grenier 2006) verwiesen, aber der fragile alte Körper wird durchaus unterschiedlich konnotiert. Zum einen erscheint er mit all seinen Schmerzen und verminderten Funktionen als der existenzielle Mittelpunkt im Leben (Whitaker 2010), zum anderen gibt es auch Hinweise darauf, dass mit fortschreitender Hochaltrigkeit und einsetzender Fragilität eine zunehmende Distanzierung vom eigenen Körper einsetzt (Heikkinen 2004). Zudem wird eine funktionale Unterscheidung in der Wahrnehmung der alten Menschen angedeutet, zwischen denjenigen, die für sich selbst sorgen können, und den „anderen Alten“, die aufgrund des Alterns ihre Autonomie verloren haben, sodass ein konstruierter Raum aufscheint, der sowohl Merkmale des dritten als auch des vierten Alters aufweist (Pirhonen et al. 2016: 1639 f.). Diese Studien deuten sowohl darauf hin, dass alte Menschen, sobald sie als „frail“ identifiziert und gelabelt werden, sich auch dementsprechend verhalten, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Unterstützung von den Menschen in ihrer Umgebung oder einen Zugang zu erforderlichen Dienstleistungen zu erhalten (Grenier/Hanley 2007). Andererseits zeigen sie aber auch die Diskrepanz zwischen dem klinischen Verständnis von Frailty und der Art und Weise auf, wie Menschen ihren körperlichen Zustand wahrnehmen, wenn sich z.B. in der
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Studie von Warmoth et al. (2016) die meisten Teilnehmer dagegen sträubten, sich selbst als gebrechlich zu bezeichnen und Wege fanden, der Zuschreibung einer Identität eines Gebrechlichen zu widerstehen. Dabei ist zu bedenken, dass wir es in den Erzählungen oder Narrationen vor allem mit Erlebnis-, Tatsachen- und Wahrnehmungsberichten und nicht mit „definitiven“ und unumstößlichen „Tatsachen“ zu tun haben. Das mit der Gebrechlichkeit einhergehende Leid und die damit u. U. verbundenen Ängste, Schmerzen und Schrecken bleiben innere Erfahrungen, die nur indirekt rekonstruiert werden können.
FRAILTY AUS POSTSTRUKTURALISTISCHER PERSPEKTIVE Aus der Perspektive poststrukturalistisch orientierter Sozialgerontologie wird Frailty bzw. Gebrechlichkeit als Resultat eines diskursiven Ausschlusses verstanden und der Weg von der Agilität zur Fragilität wird als weitgehend bedrohlich skizziert. Dort verschwimmt die Vorstellung von Fragilität/Frailty in den imaginierten Sphären von Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit (Gilleard/Higgs 2010, 2011, 2015). Im Anschluss an poststrukturalistische Theorieangebote werden die fragilen Alten in den negativ besetzten Außenbereich, in den Bereich des Anderen, des Abjektiven (Kristeva 1982; Gilleard/Higgs 2011; Higgs/Gilleard 2014), Verwerflichen (Butler 1997) und Verworfenen (Bauman 2005) verwiesen. Kulturanthropologisch gesprochen geht es in den postkolonialen Ansätzen der Altersforschung (vgl. zuletzt Zimmermann 2020) um das Othering, um den in den postkolonialen Theorien vielfach diskutierten Prozess des Fremdmachens. Dabei wird das Andere nicht nur als anders-, fremd- und verschiedenartig dargestellt, sondern in einem hierarchischen Diskurs als kläglich-kümmerlich und minderwertig und damit als bedrohlich konstruiert. Das „vierte“ Alter, mit all seinen demenziellen und multimorbiden Ausprägungen, wird in andere Räume verwiesen, in denen bereits der soziale Tod der Subjekte lauert (Gilleard/Higgs 2015; Sweeting/Gilhooly 1997). Der Begriff des sozialen Todes wurde wohl erstmals von Glaser und Strauss (1965) – in Anlehnung an das von Goffman (1961) entwickelte Konzept der „mortification of self“ – eingeführt und beschreibt in der Wahrnehmung des Pflegepersonals schwer kranke, sterbende Menschen, deren Körper medizinisch-biologisch noch leben, die aber bereits als sozial tot wahrgenommen werden (vgl. ähnlich Sudnow 1973: 96 ff.). Diese anderen Räume sind zum einen imaginierte Sphären und fantasierte Orte eines „anderen Plane-
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ten“ (Hazan 2012), an denen das Andere und Abjektive imaginär verortet wird, zum anderen aber auch Heterotopien (Foucault 2005: 931-942a), als real zu lokalisierende Orte (z.B. Hospize, gerontopsychiatrische und palliative Stationen und Kliniken),2 in denen alles Abweichende und Heterogene versammelt wird, in denen die fragilen, gebrechlichen, hinfälligen und sterbenden Menschen als living dead (Sankar 1987) gesehen und in ihrem „asozialen Lebensabschnitt“ in einem „Ghetto“ und „Vorfeld des Todes“ (Baudrillard 2005: 257) verortet werden und damit zu einer irgendwie wirkenden Restgröße in der Masse alter Menschen deklariert werden, die irgendwie anders sind. Dieses Andere und Fremde bleibt zunächst einmal diffus und unbestimmt, verweist z.B. auf andere und fremde Orte, Figuren und Eigenschaften mit vielerlei Bedeutungen, vom Unbekannten und Unvertrauten bis zum Unpassenden und Unheimlichen. Fragilität wird damit zum Ausdruck von Liminalität (Turner 1967, 2000), zu einer Phase der Unausgewogenheit und des „‘betwixt and between‘ active living and clinically recognised dying“ (Nicholson et al. 2012: 1426), eine Art „schwarzes Loch“, das die äußeren Grenzen eines „aging without agency“ (Gilleard/Higgs 2010) konturiert, so als lebe man unter der drohenden Gefahr, zunächst aus der normativ geregelten Zivilisation des guten Alterns in die ungezügelte und verrohte Barbarei des Siechtums verstoßen und dann in die unbekannte Welt des Todes überführt zu werden. Die gebrechlichen Alten werden damit als Schwellenwesen und Grenzgänger deklariert, die sich in der Phase der Liminalität im Zustand der Ambiguität und Unbestimmtheit befinden und sich zwischen den normativ fixierten Positionen bewegen. Allerdings wird den gebrechlichen alten Menschen kaum eine existenzielle „communitas“ i. S. Turners zuzusprechen sein, weil sie ja eben keine „Beziehung zwischen konkreten, historischen, idiosynkratischen Individuen“ (Turner 2000: 128) bilden und es unter ihnen zumeist keine Kopräsenz mit gegenseitigen Wahrnehmungen gibt. Die mag es allenfalls in den Mikrokosmen der als Heterotopien gedachten Hospize, Palliativ- und Pflegestationen geben. Aber dort, wo der letzte Aktionsradius der schwerstpflegebedürftigen und sterbenden Menschen zumeist auf das Krankenzimmer oder das Sterbebett eingeengt wird, bleibt die Möglichkeit zur physischen Kopräsenz
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Eine solche Sicht folgt jedoch weitgehend einem medizinisch geprägten Verständnis des Sterbens, das die letzten Tage des Lebens eines Menschen umfasst und lässt außer Acht, dass der längere Teil des Sterbens meist außerhalb der engen und flüchtigen Episoden der medizinischen Versorgung oder des professionellen Kontakts stattfindet – zu Hause oder an anderen institutionellen Orten des sozialen Lebens – und die Menschen in den als Heterotopien bezeichneten Sterbeorten lediglich ihr Sterben beenden (Kellehear 2017: 16 f.).
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und zur wechselseitig aufeinander Bezug nehmenden Wahrnehmung und gedanklichen Ordnung der erlebten Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit begrenzt. Insofern bilden die gebrechlichen und sterbenden alten Menschen am äußersten Ende ihres Lebens keine besondere Gemeinschaftlichkeit im Sinne der von Turner konzedierten „communitas“. Dennoch lohnt es sich, den Gedanken der Liminalität aufzugreifen, jedoch nicht, um daraus das konstitutionelle Außen des Verrohten und Verworfenen, des Anderen und Abjektiven herzuleiten und das vierte Alter mit all seiner Gebrechlichkeit als „verworfenes Leben“ zu geißeln. Lohnenswerter scheint uns der Blick auf die Ambiguität der Schwellenwesen im Kontext des Erlebens und der Ausgestaltung der Handlungsfähigkeiten (agencies) und Praktiken der (Selbst-)Sorge bei (einsetzender) Fragilität älterer Menschen an der Schwelle vom Dritten (agilen) zum Vierten (fragilen) Alter. Denn der Übergang von der Agilität zur Fragilität steht für eine gesetzte oder instituierte Differenz (Bourdieu 1990) bzw. für eine legitimierte oder sanktionierte Unterscheidung von denjenigen, die – in diesem Falle – durch den neuen Status stigmatisiert werden. Einsetzung oder Instituierung heißt nicht nur Festschreibung oder Anerkennung einer wie auch immer medizinisch diagnostizierten oder sozial zugeschriebenen Ordnung. Letztlich geht es auch um die reale Veränderung der Person. Denn die Vorstellung, die Andere – die Gesellschaft – von einer gebrechlichen oder hinfälligen Person haben, verändert zugleich auch die Vorstellung, die diese nun als frail instituierte Person von sich selber hat. Und damit verändert sich auch das Verhalten dieser Person, die sich nun zu diesem neu zugewiesenen Status irgendwie positionieren muss. Damit wird, wie Bourdieu (1990: 87) plakativ formuliert, der Indikativ zum Imperativ. Durch den Übergang von der Agilität zur Fragilität wird dem so Instituierten eine Identität auferlegt, der er nun gerecht werden muss.3
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Wie das bewerkstelligt, erlebt und gestaltet wird, ist Gegenstand eines derzeit durchgeführten Forschungsprojektes. Das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte und derzeit an der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW in Olten (CH) durchgeführte Projekt „Von der Agilität zur Fragilität? – Handlungen und Haltungen im körper/leiblichen Vollzug des Übergangs vom Dritten zum Vierten Alter“ (10001C_192406) soll Antworten auf diese Frage geben (zur Vorstudie vgl. Matter et al. 2020).
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FRAGILITÄT AM ENDE DES LEBENS UND DIE SOZIALE DIMENSION DES ERINNERNS In der dargelegten Logik einer „instituierten Differenz“ scheint es für die Betroffenen schwierig, Stigmatisierung und sozialer Exklusion etwas entgegenzusetzen. Die „Fronten“ zwischen der „Gesellschaft“ und ihren „Ausgeschlossenen“ sind gezogen. Folgt man der poststrukturalistischen Argumentation, so scheinen sehr alte fragile Menschen die Kriterien „wirklich“ lebender Menschen nicht mehr zu erfüllen (vgl. Roelcke 2001: 73). Sie sind zwar noch nicht im eigentlichen – biologischen – Sinn tot, aber sie taumeln als „lebende Tote“ klar am Rand des Abgrundes, der den Tod bedeutet. Unter einer „Welt der Toten“ können sich moderne im Unterschied zu traditionalen Gesellschaften in der Regel wenig Verbindliches vorstellen, was die Metapher des „schwarzen Lochs“ konsequent zum Ausdruck bringt: Hier kollabieren Zeit und Raum in ein Nichts. Solange dieser Abgrund die Einzelnen als Tote noch nicht komplett verschlungen hat, stellen sie in poststrukturalistischer Lesart eine Provokation für die Gesellschaft dar, welche sich besonders an der Wahrnehmung des alten und geschwächten Körpers entzündet. So trägt die moderne Gesellschaft gleichsam den Tod in Form von fragilen alten Körpern als Menetekel vor sich her. Mit dem Begriff des (im Unterschied zum sozialen Sterben immer irreversiblen) sozialen Todes in Bezug auf die fragilen alten Menschen wird eine der heute gesellschaftlich verfügbaren „Ordnungen des Sterbens“ umschrieben, die ihre Quintessenz letztlich darin findet, dass die Lebensphase der Fragilität mit dem Tod kurzgeschlossen und so zum Verschwinden gebracht wird. In diese Logik sind die entsprechenden gesellschaftlichen Institutionen wie Pflegeheime oder Hospize funktionell eingebunden, indem sie als Ort des Ausschlusses identifiziert werden. Am Ursprung solcher Konzeptionen liegt die Angst vor dem Tod als dem gemessen am Leben „radikal Anderen“, welches die Toten und die Sterbenden als entsprechende Vorboten im wahrsten Sinn des Wortes „verkörpern“. Mittlerweile lassen sich Pflegeheime und weitere institutionelle Kontexte des Lebens im Alter kaum mehr systematisch mit solchen Todes- oder auch Höllenszenarien (vgl. Breuer 2021) adäquat erfassen.4 Dies gilt insbesondere für Pallia-
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Breuer sieht im verbreiteten Gebrauch der dem religiösen Kontext entnommenen Metapher der Hölle für die Zustände in Pflegeheimen den Versuch einer „Disziplinierung“ älterer Menschen und deren Angehöriger, um Pflegeheime möglichst zu meiden. Damit reiht sich die (insbesondere mediale) Pflegeheimkritik in die negative Lesart von Hochaltrigkeit ein mit der Aufforderung, alles zu tun, um gar nicht erst in das Stadium „entmenschlichter“ Hochaltrigkeit und damit einhergehender Pflegebedürf-
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tivstationen, deren Ziel darin besteht, auf die Herausforderungen am Lebensende und auf die entsprechenden Bedürfnisse der Sterbenden differenziert einzugehen (vgl. Göckenjan/Dreßke 2005). Auch im Bereich der Pflegeheime hat sich trotz der strukturellen Herausforderungen zumindest das Selbstverständnis der professionellen Akteure und Akteurinnen in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Sichtweise einer radikalen Exklusion des fragilen Alters weckt jedoch nicht nur bezüglich des institutionellen Kontextes eine gewisse Skepsis. Auch auf individueller Ebene scheint eine ausgrenzende Haltung gegenüber fragilen Älteren nicht unbedingt plausibel zu sein. Neben sozial- und wirtschaftspolitischen Effekten bedeutet ein demografisch hoher Anteil von alten und sehr alten Menschen nicht zuletzt auch, dass das Alter als Lebensphase und mit seinen besonderen Erscheinungsformen im Leben der meisten Menschen durch persönliche Bindungen an Großeltern oder Eltern sowie an weitere ältere Menschen im privaten Bereich nach wie vor präsent ist. In der Phase des Sterbens und spätestens dann beim eintretenden Tod stehen die Hinterbliebenen vor der Herausforderung, wie mit dem Verlust des emotional (mehr oder weniger) nahestehenden Menschen umzugehen ist. Eng verbunden damit ist das Problem der Trauer. In modernen, als hochindividualisiert geltenden Gesellschaften kommt der endgültigen Trennung von Mitmenschen schon allein insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie als Änderung im Netz der emotional-sozialen Beziehungskonstellation den Einzelnen direkt in seinem Selbstverständnis trifft. Der Tod ist nicht nur deshalb ein Problem der Lebenden, weil die Menschen als einzige Lebewesen um die Endlichkeit ihrer Existenz wissen (Elias 2002: 11), sondern auch, weil mit dem Tod eines Menschen jeweils das soziale Bezugsgefüge mehr oder weniger stark destabilisiert wird. Durch den Verlust von alter ego sieht sich auch ego existenziell bedroht, wenn davon ausgegangen werden kann, dass „signifikante“ Andere für Aufbau und Entwicklung einer individuellen Identität wesentlich sind. Angesichts fehlender allgemein verbindlicher Möglichkeiten einer transzendenten Rückversicherung scheint es naheliegend, dass die Bedeutung von in gegenseitiger Vertrautheit gründenden sozialen Beziehungen für den Einzelnen nicht nur im Leben, sondern auch im Kontext von Sterben und Tod zunimmt. Während die Vorstellung des Weiterlebens der Toten im Diesseits in praktisch allen Gesellschaften und Kulturen zu finden ist und damit gewisserma-
tigkeit zu gelangen. Da erscheint es nur konsequent, wenn auch Alternativen zum Pflegeheim wie etwa die Angehörigenpflege im Pflegediskurs in ähnlicher Weise (und religiöser Begrifflichkeit: Pflege als „Qual“, „Martyrium“ und „Hölle“ für die Angehörigen; s. Breuer 2021:193) Kritik erfahren – mit der Folge, dass letztlich dem gesamten Bereich der Pflege im hohen Alter die Legitimation abgesprochen wird.
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ßen den anthropologischen Normalfall darstellt (vgl. Hahn 2000: 164 f.), kommt ihr unter modern-individualisierten Bedingungen identitätstheoretisch eine besondere Rolle zu, weil mit dem Verlust des unersetzlichen Anderen das eigene Selbst auf dem Spiel steht, dies umso mehr, wenn sich wie in modernen Gesellschaften Emotionen und Affekte auf wenige andere konzentrieren und die Beziehungen zu ihnen entsprechend durch einen hohen Grad an Exklusivität und Intensität gekennzeichnet sind (Hahn 2000: 120 f.). Umso wichtiger scheint es dann zu sein, dass die Toten im Gedächtnis der Überlebenden präsent sind und die Verbundenheit zu ihnen im Erinnern aufrechterhalten wird. So lässt sich im Erinnern auch das Paradigma eines neuen Trauermodells sehen (vgl. Jacoby 2014). Im Erinnern bzw. durch Erinnerungen werden die sozialen Beziehungen zu den Toten weitergeführt. Erinnern und Erinnerungen sichern damit nicht nur das Weiterleben der Toten im Diesseits, sondern auch den Lebenden die Kontinuität von Identität im Rahmen ihrer Biografie. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wird aus der radikalen Zäsur des Todes ein „Übergang“, der nicht nur in traditionalen, sondern auch in modernen Gesellschaften mithilfe von Ritualen strukturiert und bewältigt wird (Walter 1999: 56 ff.; vgl. van Gennep 1999). Doch was heißt dies nun für die von Fragilität betroffenen Hochaltrigen, die sich infolge von Alter und Gebrechlichkeit am Ende des Lebens befinden? Sie erfahren und sehen am eigenen Körper die Spuren der Vergangenheit. Zugleich vermitteln ihre gezeichneten Körper auch den Jüngeren in ihrem Umfeld die Dimension einer zurückliegenden Zeit, die in der Interaktion ggf. explizit zum Thema gemacht werden kann. Darüber hinaus trägt der Körper durch sein Aussehen ein implizites Wissen in sich, welches sich dem Gegenüber vor allem im Gesicht vermittelt. Das Gesicht ist mit Simmel jenes Ausdrucksorgan, welches das gegenseitige Sich-Wahrnehmen und das „interindividuelle Sehen“ (Simmel 1992: 725) am grundlegendsten ermöglicht – hergestellt im Blick von Auge zu Auge. Das Gesicht erzählt mehr als jeder andere Teil des Körpers von seinem Träger oder seiner Trägerin. Das Gesicht im Blick des Anderen kann entsprechend auch als Zugang zu einer Dimension des Körperlichen verstanden werden, die oft mit dem Begriff des Leibes 5 umschrieben wird: „Das Gesicht ist die eindrücklichste Narbe der Vergangenheit, ein Ort, an dem wir Körper sind, ohne ihn zu haben. Und es ist der Körper selbst – das Auge des Gegenübers –[,] das im gegenseitigen Blick in der Lage ist, den Code des Leibgedächtnisses, die Spuren, die in das Gesicht eingeschrieben und somit Teil der Gegenwart geworden sind, zu entziffern und zu entschlüsseln.“ (Haag 2016: 56)
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Zur Kritik am Begriff des Leibes in der deutschsprachigen (Körper-)Soziologie siehe Kastl 2021.
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Unabhängig von der Frage, was hier letztlich tatsächlich und mit welchem Grad an intersubjektiver Zuverlässigkeit entziffert und entschlüsselt werden kann, verweisen diese Überlegungen auf einen Raum körperlicher Ko-Präsenz, in welchem Alte und Junge, Gesunde und Fragile in einem gemeinsamen sozialen Bezug stehen (können). Somit lässt sich die im poststrukturalistischen Diskurs verankerte These einer radikalen Exklusion fragiler Hochaltriger auch mit Blick auf die oben angesprochene Notwendigkeit einer realen Veränderung der Person neu betrachten: Im Sterben und angesichts eines nahenden Todes sind beide, fragile und nicht-fragile Menschen, gleichermaßen mit der Frage nach Veränderung und Kontinuität konfrontiert. Die Antworten, die darauf gefunden werden können, speisen sich nicht nur – oder womöglich sogar weniger – aus der Angst vor dem Tod und aus dem Zurückweisen und Verdrängen von allem, was auf ihn hinweist, sondern auch aus den sozialen Prozessen des Erinnerns und aus seinen Gegenständen, den Erinnerungen, welche die vermeintlich „Ausgeschlossenen“ in die soziale Welt inkludieren.
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Der Tod und die Liebe Die Metaphysik der Kommunikation 1 Christian Fuchs
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EINLEITUNG
Wurde seit 1990 vom Tod in Bezug auf den Marxismus gesprochen, so war damit zumeist der „Tod von Marx“ und der „Tod des Marxismus“ gemeint. Jene, die so sprechen, meinen damit: „Klassenanalyse, Klassenkampf und Kapitalismuskritik sind veraltet und falsch! Das brauchen wir nicht!“ Der Aufstieg des Neoliberalismus, der Stalinismus sowie die Korruption und der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wirkten derart zusammen, dass es schwierig wurde, sich positiv auf Marx zu beziehen. Meine eigene politische und akademische Sozialisierung fand im Kontext eines Klimas des Hasses auf Marx und den Marxismus statt. Immer wieder konnte man die „alte Leier“ hören: „Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus“ (Derrida 2004: 78). Diese alte antimarxistische Leier war nicht nur von Neoliberalen zu hören, sondern immer wieder auch von Vertretern der Identitätspolitik und des Postmodernismus, die sich selber als politisch progressiv verstehen. Der Effekt davon ist, dass Postmoderne und Neoliberale die Diskriminierung des Marxismus und seiner Vertreter vorangetrieben haben. Dabei wurde und wird immer
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Hinweis: Dieses Kapitel ist ein Nachdruck aus einem Buch von Christian Fuchs. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des UVK-Verlages. Zuerst wurde es veröffentlicht als: Christian Fuchs (2020). Der Tod und die Liebe: Die Metaphysik der Kommunikation. In: Christian Fuchs. Kommunikation und Kapitalismus: Eine Kritische Theorie. München: UVK Verlag, Kapitel 13, S. 417-445.
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wieder behauptet, der Marxismus und Marx seien reduktionistisch, deterministisch, totalitär und antidemokratisch.2 Jene, die derartige Behauptungen aufstellen, haben meist Marx gar nicht gelesen und können gar keine Diskussion über Marx führen. Sie haben aber häufig Machtpositionen inne, die es ihnen erlauben, den Marxismus und dessen Vertreter zu diskriminieren. Es handelt sich um den Versuch, jedes Aufleben des Marxismus zu töten. Seit 2008 durch die Antagonismen des Kapitalismus eine neue Weltwirtschaftskrise ausgelöst wurde, können selbst die Dümmsten und Ignorantesten nicht mehr leugnen, dass Klasse und die kapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert eine große Bedeutung haben. Sozialistische Politik hat nicht unmittelbar im Zuge der Krise einen allgemeinen Aufschwung erfahren. Dennoch wurde das Interesse an Marx und marxistischer Theorie deutlich größer. Der Gesamteffekt war, dass es leichter wurde, über Marx, Marxismus, Kapitalismus, Klasse, Ausbeutung und Sozialismus zu sprechen. Marx war niemals tot, da sein Werk mindestens so lange praktisch und theoretisch von Bedeutung bleibt, wie der Kapitalismus existiert. Es gab und gibt aber viele, die Marx’ Arbeiten gerne für endgültig tot erklären möchten. Die reale gesellschaftliche Entwicklung zeigt hingegen deren Aktualität. Da das ideologische Todschweigen von Marx gescheitert ist, ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, den Tod im Kontext von Marx nicht als „Tod von Marx“ zu verstehen, sondern die Frage zu stellen, wie der Marxismus sich am besten mit dem Phänomen des Todes auseinandersetzen soll. Dieses Kapitel ist ein Beitrag zu dieser Aufgabe. Die Metaphysik ist ein Teilgebiet der Philosophie, das sich mit Phänomenen beschäftigt, die wir nicht einfach quantifizieren können und die nicht so einfach in Worten ausdrückbar sind. Der Tod, die Trauer, Religion und die Liebe gehören zu den existenziellen menschlichen Phänomenen, die in den Bereich der Metaphysik fallen. Eine kritische Theorie der Kommunikation muss sich mit metaphysischen Fragen wie etwa jener, wie wir über den Tod, die Trauer und die Liebe kommunizieren, auseinandersetzen. Der Marxismus hat sich bisher nicht so sehr mit metaphysischen Fragen wie dem Tod auseinandergesetzt. Der Tod im Kontext von Marx wurde bisher vorwiegend als der Tod von Marx’ Theorie verstanden. Da Marx aber zurückgekehrt ist, ist es Zeit, dass wir uns der Frage zuwenden, was Marx und die marxistische Theorie uns über den Tod und die Kommunikation des Todes zu sagen haben.
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Zur Widerlegung dieser Behauptungen siehe: Eagleton (2012).
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Die Metaphysik ist der Aspekt der Philosophie, der sich mit Fragen des Trans-Empirischen beschäftigt, also mit Fragen, die über die rein empirische Alltagsrealität des Menschen hinausgehen. Dazu gehört auch der Tod. Der Tod ist eine wichtige Ursache, ein wichtiger Anstoß und ein wichtiges Einfallstor zur Beschäftigung mit metaphysischen philosophischen Fragen. Da der Tod ein Skandal ist, der alle Menschen betrifft, stellen sich alle Menschen auch metaphysische Fragen. Der Tod ist der dialektische Gegenpol zur Liebe. Da der Tod jedoch das ewige Dunkel des Nichts ist, mit dem der Mensch konfrontiert ist und das Anlass zur Trauer ist, ist es ein schlechter Trost, einfach das Leben als Perspektive gegen den Tod zu setzen. Ein hoffnungsgebender Gegenpol zum Tod ist einzig die Liebe als zwischenmenschliches Prinzip und als gesellschaftliches Prinzip des Kommunismus. Die Religionen „haben viel zu sagen über einige wesentliche Fragen wie den Tod, das Leiden, die Liebe, die Selbstenteignung und dergleichen, über die die Linke größtenteils eine peinliche Stille aufrechterhalten hat“ (Eagleton 2009: xii).3 Marx spricht davon, dass die „Religion das Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit“ (Marx 1981 [1843]: 345) ist. Zu diesen Kämpfen gehören ideologische und Klassenkämpfe genauso wie der Kampf mit der Angst vor Schmerz, Leid, Verlust, Einsamkeit und Tod. Metaphysische Fragen sind also Teil des Inhaltsverzeichnisses der Menschheit. Der Marxismus muss sich wie andere Philosophien mit solchen Fragen auseinandersetzen, um die Lebensrealitäten des Menschen verstehen zu können und auf diese antworten zu können. Abschnitt 2 beschäftigt sich mit der Frage, wie der Tod und die Liebe ontologisch erfasst werden können. Abschnitt 3 setzt sich mit dem Tod und der Entfremdung auseinander. In Abschnitt 4 geht es um die Trauerarbeit und die Kommunikation des Todes und der Trauer. Abschnitt 5 diskutiert Sterblichkeit, Unsterblichkeit sowie Post- und Transhumanismus.
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DER TOD, DIE LIEBE UND DIE ONTOLOGIE
Der Tod des Menschen ist das Ende, das absolute Nichts. Jede Veränderung ist ein Werden als eine Dialektik von Sein und Nichts. Eine neue Idee, die eine ältere Idee aktualisiert, macht diese nichtig. Eine neue seiende Idee hebt die alte
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Übersetzung aus dem Englischen [„have much to say about some vital questions – death, suffering, love, self-dispossesion and the like – on which the left has for the most part maintained an embarrassed silence“] (Eagleton 2009: xii)
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Idee auf im Sinne der dreifachen dialektischen Aufhebung, also der gleichzeitigen Eliminierung, Bewahrung und des Höherhebens auf eine neue Organisationsstufe. Genauso verhält es sich mit der Einführung neuer Produktionsmethoden und Technologien, die alte Methoden aufheben. Der Tod hingegen ist die Vernichtung von Sein, das Ende des Körpers, des Geistes, des Bewusstseins, des Denkens, des Handelns, der Erfahrung, der sozialen Beziehungen, der sozialen Rollen und der Kommunikation eines bestimmten Menschen. Aus dem Tod einer Person mag etwas Neues für andere Personen produziert werden, wie etwa neue Einsichten in die eigene Lebensgestaltung. Aber der Tod eines Menschen produziert nichts Neues in Bezug auf diesen Menschen, sondern zerstört dessen Sein. Der Tod ist eine pure negative Dialektik. Aristoteles über den Tod Aristoteles situiert den Tod im Kontext der Angst. Der Mensch hat Angst vor „Armut, Krankheit, Verlassenheit und Tod“ (Aristoteles 1983: § 1115a). Angst ist das „Vorgefühl drohenden Übels“ (ebd.: § 1115a). „Das Schwerste aber ist der Tod: er ist das Ende und nicht mehr kann, so glaubt man, dem Toten geschehen, wieder Liebes noch Leides“ (ebd.: § 1115a). Aristoteles argumentiert, dass die edelste und tapferste Form des Todes das Sterben „in Ehre“ und ohne Furcht im Kampf ist. Er idealisiert dadurch den Krieg. Es ist nicht einzusehen, warum das Sterben für Volk, Nation, Führer etc. edel sein soll. Aristoteles benennt nicht direkt das Sterben für das „Vaterland“ als edel, idealisiert also nicht den Nationalismus. In Situationen des Faschismus ist der bewaffnete antifaschistische Kampf gegen das Terrorregime tatsächlich ehrenhaft. Der Antifaschismus ist jedoch der Gegenpol zum Nationalismus und Imperialismus, die Weltkriege verursacht haben. Todesmystik muss vermieden werden. Der Tod an sich ist ein Skandal. Das schließt nicht aus, dass es Situationen gibt, in denen die Bekämpfung derer, die das Töten zum System machen, wie im Faschismus, ehrenhaft ist. Das Sterben an sich kann aber niemals ehrenhaft sein, sondern stellt eine Tragödie dar. Der Faschismus idealisiert das Töten, das Sterben und erachtet den Soldaten als den idealen Menschen. Erich Fromm bezeichnet jemanden, der auf Basis des Prinzips „Es lebe der Tod“ handelt, als nekrophilen Charakter. Nekrophilie ist „die Leidenschaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln; zu zerstören um der Zerstörung willen“ (Fromm 1977: 373). Hitler hatte laut Fromm nicht nur einen autoritären und sadomasochistischen, sondern auch einen nekrophilen Charakter. Auch in der heutigen Politik hat sich die Nekrophilie als Ideologie wieder ausgebreitet.
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Philosophische Positionen zum Tod Je nach philosophischer Position wird der Tod als vollständiges oder teilweises Ende der Existenz des Menschen sowie als zeitlich vorläufig oder dauerhaft aufgefasst. Diverse Religionen gehen von einem Leib/Seele-Dualismus aus und dass die Seele beim Tod nicht stirbt, sondern weiterlebt. Diesen dualistischen Glauben teilen die Weltreligionen des Buddhismus, des Christentums, des Hinduismus, des Islams und des Judentums. Das Christentum, der Islam und das Judentum fassen den physischen Tod als dauerhaft auf und sehen die Möglichkeit des Weiterlebens der Seele in einem Paradies (Tod als Ende des menschlichen Körpers und als ewiges Weiterleben der Seele). Im Buddhismus und im Hinduismus geht man hingegen von einem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt (Samsara) aus (Tod als Ende des menschlichen Körpers und als Seelenwanderung). Die auf Karl Marx fußende dialektische und materialistische Weltanschauung ist hingegen wie andere materialistische Auffassungen monistisch. Die Materie gilt dabei als eine differenzierte Einheit und Totalität, in der die Momente ineinander übergreifen und zusammengehören. Daher werden Geist und Körper des Menschen als zusammengehörende Aspekte der menschlichen Materie aufgefasst. Der Tod gilt daher als vollständiges und dauerhaftes Ende des Menschen, also der Seele und des Körpers. Während der religiöse Mensch Trost durch den Glauben an die Erlösung des Menschen im Paradies oder im Nirwana finden kann, gilt bei den Marxisten ein derartiger Glaube als irrational und esoterisch. Sie konzentrieren sich meist auf den Kampf um die „Erlösung“ der Unterdrückten innerhalb der Gesellschaft. Unabhängig von ihrem Glauben und von Theismus und Atheismus sind die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens mit der Trauer um geliebte Verstorbene konfrontiert. Die Religion ist ein ideologischer Umgang damit, der realen Trost spenden kann und auch das Weiterleben ermöglicht. Marx betont ja, dass die Religion nicht nur „Opium des Volkes“ ist, sondern auch der „Seufzer der bedrängten Kreatur“, „Gemüt einer herzlosen Welt“, „Geist geistloser Zustände“ und „Ausdruck des wirklichen Elendes“ (Marx 1981 [1844]: 378). Religion hat in ihren Heilsversprechen der jenseitigen Erlösung laut Marx einen ideologischen Charakter. Der Grund, warum die Menschen aber Zuflucht in der Religion suchen, hat oft mit Leid, Schmerz, Trauer, Verlust, Tod und Unglück zu tun. Der Marxismus sollte metaphysische Fragen, die mit Tod und Trauer zu tun haben, nicht einfach ignorieren, sondern materialistische Antworten auf fundamentale Probleme der menschlichen Existenz bieten. Religion und Marxismus haben die Hoffnung auf ein gutes Leben für alle gemeinsam. Der Marxismus ist die Übersetzung dieser Hoffnung „in ein säkulares Projekt, das Gesellschaften, Äußerun-
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gen menschlicher Möglichkeit und Geschichte als ein Mittel versteht, um die Gegenwart von den Bürden der Vergangenheit zu befreien, wodurch die Zukunft konstruiert wird. Das marxistische Projekt bleibt das einzige, das wir haben, um die Hoffnung als gesellschaftliche Tugend wiederherzustellen“ 4 (MacIntyre 1984 [1968]: 115-116). Ein wichtiger Aspekt, der sich aus dem Marxismus ergibt, ist die Notwendigkeit der Solidarität der Menschen im Kampf um ein gutes Leben und eine gute Gesellschaft. Das Ideal der sozialistischen Gesellschaft betont Gemeinschaft, kollektive Kontrolle, Kooperation und Solidarität. Diese Prinzipien spielen auch in Bezug auf den Tod und die Trauer eine Rolle: Ist der Mensch in Not, Krankheit, beim Sterben und bei der Trauer alleine, so potenziert sich sein Leiden. Sind andere mit ihrer Solidarität, Liebe und Freundschaft da, so können das Leiden, das Sterben, der Tod und die Trauer nicht verschwinden, aber durch die gemeinsame Erfahrung gelindert und besser ertragen werden. Im Marxismus ist die Nächstenliebe aber nicht nur ein zwischenmenschliches Prinzip wie in vielen Religionen, sondern ein gesellschaftliches und klassenkämpferisches Prinzip. Der Sozialismus ist die Gesellschaft der Nächstenliebe, des Friedens und des Humanismus. Im demokratischen, humanistischen Sozialismus als Gesellschaftsformation verschwinden Tod und Trauer nicht, das einsame Sterben, die einsame Krankheit und die einsame Trauer werden aber unwahrscheinlicher. Im Sozialismus wird es möglich, „den Tod der menschlichen Autonomie zu unterwerfen, wenn schon nicht in Ansehung der Zeit, so jedenfalls in Ansehung seiner Qualität: durch den Ausschluss von Altersschwäche und Leiden“ (Marcuse 2002 [1958]: 112). Erich Fromm argumentiert, dass die Angst vor dem Sterben am besten durch die „Bekräftigung der Liebe zum Leben, durch Erwiderung der Liebe anderer, die unsere eigene Liebe entfachen kann“ (Fromm 1976: 156) gelindert werden kann. Liebe und Tod sind grundlegende Aspekte des menschlichen Seins. Die Liebe ist die moralisch und politisch positivste Aspekt des Seins, auf dem der Sozialismus als Gesellschaftsform gründet. Der Tod ist die negativste, dunkelste, absurdeste Seite des Seins. Wenn die Menschen durch Entfremdungszustände, Herrschaft und Ausbeutung gar nicht richtig leben können, dann ist der Schrecken vor dem Tod „wesentlich Schrecken darüber, wie sehr die Lebendigen ihm ähnlich sind. Und man
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Übersetzung aus dem Englischen [„the secular project of understanding societies and expressions of human possibility and history as a means of liberating the present from the burdens of the past, and so constructing the future. […] But the Marxist project remains the only one we have for reestablishing hope as a social virtue“] (MacIntyre 1984 [1968]: 115-116).
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könnte vielleicht sagen, dass deshalb, wenn das Leben richtig wäre, damit auch die Erfahrung des Todes sich radikal verändern würde“ (Adorno 1998: 212). Erst in einer Gesellschaft, in der die Menschen, „wirklich identisch wären mit dem, was wir nicht sind“, „bestünde vielleicht die Möglichkeit auch, versöhnt zu sterben“ (ebd.: 207). Es besteht wohl ein qualitativer Unterschied zwischen dem Tod eines Menschen in reifem Alter, der sein Leben in vollen Zügen gelebt hat und genießen hat können und „friedlich“ stirbt, und dem Tod eines Kindes oder jungen Menschen oder dem unerwarteten Tod durch ein Massaker, einen Genozid, Krieg oder andere Katastrophen. „Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: Seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod“ (Adorno 1966: 364). Seit Auschwitz gibt es einen neuen kategorischen Imperativ, nämlich die Wiederholung des industriellen Massenmordes zu verhindern: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (ebd.: 358). Der Tod eines Kindes oder Jugendlichen macht oft besonders betroffen, da in so einem Fall dem Menschen nicht nur das Leben geraubt wird, sondern auch die Möglichkeit, lange Jahre zu leben, eine eigene Familie zu gründen, eigene Kinder zu haben und Selbsterfüllung im Leben zu erfahren. Der Sinn des menschlichen Seins: Drei philosophische Positionen In Bezug auf die Fragen nach dem Sinn des menschlichen Seins gibt es im Wesentlichen drei Positionen. In der ersten Position gelten sowohl das Leben als auch der Tod als absurd und sinnlos. Die zweite Position sieht den Sinn des Lebens durch den Tod definiert. Der Tod gilt als sinnstiftend, die Todeserwartung als der Sinn des Lebens. In der dritten Position gilt das Leben als sinnvoll und der Tod als sinnlos. Jean-Paul Sartre Die Absurditätsthese des Lebens und des Todes wird von Jean-Paul Sartre vertreten: „Es ist absurd, dass wir geboren werden, es ist absurd, dass wir sterben“ (Sartre 1991 [1943]: 632). Sartre hat sicher recht, wenn er vom „absurde[n] Charakter des Todes“ (ebd.: 617) spricht. Daraus folgt aber nicht der Absurdheitscharakter des Lebens. Das menschliche und gesellschaftliche Leben hat die Möglichkeit zum individuellen, sozialen, kollektiven und gesellschaftlichen Glück. Die Möglichkeit des Glückes und das durch Solidarität sozial geschaffene
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und geteilte Glück macht das Leben lebenswert. Das Leben an sich ist daher nicht absurd. Absurd wird das Leben durch Herrschaft, Klassenverhältnisse und Ausbeutung, die Unglück im Leben und der Lebenden erzeugen. Martin Heidegger Martin Heidegger vertritt die zweite Position. Für ihn ist das Dasein des Menschen das Sein-zum-Tode. Das heißt, dass Heidegger den Tod ontologisiert. Er erachtet ihn als den entscheidenden Aspekt der menschlichen Existenz. Für Heidegger ist der Tod das „‚Ende‘ des Daseins, das heißt des In-der-Welt-seins“ (Heidegger 2006 [1926]: 247). Nur durch den Tod ist das Leben für Heidegger vollständig: Durch das „Sein zum Ende“ wird ein „konstituiertes Ganzsein“ (ebd.: 249) des Daseins möglich. Wird das Leben und die Existenz des Menschen über den Tod bestimmt, so wird das Nichts verabsolutiert und idealisiert. Der Tod ist nicht der Alltag des Menschen, sondern eine Tragik, Tragödie, Absurdität und Sinnlosigkeit, die ins Sein und den Alltag des Menschen hereinbricht und es auseinander- und zerbricht. Herbert Marcuse argumentiert, dass Heidegger eine „Ermunterung zum Tod“ (Marcuse 2002 [1958]: 107) betrieb. Theodor W. Adorno spricht von Heideggers „Propaganda für den Tod“ (Adorno 1998: 203). Und diese Propaganda fand laut Marcuse „genau zu der Zeit“ statt, „als für die entsprechende Wirklichkeit des Todes die politischen Grundlagen gelegt wurden, für die Gaskammern und Konzentrationslager von Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Bergen-Belsen“ (Marcuse 2002 [1958]: 107). Marcuse kritisiert den Todes-Nihilismus als „verzückte Hinnahme des Todes“ (ebd.: 113), der sich in der Opferbereitschaft von Soldaten oder der Akzeptanz der möglichen nuklearen Massenvernichtung der Menschheit äußert. Der Tod wird dabei von den Herrschenden instrumentalisiert. Er wird zur Ideologie des Todes. Diese Überlegungen sind in der heutigen Weltpolitik, in der durch politische Polarisierung die nukleare Vernichtung der Menschheit und Weltkrieg wieder wahrscheinlicher geworden sind, hochrelevant. Der Tod ist dann nicht ein natürliches Faktum, sondern ein gesellschaftlich gemachtes Faktum. Das „Einvernehmen mit dem Tod“ ist dann das „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod“ (ebd.: 114). Durch ein derartiges Einvernehmen gewinnt der Tod „die Macht einer Institution, die dank ihrer vitalen Nützlichkeit nicht verändert werden soll, auch dann nicht, wenn eine Veränderung vielleicht möglich wäre“ (ebd.: 112). Der Faschismus beruht auf einer sadomasochistischen Ideologie und Charakterstruktur, die auf dem Konzept der „Selbstaufopferung als höchste Tugend“ aufbaut (Fromm 2000 [1941]: 259). „Dieses masochistische Opfer sieht die Erfüllung des Lebens in dessen Negierung, in der Auslöschung des Selbst. Diese Art des Opfers ist nur höchster Ausdruck dessen,
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was der Faschismus in allen seinen Abarten erreichen möchte – die Vernichtung des individuellen Selbst und seine völlige Unterordnung unter eine höhere Macht.“ (ebd.: 259 f.). Das Leben ist nur dann eine Ganzheit, wenn der Mensch seine ganzen Möglichkeiten in der Gesellschaft verwirklichen kann. Die Ganzheit des Menschen ist also weltlich und gesellschaftlich bestimmt und nicht, wie Heidegger behauptet, durch den Tod. Die Ausbeutung in Klassenverhältnissen und die Herrschaft verstümmeln den Menschen, sodass er keine Ganzheit sein kann. Der Mensch kann dann nicht sein, was er sein könnte. Heidegger vernachlässigt die negativen und destruktiven Aspekte der Klassengesellschaft. Gerade „weil der Tod nicht, wie bei Heidegger, die Ganzheit des Daseins konstituiert, erfährt man, solange man nicht debil ist, den Tod und seine Boten, die Krankheiten, als heterogen, ichfremd“ (Adorno 1966: 362). Wenn Heidegger behauptet, dass „das Sein zum Tode ursprünglich und wesenhaft dem Sein des Daseins zugehört“ (Heidegger 2006 [1926]: 252), so trifft dies zwar auf das Dasein der Familie, Freunde und Bekannten eines Verstorbenen zu. Basierend darauf, wie die Beziehung eines Menschen zu einem Verstorbenen während dessen Lebenszeit aussah, ergeben sich unterschiedliche Reaktionen wie Trauer, Trauerarbeit, Gleichgültigkeit etc. Durch die Reaktion auf den Tod eines Bekannten, Freundes oder Familienmitgliedes ist der Tod Teil des Lebens. Heidegger irrt aber in Bezug auf den Tod einer konkreten Person: Der Tod ist nicht Teil des Lebens einer bestimmten Person, sondern konstituiert das Ende der Lebenszeit, ein unendliches Nichts. Der Tod steht nicht innerhalb, sondern außerhalb und nach der Lebenszeit. Heidegger erachtet die Verdrängung des Todes und falsche Überlebenshoffnungen als „ein uneigentliches Sein zum Tode“ (ebd.: 259). Als eigentliches Sein zum Tode versteht er das „Vorlaufen in die Möglichkeit“ (ebd.: 262) des Todes. Mit diesem Begriff bezeichnet er die gedankliche Vorwegnahme des Todes, inklusive des eigenen Todes. Dadurch sei es möglich, die Angst vor dem Tod zu überwinden und dem Tod freiheitlich zu begegnen (ebd.: 266). Heidegger ontologisiert und entskandalisiert nicht nur den Tod, sondern hat auch eine philosophisch idealistische Auffassung des Todes: Er unterscheidet richtige („eigentliche“) und falsche („uneigentliche“) gedankliche Formen des Umganges mit dem Tod. Sich dem Tode gedanklich stellen, gilt ihm als mutig, ihn zu verdrängen oder nicht wahrhaben wollen, hingegen als feig und falsch. Der Tod aber ist eine materielle Gewissheit unabhängig davon, wie der Mensch sich ihm geistig stellt oder nicht stellt. Der Tod wird nicht mehr oder weniger absurd, sinnlos und skandalös, indem man mehr oder weniger darüber nachdenkt. Ein Mensch kann den Tod nicht stoppen, indem er/sie an ihn denkt oder nicht an ihn denkt. Nach
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dem Tod einer für einen Menschen wichtigen Person gibt es unterschiedliche Umgangsformen, die auf das eigene Weiterleben abzielen. Thomas Nagel Thomas Nagel ist ein Repräsentant der dritten Position, die auch in diesem Kapitel vertreten wird. Er argumentiert, dass „der Tod deswegen ein Übel ist, weil mit seinem Eintreten all das Gute ein Ende hat, das uns das Leben bietet“ (Nagel 2014 [1979]: 243). Ein Gegenargument dazu lautet nun aber, dass viele Menschen ein schlechtes Leben haben und der Tod für sie daher oft eine Erlösung ist. Dieses Argument übersieht aber, dass die Gesellschaft die Möglichkeit hat, ein gutes Leben für alle zu organisieren. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte haben etwa die realen Möglichkeiten zur Schaffung eines Lebens ohne Mühsal stark zugenommen. Durch die Möglichkeit des guten Lebens und des Glücks für alle ist das Leben auch lebenswert, auch wenn das Glück in Klassengesellschaften die politische Erkämpfung des Glücks für alle impliziert. Das schlechte Leben ist gesellschaftlich gemacht und zu einem guten Teil von Herrschaft und Klassenverhältnissen bedingt. Nagel geht nicht auf Aspekte des Kapitalismus und der Herrschaft ein. Er meint, dass „Wahrnehmen, Wünschen, Handeln und Denken“ (ebd.: 243) für das gute Leben konstitutiv sind. Diese Bestimmung ist aber zu allgemein und zu individualistisch. Es handelt sich um rein individuelle Aspekte des Lebens. Zum Leben gehören aber auch soziale Phänomene wie die Werktätigkeit und die Kommunikation, wodurch soziale Beziehungen und gesellschaftliche Verhältnisse organisiert werden. Das gute Leben setzt herrschafts- und klassenfreie Räume voraus. Der Kapitalismus hat die Gesellschaft nicht vollständig kolonialisiert, sodass immer Räume bleiben, in denen wir Liebe und Glück erfahren. Es sind also bestimmte Formen des Wahrnehmens, Wünschens, Handelns, Denkens, Kommunizierens, Werkens und der sozialen Beziehungen, die das gute und glückliche Leben ausmachen. Auch in herrschaftsfreien Räumen ist der Mensch mit Krankheit, Leiden, Schmerz, Verlust, Trauer und Tod konfrontiert. Es ist aber in herrschaftsfreien Räumen und in einer herrschaftsfreien Gesellschaft wahrscheinlicher, dass er mehr Kraft hat, damit umzugehen, und Solidarität durch Mitmenschen erfährt. Nagel macht ein wichtiges Argument über den Tod: Der Tod zerstört Lebensmöglichkeiten des Menschen. „Doch die Zeit nach unserem Tod ist die Zeit, die uns der Tod raubt.“ (ebd.: 253) „Deshalb führt der Tod stets zum Verlust irgendeiner Lebensspanne, die sein Opfer noch erlebt hätte, wäre es nicht zu dieser oder einer früheren Zeit gestorben“ (ebd.: 253 f.). Der Tod ist also der Verlust der möglichen guten Lebenszeit. Er bedeutet das Ende der Möglichkeit, ein
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gutes Leben zu führen, für ein gutes Leben zu kämpfen und durch Solidarität das gute Leben in der guten Gesellschaft zu fördern, wodurch auch Sinn entsteht. Der nächste Abschnitt fragt: Was hat der Tod mit der Entfremdung zu tun?
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TOD UND ENTFREMDUNG: DER TOD ALS ENDFREMDUNG
Thomas Nagel legt nahe, dass es sich beim Tod um eine Entfremdung handelt. Man entfremdet sich durch den Tod absolut vom eigenen Körper und Geist. Marx versteht unter Entfremdung den Verlust der Kontrolle und der Bestimmung über Zusammenhänge, die einen betreffen. Das eigene Leben betrifft den Menschen am unmittelbarsten, was nahelegt, dass es sich beim Tod um eine besondere Form der Entfremdung handelt. Entfremdung ist aber ein gesellschaftliches Phänomen, das impliziert, dass die verlorene Kontrolle zurückgewonnen werden kann, dass man sich also die entfremdeten Strukturen, Beziehungen und Zusammenhänge aneignen kann. Die Entfremdung setzt also die Möglichkeit der Aneignung und der Erlangung der Kontrolle über das eigene Leben durch gesellschaftliche Kämpfe als Gegenpol und Gegenmacht zur Entfremdung voraus. Ist man aber tot, so erlöschen alle Handlungsmöglichkeiten, also auch die Möglichkeiten der Aneignung und des Kampfes gegen Entfremdung. Der Tod löscht die Möglichkeit der Aneignung aus. Dieser Umstand spricht dagegen, den Tod als Form der Entfremdung aufzufassen. Die Nichtkontrolle und der Verlust der Kontrolle über Körper und Geist beim Tod ist ein Aspekt der Entfremdung. Der Tod bedeutet im Gegensatz zur Entfremdung den Verlust der Möglichkeit zur Aneignung und zur Teilnahme an Klassenkämpfen. Tod als Endfremdung Der Tod ist die Endfremdung, die Fremdheit ohne Ende. Der Tod ist die ultimative Entfremdung vom Selbst und der Gesellschaft. Er bedeutet die Vernichtung des Wesens eines Menschen und all seiner Möglichkeiten als menschlichem Wesen. Der Tod ist „eine jederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten, die außerhalb meiner Möglichkeiten liegt“ (Sartre 1991 [1943]: 621). Während die durch die Herrschaft verursachte Entfremdung zu einem möglichen Ende kommen kann, ist die durch den Tod verursachte Entfremdung von Körper, Geist, sozialen Beziehungen, Gesellschaft, Erfahrung, Bewusstsein, Handeln und Kommunikation endlos. Zwar führt die Endfremdung auch zu einem Ende der Erfahrung gesellschaftlicher Entfremdung, aber nicht zum Ende der Entfrem-
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dung als gesellschaftlichem Phänomen. Hat ein Mensch unter entfremdeten Bedingungen gelebt, also im Unglück, und stirbt unter diesen Bedingungen, so hat er nicht mehr die Möglichkeit, ein besseres Leben in Glück zu erleben und für dieses gemeinsam mit anderen zu kämpfen. Die Endfremdung ist also ein Unglück und keine Erlösung von der Entfremdung. Was den Hinterbliebenen bleibt, ist die Fortsetzung des Kampfes gegen die Entfremdung im Andenken an den geliebten Verstorbenen. Sartre argumentiert, dass der Tod eine Entfremdung ist, da man dadurch zur „Beute der Anderen“ (ebd.: 934) wird. „Tot sein heißt, den Lebenden ausgeliefert sein“ (ebd.: 934). Sartre meint damit, dass die Überlebenden über den Toten sagen und behaupten können, was sie wollen, ohne dass dieser sich dagegen zur Wehr setzen kann. Sartre bezieht sich hier auf einen kommunikativen Aspekt der Endfremdung: Da dem Toten alle Möglichkeiten des Menschseins geraubt werden, kann er nicht mehr kommunizieren. Er kann daher den Mitmenschen nicht sagen, wie er über bestimmte Aussagen, die jemand über ihn, über andere und über die Gesellschaft macht, denkt. Entfremdung als Tod Die Entfremdung nimmt wirtschaftliche, politische und kulturelle Formen an: Ausbeutung, politische Unterdrückung und Ideologie sind drei Formen der Herrschaft, die zur Entfremdung des Menschen von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen führen. Das Resultat der Entfremdung ist, dass den Menschen die Kontrolle über die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Systeme, in denen sie leben, weggenommen wird. Kapitalismus, Klassengesellschaften und Herrschaft bedeuten immer ein Stück weltlichen Todes des Menschen und der Gesellschaft: Sie töten die Realisierung von Möglichkeiten, die das Glück aller Menschen fördern können. Die Entfremdung als Entsagung vom guten Leben für alle und der Realisierung positiver Möglichkeiten ist ein Stück Tod im Leben. Entfremdung impliziert auch Formen der direkten, strukturellen und ideologischen Gewalt. Entfremdete Strukturen inkludieren daher immer die Gefahr der direkten und indirekten Tötung von Menschen durch Wirtschaft, Politik und Ideologie. Beispiele dafür sind Überarbeitung, Arbeitsunfälle und negative Gesundheitsfolgen der Arbeit in der Wirtschaft; Krieg, Terror, Imperialismus, Faschismus und Genozide in der Politik; sowie durch Rassismus, Nationalismus und andere Ideologien angeheizte individuelle Morde und Massenmorde an Menschen, die zu Feindbildgruppen gehören, in der Kultur. Als „doppelt freie“ Arbeit bedeutet die Werktätigkeit im Kapitalismus, dass die Masse der Menschen gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um Geld
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zum Überleben zu verdienen. Die strukturelle Gewalt des Kapitalismus besteht u.a. in der Drohung des Todes durch Verhungern, wenn man die Lohnarbeit verweigert. Für Marx ist die Werktätigkeit des Menschen „das lebendige, gestaltende Feuer“ (Marx 1983 [1857/1858]: 278). Die von der Arbeit im Klassenverhältnis produzierten Waren und das konstante Kapital sind tote Arbeit, also Vergegenständlichungen der lebendigen Arbeit des Menschen und des dadurch erzeugten Mehrwerts. Die vom Kapital angeeignete Arbeit wirkt „als befruchtende Lebendigkeit auf“ die „tote Gegenständlichkeit“ des Kapitals (ebd.: 219). Die Verwandlung der lebendigen Arbeit in tote Gegenstände, die als Waren, die nicht den Arbeitern, sondern den Kapitalisten gehören, verkauft werden, um Kapital zu akkumulieren, ist eine der Grundlagen des Kapitalismus. Kapitalismus bedeutet Herrschaft des Kapitals als toter Arbeit über die lebendige Arbeit des Menschen. Die lebendige Arbeit ist im Kapitalismus das Mittel, „um die vergegenständlichte, tote Arbeit zu verwerten, mit belebender Seele zu durchdringen und ihre eigne Seele an sie zu verlieren“, was als Resultat Werte erzeugt, die einen dem Arbeitsvermögen fremden Reichtum, den „Reichtum des Kapitalisten bilden“ (ebd.: 374). Das Resultat der Verwandlung von lebendiger in tote Arbeit ist im Kapitalismus also die wirtschaftliche Entfremdung. Was Karl Marx über den Tod sagt Marx beschreibt Arbeitszustände im 19. Jahrhundert, bei denen die Bedingungen so schlecht waren, dass die Arbeiter durch Überarbeitung, Hungertod, gefährliche Arbeiten etc. starben. „Also selbst in dem Zustand der Gesellschaft, welcher dem Arbeiter am günstigsten ist, ist die notwendige Folge für den Arbeiter Überarbeitung und früher Tod, Herabsinken zur Maschine, Knecht des Kapitals, das sich ihm gefährlich gegenüber aufhäuft, neue Konkurrenz, Hungertod oder Bettelei eines Teils der Arbeiter“ (Marx 1968 [1844]: 474). „Die Verwirklichung der Arbeit erscheint so sehr als Entwirklichung, daß der Arbeiter bis zum Hungertod entwirklicht wird“ (ebd.: 512). Bei der Methode der absoluten Mehrwertproduktion ist „[g]ewaltsames zu Tod arbeiten […] die offizielle Form der Überarbeit“ (Marx 1962 [1867/1890]: 250). Die allgemeine Lebenssituation der Arbeiter hat sich im 20. und 21. Jahrhundert im Vergleich zum 19. Jahrhundert als Ergebnisse von Klassenkämpfen verbessert. Tod in der und als Folge der Arbeit wird aber so lange existieren, wie der Kapitalismus selbst, da die Menschen dem Kapitalisten als reine Ressource und als Instrument gelten, wodurch sie entmenschlicht werden. Im 21. Jahrhundert sind prekäre Arbeitsbedingungen, wozu Teilzeitbeschäftigung, Scheinselbstständigkeit, Zeitarbeit, Arbeitslosigkeit, ungleiche Verteilung der Arbeits-
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zeit, Leiharbeit, prekäres Freiberuflertum etc. gehören. Menschen, die mit unsicheren Arbeitsbedingungen (prekäre Arbeit, Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit) zu tun haben, sind insgesamt körperlich und psychisch stärker beeinträchtigt als sicher Beschäftigte (vgl. Kroll/Lampert 2012). Auch Krisen des Kapitalismus sind eine „Frage von Leben und Tod“ (Marx 1962 [1867/1890]: 512). In ihnen wird Kapital vernichtet, wodurch Unternehmen bankrottgehen und die Arbeitsplätze verschwinden. Das durch den Kapitalismus verursachte Leid bleibt oft unsichtbar, da sich die unter diesem System Leidenden schämen und verstecken. Die unsichtbaren Leidenden des Kapitalismus, wie etwa arme Arbeitslose, Obdachlose, Hungernde in Entwicklungsländern etc., sind „Gespenster außerhalb ihres Reiches“ (Marx 1968 [1844]: 524). Der Kapitalismus und die Klassengesellschaft führen zu Ungleichheit, instrumentellem Denken, Unglück und Einsamkeit. Der Kapitalismus macht die Menschen unglücklich und zu einem bestimmten Grad verrückt. Gewalt in der Form von Kriminalität, inklusive Mord, sind im Kapitalismus unvermeidbar. Fälle von brutalen Morden (zum Beispiel an Kindern) werden oft instrumentalisiert, um für die Todesstrafe zu argumentieren. Die Todesstrafe für einen Mörder bringt den Toten aber nicht zurück und beseitigt nicht die gesellschaftlichen Ursachen hoher Raten des Mordes und der Gewaltverbrechen. Marx argumentierte im Jahr 1853 gegen die Todesstrafe: „Es ist eben schwer, wenn nicht gar unmöglich, ein Prinzip aufzustellen, womit man die Berechtigung und Zweckmäßigkeit der Todesstrafe in einer auf ihre Zivilisation stolzen Gesellschaft zu begründen vermöchte. Man hat die Strafe gemeinhin verteidigt als ein Mittel zur Besserung oder zur Einschüchterung. Aber welches Recht hat man, mich zu strafen, um andere zu bessern oder einzuschüchtern? Außerdem gibt es so etwas wie die Statistik, und es gibt die Geschichte, und beide beweisen voll und ganz, dass die Welt seit Kain durch Strafen weder gebessert noch eingeschüchtert worden ist. Ganz im Gegenteil. […] Was für eine Gesellschaft ist das aber, die kein besseres Instrument ihrer Verteidigung kennt als den Scharfrichter und die durch das ‚leitende Blatt der Welt‘ ihre Brutalität als ewiges Gesetz verkünden lässt? […] besteht da nicht die Notwendigkeit – statt den Scharfrichter zu verherrlichen, der eine Partie Verbrecher beseitigt, nur um wieder Platz für neue zu schaffen –, ernstlich über die Änderung des Systems nachzudenken, das solche Verbrechen züchtet?“ (Marx 1853: 507 ff.) Marx und Engels weisen darauf hin, dass durch Ausbeutung und Herrschaft im Kapitalismus oft Tod hervorgebracht wird. Engels hat dabei den Begriff des sozialen Mordes geprägt (vgl. Fuchs 2021). Engels bezeichnet mit sozialem Mord Umstände, in denen „die Gesellschaft“ viele Menschen „in eine solche
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Lage versetzt, dass sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen“, da sie die Menschen „in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können“ (Engels 1962 [1845]: 324 f.). Engels analysiert mit diesem Begriff gesellschaftliche Umstände, unter denen „diese nicht gesund bleiben und nicht lange leben können“, sodass das Leben der Menschen untergraben wird und die sie „so vor der Zeit ins Grab bringt“ (ebd.: 325). Trauer hat Aspekte der Arbeit und der Kommunikation, die im nächsten Abschnitt diskutiert werden.
4.
TRAUERARBEIT UND DIE KOMMUNIKATION DER TRAUER UND DES TODES
Die Toten hören auf zu leben und daher zu kommunizieren. Der Tod bedeutet ewige Stille und ewige Nichtkommunikation. Wir können zu den Toten in Gedanken, an ihren Gräbern, an Gedenkstätten, bei ihren Beerdigungen, an Gedenktagen usw. sprechen, aber sie hören uns nicht und können nicht antworten. Die Unmöglichkeit, mit geliebten Verstorbenen weiterhin sprechen zu können, sie weiterhin zu erfahren, zu sehen, zu fühlen und die Welt mit ihnen über kommunikativ vermittelte soziale Beziehungen zu teilen, ist die Quelle der Trauer. Die COVID-19 Pandemie hat den Unterschied zwischen dem einsamen Sterben, wie zum Beispiel von schwerkranken COVID-Patienten in der Intensivstation von Krankenhäusern, die von ihren Geliebten abgeschnitten sind, und dem Sterben in direkten sozialen Kontakt mit Familie und Freunden, verdeutlicht (vgl. Fuchs 2022: über den Zusammenhang von Nekromacht, Tod und digitaler Kommunikation in der COVID-19 Pandemie). Trauerarbeit Trauerarbeit ist Arbeit zum Gedenken der Verstorbenen. Da der Tod die Endfremdung, also die ultimative Entfremdung ist, ist die Gedenk- und Trauerarbeit immer eine Arbeit und kein Werk. Sie setzt sich notwendigerweise mit der ultimativen Entfremdung des Menschen von sich selbst, der Endfremdung, auseinander. Die Gedenk- und Trauerarbeit ist Produktion angesichts der vom Tod verursachten Destruktion. Sie produziert Gedenken an die Verstorbenen und den Versuch, die Trauer zu verarbeiten, den Schmerz über den Verlust geliebter Menschen zu lindern und weiterzuleben. Jacques Derrida versteht die Trauerarbeit als den „Versuch, Überreste zu ontologisieren, sie gegenwärtig zu machen, vor allem darin, die sterbliche Hülle zu
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identifizieren und die Toten zu lokalisieren“ (Derrida 2004: 23 f.). „Die Trauer folgt immer einem Trauma“ (ebd.: 137). Derrida bezeichnet den Begriff der Trauerarbeit jedoch als „konfusen und schrecklichen Ausdruck“ (Derrida 2001: 26)5. Warum dieser Ausdruck schrecklich sein soll, ist nicht klar. Nach dem Tod eines Verstorbenen beschäftigen sich Angehörige häufig mit dem Vermächtnis, dem Andenken an den Toten, dem Kontakt mit gemeinsamen Verwandten und Freunden, der Organisation einer oder mehrerer Trauer- und Gedenkfeiern usw. Sie sind dabei mit der Endfremdung konfrontiert und arbeiten sich durch diese durch, indem Gedenken produziert wird. Die Trauer ist eine Tragik, daher wäre ein Leben ohne Trauer ein besseres Leben. Derrida sagt daher: „Es soll keine Trauer geben“ (ebd.: 218).6 Er meint damit nicht, dass man nicht trauern soll, sondern dass es ein Unglück ist, dass die Menschen sterben und es daher Traurigkeit und Trauer gibt. Trauerarbeit und Kommunikation Totenfeiern, Beerdigungen und Gedenkveranstaltungen für Verstorbene sind Rituale der Gedenk- und Trauerarbeit, bei denen der Toten gedacht wird. Dabei spielt die Frage eine Rolle, wie der Toten am besten gedacht werden kann, durch Stille oder Sprache, rein individuell oder sozial. Die Gedenk- und Trauerarbeit steht in einem Spannungsfeld von Kommunikation und Stille (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Formen der Gedenk- und Trauerarbeit
Ich Wir
Kommunikation Individuelles Sprechen zu dem Toten Gemeinsame Gespräche von Verbliebenen über den Toten
Stille Individuelles Gedenken an den Toten Kollektive Versammlung still Trauernder (z.B. an einem Gedenkort)
Das Problem der Trauerarbeit, wie sie sich bei einer Totenfeier unmittelbar nach dem Ableben einer geschätzten oder geliebten Person stellt, ist, dass „Sprechen unmöglich ist, aber genauso unmöglich ist die Stille oder die Abwesenheit oder
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Übersetzung aus dem Englischen [„confused and terrible expression“] (Derrida 2001: 26).
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Übersetzung aus dem Englischen [„There shall be no mourning“] (ebd.: 218).
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die Weigerung, seine Traurigkeit zu teilen“ (ebd.: 72).7 Es ist „fast unanständig, jetzt zu sprechen – und weiterhin unsere Worte an euch zu richten. Die Stille ist aber auch unerträglich“ (ebd.: 114).8 Tote sind still. In vielen modernen Kulturen ist eine individualisierte Trauer vorherrschend, bei der die Trauernden auf sich alleine gestellt sind. Die Solidarität, Dialektik von Kollektivität und Individualität sowie die Gemeinschaftlichkeit, die vom Marxismus nahelegt werden, implizieren, dass das Gedenken an einen geschätzten Verstorbenen nicht individuell und still, sondern sozial und kommunikativ organisiert werden sollte. Indem man gemeinsam über den Verstorbenen spricht und versucht, seine Ideen und sein Wesen kollektiv weiterzuleben, wird die Trauerarbeit soziale Arbeit, wodurch die Menschen leichter ins Alltagsleben zurückfinden. „Wenn man jemanden überlebt und so für immer der Möglichkeit beraubt ist, mit dem Freund zu sprechen oder ihn anzusprechen, so ist man dazu verdammt, lediglich über ihn zu sprechen, darüber, was er war, dachte und schrieb. Man sollte gleichwohl über ihn sprechen. Von ihm wollen wir reden, von ihm allein, allein von oder auf seiner Seite. Wie kann aber der Überlebende in Freundschaft über den Freund sprechen, ohne dass sich ein ‚Wir‘ unanständigerweise einstellt und ohne dass sich ein ‚Uns‘ unaufhörlich einschleicht? […] Verschweigt oder verbietet man das ‚Wir‘, so übt man eine andere, nicht weniger ernsthafte Gewalt aus“ (ebd.: 216).9 Dass man im Sprechen über einen geliebten Freund oder Verwandten, der gestorben ist, von der Gemeinsamkeit mit dem Toten spricht und von der Trauergemeinschaft und dadurch Solidarität in der Trauerarbeit erzeugt, ist alles andere als „unanständig“. Derrida betont die Wichtigkeit der kollektiven Kommunikation über den Toten, ist zugleich aber zu sehr in der postmodernen Ablehnung der kollektiven Identität befangen. Gerade bei der Trauer und in Bezug
7
Übersetzung aus dem Englischen [„Speaking is impossible, but so too would be si-
8
Übersetzung aus dem Englischen [„[…] it is almost indecent to speak right now – and
lence or absence or a refusal to share one’s sadness“] (ebd.: 72). to continue to address our words to you. But silence too is unbearable“] (ebd.: 114). 9
Übersetzung aus dem Englischen [„When, surviving, and so forevermore bereft of the possibility of speaking or addressing oneself to the friend, to the friend himself, one is condemned merely to speak of him, of what he was, thought, and wrote, it is nonetheless of him that one should speak. It is of him we mean to speak, of him alone, of or on his side alone. But how can the survivor speak in friendship of the friend without a ‘we‘ indecently setting in, without an ‘us‘ incessantly slipping in? […] For to silence or forbid the ‘we‘ would be to enact another, no less serious, violence“] (ebd.: 216).
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auf den Tod ist das „Wir“ eine Waffe, die nicht den Tod besiegen kann, durch die sich die Menschen aber wechselseitig Kraft geben können. Reden und Schweigen stehen in einem dialektischen Verhältnis. Wer ständig redet und niemals anderen zuhört, zerstört diese Dialektik. Wer im falschen Moment schweigt und sich nicht gegen Unterdrückung ausspricht und auflehnt, zerstört ebenfalls die Dialektik, indem er der Herrschaft bei ihrem Treiben zusieht. Ohne die Stille der Reflexion und des Zuhörens gibt es kein wahres Sprechen. Und die Reflexion, das Zuhören und die Stille drängen zum Sprechen. Das Sprechen über den Tod geliebter Menschen erfordert eine besondere Dialektik von Sprechen und Schweigen. Wir können über den Tod weder einfach schweigen noch in der Form und mit dem Inhalt über ihn sprechen, wie wir im Alltag sprechen. Kommunikation über den Tod erfordert ein Sprechen, das eher leise als laut ist, stark zur Reflexion und zum Gedenken anregt, das Leben des Toten reflektiert und weiterdenkt, den Toten ins Leben zurückholt und ihn in unserem Leben weiterleben lässt. Im Tanach und dem Alten Testament heißt es im Buch Kohelet, dass es eine „Zeit zum Schweigen und Zeit zum Reden“ (Pernak 2013: Kap. 3, § 7) gibt. Diese Zeiten schließen einander jedoch nicht aus, sondern integrieren sich dialektisch. Gerade die Kommunikation der Trauer erfordert gleichzeitig die Dialektik der Zeit zum Schweigen und der Zeit zum Reden. Es gehört zur Eigentümlichkeit vieler moderner Kulturen, dass der Tod tabuisiert wird. Nicht nur sehen wir die Sterbenden und Toten oft nicht, sondern es wird auch nicht über den Tod kommuniziert. „Das Sterben wird weggeschoben. […] Man lebt derart in den Tag wie in die Nacht hinein, des dicken Endes soll nirgends gedacht werden“ (Bloch 1985 [1959]: 1299). „Unsere Zeit leugnet den Tod ganz einfach, und damit verleugnet sie einen grundlegenden Aspekt unseres Lebens. Anstatt das Bewusstsein, dass wir leiden und sterben müssen, zu einem der stärksten Antriebe für das Leben, zur Grundlage für die menschliche Solidarität und zu einer Erfahrung werden zu lassen, ohne die der Freude und Begeisterung Intensität und Tiefe fehlt, sieht sich der Mensch gezwungen, diese Erfahrung zu verdrängen. […] So führt die Angst vor dem Tode unter uns ein illegitimes Dasein. Sie bleibt lebendig, auch wenn wir sie zu leugnen versuchen, aber weil sie verdrängt wurde, bleibt sie steril. Dies ist eine Quelle für die mangelnde Tiefe anderer Erfahrungen, für die Ruhelosigkeit unseres Lebens, und ich möchte meinen, dass sich aus ihr auch die Riesenbeiträge erklären, die man in Amerika für Bestattungen aufwendet“ (Fromm 2000 [1941]: 237 f.). Zur Enttabuisierung des Todes gehört, dass über den Tod und das Sterben gesprochen wird, um ihnen durch die Kraft der Zwischenmenschlichkeit und der Solidarität den Schrecken nehmen zu können.
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Die Kommodifizierung des Todes und der Kommunikation des Todes Der Kapitalismus hat einen imperialistischen Charakter. Dies bedeutet, dass er versucht, möglichst viele gesellschaftliche Phänomene unter die Logik der Kapitalakkumulation zu subsummieren. Auch der Tod ist vor der Subsummierung unter das Kapital nicht gefeit. Die Schönheitschirurgie ist eine riesige Profitmaschine, die auf dem Streben nach ewiger Jugend und Schönheit, also einer impliziten Negation des Todes, basiert. Auch die Anti-Aging-Industrie kommodifiziert die Angst vor dem und das Verdrängen des Todes. Sie verkauft Cremes, Medikamente, Hormone, Behandlungen, Literatur, Beratungen, Anti-AgingRetreats usw., die das Altern verlangsamen und das Leben verlängern sollen. So bietet zum Beispiel das britische Unternehmen Healing Holidays verschiedene Anti-Aging-Retreats an, die bis zu £9,000 pro Person kosten und darauf abzielen, „die Uhr in Bezug auf das Altern zu verlangsamen“.10 Der Tod und das Trauern werden auch direkt kommodifiziert. RipCemetery ist eine App für das iPhone und Android-Telefone, die sich selbst als den „ersten virtuellen Friedhof der Welt“ und als „interaktiven Friedhof“11 beschreibt. Die Nutzer können eine virtuelle Gedenkstätte für Verstorbene eröffnen, auf der sie Nachrichten, Fotos, Videos, virtuelle Blumen und virtuelle Geschenke hinterlassen. Nutzer können auch gemeinsam der Verstorbenen gedenken und über diese kommunizieren. Die Betreiber der App machen Profit, indem virtuelle Güter wie Nachrichten, Blumen, Grabsteinverzierungen und andere virtuelle Objekte verkauft werden. Die Nutzung von sozialen Online-Netzwerken, Apps und der Internetkommunikation, um den Andenken Verstorbener kollektiv zu gedenken, diese gegenwärtig zu halten und nicht zu vergessen sowie die Trauerarbeit und Trauerkommunikation vernetzt, über Distanzen hinweg und sozial zu organisieren, ist an sich eine gute Idee. Die Kommodifizierung des Todes, der Trauer und der Trauerkommunikation durch die Vermittlung derartiger Formen der Kommunikation und der Gemeinschaft über die Logik des Geldes, des Kapitals, des Profits und des Tauschwertes ist aber pietätlos. Die Logik des Kapitals macht nicht einmal vor den Toten, der Trauer und dem Andenken an Verstorbene halt, was zeigt, dass der Kapitalismus ein zutiefst unmoralisches System ist. Dienste wie RipCemete-
10 Übersetzung aus dem Englischen: „slow down the clock when it comes to ageing“ (Healing Holidays 2022). 11 Übersetzung aus dem Englischen: „world’s first Virtual Cemetery“, „interactive cemetery“. Online: http://www.ripcemetery.com/ (Abruf: 23.10.2018).
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ry sollten immer nichtprofitorientiert und nichtkapitalistisch agieren, um das Andenken an Verstorbene zu respektieren und nicht zu verunglimpfen. Ewiges Leben verspricht die Linderung des Leides und der Trauer, die durch den Verlust geliebter Menschen verursacht werden. Der Materialismus zeigt, dass die Vorstellung vom ewigen Leben in einem jenseitigen Paradies ideologisch ist. Kann es aber ewiges oder zumindest sehr langes Leben in der irdischen Welt geben? Der nächste Abschnitt setzt sich mit dieser Frage auseinander.
5.
STERBLICHKEIT UND UNSTERBLICHKEIT
Die menschliche Lebenserwartung Die weltweite Lebenserwartung des Menschen hat von 47 im Jahr 1950 auf 73 im Jahr 2020 zugenommen. Im Jahr 2100 wird die Lebenserwartung laut Vorausberechnungen 82,6 Jahre betragen. Der medizinische Fortschritt erlaubt es den Menschen also, älter zu werden. Dabei gibt es jedoch eine entscheidende Spaltung: Während in den am wenigsten entwickelten Ländern die Lebenserwartung im Jahr 1950 36 Jahre war, war sie in den entwickelten Ländern 65 Jahre. Im Jahr 2020 war die Lebenserwartung in den am wenigsten entwickelten Ländern 66 Jahre und in den entwickelten Ländern 80 Jahre. Für das Jahr 2100 lautet die Vorhersage, dass die Lebenserwartung in den am wenigsten entwickelten Ländern 79,1 Jahre betragen wird und in den entwickelten Ländern 90 Jahre (UN 2017). Die kapitalistische Weltgesellschaft ist also auch von Ungleichheiten in Bezug auf das Sterben durchzogen. Wer reich ist, lebt tendenziell länger, und wer arm ist, stirbt tendenziell früher. Alle Menschen sterben. Das Sterben und der Tod sind im Kapitalismus durch die Klassengesellschaft geprägt. Eine sozialistische Politik des Lebens muss darauf abzielen, dass der medizinische und soziale Fortschritt allen Menschen zugänglich ist, sodass ein langes, erfülltes, glückliches Leben in Gesundheit für alle möglich ist. Die Unsterblichkeit ist ein alter Menschheitstraum. Dieser Traum existiert, da die Menschen gerne die Angst vor dem Tod, das Leiden und die Trauer überwinden möchten. Der Mensch hat aber physische Lebensgrenzen. Jeanne Calment war der Mensch, der das bisher höchste Lebensalter erreichte. Sie wurde 1875 geboren und verstarb 1997. Sie wurde insgesamt 122 Jahre und 164 Tage alt (Wikipedia 2022). Rein physisch betrachtet ist die Unsterblichkeit des Menschen eine Illusion. Würde der Mensch unsterblich werden, sein Geist und sein Körper aber altern, so wäre das Altern von ständigem Leiden und Schmerzen begleitet, da der alternde Mensch anfälliger für körperliche Krankheiten und
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Demenz ist als der jüngere Mensch. Eine Voraussetzung dafür, dass die Unsterblichkeit ein gutes und kein schlechtes Leben bedeutet, ist also, dass körperliche und geistige Krankheiten besiegt werden können. Man müsste dazu die körperliche Alterung stoppen oder körperliche Schädigungen rückgängig machen können. Die geistige Alterung wird hingegen, sofern sie nicht von Demenz begleitet wird, von vielen Menschen als Wachstum ihrer Weisheit, ihres Wissens und der Gelassenheit erfahren. Während es also durchwegs wünschenswert ist, dass der geistige Verfall gestoppt werden kann, kann die geistige Alterung durchwegs eine Bereicherung des Menschen sein. Der Post- und Transhumanismus Beim Post- und Transhumanismus handelt es sich um einen philosophischen Ansatz, der davon ausgeht, dass es durch technischen und medizinischen Fortschritt möglich werden wird, dass der Mensch unsterblich wird. Eine erste Annahme des Posthumanismus ist, dass medizinische Nanoroboter entwickelt werden können, die in den menschlichen Körper eingesetzt werden, um Krankheiten aufzuspüren und den menschlichen Organismus zu reparieren. Eine zweite Annahme ist, dass es der technische Fortschritt zu einem bestimmten Zeitpunkt erlauben wird, den Gehirninhalt eines Menschen auf einen Computer herunterzuladen, sodass der Körper stirbt, der Geist aber in der Maschine weiterlebt und unsterblich wird. Der Post-/Transhumanismus geht also davon aus, dass die menschliche Spezies aufhören wird zu existieren und die Individuen in der neuen Spezies der Cyborgs, die Mensch/Maschinen-Hybride sind, weiterleben und unsterblich werden können. Diese Vision gibt es nicht nur in der Cyberpunk-Literatur,12 sondern auch in der Philosophie.13 Im postmodernen Feminismus wurde außerdem die Idee entwickelt, dass Cyborgs die Individuen nicht nur unsterblich machen, sondern die Geschlechteridentitäten und das Patriarchat aufheben (Cyborgs als androgyne, nichtmännliche und nichtweibliche Wesen) (vgl. Haraway 1995, 1997). Der Posthumanismus ist laut Günther Anders ein verdinglichter ideologischer Traum, „den Apparaten gleich zu werden, richtiger: ihnen ganz und gar, gewissermaßen ko-substanziell zuzugehören“ (Anders 1956: 36). Aber „das Mensch-Sein hinter sich bringen“, wie es der Post- und Transhumanismus möchten, ist laut Anders „der Klimax möglicher Dehumanisierung“ (ebd.: 41 f.). Ein erstes Problem des Post- und Transhumanismus ist, dass sie wie viele Religionen
12 Siehe zum Beispiel: Gibson 2014. 13 Siehe dazu: Kurzweil 2014; Badmington 2000; Moravec 1990.
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von einer Dualität von Geist und Körper ausgehen. Es handelt sich daher um philosophischen Idealismus. Sind hingegen, wie vom Materialismus angenommen, der Geist und der Körper miteinander verkoppelt und stehen in einem dialektischen Verhältnis, so kann der menschliche Geist nicht unabhängig vom Körper in einer Maschine existieren. Das zweite Problem ist die technikdeterministische Annahme, dass die Technik den Menschen unsterblich machen kann und die Gesellschaft von Gesellschaftsproblemen wie patriarchalen Strukturen befreien kann. Das dritte Problem ist, dass post- und transhumanistische Ansätze die Einbettung des technischen und medizinischen Fortschritts in Klassenverhältnisse und die kapitalistische Gesellschaft missachten. Cyborgs & Kapitalismus als Cyborg-Faschismus Im Kapitalismus hat der Tod eine negative Dialektik: Während es wissenschaftlich möglich geworden ist, die menschliche Lebenserwartung stark zu verlängern und die Gesundheit des Menschen stark zu fördern, haben auch die Potenziale zur Massenvernichtung und die reale Anwendung der Destruktivkräfte in der Geschichte des Kapitalismus zugenommen. Während der Mensch also die Fähigkeit hat, den Tod bis zu einem gewissen Ausmaß transzendieren zu können, werden diese Möglichkeiten durch die dem Kapitalismus innewohnenden Todeskräfte unterminiert. Werden in einer kapitalistischen Gesellschaft Nanoroboter entwickelt, die in den menschlichen Körper eindringen, so kann davon ausgegangen werden, dass diese zur Überwachung des Aufenthaltes der Menschen sowie zum Versuch, das Bewusstsein zu manipulieren, eingesetzt würden. Aus medizinischen Nanorobotern, die Krankheiten heilen und Zellen oder Organe erneuern, würde unter kapitalistischen Bedingungen eine Ware gemacht werden, die sich nicht jeder leisten könnte, wodurch die Klassenspaltung des Lebens, der Gesundheit, der Krankheit und des Todes weiter vorangetrieben werden würde. Wäre es möglich, in einer kapitalistischen Gesellschaft Cyborgs zu schaffen, die den Menschen unsterblich machen können, so würde auch die Unsterblichkeit einer Klassenspaltung unterliegen: Die reichen und privilegierten Klassen würden zu unsterblichen Cyborgs, die Klasse der Armen und der Arbeiter würde hingegen sterblich bleiben und der Cyborg-Klasse dienen müssen und von dieser ausgebeutet werden. Durch die Schaffung von Cyborgs als „Übermenschen“ würden also zwei Arten von Spezies geschaffen. Unter kapitalistischen Bedingungen könnte es dann leicht dazu kommen, dass kranke, alte oder nicht arbeitsfähige Sterbliche als zu teuer und als Last für die Gesellschaft gelten, die getötet werden. Der Kapitalismus hat immer faschistische Potenziale. Eine faschistische
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Bevölkerungspolitik wäre in einer kapitalistischen Gesellschaft, die zwei Klassen von Sterblichen und Unsterblichen schafft, eine ernsthafte Gefahr. Eine weitere Gefahr stellt die Perspektive dar, dass willenlose und manipulierbare Menschen genetisch gezüchtet würden, um Widerstand gegen Ausbeutung und Herrschaft zu unterbinden.
6.
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
Tod und Trauer sind Phänomene, die in den Alltag des Menschen hereinbrechen. Der Mensch kann seinen eigenen Tod nicht erfahren, sehr wohl aber die Krankheit und das Sterben. Wir erfahren aber den Tod von Geliebten, Freunden und Familienmitgliedern als existenzielle Erlebnisse. Die Absurdität und Absolutheit des Todes und sein Miterleben als existenzielles Phänomen, das zu Trauer führt, zeigen, dass es sich um ein entscheidendes Problem des Menschen handelt. Der Marxismus kann den Tod daher nicht ignorieren, sondern muss, wie andere philosophische Ansätze, sich damit auseinandersetzen. Wir können einige wichtige Ergebnisse dieses Kapitels zusammenfassen: • Marx erachtet den Kapitalismus als die Herrschaft der toten Arbeit des Kapi-
tals über die lebendige Arbeit des Menschen. Er verdeutlicht, dass der Kapitalismus tödliche Potenziale in sich trägt, die die Form der Krisen und der Tötung von Menschen durch wirtschaftliche, politische und ideologische Gewalt annehmen. Der Kapitalismus ist also ein Todessystem, der Kommunismus hingegen ein lebensbejahendes System. • Wirtschaftliche, politische und kulturelle Entfremdung bedeuten als Ausbeutung, Unterdrückung und Ideologie ein Stück weltlichen Tod innerhalb der herrschaftsförmigen Gesellschaft: Sie töten die Verwirklichung der positiven Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen und der Gesellschaft. • Der Tod ist zugleich ultimative Entfremdung, aber auch der Entfremdung fremd, da er sich der Aufhebung und Aneignung entzieht: Der tote Mensch kann nicht wieder lebendig gemacht werden. Der Tod ist die Endfremdung, die Entfremdung von Geist, Körper, Erfahrung, Bewusstsein, Handeln, Kommunikation, sozialen Beziehungen und Gesellschaft ohne Ende. Thomas Nagel verwendet nicht den Begriff der Entfremdung für den Tod, macht aber klar, dass der Tod dem Menschen die Möglichkeiten zur Praktizierung, Verwirklichung und Erkämpfung des guten Lebens raubt.
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• Auschwitz hat verdeutlicht, dass der politische und ideologische Massenmord,
wie etwa im industriellen Massenmord oder im Genozid, noch schlimmer ist als der Tod, der an sich schon immer ein Unglück, eine Absurdität und ein Skandal ist, der Trauer verursacht. Der Antifaschismus ist daher eine Aufgabe des Sozialismus. Es geht dabei um den kategorischen Imperativ, alles zu tun, um ein zweites Auschwitz zu verhindern. • Die Praktizierung der Prinzipien des Sozialen, der Liebe, der Kooperation und der Solidarität, die dem Sozialismus zugrunde liegen, können einsames Leiden, einsame Krankheit, einsames Sterben und einsames Trauern verhindern. Der Kommunismus als allgemeine Gesellschaft der Solidarität, der Liebe und der Mitmenschlichkeit produziert Glück für alle, wodurch der Tod nicht aus der Welt geschafft werden kann, aber seine Perspektive weniger schrecklich erscheinen mag. Zum Kommunismus gehört auch das Streben nach einem langen, gesunden, erfüllten und glücklichen Leben für alle. • Die Trauerarbeit ist Arbeit angesichts des Todes als Endfremdung. Sie kann individuell oder sozial sowie kommunikativ oder still erfolgen. Die marxistische Philosophie impliziert, nicht über den Tod zu schweigen, sondern behutsam über ihn zu kommunizieren, um ihn zu enttabuisieren und Solidarität der Menschen im Umgang mit ihm zu schaffen. • Die Kommodifizierung macht vor dem Tod, der Trauer und der Trauerkommunikation nicht halt, sondern versucht, auch diese unter die Logik des Kapitals zu subsummieren. Beispiele wie profitorientierte virtuelle Friedhöfe zeigen die Immoralität und Pietätlosigkeit der Logik des Kapitals, die nicht einmal die Toten in Frieden lässt. Die Liebe als sozialistische Waffe Die Liebe kann den Tod nicht besiegen, sie ist aber die mächtigste demokratisch-sozialistische Waffe, die der Mensch gegen die destruktiven Kräfte des Todes, wozu nicht nur das Sterben, sondern auch die Klassengesellschaft und der Faschismus gehören, in Stellung bringen kann. „Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muss ihm dienen, und nicht er ihm. Er muss am Arbeitsprozess aktiven Anteil nehmen, anstatt nur bestenfalls am Profit beteiligt zu sein. Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass die soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird. […] Wenn man von der Liebe spricht, ist das keine ‚Predigt‘, denn es geht dabei um das tiefste, realste Bedürfnis eines jeden menschlichen Wesens. Dass dieses Bedürfnis so völlig in den Schatten gerückt
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ist, heißt nicht, dass es nicht existiert. Das Wesen der Liebe zu analysieren heißt, ihr allgemeines Fehlen heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedingungen Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.“ (Fromm 2010 [1956]: 150 f.) Religionen haben Autoritarismus, Herrschaft, Ausbeutung, das Patriarchat, sexuellen Missbrauch, Krieg, Terror, Nationalismus und Faschismus legitimiert und gefördert. Dadurch haben sie immer wieder wesentliche Elemente ihrer eigenen Lehre, nämlich die Förderung der Liebe, unterminiert. Es gilt aus den Religionen jene Elemente zu retten, die den Kampf für eine friedliche, auf Liebe und Solidarität beruhende Gesellschaft fördern. Und es gilt, jene Praktiken und Strukturen zu kritisieren und abzustreifen, die Religion zu Ideologie und Herrschaft machen. Es geht also um Religionen der Befreiung, die gemeinsam mit dem Marxismus dafür kämpfen, „das Verderben, die Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit zu überwinden“ und ein Reich der Freiheit zu etablieren, in dem wir „füreinander leben können, um so den wahren Reichtum des Menschseins zu ernten“ (Fuchs 1955: 165). „Der Ruf zur […] Nächstenliebe […] ist ernsteste Mahnung zur Tat“ (ebd.: 69). Dadurch kann auch die Religion „ein Mittel“ sein, um „den Klassenkampf auszutragen“ (ebd.: 135). Genauso wie wir nicht eine beliebige Religion, sondern befreiende Religionen und Befreiungstheologien brauchen, brauchen wir nicht einen beliebigen Sozialismus, sondern einen demokratischen, humanistischen Sozialismus. Befreiungstheologie und humanistischer Sozialismus können gemeinsam als „leidenschaftlicher Protest gegen das Zerbrechen des Menschseins durch die bestehende Gesellschaft, die den Menschen der ‚Selbstentfremdung‘ anheimfallen lässt“ (Fuchs 1958: 127 f.), agieren und für die „Verdammten dieser Erde“ (ebd.: 127) eintreten. Marxismus und Befreiungstheologie Der Dialog des Marxismus und der Religion ermöglicht „Theologie als kritische Reflexion auf die Praxis“ (Gutiérrez 1992: 71), so wie dies der Fall ist bei der Befreiungstheologie. Die Theologie wird dadurch zu einer kritischen Theorie, die darauf abzielt, die Befreiung der Menschheit aus Ausbeutung und Unterdrückung voranzutreiben (ebd.: 78). Der Befreiungstheologe ist ein organischer Intellektueller (ebd.: 80). „Erlösung umfasst jeden Menschen und den ganzen Menschen. […] Deshalb ist der Kampf für eine gerechte Gesellschaft im eigentlichen Sinn Bestandteil der Heilsgeschichte“ (ebd.: 231). Die Befreiungstheolo-
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gie und der Marxismus konvergieren in der Betonung der Bedeutung des Klassenkampfes, der die Liebe als gesellschaftliches Prinzip etablieren will. „Die Theologie der Befreiung versucht, ausgehend vom Kampf zur Überwindung der augenblicklichen ungerechten Situation und vom Engagement zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, über ein Leben im Glauben […] nachzudenken. In gleicher Weise hat sie sich an der Praxis der von ihr übernommenen Verpflichtung zu bewahrheiten, genauer gesagt: an der aktiven und wirksamen Teilnahme am Kampf, den die ausgebeuteten sozialen Klassen gegen ihre Unterdrücker aufgenommen haben. […] Allerdings werden wir im Grunde nie zu einer echten Theologie der Befreiung kommen, wenn die Unterdrückten nicht selbst frei ihre Stimme erheben und sich unmittelbar und in schöpferischer Weise in Gesellschaft und Kirche äußern können.“ (ebd.: 362)
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Der Tod als Andersheit Martin W. Schnell
Eine Andersheit ist ein Hyperphänomen, das sich nicht restlos normalisieren, verstehen, definieren und bewältigen lässt. Dazu zählen Revolutionen, Kriege, das Gute, das Böse und auch der Tod. Foucault bezeichnet sie auch als „fundamentale Ereignisse“ (Foucault 1974: 273), weil sie eine Ordnung begründen, aber selbst nicht Teil derselben sind. Der philosophische Diskurs der Andersheit beginnt mit Platon. Andersheit ist dort eine umkehrbare Relation (vgl. Sophistes: 254 b ff.). Der moderne Diskurs geht über diese Bestimmung hinaus, indem er Andersheit als Ausnahme, die eine Ordnung, ein Schema, eine Regel etc. überschreitet, versteht, ohne dass diese Überschreitung ein schlichter Fehler, Mangel oder bloßer Verstoß ist. Die Flucht aus dem Schematismus (Gerhard Gamm) wird durch Begriffe wie Nichtidentität, Différance, Andersheit, Fremdheit vollzogen. Lévinas spricht davon, dass Ethik diesseits der Unterscheidung von Besonderem und Universalem beginne. Deleuze bezeichnet die Ausnahme von der Besonderheit auch als Singularität, als Einzigkeit, die kein Exemplar einer Allgemeinheit sei. Adorno spricht von einer Nichtidentität der Person. Bernhard Waldenfels leitet diese Überlegungen unter dem Stichwort der Patient als Fremder in Richtung einer Ethik der Heilberufe. Paul Ricœur führt schließlich das Konzept einer Andersheit der Person ein (vgl. Schnell 2017: 93 ff.). An diesen modernen Diskurs knüpfen wir an und fragen, wie er auf den Tod bezogen werden könnte. Was ist …. Worum geht es eigentlich? Im Alltag wie in den Wissenschaften treten immer wieder zwei Fragekomplexe zusammen auf. „Werde ich am Lebensende leiden und Schmerzen haben?“ Und: „Was kommt nach dem Tod?“ In der ersten Frage geht es um das Sterben. Mit
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den fraglichen Schmerzen befasst sich die Palliative-Care-Versorgung. Sie behandelt Symptome und lindert fast jeden Schmerz. In der zweiten Frage geht es um den Tod. Mit dem unbegreiflichen Nichts des Todes befasst sich, R. J. Lifton zufolge, die symbolische Immortalität (vgl. Schnell/Schulz-Quach 2020: 18 f.) Modi der symbolischen Immortalität • Biologischer Modus: Weiterleben durch die eigenen Nachkommen. • Theologischer Modus: religiöser Glaube über die Jenseitigkeit des Todes;
meist: Auferstehung oder Reinkarnation. • Kreativer Modus: Immortalität durch das Erschaffen überdauernder Kunst-
werke. • Thema der ewigen Natur: Überleben durch die Verbindung mit der Natur. • Experienziell-transzendenter Modus: Immortalität durch Sinnbildung, die die
Erfahrungsmöglichkeiten des eigenen Selbst übersteigt und auch über das lebendige Selbst hinausgeht; die Fähigkeit eine Balance zwischen existenzieller Angst und Hingabe und Liebe zu finden. Beispiele, die zeigen dass Menschen, die mit der konkreten Endlichkeit ihrer eigenen Existenz in der 1. Person Singular (Ich) vor Augen leben (z.B. Patienten), sich selbst an die verschiedenen Modi der symbolischen Immortalität anlehnen, finden sich dokumentiert in dem Diskursprojekt www.30junge menschen.de Es geht immer um beides, das Sterben und den Tod. Es ist kaum möglich, sie voneinander zu trennen. Spricht man vom einen, ist auch das andere nicht weit. Aspekt
Sterben
Angst/Furcht
Schmerz und Leid
Antwort
Palliativmedizin
Tod/Endlichkeit das Nichts, das Unbegreifliche symbolische Immortalität
Das Diskursprojekt www.30gedankenzumtod.de dokumentiert Beispiele von Personen, die mit dem Tod konkreter Anderer in der 2. Person (Du) zu tun haben (z.B. Pflegende, Polizei) und mit dem Tod allgemeiner Anderer in der 3. Person (Er/Sie/Es) befasst sind (Historiker, Statistiker). Diese Personen stellen Fragen nach dem Sinn des Todes, sowohl des gewaltsamen als auch des vermeintlich guten Todes im Hospiz.
Der Tod als Andersheit | 105
Der Tod Der Tod ist eine Andersheit, da er sich nicht normalisieren lässt. Er gehört nicht in das laufende Leben, sondern er beendet es. Begriff und Sache der Andersheit sind durch ihren Ausnahme- und Überschreitungscharakter definiert. Ausnahme und Überschreitung im Hinblick auf das, was ich begreifen und wissen kann (zum Verständnis ethisch relevanter Andersheit vgl. Schnell 2017: Kap. 15 u. 16). Descartes unterscheidet zwischen dem Begreifen und dem Berühren. Begriffen ist das, was ich vollständig durchdrungen, klar und deutlich einsehen und kommunizieren kann. Berührt ist demgegenüber etwas, zu dem ich Kontakt habe, was sich mir zugleich aber wesensmäßig entzieht und meine Möglichkeiten überschreitet. Letzteres trifft auf meinen eigenen Tod, auf den des Anderen und den der Dritten zu. Dem Tod geht das Lebensende voraus, welches, wie der Tod selbst auch, Gegenstand der Selbst- und Fürsorge ist. Der Tod ist auch eine Grenzangelegenheit. Er gehört in einer Weise zum Leben und ist daher kein Betätigungsfeld für Experten, wie es etwa Ärzte sind. Andererseits kann er sehr wohl zum Thema der Palliativversorgung werden. Der Tod, der durch eine lebenslimitierende Krankheit, deren Symptome medizinisch zu kontrollieren sind, herbeigeführt wird, ist die Realisierung der Grenzangelegenheit. In diesem heutzutage sehr häufigen Fall muss es zu einer Koalition von Philosophie und den Wissenschaften der Heilberufe im Zeichen der Vulnerabilität kommen (vgl. dazu ausführlich Schnell/Schulz 2020). Der Tod ist für den Menschen (und nicht nur für ihn) unvermeidlich. Was ist der Tod? Wir folgen Vladimir Jankélévitch, der die dreibeinige Typologie ausgegeben hat und vom „Tod in der dritten, in der zweiten und in der ersten Person“ (Jankélévitch 2005: 34) spricht. Der Tod in der dritten Person ist der unpersönliche Tod Heidegger widmet dieser Perspektive die Aufweisungen der Macht des Man. Das „Man regelt die Welt- und die Daseinsauslegung“ (Heidegger 1979: 127) und damit auch, wie man sich zum Tod zu verhalten hat. Die Existenz taucht in die Anonymität dessen ein, was man tut, was alle anstreben. Das Sterben wird zu einem Vorkommnis, das in der anonymen Gesellschaft (das Man, wie Heidegger es nennt) sehr wohl vorkommt, aber, so sehe ich es, mich selbst nichts angeht und daher von mir auch nicht begriffen wird. „Das ‚man stirbt‘ verbreitet die Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man. Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: man stirbt, weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: je
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nicht gerade ich; denn dieses Man nivelliert, das zwar das Dasein trifft, aber niemand eigens zugehört.“ (Heidegger 1979: 253) Der Tod in der zweiten Person ist der Tod des Anderen „Der Tod des Anderen ist der erste Tod.“ (Lévinas 1996: 53) Mit dieser Argumentation begründet Emmanuel Lévinas eine Ethik der Sorge um den Anderen. In deren Zentrum stehe nicht ich, steht auch nicht die anonyme Gesellschaft, sondern der sterbliche Andere. Seine Endlichkeit ist es nun, die mich eigens beansprucht und mich nicht gleichgültig in mir ruhen lässt. „Der Tod des Anderen ist stärker als die Sorge um mich selbst.“ (Lévinas 1995: 249) Der Tod des Anderen berührt mich und entzieht sich mir zugleich. Der Tod in der ersten Person ist der eigene Tod Es ist das Verdienst von Martin Heidegger, den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Sein zum Tode hergestellt zu haben. Für ihn ist der Glaube, dass der Mensch auf einem blauen Planeten aufgetaucht ist und dass dieser schöne Planet auch existieren wird, wenn der Mensch ihn wieder verlassen haben sollte, ein Märchen. In der Physik lernen wir etwas über Zeit, aber nicht über den Tod. Warum nicht? Die Physik kennt einen unendlichen Zeitstrahl. Diese Unendlichkeit gibt es für den endlichen Menschen nur dadurch, dass er den „Zusammenhang von Zeitlichkeit und Sein zum Tode verkennt“ (Ricœur 1991: 139). Unendlichkeit existiert, wenn der Mensch von seiner Endlichkeit absieht. Die Physik beschreibt eine Welt ohne den Menschen, weil sie die Sterblichkeit und damit den Menschen nicht beachtet. Das Sein ist aber nicht zeitlos! Zeitlich ist die Existenz, die eine Existenz zum Tode ist und die darum weiß. „Der Tod ist, … wesensmäßig je der meine. … Niemand kann dem Anderen sein Sterben abnehmen.“ (Heidegger 1979: 240) Der zu mir gehörende und mich zugleich beendende Tod ist nicht nur ein Anhängsel meines Daseins, denn „er beansprucht dieses als einzelnes“ (ebd.: 263). Eine solche Beanspruchung meines Selbst bedeutet, dass jeder schon geborene und daher existierende Mensch mit dem Mysterium seiner Sterblichkeit leben muss! Sorge um den Tod Die Gegenwart des Todes im Leben ist durch Angst bzw. Furcht gegeben. Furcht ist ein intentionaler Akt. Jemand fürchtet sich vor jemandem oder etwas, das, so Heidegger, als „innerweltliches“, also als ein „bestimmter Gegenstand“ (Hei-
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degger 1979: 185) namhaft gemacht werden kann. Angst ist hingegen objektlos. „Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt.“ Angst bezieht sich nicht auf einen innerweltlichen Gegenstand, sondern auf die existenzielle Situation, im Lichte derer erst Gegenstände auftreten können. „Das Wovor der Angst ist das In-der-Weltsein als solches.“ (Ebd.: 186) „Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst.“ (Ebd.: 266) Todesangst hat keinen Gegenstand, vor dem man sich ängstigt, denn sie betrifft das Unverankertsein des Lebens, das immer vulnerables Leben ist, als solches (vgl. Schnell 2017, 2020). Aber das ist nur die eine Seite, denn es kann zu einer Transformation der Daseinsangst in Furcht vor etwas kommen. Im Krieg hat niemand Angst vor der Absurdität der Existenz (Sartre), sondern vor den Bomben der Flugzeuge. Eine solche „Umkehrung der Angst in eine Furcht“ (Heidegger 1979: 254) verzeichnen wir auch in der Corona-Krise. Gemäß der dreibeinigen Typologie des Todes können wir auch drei Sorgen um den Tod voneinander unterscheiden. Der Tod ist gegenwärtig im Modus der Sorge (vgl. Schnell 2021). Die Erinnerung an die Toten ist Sorge um den Tod in der 3. Person (Er, Sie, Es), die Behandlung der Sterbenden ist Sorge um den Tod in der 2. Person (Du) und die Un-Möglichkeit des Begreifens (Maurice Blanchot) ist die Sorge um den der in der 1. Person Lebenden (Ich) (Derrida 1998). Der Tod im Modus des Sterbens als Gegenstand der Medizin und die Diversität am Lebensende Leitgedanke der Palliativmedizin ist die würdige Begleitung der letzten Lebensphase und des Sterbens schwerstkranker Menschen. Die modernen Möglichkeiten der Schmerztherapie, die in den 1970er Jahren entwickelt wurden, sind die wesentlichen Grundlagen der Leidenslinderung und haben sicherlich dazu beigetragen, dass Palliative Care zunehmend Anerkennung und Bedeutung erlangte (vgl. Schnell/Schulz-Quach 2020: Kap. 1). In Deutschland konzentrierte sich Palliativmedizin zunächst stark auf die Spezialversorgung im stationären Sektor. Erst in den letzten Jahren sind zunehmend auch ambulante Versorgungsmodelle entwickelt worden, um das von den meisten Menschen gewünschte Sterben in der vertrauten häuslichen Umgebung zu ermöglichen. Es lassen sich ein palliativer Ansatz, eine allgemeine Palliativversorgung und spezialisierte Versorgungsmodelle unterscheiden. Seit dem Jahre 2007 besteht ein im SGB V festgeschriebener gesetzlicher Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Sie umfasst ärztliche und pflegerische Leistungen einschließlich ihrer Koordination insbesondere zur Schmerz-
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therapie und Symptomkontrolle und zielt auf eine Betreuung der Versicherten in der vertrauten häuslichen Umgebung durch multiprofessionelle Teams. Zur Förderung der Zusammenarbeit mit den vielen in der allgemeinen palliativen Versorgung sterbenskranker Menschen engagierten Ärzten, Pflegediensten und Therapeuten wird inzwischen intensiv an vernetzten Strukturen, an „Palliativnetzwerken“ gearbeitet. Die umfassende gesundheitliche Planung zur Versorgung in der letzten Lebensphase ist eine Aufgabe, die über den Gesundheitssektor hinausreicht und alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft. Dies wurde in der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen mit dem Begriff „Letztverlässlichkeit“ verdeutlicht. Die verschiedenen Ebenen des englischen Wortes „care“, das sowohl „Sorge, Kümmern, Fürsorge, Pflege“ wie auch „Behandlung“ bedeutet, lassen sich nur teilweise ins Deutsche übertragen. Palliative Care steht nicht – wie oft missverstanden – im Gegensatz zur kurativen Medizin, sondern stellt eine Ergänzung dar, die darauf verweist, dass die Wörter „care“ und „cure“ gemeinsame Wurzeln haben. Leidenslinderung bzw. Prävention des Leidens mit den Möglichkeiten der modernen Medizin bedeutet nicht nur optimale Symptomlinderung und Verbesserung der Lebenssituation des Sterbenskranken. Es geht in der Palliativbegleitung vielmehr auch darum, Sterben und Tod als etwas dem Leben Zugehöriges erfahrbar zu machen und den Tendenzen nach sog. Sterbehilfe durch Tötung auf Verlangen und assistiertem Suizid Angebote der Fürsorge und des humanen Miteinanders entgegenzustellen. Diese Aufgabe reicht sicherlich über eine professionell und kompetent durchgeführte medizinische Auftragsleistung hinaus, sie stellt auch eine Herausforderung der Annäherung an Ungewisses und die Andersheit des Todes dar. Die Besonderheit, vor der die (medizinische und pflegerische) Annäherung an den Tod steht, ist eine spezifische Diversität am Lebensende (vgl. Schnell 2020: Anhang 4). Gemeint ist damit die unaufhebbare Asymmetrie zwischen Sterben und Weiterleben. Diese Asymmetrie gibt es nur am Lebensende und damit in keinem anderen Bereich der Gesundheitsversorgung. Es handelt sich hier um eine Asymmetrie, weil die Positionen (Weiterleben vs. Sterben etc.) nicht umkehrbar sind! Niemand kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. Der Tod ist der je eigene Tod. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient geschieht an der Grenze des Schweigens, weil am Lebensende die für den Dialog zwischen Ich und Du notwendige gemeinsame Bedeutungswelt schwindet. Kulturwelt ist ein symbolischer Ort gemeinsamer Bedeutungen, aufgrund derer ein Verstehen der an der Kulturwelt teilhabenden Personen möglich ist. Dieses Verstehen benötigt ein „dem Ich und dem Du Gemeinsames“ (Wilhelm Dilthey)
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(Dilthey 1981: 256). Ein solch Gemeinsames ist die Kultur. Die Gemeinsamkeit der Kultur schwindet am Lebensende und verwandelt sich allmählich in die Asymmetrie von Weiterleben vs. Sterben. Soziale Organisation des Sterbens: das Sterbenmachen Die individualistische Perspektive auf den Sterbenden, auf die jeweiligen Angehörigen mit ihren je eigenen Bedürfnissen und Wünschen, die die Praxis von Palliative Care verfolgt, ist zu ergänzen durch eine Perspektive, die ihren Fokus auf die hergestellten, intersubjektiv geteilten Sterbewirklichkeiten richtet, wie Werner Schneider sagt (vgl. Schnell/Schneider/Kolbe 2014). Menschen sterben nicht einfach im Sinne eines quasi natürlichen Ablaufs der Lebensuhr, sondern werden immer auch von den sie umgebenden und überlebenden Menschen sterben gemacht. Dieses Sterbenmachen eines Menschen wird jetzt von der Gesellschaft, in der er lebt, bestimmt. Das gilt indirekt noch für den Suizid. Es vollzieht sich in den für die Beteiligten gegebenen sozialen Beziehungen, wird entlang der jeweiligen, situativen institutionellen Bezüge und materialen Bedingungen vorgenommen und ist an den je vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Leitvorstellungen zu Sterben und Tod ausgerichtet, wie Schneider betont. Das Sterbenmachen geschieht nicht zuletzt durch Technik, die im weitesten Sinne als Sozialtechnologie zu verstehen ist. Im Bereich der Medizinethik findet ein angemessenes Verständnis von Technik kaum einen Platz. Medizinethik, die von Ärzten praktiziert wird, erschöpft sich meist in der Bearbeitung von Fallbespielen und verzichtet auf grundsätzliche Diskussionen. Medizinethik, die von Philosophen betrieben wird, diskutiert nicht nur im Hinblick auf die Technik allgemeinere Konzepte wie das der menschlichen Identität (Thema Klonierung), der Gerechtigkeit (Thema Rationierung von Leistungen) oder der Würde (Thema fürsorglicher Zwang). Da diese Diskussionen aber meist nicht an die medizinische Behandlungspraxis anschließen, werden sie von Ärzten als irrelevant angesehen werden. Ähnlich verläuft es im Falle der Technologiediskussion. Die Befürworter von Biotechnologien und Bioenhancement erhoffen sich einen neuen Humanismus, oft unkritisch. Die Gegner verdammen diese Bewegung, nicht selten mit unpassenden Argumenten. Auf diese Weise reden Apokalyptiker und Engagierte aneinander vorbei (vgl. Schnell 2002). Vor diesem Hintergrund müsste Verständnis von Technik im Bereich der medizinischen Gesundheitsversorgung folgende Komponenten beinhalten: Technik als soziale Praxisweise, vom Leibkörper her gedacht, die Sinn ermöglicht und auch verunmöglicht. Ohne Zweifel existieren Betrachtungen, die in
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diese Richtung weisen (vgl. Gehring 2006; Kettner 2009). Auf sie werde ich nicht explizit eingehen, um mich auf das Thema Palliative Care zwischen Ethik und Technik konzentrieren zu können. Im Folgenden beziehe ich Argumente und Beispiele einer Studie von Werner Schneider ein (in: Schnell/Schneider/Kolbe 2014). Palliative Care ist als interprofessionelle Teamleistung eine soziale Form, die Menschen, die die Welt definitiv verlassen werden und die sich um das Wohl der Weiterlebenden sorgen (vgl. dazu Schnell/Schulz/Kolbe/Dunger 2013) mit anderen Menschen verbindet, die jetzt weiterleben und die als Zeugen das Lebensende der sterbenden Menschen begleiten. Palliative Care ist die Gestaltung des Sterbeprozesses ab der infausten Prognose. Zu dieser Gestaltung zählt, dass eine Definition angeboten werden muss, wann das Leben endet und eine Maßgabe, wie dann zu verfahren ist. Hier kommen Interpretationstechnik, Organisationstechnik und Behandlungstechnik zur Geltung. Diese Techniken sind an mindestens zwei Regulatoren gebunden, die mit den auf Michel Foucault zurückgehenden Begriffen Diskurs und Dispositiv bezeichnet werden können. Der Begriff Diskurs bezeichnet Regeln, die festlegen, was innerhalb des „Problemfeldes Lebensende“ als geltend gesagt und getan werden darf und was nicht. Interpretationen und Organisationen innerhalb eines Diskurses produzieren unter anderem folgende Parameter: • die Hirntoddefinition als das Kriterium des Todes eines Menschen • die Ansicht, dass die Begleitung durch ein Palliative-Care-Team eine Voraus-
setzung für eine gute Sterbebegleitung ist • die Einbeziehung von Angehörigen und Ehrenamtlichen • die Ausweisung, an welchen Orten gutes Sterben möglich ist: zu Hause, im
Heim, auf der Palliativstation, im Hospiz. Der Begriff Dispositiv umfasst ein Arrangement verschiedener Diskurse, das über die konkrete Patientenversorgung hinaus den quasi gesellschaftlichen Status an Interpretationen und Organisationen im Hinblick auf das Lebensende bereithält. Dazu gehören: • • • • •
Richtlinien der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung die Rechtfortbildung durch die Urteile der höchsten Gerichte die Gesundheitspolitik der politischen Parteien Werte der Kirchen Stellungnahme von Verbänden zu Sterbehilfe.
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Die Abhängigkeit von Diskursen und Dispositiven gilt nicht nur für Interpretations- und Organisationstechniken, auch für Behandlungstechniken im engeren Sinne. Behandlungstechnik bezeichnet dabei einerseits die Arten und Weisen, wie Patienten am Lebensende medizinisch und kommunikativ von Ärzten etc. behandelt werden, also im Lichte welcher Pläne, Medikationen, kommunikativer Strategien usw. Andererseits ist hier Technik im Sinne von Instrumenten gemeint, die von Personen bedient werden. Ein signifikantes Beispiel ist die Verwendung einer Schmerzpumpe, die der Patient selbst im Sinne einer technisch unterstützen Selbstbehandlung bedienen kann. Damit wird wiederum eine bestimmte Organisation der Behandlung durchgeführt. Diese erscheint zudem in einer bestimmten Interpretation: Die Schmerzpumpe gewährt dem Patienten Individualität, Autonomie und Freiheit. Wenn der tumorbedingte Schmerz zunimmt, führt sich der Patient selbst eine erhöhte Dosis an Medikamenten zu. Technik im Sinne von Interpretation, Organisation und Instrumenten, also einer Art von Sozialtechnologie, ermöglicht Palliative Care, schafft aber auch Abhängigkeiten: Die Interpretationen müssen geglaubt werden, die Organisation muss durchführbar sein, die Instrumente haben zu funktionieren. Der Patient bedient die Schmerzpumpe (Behandlungstechnik), ihr Piepsen und ihre Skalen müssen interpretiert werden (Interpretationstechnik), ihr Funktionieren ist durch Bereithalten von Batterien und geschultem Personal für den Notfall (Organisationstechnik) zu gewährleisten (vgl. Schnell/Schneider/Kolbe 2014: 127 f.). Die ethische Herausforderung der Diversität für die Palliativversorgung besteht darin, auf den sterbenden Menschen einzugehen, der sich dort zeigt, wo er kein Patient ist und wo auch kein medizinisches Schema hinreicht. Dieser ethischen Herausforderung kann mit fachlich korrekter Symptomkontrolle allein nicht begegnet werden. Palliative Care ist nicht nur als ethische Handlungsfolge im Sinne einer Sorge um den sterbenden Anderen und einer Bezeugung seiner Existenz, sondern sie ist auch als Technik zu verstehen, die auf die ethische Herausforderung antwortet. Die Leistung von Palliative Care, wenn man sie so nennen kann, ist nur im engeren Sinne eine medizinische bzw. heilberufliche. Sie ist im allgemeinen Sinne eine gesellschaftliche, die es in der Tat mit der Regulierung des menschlichen Lebens zu tun hat. Palliative Care ist der gesellschaftliche Expertenbereich, in dem die Überlebenden Sorge walten lassen, Techniken zur Versorgung der von ihnen Abhängigen einsetzen und in dem sie die Prozesse der Lebensbeendigung bezeugen.
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Auch die Palliativmedizin zählt somit zu den Sozialtechnologien. Seit Kübler-Ross betrachtet sie das Sterben und den Todeswunsch eines Menschen als Fall einer Regel. Es ist normal, dass ein Patient nach einer langen Leidensgeschichte sterben möchte. Das ist in den Indices der Behandlung am Lebensende so vorgesehen. Ebenso die ärztliche und therapeutische Reaktion darauf. Sterbehilfe ist nicht vorgesehen, weil der Patient es sich überlegen und den Todeswunsch zurücknehmen wird. Diese Sichtweise ist ebenfalls eine zu verantwortende Interpretation. Herausforderungen der Robotik Eine besondere Herausforderung der Sozialtechnologie für den Umgang mit Tod und Sterben bedeutet die Digitalisierung. Es gibt einen End-of-LifeCare-Roboter (s. YouTube). Er streichelt den Arm der sterbenden Person. Parallel dazu ertönt eine Stimme, die dem Sterbenden sagt, dass er nicht allein sei, weil er, der Roboter, an seiner Seite ist. Zum Beweis setzt der Roboter das Streicheln fort. Die moderne Ethik geht seit 250 Jahren davon aus, dass die Beziehung zwischen Ich und Du eine wesentliche Quelle der Achtung, des Respekts und der Würde sei (vgl. Schnell 2017). Stillschweigend und wie selbstverständlich geht man davon aus, dass beide, Ich und Du, Menschen sind. Denn nur Menschen können einander ethisch begegnen. „Was bedeutet es nun, wenn man in der Ich/Du-Beziehung eines der beiden Elemente durch einen Roboter ersetzt?“ (Schnell/Dunger 2019: 196) Gemeint ist ein Roboter, der als Roboter auftritt und dessen Agieren von einer menschlichen Person akzeptiert wird. Der Sterbende empfindet das Streicheln als Beruhigung! Die Herausforderungen der Robotik bestehen darin, der Ethik eine neue, humanuide Version hinzuzufügen, die besagt, dass es auch ethisch funktionierende Beziehungen zu einer intelligenten KI geben kann, von der wir wissen, dass sie künstlich, also nicht-menschlich ist. Der Tod als Andersheit Die gesellschaftliche-sozialtechnologische Organisation des Sterbens schafft Normalität und Berechenbarkeit des Sterbens, das seinen Abschluss in der Beerdigung findet. Der Tote wird der Erde übergeben und scheidet damit aus dem Sozialen aus. Er ist (wieder) Natur und zugleich nicht. „Die Bestattung ist eine Zurückgabe des vereinzelten Individuums an den elementaristischen Grund, in den der Leichnam sich auflösen muß –, der gewesene Mensch verliert verwesend
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Kontur und Bestimmtheit. Die Erde nimmt ihm zurück.“ All das ist jedoch kein bloßes Naturgeschehen, wie es ein Regenschauer sein könnte, sondern äußerst „symbolhaltig“ (Fink 1969: 176). Es ist Zeichen des Friedens und des Trostes der Überlenden und an die Überlebenden. Doch das, worum es geht, ist zugleich mehr und anders als das alles. „Was hier auf dem Spiel steht, läßt sich weder als bloßer Teil einem Ganzem einordnen noch als bloßer Fall einem Gesetz unterordnen. Es steht quer zu allen Ordnungen.“ (Waldenfels 2012: 9) Der Tod ist eine Andersheit, denn er zählt zu den Hyperphänomenen, die uns entgleiten, aber doch berühren. Für sie hat Lévinas die platonische Formel Jenseits des Seins geprägt. Der Tod ist für den Menschen, wie für jedes andere Lebewesen, unausweichlich. Dennoch kann vermutlich niemand aus eigener Anschauung die Frage, wer oder was der Tod ist, befriedigend beantworten. Das liegt darin begründet, dass niemand den eigenen Tod erfahren und reflektieren kann, weil unser jeweiliges Ich, das eine solche Reflexion leisten könnte, im Tod selbst verstirbt und daher kein Zeugnis über den Tod ablegen kann. Nahtoderfahrungen sind das, was sie sind: Erfahrungen, die jemanden an die Grenze des Lebens führen, aber nicht darüber hinaus. Aus dieser Sachlage haben viele Forscher die Konsequenz gezogen, nicht mehr direkt nach dem Was, sondern eher nach dem Wie des Todes zu fragen. „Wie ist uns der Tod zugänglich?“ Der Umweg über das Wie erscheint somit nötig, um indirekte Einblicke in das Was des Todes erlangen zu können. Ein neuer methodischer Zugang zur Erforschung des Todes nimmt seinen Ausgang, wie bereits oben ausgeführt, von Jankélévitch’ dreibeiniger Typologie des Todes (vgl. Schnell/Schulz-Quach/Dunger 2018).
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Die Angst vor dem sozialen Sterben Matthias Hoffmann
1.
EINLEITUNG
Das Sterben und was es für die Sterbenden bedeutet, hat sich im letzten Jahrhundert stark verändert. Es sind vor allen Dingen positive Veränderungen. Schmerz- und Palliativmedizin haben sich als medizinische Disziplinen ausdifferenziert und daneben die Palliativpflege als eigener professioneller Bereich. Eigene Palliativstationen in Krankenhäusern sowie ambulante und stationäre Hospize sind Realität geworden. Mit den ambulanten und stationären Hospizen ist ein neuer Typus Institution entstanden, mit dem Ziel, die „non-scheduled status passage“ (Glaser/Strauss 1965: 48) des Sterbens aufzufangen, welche die formale Organisation „Klinik“ überfordert (vgl. Dreßke 2005).1 Denn die Erfordernisse formaler Organisation hatten in der „social Organization of Dying“ (vgl. Sudnow 1967) der Kliniken dazu geführt, dass Sterbende oft mehr oder minder schlecht „verwahrt“ und gelegentlich über sie gesprochen und disponiert wurde, in extremen Fällen sie gar behandelt wurden, als seien sie bereits tot. Den mittlerweile klassischen Terminus des „sozialen Todes“ hatte Sudnow an solchen von ihm beobachteten Interaktionen zwischen Patienten und Pflegekräften entwickelt (ebd.: 74).2
1
Vgl. auch grundsätzlich und umfassend Knoblauch/Zingerle (2005).
2
„,Social death‘ which, within the hospital setting, is marked by that point at which a patient is treated essentially as a corpse, though perhaps ,clinically‘ and ,biologically‘ alive.“ An der Stelle findet sich auch das Beispiel der Krankenschwester, die einer im Sterben liegenden Patientin mehrfach die Augenlider zusammendrückt, weil, wie sie erklärt, den Toten die Augen geschlossen werden müssen und das bei noch Lebenden leichter gehe, offenbar, weil die Totenstarre das Unterfangen kompliziert.
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Wenn diese Errungenschaften auch bereits vieles an der Situation der Sterbenden verbessert haben, so gilt doch zum einen, dass nicht alle Sterbenden gleichermaßen von diesen institutionellen Verbesserungen profitieren und es bleibt die Tatsache bestehen, dass das Sterben Angst macht. In einer Telefonumfrage aus dem Jahre 2006 antworten 60 Prozent der Befragten auf die Frage, ob sie eher Angst vor dem Tod oder eher vor dem Sterben haben, mit „vor dem Sterben“. Hingegen nur 7 Prozent der Befragten geben an, eher Angst vor dem Tod zu haben (N=313) (Hoffmann 2011: 11). Ein Grund dafür, dass die Angst vor dem Tod gegenwärtig nicht so weit verbreitet ist, liegt sicherlich in der Säkularisierung (vgl. Hahn 2008). Wenn der Glaube an Himmel und Hölle abnimmt, nehmen damit auch die Ängste ab vor dem, was nach dem Tode kommen mag, wenn denn überhaupt geglaubt wird, dass nach dem Tode noch irgendetwas kommt. Auf die Frage, wie sie sterben möchten, sagen 80 Prozent der Befragten, dass sie „plötzlich und unerwartet“, und nur 20 Prozent, dass sie „auf den Tod vorbereitet und bewusst“ sterben möchten (N=289) (Hoffmann 2011: 11). In der Studie einer Forschungsgruppe um Alois Hahn und Rüdiger Jacob wurden die Personen gefragt, was denn für Sie an einer schweren Krankheit das „Allerschlimmste“ sei. Die Antwort: Das Schlimmste für die Befragten ist der körperlich-geistige Verfall, nämlich „keine Kontrolle mehr über meine Körperfunktionen zu haben“ (29,3%) und „drohender geistiger Verfall“ (27,3%, N=2494) (Lettke u.a. 1999: Anhang, S.11). Die Angst vor dem Tod ist also durchaus präsent, aber es dominiert doch die Angst vor dem Verlust der Kontrolle über die Körperfunktionen und die Angst vor dem geistigen Verfall. Hinter dem Wunsch, „plötzlich und unerwartet“ zu sterben, verbirgt sich also wohl eigentlich der Wunsch, die Phase des geistigen Verfalls und des Verlustes der Kontrolle über die Körperfunktionen solle so kurz wie möglich sein. In den modernen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts hat sich das Sterben als eigene Phase vom Tod ausdifferenziert. Das liegt vor allem an den Entwicklungen in der Medizin, hängt aber auch mit einer Fülle weiterer Gegebenheiten zusammen, etwa der stark gestiegenen Lebenserwartung aufgrund allgemein verbesserter Lebensumstände. Der typische Tod ist in diesen Gesellschaften nun nicht mehr der plötzliche und unerwartete Tod durch Unfall, Gewalt oder tödliche Infektionskrankheiten.3 Solche plötzlichen Tode gibt es auch
3
Vgl. Kellehear (2017: 21) „Short periods of dying – from first awareness of dying to the point of actual death – have been the norm in human history since the last major ice age (…). This indicated that most causes of death were due to trauma (…) or from infectious diseases of short duration (…). In agrarian and urban societies, this toll of
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in diesen Gesellschaften natürlich immer noch und sie erzeugen dort gerade wegen ihrer relativen Seltenheit einen ganz eigenen Schrecken, wenn sie sich ereignen. Wahrgenommen werden sie dann als katastrophaler Einbruch in einen als normal angenommen gesellschaftlichen Zustand. Die Sterbeverläufe sind nun oftmals nicht nur extrem verlängert, sondern sie werden von den Sterbenden auch nicht selten mit klarem Bewusstsein, ohne geistigen Verfall, durchlebt (vgl. Feldmann 2010; Thieme 2019).4 Der exemplarische Typus dieses Sterbens ist hierbei das Sterben an einer Krebserkrankung, das sich häufig über Jahre erstreckt. Selbstverständlich sind diese Lebensjahre – wie es schon der Begriff sagt – dennoch auch Jahre des Lebens, Jahre, in denen gelebt wird und die betroffenen Personen würden die Qualifizierung dieser Jahre schlicht als „Sterben“ sicher vehement zurückweisen. In bestimmten Hinsichten sind diese Jahre gerade wegen des bewusst gewordenen Sterbens Jahre intensiven Lebens, etwa wenn sich mit der Familie ausgesöhnt oder ein Werk zu Ende gebracht wird.5 Welches Kriterium kann man überhaupt in Anschlag bringen, um den Beginn einer solchen Sterbephase zu bestimmen? Einen guten Vorschlag dazu hat Wolfgang Drechsler gemacht, dem wir hier weitestgehend folgen wollen:
death was abundantly supplemented by deaths through warfare, occupation and colonization, death camps, and natural disasters such as famine, drought, floods, earthquakes, hurricanes and volcanic activity. In recent affluent economies since the Second World War, the widespread introduction of public health measures (e.g., clean drinking water, sewerage systems, food surveillance, etc.), stable governments, high employment, extended periods of peace, and an elaborate health and medical services infrastructure have increased life expectancy exponentially. This has resulted, as I have described earlier, in a massive rise in long-term health conditions that has promoted long, lingering trajectories of dying, however we might describe the ambiguity of perception from those at the centre of these trajectories.“ 4
Die Thematik der Demenz wird im vorliegenden Aufsatz nicht behandelt. Ebenfalls unbehandelt bleiben muss hier die Thematik palliativer Sedierung. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag „Die tiefe und kontinuierliche Sedierung am Lebensende und ihre soziale Dimension“ von Claudia Bozzaro, Anne Letsch und Claudia Schmalz.
5
Die nach der Diagnose eines Glioblastoms einsetzende intensive, geradezu an Besessenheit grenzende Arbeit an der Fertigstellung seiner Bücher hat Wolfgang Herrndorf in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ (Herrndorf 2020) erschütternd beschrieben. Nach der Diagnose blieben ihm bis zu seinem Freitod dreieinhalb Jahre. Für den Hinweis auf das Werk Herrndorfs danke ich den Herausgebern.
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„Wenn also im Folgenden von Sterbenden bzw. dem Umgang mit Sterbenden die Rede ist, so bezieht sie sich grundsätzlich auf einen Prozess des Lebens, der dadurch gekennzeichnet ist, dass bei den Betroffenen das Ende ihres Lebens aufgrund ihrer körperlichen Befindlichkeit abzusehen ist und somit das eigene Sterben zu einem explizit bewussten Thema des Lebens wird bzw. als implizites oder unbewusstes Thema je eigenes Leben und Handeln prägt. Es handelt sich um einen Prozess, der z.B. schon mit einer medizinischen Diagnose beginnen kann, die die Selbstverständlichkeit des alltäglichen Lebens zerbricht und die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Sterbens erzwingt und der sein Ende findet in der konkreten Situation am „Sterbebett“, wo der Eintritt des Todes eine Frage von Tagen oder Stunden ist.“ (Drechsler 2008:107)
Wenn ohnehin gilt, dass der Tod ein Problem der Lebenden ist (vgl. Feldmann u.a. 1995), insofern jede Gesellschaft sich zu ihm verhalten muss, dann gilt noch viel mehr, dass das Sterben ein Problem der Sterbenden ist, und zwar vor allem das des je Sterbenden. Die Dramatik der beschriebenen, neu entstandenen langen Sterbephasen liegt nun darin, dass sie die Menschen auf eine Weise ängstigen, die ursächlich mit der Spezifik des im soziologischen Sinne modernen Menschen zusammenhängt. Denn die Anforderungen und Erwartungen, die das moderne Individuum an andere und vor allem aber auch an sich selbst stellt: Beherrschung und Domestikation der Körperfunktionen, Neutralisierung des Körpergeruchs, Vermeidung von Peinlichkeiten und dergleichen mehr, werden unter den Bedingungen langer Sterbeverläufe höchst prekär.6 Der zivilisierte Mensch, dessen Genese Norbert Elias beschreibt, dessen sinnliche Sensibilität Georg Simmel eindrücklich schildert und dessen stetigen Kampf um eine reibungslose Interaktion Erving Goffman vor Augen führt, ist in der Phase seines Sterbens permanent bedroht vom Scheitern und dazu vom eigenen Wahrnehmen des Scheiterns an seinen Ansprüchen. Für den soziologischen Beobachter ist selbstredend klar, dass der Ursprung dieser Ansprüche nicht im Individuum selbst liegt, sondern gesellschaftlicher Natur ist und die gebildeten Ansprüche Resultate von Sozialisationsprozessen sind. Wenn sie aber erst einmal ausgebildet sind, nehmen sie für das Individuum den Charakter unverfügbarer Selbstverständlichkeiten an und sind damit tatsächlich zu seinen Ansprüchen geworden. Als Momente der eigenen Selbstauffassung hängt für das Individuum
6
Ergreifende Schilderungen finden sich in Schlingensief (2009), Leinemann (2009), Diez (2009). Bei Schlingensief und Leinemann handelt es sich um einen autobiografischen Bericht der eigenen Krebserkrankung, die in beiden Fällen nicht geheilt werden konnte, bei Diez um den Bericht über das Sterben seiner Mutter an Krebs. Eine Analyse der Bücher findet sich in Hoffmann (2011: 205 ff.).
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die Wahrung seiner Würde daran, diese Ansprüche an sich selbst erfüllen zu können. Es ist nicht nur für die Anderen ein Sterbender, mit dem man nicht mehr so interagieren kann, wie man es normalerweise tat, sondern es ist für sich selbst als Sterbender auf schwer erträgliche Weise ein Anderer geworden als der, der es zu sein gewohnt war. Auf diese Art verstandenen, soll „das soziale Sterben“ und die Angst vor ihm mit der Genese des modernen Individuums beschrieben werden. Ganz im Sinne des vorliegenden Bandes kann das so beschriebene „soziale Sterben“ als eigene „Ordnung des Sterbens“ verstanden werden.7
2.
GEORG SIMMEL: EINE NASENFRAGE – FÄKALGESTANK UND EXKREMENTE
In seinem Exkurs über die Soziologie der Sinne hält es Georg Simmel für eine „noch gar nicht genug beachtet(e) Bedeutung für die soziale Kultur, daß mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt.“ (Simmel 1992: 734) Alsdann formuliert er die auf den ersten Blick höchst erstaunliche These, dass er glaube, „daß die nach dieser Seite gesteigerte Sensibilität im Ganzen sehr viel mehr Leiden und Repulsionen als Freuden und Attraktionen“ (ebd.: 734) mit sich gebracht habe. Soll das bedeuten, dass der Prozess der Zivilisation, der nach langen Zeiträumen der Disziplinierung der Körper, der immer genaueren Wahrnehmung und Einhegung ihrer Regungen endlich den „modernen Menschen“ hervorgebracht hatte, durch diese Veränderungen dem Menschen nun nicht ein Mehr an Freiheit, sondern ein Mehr an Belastung aufgebürdet hat? In seinen frühen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten hatte Karl Marx noch vor Simmel die Bildung der fünf Sinne „eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte“ genannt (Marx 2004: 315). Man kann die Stellen bei Marx und Simmel insoweit analog interpretieren, als beide davon sprechen, dass im Zuge einer Entwicklung des Menschen (zivilisatorisch bei Simmel wie später bei Elias, kommunistisch bei Marx) sich aus einem undifferenzierten (Körper-)Sinn ein differenzierter entwickelt. Wenn Marx an gleicher Stelle schreibt: „Es versteht sich, dass das menschliche Auge anders genießt als das rohe, unmenschliche Auge, das menschliche Ohr anders als das rohe Ohr etc.“ (ebd.: 314), meint dieses „anders“ ausschließlich eine Verbesserung. Bei Simmel hingegen rückt die Kehrseite dieser Entwicklung stark in den Blick:
7
Der vorliegende Beitrag fokussiert eine Argumentationslinie aus Hoffmann (2011).
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„Der moderne Mensch wird von Unzähligem chockiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere Empfindungsweisen ohne irgend eine Reaktion dieser Art hinnehmen. Die Individualisierungstendenz des modernen Menschen, die größere Personalität und Wahlfreiheit seiner Bindungen muß damit zusammenhängen.“ (Simmel 1992: 734)
In seinem Aufsatz über Die Großstädte und das Geistesleben (vgl. Simmel 1984) war genau dies die Erklärung für die charakteristische Blasiertheit des Großstädters, der für Simmel den typischen Exponenten des modernen Menschen darstellt. Weil in der Zusammenballung der Großstädte die Anzahl der Kontakte zu anderen Menschen geradezu explosionsartig zunimmt, muss sich der moderne Mensch gegen die Überfrachtung, die ihn schon als solche „chockiert“, wehren, indem er sich in prinzipielle Distanz zu allem begibt, indem er „statt mit dem Gemüte (…) mit dem Verstande reagiert“, sich ein „Schutzorgan“ schafft mit der „Blasiertheit“ (ebd.: 193). Ist die Abschottung gegen andere dort noch für Simmel das bewusst angestrebte Ziel, taucht sie im Exkurs über die Soziologie der Sinne in gleicher Weise als notwendige Folge der Sensibilisierung auf: „Mit seiner teils unmittelbar sensuellen, teils ästhetischen Reaktionsweise kann er sich nicht mehr ohne weiteres in traditionelle Einengungen, in enge Bindungen begeben, in denen nach seinem persönlichen Geschmack, nach seiner persönlichen Empfindlichkeit nicht gefragt wird. Und unvermeidlich bringt dies eine größere Isolierung, eine schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre mit sich.“ (Simmel 1992: 734)
Als später Schüler Simmels baut Erving Goffman auf genau dieser Aussage seine Theorie der „Territorien des Selbst“ (vgl. Goffman 1982) auf, bei der es dann um die Verletzung eben dieser Umgrenzungen geht. Im thanatosoziologischen Kontext – auf den sich Goffman nicht bezieht – ist es das schwer kranke oder sterbende Individuum selbst, das sein Territorium verletzt. Im Gegensatz zu Goffman, bei dem eine systematische Verknüpfung der Weisen der Übertretung von Territoriumsgrenzen mit den Sinnen, mit denen wir diese wahrnehmen, fehlt, wird bei Simmel sofort darauf hingewiesen, dass die schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre eng mit der Entwicklung des Geruchssinns verknüpft ist: „Vielleicht ist diese Entwicklung am Geruchssinn die bemerklichste: die hygienischen und Reinlichkeitsbestrebungen der Gegenwart sind davon nicht weniger Folge als Ursache.“ (Simmel 1992: 734 f.) Simmel spricht überaus treffend von der Kurzsinnigkeit des modernen Menschen, die das Nahfeld des Menschen umso intensiver wahrnimmt: „Im allgemeinen wird mit steigender Kultur
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die Fernwirkung der Sinne schwächer, ihre Nahwirkung stärker, wir werden nicht nur kurzsichtig, sondern überhaupt kurzsinnig (Hervorhebung MH); aber auf diese kürzeren Distanzen hin werden wir um so (sic!) sensibler.“ (Ebd.: 735) Es ist unmittelbar deutlich, dass für den Menschen in der besonderen Situation, in der wir ihn thematisch betrachten, nämlich als Kranken und Sterbenden, eben genau dieser Umstand von schwerwiegender Bedeutung ist. Wenn man überhaupt von räumlicher Distanz zu sich selbst sprechen kann, was Goffman tut, wie wir sehen werden, dann ist diese Distanz die kürzest denkbare, und insofern werden wir in Bezug auf uns selbst am sensibelsten. Im nicht-räumlichen Sinne hingegen ist es gerade die hochsensibilisierte Fähigkeit, sich selbst mit allen Sinnen wahrzunehmen, welche die schwer auszuhaltende Distanz zu der Person produziert, die man als man selbst ansehen muss, auch wenn sie von dem Bild abfällt, das man von sich hat. Simmel hat die Lebenssituationen im Allgemeinen im Auge, wenn er schreibt, dass „ein Mensch mit besonders feiner Nase durch diese Verfeinerung sicher sehr viel mehr Unannehmlichkeiten als Freuden (erfährt)“ (ebd.: 735). In ungleich stärkerem Maße gilt das natürlich für den schwerkranken Menschen und für den Sterbenden, auch schon zu Simmels Zeiten. Aber es sind die mitunter extrem prolongierten, über Jahre sich erstreckenden Sterbeverläufe, welche die dramatische Verschärfung für unsere Gegenwart ergeben. Die Sensibilität der Sinne dürfte sich seit Simmels Zeiten nicht qualitativ verändert haben, auch wenn sie sich vermutlich noch weiter verfeinert und ausdifferenziert hat. Zwar weist Jürgen Raab in seiner Soziologie des Geruchs zu Recht darauf hin, dass die „riechende Sozialordnung“, die „Wahrnehmung, die Interpretation, die Vermeidung und die Hervorbringung von Gerüchen in der modernen Gesellschaft auch sozial-strukturell differiert, d. h. abhängig ist von einem Lebensstil bzw. von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu“ (Raab 2001: 266). Aber die Gerüche, die wir im Zusammenhang des Sterbeprozesses behandeln, sind fast ausschließlich Exkrementgerüche. Diese Kategorie von Gerüchen aber ist als Ganze im Zuge des Zivilisationsprozesses unter Vermeidungsgebot gestellt worden und hat als solches Eingang gefunden in die Sozialisation der Menschen, unabhängig von Schicht- und Klassenfragen. Dass sich jenseits von Fäkaliengestank gravierende Differenzen in der Bewertung von Gerüchen finden, steht damit nicht infrage. Für Simmel noch war gar die soziale Frage eine „Nasenfrage“, wie er in einer berühmten Stelle im Exkurs über die Soziologie der Sinne ausführt: „Die für die soziale Entwicklung der Gegenwart oft so lebhaft befürwortete persönliche Berührung zwischen Gebildeten und Arbeitern (...) scheitert einfach an der Unüberwind-
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lichkeit der Geruchseindrücke. Sicher würden viele Angehörige der oberen Stände, wenn es im sittlich-sozialen Interesse gefordert wird, erhebliche Opfer an persönlichem Komfort bringen, auf vielerlei Bevorzugungen und Genüsse zugunsten der Enterbten verzichten (...). Aber alle solche Verzichte und Hingaben würde man sich tausendfach eher zumuten als die körperliche Berührung mit dem Volke, an dem ‚der ehrwürdige Schweiß der Arbeit‘ haftet. Die soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage. (...) kein Anblick der Proletariermisere (...) wird uns (...) so sinnlich und unmittelbar überwältigen, wie die Atmosphäre, wenn wir in eine Kellerwohnung oder in eine Kaschemme treten.“ (Simmel 1992: 733 f., Hervorhebung im Original, MH)
Auch für unser in Rede stehendes Thema des Sterbens lässt sich sagen, dass es heute eine „Nasenfrage“ ist. Aber nicht mehr im Sinne der Trennung von Proletariern und Bürgern, sondern in dem Sinne, dass für alle gilt, dass die Gerüche, die das Sterben begleiten, als beschämend empfunden werden. Daher resümiert auch Raab für die Moderne allgemein: „Somit ist der Prozeß der Zivilisation und damit auch die Moderne vor allen Dingen gekennzeichnet durch die Abtrennung und Vermeidung aller natürlichen, d. h. unbelassenen, ,nicht-modellierten‘ Gerüche und damit aller unkontrollierten Geruchsverhältnisse, die auf Unzivilisiertheit und letztlich Animalität verweisen.“ (Raab 2001: 350)
Was also „nach oben hin“ in immer feinere Unterschiede ausdifferenziert wird, hat seinen gemeinsamen Ausgangs- und Bezugspunkt doch in der Perhorreszierung von Exkrementen und ihren Gerüchen.
3.
ERVING GOFFMANS „TERRITORIEN DES SELBST“
Von den acht verschiedenen Territorien des Selbst, die Goffman identifiziert, interessiert uns vor allem das, was er die „Hülle“ nennt: „Die Hülle: die Haut, die den Körper schützt, und, in geringem Abstand davon, die Kleider, die die Haut bedecken. Zweifellos kann die Körperhülle auch als der kleinste aller möglichen persönlichen Räume und als in dieser Hinsicht minimale Konfiguration fungieren; sie kann aber auch als ein selbständiges Reservat fungieren.“ (Goffman 1982: 67)
Nun geht es ihm in seinem Text um die verschiedenen Arten der Aufrechterhaltung dieser Territoriumsgrenzen, respektive um die Arten, wie in der sozialen Interaktion diese Grenzen verletzt werden. Raab schreibt hierzu, dass die „Mar-
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kierung von Reservaten und deren rituelle Achtung durch die sozialen Anderen in der Interaktion (...) grundlegende Voraussetzungen für die Entwicklung und den Erhalt des Selbst (sind).“ (Raab 2001: 195) Wenn diese Reservate bzw. Bereiche verletzt werden durch „Eindringen, Einfall, Eingriff, Anmaßung, Übergriff, Beschmutzung und Kontamination“ (Goffman 1982: 74), wird damit auch das Individuum in seinem Persönlichkeitswert verletzt. Bei den Exkrementen unterteilt er die Übertretungen in vier Kategorien: „Erstens: Körperliche Ausscheidungen, die bei unmittelbarer Berührung zur Verunreinigung führen: Speichel, Nasenschleim, Schweiß, Nahrungsteile, Blut, Sperma, Erbrochenes, Urin und Fäkalien. (...) Zweitens: Gerüche: Blähungen, schlechter Atem und Körpergerüche. (...) Drittens ein geringfügiger Faktor: Die Körperwärme (...). Schließlich der harmloseste Fall: vom Körper zurückgelassene Markierungen (...) ein Beispiel sind Speisereste auf einem Teller.“ (Ebd.: 78)
Der Interaktionssoziologe Goffman interessiert sich hauptsächlich für Grenzverletzungen bei „Ansammlungen von mehreren Personen“ (ebd.: 74), dennoch aber hat er auch Selbstverletzungen dieser Territorien im Blick, die er danach unterscheidet, ob die Quelle des Schmutzes das Individuum selbst ist oder ob es sich mit Schmutzstoffen anderer Personen verunreinigt. Zu dieser zweiten Kategorie, die er auch als „Entwürdigung“ bezeichnet, zählt er zum Beispiel das Leertrinken stehen gelassener Bierkrüge, das Verzehren von Essensresten wie aber auch rituelle Handlungen wie die traditionelle Fußwaschung junger Priester durch den Papst während der Gründonnerstagsmesse. (Vgl. ebd.: 87) Für uns von größtem Interesse ist hingegen die Kategorie von Selbstverschmutzung, bei der „das Individuum als Quelle der Kontamination (sich selbst) als ein Reservat verunreinigt“ (ebd.: 85). Allerdings ist die einzige Form, die Goffman in den „Territorien des Selbst“ hierzu aufführt, die extreme und „in unseren psychiatrischen Anstalten immer seltener“ werdende Ausprägung, dass eine Person „sich mit den eigenen Fäkalien beschmiert und sie ißt“ (ebd.). Es ist also eine Form, in der man die sich selbst verschmutzende Person für nicht zurechnungsfähig hält. In seiner früheren Arbeit über Stigma (vgl. Goffman 1967) hingegen hatte er Lebenssituationen beschrieben, in denen sich voll zurechnungsfähige Personen zu ihrem Leidwesen immer wieder selbst beschmutzen oder doch ständig Gefahr laufen, sich selbst zu beschmutzen und größte Vorsichtsmaßnahmen dagegen ergreifen. Patienten etwa, die nach einer Operation einen künstlichen Darmausgang eingesetzt bekamen. Das Buch über Stigma verweist im Untertitel, Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, darauf, dass diese Vorsichtsmaßnahmen nicht „bloß“ einzig dazu dienen, eine unangenehme Situation zu vermeiden, sondern dass es hierbei um iden-
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titätsrelevante Verhaltenstechniken geht. Eine Person mit einem künstlichen Darmausgang hat eine „beschädigte Identität“, deren Auswirkungen auf die Interaktion mittels bestimmter Techniken bewältigt werden sollen. Goffman nennt diese permanente Selbstregulierung durch Vorsichtsmaßnahmen die Praxis des „an-der-Leine-Lebens“ (ebd.: 115). Die diskreditierbare Person, also eine Person, deren Stigma noch nicht bekannt ist und die dieses auch vor Entdeckung schützen will, steuert ihr Leben in ganz bestimmter Weise. Wobei „steuern“ geradezu wörtlich zu verstehen ist: Sie teilt sich ihr Leben in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ein, „wobei die diskreditierbare Person in der Nähe des Ortes bleibt, an dem sie ihre Verkleidung auffrischen kann und wo sie sich davon ausruhen kann, sie tragen zu müssen; sie entfernt sich von ihrer Ausbesserungsstation nur um die Distanz, aus der sie zurückkehren kann, ohne die Kontrolle über die Information über sich zu verlieren“ (ebd.). Diese Techniken werden von Goffman nicht im Kontext von schwerer Krankheit oder Sterben aufgeführt, sondern in den angezeigten Beispielen sind es Personen, die in der Lage sind, diese identitätssichernden Techniken selbst auszuführen. In unserem Zusammenhang von Sterben und schwerer Krankheit ist es in den allermeisten Fällen den betroffenen Personen nicht mehr möglich, solche Techniken einzusetzen, sondern sie sind meistens auf andere Personen angewiesen, um sich von ihrer Selbstbeschmutzung zu reinigen. In der Terminologie Goffmans sind sie nicht mehr diskreditierbare, sondern immer schon diskreditierte Personen hinsichtlich ihrer Identität. Um die Problematik der neuen Sterbeverläufe auf den Begriff zu bringen, ist die Verknüpfung von Goffmans Modell der Hülle mit seiner Stigma-Theorie hilfreich. Die Hülle, also vor allem die Haut der Personen wie auch ihre Kleidung, ist das engste und auch intimste Reservat, von dessen Sicherung die Aufrechterhaltung der Identität abhängig ist. Die Beschreibungen, die sich in den Berichten von Leinemann, Schlingensief und Diez finden,8 zeigen überaus häufig Verletzungen und Verschmutzungen dieses Territoriums durch Fäkalien oder Schleim. Die eingangs zitierten 80 Prozent der Befragten, die sich wünschen „plötzlich und unerwartet“ zu sterben, geben damit ihrer tiefen Furcht davor Ausdruck, solchen Situationen ausgesetzt zu sein, welche sie mit langen Sterbeverläufen und Siechtum verbinden. Das schwer zu Ertragende liegt dabei darin, den eigenen Körper, der einem normalerweise selbstverständlich vertraut ist, plötzlich als fremd zu empfinden. Die Gewissheit der eigenen Identität gerät dabei in größte Gefahr. In seiner Arbeit über die Interaktionsordnung stellt Goffman fest, dass
8
Vgl. oben Fn.4.
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soziale Situationen dadurch definiert sind, „daß wir an ihnen nur dann teilnehmen können, wenn wir unseren Körper und seine dazugehörige Ausstattung einbringen“ (Goffman 1994: 60, zitiert nach Raab 2001: 161). Die sich einbringenden Individuen werden bei Goffman auch als „bewegliche Einheiten menschlicher Art“ bezeichnet und ihre Körper als Fortbewegungseinheiten. Der Körper ist dabei „ein Gehäuse, das (gewöhnlich von innen) von einem menschlichen Piloten oder Navigator gelenkt wird“ (Goffman 1982a: 27, zitiert nach Raab 2001: 162). Raab gibt zu dieser knappen Aussage eine für unseren Zusammenhang sehr instruktive Interpretation: „Mit dieser Formulierung deutet Goffman vermutlich an, daß der menschliche Körper vom Individuum u. U. als etwas Fremdes, Eigenständiges, vom Geist Losgelöstes und Unabhängiges erfahren wird, als etwas, das ein Eigenleben führt bzw. führen kann. Dies wird z.B. dann offensichtlich, wenn der „Navigator“ die Kontrolle über seine „Fortbewegungseinheit“ verliert, diese sich in irgendeiner Form selbständig macht, sich aufgrund ihrer ,Biologie‘ in den Vordergrund der Wahrnehmung drängt, von Außen manipuliert oder gewaltsam – z.B. durch einen Unfall – in ihrer äußeren Form verändert wird.“ (Raab 2001: 162, Fn. 8, Hervorhebungen MH)
Die von den Menschen unserer Gegenwart gefürchteten Sterbeverläufe sind geradezu dadurch gekennzeichnet, dass die Sterbenden ihren Körper als etwas Fremdes erfahren, was ein Eigenleben führt. Wenn die eingangs zitierten Befragten den körperlich-geistigen Verfall als das Schlimmste bei einer schweren Krankheit oder beim Sterben finden, nämlich den Verlust der Kontrolle über die Körperfunktionen und den drohenden geistigen Verfall, dann entspricht das exakt dem Navigator, der die Kontrolle über seine Fortbewegungseinheit verliert. In Goffmans Begrifflichkeit aus den „Territorien des Selbst“ ist also die Angst vor der Verschmutzung oder gar Zerstörung des „leibgebundenen Territoriums“ der Hülle das, was die Menschen an ihrem Sterben ängstigt und weshalb sie sich einen plötzlichen und unerwarteten Tod wünschen. Dass sie selbst es sein könnten, die aufgrund des Verlusts der Kontrolle über die Körperfunktionen ihr leibgebundenes Territorium beschmutzen, ist es, was den Menschen Angst macht und was sie zutiefst beschämt, wenn es ihnen passiert.
4.
NORBERT ELIAS: „SCHAM“ UND „PEINLICHKEIT“
Unabhängig von der Frage, ob „Scham“ zur anthropologischen Ausstattung des Menschen gehört oder nicht, und auch unabhängig davon, dass selbstverständ-
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lich auch in vormodernen Gesellschaften „Scham“ eine große Rolle gespielt hat, liegt unser Interesse auf der ungemein folgenreichen Verschiebung der Scham- und Peinlichkeitsschwellen, die Norbert Elias in seiner Arbeit Über den Prozeß der Zivilisation (Elias 1997) so eindrucksvoll beschrieben hat. Elias verstand Zivilisation ja gerade vor allem als einen über lange Zeiträume sich erstreckenden Prozess der Selbstdomestikation. Alles, was triebbedingt und damit unreglementiert am menschlichen Verhalten zutage tritt, wird einer kulturellen Überformung unterworfen. Die körperlichen Regungen wie Niesen, Schwitzen, Defäzieren und dergleichen werden unter Kontrolle gestellt. Der Körper soll dem Individuum gefügig gemacht werden. Zu dieser äußeren kommt die innere Selbstbeherrschung des Menschen: Der ganze Gefühlshaushalt, vornehmlich von Hass oder Liebe gespeiste Regungen, wird kontrolliert. Damit ist nicht zu verwechseln, dass er eo ipso auch als gehemmt oder gedämpft anzusehen wäre. Es ist gerade das Verfügen über den Gefühlshaushalt, die Fähigkeit zur Kontrolle der Affekte, was eine immense Steigerung derselben ermöglicht. Kontrolle und Exzess stehen hier in einem dialektischen Verhältnis. Oder pointierter ausgedrückt: Der Exzess ist selbst das Resultat der Kontrolle, denn die Kontrolle dieser Empfindungen ist die Bedingung der Möglichkeit ihres exzessiven Einsatzes. Als Grund oder als Motiv für diesen entbehrungsreichen und schwierigen Prozess der Selbstzucht hatte Elias zum einen die langen Interdependenzketten und komplexen Handlungsgeflechte genannt, die im Zuge der Entwicklung des Gewerbes und des sich bildenden globalen Handels entstehen. „Dem entspricht die Notwendigkeit einer Abstimmung des Verhaltens von Menschen über weite Räume hin und eine Voraussicht über weite Handlungsketten, wie noch nie zuvor. Und entsprechend stark ist auch die Selbstbeherrschung, entsprechend beständig der Zwang, die Affektdämpfung und Triebregelung, die das Leben in den Zentren dieses Verflechtungsnetzes notwendig macht.“ (Ebd., Bd. 2: 337)
Zum anderen aber sah er als Ursache dieser zivilisatorischen Entwicklung die Situation am Hofe im Frankreich des 17. Jahrhunderts an, die den Höfling einer permanenten sozialen Kontrolle durch die anderen Höflinge aussetzt. Die Regeln der Etikette nicht zu verletzen und bei Intrigen möglichst erfolgreicher Intrigant, keinesfalls aber Opfer zu werden, sind die Bedingungen sozialen Erfolgs bei Hofe. Daher ist die innere wie die äußere Domestikation des Körpers notwendig. Diese Bedingungen sind dem Höfling wie äußere Zwänge, die er, ganz wie der Insasse des von Foucault beschriebenen Bentham’schen Panoptikons, als Selbstzwänge in das eigene Innere verlagert und die derart verinnerlicht (im wahren Wortsinne „inkorporiert“) dort als handlungsleitende Instanz fungieren (vgl. da-
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zu Foucault 1994). Genau in diesem Zusammenhang nun kommt es zur Bildung von „Scham“ und „Peinlichkeitsempfinden“ in Bereichen, die vorher, wenn überhaupt, so nur in sehr geringem Maße mit einer Möglichkeit für Scham verknüpft waren. Wichtig ist aber auch hier, dass es nicht einfach eine quantitative Zunahme an Scham in einer Gesellschaft ist, sondern eine Neubestimmung der sozialen Schamareale. „Nicht weniger bezeichnend als die ,Rationalisierung‘ des Verhaltens ist für den Prozeß der Zivilisation zum Beispiel etwa auch jene eigentümliche Modellierung des Triebhaushaltes, die wir als ,Scham‘ und ,Peinlichkeitsempfinden‘ zu bezeichnen pflegen.“ (Elias 1997, Bd. 2: 408)
Das Gefügigmachen des Körpers, die Zurichtung der Natur durch die Kultur, gepaart mit dem Entstehen von Scham und Peinlichkeitsgefühlen machen die Zivilisation aber zu einer unter Umständen zweischneidigen Waffe wie Elias selbst in anderem Zusammenhang schreibt.9 Wie wir bei Simmel gesehen haben, ist der mit einem hochsensiblen Geruchssinn ausgestattete moderne Mensch höchst „chokiert“, wenn er mit Fäkalgestank konfrontiert ist. Elias verweist ausdrücklich darauf, dass dies für die vormoderne Welt in Europa keineswegs in dem Maße galt: „Weder die Verrichtungen selbst noch das Sprechen darüber oder Assoziationen dazu sind in dem Maße intimisiert, privatisiert, mit Scham- oder Peinlichkeitsgefühlen belegt, wie später.“ (Ebd., Bd. 1: 272) Wenn sie das aber erst einmal sind, ist der Weg in den Zustand ex ante versperrt. Unvermeidbar wird das sterbende Individuum von Schamgefühlen ergriffen, wenn es in den langen Phasen des Sterbens zusehends die Kraft verliert, die kulturelle Überformung und Einhegung seiner natürlichen Bedürfnisse und Verrichtungen aufrechtzuerhalten. Aber gleichzeitig kann es sich nicht vom inkorporierten Zwang zu eben dieser Einhegung befreien. Der Körper entgleitet der Verfügbarkeit des Individuums, dieses aber hält am Anspruch der Verfügung über sich fest und gerät mit sich darüber in einen schwer erträglichen Widerspruch. Denn die bestehende Drohung ist die soziale Degradierung durch Andere, der originäre Fremdzwang, der zum verinnerlichten Selbstzwang geworden war.
9
Wenn nämlich in einer weitgehend pazifiziert-zivilisierten Welt die Triebdämpfung und Kontrolle der aggressiven Affekte so weit verinnerlicht ist, dass bei realer körperlicher Bedrohung dem zivilisierten Individuum die schiere Möglichkeit physischer Selbstverteidigung gar nicht mehr zu Gebote steht. Zivilisation ist deshalb unter Umständen eine zweischneidige Waffe, weil sie auf zivilisierte Umstände angewiesen ist.
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„Das Schamgefühl ist (...), oberflächlich betrachtet, eine Angst vor sozialer Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer; aber es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt und sich dadurch auszeichnet, daß der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muß, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann. Diese Wehrlosigkeit vor der Überlegenheit Anderer, dieses völlige Ausgeliefertsein an sie stammt nicht unmittelbar aus der Bedrohung durch die physische Überlegenheit Anderer, die hier und jetzt gegenwärtig sind, obwohl sie ganz gewiß auf physische Zwänge, auf die körperliche Unterlegenheit des Kindes gegenüber seinen Modelleuren zurückgeht. Beim Erwachsenen aber kommt diese Wehrlosigkeit daher, daß die Menschen, deren Überlegenheitsgesten man fürchtet, sich in Einklang mit dem eigenen Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten befinden, mit der Selbstzwangapparatur, die dem Individuum durch Andere (...) herangezüchtet worden ist.“ (Ebd., Bd. 2: 408)
Das ist der Aspekt, auf den es uns mit unserem Vorschlag zum Begriff des „sozialen Sterbens“ ankommt. Noch einmal sei verwiesen auf die rund 30 Prozent der Befragten, für die der Verlust der Kontrolle über die Körperfunktionen das Schlimmste an einer schweren Krankheit war und dass diese Angst der dominierende Aspekt der Furcht vor dem Sterben war. „Die Scham-Erregung erhält ihre besondere Färbung dadurch, daß der, bei dem sie sich einstellt, etwas getan hat oder etwas zu tun im Begriff ist, durch das er zu gleicher Zeit mit Menschen, mit denen er in dieser oder jener Form verbunden ist oder war, und mit sich selbst, mit dem Sektor seines Bewußtseins, durch den er sich selbst kontrolliert, in Widerspruch gerät; der Konflikt, der sich in Scham-Angst äußert, ist nicht nur ein Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert; es ist ein Konflikt seines eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an. Er fürchtet den Verlust der Liebe oder Achtung von Anderen, an deren Liebe und Achtung ihm liegt oder gelegen war.“ (Ebd.: 409)
Aus dieser Beschreibung ergibt sich auch, dass die von uns in den Blick gefasste Form des „sozialen Sterbens“ in dieser Hinsicht gerade unabhängig ist vom tatsächlichen Verhalten der Angehörigen oder Hospizkräfte oder allgemein von der Umwelt. Dass das Miterleben von Sterbeprozessen bei Anderen, das Ertragen von Gestank und optischer Entstellung für den derart psychisch modellierten Menschen selbst auch ein Problem ist, liegt auf der Hand. Diese Empfindungen benennt Elias dann allerdings nicht als Scham, sondern als „Peinlichkeitsgefühle“:
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„Sie bilden ein unabtrennbares Gegenstück zu den Schamgefühlen. Wie diese sich herstellen, wenn ein Mensch selbst gegen Verbote des Ich und der Gesellschaft verstößt, so stellen jene sich ein, wenn irgend etwas außerhalb des Einzelnen an dessen Gefahrenzone rührt, an Verhaltensformen, Gegenstände, Neigungen, die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich diese Angst – nach Art eines ‚bedingten Reflexes‘ – bei analogen Gelegenheiten in ihm automatisch wieder erzeugt. Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht.“ (Ebd.: 414, Hervorhebung MH)
Wenn von Abschiebung der Sterbenden in Institutionen im Zusammenhang mit sozialem Sterben gesprochen wird, dann ist es diese Kategorie an Empfindungen, die man zivilisationstheoretisch dafür verantwortlich machen muss. So heißt es etwa bei Philippe Ariès in seiner weit ausgreifenden Studie zur Geschichte des Todes dazu: „Der Tod flößt nicht mehr nur wegen seiner absoluten Negativität Angst ein, sondern verursacht auch geradezu Übelkeit, genau wie irgendein ekelerregendes Schauspiel. Er wird unschicklich, wie die biologischen Vorgänge im Menschen, wie die Ausscheidungen seines Körpers. Es ist unanständig, ihn vor der Öffentlichkeit auszubreiten. Man erträgt es nicht mehr, daß jeder beliebige in ein Zimmer eintreten kann, das nach Urin, Schweiß, Wundbrand oder schmutzigen Bettlaken riecht.“ (Ariès 2002: 728, Hervorhebungen im Original, MH) Erstaunlicherweise findet sich bei Elias in seinem Buch Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen (Elias 1982) gerade keine systematische Verknüpfung mit seiner eigenen Theorie der Bildung von Ekel- und Schamgefühlen. Eine solche Verknüpfung nämlich müsste zu der Tatsache, dass die gegenwärtige „Gesellschaft“ in extrem ausgeprägterer Weise auf Gestank und Fäkalien reagiert als noch die Gesellschaft des Mittelalters oder der frühen Neuzeit, auch genauso selbstverständlich in Betracht ziehen, dass sich doch eben diese gesellschaftlichen Hygiene- und Reinlichkeitsstandards notwendigerweise in den Individuen als Scham- und Ekelgrenzen selbst auch fest verankert finden. Das gerade ist ja der Kern seiner eigenen Zivilisationstheorie. Auch bei Georg Simmel wird die Scham in verwandter Weise thematisiert. Sie ergibt sich für ihn aus dem Widerspruch, den ein Mensch empfindet zwischen seinem öffentlich in Anspruch genommenen Selbstbild – seiner Würde – und einer Situation im Anblick der Mitwelt, die diesem Anspruch fundamental widerspricht: „Denn er (der betroffene Mensch, MH) empfindet jetzt seine ganze Persönlichkeit mit allem Inhalt … in die Aufmerksamkeit des Begegnenden gerückt, und zugleich, dass sein momentanes Ich, gegen diese Vorstellung gehal-
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ten, verringert und herabgesetzt ist.“ (Simmel 2016: 143) In ganz ähnlichem Sinne hat Erving Goffman davon gesprochen, „dass das Selbst zum Teil ein zeremonielles geheiligtes Objekt ist, das man mit angemessener ritueller Sorgfalt behandeln muss“ (Goffman 2019: 100).10
FAZIT Der hier entwickelte Vorschlag zum Begriff des „sozialen Sterbens“ geht also dahin, die Erosion der zivilisatorisch-sozialen Identität, und zwar die von den Sterbenden selbst wahrgenommene Erosion dieser Identität, als wichtigen Aspekt des Sterbens begrifflich zu fassen. Die Bedingung der Möglichkeit, den Begriff so zu verstehen, sind zum einen die langen, teils über mehrere Jahre sich erstreckenden Sterbeverläufe, die sich massiv in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch den medizinischen Fortschritt ergeben haben. Zum anderen aber ist entscheidend, dass diese langen Sterbephasen typischerweise fast bis zum Schluss bei zumindest immer wieder klarem Bewusstsein durchlebt, eben erlebt werden, wodurch sich die Entfremdung vom eigenen Selbst ergibt. Nur im bewussten Zustand und in der Interaktion, zumindest im wahrgenommenen Beisein von anderen, kann sich die Beschämung des Sterbenden ob seiner Beschmutzung des „Territoriums des Selbst“ einstellen. Diese Aspekte, die entlang der klassischen soziologischen Theorien von Georg Simmel, Norbert Elias und Erving Goffman und anhand eigener empirischer Daten herausgearbeitet werden sollten, gehören unseres Erachtens zu einem Begriff des „sozialen Sterbens“, welcher der gegenwärtigen Situation angemessen ist. Wenn man für diesen Begriff des „sozialen Sterbens“ eine prägnante Beschreibung nennen will, die in ihrer drastischen Detailgenauigkeit zwar schwer erträglich ist, eben damit aber gerade der Realität adäquat ist, auf die sich die Angstprofile der Menschen beziehen, dann ist es eine Szene, die der Schriftsteller Philip Roth in seinem Buch über seinen Vater schildert, der an einem Hirntumor verstarb: „Gegen Ende der Mahlzeit schob er seinen Stuhl zurück und ging in Richtung der Stufen zur Küche. Es war das dritte Mal, daß er während des Essens vom Tisch aufstand, und ich
10 Die Scham im Sinne Simmels über sichtbar gewordene Schuld oder die Empfindung der Profanierung der Heiligkeit des Selbst im Sinne Goffmans kann für Menschen so schwerwiegend sein, dass sie als einzigen Ausweg die Selbsttötung sehen. Vgl. dazu Hahn/Hoffmann (2012), Hahn (2016) sowie Hahn (2010).
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erhob mich ebenfalls, um ihm die Treppe hinaufzuhelfen. Er wollte jedoch nicht, daß ich ihm half, und da ich mir vorstellte, daß er wiederum einen Versuch machte, seinen Darm zu entleeren, wollte ich ihn nicht in Verlegenheit bringen, indem ich mich aufdrängte. Wir tranken unseren Kaffee, als mir auffiel, daß er immer noch nicht wiedergekommen war. Ich verließ still den Tisch und schlich mich ins Haus, während die anderen miteinander sprachen, in der Gewißheit, daß er tot sei. Er war es nicht, doch er mochte durchaus wünschen, er wäre es. Ich roch die Scheiße auf der halben Treppe zum oberen Stockwerk. Als ich zu seinem Badezimmer kam, stand die Tür weit offen, und auf dem Fußboden des Ganges vor dem Badezimmer lagen seine Jeans und seine Unterhose. In der Badezimmertür stand mein Vater, völlig nackt; er war gerade aus der Dusche gekommen und tropfnaß. Der Gestank war überwältigend. Bei meinem Anblick brach er fast in Tränen aus. Mit einer Stimme, so verloren, wie ich sie nur je von ihm oder irgend jemand anderem gehört hatte, sagte er, was zu vermuten nicht schwer gewesen war. „Ich habe mich vollgemacht“, sagte er. Die Scheiße war überall, auf der Badematte unter den Füßen verschmiert, über den Rand der Toilettenschüssel verteilt und unterhalb der Schüssel auf dem Fußboden in einem Haufen. Sie war über das Glas der Duschkabine versprenkelt, aus der er gerade herausgekommen war, und die Klumpen klebten an den Kleidungsstücken, die im Flur abgeworfen lagen. Sie war auch an einem Zipfel des Badetuchs, mit dem er sich abzutrocknen begonnen hatte. Er hatte in diesem kleinen Badezimmer, das normalerweise das meine war, versucht, sich allein aus seiner mißlichen Lage zu befreien, doch da er nahezu blind war und gerade erst aus dem Krankenhausbett aufgestanden war, hatte er, indem er sich entkleidete und unter die Dusche ging, es geschafft, die Scheiße überall auszubreiten. Ich sah, daß sie sogar an den Spitzen der Borsten meiner Zahnbürste war, die im Halter über dem Waschbecken hing. (...) „Du hast dich wacker geschlagen“, sagte ich, „doch ich fürchte, die Situation war nicht zu meistern.“ „Ich habe mich vollgemacht“, sagte er, und jetzt löste er sich in Tränen auf.“ (Roth 2008: 149 ff.)
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II. Methodologien und Methodiken
Wie erforscht man das Sterben? Methodologische Überlegungen Christine Dunger und Martin W. Schnell
Aus der sozialen Konstruiertheit von Tod und Sterben, welcher sich der Sammelband widmet und die in den verschiedensten Kapiteln deutlich wird, folgt unter anderem der Anspruch einer sozialwissenschaftlich geprägten Forschungsperspektive und -agenda (vgl. Schnell u.a. 2013: 7, Coenen/Meitzler 2021: 1). Um diesen Zusammenhang darzustellen, bedarf es einer ontologischen und epistemologischen Positionierung, die dem Gegenstandsbereich gerecht wird. Noch zuvor muss jedoch der anvisierte Gegenstand der Forschung, das Modell des Forschungsobjektes, selbst klar beschrieben werden. Was bedeutet also Sterben? Was bedeutet Tod?
1.
STERBEN UND TOD ALS GEGENSTAND VON FORSCHUNG
Sterben ist Bestandteil des Lebens und wird zugleich als gegensätzlich erlebt, da am Ende des Prozesses der Tod steht. Empirische Studien, die sich dem Tod widmen, ohne Tod und Sterben direkt aufeinander zu beziehen, sind selten. Obwohl der Tod für Menschen, wie für jedes andere Lebewesen, unausweichlich ist, kann niemand aus eigener Anschauung die Frage, wer oder was der Tod ist, befriedigend beantworten. Wie Martin W. Schnell in seinem Kapitel zu Tod als Andersheit beschreibt, liegt dies darin begründet, dass niemand den eigenen Tod erfahren und reflektieren kann, weil unser jeweiliges Ich, dass eine solche Reflexion leisten könnte, im Tod selbst verstirbt und daher kein Zeugnis über den Tod ablegen kann. Aus dieser Sachlage haben viele Forscher die Konsequenz gezogen, nicht mehr direkt nach dem Was des Todes, sondern eher nach dem Wie des
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Sterbens zu fragen. „Wie ist uns der Tod zugänglich?“ Dieser Umweg erscheint nötig, um indirekte Einblicke in das Was des Todes erlangen zu können (vgl. Schnell/Schulz-Quach/Dunger 2018: 41). Studien zum Wie des Sterbens greifen Versorgungssituationen, die Belastungen von Begleiter:innen, das Erleben des Sterbeprozesses von Betroffenen und deren Angehörigen oder Trauer sowie die Angst vor Sterben und Tod auf. Das durchlebte und begleitete Lebensende von Patient:innen ist jedoch durch eine spezielle Diversität geprägt, die in Alltagspraxis und Forschung berücksichtigt werden muss. Damit ist eine Besonderheit sozialer Beziehungen gemeint, die es nur am Lebensende gibt, die das Lebensende selbst gar ausmacht: Ein Mensch wird in absehbarer Zeit versterben und damit die Welt verlassen, die anderen, ihn begleitenden Menschen (Angehörige, Heilberufler:innen, freiwillige Helfer:innen) werden weiterleben und das Sterben des Versterbenden organisieren. Diese Diversität zeigt sich als eine Asymmetrie von Lebensbeendigung und Fortleben innerhalb derer die Welt als gemeinsam geteilter Lebensraum langsam versinkt (vgl. Schnell/Schulz-Quach 2020: 19 f.). Davon ausgehend, so der Ansatzpunkt dieses Kapitels, sollte ein methodischer Zugang zum Tod drei Perspektiven voneinander unterscheiden. Jankélévitch spricht vom „Tod in der dritten, in der zweiten und in der ersten Person“ (Jankélévitch 2015: 34). Alle drei Perspektiven erschließen den Tod jeweils anders und daher auch andere Seiten des Todes, welche bereits in der Vergangenheit in Philosophie und Psychologie thematisiert worden sind. Sie ermöglichen auch eine differenzierte Betrachtung der sozialen Konstruiertheit von Sterben, da sie das Thematisieren verschiedener sozialer Ordnungsmuster untergliedern. Sozialwissenschaftliche Forschung zu Tod und Sterben kann den gesellschaftlichen Umgang mit Tod und Sterben sowie kulturelle und habitualisierte Handlungen ebenso adressieren, wie die Auswirkungen des eigenen Todes oder das Sterben (naher) Anderer auf die Identität eines Menschen. Über beides – das Was des Todes und das Wie des Sterbens – sowie die damit verbundenen Erfahrungswelten gibt es noch immer wenig Erkenntnisse. Wenngleich sich das Fachgebiet Palliative Care und auch die damit verbundene Forschung in den letzten 20 Jahren enorm weiterentwickelt haben, firmieren die meisten Studien und Großprojekte im klinischen Bereich und folgen palliativmedizinischen Fragestellungen. Zugleich zeigt sich, dass, auch international, durchaus Forschung zu den verschiedenen Erfahrungswelten im Bereich der Versorgung am Lebensende umgesetzt wird. Zwei Reviews, die sich mit der Palliative Care und End-of-life-Forschung in Schottland (vgl. Finucane u.a. 2018: 2) und Irland (vgl. McIlfatrick/Muldrew/Hasson 2018: 2) beschäftigen, zeigen beispielhaft, dass die Anzahl der Studien zunahm, d. h. in den betrachteten Zeit-
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räumen jeweils immer mehr Studien durchgeführt wurden. Dabei standen vor allem Fragen zum Versorgungssetting und zu den Einstellungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe im Mittelpunkt. Aber auch Fragen zu Kommunikation und Bildung, die Erfahrungen mit der Versorgung am Lebensende und Bedürfnisse sowie körperliche Symptome wurden untersucht. Für Schottland zeigte sich, dass 73 Prozent der Studien deskriptiv waren und lediglich 10 Prozent der Studien als Interventions- oder Machbarkeitsstudien gezählt werden können (vgl. Finucane u.a. 2018: 5). Mit Blick auf die genutzten Methoden ist jedoch festzuhalten, dass lediglich 30 Prozent der betrachteten Studien qualitativen Verfahren folgten. Für Irland wird ebenfalls festgehalten, dass ein wesentlicher Teil der Studien deskriptiv ist und eher Evidenz zu Bedürfnissen, Erfahrungen, Perspektiven und Kontexten liefert, als Interventionen zu testen (vgl. McIlfatrick/Muldrew/Hasson 2018: 7). Mit 23 Prozent liegen hier die qualitativen Verfahren noch unter dem Anteil in Schottland, wobei der Anteil an Mixed Methods Studien weit höher ist (25 %). Es besteht weiterhin ein Forschungsbedarf, der sich auf Sachthemen wie die subjektiven Sichtweisen von Patient:innen und Angehörigen, auf Interaktionen am Lebensende, auf Lebenswelten des Sterbens sowie Bestattens und nicht zuletzt auf soziale Strukturen von Versorgungseinheiten bezieht. Diese und andere Sachthemen können durch sozialwissenschaftlich ausgerichtete Studiendesigns und Methoden erschlossen werden und werden unter anderem unter dem Begriff der Thanatologie (Sterbeforschung) oder dem der Thanatosoziologie bearbeitet. In einem Beitrag zu qualitativ forschender Thanatosoziologie thematisieren Coenen und Meitzler die Merkmale ebendieser interdisziplinäre Ansätze nicht ausschließenden, aber vornehmlich soziologischen Forschungsrichtung als „epistemologischen Grenzen, die (Außer-)Alltäglichkeit des Forschungsgegenstandes, der erschwerte Feldzugang, (implizite) Normen und Pietätsgebote sowie die besondere Gewichtung der Forschungsethik“ (Coenen/Meitzler 2021: 44). Im Folgenden werden diese Aspekte ebenfalls berührt. Aus der Gesundheitsforschung kommend sind die eingenommenen Zugangsweisen jedoch nicht „fachfremd“, d. h. aus rein soziologischer Perspektive angelegt.
2.
WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN
Wissenschaftstheorie ist eine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeiten und deren Grenzen, durch die methodisch verfahrende Forschungen empirische Wahrheit, Sinn und Bedeutung hervorbringen (vgl. Schnell/Kolbe 2013: 9). Es handelt sich somit nicht um abstrakte Theorien, die ohne Bezug zur Forschungs-
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praxis oder zum Gegenstand auskommen. Vielmehr werden theoretische Überlegungen genutzt, um die fachspezifischen Methoden und deren Verknüpfung zum Forschungsgegenstand zu reflektieren. Da die in Forschungsthemen zur Versorgung am Lebensende eingesetzten Methoden der empirischen Sozialforschung vielfältig sind, können auch verschiedene wissenschaftstheoretische Ansätze differenziert werden. Es sind sowohl hermeneutisch geprägte, theoriegenerierende, als auch positivistisch orientierte, hypothesentestende Ansätze denkbar. Beide Forschungstraditionen haben ihre jeweiligen Begründungsrahmen, Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen, d. h. grundsätzlich verschiedene Annahmen über die Wirklichkeit und darüber, wie wissenschaftliche Erkenntnis generiert werden kann (vgl. Schnell/Dunger 2021: 2 ff.). In diesem Sinne ist, auch für die Erforschung des Sterbens, grundsätzlich immer von einem notwendigen Methodenpluralismus auszugehen. Weder qualitative noch quantitative Forschungsmethoden sind zu bevorzugen. Ihr Einsatz orientiert sich an Fragestellung und Erkenntnisinteresse. Dies kann auch die Notwendigkeit einer Triangulation oder eines Mixed Methods Designs implizieren. 2000 schreibt Strang „Qualitative research methods can be used as a complement to quantitative methods in palliative research. Possible applications are 1) for the induction of hypotheses, 2) for the development of quality-of-life instruments, 3) for the exploration of complex phenomena and personal experiences, 4) for studying attitudes, 5) for the observation of interactions and 6) for validation of quantitative results.“ (Strang 2000: 911) Erkenntnistheoretisch ist auch die oben benannte Nicht-Erlebbarkeit des Todes relevant. Der Tod selbst ist weder existenziell noch methodisch greifbar, daher stehen der Umgang mit dem Tod, seine soziale Konstruiertheit und das Sterben im Mittelpunkt. Coenen und Meitzler verweisen zudem darauf, dass 1. auch die durch uns gesetzten Grenzen zwischen Leben und Tod historisch und kulturell variieren und 2. die Erforschung des Todes eine besondere Form der Selbstbeanspruchung der Forschenden als leibliches, d. h. sterbliches Wesen und soziales Individuum bedeuten (vgl. Coenen/Meitzler 2021: 12 ff.). In Anlehnung an Ludwik Flecks Arbeiten zu Denkstilen und -kollektiven sind bei dieser Betrachtungsweise zwei Aspekte herauszuheben, die erkenntnistheoretisch wichtig sind und auch für die Rolle der Forschenden wichtig erscheinen. Fleck beschreibt, dass Menschen verschiedenen Denkkollektiven angehören, d. h. einer Gemeinschaft von Menschen, „die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ (Fleck 2017: 54) und sie dadurch einen bestimmten, historische und kulturelle Entwicklungen sowie Wissensbestände des jeweiligen Gebietes innehabenden Denkstil entwickeln. Dieser Denkstil leitet unsere Wahrnehmung und bedingt in gewisser Weise unser Wissen darüber, was relevant ist,
Wie erforscht man das Sterben? | 141
wie sich ein wahrgenommener Gegenstand darstellt und auch, wie er beschrieben werden kann. Dies führt möglicherweise auch dazu, dass gewisse Widersprüche oder Atypisches nicht wahrgenommen oder nicht erkannt werden. Der Denkstil beeinflusst zudem, welche Probleme uns interessieren, welche Urteile wir für evident halten und welche Methoden wir verwenden, um uns Wissen anzueignen. Er ist jedoch nicht unveränderlich, sondern unterliegt einem kontinuierlichen Wandlungsprozess. Im Forschungskontext hat das grundsätzlich Implikationen für die Subjektivität von Forschenden und ihre Selbstreflexion – nicht nur in der qualitativen Forschung. Mit Blick auf Forschung zu Sterben und Tod sind weiterhin die besondere Bedeutung der sozialen Konstruiertheit von Sterben und Tod auch angesichts der prägenden privaten-lebensgeschichtlichen sowie beruflichen Denkstile Forschender zu berücksichtigen. So ergibt sich daraus der bereits angesprochene Unterschied zwischen Forschenden, die keine berufspraktische Erfahrung in der Begleitung am Lebensende haben und Forschenden, die aus einer bestimmten Profession heraus ihr Arbeitsgebiet erforschen. Während die einen sich mit Fremdheit, möglicherweise unerwarteten Anforderungen oder besonderen Erwartungen an ihre Integrität konfrontiert sehen, wie es Coenen und Meitzler (2021: 29 ff.) mit Blick auf Feldzugang, Forschungsethik und reflektierte Subjektivität beschreiben, stellt sich für die anderen die Herausforderung, das eigene Denkkollektiv mit seinen Perspektiven reflektieren und in gewisser Hinsicht verlassen zu können. Die nun folgenden Beispiele zu thanatologischen und palliativen Studien stellen eine methodenplurale Forschung am Lebensende dar, die der sozialen Konstruiertheit von Sterben Rechnung trägt. Sie thematisieren zudem Vulnerabilität (Beispiel 1), Feldzugang (Beispiel 2) und Subjektivität (Beispiel 3) als zentrale Bestandteile von Forschung zu Sterben und Tod.
3.
STERBEFORSCHUNG UND FORSCHUNG AM LEBENSENDE
In Anlehnung an Jankélévitch werden folgend drei beispielhafte Forschungsthemen vorgestellt, mögliche methodische Herangehensweisen benannt und durch entsprechende Studienbeispiele ergänzt. Tabelle 1 fasst diese Darstellung kurz zusammen.
142 | Christine Dunger und Martin W. Schnell
Tabelle 1: Beispiele Perspektive
Forschungsthemen
Ziel(e)
Beispiel
1. Person:
• Das bio-psycho-
• Verstehen der Per-
Der Patient am Le-
den eigenen
soziale Erleben des
spektive sterbender
bensende – Gesprä-
Tod durch-
Sterbeprozesses
Menschen
che zwischen Pallia-
leben
• Erlebte Lebensqua-
• Begleitung ermög-
tivpatienten und Me-
lität am Lebensende
lichen und verbes-
dizinstudierenden am
sern
Lebensende (vgl.
• Angst und Furcht vor dem eigenen
Schulz 2012)
Tod 2. Person:
• Haltungen und Ein-
• Wissen, Haltung
Werthaltungen von
für den Tod
stellungen gegen-
und Fertigkeiten
Palliativ- und Inten-
eines/r Ande-
über dem Lebens-
begleitender Perso-
sivmedizinern bei
ren Verant-
ende und/oder be-
nen (professionelle
Therapieentschei-
wortung über-
stimmten Maßnah-
Helfer, Angehörige
dungen mit
nehmen
men
usw.) beschreiben
nicht-einwilligungs-
• Belastungen durch
3. Person:
• Belastungen und
die Begleitung an-
notwendige Unter-
derer und die herr-
stüt-
schenden Bedin-
zung/Ressourcen
gungen
identifizieren
• Gesellschaftlicher
• Definitionen und
fähigen Patienten (vgl. Dunger 2017)
Todesanzeigen –
sich dem Tod
Umgang mit Ster-
(implizite) Verhal-
eine Gattungsanalyse
gegenüber
ben und Tod
tensregeln verste-
(vgl. Möller 2009)
verhalten
• Organisation des Sterbens und Kulturen der Trauer
hen
• Reflexion gesellschaftlicher und kultureller Rahmungen
Insgesamt muss immer davon ausgegangen werden, dass die vorgeschlagenen Forschungsthemen je nach theoretischer Positionierung unter Nutzung verschiedener Methoden bearbeitet werden können. Flick differenziert für die qualitative Forschung die Sicht des Subjekts, die Herstellung sozialer Wirklichkeit (in einer Gruppe/Gemeinschaft) und die kulturelle Rahmung sozialer Wirklichkeit, aus denen sich je verschiedene theoretische Positionen und daran anschließend Methoden ergeben (vgl. Flick 2014: 81 ff.). Aber natürlich ist auch in der quantitativen Forschung die Ermittlung von (gesellschaftlich oder kulturell geprägten)
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Haltungen und Einstellungen oder dem subjektiven Erleben einer Situation möglich, sie geschieht jedoch standardisiert. 3.1 Studienbeispiel zur ersten Person des Todes Der Patient am Lebensende – Gespräche zwischen Palliativpatienten und Medizinstudierenden am Lebensende: eine qualitative Untersuchung über Einblicke in die Erlebniswelt von Patienten (vgl. Schulz 2013) Vor dem Hintergrund eines Seminars zur Kommunikation mit Sterbenden in der Ausbildung von Medizinstudierenden an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, in welches Palliativpatient:innen als Kommunikationspartner in 1:1-Begegnungen mit Medizinstudierenden eingebunden waren, wurde die Frage nach den Erfahrungen und Empfindungen der Palliativpatient:innen als Lehrende in den Mittelpunkt gestellt. Das Seminar beruhte auf einem Undergraduate Palliative Care Curriculum der Universität Witten/Herdecke. In 31 Unterrichtseinheiten wurden kommunikative Übungen in den Feldern „Kommunikation“, „die Situation des Patienten“, „Interprofessionalität“ und „System“ durchgeführt. Lehrende sind dabei die Patienten insofern sie trotz ihrer höchst vulnerablen Situation auch von sich aus den Medizinstudierenden Inhalte in Form von reflektierten Erfahrungen vermitteln. In der deskriptiven Querschnittstudie konnten fünf Palliativpatienten mittels semistrukturierter Tiefeninterviews interviewt werden. Die Gespräche wurden nach drei bis fünf aufeinanderfolgenden Begegnungen geführt, audiotechnisch aufgezeichnet und verschriftlicht. Die Analyse fand mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse nach Mayring statt. Dieser Analyseansatz erlaubt, sowohl aussagekräftige Resultate zu erlangen als auch eine konsistente, systematisch-regelgeleitete und reproduzierbare Analyse zu ermöglichen (vgl. Mayring 2000: 26). Die durch die Forschungsfragen geleiteten Aspekte der Textinterpretation konnten damit in sorgfältig begründete Kategorien eingeteilt und innerhalb des Analyseprozesses revidiert werden. Ausschlaggebend für die Wahl des Verfahrens waren die Möglichkeit, im Rahmen der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse die Kategorien, aus dem Material heraus und so nah wie möglich am Material abzuleiten und zu formulieren, und der Umstand, dass die Inhaltsanalyse nach Mayring auch zuvor in Settings mit vulnerablen Patienten zur Anwendung kam. Im Rahmen der Analyse konnten elf Haupt- und drei Nebenkategorien abgeleitet werden. Übereinstimmend waren die Teilnehmenden bereit, sich auf die Studierenden einzulassen und diese in der Lernerfahrung zu unterstützen. Die teilnehmenden Palliativpatient:innen berichteten auch davon, offen gegenüber
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emotional anspruchsvollen Fragestellungen zu sein. Zugleich bewerteten sie Offenheit, Ehrlichkeit und Authentizität ihrer Gesprächspartner:innen als wichtige Kriterien und bewerteten diese positiv. Introvertiertheit und die Unfähigkeit, das Gespräch über Moderation oder aktives Zuhören zu gestalten, wurden negativ bewertet. Insgesamt erlebten die Teilnehmenden die Gespräche nicht als belastend und gaben auch kein grundsätzlich negatives Feedback. Sie schätzten eher die Möglichkeit zu Gesprächen mit Studierenden. Palliativpatient:innen scheinen ein Bedürfnis nach offener Kommunikation zu haben und sich zugleich darüber bewusst zu sein, dass die Studierenden als Lernende in die Begegnung kommen, denen Erfahrung in der Kommunikation mit Schwerkranken fehlt. Daher begegnen sie allfälligen Fehlern von Studierenden während der Gespräche mit Toleranz und Geduld. Die in der Studie genutzte zusammenfassende Inhaltsanalyse nach Mayring stellt eine von mehreren Möglichkeiten der Inhaltsanalyse dar. Eine hervorragende Übersicht über die Varianten der qualitativen Inhaltsanalyse und Klärung unterschiedlicher Begriffe findet sich bei Schreier (2014: 5). Ihren Ursprung hat die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse als quantitatives Verfahren zur Analyse größerer Textmengen hinsichtlich genutzter Begrifflichkeiten, deren Häufigkeit und Verbindung. So konnte in den 1920er und 30er Jahren Kriegspropaganda in den Massenmedien analysiert werden. Jedoch stellte sich bald Kritik daran ein, dass durch diesen quantifizierenden Ansatz nicht der Sinngehalt der analysierten Texte und Worte erfasst werden könne (vgl. Schnell/Kolbe 2013: 15). Philipp Mayring schließlich adaptierte die Techniken der Inhaltsanalyse und entwickelte sie zur qualitativen Inhaltsanalyse weiter. International ist diese Arbeit jedoch weniger geläufig, wenngleich englischsprachige Publikationen sie zunehmend bekannt machen. Stattdessen wird im englischsprachigen Raum eher der Begriff „Content Analysis“ verwendet und es entwickelten sich Methoden wie die „Framework Analysis“ (vgl. Dunger 2011: 10 f.; vgl. Dunger/Schnell 2018: 27 ff.). Die qualitative Inhaltsanalyse eignet sich somit zur Analyse von Texten und wird oftmals als wenig aufwendig und leicht durchzuführen beschrieben. Die immer wieder erfolgenden Codierschleifen und die strikte Textarbeit zeigen sich bei der tatsächlichen Umsetzung jedoch als recht aufwendig. Zudem ist besondere Vorsicht, d. h. hier Reflexivität geboten, um den Bedeutungen, welche sich im Text zeigen, nicht die eigenen überzustülpen. Insbesondere bei möglichen Umformulierungen (Paraphrasierungen) und bei der Generalisierung im induktiven Vorgehen ist das zu berücksichtigen. Dieses erste Studienbeispiel greift das Erleben sterbender Menschen und ihr Empfinden angesichts einer bestimmten Lehrer-Situation auf. Eingebettet in
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einen palliativmedizinischen Hintergrund stehen dabei nicht der Sterbeprozess oder die Auseinandersetzung mit den eigenen Tod im Vordergrund. Dennoch stellen genau diese Lebenssituation und ihre soziale Konstruiertheit den Rahmen für die Untersuchung. In diesem Sinne schließen sich die Ergebnisse an Studien und Diskussionen um den Umgang mit sterbenden Menschen an. Diese begannen in den 60er Jahren, als sich erste Autoren mit der Beziehung zwischen sterbenden Menschen und Heilberufler:innen auseinandersetzten. Zum einen sind hier Glaser und Strauss mit ihrer Studie Interaktion mit Sterbenden (vgl. Glaser/Strauss 1965) zu nennen, die Interaktionsformen, Taktiken, Vermeidungsstrategien und Umgangsformen zwischen todkranken Patient:innen und Heilberufler:innen beschrieben. Zum anderen muss Elisabeth Kübler-Ross erwähnt werden, die mit ihren Interviews mit Sterbenden (vgl. Kübler-Ross 1971) die Aufmerksamkeit auf die sterbenden Menschen und ihr Erleben lenkte. Wenngleich das darin entstandene Phasenmodell häufig kritisiert wird, ist die Arbeit auch heute noch bedeutsam. Neuere Studien zeigen immer wieder, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse sterbender Menschen wahrzunehmen und sie kommunikativ begleiten zu können. Sie zeigen zudem, wie auch das vorgestellte Beispiel, das sterbende Menschen am Leben teilnehmen und als Lebende ihr Leben gestalten möchten. Die hier vorgestellte und andere Untersuchungen stellen somit allgemeinen Annahmen, gesellschaftlichen Vorstellungen und Mechanismen sowie paternalistischen Argumentationen die Perspektive der Betroffenen gegenüber. Vor diesem Hintergrund ist die Studienpopulation dieser Studie nochmals zu betrachten. Es handelt sich um sterbende Menschen, das heißt Menschen in einer höchst vulnerablen Situation. Dies ist vor dem Hintergrund der Studiendurchführung zu reflektieren, jedoch nicht per se als Gegenargument oder Ausschlussgrund zu nutzen. Das Argument, mit sterbenden Menschen dürfe man keine Studien durchführen, sondern muss sie schützen, ist spätestens seit Kübler-Ross widerlegt und führt eher zu einer Stigmatisierung der Betroffenen als zu deren Schutz. Stattdessen bedarf es einer forschungsethischen Reflektion, die angesichts des Vulnerabilitätsprofils möglichen Schaden und Nutzen abwägt, eine ethische Prognose erstellt und entsprechende präventive Maßnahmen vorhält (vgl. Schnell/Dunger 2018: 40). Diese Reflexion, die auch datenschutzrechtliche Aspekte sowie mögliche Publikationswege und die Belastung der Forschenden selbst beinhaltet, wird schließlich durch eine Ethikkommission geprüft. Coenen und Meitzler adressieren in ihrem Beitrag zu einer qualitativen Thanatosoziologie die Begriffe der Normativität und Pietät, die in empirischen Studien zu Sterben und Tod besondere Bedeutung haben. Einerseits handelt es sich um implizite Erwartungen, denen sich auch nicht fachkundige, d. h. berufspraktisch sozialisierte Forscher:innen ausgesetzt sehen und deren Grenzen nicht ex-
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pliziert werden, bis es zu einem Verstoß kommt. Andererseits sind nicht alle gesellschaftlichen Vorstellungen mit denen der Betroffenen identisch. So beschreiben sie, dass Teilnehmer:innen die Nutzung ihres Klarnamens bspw. als Vermächtnis erleben können, obgleich dies den üblichen datenschutzrechtlichen Standards und Erwartungen widerspricht (vgl. Coenen/Meitzler 2021: 37). Insgesamt beklagen sie fehlende forschungsethische Prinzipien und deren Operationalisierung für thanatosoziologische Studien, benennen aber auch Grenzen einer so standardisierten forschungsethischen Reflexion. Trotz aller kritischen Diskussion um forschungsethische Prüfkommissionen, zeigt sich hier deren Nutzen. Voraussetzung ist, dass die Kommissionsmitglieder fachlich und methodisch eine entsprechende Reflexion unterstützen können. 3.2 Studienbeispiel zur zweiten Person des Todes Werthaltungen von Palliativ- und Intensivmedizinern bei Therapieentscheidungen mit nicht-einwilligungsfähigen Patienten (vgl. Dunger u.a. 2017) Klinische Entscheidungsfindung in ethisch-relevanten Situationen ist fester Bestandteil des professionellen Alltags im Gesundheitswesen. Im Kontext von Sterben und Tod werden sehr häufig Therapieentscheidungen thematisiert, insbesondere bei nicht-einwilligungsfähigen Patient:innen. Neben Richtlinien und evidenzbasierten Kriterien, sind für die Entscheidungen über die Ziele der Therapie und die in diesem Sinne einzusetzenden Mittel ethische Aspekte wie die verschiedenen Haltungen der involvierten Personen und die Achtung des teilweise uneindeutigen Patientenwillens zu berücksichtigen. Ziel der zweiten Beispielstudie war die Rekonstruktion von Einflussfaktoren bei Therapieentscheidungen mit nicht-einwilligungsfähigen Patienten und von relevanten Werthaltungen der involvierten Mediziner sowie, diese ins Verhältnis zu setzen. Um dies zu erreichen, integrierte die Studie eine quantitative Online-Erhebung in Form eines Faktoriellen Surveys und eine qualitative Interviewstudie. Faktorielle Surveys verbinden die wesentlichen Vorteile eines Fragebogens mit den Vorteilen des experimentellen Designs. Hypothetische Situationen oder Gegenstände werden in kurzen Falldarstellungen (Vignetten) beschrieben und von den Teilnehmer:innen beurteilt. Innerhalb der Vignetten variieren die Angaben, d. h. es finden sich verschiedene Kombination möglicher Variablen. Dies ermöglicht die Identifizierung relevanter Einflussfaktoren, die in der Realität häufig durchmischt und verzerrt werden. Der qualitative Studienteil ergänzte in der beschriebenen Studie wiederum den Faktoriellen Survey um die Selbstreflexionen und -aussagen der Teilnehmer:innen. In narrativen Experten-
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interviews wurden die Erfahrungen von Palliativ- und Intensivmedizinern in ihrem Praxisalltag thematisiert. Die Interviews wurden audiotechnisch aufgenommen, wörtlich transkribiert und mittels Framework Analysis ausgewertet. Deutschlandweit nahmen 199 Intensiv- und Palliativmediziner am quantitativen und 22 am qualitativen Studienteil teil. Die Analyse der qualitativen Interviews ergab drei wesentliche Typen der Entscheidungsbildung. Allen gemeinsam ist, dass die teilnehmenden Mediziner:innen die Behandlungsentscheidung als Prozess verstanden und das Feststellen des Patientenwillens als wichtigen Aspekt betrachteten. Daher stand die Ermittlung des Patientenwillens aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen im Fokus. Unterschiede zeigten sich in der Beschreibung des Prozesses und der konkreten Beschreibung relevanter Kriterien zur Feststellung des Patientenwillens, je nach Rollenbild und eigener Werthaltung. Strategien zur Bewältigung uneindeutiger Entscheidungssituationen entwickelten die teilnehmenden Mediziner:innen aus Vorerfahrungen. Zugleich blieben oftmals (rechtliche) Unsicherheiten bestehen, weswegen diese Unsicherheit zu eliminieren als entscheidender Aspekt der Handlungsstrategien und intrinsischen Motivation hervortrat. Der Faktorielle Survey zeigte wiederum vier Faktoren auf, die Einfluss auf Therapieentscheidungen bei nicht-einwilligungsfähigen Patienten hatten: Patientenalter, Patientenwille laut Patientenverfügung, in der Vignette formulierte Entscheidungen und Rechtsstatus der Versorgung. Des Weiteren gab es eine leichte Interaktion zwischen dem Rechtsstatus der Versorgung (kein Betreuer) und dem Patientenwillen. Obgleich das Modell zudem einen Einfluss der ärztlichen Werthaltungen auf die Therapieentscheidung anzeigte, erklärten 34,7 Prozent (nTeilnehmer:innen=69) der Teilnehmer:innen, dass persönliche moralische Konzepte oder Werte keinen Einfluss hätten. Übereinstimmend mit den qualitativen Ergebnissen zeigte sich eine Unsicherheit der teilnehmenden Mediziner:innen in uneindeutigen Situationen, d. h. in konflikthaften Situationen mit gegensätzlichen oder unklaren Informationen zum Patientenwillen. Ebenfalls übereinstimmend mit den qualitativen Ergebnissen zur Bedeutung des Patient:innenwillens bestand eine Verbindung zwischen einer eindeutigen Ablehnung der Behandlung und der Teilnehmendenentscheidung, die Behandlung nicht durchzuführen (76,2 %, nUrteile1 = 417). In Situationen mit eindeutiger Zustimmung zur Behandlung neigten auch die Teilnehmer:innen dazu, diese fortzuführen (68,6 %, nUrteile = 367).
1
nUrteile meint hier die Anzahl der Urteile, die entsprechend gefällt wurden. Da jede/r Teilnehmer:in mehrere Urteile fällt, unterscheidet ein Faktorieller Survey zwischen dieser Anzahl der Urteile und der der Anzahl der Teilnehmer:innen.
148 | Christine Dunger und Martin W. Schnell
Insgesamt scheinen klare Informationen die Therapieentscheidung zu erleichtern, während uneindeutige Situationen als herausfordernd und verunsichernd erlebt werden. Diese Unsicherheit führt dazu, dass sich die Teilnehmer:innen zumindest teilweise auf ihre eigenen Wertvorstellungen beriefen und ihre eigene Rolle als Entscheidungsträger:in in den Vordergrund rückte. Diese eher paternalistische Strategie war auch den Interviews mit Intensivmediziner:innen zu entnehmen. In der Bewertung der Vignetten ergab sich jedoch kein Unterschied zwischen den Gruppen. Neben diesen Faktoren erschien ein Mangel an rechtlichem Wissen als ein weiterer wichtiger Faktor. Hier könnten Schulungen, auch mittels fallorientierter Lernweise, und regelmäßige Reflexion oder Supervision hilfreich sein. Insgesamt eignen sich Faktorielle Surveys, um Faktoren zu untersuchen, welche bei Urteilsbildung und Handlungsentscheidungen eine Rolle spielen. Dabei kann eine Situationen simuliert und eine Entscheidungsfindung experimentell überprüft werden. Vorteilhaft ist dabei unter anderem, dass die Komplexität der Situation dargestellt werden kann, ohne, wie in Umfragen üblich, einzelne Items abzufragen, die gemeinsam zur Komplexität beitragen. Zudem ermöglicht die Bewertung von Handlungen anderer eine emotionale Distanz auch bei sensiblen Fragestellungen. Andererseits geben die Ergebnisse keine Auskunft über die tatsächlichen Entscheidungen und Verhaltensweisen der Teilnehmer:innen in Alltagssituationen und die abzubildende Komplexität ist durch die methodisch machbare, nicht unendliche Anzahl der Vignettenfaktoren begrenzt (vgl. Atzmüller/Steiner 2017: 44 f.). Neben der hier vorgestellten Studie gibt es zahlreiche weitere Studien, die sich des Faktoriellen Survey Designs bedienen und gesundheitliche, medizinische oder pflegerische Fragestellungen beantworten (bspw. Brenner u.a. 2014; Samuelsson/ Wallander 2014). Mit der Thematisierung der Werthaltungen begleitender Personen steht dieses Studienbeispiel für die Perspektive des Todes aus der 2. Person. Methodisch handelt es sich um eine quantitative und qualitative Methoden integrierende Studie, wobei die Kombination aus Fragebogen und experimentellem Design im Faktoriellen Survey erlaubt, ganz gezielt nach relevanten Einflussfaktoren und Haltungen zu fragen. Die qualitativen Interviews ergänzen diese Ergebnisse und geben den Erlebnissen und Selbstauskünften der teilnehmenden Mediziner:innen Platz, um ihren eigenen, ethischen Begründungsrahmen, d. h. ihre Werthaltungen ergänzend darstellen zu können. Auf diese Weise können Ansichten der Probanden vertieft zur Sprache kommen, die im quantitativen Hauptteil der Untersuchung möglichweise keinen angemessenen Ausdruck gefunden haben.
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Der Zugang zu potenziellen Teilnehmer:innen gelang in dieser Studie über persönliche Kontakte zu Institutionen und über Fachgesellschaften. Nachteil dieses Vorgehens ist, dass keine konkrete Anzahl der angeschriebenen, potenziellen Teilnehmer:innen bekannt ist und somit keine Rücklaufquote berechnet werden kann. Dies ist ein häufiges Problem von Online-Umfragen, die nicht mit Paneelen arbeiten. Der Zugang zu den Interviewteilnehmer:innen entstand durch die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme nach Beendigung des Fragebogens. Insgesamt stellt sich, jenseits aller Online-Umfragen, der Feldzugang aber auch immer wieder als besondere Herausforderung im Forschungsprozess dar. Für die Forschung am Lebensende stellen sich neben grundsätzlichen Herausforderungen wie der Kontaktaufnahme zu potenziellen Teilnehmern:innen oder dem Kontakt-Halten zu Institutionen, die ihrer eigenen Logik folgen und ihren Mitgliedern oftmals keine Ressourcen zur Verfügung stellen, um neben der eigentlichen Arbeit an Studien teilzunehmen (vgl. Dunger/Bausewein/Schnell 2017: 243 f.), zudem Fragen, die die Vulnerabilität der Betroffenen berühren. Die bereits angesprochene schützende und zugleich paternalistische Haltung gegenüber vulnerablen Personen gehört mit dazu. Weitere, relevante Hemmnisse sind mögliche Symptomverschlechterungen oder Krisen, die eine Teilnahme phasenweise unmöglich machen, der Kontaktabbruch, nachdem ein Ortwechsel (bspw. vom Zuhause in eine Einrichtung) vonnöten wurde, oder das Versterben potenzieller Teilnehmer:innen vor der Datenerhebung oder während der Studie (vgl. Chaiviboontham 2011; Gnass u.a. 2016). Coenen und Meitzler stellen mit Blick auf die Thamatosoziologie und ihre vielfältigen Forschungsbereiche sowie -themen heraus, dass einheitliche oder gar rezeptartige Empfehlungen zum Feldzugang nicht gegeben werden können (2021: 38). Stattdessen erfordert es, ähnlich wie bei der forschungsethischen Reflexion, eine studienspezifische Herangehensweise, die auf das Setting, die potenziellen Teilnehmer:innen und deren Ressourcen sowie Möglichkeiten, aber auch auf die Forschungsfrage und -methoden Bezug nimmt. Netzwerke, Feldwissen und konkretes Knowhow passend zum Untersuchungsfeld können dabei hilfreich sein, sind jedoch kein Garant.
3.3 Studienbeispiel zur dritten Person des Todes Todesanzeigen – eine Gattungsanalyse (vgl. Möller 2009) Die Erforschung vom Umgang der Gesellschaft mit Sterben und Tod, ihren entlastenden Organisationsmechanismen des Sterbens und Kulturen der Trauer
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kann nur gelingen, wenn eine Auseinandersetzung mit den unbewusst impliziten, gesellschaftlich normierten und inkorporierten Verhaltensweisen und Rahmungen der untersuchten Gruppe vorgenommen wird. Wenngleich es Zusammenhänge zu palliativer Forschung gibt (vgl. Schröer/Hirsmüller 2020: 265 ff.), liegt der Schwerpunkt auf eher soziologisch-ethnografischen oder theologischen Fragestellungen der Sterbeforschung. Das folgende Beispiel einer Gattungsanalyse von Todesanzeigen begreift eben diese als Teil von Trauerritualen, welche etwas über den gesellschaftlichen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer aussagen. Obwohl sich Todesanzeigen – in der vorgestellten Studie verstanden als Anzeigen, „die einen schwarzen Rand haben und sich mit dem Tod eines Menschen befassen“ (Möller 2009: 10 f.) – zumeist konventionell zeigen, geben sie die Möglichkeit, individuelle Inhalte einzubinden und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dabei können Todesanzeigen von verschiedenen Personengruppen (Angehörige, Institutionen) und mit verschiedener Intention (Nachricht, Kondolenz, Dank, Gedenken) verfasst werden. Bei jeglichen Formen wird die Anzeige zwar durch Hinterbliebene aufgegeben, es treten jedoch sowohl die Verstorbenen als auch die Hinterbliebenen in Erscheinung. Davon ausgehend können Todesanzeigen als besondere Formen von Texten verstanden werden, die grundsätzlich von Anderen an die Adresse Dritter gerichtet sind und dabei das Gewesensein einer Person kundgeben. Obwohl keine Pflicht zur Anzeige des Todes existiert, wird diese Kommunikation im deutschsprachigen Raum noch immer intensiv genutzt. Todesanzeigen als Ritual identifizierend beschreibt die Studie deren Handlungscharakter (Aufgabe von Todesanzeigen als häufig genutzte Möglichkeit) sowie Institutionalisiertheit und symbolische Qualität im Sinne eines hohen Maßes an automatisiertem, stereotyp und sich wiederholenden Anzeigen, die als Teil des ritualisierten Umgangs mit Tod und Trauer angesehen werden können. So richtet sich die Untersuchung mittels des Konzeptes der kommunikativen Gattungen der allgemeinen Strukturmerkmale der Außen- und Binnenstruktur von Todesanzeigen sowie deren kommunikativer Realisierung. Als kommunikative Gattungen können kommunikative Formen bezeichnet werden, die einem vorgegebenen Muster folgen, um bestimmte kommunikative Probleme zu lösen. Methodisch muss hier kurz auf dem Hintergrund der Gattungsanalyse eingegangen werden. Anders als qualitative Analysemethoden, die sich irgendwann zugunsten einer Kategorienbildung oder Theoriegenerierung vom Text lösen, wird bei der Analyse von Gattungen den Sequenzen des Textes, seiner Gestalt und der darin repräsentierten sozialen Ordnung (vgl. Flick 2014: 431 ff.) mehr Gewicht gegeben. Aus der Konversationsanalyse hervorgegangen analysiert die Gattungsanalyse daher in mehreren Analyseschritten nicht reaktive Daten, welche aus natürlichen Situationen hervorgehen. Es werden dabei jedoch größere
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kommunikative Muster untersucht, wobei sowohl formale Gestaltung als auch Inhalte relevant sind (vgl. Knoblauch/Luckmann 2000: 538 ff.). Die vorliegende Studie zu Todesanzeigen folgt dem Grundgedanken, dass die kommunikative Lösung der auftretenden Routineprobleme durch typische Muster und Gattungen die Beteiligten entlastet. Voraussetzung ist, dass sich (1.) die beteiligten Kulturmitglieder an den Lösungen beteiligen und (2.) Gattungen als problemlösende Kommunikationsmuster verständlich sind. Im Mittelpunkt steht die kommunikative Funktion der Anzeige. Die Ergebnisse zeigten, dass Todesanzeigen viele kommunikative Funktionen innehaben. Neben der primären Informationsvermittlung oder Bekanntgabe, rücken andere Inhalte in den Vordergrund. So kommen zunehmend zusätzliche Themen zur Sprache, wie die Präsentation von persönlichen Erinnerungen, Hobbys, humorvoll eingewobene Lebensmottos, und bildliche Darstellungen oder religiöse Bekenntnisse zum Einsatz. Über diese Darstellung von Nähe und Vertrautheit gelingt nicht nur eine gute und zugewandte Beschreibung des Verstorbenen, sondern auch eine besondere Authentizität. Todesanzeigen versuchen zunehmend die Beteiligten, d. h. die Verstorbenen und die Hinterbliebenen, in Ihrer jeweiligen Rolle als gut darzustellen. Diese Untersuchung von Todesanzeigen eignet sich gut, um die Rolle von Subjektivität im Forschungsprozess zu thematisieren. Zunächst handelt es sich um eine oftmals thematisierte methodische Herausforderung, da jeder Mensch, auch Forscher:innen, eigene kommunikative Gattungen – oder gar Denkstile – innehaben, die es im Kontext der Forschung zu identifizieren und zu reflektieren gilt. In diesem Sinne ist die Subjektivität der Forschenden und Teilnehmer:innen – auf je verschiedene und zugleich zusammenhängende Weise – zentraler Bestandteil qualitativer Forschung. Bezogen auf die Teilnehmer:innen sind die Identifikation und Darstellung des subjektiven Erlebens, Ausdrucks usw. genau das Ziel qualitativer Forschung. Mit Blick auf die Forschenden müssen diese die eigene Subjektivität im Forschungsprozess immer reflektieren. Handlungen, Eindrücke, Haltungen, Vorwissen, Gefühle und andere Aspekte werden daher festgehalten. Als verschriftlichte Reflexionen werden sie so selbst zu Daten, welche in die Interpretation einfließen (vgl. Flick 2014: 29; Reichertz 2015: 52). In der konkreten Betrachtung von Forschung zu Sterben und Tod sind Emotionalität und Subjektivität jedoch nochmals expliziter zu betrachten. Wie bereits erläutert haben Forschende als leibliche und damit sterbliche Wesen sowie als soziale Individuen ihre je eigenen Bezüge zu bzw. Erfahrungen mit Tod und Sterben. Anders als in vielen weiteren Forschungsbereichen handelt es sich dabei nicht allein um implizite Wissensbestände, Eindrücke oder Haltungen, sondern möglicherweise um existenzielle Erfahrungen, die Emotionen auslösen. Weiter-
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hin sind bspw. die Konfrontation mit sterbenden Menschen oder Leichen in verschiedenen Zuständen, aber auch Erzählungen über Katastropheneinsätze keine gewöhnlichen Erfahrungen (vgl. Coenen/Meitzler 2021: 40). Beides erfordert eine besondere Sensibilität der Forscher:innen ihrer eigenen Belastung gegenüber. So ist Subjektivität hier nicht nur als Teil sozialer Konstruktion erkenntnistheoretisch und im Sinne verschriftlichter Reflexivität methodisch interessant, sondern auch forschungsethisch relevant.
4.
FAZIT
Ausgehend von der Perspektive auf Sterben und Tod als Gegenstand von Forschung konnten verschiedene Aspekte von Forschung im Bereich der Palliativ Care und Sterbeforschung vorgestellt werden. Dabei steht die sozialwissenschaftliche Perspektive im Mittelpunkt der Betrachtungen. Sie impliziert einerseits einen wissenschaftstheoretisch begründeten Methodenpluralismus und kommt andererseits nicht gänzlich ohne die biologische und medizinische wie auch die psychologische Perspektive aus. Für die Forschung bedeutet dies eine gut begründete Methodenauswahl, um die sozialen Phänomene Sterben und Tod zu erforschen und einen Blick für die unterschiedlichen persönlichen und gesellschaftlichen sowie kulturellen Ebenen, auf welche die jeweilige Untersuchung abzielt. Es wäre abschließend zu überlegen, ob die Erforschung des Sterbens nicht in den Kontext einer Semantik des Unbestimmten gehört. Das Sterben ist mit dem Tod verwoben. Beide, Sterben und Tod, treten zusammen auf. Was der Tod aber ist, weiß niemand mit voller Evidenz zu sagen. Der Tod ist unbestimmt, er ist damit weder etwas noch ist er nichts. Er ist vielmehr nicht nichts, um mit Gerhard Gamm zu sprechen (vgl. Gamm 2000). Die sozialwissenschaftlich geprägte Erforschung des Sterbens wäre damit ein Erforschen von etwas, das sich uns Menschen entzieht und dem wir über soziale Konstruktionen und Ordnungen versuchen, Bedeutung und Sinn zu geben.
Wie erforscht man das Sterben? | 153
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Dabei-Sein, Mit-Machen, Wahr-Nehmen Ethnografische Zugänge in der Sterbeforschung Melanie Pierburg
1.
EINLEITUNG
Es gibt wohl keinen ethnografisch aufschlussreicheren Film als die Satire Kitchen Stories von Bent Hamer (2003). Das Szenario ist eine humoristische Augenweide für all diejenigen, die versuchen, die teilnehmende Beobachtung als sozialwissenschaftliche Methode an den studentischen Mann oder die studentische Frau zu bringen. Hier sieht man zu Beginn, wie diese nicht laufen soll, nämlich im Sitzen – auf einem Hochstuhl. In der cineastischen Perle, die schon Gobo (2010: 46 f.) für die Vermittlung von ethnografischem Wissen entdeckt hat, versuchen Forscher – es sind ausschließlich Männer – qua Beobachtung, die Küchengewohnheiten von norwegischen Junggesellen zu studieren. Um in positivistischer Manier die interessierende Lebenswelt nicht zu verändern und somit die Ergebnisse zu verzerren, wird die sich bei der Beobachtung aufdrängende körperliche Co-Präsenz buchstäblich eingehegt. Der Forscher, den wir im Film zu einem kauzigen Alleinstehenden begleiten, nimmt auf besagtem Hochstuhl Platz, um das Objekt der wissenschaftlichen Begierde nicht aus dessen alltagsweltlichen Bahnen zu lenken. Die disziplinierte Teilnahmelosigkeit lässt aber sukzessive nach – vom Studienlei-ter streng untersagte Interaktionen schleichen sich in die Erhebungssituation ein und steigern sich schließlich zu verbalen Kommunikationen. Und so kippt die absurd standardisierte Beobachtungsstudie in eine mustergültige Ethnografie, ohne allerdings als solche auf wissenschaftliche Liebe zu stoßen. Folglich spielen sich die relevanten Erkenntnisprozesse zwischen den Protagonisten ab, die eine Freundschaft mit einem in den 1950er Jahren fortschrittlich anmutenden WG-Leben institutionalisieren. Erfreulicherweise ist die teilnehmende Beobachtung mit all ihren interaktionalen Grenzüberschreitungen jenseits der fiktiven Küchennutzungsforschung
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eine legitime wissenschaftliche Methode, die sich nahezu jedes gesellschaftlichen Bereichs annimmt. Selbst vor dem Sterben macht sie nicht halt, dabei könnte sie hier ebenso absurd wirken wie die erhöhte Sitzposition in der Küche des Pfeife rauchenden Norwegers. Schließlich stößt die Teilnahme in Kontexten des Dahinscheidens an ihre Grenzen. Um den Film ein letztes Mal als Veranschaulichung zu bemühen, sitzen wir hier auf dem Hochstuhl des Lebens. Davon herabzusteigen, würde Engagement beweisen, bliebe aber wissenschaftlich folgenlos. Trotzdem lassen sich soziale Situationen, die im Kontext von Sterben und Tod stehen, natürlich mehr oder minder teilnehmend beobachten. Die Thanatosoziologie zeigt das eindrücklich, unter diesem inzwischen institutionalisierten Banner findet sich ein bunter Strauß ethnografischer Studien. Die Feldforscher:innen – hier spielen nicht (nur) einsame Männer eine Hauptrolle – sind in diversen sterbebezogenen Kontexten dabei, machen Praktiken mit und nehmen dabei Allmögliches wahr. Weder vor Hospizen (Dreßke 2005; Pfeffer 2005; Coates 2020) noch vor Bestattungsunternehmen (Coenen 2020) oder Friedhöfen (Benkel 2013) wird Distanz eingehalten. Es stellt sich also unweigerlich die Frage, was die Ethnografie zur Erforschung der Endlichkeit des Lebens beitragen kann, wenn man den Übergang in den Tod als Geschehen versteht, dem man eine soziale Dimension nicht absprechen kann. Darum soll es in diesem Beitrag gehen. Zunächst setze ich mich dafür mit dem Nebensatz der Fragestellung auseinander und diskutiere theoretische Varianten, mit denen das Ableben soziologisch oder kulturwissenschaftlich perspektiviert wird. Dann gehe ich der Ethnografie als Möglichkeit der Wissensstiftung in sterbebezogenen Forschungsbereichen nach. Um hier aber methodisch etwas genauer zu werden, stelle ich drei ethnografische Schwerpunktsetzungen vor, mit denen unterschiedliche Aspekte von Feldern beleuchtet werden können. Dazu nutze ich Datenmaterial, das ich für meine Dissertation erhoben habe und zeige anhand einer praxeologischen, sozialphänomenologischen und sensorischen Gegenstandsgewichtung, wie man einen Hospizkurs als thanatosoziologisches Forschungsfeld untersuchen und dabei dem Sterben in seiner sozialen Dimension auf die Spur kommen kann – dafür setzte ich mich einst in einen Stuhlkreis.
2.
SOZIALES STERBEN ODER STERBENDES SOZIALES?
Das Sterben als soziales Phänomen zu verstehen, ist ein thanatosoziologischer Gemeinplatz. Diese Perspektive ist aber nicht kongruent mit einem unterstellba-
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ren Alltagsverständnis, denn der körperliche Aspekt des Ablebens könnte anderes vermuten lassen. Beim Dahinscheiden verwandelt sich ein lebendiger Leib in einen nicht-lebendigen Körper, der so zum Ding wird (vgl. Benkel 2008: 143). Aber schon diese naturalistisch anmutenden Zuschreibungen sind unhintergehbar sozial, wenn man sie als „Deutungsmuster“ (Oevermann 2001 [1973]) kategorisiert, die um ein Verständnis des Übergangsphänomens kreisen. Im Folgenden sollen unterschiedliche, nicht naturwissenschaftlich oder medizinisch ausgerichtete Sterbedefinitionen vorgestellt werden.1 Werner Schneider (2014: 62) stellt dem Begriff Sterben den des Sterben-Machens gegenüber, um qua Handlungszuschreibung die Soziologie in den (mit) zuständigen Expert:innenstand zu erheben. Demnach interessieren sich Sozialwissenschaftler:innen aufgrund ihrer Profession und ihres Erkenntnishorizonts nicht so sehr für den gleichsam individuell erfahrenen Sterbeprozess – die radikale Neuheit, die Soeffner (2007: 203) in Rekurs auf Benjamin anschaulich macht –, sondern vor allem für das Interaktions- und Kommunikationsgeschehen, das sich darum herum abspielt; diesem spricht er aber eine durchaus konstitutive Rolle zu, da er das Ableben als sozialen „Ausgliederungsprozess“ (ebd.: 60) deutet. In sozialphänomenologischer Tradition verdichtet Schneider gesellschaftliche Kontexte, in denen die Endlichkeit bewältigt werden soll, als „Sterbewelten“ (ebd.: 66), die in Form von „außeralltägliche[n] Sinnbezirke[n]“ (ebd., Herv. im Original) und „Handlungsfelder[n]“ spezifische „Typisierungs- und Relevanzstrukturen“ (ebd.) aufwiesen. So stürben Menschen nicht einfach, sondern würden sterbend gemacht, wobei gesellschaftliche Normen und Leitvorstellungen Wirksamkeit entfalteten (vgl. ebd.: 62). Demgemäß realisiert
1
Allerdings soll damit weder suggeriert werden, die Soziologie sei die einzige Profession, die sich mit Sterbedefinitionen befasst, die sich nicht in einem biologischmedizinischen Spektrum verorten, noch, dass besagte Kategorisierungen für die sozialwissenschaftlichen Konzepte keine Rollen spielten. Neben der Soziologie widmen sich sowohl die Philosophie (siehe dazu Schumacher 2020) als auch die Psychologie (siehe dazu Wittkowski 2020) dem Ableben. Gerade in der Philosophie hat das Ringen um die Endlichkeit weitreichende theoretische Konsequenzen gezeitigt, die das Menschenbild in Gänze tangieren. Der Versuch, das Dahinscheiden zu verstehen, kann als notorisch transdisziplinär aufgefasst werden, was letztlich der Totalität des Phänomens geschuldet ist. Zu biologischen und medizinischen Sterbedefinitionen siehe Erbguth 2020; Groß/Grande 2020.
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sich ein kulturell verankertes Wissen über das Sterben und den Tod in damit verbundenen sozialen Situationen.2 In dieser Perspektive erscheint das Dahinscheiden als ausgesprochen vitales Geschehen, das vor allem soziale Zuschreibungs- und sich daraus ergebende Kommunikationsprozesse umfasst. Es resultiert hier gewissermaßen aus sozialen Handlungen und damit verbundenen Typisierungen. Die Palliativpflege und letzte Besuche am Sterbebett, das als solches auch das Produkt von Bedeutungszuweisungen ist, können als Beispiele für institutionalisiertes Handeln in Todesnähe dienen. Praktiken dieser Art machen in spätmodernen westlichen Industrienationen das Ableben zu einem besonderen Ausschnitt sozialer Wirklichkeit. Zugleich verweisen sie beispielhaft auf eine spezifische soziale Ordnung des Sterbens, die von medizinischen Expert:innen auf der einen und Angehörigen des/der Moribunden auf der anderen Seite durchdrungen ist. Stephanie Stadelbacher (2020: 299) stellt dem Sterben-Machen darüber hinaus das „Sterben-Erfahren“ zur Seite und gibt den (inter-)subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen des Ablebens damit einen eigenen konzeptionellen Rahmen. Schlussendlich wird das Sterben – zumindest in vielen Fällen bis zu einem gewissen Grad und im scharfen Kontrast zum Tod – erlebt und kann Gegenstand von Kommunikationen werden (vgl. ebd.: 304 ff.). Versteht man das Ableben als Phänomen, das aufgrund von sozial geteiltem Wissen und sich daraus ergebenden Interaktionen in die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit (Berger/Luckmann 2007 [1966]) eintritt, wäre es kontraintuitiv, dem prominentesten Rollenträger der institutionalisierten Sterbesituation keinerlei eigene Potenz einzuräumen. Wobei die schwindende Handlungswirksamkeit, die das Dahinscheiden ab einem bestimmten Punkt begleitet, die Frage rechtfertigt, wer das Sterben eigentlich macht und (indirekt) erfährt. Muss man hier dem Körper als Bestandteil des Sterbeprozesses nicht eine eigene Gültigkeit zusprechen? Und kommt die Machbarkeit so nicht an Grenzen und eine soziologische Definition eben auch? Natürlich kann man das Ableben als gesellschaftliches Problem verstehen, für das soziale Lösungen in Form von Bedeutungsrahmungen gefunden werden (müssen). Schneider (2014: 60) argumentiert nachvollziehbar, dass die gesellschaftliche Bewältigung des Sterbens darin liegt, dass die Weiterleben-
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Die soziologischen Sterbedefinitionen gehen oftmals von den dominierenden kontemporären Todesursachen – laut Statistischem Bundesamt (2021) versterben Menschen vor allem an kardiovaskulären Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und Krankheiten des Atmungssystems – aus, die einen langen und durch Krankheit geprägten Sterbensverlauf bedingen, wodurch andere Formen des Dahinscheidens aus dem Blick zu geraten drohen.
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den keinen Sinnverlust erleiden. Trotzdem ist die Irreversibilität des Ablebens dem dahinscheidenden Körper und seinen Funktionsverlusten geschuldet, was spezifische soziale Anschlussmöglichkeiten eröffnet und andere ausschließt. Diesem objektiven Kern, wenn man so will, trägt eine kulturwissenschaftliche Perspektive Rechnung, die zunächst einmal die Kontingenz von Sterbedefinitionen anhand des Zeitpunkts des Eintretens des Übergangs plausibilisiert. Mira Menzfeld (2019: 96) unterscheidet ethnologisch informiert zwischen „präexitale[n], postexitale[n] und punktuelle[n] Sterbensverläufen“. Vom Verlöschen der Vitalfunktionen ausgehend zeigt sie, dass das Sterben als Prozess kulturspezifisch konturiert wird und der oben bereits genannte Ausgliederungsprozess nicht zwangsläufig mit der aktiven Kommunikationsfähigkeit des/der Moribunden korreliert. So kann das Ableben je nach kulturellem Deutungsrahmen dem körperbezogenen Exitus vorausgehen, mit ihm zusammenfallen oder an ihn anschließen. Als ein Beispiel für das postexitale Sterben nennt Menzfeld Mehrfachbeerdigungen, in denen der Austritt aus der Gemeinschaft stufenhaft erfolgt, um dem/der Sterbenden den Übergang zu erleichtern – durchaus ein Kontrapunkt zum psychoanalytischen Konzept der Trauerarbeit (vgl. dazu Wittkowski 2020: 66), die in spätmodernen westlichen Gesellschaften den Weiterlebenden obliegt (vgl. Menzfeld 2019: 98 f.). Ein punktuelles Sterben wäre eines ohne eine vor- oder nachgelagerte Übergangsphase; Menzfeld nennt den plötzlichen Unfalltod als Beispiel, wobei das Ableben im Sinne einer zeitlichen Ausdehnung hier infrage stehe (vgl. ebd.: 96). In Deutschland finden sich nach dieser Kategorisierung vor allem präexitale Sterbensverläufe, man denke an die Phaseneinteilung der Palliativmedizin, die bei einer zum Tode führenden Erkrankung zwischen Rehabilitations-, Terminal- und Finalphase differenziert (vgl. dazu aus philosophischer Perspektive Becker/Xander 2012: 126), womit sich das Sterben bei Eintritt des Exitus vollendet. Trotz der von ihr mit vielen Beispielen veranschaulichten kulturellen Variabilität von Sterbeprozessen rekurriert Menzfelds Sterbedefinition auf den Körper bzw. Leib. Sie versteht das Ableben als „Transformationsprozess“, der sich auf die „Auflösung der Verbindung zwischen einer Person mitsamt der ihr eigenen psychologischen und sozialen Kompetenzen einerseits, und des an sie gebundenen Leibes andererseits“ (Menzfeld 2019: 96) bezieht. Sie nutzt den irreversiblen leiblichen Befähigungsverlust als Referenz für die sich darum divers rankenden Deutungsmuster. In meiner Dissertation reichere ich diese Definition in Rekurs auf Kellehear (2017) mit dem Konfrontationsaspekt der existenziellen Erfahrung an. Das präexitale Sterben geht in den westlichen spätmodernen Gesellschaften oftmals mit einer langen Auseinandersetzung einher. Die radikale Neuheit zieht sich – was für eine Neuheit unge-
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wöhnlich ist. Wenn man so möchte, integriere auch ich das Sterben-Erfahren in diesen schillernden Begriff (Pierburg 2021: 29 ff.). Die soziologischen und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Annäherungen an das Lebensende zeigen, dass auch diesem unhintergehbaren Aspekt menschlicher Existenz Sozialität innewohnt, die wiederum unterschiedliche analytische Schwerpunktsetzungen erlaubt. Die Differenzen beziehen sich auf die wechselseitigen Bezüge von Gesellschaft und Individuum, da Kollektivität mit dem finalen Akt der Vereinzelung herausfordert wird.
3.
ETHNOGRAFIEN IN STERBEWELTEN
Wenn die soziale Dimension des Sterbens nicht nur evident, sondern ebenso hochgradig relevant ist, schließlich steht hier das Sinnerleben der übrig gebliebenen Gesellschaftsmitglieder auf dem existenziellen Spiel, sind auch die empirischen Wissenschaften aufgerufen, sich damit zu beschäftigen. In der Soziologie findet sich eine Sterbeforschung, die sich oftmals als Erkundung von Sterbewelten ausformt. Den Anfang der Feldforschung in Sterbekontexten machen Glaser und Strauss (2009 [1965]) Mitte der 1960er Jahre mit dem Buch Awareness of dying, das auf einer Studie basiert, in der sie sich mit dem Dahinscheiden im Krankenhaus und damit verbundenen Kommunikationsmustern befassen, die unterschiedliche Bewusstseinskontexte implizieren. Ethnografisch aufschlussreich ist aber auch eine der darauf folgenden Publikationen, die in einer späten Phase des Forschungsprojektes entstand: Anguish. A Case History of a Dying Trajectory (dies. 1977). Darin konzentrieren sich die Autoren im Rahmen einer Fallanalyse auf einen Sterbensverlauf, der von zwei mit der Forschung assoziierten Krankenschwestern teilnehmend beobachtet wird. Im Zentrum der Sterbegeschichte, es werden mehrere Narrative entwickelt, steht Mrs. Abel, die langsam und schmerzvoll stirbt. Zu einem (sozialwissenschaftlichen) Fall wird sie in dem Moment, als sich zeigt, dass sie das Krankenhaus nicht mehr verlassen wird (vgl. ebd.: 3). Das Sterben von Mrs. Abel wird als „story“ (ebd.: 20) erzählt, die sich in szenischen Beschreibungen aus der jeweiligen Perspektive der medizinischen Expertinnen entfaltet. Glaser und Strauss greifen hier auf pflegerisch vorgebildete Beobachterinnen zurück, die Einblicke in die Kommunikationsmuster des Klinikpersonals geben können, die Mrs. Abel sterbend machen, bis deren Körper bei einer Operation dem präexitalen Ableben ein Ende setzt. Die Geschichten in der Fallhistorie werden z. T. als Dialoge zwischen den Krankenschwestern, die von ihren Erfahrungen erzählen, und Strauss dargestellt. So werden nicht nur die
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Geschehnisse zum Repräsentationsgegenstand, sondern auch die Erzählungen über das Geschehen zum Weg der Erkenntnisgenerierung. Auf den prominenten Anfang von Glaser und Strauss folgte eine ganze Reihe von ethnografischen Studien in Sterbeumgebungen, wobei hier Krankenhäuser und Hospize die vornehmlich aufgesuchten Orte sind. David Sudnow (1973) untersuchte die Organisation des Sterbens in Krankenhäusern in den 1970er Jahren, ein Unterfangen, dessen sich ebenso Ursula Streckeisen (2001) für den deutschsprachigen Raum annahm und dabei auch ein explizites Augenmerk auf die Pathologie legte und so die Seite wechselte, wenn man den Exitus als Übergangspunkt versteht. Mit dem Erfolg der modernen Hospizbewegung, die eben jenes Sterben in Krankenhäusern kritisiert(e), entwickelten sich neue gesellschaftliche Bereiche, die sich dem Ableben verschrieben. Sterbekliniken, die aufgrund anfänglicher Ablehnung in Deutschland und im Sinn der Bewegung Hospize genannt werden, sind auf die Pflege von Moribunden ausgerichtet und nehmen kein Heilungsideal zum Anlass, unnötige medizinische Interventionen durchzuführen (Heller u.a. 2013). Hier soll das Sterben nicht verhindert, sondern begleitet werden. Auch Hospize als aufsuchbare Orte eignen sich für teilnehmende Beobachtungen. Christine Pfeffer (2005) machte das genauso wie Stefan Dreßke (2005) und Nicholas Eschenbruch (2007) mit klassischen dichten Beschreibungen anschaulich, in denen sich die Nähe zum Feld offenbart. Ebenso befassen sich aktuelle ethnografisch ausgerichtete Studien mit dem Sterben in Hospizen und auf Palliativstationen, mit der sterbebezogenen Spezialisierung von Kliniken (vgl. Jordan 2020: 305).3 Lilian Coates (2020: 130) setzt sich in ihrer ethnomethodologisch orientierten Ethnografie in einem stationären Hospiz mit auf das Ableben gerichteten Praktiken auseinander und strebt dabei eine „Neubetrachtung der Hospizarbeit“ an, die methodisch darauf beruht, „Selbstverständlichkeiten, die sie und das Sterben umgeben, analytisch zu brechen“. So stellt sie gängige Attribuierungen infrage, z.B. Hospize als mystische Orte oder Heterotopien, weil hier existenzielle Situationen quasi buchstäblich verortet sind, um den Blick auf die Herstellungsprozesse als „ordinary action“ (vgl. ebd.: 131) zu richten. Gleichermaßen setzen sich Saake/Nassehi/Mayr (2019) u.a. auf der Grundlage teilnehmender Beobachtungen mit Sterbefeldern auseinander und sind ebenso damit befasst, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu dekonstruieren, z.B. das Ideal des bewussten Sterbens.
3
Wobei Palliativstationen nicht explizit auf das medizinische Begleiten des Sterbens ausgerichtet sind, sondern auf die nicht (mehr) kurativ orientierte Versorgung (vgl. Mayr und Barth 2021: 177 f.).
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Durch die mit der Hospizbewegung assoziierten gesellschaftlichen Debatten über geeignete Sterbebedingungen wurde auch das Ableben in der Sphäre des Privaten (wieder) aufgewertet (vgl. Stadelbacher 2020: 298). Allerdings mit medizinischer und psycho-sozialer Schützenhilfe in Form von ambulanter Hospiz- und Palliativunterstützung (ebd.: 324 ff.). In diesem Feld kommt dem zivilgesellschaftlichen Engagement eine besondere Rolle zu. Sterbebegleitungen in Form psycho-sozialer Hilfestellung, die auch die Angehörigen entlasten soll, wird vor allem von Ehrenamtlichen geleistet und ist semi-professionell ausgerichtet, insofern Qualifizierungskurse und teilweise Supervision institutioneller Bestandteil der Tätigkeit sind (Fleckinger 2018: 55 ff.; Klie 2019; Pierburg 2021: 48 ff.). Da teilnehmende Beobachtungen am Sterbebett in stationären Hospizen und in Krankenhäusern – übrigens auch in Altenheimen (Salis Gross 2001) – eine recht ausgeprägte Tradition haben und überdies mit forschungsethischen Herausforderungen einhergehen, entschied ich mich für ein anderes thanatosoziologisches Feld, nämlich einen Hospizkurs, in dem der Umgang mit der Sterbesituation und mit Moribunden als Bildungsgegenstand explizit hergestellt werden. Hier werden Bedeutungszuschreibungen, Praktiken und Erfahrungen sichtbar, die einen reflexiven Bezug zum spätmodernen Ableben haben. Im Folgenden möchte ich Datenmaterial vorstellen, in dem das Sterben verhandelt wird, aber nicht so sehr, um Sinnfiguren zu rekonstruieren, sondern mehr um unterschiedliche Aspekte des Forschungsfeldes hinsichtlich thematischer Schwerpunktsetzungen, die sich in den jeweiligen Sequenzen finden, herauszustellen und methodisch fruchtbar zu machen. Das Kapitel enthält also die Einladung an die Lesenden, sich auf Grundlage der entfalteten Repräsentationen mit in den obligatorischen Stuhlkreis zu setzen und dem facettenreichen thanatologischen Bildungsgeschehen beizuwohnen.
4.
DER TURMBAU, DAS RÖCHELN UND DIE HANDMASSAGE: ETHNOGRAFISCHE FELDVIGNETTEN
Ungeachtet dessen, dass meine bisherige Begriffsverwendung genau das suggeriert haben mag, Ethnografie ist nicht gleich Ethnografie. Wie viele Labels der empirischen Sozialforschung erzeugt auch dieses den unbegründeten Verdacht eines einheitlichen Vorgehens unter ihrem Banner. Die Ethnografie ist allerdings ein besonderer Fall, weil man darüber streiten kann, ob es sich um eine Methode, also eine konkrete Verfahrensweise oder eine Methodologie, so etwas wie eine generelle Forschungshaltung handelt (Amann/Hirschauer 1997: 19 ff.; Gobo
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2010: 15 ff.). Ich verstehe sie als eine Forschungsstrategie (siehe dazu Breidenstein 2013: 31 ff.), die sich im Rahmen der unentbehrlichen teilnehmenden Beobachtungen hinsichtlich des konkreten Vorgehens stark an ihrem jeweiligen Feld orientiert. Ethnografisch zu forschen bedeutet, sich der interessierenden Lebenswelt auszusetzen, indem der oder die Feldforschende dabei ist, mitmacht und wahrnimmt. Im Rahmen dieses unterstellbaren Konsenses hat sich allerdings eine Vielzahl unterschiedlicher Herangehensweisen herauskristallisiert. Im deutschsprachigen Raum ist die Differenz zwischen einer praxeologischen und einer lebensweltanalytischen Variante vielleicht am präsentesten, aber die internationale Ethnografie hat noch wesentlich mehr an Spielarten zu bieten, die sich in detaillistischen Überschriften zeigen: Hier wird u.a. zwischen „Feminist Ethnography“ (Skeggs 2014), „Post(Critical) Ethnography“ (Lather 2014) und „The Ethnography of Health and Medicine“ (Bloor 2014) unterschieden. Aber auch die Autoethnografie (Ellis/Adams/Bochner 2010; Ploder/Stadlbauer 2013) und die sensorische Ethnografie (Pink 2009) erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Man kann kritisch fragen, ob es sich dabei tatsächlich um unterschiedliche Ethnografien handelt oder eher um spezifische Gegenstandsanpassungen oder Schwerpunktsetzungen, die in dem übergeordneten Begriff bereits angelegt sind. Auf der anderen Seite wird so deutlich, dass (auch) theoretische Vorannahmen bei der Feldforschung eine Rolle spielen und nicht jede methodische Entwicklung dem Feld aufgebürdet werden kann. Um einen Beitrag zu dieser Reflexionsrichtung zu leisten, möchte ich im Folgenden drei Feldausschnitte präsentieren, in denen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen finden: eine praxeologische, eine lebensweltanalytische und eine sensorische. Die Unterschiede sollen am Datenmaterial selbst gezeigt werden, in dem gefragt wird, was so über das Sterben und den gesellschaftlichen Umgang mit ihm sozialwissenschaftlich herausgefunden werden kann. 4.1 Turmbau und Teamwork Mareike [eine Kursleiterin] sagt zu den Teilnehmenden [neun Frauen und zwei Männer unterschiedlichen Alters], die in einem Stuhlkreis sitzen, dass sie uns jetzt in eine Geschichte reinschmeiße. Im Nebenraum seien Bauklötze. Mit denen sollten wir einen Turm bauen, der allen vom Design her gefalle. Wir sollten darauf achten, wie wir miteinander kommunizierten. Alle erheben sich und gehen in den Nebenraum. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, auf dem eine offene Tasche liegt, in der sich verschieden große, bunte Bauklötze befinden. Wir gruppieren uns um den Tisch. Ludwig [ein Teilnehmer] schüttet den Inhalt der Tasche vorsichtig auf den Tisch. Es wird durcheinandergeredet. Anna-Christin [die
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jüngste Teilnehmerin] fragt, wie wir anfangen sollten. Wir bräuchten erst mal ein Fundament, antwortet Ludwig. Mehrere Hände greifen nach den Bauklötzen und arrangieren sie zu einer großen rechteckigen Fläche. Auch ich lege Bauklötze an das entstehende Fundament an. Einige davon werden wieder weggenommen. Ich lasse es geschehen. Es wird durcheinandergeredet, dann werden Bauklötze nach oben geschichtet.4 Nicole [eine Teilnehmerin] sagt, dass das kein Turm werde. Sie steht in der zweiten Reihe neben Stefan [einem Teilnehmer], der das Treiben genau wie sie beobachtet, ohne sich am Arrangieren der Bauklötze zu beteiligen. Derweil stapeln die anderen die kleinen Holzquader aufeinander. Mir fällt auf, dass immer wieder Bauklötze weggenommen werden, die gerade erst von einer anderen Person platziert worden sind. Es wird darüber diskutiert, ob die entstehende Konstruktion halten könne. Nicole wirft ein, dass das kein Turm sei. Ludwig stellt einige Holzquader vor den ‚Turm‘, die wie eine Treppe aussehen. Er sagt: „Eine Treppe hat noch gefehlt.“ Nach dem Turmbau gehen wir zurück in den Stuhlkreis. Mareike fragt, wie es mit der Kommunikation geklappt habe. In der Feldvignette lassen sich unschwer Praktiken identifizieren, in welche ich als Ethnografin involviert bin, wenn man mit Schatzki (2016: 33) darunter eine „offene, raum-zeitlich verteilte Menge des Tuns und Sprechens, die durch gemeinsame Verständnisse, Teleoaffektivität (Zwecke, Ziele, Emotionen) und Regeln organisiert ist“,5 versteht. Im Fall der Sequenz sind die Praktiken des Turmbaus6 und des miteinander darüber Kommunizierens augenfällig, die im Sinne der vorgestellten Definition auf einem gemeinsamen Situationsverständnis, das ausgehandelt wird, und impliziten Wissen (Wie baut man mit Holzklötzchen einen Turm? Wie verhandelt man unterschiedliche Vorstellungen? Wie spricht man über das Tun? Wie kann man Missbehagen ausdrücken, ohne den Kooperationszusammenhang zu verlassen? Etc.) basieren. Diese Praktiken sind durch den Kurs auf spezifische Weise gerahmt, das Spiel mit den Holzquadern dient (primär) weder dem ludischen Vergnügen noch der Erlangung von Geschicklichkeitskompetenzen. Vielmehr steht die Vorbereitung auf Sterbebegleitungen im Hintergrund. Und die erscheinen im Lichte dieser Übung als zu erlernendes
4
Die Feldvignetten sind an mehreren Stellen gerafft, um den begrenzten Darstellungsrahmen dieses Beitrags nicht über Gebühr zu dehnen.
5
Das Feld der Praxistheorien ist nicht minder ausdifferenziert als die Ethnografie, siehe dazu u.a. Reckwitz 2003; Schmidt 2012; Hillebrandt 2014.
6
Die religiös-christliche Bedeutungsdimension des Turmbaus ist mir durchaus bewusst, sie ist im vorliegenden Argumentationszusammenhang m. E. aber nicht relevant.
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Teamwork, das dem Organisationshintergrund des ehrenamtlichen Tuns geschuldet ist. Als Sterbegleiter:in des Hospizvereins ist man in kooperative Organisationsstrukturen eingebunden. Die Verteilung von Fällen auf Personen durch das hauptamtliche Personal oder Supervisionen zeugen davon. Den Turmbau kann man als Versuch des Einübens eines relationalen Tuns und seiner kommunikativ geteilten Reflexion deuten. Wie schwierig das ist, zeigt das Engagement in den Praktiken. Die Kooperation erzeugt Ausschlüsse, Handlungen werden nicht aneinander abgestimmt, und ob das Produkt der Praktik das gewünschte ist, steht wie der Erfolg des Versuchs, kooperativ zu handeln, infrage. Hier findet sich die organisationale Seite des spätmodernen Umgangs mit dem Sterben, das sich im Falle von Hospizvereinen als Gemeinschaftsanstrengung mit intern organisierten Handlungsausrichtungen zeigt. Mit der Hinwendung zum situationalen Tun und Sagen kann man sich dieser Sinnschicht ethnografisch annähern. 4.2 Angst und Affirmation An einem Kurssamstag sagt Mareike [eine Kursleiterin], dass wir jetzt in Gruppen Rollenspiele machten. Dazu stelle sie uns drei Situationen vor, die sie selbst erlebt habe. Wir sollten uns überlegen, wie wir mit denen vom Gefühl her umgehen würden. Wir sollten uns in die Rollen versetzen und die Situation dann nachspielen. Für die erste Situation sollten wir uns vorstellen, an einem Samstagnachmittag käme ein Anruf von einem Mann, der sage, seine 94jährige Mutter wolle nur noch im Bett bleiben und ringe nach Luft. Er wisse nicht, ob er den Notarzt rufen müsse. Die zweite Situation beträfe eine 81jährige Frau, die ihren Ehemann betreue. Sie sage, sie sei ausgelaugt, aber unsicher, ob sie ihren Mann alleine lassen könne. In der dritten Situation gehe es um einen Freund, der an Krebs erkrankt sei und nicht wisse, ob er auf seine geliebte Nordsee-Insel fahren solle. Diese Situationen sollten wir jetzt jeweils zu dritt nachspielen. Während sich die Gruppen konstituieren, schreibe ich noch Notizen in mein Feldtagebuch. Als ich irgendwann aufschaue, sehen mich Sarah [eine Teilnehmerin] und Ludwig [ein Teilnehmer] an und fragen, ob ich in ihre Gruppe wolle. Ich nicke und frage, für welche Situation sie sich denn entschieden hätten. Es gehe um die Angehörige mit der schwer atmenden Mutter, sagt Ludwig. Da zucke ich zusammen. Diese Situation finde ich ausgesprochen schwierig. Ich weiß nicht genau, welche Reaktion im Rollenspiel erwartet wird. Wir gehen in einen der leeren Nebenräume. Ich frage, wer welche Rolle spielen solle. Ludwig, der pensionierter Arzt ist, sagt, er kenne solche Anrufe, deswegen mache es keinen Sinn, wenn er denjenigen spiele, der angerufen werde. Ich hätte vor so einer Situation Angst und schon beim Vorstellen hätte ich gedacht, dass mich das überfordern würde,
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sage ich. Dann spiele er den Angehörigen, antwortet Ludwig, und ich den Begleiter, der angerufen werde. Ohne dass er mimt zu telefonieren, beginnt Ludwig das Rollenspiel, indem er mit etwas veränderter Stimme sagt, er mache sich Sorgen um seine Mutter. Die habe den ganzen Tag nichts gegessen und wolle gar nicht aus dem Bett. Außerdem röchle sie so komisch. Er wisse nicht, was er tun solle und überlege, einen Notarzt zu rufen. In der Rolle der Angerufenen frage ich, wie lange es seiner Mutter denn schon schlecht gehe. Es sei schon die ganze Woche nicht so gut gewesen, aber heute besonders schlimm, antwortet er. Und das Röcheln mache ihm Sorgen. Daraufhin werfe ich die Hände in die Luft und rufe, dass ich in dieser Situation sofort dazu raten würde, einen Notarzt zu rufen. Das könne wohl aber nicht Sinn des Rollenspiels sein, denn das wäre dann schnell vorbei. Wir diskutieren zu dritt meinen Einwurf, danach wiederholen Sarah und Ludwig das Spielen der Szene. Zurück im Plenum werden die jeweiligen Situationen besprochen. Am Ende erläutere ich meine Intention, medizinisches Personal auf den Plan zu rufen und bekomme Unterstützung von Kathrin [einer Teilnehmerin]. Daraufhin schaut mich Mareike an und sagt, dass es Kathrin und mir wohl immer noch so gehe, dass wir den Tod unbedingt verhindern wollten. Diese Repräsentation einer Sequenz des Hospizkurses ist stärker auf das Erleben ausgerichtet, deswegen stehe ich als Ethnografin mehr im Vordergrund als in der ersten Feldvignette. Hieran ist die lebensweltanalytische Ethnografie anschlussfähig, die es sich dezidiert zur Aufgabe macht, Ausschnitte sozialer Wirklichkeit „wenigstens annäherungsweise so zu rekonstruieren, wie die Menschen sie erfahren“ (Hitzler/Eisewicht 2020: 10). Auf einer sozialphänomenologischen Grundlage wird versucht, den „Welt(an)sichten“ (ebd.) der Teilnehmenden des interessierten Feldes auf die Spur zu kommen, was Verweise des Gegenwärtigen auf nicht Gegenwärtiges, Appräsentationen, bedarf, die durch die Erfahrungen des/der Forschenden kontrolliert werden müssen. Die Grundannahme ist etwas verkürzt ausgedrückt, dass erst Erlebnisse in Forschungsfeldern von den Ethnograf:innen selbst ein tiefgehendes Verständnis eben dieser ermöglichen. Anne Honer (1993: 34 ff.) fordert deswegen ein existenzielles Engagement ein, durch welches das Geschehen aus der Perspektive eines typischen Teilnehmers/einer typischen Teilnehmerin beschrieben werden kann. Genau das wird in der Szenenbeschreibung deutlich. Weit davon entfernt, auf einem Hochstuhl zu sitzen, partizipiere ich an der Übung und lasse mich affektuell involvieren. Die Situation, die für das Rollenspiel Pate steht, an dem ich mich beteilige, erzeugt bei mir Angst, was ich als relevanten Aspekt der Beobachtung in der Beschreibung thematisiere. Das Gefühl der Furcht ist aber nicht nur Teil meiner egologischen
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Lebenswelt, sondern entfaltet auch Wirksamkeit in der „kleinen sozialen Lebens-Welt“ (ebd.: 28) des Hospizkurses, weil ich das Spiel nicht mitspielen kann und meinem Unbehagen Ausdruck verleihe. Meine affektuell aufgeladenen Bedenken werden am Ende der Szenenbeschreibung von der Kursleiterin als Einstellung gedeutet, die durch den Kurs verändert werden soll. So zeigt sich die affirmative Haltung gegenüber dem Sterben und dem Tod als symbolischer Teil der Hospizbewegung, die im Ausbildungskontext verinnerlicht werden soll. Mein Regelverstoß, sowohl auf der Ebene der Handlungen als auch auf der der Emotionen, führt zu einer Explikation des normativen Überbaus. Erst die Involvierung, die über ein oberflächliches Mitmachen hinausgeht, erlaubt diesen Einblick ins Feld. In dem Blick der Kursleiterin spiegelt sich zudem ein Hierarchieverhältnis, das mit Deutungsmacht einhergeht. Dabei schwingt die Zielsetzung des Kurses mit, einem habituellen Transformationsprozess verpflichtet zu sein, wenn Sterben und Tod nicht hospizadäquat in die Vorstellungswelt integriert sind. Die Repräsentation der Erfahrungsebene ermöglicht hier den Zugang zu normativen Aspekten spätmoderner Sterbekonstruktionen, um die im Ausbildungskontext reflexiv gerungen wird. 4.3 Hände und Haptik Mareike [die Kursleiterin] sagt, dass wir mit Zuhören und Verstehen auf der körperlichen Ebene weitermachten. Wir sollten uns zu zweit zusammentun und einer massiere die Hände des anderen. Sie fährt fort: „Was nehme ich von dem anderen wahr?“ Wanda [eine Teilnehmerin] wirft „angefangen bei den Eheringen“ ein. Es wird gelacht. Das sei ziemlich intim, fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu. Darauf antwortet Mareike: „Wie oft haben wir gesagt, dann nehme ich seine Hand. Da seht ihr, wie nah man da jemanden kommt.“ Sie stellt kleine Fläschchen mit Öl und eine Kleenex-Box in die Mitte des Stuhlkreises. Niemand macht Anstalten, mit der Handmassage zu beginnen. Das koste ihn schon Überwindung, sagt Stefan [ein Teilnehmer]. Nicole [eine Teilnehmerin] stimmt ihm zu. Mareike wendet sich an Ludwig [einen Teilnehmer] und sagt, dass sie seine Hände massieren könne. Er nickt. Kathrin [eine Teilnehmerin], die neben mir sitzt, fragt, ob wir uns zusammentun wollten. Ich könne gerne ihre Hände massieren, antworte ich darauf. Mir ist die Situation etwas peinlich. Aber ich nehme ein Tuch und ein Fläschchen mit Öl. Das Tuch lege ich auf meine übereinandergeschlagenen Beine. Dann träufle ein paar Tropfen Öl in meine linke Handfläche, verreibe sie und zeige Kathrin gestisch an, dass sie mir ihre Hand reichen solle. Sie reicht mir beide Hände. Ich sage, dass ich erst mal mit einer Hand anfangen würde. Sie zieht ihre rechte Hand zurück, und ich beginne, die linke zu
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massieren. Durch das Öl fühlt sich die Hand in meinen Händen glitschig an, aber auch irgendwie verfremdet. Ich drücke vorsichtig zu und spüre überall Glieder. Während ich die Hand massiere, passe ich auf, keinen schmerzhaften Druck auszuüben. Mein Blick bleibt auf unsere Hände gerichtet. Ich massiere erst den Handrücken und dann die Handinnenfläche. Kathrin sagt, dass das schön sei. Das könnten wir immer machen. Sie lacht und in mir nimmt die Anspannung langsam ab. Die in der Feldvignette beschriebene Handmassage offenbart eine weitere ethnografische Fokussierungsmöglichkeit: Sinnlichkeit im Sinne von auf die Sinne gerichteter Aufmerksamkeit. Inwiefern man tatsächlich von einer sensory ethnography sprechen kann, die Paul Stoller (1989) für die Anthropologie vorschlägt, sei dahingestellt. Nichtsdestotrotz werden in diversen ethnografischen Studien unterschiedliche Sinne in den Mittelpunkt gestellt und als Leitstern der jeweiligen Erkenntnisgenerierung ausgewiesen. Susanne B. Schmitt (2012) ist in ihrer Museumsethnografie vor allem dem Sehen und dem Bewegen verpflichtet, Jacquelyn Allen-Collinson, Gareth McNarry und Adam B. Evans (2021) befassen sich auf der Grundlage von zwei Forschungsprojekten u.a. mit auditiven Abstimmungen beim Joggen und Siegfried Saerberg (2015) setzt sich mit dem körperlichen Erleben von „chewing accidents“ auseinander, wobei er die unterschiedlichen Erfahrungen von Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Menschen ohne diese gegenüberstellt. So ist auch im Reich der Sinne nichts vor der Ethnografie sicher. Folglich können ebenso die Empfindungen beim Massieren von Händen im Hospizkurs hinsichtlich ihres Beitrags zu einem Verständnis des Feldes beleuchtet werden. Hier steht die haptische Wahrnehmung im Vordergrund, die von Peinlichkeitsempfindungen begleitet wird, denn bevor ich die Hände meiner Mitstreiterin berühre, wird die Übung aufgrund affektiver Hemmungen boykottiert. Die Handmassagen beginnen erst, nachdem die Kursleiterin einen Anfang macht und so die Grenze des Berührens und Berührtwerdens in pädagogischer Absicht signalwirksam überschreitet. Die Peinlichkeit rekurriert auf die Intimität der Berührung, die sich in der Beschreibung der Handmassage dann als Eingehen auf das antizipierte Körperempfinden des/der anderen zeigt. Dabei erscheint das Überwinden der Peinlichkeitsschwelle als Ziel der Übung, die nicht dem Körperhandeln selbst verpflichtet ist, es sollen schließlich keine Masseur:innen ausgebildet werden, sondern der Erfahrung der Grenzverletzung. Die Antwort der Kursleiterin auf den Hinweis der Hemmungen – „Wie oft haben wir gesagt, dann nehme ich seine Hand. Da seht ihr, wie nah man da jemanden kommt.“ – bezieht sich auf die Sorgepraktik des Handhaltens, die von den Teilnehmenden in der Kurshistorie geradezu reflexhaft dem Handlungsrepertoire der
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Sterbebegleitung zugeordnet wurde. Auch als Kompensation, wenn verbaler Austausch aufgrund des fortgeschrittenen Prozesses des Dahinscheidens nicht mehr möglich ist. Und jetzt sehen wir, was das bedeutet. Und spüren es, zwischen unseren Fingern. Anhand des körperlichen Empfindens und den damit verbundenen Gefühlen und Affekten zeigt sich die Hybridität ehrenamtlicher Sterbebegleitungen, die zwischen einem professionellen und einem freundschaftlichen Engagement changieren und daher mit Beziehungsaushandlungen und der Unschärfe adäquater Praktiken verbunden sind. In den Berührungen spiegeln sich Unsicherheiten, die auf diesen ambigen Status zurückgehen. Die Bewältigung des spätmodernen Sterbens ist also auch mit der Frage nach Professionalität und Privatheit assoziiert – die Repräsentation sinnlichen Erlebens zeigt das hier „an Hand“ der affektuellen Berührungsordnung.
5.
FAZIT
Die Forschungsfelder, die aus dem spätmodernen Sterben und dem Umgang mit ihm resultieren, sind so mannigfaltig wie die Methoden ihrer Untersuchung. Je nachdem, welche Perspektive auf die Sozialität des Ablebens eingenommen wird, ergeben sich differente methodologische Herangehensweisen. Verortet man das Dahinscheiden in Sterbewelten, erscheint die Ethnografie als Mittel der Wahl, deren Relevanzstrukturen anhand von teilnehmenden Beobachtungen (teilweise buchstäblich) auf den Leib zu rücken. Abhängig davon, welcher Schwerpunktsetzung man dabei folgt, kann Unterschiedliches in den ethnografischen Blick bzw. in die ethnografische Wahrnehmung kommen. Dass nicht nur Blicke hierbei entscheidend sein können, soll dieser Beitrag u.a. zeigen. Im Gegensatz zu der cineastischen Referenz der Beobachtungen von einem Hochstuhl aus bedeutet die Integration in Forschungsfelder, das gesamte Wahrnehmungsspektrum zu nutzen und mit den (anderen) Feldteilnehmenden (vielfältig) zu interagieren, um möglichst heterogene Daten analysieren zu können. Darin findet sich m. E. das größte Potenzial der Ethnografie. Hier gibt es keine Einschränkungen durch vorgängige Festlegung; was im Feld relevant ist, offenbart sich erst dort. Gleichwohl können unterschiedliche Erkenntnisausrichtungen bei der Feldforschung eine Rolle spielen, was exemplarisch anhand der drei Beschreibungen vorgeführt werden sollte. Mit den präsentierten Feldvignetten wurde einer praxeologischen, einer lebensweltlichen und einer sensorischen Schwerpunktsetzung nachgegangen. Dabei gerieten Praktiken und (sinnliche) Erfahrungen ins reflexive Visier. Um einem Forschungsfeld in all seiner Komplexität wenigstens annähernd gerecht zu
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werden, kann es helfen, auf verschiedene Sinnebenen gesondert einzugehen. So können die „doings“ and „sayings“ anderes offenbaren als die Affekte, Emotionen, Empfindungen, die natürlich mit ihnen verbunden sind. Differenziert man diese Ebenen, werden Fokussierungen möglich, die im Kontext mit einem umfänglichen Feldwissen, das immer relevant ist in der Ethnografie, analytische Verdichtungen erlauben. Geht man von Ordnungen des Sterbens aus, können Ordnungsmodalitäten identifiziert und in Beziehung gesetzt werden. So verweisen die Praktiken der ersten Fokussierungsvariante auf organisationale Kooperationsbeziehungen. Diese können anhand der Erfahrungen, die sich in den beiden anderen Beschreibungen zeigen, mit Werte- und Körperordnungen relationiert werden. Sterbebegleitungen als kooperative Praktiken – in ihrer Hervorbringung in dem untersuchten Bildungsfeld – sind demnach an einem auf das Ableben bezogenen affirmativen Wertehorizont orientiert und basieren auf leiblich-körperlichen Aushandlungsprozessen. Angst, Peinlichkeit und Berührungen können als entsprechende Marker rekonstruiert werden. So sind Sterbebegleitungen das Produkt dieser Ordnungsebenen, die in dem Kurs vermittelt werden. Die Datendiversität erlaubt hier nicht nur den Nachvollzug von Ordnungsmustern selbst, sondern kann ebenso die damit verbundenen (auch körperlich fundierten) Einschreibungsprozesse annäherungsweise rekonstruieren. Somit werden drei Frageperspektive adressierbar: Was wird in dem Feld gemacht? Wie wird es erlebt? Und wie fühlt es sich an? Gerade in Forschungsfeldern, die das Dahinscheiden bearbeiten, kann erkenntnisbezogener Facettenreichtum Fruchtbarkeit entfalten, weil hier Existenzielles verhandelt wird, was eigene Feldlogiken erzeugt. Mag die Analyse der Küchennutzung (im Film) vielleicht noch einen engen Beobachtungshorizont erlauben, die Erforschung des Sterbens (im echten Leben) bedarf eines umfassenderen Engagements, dann ist zumindest ein wissenschaftliches Happy End aussichtsreich.
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FILM Kitchen Stories, Norwegen/Schweden 2003, Regie: Bent Hamer.
Die Leichen der Ethnomethodologie Daniel Schönefeld „Einatmen. Ausatmen. Nicht mehr atmen!“ (Aufforderung beim Thorax-Röntgen)
1.
GARFINKELS ZWEIFELHAFTE LEICHEN
Während eines Forschungsaufenthalts am SPC – Suicide Prevention Center (in Los Angeles) hatte Harold Garfinkel, der Begründer der Ethnomethodologie, die Möglichkeit, dort tätige Ermittler bei der Aufklärung zweifelhafter Todesfälle zu beobachten. „Einzelne ‚plötzliche, unnatürliche Todesfälle‘, die nicht eindeutig der Kategorie ‚Selbsttötung‘ oder anderen Todesarten zuzuordnen waren, wurden vom Gerichtsmediziner an das SPC mit der Bitte um“ Aufklärung überwiesen (Garfinkel 2020: 48). Die Fragestellung jedes Auftrags lautete, ob es sich um einen „natürliche[n] Tod, Unfall, Suizid“ oder „Mord“ handelt (ebd.: 51). Um diese Frage beantworten zu können, erhielten die SPC-Mitarbeiter Zugang zur Leiche in der Gerichtsmedizin und stellten eigene Ermittlungen an. Dabei sammelten sie „Gerüchte, flüchtige Bemerkungen und Geschichten“ über den Verstorbenen, aber auch „Arzneiflaschen, Nachrichten, diverse Kleidungsteile“, die sie in seiner Wohnung fanden (ebd.: 55, 54). Garfinkels Untersuchung offenbart eine interessante Differenz zwischen der Art und Weise, wie man sich die Ermittlungspraxis dieser Spezialisten gemeinhin vorstellt und wie sie tatsächlich abläuft. Ermittler gelten als Personen, die aufgrund ihres Fachwissens in der Lage sind, am ‚Tatort‘ Spuren und Hinweise zu entdecken, zu sammeln und dann systematisch auszuwerten, um so die Wahrheit ans Licht zu bringen. Bei seinen Beobachtungen der Ermittlungspraxis vor Ort gewann Garfinkel aber einen ganz anderen Eindruck. Das beginnt zunächst mit dem ‚Entdecken‘ von Spuren und Hinweisen. Garfinkel zeigt, dass dieser Vorgang kein einfaches Auffinden, sondern vielmehr ein
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komplexes ‚Erfinden‘ ist. Beispielhaft lässt sich das an einer Leiche „mit aufgeschlitzter Kehle“ verdeutlichen, die zusätzlich noch kleinere Verletzungen am Hals aufweist (Garfinkel 2020: 55). Bezeichnet der Ermittler diese kleinen Wunden als „Hesitationsschnitte“, evoziert er damit eine ganz spezifische Vorstellung, nämlich jene, „dass diese Schnitte daher stammen, dass der Betroffene zunächst mehrere zögerliche Vorversuche machte und sich danach die tödliche Schnittwunde beibrachte“ (ebd.). Auf diese Weise lässt sich die Leiche als Selbstmörder beschreiben. Würde der Ermittler die kleineren Verletzungen neben dem Kehlenschnitt aber als Kratzspuren deklarieren, ermöglicht er eine ganz andere Interpretation: Hier liegt ein Mordopfer, an dessen Hals sich Kampfspuren zeigen. Dieses ‚Anfertigen‘ von Spuren und Hinweisen, auf deren Basis dann Kategorien von Todesarten anwendbar werden, erfolgt Garfinkels Beobachtungen zufolge auch nicht nach einem im Vorfeld festgelegten Algorithmus, der dann Schritt für Schritt abgearbeitet wird, sondern in unterschiedlichen Kombinationen von Handlungsschritten: „Es ist nicht so, dass der mit einer Liste von Bezeichnungen [der Todesarten, DS] ausgestattete Ermittler eine Untersuchung durchführte, die schrittweise die Grundlagen für eine Auswahl lieferte.“ (Garfinkel 2020: 51) Vielmehr zeigt sich, dass die SPC-Mitarbeiter das Ergebnis eines Untersuchungsschritts zum einen schon festlegten, bevor sie überhaupt mit der ‚eigentlichen‘ Ermittlungsarbeit – z.B. der Begehung der Wohnung des Verstorbenen – begonnen hatten (vgl. ebd.). Vor Ort prüften sie dann, ob und inwiefern man hier Zeichen findet, die zu passenden Spuren gemacht werden können. Zum anderen änderten sie das Ergebnis ihrer Untersuchung(-sschritte) mehrfach. Heute war es Selbstmord, morgen wird es ein Unfall gewesen sein. Auf den ersten Blick erscheint die Ermittlungsarbeit unprofessionell, chaotisch und willkürlich. Garfinkel zeigt jedoch, dass das nicht (so ganz) stimmt. Begleitet man mehrere Ermittler über einen längeren Zeitraum hinweg, lässt sich nämlich durchaus eine spezifische Ordnung in ihrem Vorgehen entdecken. Der Taktgeber – das ordnungsstiftende Element – dabei ist der Untersuchungsbericht (vgl. Garfinkel 2020: 52 f.). Der Bericht muss das Ergebnis der Ermittlungen klar ausweisen, damit die Auftraggeberin – die Gerichtsmedizin – damit etwas anfangen kann. Zugleich muss er aber auch so verfasst sein, dass er möglichen kritischen Nachfragen – etwa von den Angehörigen des Verstorbenen – standhält. Deshalb erscheint es durchaus sinnvoll, den Bericht zugleich so zu schreiben, dass man im Nachhinein mehrere Lesarten bilden und vertreten kann, ohne die eigene Professionalität einzubüßen (vgl. ebd.: 51). Während jedes Untersuchungsschritts sind Ermittler deshalb mit Fragen wie diesen beschäftigt: ‚Gibt es überhaupt eine anerkannte Ermittlungsmethode, mit
Die Leichen der Ethnomethodologie | 179
der ich meine Erkenntnis – im Fall des Falles – als korrekt entwickeltes Ergebnis begründen kann? Oder lasse ich diese Einsicht lieber weg?‘ oder: ‚Passt dieser Befund zu denen, die ich in den ersten Teilberichten schon beschrieben habe? Oder verwässert er meine Untersuchung? Und vor allem: Was davon wäre eigentlich besser für mich?‘ (vgl. Garfinkel 2020: 53f.). Je nach Antwort wird so immer wieder ein Neuarrangieren von ‚Beweisen‘ und Umbilden von ‚Schlussfolgerungen‘ nötig. Garfinkel (ebd.: 52) resümiert, man könne aus dieser Praxis lernen, „dass die Untersuchungen dadurch gekennzeichnet seien, dass sie durch [den] Bericht (account) gesteuert werden, von dem eines Tages in Anspruch genommen werden wird, er sei in praktisch nachvollziehbarer Weise korrekt.“ Ermittler sehen ihre Aufgabe also offenbar nicht darin herauszufinden, wie sich ein Todesfall wirklich ereignet hatte, sondern „wie sich ein Todesfall wirklich-praktisch-nachvollziehbar ereignet hatte.“ (Garfinkel 2020: 50) Der Untersuchungsbericht ist dabei kein zufällig entstandenes Ermittlungsergebnis, sondern ein methodisch gestaltetes Dokument, mit dem sich sein Autor als sachlicher, erfahrener, gesetzestreuer Ermittler präsentieren kann. Dieses Papier liefert also nicht die Wahrheit, sondern es dokumentiert eine von mehreren Wahrheiten, nämlich jene, die der Mitarbeiter einer Untersuchungsbehörde ermitteln sollte (Auftrag), durfte (Recht) und konnte (Ressourcen). An diesem und anderen Beispielen verdeutlicht Harold Garfinkel im ersten Kapitel seines Werkes Studies in Ethnomethodology (1967) auf intuitive Weise praktisch alle Elemente seiner Theorie. Deren Kernannahme besteht darin, dass soziale Wirklichkeit eine Konstruktion ist, die die Teilnehmenden an der Gesellschaft interaktiv, mithilfe verschiedener Praktiken, auf geordnete Weise herstellen. Diese Annahme gilt für alle sozialen Ereignisse und deshalb auch für das Sterben und das Verstorben-Sein eines Menschen. Garfinkel beschreibt das am Beginn des Vorworts zu seinen Studies so: „Wenn man Soziologie betreibt, sei es als Laien- oder Berufssoziologe, ist jede Bezugnahme auf die ‚reale Welt‘, selbst wenn sie sich auf physikalische oder biologische Ereignisse richtet, eine Bezugnahme auf die organisierten Tätigkeiten des Alltagslebens.“ (Garfinkel 2020: 27) An dieser Idee setzt der vorliegende Beitrag an. Er möchte die Frage beantworten, wie man Sterben und Tod ethnomethodologisch denken und empirisch untersuchen kann. Ausgangspunkt dieses Vorhabens ist die Beobachtung, dass Sterben und Tod – vor allem der professionelle Umgang mit Leichen – bei der Entwicklung der Ethnomethodologie eine zentrale Rolle spielten. Der vorliegende Text möchte also nicht nur das ethnomethodologische Programm innerhalb der Thanatologie vorstellen, sondern ist auch eine kleine ‚Leichenschau‘.
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Im nächsten Abschnitt werden zunächst die wichtigsten theoretischen Grundlagen der Ethnomethodologie vorgestellt. Danach wird anhand eines Klassikers – David Sudnows Organisiertes Sterben (1973) – gezeigt, welche empirischen Einsichten ein ethnomethodologischer Blick erzeugen kann. Zuletzt werden forschungspraktische Empfehlungen vorgestellt, der aktuelle Forschungsstand skizziert und Desiderata ausgewiesen.
2.
DAS SOZIALE ALS BERICHTSWESEN
Die Ethnomethodologie geht davon aus, dass das Soziale eine kommunikative Herstellung ist. Das soll auch auf das Sterben und den Tod eines Menschen zutreffen. Auf welchen theoretischen Annahmen baut Harold Garfinkel dieses Argument auf? Indexikalität Genau wie die gerade vorgestellten Ermittler des SPC (Suicide Prevention Center) rückt auch Garfinkel das Problem der Mehrdeutigkeit ins Zentrum seiner Arbeit. Er reformuliert es, indem er auf die vor allem in der Wissenschaft übliche Unterscheidung zwischen indexikalen und objektiven Ausdrücken verweist (vgl. Garfinkel 2020: 39 ff.). Als objektiv werden dort jene Begriffe bezeichnet, die unabhängig vom Kontext ihrer Verwendung immer auf dasselbe Phänomen verwiesen. Als indexikal gelten hingegen solche Formulierungen, bei denen das nicht der Fall sei: „Alle derartigen Äußerungen oder ‚Zeichen‘ stellen ein Wort dar und verweisen auf eine bestimmte Person, einen bestimmten Zeitpunkt oder einen bestimmten Ort, aber benennen etwas, das nicht durch irgendeine Wiederholung des Wortes benannt wird.“ (Garfinkel 2020: 39) Ein ‚bald‘ verweist hier auf dies und dort auf das. Das Zeichen bleibt, das Bezeichnete geht. In der Wissenschaft gilt Indexikalität als ein Ärgernis. Forschende versuchen es mit Definitionen und der Verwendung von „‚primitiven‘ Begriffen“ zu lösen (Garfinkel 1981: 204). Sie verwandeln indexikale Zeichen in objektive. Garfinkel hat mithilfe zahlreicher Experimente und theoretischer Herleitungen demonstriert, dass das Problem der Indexikalität grundsätzlich nicht lösbar ist. Denn „[a]lle Versuche, indexikale Aussagen restlos durch objektive Aussagen zu substituieren,“ führen unmittelbar zum Ausgangspunkt dieses Bemühens zurück, weil „bei diesem Ersetzungsprozeß zwangsläufig wieder indexikale Elemente einfließen, die eigentlich selbst wieder repariert werden müßten.“
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(Bergmann 1988: 37) Jede sprachliche und nicht-sprachliche Handlung hat also einen unvermeidlich indexikalen Charakter. Eben diese Erfahrung machen auch die Ermittler des SPC, wenn sie eine Leiche näher betrachten. Hautrisse als Hinweise auf die Zögerlichkeit eines Selbstmörders oder als Spuren eines Kampfes bezeichnen zu können, ist Ausdruck (und Chance) der unvermeidbaren Interpretationsbedürftigkeit aller Zeichen. Dieses Problem löst sich auch mit dem Tod nicht auf. Auch an Leichen finden sich keine objektiven Zeichen, deren Bedeutungen sich im Bewusstsein der Betrachter abbilden oder die mit einem Skalpell freigelegt werden könnten. Dasselbe gilt für jede einzelne Äußerung von Zeugen, die Ermittler vernehmen. Belebte und unbelebte Entitäten sowie verbale und nonverbale Handlungen „tragen keinen Sinn in sich“ (Garfinkel 1981: 208). Wenn nun also die Bedeutung eines Zeichens nicht in ihm enthalten ist, warum haben wir dann überwiegend genau dieses Gefühl? Warum meinen wir, genau zu wissen, was der Andere sagen will, obwohl er die letzten Silben seines Satzes noch gar nicht beendet hat? Warum ist das Problem der Indexikalität im Alltag kein ‚echtes‘ Problem? Die Beantwortung dieser Frage(n) ist der zentrale Ausgangspunkt der Ethnomethodologie (vgl. auch Bergmann/Meyer 2021: 46). Garfinkel trägt hierfür eine Fülle aufeinander verweisender Theorien zusammen, die insgesamt den theoretischen Rahmen der Ethnomethodologie bilden. Verstehen – Dokumentarische Methode Zunächst setzt er am Bewusstsein des einzelnen Gesellschaftsmitglieds an, indem er eine Theorie der subjektiven Sinngebung entwickelt. Diese benennt Elemente und Prozesse, mit deren Hilfe Teilnehmende an Situationen bewusstseinsförmige Sinnfeststellungen machen. Die Arbeitsmaterialien des Bewusstseins sind „praktische Theorien“ (Bergmann 1988: 30). Dabei handelt es sich um ein regelhaftes, szenisch aufgebautes, reflexiv kaum zugängliches Wissen darüber, wie man spezifische, immer wiederkehrende Probleme der Interaktionsorganisation bewältigen kann (vgl. Garfinkel 2020: 36). In Anlehnung an Alfred Schütz (1972) könnte man von einem Rezeptwissen sprechen: „wer immer ein bestimmtes Resultat erreichen will, muß so verfahren, wie es das Rezept, das für diesen speziellen Zweck gilt, angibt.“ (ebd.: 58) So haben wir zum Beispiel praktische Theorien darüber, wie man einen Witz erzählt (vgl. Wolff 1993). Zunächst gilt es, sich eine entsprechende Genehmigung der anderen Anwesenden einzuholen. „Meist geschieht dies auf konventionelle Weise, indem man mit ‚kennt Ihr den schon …?‘ einen Fuß in die (Ge-
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sprächs-)Tür zu stellen versucht“ (ebd.: 115). Nachdem diese Genehmigung erteilt wurde, beginnt der Fragende mit der Witzpräsentation, während sich die anderen durch Schweigen zu seinem Publikum machen. Hört man schließlich die Pointe – realisiert durch „Überschneidungen zweier Sinnsysteme bzw. Kontrastierungen verschiedener Sinninhalte und zwar in unmittelbarer Aufeinanderfolge“ (ebd.: 110) – muss gelacht werden, damit der Witz auch witzig ist. Lachen ist also ein wichtiger Bestandteil von Witzerzählungen bzw. unserer praktischen Theorie darüber, wie-man-einen-Witz-macht. Wir haben weitere praktische Theorien, in denen Lachen eine zentrale Methode ist, mit der man strukturelle Probleme der Gesprächsorganisation lösen kann. So wissen wir – ohne darüber bewusst zu reflektieren –, dass man mit Lachen ein Thema beenden oder eine Äußerung kritisieren kann (vgl. Holt 2010; Schönefeld 2017: 240 ff.). Zum Erwerb solcher praktischen Theorien notiert Garfinkel (1981: 208), dass man sie in Interaktionen mit Anderen erlernt. Durch Mit-Machen lernen wir, wie man erfolgreich einen Witz erzählt, ein Thema beenden oder eine Äußerung kritisieren kann. Und dabei lernen wir auch, dass Lachen nicht gleich Lachen ist. In der Interaktion mit anderen nutzen die Handelnden ihre praktischen Theorien als Interpretationsfolien, mit deren Hilfe sie den verbalen und non-verbalen Handlungen ihres Interaktionspartners einen Sinn zuordnen. Mit Bezug auf Karl Mannheims dokumentarische Methode benennt Garfinkel zwei Operationen des Bewusstseins. (1) Wir deuten die entsprechende Handlung vor dem Hintergrund unserer praktischen Theorien. Wir machen also einen Vergleich: In welchen Interaktionsordnungen ist eine so gestaltete Handlung an eben dieser Stelle eine erwartbare Handlung? „Gemäß Karl Mannheim beinhaltet die dokumentarische Methode die Suche nach ‚einem identischen, homologen Muster, das einer weitgestreuten Fülle total unterschiedlicher Sinnverwirklichungen zugrundeliegt‘.“ (Garfinkel 1981: 199) (2) Als Ergebnis dieser Prozedur des Vergleichs treffen wir dann eine Entscheidung. Wir erkennen die jeweilige Handlung als Teil einer praktischen Theorie wieder und machen damit eine Sinnfeststellung. Wir betrachten die jeweilige Handlung also „als ‚das Dokument von‘, als ‚Hinweis auf‘, als etwas, das anstelle und im Namen des vorausgesetzten zugrundeliegenden Musters steht.“ (Ebd.) Dieser Vorgang verläuft weitgehend automatisiert und wird nicht reflektiert. Ganz anders ist das bei den Ermittlern des SPC. Sie durchlaufen die Operationen der bewusstseinsförmigen Herstellung von Sinn sehr langsam und sehr ausführlich. Garfinkel wählt sie deshalb als didaktisches Material, um den Prozess der dokumentarischen Interpretation verdeutlichen zu können: Sie wählen Zeichen an einer Leiche aus, denen sie dann über das Erzählen möglicher Geschichten
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eine Bezeichnung zuweisen und sie damit zu Spuren machen. Jeder „Todesfall wird als Ausgangspunkt genommen, von dem aus verschiedene gesellschaftliche Lebensmöglichkeiten, die durch diesen Tod hätten beendet werden können, gesucht und ‚in die Hinterlassenschaften‘ hineingelesen werden“ (Garfinkel 2020: 54). Alles in allem: „Den ‚Sinn‘ von etwas Gesagtem zu verstehen, bedeutet, es als etwas, das ‚einer Regel folgt‘ aufzufassen.“ (Garfinkel 2020: 70) Das leistet die dokumentarische Methode. Sie „ist in der Lage, Feststellungen und ihren Aussageinhalt in den Status sozialer Tatsachen zu erheben bzw. diesen elementar in Rechnung zu stellen.“ (Garfinkel 1981: 199) Darstellen – Accounting und Reflexivität Den gerade beschriebenen Prozess der Sinnfeststellung konzipiert Garfinkel jedoch nicht nur als einen „‚privaten‘ Bewusstseinsvorgang“, sondern zugleich „als ein soziales, ‚öffentliches‘ Geschehen“ (Bergmann 1988: 45). Der Mensch in Garfinkels Theorie ist nicht nur ein Wissensverwender (ein Verstehender), sondern auch ein Wissensanwender (ein Darsteller). Er übersetzt sein subjektives Verstehen ‚in die Sprache‘ der lebensweltlichen Praxis, indem er das tut, was entsprechend seiner praktischen Theorie nun zu tun ist. Indem ich also sage ‚Nee, erzähl mal!‘ erzeuge ich eine hörbare Interpretation meines Verständnisses Deiner Äußerung ‚Kennt ihr den schon ...?‘. Garfinkel bezeichnet dies als Accounting, was man auch als Berichtslegung umschreiben kann. Diese Bezeichnung ist nicht zufällig gewählt, sondern wird der eingangs vorgestellten Studie entnommen, in der der Begriff bereits aufgetaucht war. Wie Ermittler, die am Ende ihrer Untersuchung einen Bericht abgeben müssen, gibt auch jeder Teilnehmende an Interaktionen fortwährend einen Bericht über sein Verstehen der Handlung des jeweils Anderen ab. Verstehen-und-Darstellen ist eine Grundoperation der Produktion des Sozialen, die jeder Teilnehmende an diesem Herstellungsprozess fortwährend erbringen muss. Auf diese Weise trägt das einzelne Gesellschaftsmitglied einen Baustein zur Reproduktion sozialer Ordnung bei. Hierauf verweist ein weiteres Konzept der Ethnomethodologie – das Konzept der Reflexivität. Dahinter steht die Idee, dass unsere praktischen Theorien über soziale Geordnetheiten und unser praktisches Handeln aufeinander verweisen. In den Begriffen eines 1981 erschienenen Aufsatzes von Garfinkel ließe sich das so auf den Punkt bringen: Wir haben Wissen über soziale Strukturen (praktische Theorien), und indem wir entsprechende Übersetzungen auf der Ebene der lebensweltlichen Praxis vornehmen (als Darstellung von Verstehen), befinden wir uns sodann innerhalb sozialer Strukturen.
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Nicht ein Kontext formt unser Handeln, sondern über die Darstellung einer spezifischen Form des Handelns stellen wir einen bestimmten Kontext her. Genau das tut ein Ermittler des SPC, wenn er eine Leiche betrachtet und in sein Notizbuch schreibt: ‚mnl., Kehlenschnitt mit Hesitationsspuren, vmtl. Selbstmord‘. Über die Auswahl dieser Begriffe und ihre Anordnung macht er sich für andere – wenn sie über entsprechende praktische Theorien verfügen – als professioneller Gutachter verfügbar, der mit sachlichen, nüchternen Worten ein Beweismittel sichert. Nicht der kühle Raum in der Gerichtsmedizin mit seinen stählernen Boxen, aus denen man Leichen herausziehen und dann betrachten kann, macht ihn zu einem Ermittler. Sondern über die Art und Weise seiner Handlungen macht er sich als diese Person erkennbar. Er könnte auch anders. Aber dann wäre er nicht mehr als Ermittler beschreibbar. Praktische Theorien haben also zunächst etwas Optionales, danach aber auch etwas Zwingendes. Das Soziale, in Form unserer Erwartungen darüber, welche Darstellung andere jetzt und hier erwarten, damit wir ein gemeinsames Verständnis der Situation teilen, ist dem Einzelnen gewissermaßen unverfügbar (vgl. Garfinkel 1981: 198). Interaktion und Ordnung – Gesellschaft als fortwährende Berichtslegung Die oben vorgestellten Überlegungen lassen sich als das Prinzip des Verstehens-und-Darstellens bezeichnen. Es beschreibt den Prozess der Sinnfeststellung eines Gesellschaftsmitglieds. Dieses Konzept dynamisiert Garfinkel nun. Er argumentiert, dass die Teilnehmenden an einer Interaktion in diesem Modus wechselseitig Sinnfeststellungen vornehmen und damit – Zug-um-Zug – ihre Begegnung als eine spezifische Situation, als eine gemeinsam geteilte soziale Wirklichkeit reproduzieren. Das Gefühl, ein gemeinsames Verständnis der Situation zu teilen (Intersubjektivität), stellt sich ein, wenn die Teilnehmenden in den Reaktionen des jeweils Anderen erkennen, „dass etwas-entsprechend-einer-Regel-gesagt wurde“ (Garfinkel 2020: 70). Beide gelangen also zu dem Eindruck, der Andere orientiere sich an der ‚Situationslogik‘, an der auch sie sich orientieren. Ob sich dieser Eindruck aber auch nach der nächsten Reaktion des Anderen erneut einstellt, ist strukturell ungewiss. Genau das drückt die Figur der Mehrdeutigkeit jedes Zeichens aus. Sie ist eine bildhafte Umschreibung für die theoretische Annahme, dass Handelnde an keiner Stelle der Interaktion festlegen können, wie der Andere ihre Handlung versteht, was er daraus macht, wie er die Situation vorantreibt. Subjektiver Sinn kann durch verbale und non-verbale Handlungen nicht weitergereicht werden.
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Man könnte auch sagen: Der Prozess der Sinnfeststellung des Anderen ist uns grundsätzlich unverfügbar. Die Grundsituation der Interaktion charakterisiert Garfinkel deshalb so: „Der Forschende ist einer Aufeinanderfolge gegenwärtiger Zustände von Angelegenheiten gegenübergestellt, und all die zukünftigen Zustände jener Angelegenheiten, die von den tatsächlichen oder nur ins Auge gefassten Handlungen des Untersuchenden noch hervorgebracht werden, dürften vage oder gar unbekannt sein.“ (Garfinkel 1981: 196) Dem Einzelnen bleibt deshalb „nichts anderes übrig, als vertrauensvoll seine zukünftige Eingebundenheit in die Handlungen abzuwarten, um in Erfahrung zu bringen, was diese Folgen sein könnten.“ (ebd.: 197) Wir tragen etwas zur Situation bei und müssen abwarten, was der Andere damit und daraus macht (vgl. ebd.: 198). Der Sinn einer Handlung wird immer retrospektiv hergestellt. Garfinkels Leichen könnten ein Lied davon singen. Aber derart ergebnisoffen fühlen sich die meisten Interaktionen nicht an. Im Gegenteil – oftmals haben wir das Gefühl, wir wären in Situationen geradezu eingeschnürt. Mithilfe von Experimenten und Ableitungen aus der Sozialphänomenologie leitet Garfinkel her, wie dieses Gefühl entsteht und stabil gehalten wird. Hierzu gehört zunächst eine zentrale Handlungsmaxime: Wir versuchen das Problem der Mehrdeutigkeit jeder Handlung bzw. unsere Unverfügbarkeit der Sinnsetzungsprozesse des Anderen nicht dadurch zu mildern, indem wir handeln und zusätzlich eine Erklärung dazu abgeben – etwa so, wie der Ehemann in Garfinkels Gedankenexperiment, der seiner Frau zuflüstert: „Ich liebe dich. Die von mir verwendeten Begriffe sind in Webster’s Dictionary definiert.“ (Garfinkel 1981: 203) „Flüssiger Diskurs“ ist also nicht möglich, obwohl die Leute indexikale Ausdrücke verwenden, sondern weil sie sie verwenden, ohne dies zum Thema zu machen (ebd.). Dies wiederum ist die Grundlage für die Stabilisierung zweier Fundamente unseres alltäglichen Verstehens-und-Darstellens in der Interaktion: Wir gehen fest davon aus, der Andere würde in unserer Äußerung genau den Sinn erkennen, den wir in ihr sehen, „und zwar ohne dass irgendeine Überprüfung erforderlich sei.“ (ebd.: 205) Wir erheben „Anspruch auf [...] Sinneinverständnis“ (ebd.). Und eben dies führt uns zu der festen Überzeugung, unsere Gedanken seien über Kommunikation direkt vernetzt und der Andere deshalb hinsichtlich seiner Sinnselektionen (eben doch) steuerbar (vgl. Garfinkel 1981: 203). In seinen Demonstrationsexperimenten hat Garfinkel diese Grundannahmen immer wieder irritiert und damit seine theoretischen Überlegungen bestätigt: Wenn man sich der Reproduktion jener Muster entzieht, die in einer Praxisgemeinschaft regelmäßig inszeniert werden –
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„(VP) Wie stehts? (E) Wie steht es mit was? Meiner Gesundheit, meinen Geldangelegenheiten, meinen Aufgaben für die Hochschule [...]“ (Garfinkel 1981: 207)
–, reagieren die anderen Mitglieder irritiert: „Hör zu. Ich unternahm gerade den Versuch, höflich zu sein. Offen gesprochen kümmert es mich einen Dreck, wie es mit dir steht.“ (ebd.) Denn nun sind beide Grundannahmen (der Anspruch auf Sinneinverständnis und die Annahme einer direkten Steuerbarkeit der Reaktion des Anderen) als Fiktionen erkennbar. Mit solchen Experimenten kann man zugleich zeigen, dass unsere praktischen Theorien über die Ordnungen des Sozialen bzw. soziale Ordnungen als lebensweltliche Praxen durchaus etwas Zwingendes oder Unveränderbares haben. Wir brauchen sie, um andere verstehen zu können und uns selbst verstehbar zu machen. Wir müssen sie jenseits unserer Zweifel an ihnen in dieser Form belassen bzw. an ihrer täglichen Neuinszenierung mitwirken. Zur selben Zeit sind wir aber auch ihre ‚Schöpfer‘ und ihnen keineswegs ausgeliefert. Sie sind für uns gestaltbar und damit wiederum verfügbar. Wir verwenden sie kreativ und geben dem Sozialen damit neue Formen. Durch Wiederholung verliert diese Praxis dann ihr krisenhaftes Moment und wird zunächst zur haltgebenden und etwas später zur unerträglichen Routine. Fazit Die Ethnomethodologie geht davon aus, dass verbale und non-verbale Handlungen (aber auch Objekte, Dokumente etc.) keine Pakete sind, die ein Sender verschickt, und der Empfänger müsste sie lediglich öffnen und die darin liegende Bedeutung entnehmen. Stattdessen wird argumentiert, dass jede Handlung mehrdeutig bzw. interpretationsbedürftig ist. Eine Sinnfeststellung zu machen, geschieht aber nicht willkürlich, sondern nach dem Prinzip der Mustererkennung: Die Handelnden fragen sich, ob sie das Gehörte oder Gesehene als Bestandteil einer ihnen vertrauten sozialen Ordnung wiedererkennen und stellen ihr Verständnis dar, indem sie einen dieser Ordnung entsprechenden Handlungszug machen. Auf diese Weise reproduzieren sie das Soziale, erschaffen sie soziale Ordnungen immer wieder neu. Einer der ersten Soziologen, der auf Basis dieser Theorie Sterben und den Tod analysiert hat, ist David Sudnow (1973). Am Beispiel seiner Studie wird im nächsten Abschnitt gezeigt, welche empirischen Einsichten eine so angelegte Forschung innerhalb der Thanatologie erzeugen kann.
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3.
SUDNOWS LEBENDE LEICHEN
David Sudnow ist in den 1960er Jahren in zwei Krankenhäusern der Frage nachgegangen, wie „Tod und Sterben als soziale Phänomene“ rekonstruiert werden können (Sudnow 1973: V). Sein Werk Organisiertes Sterben (Passing On. The Social Organization of Dying) ist ein Klassiker der Thanatologie. Vor allem die darin enthaltene Teilstudie „Sterben und Tod als soziale Tatbestände“ (Kapitel 4) ist besonders interessant, denn sie gilt als eine der ersten ethnomethodologisch ausgerichteten Arbeiten innerhalb der Sterbeforschung.1 In diesem Sinne notiert der Autor dann auch im Vorwort, er wolle „nicht behaupten, daß diese Studie wirklich repräsentativ für ‚ethnomethodologische‘ Soziologie ist – obgleich ich natürlich sehr glücklich wäre, wenn dies doch der Fall sein sollte.“ (ebd.: 4) Am Beginn seines Texts arbeitet Sudnow heraus, dass er – im Unterschied zu den Arbeiten von Glaser und Strauss – Sterben und Tod nicht als körperliche Zustände voraussetzt, um von dort aus soziologische Beobachtungen vorzunehmen. Sondern vielmehr müsse eine an Garfinkels Denken angelehnte Untersuchung diese beiden Phänomene zu ihrem ‚Problem‘ machen, indem man ihre interaktive Herstellung in den Blick nimmt (vgl. Sudnow 1973: 83, FN 2). Praktiken der Herstellung von Sterben und Tod Sudnows Grundannahme besteht darin, „daß Aussagen wie ‚er ist tot‘, und ‚er stirbt‘ [...] das Ergebnis von Beurteilungsprozeduren sind [...]. Soziologisch gesehen ist ein Mensch also dann ‚tot‘ oder ‚final‘ (d. h. ein Sterbender), wenn er von Personen entsprechend beurteilt wird, die zu derartigen Feststellungen legitimiert sind“ (Sudnow 1973: 82). Demzufolge müsse man herausarbeiten, „wie diese Feststellungen im Organisationsmilieu des Sozialsystems Krankenhaus getroffen und weitergegeben werden.“ (Ebd.) Aus heutiger Sicht würde man Sudnows analytische Haltung der Membership Categorization Analysis zuordnen (vgl. z.B. Schegloff 2007; Lepper 2000). Dieser Forschungsstrang innerhalb der Ethnomethodologie interessiert sich für die kommunikative Herstellung von Identitäten. Untersucht wird also nicht, wie z.B. Pflegende und Patienten miteinander sprechen, sondern mittels welcher Praktiken Teilnehmende an einem Gespräch in diesen Rollen verfügbar gemacht werden (vgl. Schönefeld 2021).
1
So hält Sudnow (1973: 4) in der Einleitung fest: „Eine erste Version des vierten Kapitels habe ich im Sommer 1965 auf einer von Harold Garfinkel geleiteten Tagung an der University of California (Los Angeles) vorgetragen.“
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Besonders eindringlich beschreibt Sudnow, wie das Klinikpersonal Patienten als Verstorbene bzw. als Leichen kenntlich macht. Den Anfang macht das ärztliche Personal. Der herbeigerufene Arzt führt an dem als ‚vermutlich tot‘ bezeichneten Patientenkörper eine Reihe aufeinander folgender Handlungen aus. Er prüft den Puls, horcht den Patienten ab, testet den Pupillenreflex etc. Nach jedem dieser Schritte gibt er zu Protokoll, dass man an dem jeweiligen Messergebnis den Ausfall der Lebensaktivitäten erkennen kann, dass hier also eine Leiche liegt. Danach sind die Pflegekräfte an der Reihe. Sie führen an und mit dem Patientenkörper eine Prozedur durch, die dessen Kategorisierung als Leiche forciert. Das als „‚Einschlagen‘ der Leiche“ bezeichnete Vorgehen besteht aus einer ganz spezifischen Abfolge von Handlungen (Sudnow 1973: 102). Zuerst „wird der Tote vollständig ausgezogen, Schmuckstücke werden ihm abgenommen, Katheder, Infusions- und Nasenschläuche entfernt, der Körper wird [...] mit einem nassen Tuch abgerieben, After und Genitalbereich werden mit einer Art Windel zugedeckt, Hände und Füße gekreuzt und mit einer baumwollgepolsterten Spezialschnur verschnürt, die Augen werden geschlossen und mit vorbereiteten Mullpflastern bedeckt, [...] und dann wird der Körper in ein stabiles Musselintuch gewickelt, das auf der Vorderseite mit großen Sicherheitsnadeln zugesteckt wird. Das Endergebnis hat eine unverkennbare Ähnlichkeit mit einer Mumie.“ (Ebd.: 104) Dass der Patient tatsächlich tot ist, dass hier kein lebender Körper, sondern ein Leichnam liegt, wird – wie bei vielen Kategorisierungsprozessen – mehrfach abgesichert (vgl. Schönefeld 2021). So zeigt sich das pflegerische Personal beim Drehen und Wenden des Körpers nicht gerade zimperlich. Die Pflegenden behandeln „die Leiche ohne jede pietätvolle Empfindsamkeit. Wenn sie beim Einschlagen umgedreht werden muß, wird grob zugegriffen, in bemerkenswertem Gegensatz zu der Behutsamkeit, mit der man lebende Patienten anzuheben und umzubetten pflegt“ (Sudnow 1973: 105). Zunächst werden die ins Krankenhaus eingelieferten Personen zu Patienten, dann zu Sterbenden und schließlich zu Leichen gemacht. Aber diese Karriere durchlaufen nicht alle in eben dieser Reihenfolge. Sudnow findet in seinem Untersuchungsmaterial zwei ‚alternative‘ Kategorien(an)ordnungen. So konnte der Forscher zunächst beobachten, dass einige Handlungen, die man auch in der eben vorgestellten Praxis der Herstellung einer Leiche entdecken kann, gelegentlich schon an und mit Patienten vollzogen werden, die noch als Lebende bzw. Sterbende gelten. Hier zeigt sich also die zeitgleiche Anwendung zweier sich eigentlich ausschließender Kategorien: Die Patienten sind Ster-
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bende und Verstorbene zur selben Zeit. In Anlehnung an Sudnow (1973: 102) kann man hier von „Beinahe-Leiche[n]“ sprechen. Mit Blick auf das pflegerische Personal illustriert der Forscher diesen Kategorisierungsprozess unter anderem mit der folgenden Fallbeschreibung: „Eine Schwester, die bei einer (wie sie mir erklärte) ‚im Sterben liegenden‘ Frau Wache hielt, versuchte zwei bis drei Minuten lang, durch langsames, aber relativ kräftiges Zusammendrücken des Ober- und Unterlids die Augen der Frau zu schließen“ (Sudnow 1972: 98). Würde eine fremde Person in das Zimmer kommen, könnte sie diese Handlung so verstehen, dass hier gerade eine Leiche hergerichtet wird. Sudnow unternahm deshalb eine Art Krisenexperiment, indem er eine Erläuterung dieser Handlung einforderte. Die Pflegende antwortete, „daß bei Toten ja immer die Augen geschlossen würden, um den Eindruck zu erwecken, als ob sie schliefen, und daß das nach dem Tode – vor allem bei einer schon einsetzenden Versteifung der Muskulatur – manchmal gar nicht so einfach sei, weil die Lider dann dazu neigten, sich immer wieder zu öffnen.“ (ebd.: 98) Die praktische Theorie, die einen Beobachter hier also die Herrichtung einer Leiche erkennen lassen könnte, wurde von der Pflegenden als durchaus gültige Sinnfeststellung ratifiziert. Ja, hier findet tatsächlich die Herrichtung einer Leiche statt, nur ist diese eben noch mit ihrem Sterben beschäftigt. Auch bei Ärzten kann Sudnow entsprechende Äquivalente beobachten. Wenn sie bei der Einlieferung von Patienten zu der Auffassung gelangen, diese werden während ihres Klinikaufenthalts vermutlich sterben, gestalten sie ihre Gespräche mit den besorgten Angehörigen im Modus des „gedämpften Pessimismus“ (Sudnow 1973: 122). In „den ersten Tagen nach der Aufnahme eines Patienten, bei dem mit einem letalem Ausgang gerechnet werden muß, spricht man davon, daß der Zustand ‚ernst ist und Anlass zur Besorgnis gibt‘“ (ebd.: 126). In den nächsten Tagen werden die Formulierungen immer düsterer. Es finden sich dann Sätze wie „‚Wir haben alles getan, was menschenmöglich ist‘“ (ebd.). Obschon die jeweiligen Patienten also noch als Lebende bzw. Sterbende gelten, werden sie den Angehörigen bereits in der Kategorie einer Leiche vorgestellt. Pikant ist diese Praxis deshalb, weil solche Kategorisierungsprozesse nur lose mit der ärztlichen Diagnose des ‚tatsächlichen‘ Gesundheitszustands gekoppelt sind. Das heißt, sie beschreiben den Patienten auch dann als ‚eigentlich schon tot‘, „wenn im Moment noch kein unbedingt darauf hindeutender Krankheitsverlauf oder sonstiger Vorgang zu entdecken ist.“ (Vgl. ebd.: 122) Während die gerade skizzierte Praxis gewissermaßen dazu beiträgt, den Tod vor das Sterben zu ziehen, ermöglicht eine zweite Praxis die Rückabwicklung des Todes: Ein Verstorbener wird, wenn auch nur kurz und auch nur für einen bestimmten Personenkreis, noch einmal zu einem Sterbenden gemacht.
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Bei seinen Beobachtungen von Pflegenden fiel Sudnow auf, dass diese beim Betreten des Patientenzimmers gelegentlich unerwartet feststellen müssen, dass der sich darin befindliche Patient bereits verstorben ist. Anstatt diese Sinnfeststellung nun aber kommunikativ zur Verfügung zu stellen, indem man den Arzt anfordert und alles für die pflegerische Versorgung des Leichnams in die Wege leitet, ließe sich hin und wieder beobachten, „daß man den Tod eines Patienten geflissentlich übersieht oder sogar den Eindruck zu erwecken sucht, als ob er noch am Leben wäre, indem man den Kopf abstützt, [...] versucht, einen Tropf, an dem er hängt, weiterlaufen zu lassen [...] und überhaupt alles so arrangiert, daß Ärzte und Schwestern beim flüchtigen Hereinschauen kaum bemerken können, daß etwas nicht Ordnung ist.“ (Sudnow 1973: 108) Indem Pflegende also Handlungen vornehmen, die man als Zeichen einer Versorgung von Sterbenden erkennen kann (und soll), verhindern sie die soziale Feststellung des klinischen Todes. Auch bei Ärzten findet Sudnow wieder ein Äquivalent. Dieses stellt er am Beispiel einer Tragödie vor: „Ein Mann mußte wegen einer Schußverletzung operiert werden, die offenbar nicht so schlimm aussah, daß die Ärzte es für nötig gehalten hätten, die Angehörigen sofort auf einen möglicherweise tödlichen Ausgang vorzubereiten. Wider Erwarten starb der Patient auf dem Operationstisch; aber statt das den draußen wartenden Angehörigen unverzüglich mitzuteilen, beschloß das Operationsteam, ihnen den Eindruck einer einsetzenden ‚Sterbephase‘ zu vermitteln – in der Weise, daß von Zeit zu Zeit jemand aus dem Operationssaal kam und mitteilte, das Befinden des Patienten habe sich verschlechtert. Auf diese Weise erreichte die endgültige Nachricht vom Tode die Angehörigen erst als letztes Glied einer Kette“ (Sundow 1973: 125). Auch hier sehen wir dieselbe Praxis wie oben. Ein kleiner Kreis von Personen kategorisiert einen Patienten als Toten, holt ihn aber für Dritte noch einmal ins Leben zurück, indem er als Patient beschrieben wird, der gegen den Tod kämpft, nur hatte der schon längst gewonnen. Kategorien(an)ordnungen als Lösungen praktischer Probleme Sudnow belässt es in seiner Teilstudie aber nicht einfach bei der Rekonstruktion der oben beschriebenen Kategorisierungspraxen, sondern geht zugleich der Frage nach, inwiefern die mit ihnen hergestellten Ordnungen selbst auf spezifische Weise geordnet sind: Für welche praktischen Probleme sind die entdeckten Kategorisierungen eine Lösung? An welchen Stellen der Interaktion lassen sie sich typischerweise beobachten? Dabei fokussiert er vor allem auf die beiden zuletzt vorgestellten Kategorien(an)ordnungen.
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Das Herstellen von Beinahe-Leichen durch die Pflegenden beschreibt er unter anderem als Lösung für das Problem chronischer Zeitknappheit. In diesem Sinne zitiert er die von ihm beobachtete Pflegende, die die Augenlider einer im Sterben liegenden Patientin zu schließen versucht. Sie erklärte, das „erleichtere es dem Stationspersonal nach dem Tode (falls er eintreten sollte), die Leiche rasch herzurichten, ohne Zeit mit diesem kosmetischen Detail zu verlieren“ (Sudnow 1973: 98). Für Pflegende stellt die Versorgung von Verstorbenen offenbar eine Aufgabe dar, die ihre zeitliche Planung der Routinearbeit an und mit den (noch) lebenden Patienten potenziell gefährdet. Es ist eine Aufgabe, die man nicht terminieren kann, die jedoch dann, wenn sie angeordnet wird, in einer gewissen Zeitspanne erledigt werden muss. Indem man kleinere Arbeitsschritte der Leichenherrichtung während anderer Tätigkeiten am noch lebenden Patienten gleich ‚wegarbeitet‘, trägt man zur Reduktion des potenziell entstehenden Zeitmangels bei. Die verschiedenen Praxen des Beschreibbarmachens eines unerwartet verstorbenen Patienten als noch lebenden – indem man etwa vorgibt, seine Infusion zu prüfen und dann zügig wieder das Zimmer verlässt – seien Lösungen dafür, möglichst wenig bzw. keinen Kontakt mit Toten zu haben: „Wenn das gelingt, wird die Leiche erst beim Schichtwechsel entdeckt, und dann müssen die Kollegen von der nächsten Schicht sich mit ihr befassen.“ (Sudnow 1972: 108) Das Herrichten einer Leiche würde „zwar routiniert erledigt, gilt aber selbst bei abgebrühten Pflegern und Schwesternhelferinnen als ausgesprochen unangenehme Aufgabe, der sie nach Kräften – manchmal unter Anwendung von Tricks – aus dem Wege gehen.“ (Ebd.) Auch beim ärztlichen Personal ließe sich erkennen, dass seine Teilnahme an der Reproduktion beider Kategorien(an)ordnungen keineswegs zufällig erfolge, sondern vielmehr ein systematisches Hinorientieren auf immer wiederkehrende praktische Probleme darstelle. Ärzte gingen nämlich von folgender Erwartung aus: Wenn sie den Angehörigen eines Patienten oder ihren Vorgesetzten und Kollegen mitteilen müssen, dass ein in ihrer Obhut befindlicher Patient plötzlich verstorben sei, „ohne daß diese Möglichkeit vorher explizit in Betracht gezogen worden wäre“, müssten sie mit heftiger Kritik rechnen. Denn „dann besteht die Möglichkeit, [ihnen] einen [...] Kunstfehler vorzuwerfen, der u. U. mehr zum Tode des Patienten beigetragen haben könnte als die eigentliche Krankheit.“ (Sudnow 1973: 121 f.) Diese Kritik bringt Ärzte in Erklärungsnot. Das kostet Zeit, die dann wieder an anderen Stellen fehlt und potenziell ‚zu echten‘ Fehlern führt. Die beiden Kategorisierungspraxen haben die soziale Funktion, diesen Interaktionsverlauf abzuwenden. Sie ermöglichen es, den Tod als potenzielles Ergeb-
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nis der aktuellen Behandlung zum Thema zu machen, um dann später auf eben diesen Umstand Bezug nehmen zu können. Deshalb wird der Tod entweder zu früh verkündet und aus einem Sterbenden schon eine Beinahe-Leiche gemacht. Oder er wird deutlich zu spät verkündet und aus einer Leiche wird noch einmal ein Sterbender, den man bei seinem höchstwahrscheinlich nicht erfolgreichen Kampf gegen den Tod zur Seite steht. Wie Patienten kategorisiert werden, ist also „weitgehend eine Frage ‚der anderen‘, gegenüber denen der Arzt sich zur Rechtfertigung seines Verhaltens verpflichtet fühlt.“ (Sudnow 1973: 121) Fallübergreifend lassen sich die oben vorgestellten Einsichten so zusammenfassen, dass Sterben und Tod Störfaktoren im Krankenhausbetrieb darstellen (vgl. Sudnow 1973: 94, 108, 111, 114). Vor allem der Tod ist ein Ärgernis. Er lässt sich zeitlich nicht planen und reißt damit Löcher in den eng getakteten Stationsablauf. Er zieht emotionale Energie ab, die dann an anderen Stellen fehlt. Wenn er ohne Vorwarnung verkündet werden muss, erzeugt er Kritik, gegen die man sich mühsam verteidigen muss. Die beiden von Sudnow beschriebenen Kategorisierungspraxen sind aus Sicht der Ethnomethodologie kein Ausdruck von Kaltherzigkeit oder mangelnder kommunikativer Kompetenzen, sondern Strategien, um mit diesen Herausforderungen zurechtzukommen. Es sind Lösungen praktischer Probleme, mit denen die Handelnden die Ordnung des Krankenhausbetriebs fortwährend reproduzieren.
4.
WEITERLEBEN MIT ETHNOMETHODOLOGIE
Eine ethnomethodologische Analyse von Sterben und Tod ermöglicht einen Einblick in jene Praktiken, mit denen diese Phänomene als soziale Tatbestände sichtbar und zurechenbar gemacht werden. Zugleich gilt es danach zu fragen, wie diese Ordnungen selbst angeordnet sind. Die verschiedenen Formen der Herstellung von Sterbenden und Verstorbenen werden damit als Praxen erkennbar, die mit anderen Praxen (lose) verkoppelt sind und so als Interaktionsordnungen – im Sinne regelhaft angeordneter Methoden – sichtbar werden. Das Ziel einer ethnomethodologischen Studie besteht darin, diese Muster zu beschreiben. Auf diesem Weg gelangt man zu wissenschaftlichen Theorien über praktische Theorien (der Leute), mit denen sich innerhalb der Thanatosoziologie viel anfangen lässt. Sie sind systemtheoretisch interpretierbar: als Einblicke in die Operationen sozialer Systeme. Sie können handlungstheoretisch gedeutet werden: als Einblicke in die praktischen Motive von Akteuren. Sie können aber auch für sich selbst stehen: als Praxistheorien mittlerer und kleiner Reichweite (vgl. Schönefeld 2021).
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Die Ethnomethodologie ist Theorie und Forschungsprogramm innerhalb der qualitativen Sozialforschung gleichermaßen. Im Unterschied zu anderen Ansätzen verfügt sie jedoch nicht über einen kodifizierten Analysealgorithmus, sondern gibt ihren Forschenden eine Reihe von Empfehlungen mit auf den Weg (vgl. Garfinkel 2020: 72 ff.). Ihr Zusammenspiel bildet die ethnomethodologische Forschungshaltung, um die man sich während jedes Untersuchungsschritts immer wieder neu bemühen muss. Indexikalität: Ethnomethodologische Studien gehen vom Problem der Indexikalität aus (vgl. Garfinkel 2020: 72). Was ein Zeichen bedeutet, ist in diesem nicht enthalten, sondern wird im nächsten Zug festgestellt. Auf diese Weise entsteht die Lebenswelt als geordnete Praxis. „Ein einfacher Trick, um an das methodische Arsenal heranzukommen, das Gesellschaftsmitglieder bei der Produktion sozialer Sachverhalte einsetzen, besteht darin, die entsprechenden Substantive zu meiden“ und sie vielmehr „mit ‚tun‘, ‚machen‘ oder ‚vollziehen‘“ zu kombinieren (Wolff 2016: 13). Wir untersuchen also nicht ‚das Sterben‘, sondern fragen, wie-eine-Person-zu-einer-Sterbenden-gemacht-wird. Indifferenz: Eng mit diesem ‚Forschungsauftrag‘ verbunden, ist Garfinkels Empfehlung, keine (zu prüfenden) Hypothesen oder Bewertungsmaßstäbe von außen an die Daten heranzutragen: „Eine der wichtigsten Strategien ist es daher, jede ernsthafte Beschäftigung mit der vorherrschenden Auffassung abzulehnen, der zufolge Effizienz, Wirksamkeit, Effektivität, Verständlichkeit, Konsistenz [...] dadurch bewertet, erkannt, eingestuft und beschrieben werden können, dass man Regeln oder Maßstäbe verwendet, die von außerhalb“ des Untersuchungsfelds kommen (Garfinkel 2020: 73 f.). Als Operationalisierung empfiehlt Stephan Wolff (2016: 13), dass „der erste analytische Schritt immer darin bestehen“ sollte, „Wie- und dann erst, wenn überhaupt, Warum- oder gar Warum-nicht-Fragen zu stellen.“ Ethnomethodologische Analysen sind deskriptive Analysen. Sie suchen nach Ordnungen auf der Ebene der lebensweltlichen Praxis und interpretieren diese als methodische Hervorbringungen. Ordnungspostulat: Aus diesem Argument ergibt sich der dritte Forschungsgrundsatz. Nicht nur einige, sondern alle Handlungen werden als Ausdruck von Ordnung verstanden. Denn die „Mitglieder einer organisierten Szenerie sind unablässig damit befasst, die rationale Beschaffenheit“ ihrer Aktivitäten „erkennen, überzeugend darstellen oder evident machen zu müssen“ (Garfinkel 2020: 73). Das heißt also, die Reproduktion des Sozialen ist Ausdruck des andauernden Bemühens ihrer Produzenten, andere zu verstehen und sich selbst verstehbar zu machen. Dafür nutzen und brauchen die Gesellschaftsmitglieder praktische Theorien bzw. soziale Praxen. In diesem Sinn sind dann ein plötzlich einsetzendes Tassenklappern oder ein ‚Njein‘ keine ‚Störungen‘ oder ‚Ungenauigkeit‘, die
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man aus der Analyse ausklammern muss, sondern Elemente von Ordnungen, mit denen die Handelnden in diesem Moment etwas organisieren. Wolff empfiehlt als analytische Haltung (2016: 13): „Es gibt keine schlechten Daten. Gehe davon aus, dass sich gesellschaftliche Ordnung überall findet, selbst in den kleinsten Details von sozialen Interaktionsprozessen.“ Authentische Daten: Diese drei Forschungspostulate machen deutlich, dass ethnomethodologische Analysen mit Blick auf das Datenmaterial sehr voraussetzungsreich sind. Wir benötigen einen immer wieder neu reproduzierbaren Einblick in die Interaktionen vor Ort. Als Standard gelten heute Audio- bzw. Videomitschnitte von Interaktionen, die auch ohne das Zutun von Forschenden stattgefunden hätten. Denn nur anhand solcher Daten ist es möglich, „die ‚lokale‘ Produktion von sozialer Ordnung zu verfolgen, also zu analysieren, wie die Interagierenden sich in ihren Äußerungen sinnhaft aufeinander orientieren und gemeinsam, an Ort und Stelle, zu intersubjektiv abgestimmten Realitätskonstruktionen gelangen.“ (Bergmann 2019: 531) Im Licht dieser methodischen Forderung muss David Sudnows Arbeit nun noch einmal kritisch eingeordnet werden. Obschon ihm die Klinikleitungen durchaus gestattet hatten, Gespräche mitzuschneiden, erwies sich die mangelhafte Tonqualität als Hinderungsgrund, diese Daten zu nutzen (vgl. Sudnow 1973: 11 f.). So blieb ihm nur der Umweg, die Interaktionen mittels kleinerer Feldgespräche und dem Anfertigen von Beobachtungsprotokollen für seine späteren Analysen zu konservieren: „Die meiste Zeit habe ich mit beobachten und zuhören verbracht, wobei ich – soweit das unauffällig zu bewerkstelligen war – Aufzeichnungen in einem kleinen Notizbuch machte. In anderen Fällen habe ich die Vorgänge, auf die es mir ankam, festgehalten, sobald ich mich an einen ungestörten Ort zurückziehen konnte.“ (Ebd.: 11) Das Führen von Interviews und Anfertigen von Beobachtungsprotokollen zählen jedoch zur Gruppe der rekonstruierenden Methoden der Datenerhebung (vgl. Bergmann 2019: 531). Deren Merkmal besteht darin, dass „ein unwiederbringlich vergangenes soziales Geschehen durch Umschreibung, Erzählung oder Kategorisierung erfasst [wird], wobei jedoch das Geschehen in seinem ursprünglichen Ablauf weitgehend getilgt ist“ (ebd.). An dieser Datenart ist also nicht (mehr) erkennbar, wie sich Handelnde vor Ort aufeinander beziehen. Aber genau das ist der Gegenstand der Ethnomethodologie. Vor diesem Hintergrund erweisen sich Sudnows Daten als durchaus problematisch. Er kann nicht anhand von authentischen Mitschnitten zeigen, wie er zu seinen analytischen Feststellungen gelangt. Unbedeutend sind seine Einsichten aber deshalb nicht – im Gegenteil. Das zeigt sich nicht nur in den zahlreichen Referenzen, die Forschende bis heute auf Sudnows Werk machen, sondern auch an neueren ethnomethodologi-
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schen Arbeiten, die diese Form der Erforschung von Sterben und Tod fortsetzen. Das geschieht heute vornehmlich innerhalb der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (vgl. Sacks 1995). Ihr Markenzeichen bildet die restriktive Vorgabe, ausschließlich Audio- und Videomitschnitte authentischer Interaktionen als Datenmaterial zu verwenden. Diese Mitschnitte werden dann mithilfe eines von Gail Jefferson (2004) entwickelten Transkriptionssystems so detailliert zu Papier gebracht, dass man jede noch so zaghafte Lautdehnung sichtbar machen kann. Betrieben werden diese Studien in verschiedenen Settings, wobei zwei besonders hervorstechen. Intensiv geforscht wird vor allem in jenen Abteilungen von Krankenhäusern, die auf Heilung (kurative Medizin) ausgerichtet sind. Dabei werden unter anderem solche Gespräche untersucht, die von den Teilnehmenden als Mitteilung-einer-schlechten-Nachricht gestaltet werden (vgl. für eine Übersicht verschiedener Techniken Maynard 2017). Im Fokus steht hier zum einen die Herstellung eines Erstdiagnosegesprächs, in dessen Verlauf Ärzte die Information überbringen müssen, dass sie eine schwerwiegende Erkrankung, wie etwa ein Krebsleiden, festgestellt haben. Zum anderen werden Gespräche analysiert, in denen der Misserfolg therapeutischer Maßnahmen – z.B. einer Chemotherapie – und die sich daraus ergebenden Konsequenzen – die Umstellung auf Palliative Care – besprochen werden müssen. Diesen Situationstyp untersucht ein Forschungsteam um Karen Lutfey (1998). Ihre Studie zeigt weniger, wie solche Nachrichten interaktiv hergestellt werden, sondern fokussiert vor allem das methodische Arsenal, das Patienten und deren Angehörige einsetzen, um die Vertiefung des Themas – und damit die Substantiierung ihrer Kategorisierung als Sterbende – zu ermöglichen, zu vertagen oder zu verhindern. Ein zweites Setting, das vergleichsweise intensiv beforscht wird, sind Palliativstationen und Hospize. Untersucht wird hier zum Beispiel, wie Ärzte mit dem Dilemma umgehen, die Pläne ihrer Patienten hinsichtlich des Sterbens – z.B. die Wahl des Sterbeortes – zu respektieren, sie aber gleichzeitig zu kritisieren und die Suche nach alternativen Lösungen anzuregen (vgl. Land u.a. 2019). Andere Arbeiten sind im Bereich des „prognostic talk“ angesiedelt (Anderson u.a. 2020: 1). So arbeiten z.B. Marco Pino u.a. (2019) heraus, mittels welcher Frageformate Patienten eine Schätzung ihrer noch verbleibenden Lebenszeit erbitten und wie Ärzte darauf reagieren. Dabei zeigt sich ein spezifisches Muster: Auf eine direkte Frage erfolgt eine ebenso gestaltete Reaktion. Indirekte Fragen, wie etwa „I: keep asking=how long I’m likely to live.“ (ebd.: 229), deuten Ärzte nicht als Aufforderung, nun unmittelbar eine Schätzung abliefern zu müssen, sondern vielmehr als impliziten Wunsch der Patienten in ein Gespräch über dieses Thema einzutreten, an dessen Ende dann möglicherweise eine Schätzung erfolgt.
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Noch vergleichsweise wenige Arbeiten liegen in den folgenden drei Feldern vor. Das betrifft erstens die professionelle Pflege. Eine der wenigen Arbeiten in diesem Feld hat Pairote Wilainuch (2013) vorgelegt. Er fragt, wie Sterben und Tod zum Gegenstand pflegerischer Interaktionen gemacht werden. Das gelingt beispielsweise durch „referring to the death of a third person“ (ebd.: 265) oder des Thematisierens von Gefühlen wie Angst, was die Pflegebedürftigen dann auch tatsächlich als eine Aufforderung zur Reflexion über ihr bevorstehendes Sterben behandeln (indem sie es gekonnt abwehren) (vgl. ebd.: 265 f.). Weitere Einsichten in (alten-)pflegerische Gespräche sind wünschenswert, denn eine große Anzahl von Menschen stirbt in den Einrichtungen des Gesundheitswesens. Und hier sind es vor allem Pflegende, die die meiste Zeit mit den Sterbenden verbringen und mit ihnen gemeinsam den Abschied vom Leben herstellen: Wie machen sie das? Ein zweites, wenig beforschtes Gebiet, sind Gespräche zwischen Angehörigen und ihren Sterbenden. An Forschungsanregungen mangelt es nicht. Die wohl prominentesten stammen von Norbert Elias (1982). Er argumentiert, dass wir in der Gegenwart von Sterbenden oftmals verstummen würden, da der „Gebrauch ritueller Floskeln, in den großen Krisensituationen des menschlichen Lebens für viele Menschen suspekt und zum Teil peinlich geworden ist.“ (Ebd.: 45) Nun stünden sie da, vor den Pflegebetten ihrer todkranken Angehörigen und hätte keine Methoden, mit denen sie diesen Moment zu einem trostspendenden, berührenden oder feierlichen machen könnten. „Die Aufgabe, das richtige Wort und die richtige Geste zu finden, fällt also, wie gesagt, auf den Einzelnen zurück“ (ebd.): Wie lösen die Leute diese Aufgabe? Ein drittes Feld, das zunehmend (wieder) in den Fokus der Konversationsanalyse rückt, ist die Prävention von Suiziden. So untersucht ein Team um Rein Ove Sikveland und Elizabeth Stokoe (2019) Audiomittschnitte aus Kriseninterventionen, in deren Verlauf sich eine Person demonstrativ als todessehnsüchtig beschreibt, indem sie etwa mit einer Schlinge um den Hals auf einem Stuhl steht, während ein Interventionsteam sie dazu bewegen möchte, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen. In vielen Fällen gelingt das auch. An ihnen wird dann untersucht, welche Methoden der „suicide negotiation“ (ebd.: 4) diese Gespräche ausmachen: Wie organisiert man eine Entscheidung für das Leben und gegen den Tod? Weitere Rekonstruktionen in diesem Feld liefern wichtiges Schulungsmaterial für Einsatzkräfte. Und sie tragen auch dazu bei, dass die Ethnomethodologie des Sterbens etwas hoffnungsvoller wird. Leichen hat sie jedenfalls genug.
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Palliative Performance Pflegewissenschaftliche Analysen zur Handlungssystematik am Lebensende Wolfgang von Gahlen-Hoops
1.
SOZIALE ORDNUNGEN UND PFLEGERISCHES HANDELN
Ist das Ordnungsproblem der Soziologie ein Problem für den Pflegediskurs? Nicht alle Fragen sind diskursübergreifend gleich wichtig oder gleichrangig. Die Frage der sozialen Ordnungen ist in ihrer Relevanz für den Pflegediskurs sicherlich an dieser Stelle noch nicht vollständig absehbar. Es geht vielleicht zunächst darum, sich eingangs und vor der Untersuchung der Handlungssystematik am Lebensende etwas Zeit zu nehmen für die Frage, welchen sozialen Ordnungsvorstellungen bisherige Handlungskonzeptionen des pflegerischen Diskurses im Wesentlichen unterliegen. Pflegehandlungen, verstanden als soziale Handlungen (i. S. von Weber 1988) bzw. Handlungen in sozialen Feldern (i. S. von Bourdieu 1998) unterliegen demnach immer sozialen Ordnungen, insofern sich ein Akteur subjektiv-sinnhaft auf das Handeln des Anderen bezieht und dabei auf kulturelle Deutungsmuster zurückgreift bzw. sich Handeln entsprechend einer institutionalisierten Logik vollzieht. Soziales Handeln, ein zentraler Bezugspunkt soziologischen Erkenntnisinteresses und Denkens (vgl. u.a. Weber 1988; Parsons 1977; Habermas 1973, 1981), ist ein wesentlicher Bezugspunkt auch für die Regulation des Ordnungsproblems des Pflegerischen im deutschen Pflegediskurs geworden, welches sich über diese Ordnungsperspektive nicht nur lösen, sondern auch weiter differenzieren lässt. Ordnungsbeschreibungen zum pflegerischen Handeln liegen nun in Form von einigen grundlagentheoretischen Beiträgen vor, die ich anhand der vorherrschenden zwei Hauptströmungen, der sozialwissenschaftlich orientierten
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und der medizinisch orientierten Strömung, im Folgenden kurz skizzieren möchte. Erste Grundlagenbeiträge vom Osnabrücker Berufssoziologen Dirk Axmacher (1990) zur Pflegewissenschaft als Heimatverlust und vom Kulturwissenschaftler Gernot Böhme (1981) zur Exklusion des Hebammenwissens im 19. Jahrhundert zeigen eindrucksvoll das disziplinär Fortschreitende und gleichzeitig das durch diese Disziplinen eintretende Hemmende für die sich emanzipierenden Diskurse der Pflegewissenschaft sowie der Hebammenwissenschaft. In der Folge einer Etablierungsgeschichte der deutschen Pflegewissenschaften gab es einige Orientierungsversuche, dem Ordnungsproblem über eine einerseits sozialwissenschaftlich fundierte Verortung des pflegerischen Handelns zu begegnen (vgl. Axmacher 1991; Wittneben 1993; Remmers 1996; Stemmer 2001; Hülsken-Giesler 2008; Friesacher 2008). Andererseits erfolgte der Versuch, des Ordnungsproblems Herr zu werden, über eine stringent medizinisch orientierte Verortung des pflegerischen Handelns in Form des Evidence based Nursing (EbN) als einer Spezialform der Evidence based medicine (vgl. Behrends/Langer 2010; Balzer u.a. 2014). Beide Strömungen lohnen einer detaillierteren Betrachtung (vgl. Tabelle 1): Hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen Verortung wird ein besonderer Aspekt des pflegerischen Handelns als Spezifikum herausgearbeitet, welches anhand des Leib-Begriffes und seiner pluralen Verständnisoptionen rekonstruiert wird. Es geht demnach darum, die Spezifik des sozialen Handelns im körperlichen Näheberuf Pflege, also in dem stark leiblich geprägten Beziehungsverhältnis zu suchen, das die „Body-to-body“-Work für sich durchaus als Alleinstellungsmerkmal deklarieren kann. Diese Nähe erfordere als Zugangsweg eine pflegespezifische „Mimesis“, um das Gegenüber in seiner/ihrer Eigenleiblichkeit zu spüren, zu erkennen und versorgen zu können (Hülsken-Giesler 2008). Ebenso weisen Perspektiven der Kritischen Theorie den Weg zu Paradoxien des pflegerischen Handelns unter den Maximen des Marktes („Minutenpflege“; „Diagnosis related group“) sowie auf Fähigkeiten der Pflegenden in Bereichen des Intuitiven und an den Grenzen des rationalen Bewusstseins, besondere Kompetenzen zu besitzen (vgl. Friesacher 2008; Bartholomeyczik 2010).
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Tabelle 1: Ordnungen pflegerischen Handelns Ordnungen Pflegerischen Handelns Ordnungsgrundlage Handlungsverständnis
Handlungsmodelle Annahmen eines spezifischen Handlungsvollzugs des Pflegerischen
Soziologieorientiert
Medizinorientiert
Diskurs Gesellschaftliche Spannungsverhältnisse determinieren Handlungen Situative Handlungslogik Leibliche Nähe
Evidenz Studienbasierte Verhaltens- und Handlungsdirektive (z.B. Leitlinien, Standards) Regelkreismodell Aufklärung und Entzauberung der Versorgungspraxis
Quelle: eigene Darstellung
Die medizinorientierte Ordnung des pflegerischen Handelns wird im evidenzbasierten Handlungszyklus (Abbildung 1) beschrieben. Er beinhaltet – als über die problemorientierten Handlungszyklen hinausgehendes Konstrukt – die Integration neuesten wissenschaftlichen Wissens über eigene systematische Recherchen oder Berücksichtigung der aktuellsten Reviews in die pflegerische Handlungspraxis. Demnach könnte eine Palliative Care auf Basis der aktuellsten Studienergebnisse die bestmöglichen Handlungsvollzüge leisten. Abbildung 1: Evidenzbasierter Handlungszyklus
Quelle: in Anlehnung an Behrens/Langer (2010: 42)
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Der vorliegende Beitrag möchte die soziale Ordnung des Sterbens und des Todes aus einer darstellungs- und differenztheoretischen Perspektive 1 auf das pflegerische Handeln entfalten und somit eine eigene theoretische Grundlegung vornehmen (Hoops 2013). Es wird folglich darum gehen, die differenten Wahrnehmungen auf Pflege im Kontext ihres Vollzuges im Sinne einer performativen Handlung und einer performativen Ordnung zu rekonstruieren. Die Bedeutung von pflegerischer Arbeit als etwas, das durch Differenzwahrnehmungen entsteht und sich dadurch prozesshaft verändert, rückt das pflegerische Handeln hinsichtlich der Thematik Sterben und Tod in eine besondere, oder besser noch in eine spezifische, relationale Position. Zunächst wird es darum wichtig sein zu erläutern, aus welchem Grund sich Pflegearbeit und Pflege als Performance in einem Darstellungsraum begreifbar machen lassen (2.). Im Anschluss soll die Idee einer Performance im Kontext pflegerischer Handlungsvollzüge genauer ausgearbeitet und konkret beschrieben werden (3.), worauf anknüpfend zentrale Kennzeichen von pflegerischen Performances zusammengetragen werden sollen (4.). Schließlich wird die Frage nach palliativen Performances spezifischer im Kontext einer zeitgemäßen Palliative Care erörtert (4) und einige Konsequenzen aufgezeigt (5.).
2.
PFLEGE UND PFLEGEARBEIT IM PERFORMATIVEN DARSTELLUNGSRAUM
Warum lässt sich Pflege und pflegerische Arbeit im Leben und an den Lebensgrenzen als Teil eines performativen Darstellungsraums begreifen? Dieser These liegen drei wesentliche Begründungslinien zugrunde, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll (vgl. Hoops 2013). Zunächst ist es im Grunde ein ziemlich alter Hut im Denken über Pflege als Interaktionsgeschehen, von einer Wahrnehmungsdifferenz zwischen Pflegenden und Zu-Pflegenden auszugehen (vgl. Meleis 1991). Dies als die Ausgangsdifferenz des Pflegerischen zu reformulieren, bedeutet lediglich, eine Anpassung an eine vielleicht spätmodern zu nennende Wissenschaftssprache. So spricht zum
1
Damit sind hier solche Ansätze gemeint, die von der différance Derridas ausgehen und damit von einer sprachlichen und realen Vielheit, die logozentrisch nur um den Preis der Beherrschung zu haben ist. Im Zentrum der différance steht die Gerechtigkeit (zwischen Schrift und Sprechen, zwischen Subjekt und Objekt usw.) und die Anerkennung einer gewissen Unabschließbarkeit des Forschens und Erkennens (Derrida 2004).
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Beispiel Hildegard Peplau (1997), eine der zentralen Wegbereiterinnen einer pflegewissenschaftlichen Interaktionstheorie, bereits 1952 von „Performances, die zwischen den beteiligten Individuen, zum einen dem, welches die Pflegearbeit ausführt und der Person, die die Pflege bekommt, auftreten“.2 (vgl. Hoops 2013: S. 12 f.) Peplau wurde stark beeinflusst von den nordamerikanischen Interaktionstheorien ihrer Zeit, insbesondere der Soziologie Garfinkels (vgl. Fawcett 1999). Diese Performativität betrifft erst einmal auch eine Grunderfahrung Peplaus aus der psychiatrischen Pflege, bei der das Beziehungsgeschehen zwischen Pflegenden und Zu-Pflegenden besonders im Zentrum stehen. In der psychiatrischen Pflege wird oft miteinander ausgehandelt, was als wirklich anzusehen ist und es geht zudem oft um den Austausch von subjektiven Wahrnehmungen und eigenen Wirklichkeitsannahmen (vgl. Sauter u.a. 2020). In diesem Zusammenhang der Wahrnehmungsdifferenz möchte ich exemplarisch auf die empirischen Forschungen von Pflegewissenschaftler*innen hinweisen, insbesondere auf die Arbeiten von Patricia Benner (1994) zur/zum Pflegeexperte*in. Benner hat Pflegende, die in einer gleichen Pflegesituation waren, gebeten diese Situation aufzuschreiben. Anhand dieser Beschreibungen hat sie erkannt, dass es in Bezug auf die Pflegehandlung kompetentere und weniger kompetente Beschreibungen gibt und daraus das von Dreyfus/Dreyfus adaptierte Modell der fünf Kompetenzstufen entwickelt „From novice to expert“ – vom Novizen oder Neuling zum Experten/zur Expertin (vgl. ebd.). Anhand von Benners Arbeiten lässt sich sehr gut aufzeigen, dass es zwischen Pflegenden starke Unterschiede gibt in Bezug auf das, was sich als Pflegehandlung darstellt. Im Besonderen, wenn man die Beschreibungen von Pflegenden, die in der gleichen Situation gehandelt haben, nachträglich diese Situation beschreiben lässt (vgl. Hoops 2013). Ein dritter Gedanke zur Begründung der Pflege als eines eigenen Darstellungsgeschehens und in einem Darstellungsraum betrifft die Prozesshaftigkeit des Pflegerischen (vgl. Seaback 2012; Martinez-Kratz/Makic 2022). Wenn Pflegende konkrete Pflegearbeiten verrichten, „machen“ nicht sie die Handlung an der/dem Zu-Pflegenden, sondern sie reagieren, während sie etwas durchführen, ständig auf Impulse aus der sozialen Umgebung und Impulse der/des Zu-Pflegenden. Beispielsweise zieht die/der Zu-Pflegende das Hemd hoch, während Pflegende Blutdruck messen möchten oder fragen sie etwas, das mit der pflegerischen Intention gerade nichts zu hat. Die Pflegehandlung schreibt sich in
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(„[…] performances that occur between the individual who does the nursing and the person who is nursed.“ (Peplau 1997 [1952])
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einem Prozess fort und ist nicht allein das, was Pflegende tun. Sie ist nämlich noch mehr: Nicht nur die Pflegenden, alle an der Interaktion Beteiligten beeinflussen und bringen das pflegerische Handeln hervor. Als fast noch wichtiger ist festzustellen, dass alle Beteiligten zugleich auch Zuschauer*innen sind und sich in der Pflegesituation auch zu dem verhalten, was sich ihnen konkret darstellt. Diese Beobachtungsperspektive bringt in den Prozess der Interaktion etwas Situatives und etwas sinnlich Erfahrbares hinein. Man kann auch die Beobachtung des anderen beobachten und dadurch in einen Kreislauf aus Wahrnehmungen geraten. Die jetzt genannte Beobachtungsperspektive bringt uns aber wieder zum Gedanken der Ausgangsdifferenz des Pflegerischen: Pflegende und Zu-Pflegende sehen eben nicht das Gleiche in der Performance. Es ist gar nicht so einfach, diese Perspektiven, die Performance ausmachen, so zu erfassen und zu berücksichtigen und es ist ebenso nicht einfach, dieses in eine Wissenschaftssprache zu übersetzen. Man kann diese Tatsache von Pflege als einen Darstellungsraum nun verschieden beleuchten und auch mit verschiedenen Termini anreichern. Ich habe für diesen Darstellungsraum des Pflegerischen das pflegerische Tableau als Term mit Bezügen zu den Arbeiten von Michel Foucault (1974, „auf dem Tableau“) und Jacques Lacan (1996, „im Tableau“) gewählt. Es scheint mir dabei grundsätzlich wichtig, dass man bei der Rede von einem Tableau immer auch daran denkt, dass nicht nur die Perspektive Patient*in – Pflegende, sondern oft auch die Wahrnehmung von Angehörigen, von Pflegeschüler*innen, von Kolleg*innen, von anderen Patienten*innen, von Angehörigen anderer Gesundheitsberufe aus Medizin und Therapie eine Rolle spielen, indem sie den pflegerischen Darstellungsraum und das, was darin konkret stattfindet, spezifisch prägen. Natürlich spielen sowohl setting- bzw. sektorenspezifische als auch institutionsspezifische Aspekte eine wichtige und dominierende Rolle. Dieser erste Gedankengang sollte nun nachvollziehbar geworden sein, dass Pflege durch die Ausgangsdifferenz und die unterschiedlichen Wahrnehmungen in einem eigenen Darstellungsraum spielt, ja diese Darstellung durch sich selbst hervorbringt. Es ist also eine Art sozialer Raum, in dem nicht nur gehandelt, sondern auch beobachtet bzw. wahrgenommen wird. Dies führt mich zur zweiten Leitfrage: Was ist eine pflegerische Darstellung oder eine pflegerische Performance?
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3.
ELVIS FETZT? – PFLEGERISCHE PERFORMANCE ALS STELLVERTRETUNG
Aus pflegewissenschaftlicher Sicht hat die Annahme, dass Pflegende das Bedürfnis des pflegebedürftigen Menschen, also das, was seine Pflegebedürftigkeit ausmacht, stellvertretend kompensieren sollen, eine fundamentale Bedeutung erhalten. Ich nenne dies das Stellvertretungsdenken. Es ist ein Denkmuster, das bis heute in vielfältiger Weise anzutreffen ist. Ein Beispiel: Nehmen wir an, jemand kann aufgrund einer Schwäche nicht mehr selbstständig die Dusche betreten und der/die Pflegende ersetzt das Bedürfnis, sich unter die Dusche zu stellen oder zu setzen, durch gezielte körperpflegerische Handlungen. Diese Sichtweise ist für alle möglichen Pflegehandlungen übertragbar, die stellvertretend, eben für die Phase der Krankheit und Gebrechlichkeit, übernommen werden sollen oder gar müssen. Das Denken in Stellvertretung ist meiner Ansicht zufolge in vielen pflegewissenschaftlichen Ansätzen niemals so ausgedrückt worden wie in einem Zitat von Virginia Henderson (1897-1996), die den Aspekt der Stellvertretung ausschmückt und aufgreift: „Die Pflegende ist vorübergehend das Bewusstsein des Bewusstlosen, die Liebe zum Leben für den selbstmordplanenden Menschen, das Bein des Amputierten, die Augen des plötzlich Erblindeten, ein Fortbewegungsmittel für das Kind, Wissen und Zuversicht der jungen Mutter, ein ‚Mundstück‘ für jene, die zu schwach und hinfällig zum Sprechen sind und anderes mehr.“ (Henderson 1960: 11) In diesem Zitat wird deutlich, dass im Pflegediskurs und im pflegerischen Denken, insbesondere über die bis heute wirksamen Bedürfnistheorien (z .B. Krohwinkel 2013; Beikirch u. a 2016), ein Denken in Performance schon seit Langem in der Art besteht, dass Pflege in ihrer Arbeitsform genau das Bedürfnis darstellen soll, was – derzeit – der/dem Zu-Pflegenden oder in dem Fall besser der/dem Pflegeempfänger*in empfindet, aber selbst nicht mehr befriedigen kann. Dazu werfe ich den Blick auf einen aktuell berührenden Fall: Zum Höhepunkt der Covid-19-Pandemie in 2020 und 2021 und des temporären gesamtgesellschaftlichen Lockdowns kamen Pflegende und Pflegewissenschaftler*innen vermehrt in den Blickwinkel der öffentlichen Medien. Hinweisen möchte ich auf einen Beitrag über den Intensivpfleger Bernd Rütten, der leise die Tür zum Zimmer eines Patienten mit einem schweren Verlauf von Covid-19 zumachte. Dieser Pfleger erzählt im TV-Interview, wie er dem Patienten, den er gerade betreut, immer Musik anmache, es sei die Musik, die der Patient gerne hörte, bevor er am Corona-Virus erkrankte. Er sagt: „Läuft gerade Elvis Presley. Ja, wir
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interviewen die Angehörigen immer gerne, was hören die Patienten denn für Musik. Dass die dann zwischendurch, selbst im künstlichen Koma, ihre Musik hören dürfen.“ (RBB 2020) Diese Handlung des Musikanmachens ließe sich über das Stellvertretungsdenken problemlos legitimieren – so beispielsweise: Eigentlich könnte der/die Patient*in jetzt zu Hause sitzen und Elvis Presley hören. Leider ist jetzt eine Covid-19-Infektion dazwischengekommen und der/die Patient*in kann sich derzeit nicht äußern. Also macht stellvertretend die Intensivpflegefachkraft die Musik an, die die betreffende Person gerne vor der schweren Erkrankung hörte. Die Pflegehandlung, die jetzt durchgeführt wird, wird also zu einem Zustand von früher in Beziehung gesetzt, den man als Pflegende*r auf der Intensivstation nicht persönlich, aber über ein Interview von Angehörigen kennt. Dadurch wird dieser Teil der Musik zum Bestandteil der aktuellen Pflegehandlung. Das Musikanstellen und das Musikvorspielen ist damit aber nichts Eigenes oder Besonderes mehr, sondern es vertritt nur die Handlung, die die/der Patient*in sonst, also im imaginär gesunden Kontext, selbstständig organisieren würde. Aus meiner Sicht geht das Stellvertreterdenken nicht mit der beschreibbaren Realität dieser Szene auf. Die Pflegefachperson, die auf der Intensivstation Musik einschaltet, gestaltet mit dieser Performance etwas Neues und etwas, das der/die Zu-Pflegende zwar in Verbindung mit seinem/ihrem Leben außerhalb der Klinik bringen kann, aber dies keineswegs muss. Die Erfahrung von Elvis Presley neben der Beatmungsmaschine und den Infusomaten ist auch nicht unbedingt vergleichbar mit Elvis in der alltäglichen Lebenswelt des gesunden Patienten: Hier spielt das Radio in der Küche. Das pflegerische Handeln kann nicht anstelle eines vorherigen individuellen Bedürfnisses gerückt werden, sondern stellt in dessen Präsenz bzw. im Vollzug etwas ganz Eigenes dar. Man kann auch sagen, Pflege stellt in ihrer Performativität etwas Singuläres dar. Im eben zitierten Filmausschnitt (vgl. RBB 2020) über den Intensivpfleger ist u.a. zu sehen, dass dieser in bestimmter Weise lächelt und sich zur Musik bewegt. In gewisser Weise vertritt er die Stelle des Patienten – er hört Elvis wie der Patient. Er performt somit in der Situation mit dem Patienten, vermutlich eher noch freier, wenn er allein und ohne Kamerateam ist. Diese expliziten Grenzüberschreitungen nach dem Stellvertretungsselbstverständnis pflegerischer Performance erweisen sich als sehr problematisch.
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4.
PERFORMANCE ALS DENKANSATZ
Die soziale Ordnung des Pflegerischen als Performance kann grundsätzlich als Dreiklang aus Wahrnehmung, Sprechen und Handlung rekonstruiert und beschrieben werden. Das Denken in Darstellung im Allgemeinen und Performativität im Besonderen hat mittlerweile eine längere Traditionslinie in der Forschung. Man spricht auch von einem performativen Turn (vgl. Volbers 2014; Wulf/Fischer-Lichte 2014). Für diesen Turn gibt es sowohl sprach- und allgemeinphilosophische Referenzen als auch sozialwissenschaftliche Positionen und Vertreter*innen. Philosophisch ist das Performative über Austin (1962), Derrida (1983) und Butler (1991) konkretisiert und ausgeführt worden. Austin (1962) stellte die These auf, dass wir nicht nur von beschreibenden Aussagesystemen umgeben sind, sondern Wörter in Sätzen performativ wirken und nicht noch der Handlung oder eines anderen Zusatzes bedürfen, sondern dass Sprache die Handlung selbst schon ist. Zum Beispiel analysiert Austin das Berühmte: „Ja, ich will!“, das „Ich wette, morgen wird es regnen“ oder: „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ...“ Das Performative wird hier zum neuen Ausgangspunkt einer Sprachphilosophie. „I have preferred a new word …“, begründet Austin (1962: 7) seine Wahl für den Begriff des Performativen bzw. der performativen Äußerungen (utterance) mit einer performativen Äußerung. Derrida (1983) weist in seiner Grammatologie darauf hin, dass die relationale Strategie der Darstellung nicht mehr gelingen wird. Eine vollkommene Entflechtung der Ebene 1 (das Dargestellte) und Ebene 2 (das Darzustellende) und der dadurch sich konstituierenden Ebene 3 werden angenommen. „Die Repräsentation verflicht sich mit dem, was sie repräsentiert […]“ (Derrida 1983 [1967]: 65) und diese Verflechtung hört in der Reflexion nicht einfach auf: „dies geht so weit, dass man spricht, wie man schreibt, dass man denkt, als wäre das Repräsentierte lediglich der Schatten oder der Reflex des Repräsentierenden. […] In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprungspunkt ungreifbar“ (Derrida 1983 [1967]: 65). Butler entwirft ein völlig neues begriffliches Verständnis des Performativen, wenn sie im vierten Kapitel des Unbehagens der Geschlechter deutlich macht, wie „Parodie des Begriffs des Originals“ gerade dafür sorgt, dass die „ursprüngliche Identität […] selbst nur eine Imitation ohne Original ist“ (1991: 203). „[…] wie das Geschlecht und die Geschlechtsidentität ent-naturalisiert werden, und zwar mittels einer Performanz […]“ (ebd.) zeigt, dass die Performanz der Geschlechter eine relativ zentrale Stellung in ihrer Dekonstruktion bestehender Herrschaftsdiskurse erhält. Das Performative ist die Voraussetzung für die Transformation des Geschlechtlichen am Individuum.
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In den Sozialwissenschaften kann man sich an die Positionen von Goffman, Turner und Schechner erinnern (vgl. Volbers 2014). In Deutschland ist das Performance-Denken unter anderem von Gebauer (2017), Wulf/Fischer-Lichte (2014) und Volbers (2014) für verschiedene sozialwissenschaftliche Felder aufgebaut worden. Nahezu alle klassischen und neueren performativen und darstellungstheoretischen Ansätze beziehen sich auf ein gewisses Verhältnis von Sprache im Sinne von Sprechen, Handlung im Sinne von Ereignis und Wahrnehmung (vgl. Zirfas/Klepacki 2013; Volbers 2014; Wulf/Zierfas 2014; Gebauer 2017). Sie beziehen sich damit auf das, was auch pflegerische Arbeit grundsätzlich ausmacht: das Sprechen im Verhältnis zu Handlungen und zu Wahrnehmungen (vgl. Abbildung 2). Aus diesem Zusammenhang entsteht so etwas wie eine pflegerische Performance – jeweils betrachtet vor dem Hintergrund der pflegerischen Ausgangsdifferenz (vgl. Hoops 2013; Gahlen-Hoops 2018). Abbildung 2: Konstitutive Bestandteile einer Performance
Quelle: eigene Darstellung
4.1 Der Alltag der Performance – wie grenzen sich pflegerische Performances im sozialen Raum ab? Das Denken in pflegerischen Performances erfordert auch eine Abgrenzung zu anderen und durchaus üblichen Performanceverständnissen. Dazu möchte ich das begriffliche Verständnis im Sport, in der Kunst und in der Pädagogik abgrenzen, in denen einschlägige Performanceverständnisse vorliegen. In dem Performanceverständnis beim Sport geht es beispielsweise um Leistungserbringung unter Druckbedingungen, und zwar in nicht tabuisierten gesellschaftlichen Feldern (vgl. European Commission 2007; Aquilina 2013; Hughes u.a. 2015). In der Kunst geht es um Leistungserbringung unter Druckbedingungen in tabuisierten bzw. entgrenzten gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Leifeld 2014; Thun-Hohenstein 2016; Aehlig 2020; Wetzel 2005).
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In der Erziehung geht es um Performances in gesellschaftlich normativ gefüllten Bereichen (Rahmenlehrpläne), während es in der Pflege um Performances in gesellschaftlich tabuisierten Bereichen (vgl. Gahlen-Hoops 2018), aber nicht unter den Druckerwartungen wie beim Sport geht. In der Abbildung 3 geht es auf der horizontalen Achse um die gesellschaftliche Beteiligung bzw. Partizipation bei der Performance. Gesellschaftliches Publikum erzeugt beim Sport und in der Kunst eine ganz eigene Form von Druck bezogen auf die Leistungserwartung. Hier ist es üblich, dass die Zuschauer*innen bei der Performance zuschauen. Die Zuschauer oder die partizipierende Gesellschaft erwarten, dass die/der Sportler*in beim Event ihre/seine Bestleistung abruft und die Zuschauer*innen in der Oper erwarten, dass die/der Traviata-Sänger*in das C‘‘‘ (an der richtigen Stelle) trifft. Die vertikale Achse differenziert die Performanceverständnisse nach dem Grad an gesellschaftlichen Tabuisierungen. Erziehung und Sport sind mit den wenigsten Tabus belegt und Pflege und Kunst teilen das Handlungsgenre einer spezifischen Nähe zur tabuisierten Zone. Von Kunst erwartet man gezielt und offen Tabubrüche. In der pflegerischen Arbeit sind krankheitsbedingt etliche tabuisierte Bereiche angesprochen. Das bedeutet, dass Pflege im Unterschied zum Tanz oder Sport nicht die gleichen Druckbedingungen hat und im Gegensatz zu Performances in der Erziehung eher mit Tabus konfrontiert ist, die nicht normativ in der Weise kontrollierbar sind (vgl. Gahlen-Hoops 2018). Abbildung 3: Performanceverständnis Pflege in Abgrenzung zu anderen sozialen Feldern
Quelle: eigene Darstellung
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Der pflegerische Performancebegriff ist demnach unbedingt anders zu verstehen als der künstlerische, sportwissenschaftliche oder erziehungswissenschaftliche Performancebegriff.3 4.2 Wie entstehen oder was sind palliative Performances? Zur Veranschaulichung ein Fallbeispiel aus dem Handbuch zur palliativen Pflegeüberleitung (vgl. Henkelmann 2010): Ein Förster erkrankt an einem Larynxkarzinom, möchte trotz kritischem Zustand noch einmal in den Wald und äußert diesen Wunsch wiederholt dem interdisziplinären Palliativteam. Dieses ermöglicht ihm einen Ausflug in den Wald, der mit Begleitung einer Pflegeexpertin und den Angehörigen erfolgt. In dieser Ausflugssituation bestand das schwerwiegende Risiko, dass der ehemalige Förster diesen Ausflug nicht überlebt. Beleuchten wir diese Szene näher: Der Förster konnte in seiner letzten Lebensphase noch einmal diesen für ihn lebensbedeutsamen Kontakt zum Wald bekommen, diesen noch einmal spüren und hatte dabei zugleich den Schutz und die Sorge durch die Begleitung des Palliativteams. Ist nun tatsächlich anzunehmen, dass der Förster zufriedener gestorben ist, weil seinem Wunsch, noch einmal in den Wald zu fahren, nachgekommen wurde? Entspricht das Bild des Waldes, das dem Förster zu eigen war, ebenfalls dem Bild der Pflegenden, des Palliativteams oder dem/der Angehörigen? Oder unserem Bild als nachträgliche Zuschauer*innen des Falles? Geht es in diesem Fall um das aktuelle Bild des Waldes? Ist der Wunsch, in den Wald zu fahren, nicht vielleicht eher für ihn mit einem inneren Bild verbunden? Stellen Sie sich nun seine Tochter vor, die den letzten Wunsch des Vaters unterstützt, aber ein ambivalentes Verhältnis zum Wald hat, weil der Vater früher seine Zeit eher im Wald verbrachte und wenig Zeit für sie hatte. Diese Tochter fährt jetzt bei diesem Ausflug mit, ist Teil der Performance und hat für sich
3
Die pflegerische Performance reizt aber auch zur künstlerischen Auseinandersetzung oder zur filmischen Bearbeitung: Es ist meines Erachtens kein Zufall, dass das Pflegerische oft der Ausgangspunkt einer künstlerischen oder filmischen Auseinandersetzung geworden ist (vgl. dazu „Rosalie geht sterben“ im Roman „Ruhm“ von Daniel Kehlmann oder den Film „Liebe“ von Michael Haneke).
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nun die Möglichkeit, den Vater und sein Leben noch einmal und anders wahrzunehmen. Eventuell kann sie eigene Konflikte loslassen. Analyseergebnisse Diese Performance entsteht situativ und hat einen flüchtigen und dadurch auch einmaligen Charakter. Es ist die Aufmerksamkeit und der Respekt vor einem wichtigen und lebensentscheidenden Wunsch, der außerhalb des Pflegeanlasses im engeren Sinne ist, und der die Pflegenden dazu gebracht hat, diese Performance zu leisten. Die Situation ist dadurch charakterisiert den letzten Wunsch des Försters darzustellen, den Wald noch einmal, und zwar für sich zu erleben. Indem die Pflegenden oder das Team und die Angehörigen dieses Erlebnis für den Förster möglich machen, ist es zugleich auch so, dass das, was der Förster hier erlebt und wahrnimmt, sich dennoch verbirgt. Das Erfüllen eines Bedürfnisses ist etwas, was wir nur bedingt nachvollziehen können. Es gibt sicher Indikatoren für Zufriedenheit, aber keine endgültige Gewissheit oder gar Evidenz des Gelingens, die man von außen an die Situation anlegen kann, wenn Gelingen ein sich einstellendes subjektives Empfinden des Zu-Pflegenden ist. Auf jeden Fall bedeutet diese Performance etwas grundsätzlich Einzigartiges und Neues im Leben des Försters, nämlich sterbenskrank in den Wald zu fahren. Das macht man in der Regel nicht mehrfach. In dieser palliativen Performance geht es auch darum, dass verschiedene Gruppen wie Pflegende und Angehörige involviert sind. Sie müssen zusammen das Ereignis durchführen und dazu zentrale Absprachen und Verabredungen treffen, wie z.B. die Frage, was ist, wenn der Förster dies körperlich nicht schafft und es zu starken Blutungen kommt? Wie gehen wir als Team damit dann um? In dieser Performance geht es nicht nur um den Bezug zur Realität, sondern auch um eine Relation zu Normen. So wird auch der ethische Konflikt des Nicht-Schaden-Zufügens vs. Autonomie bzw. Lebenswunsch deutlich: Hier fand eine Abwägung statt zwischen dem Risiko, dass es zu lebensgefährlichen Blutungen kommen könnte, und dem Bedürfnis, diesem Mann seinen womöglich letzten Wunsch zu erfüllen. 4.3 Palliative Performances – Versuch einer Handlungssystematik Pflege spielt sich in einem Darstellungsraum ab, für den ich den Namen pflegerisches Tableau vorgeschlagen habe. Aus diesem differenz- und darstellungstheo-
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retischen Verständnis heraus, lassen sich verschiedene Stufen und darin Pflegeverständnisse performativ unterscheiden: Abbildung 4: Handlungssystematik im pflegerischen Darstellungsraum/ pflegerischen Tableau
Quelle: eigene Darstellung
Ebene 1 der pflegerischen Performances: die Darstellung als Nichtpflege, also eines grundsätzlichen Nicht-helfen-Könnens, weil man erstarrt ist und Angst hat, etwas falsch zu machen und aus einer Haltung des Nichts-tun-Könnens. Gerade der Umgang mit Sterbenden führt zu ernsthaften Komplikationen des Handelns (vgl. Dreßke 2020; Bemmann/Klewer 2014). Man weiß nicht, was man hierbei tun soll. Gerade Pflegeschüler*innen reagieren hier zunächst hilflos und haben das schwere Gefühl, sie können nichts tun oder passen sich mit einem Mechanismus der Mimikry an das falsche Tun an: Mit „Chamäleonkompetenz“ wird das beschrieben (vgl. Kühme/Balzer 2009; Hänel/Gahlen-Hoops 2020). Von Adorno wird beispielsweise eine ähnliche Szene gegenüber einem Kriegsinvaliden mit Armprothese meist sehr humoristisch kolportiert, die von Chaplin sofort parodiert wurde. Es ist aber für die Betroffenen nicht unbedingt humoristisch, sondern sie fühlen sich hilflos und inkompetent. Ebene 2 der pflegerischen Performances: die Pflege, bei der vor allem Routinen das Handeln vorgeben. Also eine Pflege im Modus: Vormachen und Nachmachen. Abweichungen sind hier nicht das Programm, alles wirkt eher wie aufgezogene Puppen oder wie bei einem Marionettentheater von oben gesteuert.
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Man verabreicht Schmerzmedikamente, man „verrichtet“ ohne Beteiligung (vgl. Wittneben 1993). Diese Handlungsform kann als Pflege nach Ritualen (alle Bewohner*innen bis zum Frühstück waschen, Person zum Waschen auf Toilettenwagen setzen) oder als Funktionspflege (ganze Station Fiebermessen/Betten machen) bezeichnet werden. Ebene 3 der pflegerischen Performances: eine Pflege in Stellvertretung und als blasses Abbild eines idealeren Zustandes der Nichtpflege. Die Performance zielt auf Wunscherfüllung beim anderen Menschen. Die Pflegeperson streicht sich durch und übernimmt die Stellvertretung des Anderen. Damit streicht sie auch den Anderen durch. Die Stellvertretung geht nicht auf, sie bringt die Sisyphosfigur in den Pflegediskurs: eine Pflege, die sich nicht ernst nimmt, die ganzheitlich den anderen versorgen möchte, aber diese Handlungen nur in einer pejorativ bestimmten Performance zulassen kann: eben unauffällig, als zweite Geige (je nach Diskurs: nachrangig zur/zum Patient*in, nachrangig zur Medizin, nachrangig zu Gott/Jesus/JHWH/Prophet Mohammed). Ebene 4 der pflegerischen Performances: Pflege, die einer Logik des Professionellen und der Expertise folgt. Die Darstellung wirkt hier kompetent und wissensorientiert. Das, was Pflege ist, wird hier eher als das definiert, was Pflegende als Expert*innen wahrnehmen (vgl. Benner u.a. 2000). Andere Perspektiven auf das Darstellungsgeschehen sind in der Praxis nicht gleichberechtigt, sondern nachrangig. Dementsprechend geht man hier davon aus, die Kontrolle über das Geschehen zu haben. Die Nichtkontrolle ist hier das zu Vermeidende. Ebene 5 der pflegerischen Performance: Die Pflege als Performance wäre Pflege, bei der andere Deutungen und Einflussnahmen auf das Geschehen zugelassen und ermöglicht werden. Auf diese Weise kann etwas Einzigartiges und Singuläres entstehen, ohne auf Expertise zu verzichten. Auch der abweichende Wunsch hat hier seine Berechtigung.
5.
KONSEQUENZEN AUS DEM PERFORMANCEANSATZ FÜR DIE PALLIATIVE CARE
Pflegende sollten eine Bewusstheit und eine Haltung zu ihrer Beteiligung an Performances entwickeln und diese aus einer Differenzwahrnehmung heraus beschreiben können. Man entkommt Performances ohnehin nicht, ist immer ein Teil von ihnen, spätestens wenn eine Geschichte, wenn Pflege als Fall beginnt. Es erfordert Mut, etwas in die Interaktion reinzugeben und zuzulassen, was daraus entsteht. Elvis oder das Walderlebnis sind Performanceansätze, die nicht in der Weise ge- oder misslingen. Es sind Darstellungserlebnisse, worin sich das
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Pflegerische in der Palliative Care zeigt. Als Pflegende selbst etwas in die Pflegeinteraktion einzubringen, bedeutet insofern immer auch ein Wagnis. Denn Performances beinhalten durch die Darstellungsebene grundsätzlich auch eine Abweichung. Performances können zentral sein, um die „Demystification“ der Palliative Care auch tatsächlich zu realisieren (vgl. Masel/Kreye 2018). Bei pflegerischen und palliativen Performances in der Palliative Care geht es genau nicht – wie bei künstlerischen Performances – darum, etwas vorzuspielen, sondern darum darzustellen – zu dem, was sich der/die Andere gerade wünscht oder was sein/ihr Bedürfnis ist und was seine/ihre Handlungsspielräume sind. Im Kontext des Sterbens fällt ein zusätzlicher gesellschaftlicher Vorhang (Steffen-Bürgi u.a. 2017). Dies erfordert zumindest eine vorgeschaltete Auftragsklärung und Beratung (vgl. Froggatt u.a. 2017). Pflegerische Performances sind im Grunde immer schwer zugänglich: Eine Transparenz des Pflegerischen ist weder unmittelbar noch objektiv gegeben (vgl. Gahlen-Hoops 2018). Dies bedingt sich u.a. durch die Nähe zu sozialen Tabubereichen und aus den daran gekoppelten Normen wie der des Datengeheimnisses. Pflegearbeit hat eine Beziehung? Zu Lebensgrenzen wie Sterben und Tod. Das erschwert die Zugänglichkeit zur Ebene des Pflegerischen deutlich. Oft gilt Abweichung im Pflegeprozess oder im medizinischen Behandlungsprozess als etwas sehr Negatives. Das zeigt sich in der Debatte um den „Immer-so-Beweis“, aber auch im Kontext der Standardisierung im Zusammenhang mit der Pflegedokumentation. Es gibt derzeit eine Vielzahl gesellschaftlicher und auch wissenschaftlicher Tendenzen, die eine Angst vor Abweichung und Individualität erzeugen (vgl. Hoops 2013; Beikirch u.a. 2016). Im Kontext einer palliativen Performance herrscht Unsicherheit, weil Pflegenden durchaus bewusst ist, dass über die Darstellung der eigenen Handlung nicht die Kontrolle gesichert ist. Es gibt mehrere Zuschauer*innen und auch selbst erfährt sich die/der Pflegende anders. Man fragt sich als Pflegende*r, was man machen soll. Eigentlich tut man schon etwas, weil man ja schon etwas leistet, denn man befindet sich quasi bereits in der Performance. Man wird als jemand oder auch jemand Fremdes erkannt und muss sich zu der Pflege wie in der Pflegearbeit verhalten. Expertise sollte keinesfalls gegen Performance ausgespielt werden. Gerade Expertise kann diese notwendigen Räume schaffen. Eine Performanceannahme erfordert konsequent Rückversicherungen und Feedbackschleifen im Pflegeprozess, also: Was kommt bei anderen an? Wie werde ich verstanden und wahrgenommen? Letztendlich muss man eine Performance aber auch als solche stehen lassen können und der Darstellungsebene als einer eigenen Ebene des Verstehens vertrauen.
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Wie soll man nun etwas festhalten, dessen Charakter flüchtig ist und das zum Verschwinden gebracht wird? Eine Performance fordert uns als Pflegende und als Wissenschaftler*innen nachträglich heraus, darüber nachzudenken, sie gedanklich nachzuspielen oder protokollarisch zu beschreiben. Pflegerische Performances werden durch Beschreibungen oder durch Medien (Bilder, Filme) darstellbar. Man benötigt dazu auch die Motivation und Perspektive, das Neue daran zu zeigen oder zeigen zu wollen (vgl. Welling 2014; Eberhardt u.a. 2017; Müller 2018). Ein vorläufiges Fazit zur palliativen Performance ist: Pflege hat nach wie vor ein „Darstellungsproblem“ ihres Handlungsfeldes. Der „Performanceansatz“ kann sich als hilfreich erweisen, dies zu ändern. Performances sind aufgrund der Ausgangsdifferenz des Pflegerischen immer auch Wagnisse und gleichermaßen individuelle, offene Räume (vgl. Torres Román 2017). Pflegerische Performances setzen sich auch mit einer Möglichkeit des Scheiterns am anderen auseinander. Deshalb sind sie im Kontext einer Palliative Care am Lebensende grundsätzlich angezeigt. Pflegerische und palliative Performances sind aber genau das, was Pflege im sozialen und gesellschaftlichen Kontext unterscheidbar macht und was meiner Auffassung nach die Besonderheit der pflegerischen Profession im Kern ausmachen wird.
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I bid you farewell A phenomenological study of saying goodbye Sine Maria Herholdt-Lomholdt
1.
INTRODUCTION
I loved my grandma. She was a matriarch in the most loving and caring ways. She knew all of her grandchildren well – our favourite toys, our hobbies, the names of our best friends, and, not least, our favourite foods. She opened her heart and her home to us, and I still remember the joy I felt when my parents, brothers, and I drove to her and my granddad’s farm. As my grandmother aged, she started to prepare for her death, and she prepared us – her family – as well. She divided her jewellery into three lots, one for each of her three daughters. She started to give away her money to us, her family, and enjoyed seeing the furniture, new bathrooms, real carpets, and years at private schools it gave life to. She also read her Bible and prayed to God. As she grew older, my grandma became ill. Several times, we sat around her sickbed at hospitals, in her home, and once even at a hospice. Each time, we expected death to arrive. For a time it did not, but each time and in still more creative manners, we thanked her and said goodbye. These goodbye moments around my grandma’s bed made an impression on me. They were sad moments, but they were not only sad. They were also moments of gratitude, joy, and even laughter. They were hours filled with both tears and happy memories. They were moments where life and death, peculiarly, intensified each other. I think my grandma enjoyed these farewell moments with her family. At least I know, that I did. In this chapter, the purpose is to enquire into one of the social orders of dying: bidding each other farewell. Of course, it is not always possible to prepare for death as my grandmother did, and farewells are not always as organised as hers was. This chapter delves into the farewells that take place when death is ex-
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pected, with recognition that sudden and shocking farewells may have completely different characteristics. This chapter is a phenomenological and ontological exploration. Relying on Heidegger’s ontological difference (Nicholsen, 1996), this chapter explores the being of farewells in human life, specifically in the presence of expected death. Thus, the focus is moments of farewell, as seen through the lens of human experience. Relying on the extensive work of Max van Manen (1990, 2014), the phenomenological approach means that the enquiry starts with a description of a lived experience written by a newly graduated nurse. A phenomenological unpacking, questioning, and wonder follow, after which some phenomenological insights based on the lived experience are placed in perspective to the related philosophical and phenomenological literature. These insights are mainly concerned with two aspects: 1. The ‘farewell’ as a contrasting rich and full experience. 2. The farewell as an experience of being carried by others and by life itself. On behalf of these phenomenological insights, the chapter ends with a discussion about the way nurses and other health professionals can be sensitively and respectfully present while families are bidding each other farewell. The chapter as a whole is written in an essayistic manner.
2.
TO BE IN THE PRESENCE OF DEATH – A LIVED EXPERIENCE DESCRIPTION
I am at work in the medical department. Today, I am responsible for seven patients, one of whom is a woman in her 90s. She has a severe lung disease and mild dementia, and she is now hospitalized with pneumonia. We start antibiotic treatment and quickly see changes in her blood tests and wellbeing. Yesterday, the woman’s son visited his mother. He expressed that he is terribly sad to see that treatment has been initiated, as he knows that his mother’s clear wish is not to receive any kind of life-prolonging treatment. A meeting is arranged between the woman, the son, the doctor, and the nurse in charge today. They decide to stop all treatments. Antibiotics. Cardiac medicine. Oxygen. All treatments that can have life-prolonging significance now cease.
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The son expresses a wish to bring his mother to his home, and the discharge work is initiated. The home of the son and his wife must be organized so that there is room for aids, such as a nursing bed and a ceiling lift. The time is 11:30. and I walk into the room where the old woman is lying. There has been a meeting about the woman’s future. Big and significant decisions have been made. I am going to ask her what she would like for lunch, a contrast with the conversation that happened just an hour ago. I open the door to the room, which is located at the end of a long corridor. The room is spacious. There is a hospital bed in the middle and a large window with a view of the city. The woman is sitting in the corner of the room in a soft armchair. Her son is sitting in front of her. They sit perfectly close and hold each other’s hands. There are smiles and quiet words between them. I place myself by the window, a bit behind the son. I do not say anything. I quickly sense that they are in the middle of something significant. “You need to know, Mom, we have taken care of everything. Everything is agreed upon and prepared. You do not have to worry about anything at all,” I hear the son say. He smiles at his mother. “I’m not scared at all, you know. I’m not scared,” the woman tells her son. The woman’s smile appears heartful and warm, one of those smiles that has an impact on the eyes. Many months after this episode, I will still remember that smile. A smile that holds love, warmth, and genuine gratitude. She previously told me that she had a long and happy life. She had a loving husband and two sons who themselves have good lives. Now, she’s in a hospital. The doctor has just told her that her time is running out. How much time is left, he cannot say, but he clarifies that it may be a matter of a few weeks. Death is difficult, and as a nurse, I find that death can often be difficult for both patients and their relatives. Despite the apparent power of death and its impact on this woman’s life, the mood, as I sense it, is neither dark nor negative. On the contrary, the atmosphere is light and warm. The moment between the woman and her son holds an incredible amount of love and meaning that touches me deeply. I feel tears in my eyes. I tell them that I will return in a while, as I want to give them time and space to be together. I walk out through the heavy door. I think of the experience I just had. An experience of a strong and loving bond between a mother and a son. I notice how beautiful and peaceful death can be when it is accepted as a natural part of a long and good life.
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I notice how death can bring us together with those closest to us, and how death, when we know it is coming, can give rise to deep and warm conversations. (Extract from an essay written by a newly graduated nurse)
3.
PHENOMENOLOGICAL OPENINGS, WONDERS, AND QUESTIONS
The above lived experience description is part of an essay written by a newly graduated nurse during her participation in the phenomenological and dialogical action research project titled “Moments of beauty in nursing – a source for innovation?” (Herholdt-Lomholdt, 2018). In it, the reader meets an elderly woman and her son on a morning of big decisions: the elderly woman, her son, a doctor, and a nurse with special responsibilities in the ward have decided to stop all life-prolonging treatments. The old woman is now considered to be slowly but surely dying. In the description, the reader also meets the narrator of the story, Lone, a young and unexperienced nurse. Lone is responsible for the old woman’s fundamental care on this special day. One of Lone’s tasks is to offer the woman lunch. Lone finds this task to be a contrast to the big questions and decisions that have just been dealt with, comparing the decision to let a life run out with the simple question, ‘What would you like for lunch?’ With great courage, Lone enters the room to ask the old lady about lunch, but she does not complete her task. Something stops Lone from asking the woman what she wants for lunch. What is it that stops this young nurse in her agenda? As readers of the story, we cannot know for sure. Nevertheless, Lone’s description of entering the room provides a clue: Lone describes how something significant is at stake, and she became aware of something that she did not expect to be present. Lone enters the room in a moment of farewell between the old woman and her son. However, this farewell is not as Lone expected. Lone uses the word ‘despite’ to describe both the unexpected and the contrastive elements of this moment of farewell – despite the power of death, despite the influence of death in this family’s life, despite all the difficulties around death, the situation is much more than dark and negative. Lone seems to be surprised by this, surprised by the sudden experience of a moment of farewell as being a moment filled with heartfulness, warmth, gratitude, and love. Moreover, this love, warmth, and grat-
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itude do not seem to be present as an escape from death. It merely seems as if love, light, and gratitude have arisen in the midst of death and farewells and are carrying the ones who are saying goodbye. It seems that love and warmth have created a sphere for accepting and receiving what is to come. Lone’s description shows how moments of farewell can be laden with contrasts. Of course there is a contrast between life and death, but other, more subtle contrasts also seem to arise in such moments. These contrasts touch Lone deeply. She did not expect moments of farewell to be like that, and she wonders about this experience of a family saying goodbye. In the following, Lone’s wonder about the contrasts of saying farewell and the sense of being carried by warmth and love in a moment of sorrow are the centre of exploration.
4.
THE CONTRASTS OF BIDDING EACH OTHER FAREWELL
Lone’s description of a moment of farewell contains several contrasts, beginning with the contrast of having life-prolonging treatment available and stopping all kinds of treatments. Thereafter, several other contrasts arise, such as the contrast between big and difficult decisions on the one side and simple wishes for lunch on the other, and the contrast of a mother and a son facing separation while at the same time sitting close together. In the description, we are also shown the contrast between worry and not being scared, and we can, as readers, sense a contrast between the difficulties of facing the power of death and a heartful gratitude, complete with smiles loaded with warmth. Through retrospective and grateful descriptions of the time already passed, a contrast also arises in the description of time as something that is running out and a life fulfilled. We read about death and moments of farewell as times that could be dark and negative, and of a farewell as being a beautiful, natural, and peaceful experience filled with love and meaning. In the following, these contrasts are condensed into two main contrasts: the contrast between deep sorrow and genuine gratitude, and the contrast between separation and togetherness. 4.1 A farewell as a moment of deep sorrow and genuine gratitude Reading Lone’s description, it is clear that genuine gratitude plays a major role in the moment. This gratitude is expressed from the perspective of the old woman as a gratitude that arises while looking back on her life. On another occasion,
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the old woman told Lone what a happy life she had. She was blessed with a loving husband and two sons who themselves had good lives. In this way, the old woman summed up her life in a few sentences, showing what really mattered to her: a life with her loved ones, and that her loved ones had good lives as well. Genuine gratitude is also expressed in the love and warmth Lone sees in the old woman’s eyes as she holds her son’s hands and ensures him that she is not scared. The summation of an entire life in a glance and a few grateful sentences reminds me of the ways we, as humans, talk about a life fulfilled. A Danish philosopher, Mogens Pahuus, write about life fulfilment as follows: You do not have to have a whole lived-through life to feel fulfilment. If you have lived in determination, have actively taken over and chosen your life, and maybe even have changed something in your life, then you have given your life direction – and thereby it is, at least partially, fulfilled. In the same way, if you have given yourself in your life, devoted yourself to someone or something, then your life has, at least partially, a sort of finality. It has the character of something that cannot be changed, and that means that your life has had direction and is fulfilled. (2011, p. 206, author’s translation) In Lone’s description, genuine gratitude seems to be connected to the kind of devotion Pahuus described. The old woman has clearly devoted herself to her husband and sons throughout her life, and now, in her last days, she happily notes that these people, whom she cares deeply for, have, and have had good lives. This makes the old woman’s life fulfilled. At the same time, the description shows how the old woman’s son fought for his mother’s right to direct her own life right until the end. The son verbalises a wish that his mother did not express at the hospital, maybe because of her weak condition, or maybe because she had great trust in authorities. Nevertheless, this son knows that his mother does not want life-prolonging treatment. Her life is fulfilled, and she is ready to die. To fulfil the mother’s life even more, the son helps her direct her life and death as she wishes, which in this sense meant stopping the life-prolonging treatment. In this way, the genuine gratitude expressed throughout the description must be seen in light of a life fully lived.A fulfilment that, according to Pahuus, is not a question about how many years a person has lived, but about the ways they have been able to give their life direction and devote themself to something or someone; even young people who stand on the edge of life can express such a sense of genuine gratitude and feelings of having lived life to its fullest (Pahuus, 2011).
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In light of these thoughts, it is interesting to see the small role that sorrow plays in the description. As a nurse, mother, and wife, I believe that this moment of farewell also holds a deep sorrow – the sorrow of saying goodbye to each other. The interesting thing here is that only one real sorrow is mentioned, and this is the son’s sorrow at seeing his mother treated with medications that he knows she does not want. It seems that the sorrow of seeing actions that compromise the direction his mother wishes for her life is greater than the sorrow of seeing her die. This son does not want his mother to survive under any circumstances; he wants to see his mother’s life fulfilled. Such fulfilment requires an ability to face death, to talk about death, and to prepare for death. Of course, facing death could be and is filled with deep sorrow as long as we care for each other. Nevertheless, in Lone’s description, the sorrow of saying goodbye is nothing compared to the feeling of seeing your mother’s wishes and life fulfilment being compromised. The sorrow of saying goodbye to each other seems, in this case, to be surrounded by a genuine gratitude for the life that has been lived and the lives that will continue to be lived through the sons. From the description, we learn that genuine gratitude and the sorrow of saying goodbye can and often do coexist in moments of farewell. In the description, gratitude fills more than sorrow Of course, this is not the case in every moment of farewell, as gratitude seems to be related to feelings of having lived life to its fullest, which is a feeling that some human beings unfortunately do not have at the end. In those cases, and following Pahuus (2011), the sorrow of not having lived life to its fullest might be at stake alongside the sorrow of saying goodbye. Although co-existing, the balance between sorrow and gratitude might therefore be different in other moments of farewell. 4.2 A farewell as a moment of separation and togetherness Yet another contrast of interest in the description is between the impending separation of a mother and her son and the nearness between them. On one hand, this moment of farewell is framed by the very special circumstance that time is running out and that there is not much time left. Time is running towards an eternal (possibly) separation between them. The mother will leave this world, and her son will stay without her. They both know that, as death in this case is expected. On the other hand, the togetherness between the mother and her son can be understood as a kind of revolt against their future separation. They sit perfectly close, they hold each other’s hands, and the nurse senses an incredible amount of love between them. This togetherness also manifests in the way the son plans to take care of ‘everything’.
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It is as if the togetherness between the mother and her son in this moment has allowed time to stand still. While sitting close and holding hands, time does not run; rather, it stops running in this precious moment. In that way, togetherness really is a revolt against the impending separation. Togetherness in moments of farewell seems to be able to pause time for a while. On that basis, it seems reasonable to suggest that the contrast between togetherness and separation involves a contrast between different ways of approaching and sensing time. In the work of Norwegian nurse and philosopher Kari Martinsen, different ways of approaching time are often described (e.g. Martinsen, 2018, 2021). In these texts Martinsen criticizes the healthcare sector for focusing too much on productive and instrumental time, which is always running. It is a time filled with chores. A time that overlooks yet another time – much more important for human beings – which, in Martinsen’s work, is described as a time that makes room for the fullness of life. In one text, Martinsen describes these two kinds of time as follows: To confuse hour-time with heartbeats gives trouble in healthcare […]. For time is up when the heart stops, not when the clock stops. The problematic thing is that clock-time has become equal with time in healthcare. Clock-time is an unworried time outside of us, a tool we use for structuring work, but the real time is in the body, an experienced time we can be within (Martinsen, 2021, p. 44, author’s translation). These two times, clock-time and lived and experienced time, are very different. Clock-time is always running, while experienced time can run, stand still, slip away, or even disappear. Martinsen used these perspectives to criticize the ways healthcare often lets clock-time rule and forgets patients’ living and embodied time. In light of this, it is possible to suggest that the moment of farewell between the mother and her son contains a revolt against the time that just runs, as the running time leads to separation. By sitting close together and holding each other’s hands, another time occurs. It is a slow and intense time, a time that does not run but lets the mother and son breathe. It is a time of togetherness, of shared heartbeats. In the beginning of this exploration, I asked what it was that stopped Lone from completing her task. Perhaps it was the sense of another time that stopped her. Lone went into the old woman’s room from a corridor in the hospital that was most likely filled with hectic activities. Lone entered the room to fulfil a task according to the time of the day, but when she entered the room, she sensed something significant at stake – a closeness, a nearness, a love, and maybe a time that was standing still, a time totally different from the time at the hospital, a
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time in opposition to the kind of time that can run out. If Lone had asked the woman what she wanted for lunch, Lone would have changed the time in the room from a time standing still to the hour of the day. Maybe what stopped Lone was an unconscious but sensed respect for the stoppage of time in a moment of farewell. What we learn from the lived experience description is, that Moments of farewell can contain both a recognition of impending separation and a sense of time running, a knowing that an existence will shortly end, and a revolt against the running time by being together and letting time stand still. 4.3 On unifying opposites in moments of farewell In the above phenomenological analysis and reflections, it is clear that moments of farewell contain contrasts. These do not exist alone; they exist together. Their presence is not a question of ‘either/or’; rather, they present themselves in our lives and farewells as couples. It is also apparent that these opposites – the duos of separation and togetherness, sorrow and gratitude – seem to uphold each other. Sorrow deepens when the loss is great. However, when loss is great, there is also every reason to be grateful. Moreover, impending separation leads to togetherness, while close togetherness might not arise with such strength without the realization of a future separation. In the Danish philosopher K. E. Løgstrup’s work, couples of phenomena that, although opposite, seem to uphold each other are described as ‘unifying opposites’ (1982). This term refers to couples of phenomena that form a whole by holding their oppositions together. Løgstrup gives the example of openness and untouchability to explain the idea: openness is key in human life, but if it is not connected to a zone of untouchability, openness risks being too open. Turned the other way around, a zone of untouchability is important in every human life, but if this zone is not balanced with openness, it can lead to isolation and loneliness. The richness of life comes from unifying opposites. Because of them, life is not one-dimensional. These opposites uphold each other in a constant dialectical relationship, making life lively. Indeed, as Martinsen (2010, p. 42), with a reference to Løgstrup, write, they ‘create a condensed life’ and prevent life and our understandings of life from solidifying. Moments of farewell when death is expected contain several unifying opposites that uphold each other, such as separation and togetherness, sorrow and gratefulness. Something vital to Løgstrup’s description of unifying opposites is that they do not breathe without each other; rather, these opposites genuinely uphold each other. This means that in moments of farewell, these opposites need to
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be present in their sometimes strange differences. The oppositions do not tear the farewell apart; they hold it together as a fully lived and lively farewell. In a special way, moments of farewells involve so many unifying opposites that an entire life is intensified. Thus, Lone’s experience of a farewell containing warmth and love, as well as sorrow, is of great importance. To feel sorrow in such a situation also involves gratefulness. Of course, these opposites are situation-specific, and other opposites could – and do – arise in other moments of farewell. It is key that both phenomena are supported and allowed, and the oppositions have to be allowed as well. Compromising one of them means compromising both.
5.
BEING CARRIED THROUGH A FAREWELL
In Lone’s description, an aged mother and her son are going through a farewell that, in some ways, must be unbearable. Human beings tend to go through unbearable things in life, but how do we do that? Asked another way: who – or what – carries us when we are not able carry ourselves anymore? This question arises upon reading Lone’s description. Who or what carried this mother and her son through this moment of farewell? Who or what carried Lone, a young and newly educated registered nurse, through her first experiences with the processes of dying and a family bidding each other farewell? In the description, it is possible to identify at least two ways of approaching these questions. First, the mother and her son seem to carry each other. In the following section, this will be described as a relational approach. Second, it seems as if something else carried them as well: a love, a warmth, a light. In the following, the idea of being carried by something outside human control – by something larger than human beings – will be described as being carried by life itself. Both are comprehended in light of Løgstrup’s philosophy. 5.1 To carry each other – a relational approach In Lone’s description, it is clear that the son tried to carry his mother through her last days in at least three different ways. At first, he could be seen acting as his mother’s ‘lawyer’. When he asked the healthcare personnel to end treatment, he spoke his mother’s case in a situation where she was not able to stand up for herself. Based on the description, he did so with deep respect for the direction his mother wanted to give her life and death. Second, the son carried his mother by taking care of practical issues, such as making his home ready for her last days.
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This involved ordering a ceiling lift and hospital bed and making room for these items in his home. Third, the son met the emotions of the situation by sitting close to his mom and reassuring her that she did not need to worry. On this basis, it is possible to say that the mother was at least partly carried by her son. However, the carrying was not one-directional; the mother also seems to have carried her son. She was not able to be his lawyer, and she was not able to help him with practical things. However, the mother’s ensuring her son that she was not afraid of dying could be seen as another way of carrying. The son could do a lot of good things for his mom, but one thing was not possible: he could not follow her into death. Of course, he could be next to her, but in passing the doorstep between life and death, she would leave him. The mother ensuring her son that she was not scared could be comprehended as a way of showing him that she was ready to walk those steps without him or anyone else. Pahuus describes this as a readiness to ‘carry your own destiny’ (2011, p. 204). Thus, the mother, in a way, carried her son by carrying the one thing that she had to do on her own. In the work of Løgstrup (2012), an ethical demand is at stake in every relationship between human beings, as well as intrinsically in life. Life is given with an ethical demand that we cannot deny, which is described as follows: With our mere attitude towards each other, we help to give each other’s world its shape. With my attitude, I affect what width and colour the other person’s world gets. I help to make his world wide or narrow, light or dark, diverse or boring – and not least, I help to make it threatening or safe. Not by theories or views, but by my mere attitude. Therefore, there is an unspoken demand, so to speak, an anonymous demand for us to take care of the life that trust puts in our hand. (Løgstrup, 2012 p. 28, author’s translation) Thus, it is not so much what we do as the way we meet others that matters. It is our attitude – the ways we expand or narrow the lives of others – that really matters. Carrying each other in the ways this mother and son seem to do could be understood as a way of listening to the ethical demands of the situation. What is difficult is that the ethical demand never tells us what to do. For example, the ethical demands did not tell the son and mother exactly what to do or say, although it did call upon them to consider how they could widen and lighten each other’s worlds. However, it was up to the mother and son to use their creativity and imagination to actually do so. Bidding each other farewell involves a demand to pick up on the other person’s tone, so to speak. This also means that there has to be enough time, space, and silence to actually be able to hear each other’s tones, as well as possibilities to properly respond. In Lone’s description, the relational ways of carrying each
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other are mostly present in the ways the mother and her son carried each other. The young nurse did not seem to be a large part of it; she just stood in a corner. Nevertheless, she did something by letting the time, space, and silence rule. You could say that by setting aside lunch, the young nurse let the mother and son carry each other. She did something by the way she did not intervene or interrupt, and by the way she respected the significant value of the relationship between a mother and her son. Lone protected their need to carry and care for each other during the last intense days of the mother’s life. 5.2 Being carried by life itself – on the sacred and beauty in moments of farewell With regard to Lone’s description of a moment of farewell, another sort of ‘carriedness’ can be experienced. In the following, I describe this as the experience of being carried by life itself. In Lone’s story, she expressed surprise. Something was present in the moods and atmosphere of the room that she did not expect. Lone described the farewell as a moment that held an incredible amount of love, a moment of meaning, a moment where life, light, and warmth were present, as revealed in the hands that held each other and the grateful look in the mother’s eyes. No matter how wise and insightful Lone might be, she could not create that atmosphere in the room herself, and she described it several times as an atmosphere that was present ‘despite’. Love, warmth, and light were experienced as rebellions – a revolt against death. The mother and son did not create this atmosphere either – they could not simply decide it to be so. The love, warmth, and light came to them as a present they could receive or reject, but never create by their own will or effort. Referring to the Danish philosopher Dorthe Jørgensen (2006, 2010, 2014, 2015), I have described moments where a sudden experience of meaning arises as moments of beauty in nursing (Herholdt-Lomholdt, 2018). Such moments are characterised by an experience of being given something, not from another person but from life itself. Jørgensen used the concepts ‘a surplus of meaning’ (2014), ‘immanent transcendence’ (2010, 2015), and world poetry (2011) to describe such experiences. Experiences that meaning can arise in the midst of our daily life and routines. Meaning that seems to be able to carry us as human beings, also in moments where we as humans are not able to carry anything any longer. I wonder if the way Lone described the presence of meaning, light, warmth, and love could be comprehended as such a moment: a moment where light, love, and warmth were given to a mother and her son, and also to the
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young nurse standing in a corner. Lone seems to have been carried by the atmosphere in the room as well, and her thoughts related to death and moments of farewells were forever changed. Løgstrup’s work includes the concept of ‘sovereign life utterances’ (2012), describing ‘trust’ as an example of a sovereign life utterance and a phenomenon that human beings cannot create. Trust is a fundamental order given by life. It comes to us spontaneously as a gift from life and is in itself sovereign. However, trust can be broken. The brokenness is what human beings have in their power. When sovereign life utterances appear, human beings have two choices: to receive them with gratitude and care, or to reject them. By rejecting the appearance of sovereign life utterances, we destroy life. Løgstrup mentioned other examples of sovereign life utterances as well, such as open speech and love. Relying on Løgstrup’s perspective, Martinsen (2018) described moments in nursing, such as the moment Lone entered the room, as sacred. The sacred is described as ‘a guarding force that manifests itself, which is felt sensorily, and which hold its hands under human beings, which carries and leads us, and which we have no power over – other than to destroy’ (p. 21, author's translation). Such moments are precious. They are strong and carry us in life, in farewells, and as death arrives. They are moments to wonder at and be grateful for. However, they are also fragile: a loud and annoying noise, an effective nurse running into the room asking what the old woman wants for lunch, a nurse intervening in the dialogue between the mother and her son – so many small things could have changed this moment and made the beauty in this room flee. How did Lone widen the world of this mother and son? I think Lone did a lot by doing little. With regard to Løgstrup’s thoughts on sovereign life utterances, Lone let meaning, light, and love shine as long as it possibly could by being silent, standing in the corner, and quietly leaving the room again. In that sense, Lone did a lot by stepping back.
6.
BEING A NURSE IN MOMENTS OF FAREWELL
The purpose in the last section of this chapter is to discuss how nurses can meet families’ moments of farewell with respect for all the contrasts that arise in such moments and with the courage to support the families’ abilities to carry each other and be carried by life itself. With regard to the phenomenological analysis and reflections, it has already been mentioned that the most important thing when present at a farewell is to let the oppositions be present in all their variety, to search for ways to support a family in their wishes to carry each other, and to
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let a family’s farewell be wide and carried by life itself by not disturbing, interrupting, or rejecting that which is sacred and loaded with beauty. In the following, a small step will be taken to begin the discussion about what is needed for a nurse to be able to show sensitivity during farewells. This part is mainly inspired by my own former work on nurses’ sensitive presence in moments of beauty, as well as Martinsen’s Løgstrup-inspired description of ‘good shame’ as a sense of the borders set by life itself. 6.1 To be sensitively present as a nurse The following section explores the question of what is required of a nurse to be present in moments of farewell. Based on my former research on nurses’ ways of being present in moments of beauty, which surprisingly often meant being present in moments of great loss and sorrow, I emphasise two conditions: sensitivity and presence (Herholdt-Lomholdt, 2018, 2019). In line with the work of Løgstrup, my research has indicated that it is not so much what a nurse does but the ways in which she is present (the being of the nurse) that makes a big difference in such moments. Of course, a nurse must also attend to many professional tasks in moments of farewell, and these tasks are of great importance. However, what really matters is the way in which a nurse is present while doing her duty. The concept of sensitivity is, in this context, inspired by the German founder of philosophical aesthetics, Alexander Gottlieb Baumgarten (1968). Baumgarten lived in a time of rationality, but he had a strong sense that rationality did not capture everything. Other ways of experiencing the world and other ways of putting experiences into words sometimes resonated more with the wholeness of life. Baumgarten was preoccupied with poems as a way to give words to experiences that rational and unifying concepts could not. When reading poems, he could sense a meaning – maybe even a whole world – that was not explicitly resent in the words. However, the wholeness of the poem, the wholeness of the words, and the pauses between the lines let a sense of something ‘more’ arise. This sense of more is the poem, Baumgarten states. From this, Baumgarten developed the concept of sensitive recognition: a kind of recognition relying on feelings, sensations, and suspicion. Sensitive recognition can be described as the ways in which we, as human beings, gain access to a surplus of meaning, for example, while reading poems, but also in life. With sensitive recognition, we sense something is at stake, as Lone sensed the significance of love, light, warmth, and meaning in the room with the old woman and her son. We sense something more than what is directly visible. The love and warmth in a room might not be present to an objective eye. You might not necessarily sense the
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‘incredible amount of love’ between the old mother and her son from the hallway or a distance. However, love, light, and warmth are sensible and make themselves accessible to the sensitive eye and person. Relying on the work of Baumgarten, being in moments of farewells as a nurse requires sensitivity, an ability to recognize and step aside for the significant meaning of the present moment. The nurse has to be present in ways that could be compared with the ways in which we are present when we read poems or novels or listen to music. By being sensitively present, we are able to sense deep meaning that does not arise or present itself as a fact, although it shows itself with its own sort of clarity. Sensitivity also relies on the ability to be present in a unique moment. From my long experience as a nurse and nurse educator, I know this can be challenging in nursing, as the acceleration of time and expectations for a nurse to be effective have increased considerably over the last decades. A critique of the consequences of acceleration in nursing was raised very thoroughly by Martinsen (2018), with references to the German sociologist Hartmut Rosa. Despite the difficulty for nurses to be present in each and every moment, it is necessary to highlight the need for nurses to be present in moments of farewell. German philosopher Martin Heidegger (2007b) described three ways of being in the world: present-at-hand (Vorhandenheit), readiness-to-hand (Zuhandenheit), and being-in-the world (Dasein). Present-at-hand and readiness-to-hand both belong to what Heidegger described as a calculated way of being (2007a). Calculative being is characterised by the ways we approach things, either by their usefulness (readiness-to-hand) or by a distanced and objective approach (present-at-hand). In both ways of calculative being, we use the moment to something else – something outside the moment. The moment has a purpose outside itself. Of course, we cannot live a life without these ways of being, but if they become everything, we overlook or forget our most original way of being: being-in-the-world in absolute presence. To describe this most original way of being, Heidegger used terms such as dwelling, habitation, residing by, and an openness for what is given to us in this present and precious moment (2007b, 2007a). Being-in-the-world is a way of being that is preoccupied with the here and now; there is no other purpose than this here and now. What we can learn from this is that both sensitivity and absolute presence are necessary for nurses in moments of farewell. Sensitivity and presence are prerequisites if a nurse is to be able to sense the significant surplus of meaning in every moment throughout different farewells.
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6.2 Good shame can guide nurses In her writings, Martinsen described the concepts of good shame and shamelessness (Martinsen, 2010b, 2018). Shamelessness can be seen when human beings or societies do not respect or acknowledge that there are things in life that are untouchable and outside of human control. Shamelessness leads to humans interfering in everything; nothing is sacred, and everything can be controlled and subjected to the will and determination of mankind: ‘A shameless culture does not know of any limits’ (Martinsen, 2010b, p. 71, author’s translation). In a shameless culture, we do not hold ourselves back. In such a culture, humans ‘lose sight of the enigmatic, colourful, large, and intangible’ (Martinsen, 2010b, p. 66, author’s translation). Martinsen suggested that good shame is the attitude that can prevent the creation of cultures of shamelessness in nursing – and in general. Good shame is described in Martinsen’s work as a universal and basic feeling of restraint in relation to the conditions of life that are out of humans’ control and are not human merits. Good shame can hold human beings at a reverent distance from that which is sacred, thereby preventing the violation or destruction of life. Martinsen points to good shame as a feeling or sense that can guide nurses with regard to when to step back and when to let something vigorous come forth. Lone’s sense of the love, warmth, and light and her respect for the fullness of life in the farewell moment are of absolute importance. Her way of stepping back – by being silent and staying in the corner – could be seen as an expression of good shame: the feeling of a need to hold herself back. In the beginning of this chapter, I asked what it was that kept Lone from asking the old woman what she wanted for lunch in the farewell moment. Maybe it was good shame, which in this instance meant feeling a need to be hesitant. Following this line of thinking, Lone’s way of being could even be expressed as a deep bow for the riddle of life. Love, warmth, and light were much more important than lunch at that moment. On the basis of the work of Martinsen, it seems reasonable to say that being a nurse in moments of farewell requires a sense and respect for the borders life itself brings forth. These borders can be invisible to the hasty nurse, but they are sensible to a nurse who is sensitively present and who listens to and relies on feelings of good shame.
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7.
SOME CLOSING REMARKS
In this chapter, farewell moments during expected death have been explored phenomenologically and ontologically on the basis of a lived experience described by a young and newly educated nurse. The chapter contributes by expressing some phenomenological insights regarding farewell moments acknowledging that many other insights could be inspected as well. The insights in this chapter show that moments of farewell are filled with contrasts and oppositions that rely on each other for fulfilment. Contrasts between deep sorrow and great gratitude, between future separation and current togetherness, and between time as something that is running out and the fullness of time are shown to be central in the experience of farewell moments. Throughout the chapter, it has been shown how a moment of farewell can be experienced as a moment where human beings carry each other, as well as an experience of being carried by life itself. Being a nurse sometimes involves a nearness to families’ farewells. This chapter contributes by discussing what is required of a nurse to be near in moments of farewell. Three key aspects have been highlighted: nurses must be sensitive, present, and able to heed feelings of good shame during a farewell moment between a dying person and their family. In the chapter, it was briefly put forward that the velocity of our society – and thereby the speed of the healthcare sector – often opposes the possibility of nurses being sensitively present. Future studies should enquire into and describe the cultures and leadership needed to support nurses on an individual level and the healthcare sector in general, so they can be able to step back for the fullness of life in moments of farewell, as well as in many other moments.
REFERENCES Baumgarten, A. G. (1968). Filosofiske betragtninger over digtet. (P. A. Brandt & S. (oversætter) Kjørup (eds.)). Forlaget Arena. Heidegger, M. (2007a). Markvejen. Forlaget Arena og Klaus Gjørup. Heidegger, M. (2007b). Væren og Tid (2.). Forlaget Klim. Herholdt-Lomholdt, S.M. (2019). Invisible but sensible aesthetic aspects of excellence in nursing. In: Nursing Philosophy, 20 (2). https://doi.org/10.1111 /nup.12238 Herholdt-Lomholdt, Sine Maria. (2018). Skønne øjeblikke i sygepleje - en kilde til innovation? En fænomenologisk og dialogisk aktionsforskningsunder-
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III. Empirische Arbeiten
Organisierte Gegenwarten Kommunikation mit Familienangehörigen in der ambulanten Sterbebegleitung und Palliativversorgung Anna Bauer
1.
EINLEITUNG – ORGANISATION ALS PROBLEM UND LÖSUNG
Es gilt als Selbstverständlichkeit, dass Sterbebegleitung und Palliativversorgung1 vor dem Hintergrund des Ideals der Ganzheitlichkeit nicht nur den Sterbenden in den Blick nehmen, sondern ebenso sein soziales Umfeld. Sowohl in Hospizen und auf Palliativstationen, aber auch in der ambulanten Hospiz- und Palliativarbeit bilden daher Patientin und Angehörige eine „unit of care“, werden also als Einheit betrachtet, die als Ganze zum Gegenstand der Versorgung werden (vgl. Nebel 2011).2
1
Die Begriffe Sterbebegleitung und Palliativversorgung werden hier meist zusammen genannt. Zwar existiert aus einer versorgungspolitischen Perspektive eine Trennung zwischen Sterbebegleitung und Palliativversorgung, doch zeigt sich in der Empirie, dass die Versorgungsakteur:innen selbst diese Trennung nicht nachvollziehen. Diesen empirischen Befund spiegelt die Begriffsverwendung in diesem Buchbeitrag wider.
2
„The acknowledgement that families need care-giving support reveals hospice’s conceptualization of families as recipients of care as well. Specifically, today’s hospice philosophy, in accordance with Saunders’ principles set forth in the original hospice mission, recognizes the patient and family together as a single unit of care.“ (Nebel 2011: 420; Hervorh. i. Orig.)
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Dass dies von den Mitarbeiter:innen3 als Herausforderung erlebt wird, steht unter anderem in einem Zusammenhang mit der Heterogenität von Angehörigen und Familien (vgl. Broom/Cavenagh 2011; Broom/Kirby 2013; King/Quill 2006). Multiprofessionelle „Teams“ bekommen es mit einem ihnen zunächst fremden Familienleben zu tun, das geprägt ist von seinen jeweils spezifischen Eigenheiten, Ritualen, Konfliktthemen, Tabus und Idiosynkrasien. 4 Zwar soll auch in Hospizen und auf Palliativstationen die Familie mit einbezogen werden, doch fällt es hier leichter, auch mit den Familien umzugehen, die sich im Umgang als „schwierig“ erweisen, weil sie sich z.B. häufig streiten, das Sterben ihres Angehörigen verleugnen oder Anstands- und Höflichkeitsnormen nicht einhalten. So „schwierig“ die Familie auch sein mag, so ist in den stationären Einrichtungen zumindest die medizinische und pflegerische Versorgung des Patienten gesichert. Dies stellt sich im ambulanten Sektor beim Sterben zu Hause jedoch anders dar. Hier wird die Familie zum Problem und zur Lösung. Sie wird als Versorgungsakteurin gebraucht, die maßgeblich die Palliativversorgung zu Hause beeinflusst, aber auch erst ermöglicht. Eine „schwierige“ oder „unzufriedene“ Familie kann sich jedoch als Risiko für die Sterbende erweisen. Aus diesem Grund ist es naheliegend, dass aus der Perspektive der ambulanten Hospiz- und Palliativarbeit ein besonderes Augenmerk auf die Familie des Sterbenden gelegt wird. In diesem Beitrag soll es primär um diese professionelle Perspektive gehen und genauer darum, wie sich aus dieser Perspektive der Kontakt mit Familien darstellt, welche Bedürfnisse Familien zugeschrieben werden und welche Möglichkeiten der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) 5 als Orga-
3
In diesem Text ist von Patient:innen, Ärzt:innen, Mitarbeiter:innen usw. die Rede, um die geschlechtliche Pluralität der Akteur:innen zu verdeutlichen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Singular die weibliche und männliche Form abwechselnd verwendet.
4
Broom und Kirby zeigen sich überrascht von der großen Heterogenität, die sich selbst im kleinen Sample ihrer qualitativen Studie widerspiegelt: „We heard of benevolent and amazing families, difficult and challenging families, and those that were absent; even within this cohort of twenty patients. These accounts illustrate a diversity often not acknowledged within the delivery of palliative care, and moreover, some important themes that may have links to recent cultural shifts, particularly those related to the family.“ (Broom/Kirby 2013: 509)
5
Der Anspruch auf Versorgung mit SAPV ist in §§ 132d i. V. m. § 37b SGB V geregelt. Nach den letzten verfügbaren Zahlen wurden im Jahr 2016 13,1 % der Versicherten (=Verstorbene) mit SAPV versorgt (vgl. Ditscheid et al. 2020).
Organisierte Gegenwarten | 243
nisation zur Verfügung stehen, auf diese Bedürfnisse einzugehen. Es soll hier die These ausgebreitet werden, dass in der ambulanten Palliativversorgung und Sterbebegleitung nicht die Organisation von der Familie herausgefordert wird, sondern vielmehr die Organisation von sich selbst herausgefordert wird. Daran, dass sich die Organisation in einem nicht-organisierten, familialen und privaten Kontext bewähren muss, wird sichtbar, was Organisation ausmacht und dass Organisationen letztlich nicht anders können als zu organisieren. Am empirischen Material lässt sich zeigen, dass die Organisation damit zugleich Problem und Lösung ist. Zur Untersuchung dieser These wird ein systemtheoretischer Zuschnitt vorgeschlagen, da es die Systemtheorie ermöglicht, die Eigengesetzlichkeiten unterschiedlicher „sozialer Ordnungen“ analytisch trennscharf darzustellen, um dann empirisch den Blick darauf zu richten, was geschieht, wenn eigensinnige soziale Ordnungen aufeinander bezogen werden müssen. Diese analytische Trennschärfe leitet einen soziologischen Blick an, der Eigengesetzlichkeiten ernst nimmt und es vermeidet, zu allzu harmonischen und versöhnenden Beschreibungen zu kommen. Es wird so ein struktureller Konflikt beobachtbar, der nicht rein sozialdimensioniert einzelnen Akteur:innen zurechenbar ist, sondern der regelmäßig entsteht, auf sachliche Unterschiede verweist und sich nicht durch einen gemeinsam geteilten Konsens oder durch mehr Kommunikation auflösen lässt. 6 Der Beitrag beginnt mit der Skizze einer analytischen Perspektive. Unter Zuhilfenahme systemtheoretischer, familien- und organisationssoziologischer Literatur werden Familien und Organisationen als unterschiedliche Muster sozialer Ordnungsbildung beschrieben, die nach eigenen Logiken operieren (2). Nach einer kompakten Beschreibung von Methode und Material (3.1) wird ein empirisches Beispiel dargestellt (3.2) und interpretiert (3.3), in dem es um die Reaktion der Organisation auf „unzufriedene“ Angehörige geht. In einem kurzen Fazit (4) wird der empirische Befund vor dem Hintergrund der Kritik an der sogenannten Institutionalisierung der Hospiz- und Palliativarbeit diskutiert.
2.
EIGENGESETZLICHE MUSTER SOZIALER ORDNUNGSBILDUNG – ORGANISATIONEN UND FAMILIEN
Um die differenten sozialen Ordnungsmuster von Familien und Organisationen tiefenscharf nachzeichnen zu können, sollen beide Kontexte als operativ ge-
6
Vergleiche zu den drei Sinndimensionen Luhmann 1987: 114-122.
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schlossene Systeme gefasst werden (vgl. Luhmann 1984: 30-91). Familien als Systeme zu begreifen, ist spätestens mit dem Aufkommen der systemischen Familientherapie (vgl. Schwing/Fryszer 2015; Steiner 2020) nichts Ungewöhnliches mehr. Bereits Niklas Luhmann sprach vom „Sozialsystem Familie“ (vgl. Luhmann 2005a, 2005b). Ebenso ist es plausibel, Organisationen als Systeme zu fassen. Es ist gerade die Systemtheorie, die einen starken Begriff von Organisation entwickelt und diesen in einer Reihe mit Interaktion und Gesellschaft an zentraler Stelle der Theorie führt (vgl. Luhmann 1975b; Tyrell 2015). Doch was sind eigentlich Familien und was sind Organisationen? Diese sehr allgemeine Frage kann im Rahmen eines Buchbeitrages nicht angemessen beantwortet werden. Ich beschränke mich hier daher auf einige wenige in der Forschung genannte Merkmale von Familien und Organisationen. Was tun Familien? In der familiensoziologischen Literatur wird seit geraumer Zeit ein Wandel der Familie verzeichnet. Da sich die Gesellschaft wandelt, z.B. durch Globalisierung, Technisierung, Individualisierung, Pluralisierung, um nur einige Schlagworte zu nennen, müsste sich auch die Familie wandeln (vgl. Beck 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1990). Das frühere Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie verliert aufgrund von demografischem Wandel und steigenden Ehescheidungsraten an Bedeutung (vgl. Peuckert 2019). In den Blick kommt dann die große Bandbreite an alternativen familialen Lebensformen, wie z.B. Patchworkfamilien, Inseminationsfamilien, neo-, bi-, patri- und matrilokale Familien usw. (vgl. Nave-Herz 2013: 39 f.). Die wohl bekannteste Definition familialer Lebensformen lieferte Rosemarie Nave-Herz, die Familie als durch eine „biologischsoziale Doppelnatur“, eine interne „Generationendifferenzierung“ und durch ein „spezifisches Kooperations- und Solidaritätsverhältnis“ gekennzeichnet sieht (Nave-Herz 2013: 36). Diese abstrakte Definition hat zwar den Vorteil, dass sie ein empirisch hohes Auflösungsvermögen aufweist und viele verschiedene familiale Lebensformen erfasst werden können. Dieser Vorteil wird jedoch dadurch erkauft, dass noch wenig dazu gesagt werden kann, was Familien eigentlich sind und was sie tun. Was Familien tun, wird in der Forschung zum „doing family“ thematisch (vgl. Jurczyk/Lange/Thiessen 2014). Hier tritt in den Vordergrund, wie sich Familie in praxi vollzieht. Genauer geht es um die praktische Herstellung von einem „gemeinsamen generationalen Lebenszusammenhang“, um gemeinsame „Zeit-Räume“ zur „Ermöglichung von Ko-Präsenz“ sowie um „die Erbringung
Organisierte Gegenwarten | 245
von Care“ (Jurczyk 2014: 66). Es geht also bei dem, was Familien tun, um die Herstellung von Gemeinsamkeit, Nähe und Solidaritätsverhältnissen. Die Luhmann’sche Systemtheorie der Familie bildet um diese Ansätze eine Klammer, da sie einerseits auf einer abstrakten Ebene operiert, andererseits auch Aussagen darüber machen kann, was Kommunikation in Familien ausmacht. Hier zeichnen sich Familien dadurch aus, dass Kommunikation über ganze Personen möglich wird, d. h. „daß das externe und das interne Verhalten bestimmter Personen intern relevant wird.“ (Luhmann 2005b: 192). Dadurch wird eine „Inklusion der Vollperson“ (Luhmann 2005b: 199) erreicht, d. h. durch die Orientierung an dieser „Vollperson“ weiß die Familie, wer dazu gehört und wer nicht. Letztlich kann alles, was eine ihr zugehörige Person tut, in der Familie zu Kommunikation werden, was zu einem Überschuss an Kommunikationsmöglichkeiten führt – Luhmann spricht von „enthemmter Kommunikation“ (Luhmann 2005b: 194) –, der wiederum in der Familie domestiziert werden muss. In Familien gibt es dafür ein „Familiengedächtnis“ (Luhmann 2005b: 196), was zur Regulation anschlussfähiger Themen dient, also Kommunikationsmöglichkeiten einschränkt und so die Familie vor Überforderung und Konflikten schützt. Neben dieser Fokussierung auf Personen zeichnen sich Familien durch intim gebundene Beziehungen aus. Kommunikation in solchen Beziehungen richtet sich am Erleben des anderen aus: „Was denkst Du, wenn Du merkst, daß ich mich bemühe, herauszubekommen, was Du denkst?“ (Luhmann 2005a: 212) Diese Art der Kommunikation kann im Extremfall „für die Beteiligten selbst unerträglich“ sein (Luhmann 2005a: 216) und sich pathologisch entwickeln, weshalb Familien für Außenstehende leicht als konfliktuös wahrgenommen werden können.7 Was tun Organisationen? In der Systemtheorie bildet der Organisationsbegriff gemeinsam mit dem der Interaktion und der Gesellschaft ein „Begriffsterzett“ (Tyrell 2015: 371). Hiermit soll auf drei verschiedene Systemtypen mit unterschiedlichen Eigengesetzlichkeiten und Operationsweisen aufmerksam gemacht werden. Die elementare Ope-
7
Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Keiner der hier angeschnittenen Ansätze würde Familien auf rein biologische Abstammungsverhältnisse reduzieren. Folglich erübrigt sich auch die in der Hospiz- und Palliativarbeit mittlerweile übliche Rede von den An- und Zugehörigen. Auch Freunde können als Familienmitglieder behandelt werden. Ebenso ist es möglich, Haustiere als Familienmitglieder zu behandeln, z.B. indem man ihnen Namen gibt, sie für intelligent und „eigenwillig“ hält, sie also als Personen beobachtet.
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ration, anhand derer sich Organisationen identifizieren lassen, ist die der „Kommunikation von Entscheidungen“ (Luhmann 2011: 63). Alles, was in Organisationen getan und gesprochen wird, kann als Entscheidung zugerechnet werden. Über die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern weiß die Organisation, wer dazugehört und wer nicht – und auch die Frage, wer Mitglied wird, ist wiederum eine Entscheidung. Das Bezugsproblem von Organisationen ist, dass in ihnen Unterschiedliches und bisweilen auch Widersprüchliches gleichzeitig geschieht. „Die Erhaltung des Bestandes eines Systems erfordert Leistungen, die einander widersprechen.“ (Luhmann 1964: 154) Solange alle dasselbe tun, ist keine Organisation erforderlich. Es ist folglich normal, dass Organisationen sich uneinheitlich verhalten und nicht ohne Weiteres uniform kommunizieren können. Besonders deutlich lässt sich dies an dezidiert multiprofessionellen Organisationen sehen, in denen die einzelnen Professionen trotz Beschwörung von „Ganzheitlichkeit“ und „Teamgeist“ immer wieder auf die Unhintergehbarkeit ihrer eigenen Perspektiven stoßen (vgl. Bauer/Saake/Breitsameter 2022). Um Anschlusskommunikation und Handlungskoordination wahrscheinlicher werden zu lassen, werden in Organisationen „Typisierungen für Situationen“ (Luhmann 2011: 195) vorgenommen, auf die mit vorgegebenen Entscheidungszusammenhängen reagiert wird. So entstehen die für Organisationen typischen standardisierten Abläufe, Routinen und „Ritualien“ (Luhmann 2011: 197). Damit werden Reflexionslasten abgefangen und möglicherweise riskante Entscheidungen unwahrscheinlicher. In diesem Sinne dienen Organisationen der Herstellung von „Ordnung, Stabilität und Wiederholbarkeit“ und der „Domestikation einer ‚wilden‘ Praxis zugunsten auf Dauer gestellter Muster.“ (Saake/Nassehi 2004: 127) Ein weiteres Mittel zur Steigerung der Wahrscheinlichkeit von Anschlusskommunikation und Handlungskoordination ist Macht, die – verstanden als „den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1922: 28) – typischerweise an den „organisatorische[n] Ungewißheitszonen“ (Crozier/Friedberg 1979: 47) anfällt, also dort, wo das Verhalten einzelner Mitglieder nur schwer regulierbar und kontrollierbar ist. Dies sind häufig „Grenzstellen“ (Luhmann 2011: 210) der Organisation, an denen der „marginal sécant“, also eine Art „einflussreicher Außenseiter“ nistet, um dort die „Rolle eines Vermittlers und Übersetzers zwischen verschiedenen, oft widersprüchlichen Handlungslogiken“ (Crozier/Friedberg 1979: 52) zu spielen. Ein weiteres Mittel zur Herstellung von Koordination sind Termine und Fristen. Arbeitsbeginn und Arbeitsende werden terminiert, Kooperation wird erst dadurch wahrscheinlich, wenn es einen festgelegten Zeitpunkt für sie gibt (vgl. Luhmann 1971: 146 f.).
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Entsprechend der familien- und organisationssoziologischen Literatur lassen sich mindestens sechs Kriterien erarbeiten, anhand derer beide Systeme voneinander unterschieden werden können, und mit denen sich die Eigengesetzlichkeit beider Kontexte hinreichend scharf stellen lässt: • Inklusionsmuster: Die Inklusion von Vollpersonen in Familien steht einer von
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der Vollperson abstrahierenden selektiven Inklusion in Organisationen gegenüber (vgl. Nassehi 2011: 176-183). Organisationsmitglieder werden nur in sehr spezifischen Hinsichten relevant gemacht (vgl. Luhmann 1997: 829). Rollenstruktur und Rollendefinition: Es ist ein Kennzeichen von Familien, dass diese eine „spezifische Rollenstruktur“ und „Rollendefinitionen“ aufweisen, die es so nur in Familien gibt, wie z.B. Vater, Mutter, Tochter, Sohn etc. (vgl. Nave-Herz 2013: 39). Diese elementaren, nicht veränderbaren, weil die Familie als Familie auszeichnenden Rollenstrukturen und -definitionen gibt es in Organisationen nicht. Die Rollenträger:innen lassen sich einerseits austauschen, andererseits können Organisationen durch Restrukturierungsmaßnahmen über ihre eigenen Rollenstruktur disponieren. Art der Beziehung der Mitglieder: Familien werden typischerweise als intim gebunden beschrieben. In Organisationen entsteht die Bindung durch aufeinander Bezug nehmende Kommunikation von Entscheidungen. Zwar kommen auch in Organisationen intime Bindungen vor, doch können diese nichts zu den Operationen des Systems beitragen. Eintritt und Austritt: Der Ein- oder Austritt ist in Organisationen per Entscheidung möglich und üblich. In Familien ein- oder auszutreten ist hingegen ein deutlich unwahrscheinlicherer und seltenerer Vorgang. Zeitordnung: Da die Familie als „historisches System“ (Luhmann 2005a: 213) gilt, kommt es zu einer Überbetonung der Vergangenheit. Diese wird als unveränderbar begriffen und greift in die Zukunft hinaus. Entgegengesetzt dazu ist die Organisation „gegen den geschichtlichen Strom der Zeit gebaut“ (Baecker 1994: 162), d. h. die Vergangenheit legt nicht die Zukunft fest. In jeder Gegenwart kann Vergangenes als variabel betrachtet werden, wohingegen Zukünftiges durch Entscheidungen festgelegt wird. Reziprozitätsordnung: Innerhalb organisierter Settings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Tätigkeiten der Mitglieder als Arbeit bezeichnet werden, was eine Entlohnung plausibel macht. Tätigkeiten von Familienmitgliedern innerhalb von Familien (z.B. Kindererziehung, Kochen, Putzen, Einkaufen etc.) sind jedoch nur bedingt als Arbeit erkennbar, was eine finanzielle Entlohnung unwahrscheinlich macht (vgl. Brückner 2011). Im familiären Umfeld ist hin-
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gegen eine Reziprozitätsordnung der Gabe und Gegengabe typisch (vgl. Schneider 2014: 119). Wenn von „sozialen Ordnungen des Sterbens“ die Rede ist, dann zeigt all dies, dass wir es bei Organisationen und Familien mit zwei strukturell verschiedenen Ordnungen zu tun bekommen, für die sich hinsichtlich einer Sterbebegleitung und Palliativversorgung jeweils unterschiedliche Bezugsprobleme ergeben und für die das Sterben jeweils etwas anderes bedeutet. Aus dieser analytischen Perspektive müsste das Sterben für die Familie die Veränderung einer Person sein, die zwar einerseits für ein Erleben von Diskontinuität sorgt, während gleichzeitig die in der gemeinsamen Vergangenheit eingeübten Rituale und Verhaltensweisen fortbestehen. Die Familie ändert sich nicht plötzlich, nur weil jemand stirbt. Für die Organisation hingegen – und um die wird es im Folgenden primär gehen – müsste das Sterben etwas sein, was sich routiniert mit eingespielten Abläufen bearbeiten lässt, was also letztlich organisiert werden muss. Der Sterbende sowie dessen Familie gehören dabei zur Umwelt der Organisation.
3.
»… KANN DAS NICHT MAL UNBÜROKRATISCH ABLAUFEN?« – EIN EMPIRISCHES BEISPIEL
Diese abstrakt dargelegte analytische Perspektive soll nun in concreto an einem empirischen Fall scharf gestellt werden. Bevor aus dem Interviewmaterial zitiert wird, möchte ich kurz auf dessen Herkunft hinweisen sowie kurze Bemerkungen zur Methode machen. 3.1 Methode und Material Das hier verwendete Material wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts 8 zur Versorgungspraxis der SAPV erhoben. In dem Projekt wurden von 2018-2019
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Dieser Buchbeitrag bezieht sich auf die verschiedenen Forschungskontexte, in denen die Autorin verortet ist: Das Interview stammt aus dem an der Universität Augsburg durchgeführten Teilprojekt 3 aus dem Gesamtprojekt SAVOIR – SAPV: Outcomes, Interaktionen, regionale Unterschiede. Projektleitung: Prof. Dr. Werner Schneider. Projektmitarbeiterinnen: Anna Bauer, Sabine H. Krauss. Das Projekt wurde mit Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss unter dem Förderkennzeichen 01VSF16005 gefördert. Die Projektkoordination lag bei der Abteilung für Palliativmedizin der Uniklinik Jena. Weitere Projektbeteiligte waren die Universi-
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insgesamt 113 problemzentrierte Leitfadeninterviews (vgl. Witzel 2000) mit Ärzt:innen, Pflegekräften sowie weiteren Berufsgruppen und Leistungserbringer:innen vor Ort geführt. Die Interviews mit Ärzt:innen, Pflegefachkräften und Koordinator:innen wurden mit einer Mischung aus Grounded Theory (vgl. Przyborski/Wohlraab-Sahr 2014) und funktionaler Analyse (vgl. Nassehi 2008) ausgewertet. Mit dieser Methode richtet sich das Interesse darauf, wie unterschiedliche Perspektiven Problem-Lösungs-Konstellationen erzeugen, damit Kontingenz bearbeiten und soziale Ordnung hervorbringen. Es wurden dabei gezielt Stellen aus den Interviews analysiert, in denen die Interviewpartner:innen den Kontakt mit Familienangehörigen beschreiben. Für diesen Beitrag wurde ein Interviewausschnitt mit einer hauptberuflich in der SAPV tätigen Pflegekraft und Koordinatorin9 ausgewählt, in dem besonders ausführlich der Umgang mit Familienangehörigen reflektiert wird. 3.2 Belastungen im Arbeitsalltag – überforderte Familie, überforderte Organisation Die Palliativpflegefachkraft und Koordinatorin Julia Dörner10 schildert in den folgenden Interviewausschnitten Situationen, die sie in ihrem Arbeitsalltag belasten. Typischerweise ließen sich hier Erzählungen über die psychischen Belastungen durch die tägliche Konfrontation mit Tod und Sterben erwarten. Doch hier kommt eine andere Art der alltäglichen Belastung zur Sprache: „Was belastend ist, ist, wenn wir nicht vollständig in der Koordination sind, also nicht alle da sind. Das wechselt ja. Dass dann manchmal, also nicht häufig, ganz viele Informationen in einem ganz kurzen Zeitraum und ganz11 viel sofort und jetzt organisiert werden
tätsmedizin Göttingen, die Bundesarbeitsgemeinschaft SAPV (BAG), die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und die BARMER GEK. Ein weiterer Forschungskontext ist das DFG-Projekt „Vom ‚guten Sterben‘. Akteurskonstellationen, normative Muster, Perspektivendifferenzen“ (Projektleitung: Prof. Dr. Christof Breitsameter, Prof. Dr. Armin Nassehi, Dr. Irmhild Saake; Projektnummer: 343373350). 9
Koordinator:innen finden sich häufiger in der SAPV. Ähnlich wie Fallmanager:innen (Case Management) organisieren sie eine patientengerechte Versorgung, übernehmen die Behandlungs- und Versorgungsplanung, koordinieren interne und externe Versorgungsakteur:innen.
10 Alle Personen- und Ortsnamen wurden pseudonymisiert, um die Anonymität der Interviewpartner:innen zu gewährleisten. 11 Kursiv gesetzte Wörter sind Betonungen der interviewten Person.
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muss. Dann kommt man an eine persönliche Grenze. Und da muss man sich aber wirklich zusammenreißen und zurücknehmen, zu sagen ‚Es geht nur alles nacheinander‘. Auch wenn eine Erwartungshaltung da ist – und die Erwartungshaltung von den anderen ist sehr, sehr hoch, weil wir immer alles schnell wuppen. Und manchmal funktioniert das halt eben nicht, wenn man selber an seine Grenzen kommt – und an Zeitmangel. Wenn dann nämlich dann noch dazu kommt, dass man plötzlich vier Patienten angemeldet bekommen hat und alle jetzt und sofort und dringend, und man ist nur zu zweit, das macht Stress. Das sind so diese Stressmomente. Oder Unzufriedenheit. Ähm, wenn jetzt innerhalb einer Versorgung Angehörige anrufen und sie sind mit Palliativschwester Sowieso nicht einverstanden oder das und das ist gesagt worden und das und das ist gesagt worden. Das ist oft Kommunikation. Das ist schiefgegangen vom Ablauf her. Das ist so, dass wir da auch so traurig sind, ich sage mal, eine Form von traurig, dass das da plötzlich Probleme gibt. Weil im Vorfeld haben wir ein Team zusammengesetzt, die sind super gut zusammenpassend. Und dann, in der Versorgung hakt es mal da oder da und da, und das ist normal, ja? Aber die Angehörigen meinen oftmals, äh, dass das niemals schiefgehen darf. Man reicht den kleinen Finger und plötzlich reißen sie einem den ganzen Arm aus und meinen, neben ihnen darf nichts anderes mehr sein.“ (CM011; Julia Dörner)
In dieser Ouvertüre zu einer längeren Narration schildert Julia Dörner die Belastungen im Arbeitsalltag einer Koordinatorin. Die eigentliche Belastung ist die für Organisationen typische Simultaneität verschiedener Handlungs- und Kommunikationsstränge und die sich daraus ergebenden Koordinationsprobleme, die sich vor allem als erlebte Verknappung von Zeit niederschlagen. In der Palliativversorgung können unterschiedliche Personen denselben Patienten versorgen, was innerhalb der Organisation zu einer asymmetrischen Verteilung von Wissen und Information führt. Damit Patient:innen, auch wenn sie erst kurz vor ihrem Tod in die Palliativversorgung eingeschrieben werden, optimal versorgt werden können, müssen Informationen jedoch möglichst rasch gleich verteilt sein – es muss „in einem ganz kurzen Zeitraum […] ganz viel sofort und jetzt organisiert werden“. Dies bringt die Koordinatorin an ihre „persönliche Grenze“ in dem Sinne, dass sie sich selbst zur Ordnung rufen muss, sich „wirklich zusammenreißen und zurücknehmen“ muss, um aus der Simultaneität Sequenzialität zu erzeugen: „Es geht alles nur nacheinander“. Ein prozedurales Nacheinander ergibt sich nicht von selbst, sondern es muss entgegen der Erwartungshaltung anderer durchgesetzt werden. Wer diese „anderen“ sind, lässt sich dem Interviewausschnitt nicht zweifelsfrei entnehmen, denn es könnte sich um die Kooperationspartner:innen (Pflegedienste, Krankenhäuser, Hausärzt:innen etc.) oder um die Erwartungen der Angehörigen handeln.
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Ursächlich für die Erwartungsenttäuschung sind die auf Julia Dörner gleichzeitig einwirkenden Erwartungen der vielen anderen Patient:innen, die ebenso ihrer Aufmerksamkeit bedürfen. Innerhalb der Organisation ergibt sich ein Problem der Allokation knapper Ressourcen – hier: die Zeit der Mitarbeiter:innen. Diese wird in Organisationen typischerweise knapp, da Unterschiedliches gleichzeitig geschieht. Termine und Fristen sind die Mittel der Wahl, um Handlungskoordination einzurichten. Doch sie erzeugen gleichzeitig Zeitdruck. Julia Dörner bekommt „vier Patienten angemeldet“, es ist alles „sofort und dringend […] macht Stress“. Eine weitere Belastungsquelle, die aber in Zusammenhang mit der ersten – also den organisationalen Herausforderungen bei der Aufnahme neuer Patient:innen – steht, bezeichnet die Interviewpartnerin als „Unzufriedenheit“, nämlich die Unzufriedenheit der Familienangehörigen. Wenn diese mit einer bestimmten Palliativpflegefachkraft nicht zufrieden waren, dann teilen sie dies Dörner mit, die als Koordinatorin entscheidet, welche Pflegefachkräfte einer Patientin zugeteilt werden. Die Unzufriedenheit rührt weniger daher, dass die Versorgung in toto nicht funktionieren würde, sondern dass etwas „gesagt worden“ ist. Das Problem sei „oft Kommunikation“ oder dass bestimmte Abläufe nicht eingehalten wurden. Diese Unzufriedenheit der Angehörigen ‚infiziert‘ die ganze Organisation, sodass dann „wir da auch so traurig sind“. Vor dem Beginn der Versorgung habe man „ein Team zusammengesetzt“, welches „super gut zusammenpassend“ ist. Es wurde darüber entschieden, welcher Arzt und welche Pflegefachkraft gut zueinander passen, um die Patientin regelmäßig zu Hause zu besuchen. Doch trotz dieses Matchings von Patient und Personal im Voraus kommt es im Vollzug zu Schwierigkeiten: „in der Versorgung hakt es mal da oder da und da, und das ist normal, ja?“ Diese organisationale Normalität, die darin besteht, dass das Räderwerk unterschiedlicher, gleichzeitig nebeneinander agierender professioneller Akteur:innen nicht kontinuierlich ineinandergreift, ist den Angehörigen aus Sicht der Koordinatorin offenbar nicht vermittelbar. Hier bestünde die Erwartung, dass „niemals“ etwas „schiefgehen“ dürfe und „neben ihnen darf nichts anderes mehr sein.“ Was in Organisationen normal ist – dass z.B. immer etwas anderes ist –, ist für die Angehörigen ein Problem. Diese Differenz zwischen einer organisationsinternen Perspektive und einer Angehörigenperspektive vertieft Julia Dörner am Beispiel eines sich kürzlich zugetragenen Vorfalls: „Ich hatte es am Freitag – ein Angehöriger, der Ehemann rief mich ganz erbost an und sagt ‚In der Nacht war ein Notfall. Die Schwester habe ich angerufen. Und dann kommt die erst eine Stunde später. Ich bin so wütend, weil ich eine Stunde lang hier gewartet ha-
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be. Das kann nicht sein! Sie hat gesagt, sie fährt gleich los. ‘ Und war aufgebraust und wütend und – so. Und darum muss man sich natürlich kümmern. Und ich wollte es ihm am Telefon schon erklären, dann ‚Dieses alles ist so – kann das nicht mal unbürokratisch ablaufen? Immer muss ich irgendwas erklären‘, so, und war ganz, ganz wütend. Und das auf einem Freitag, wenn auf der anderen Seite noch zwei Patienten aufgenommen werden müssen. Und dann noch ein anderer Hausarzt noch einen anderen Patienten mit angemeldet hatte, den ich dann aber schieben konnte. So. Und das ist dann, ähm, so – also Fehlersuche. Ich bin hingefahren, bin eineinhalb Stunden da gewesen, in das Ganze so ein bisschen Ruhe reingebracht, die Sicherheit wieder vermittelt, warum auch die Palliativschwester, wusste ich, warum die eine Stunde gebraucht hat, sowieso, aber eine Stunde ist auch völlig in Ordnung, weil die stehen ja nicht neben dem Eingang so. Die musste nämlich vorher noch zu einem anderen Notfall. Also, aber man hätte es formulieren können. Und das war, also das hat die Palliativ-Care-Kraft einfach versäumt, weil sie in ihrem eigenen Stress war, oder auch übermüdet – ganz klar, so. Also, das ist auch etwas, was bei uns Stress auslöst. Ähm, ja, Druck auslöst.“ (CM011, Julia Dörner)
Stellvertretend für die Unzufriedenheit der Familienangehörigen steht in diesem Beispiel ein Ehemann, der sich über die aus seiner Sicht zu spät erfolgende Krisenintervention einer Palliativpflegefachkraft beschwerte. Der Ehemann reagierte emotional, da der von ihm so dringend erwartete Hausbesuch nachts nicht zeitnah erfolgte. Statt lernend auf diese Erwartungsenttäuschung zu reagieren, hält der Betroffene an seinen Erwartungen fest: „Das kann nicht sein!“, zitiert ihn Julia Dörner. Der Ehemann wirft der SAPV vor, zu bürokratisch zu agieren und in der Folge letztlich zu langsam zu sein. Aus der Sicht der Koordinatorin hat hingegen die Versorgung und damit auch die Organisation funktioniert. Wie ihre „Fehlersuche“ ergab, war es die Kommunikation, die nicht funktionierte. Für das verspätete Eintreffen bei einem Notfall hätte es vielfältige Erklärungen gegeben, die dem besorgten Ehemann nur hätten mitgeteilt werden müssen. Erstens sei eine Wartezeit von einer Stunde nichts Besonderes, sie sei sogar „völlig in Ordnung“. Zweitens war die zuständige Palliativpflegefachkraft zur selben Zeit bereits bei einem anderen Notfall, konnte also erst danach zum Hausbesuch kommen. Wieder mussten gleichzeitig ablaufende Ereignisse von der Organisation sequenziell prozessiert werden, da Personalressourcen gerade nachts nicht beliebig vorhanden sind. Die gleichzeitig entstehenden Bedürfnisse der Patient:innen und Familienangehörigen müssen in ein Nacheinander gebracht und priorisiert werden. Die Familie weiß von alldem nichts, weshalb ihr dies durch Kommunikation vermittelt werden muss: „man hätte es formulieren können.“ Reagieren die Angehörigen – wie in diesem Fall – mit Wut, so wird dies als Hinweis auf ein unzureichendes Erwartungsmanagement gesehen.
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Julia Dörner erweitert daran anschließend ihre Schilderungen noch um ein weiteres Beispiel. Diesmal geht es um den Termin zur Leichenschau nach dem Tod eines Patienten. „Wir haben Ablaufpläne, also wir haben Arbeitsanwei-, also Standards. Wenn diese Standards nicht eingehalten werden, weil, auch da, Palliativschwester informiert einen Palliativmediziner über einen Sterbefall, also, ne, der Palliativmediziner fährt hin zur Leichenschau. Dass das nicht sofort erfolgt, ist auch ganz klar. Aber das muss man dann auch untereinander, das muss man jetzt, das muss man den Angehörigen sagen, dass sie sich kümmern, dass irgendein Anruf kommt, das kann ja auch ein paar Stunden dauern usw. Alles in Ruhe und Sicherheit. Und wenn da halt, äh, zum Beispiel ein Versäumnis ist, darüber zu sprechen. Und der Palliativmediziner – morgens Patient verstorben, und am Nachmittag um 15.00 Uhr kommt der Palliativmediziner zur Leichenschau und wird empfangen mit Wut, einem wütenden Angehörigen oder so was, ne, weil halt da nicht gesprochen – ja. Sowas, das fällt dann auf uns wieder, kommt dann wieder zu uns. Und wir sagen dann ‚Bitte vorsichtig‘, und gucken, wie man es dann besser machen kann, also reflektieren so, ist dann auch angebracht.“ (CM011, Julia Dörner)
Die Organisation regelt nicht nur, wie und in welcher Reihenfolge Handlungen ablaufen sollen, sondern außerdem, wie, mit wem und wann kommuniziert werden soll, um für Außenstehende (die Familienangehörigen) ein bestimmtes Bild zu erzeugen. Am Beispiel der Leichenschau durch einen Palliativarzt verdeutlicht die Koordinatorin, was geschieht, wenn die Kommunikation nicht entsprechend den Vorgaben der Organisation abläuft. Der Palliativarzt kommt erst am Nachmittag zu einem Patienten, der bereits am Morgen verstorben war und wird von „einem wütenden Angehörigen“ empfangen. Dass die Leichenschau nicht bereits am Morgen stattfinden konnte, sei, so Dörner, „ganz klar“, denn „das kann ja auch ein paar Stunden dauern“. Auch sei das Problem ein Kommunikationsproblem: „das muss man den Angehörigen sagen.“ Und auch dieses Kommunikationsproblem wird wiederum mit Kommunikation bearbeitet: „Und wenn da […] zum Beispiel ein Versäumnis ist, darüber […] sprechen.“ Diese Kommunikationsversäumnisse gegenüber den Angehörigen werden durch einen besonderen Kommunikationsstil „Bitte vorsichtig“ oder durch Reflexion bearbeitet. Den wütenden Angehörigen wird auf diese Weise zwar recht gegeben und ihnen gegenüber eine lernende Haltung eingenommen. Gelernt wird aber weniger auf der Ebene der organisationsinternen Routinen und Abläufe, sondern auf der Ebene der Außenkommunikation, d. h. wie das, was intern geschieht, nach außen präsentiert wird. Die emotionalen Reaktionen der Angehörigen werden nicht als Hinweis darauf interpretiert, dass etwas in der Versorgung nicht funk-
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tioniert hätte, dass es ein medizinisches, pflegerisches oder gar psychologisches Problem gegeben hätte, sondern in erster Linie als fehlerhafte, in nicht ausreichendem Maße und nicht durch die richtigen Akteure erfolgte Kommunikation. Dies legt den Schluss nahe, dass mehr und anders gestaltete Kommunikation zu einem harmonischeren Verhältnis mit der Familie führen würde. Im Schlussakt dieser längeren Narration zoomt die Koordinatorin noch einmal weiter heraus und erläutert die Problematik anhand eines Gleichnisses. „Ja, das sind so die Dinge, die schwer sind, nicht unbedingt die Patientenversorgung oder die Schicksale, sondern alles drum herum, was passieren kann, was so Abläufe stört, und weil man dann etwas, was von Vornherein ganz klar formuliert wurde oder es steht als Standard da, ähm, das wird nicht eingehalten, dann fängt es an, wie ich werfe einen kleinen Stein ins Wasser und dann fängt das an, alles sich zu bewegen und in Kreisen und noch mehr und noch weiter, noch weiter. Kommt immer drauf an, ob es ein kleiner Stein oder ein großer Stein war. So ist es halt in der Versorgung auch. Ist es ein kleiner Patzer, kann man es manchmal mit zwei oder drei Telefongesprächen klären. Ist es ein großer Patzer oder eine große Schwierigkeit oder große Probleme, braucht man Tage und kann so ziemlich nervenaufreibend sein, weil das Team sich auch darüber unterhält. Dann ist das und jenes und welches und ‚Wer hat was gesagt?‘, und Fehlersuche und oah, das ist einfach störend und nervenaufreibend. Passiert, Gott sei Dank, nicht häufig, aber es passiert. Und dann weiß man wieder, wie wichtig Absprachen sind und Verlässlichkeit usw.“ (CM011, Julia Dörner)
Es wird zunächst ein Bezug zum Beginn der Erzählung über die Belastungen im Arbeitsalltag der Koordinatorin hergestellt. Wirklich belastend sind nicht das Sterben, der Tod und die „Schicksale“, sondern alles „was so Abläufe stört“. Anhand eines Gleichnisses verdeutlicht Dörner, was geschieht, wenn Standards und Abläufe auch nur geringfügig – „ein kleiner Patzer“ – missachtet werden. Bereits die kleinste Abweichung ist wie ein kleiner Stein, der ins Wasser geworfen wird „und dann fängt das an, alles sich zu bewegen“. Wellenartig breitet sich das Problem immer weiter aus. Nur Kommunikation kann die Wogen wieder glätten. Der „kleine Patzer“ lässt sich mit „zwei oder drei Telefongesprächen klären“, der „große Patzer“ wirkt hingegen mehrere Tage nach, kann „ziemlich nervenaufreibend“ sein. Dann beginnt eine „Fehlersuche“ und es stellt sich die Frage nach der Kommunikation: „Wer hat was gesagt?“ Wichtig seien daher die Kommunikation regulierende „Absprachen“ und „Verlässlichkeit“.
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3.3 Spontaneität und Dauerpräsenz – Familie als Aufklärungsfall Die hier dargestellten Interviewausschnitte sollen nicht nur für einen Einzelfall stehen, sondern sie lassen sich als Ausdruck einer professionellen Perspektive interpretieren. Dass für eine Koordinatorin das Sterben zuallererst ein Organisations- und Koordinationsproblem ist, dürfte kaum überraschen. Ebenso wenig überrascht, dass vor dem Hintergrund einer solchen professionellen Perspektive Sätze sagbar werden, wie z.B. dass nicht die Patientenversorgung oder die Schicksale eine Herausforderung beim Sterben sind, sondern die Einhaltung von Abläufen und Routinen. Es ist die Aufgabe des Koordinators, für das Ineinandergreifen verschiedener Akteur:innen Sorge zu tragen, das Sterben also zu organisieren und aus diesem Grund normal, dass es als große Belastung empfunden wird, wenn dieses Ineinandergreifen nicht funktioniert. Ganz im Gegenteil wäre es erstaunlich, wenn Organisationsprobleme keine Belastung und hier kein Thema wären. Kein Thema sind hier hingegen die Patient:innen, Symptome und Diagnosen, Schmerzmittel, Biografiearbeit und Lebensbilanzen. Dies heißt jedoch nicht, dass sich die SAPV nicht um all diese Dinge kümmern würde, sondern es ist ein Hinweis auf eine multiprofessionelle Organisation, also darauf, dass es andere Berufsgruppen gibt, die sich dieser Bedürfnisse annehmen, sodass sich die Koordinatorin ganz auf ihre Aufgabe als Organisationsprofi konzentrieren kann. Als solche ist sie es, die Organisationsprobleme wiederum mit den Mitteln der Organisation löst, also an Abläufen arbeitet, Standards entwickelt und Dienstanweisungen erstellt. Dies ist kein Mangel, sondern ein Ausdruck von Professionalisierung, Spezialisierung und Ausdifferenzierung – also ganz normaler Effekte, die entstehen, wenn Sterbebegleitung und Palliativversorgung in organisierte Formen überführt werden. Erwartbar ist ebenso die Hoffnung, die in die Produktivkraft von Kommunikation gesetzt wird. Jedes auftretende Problem wird als Kommunikationsproblem aufgefasst, in dem Sinne, dass entweder falsch oder zu wenig kommuniziert wurde.12 Es erscheint dann sehr plausibel, diese Defizite in der Kommunikation wiederum durch Kommunikation beheben zu wollen, indem z.B. anders („Bitte vorsichtig“, „man hätte es formulieren können“) oder mehr kommuniziert wird.
12 Dass Kommunikation aus Sicht von Professionellen in der Palliativversorgung als Hauptfehlerquelle gilt, ist in der Forschung bereits dokumentiert (vgl. Dietz et al. 2014).
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Vor dem Hintergrund der Eigenlogik von Familien ist es erwartbar, dass diese das Informelle, Unbürokratische und Spontane schätzt („kann das nicht mal unbürokratisch ablaufen?“), dass sie ein persönliches Vertrauensverhältnis mit dem sie begleitenden Personal eingehen möchte und dass sie auf Erwartungsenttäuschungen emotional reagiert. Die Familie erwartet eine Organisation, die funktioniert und die mit ihrem Personal auch in der Häuslichkeit stets – auch nachts – präsent ist, sobald eine Notsituation eintritt. Die „unzufriedenen“ Familien sind aus Sicht der Koordinatorin vor allem deshalb unzufrieden, weil sie die Organisation nicht verstehen. Die Familien sind also insofern hilfsbedürftig, als dass ihnen immer wieder erklärt werden muss, wie die Organisation funktioniert. Die Kommunikation zwischen Organisation und Familie nimmt demnach eine asymmetrische Form des Helfens an (vgl. Luhmann 1975a). 13 Vor dem differenzierungstheoretischen Hintergrund, der in Kapitel 2 vorgestellt wurde, lässt sich die alltagsnahe Intuition, dass sich Meinungsverschiedenheiten mit Familienangehörigen durch mehr und bessere Kommunikation lösen lassen, grundsätzlich infrage stellen. Es ist erwartbar, dass Kommunikation als Medium der Verständigung aufgefasst wird, welches das Verhältnis von Organisation und Familie harmonisieren könnte. Doch kann auch Kommunikation nichts an den strukturellen und operativen Differenzen sowie an der unhintergehbaren Zurückgeworfenheit jeder Praxis auf sich selbst ändern. Dass Familien sich nicht für die Abläufe und Arbeitsanweisungen der Organisation interessieren, ist ebenso erwartbar, wie dass die Familie erwartet, dass im Notfall unmittelbar eine Pflegefachkraft zur Stelle ist. Auch wenn die Familien es mögen würden, dass auch einmal etwas „unbürokratisch“ und spontan ablaufen würde, so müsste auch dieser Wunsch innerhalb der Organisation mit bürokratischen Mitteln bearbeitet werden. Die Familie wünscht sich von der Organisation etwas, was aus der Perspektive der Familie zwar nachvollziehbar ist, was organisatorisch allein aus strukturellen Gründen nicht umsetzbar ist. Es mag ebenso verständlich sein, dass die Familie sich die unmittelbare Anwesenheit von Personal wünscht, doch auch diesen Wunsch kann die Organisation als Organisation aufgrund von Zeit- und Personalstrukturen nicht erfüllen. Es ist insofern nicht überraschend, dass hier große Hoffnung in bessere Kommunikation gesetzt wird, denn dies ist letztlich das einzige verbleibende Mittel, um sich über diese strukturellen Differenzen hinwegzutrösten – doch selbst die Kommunikation wird wiederum in Abläufe und Routinen gegossen.
13 Dies wäre ein gutes Beispiel für die Luhmann’sche These, dass Organisationen mit Privaten kommunizieren, als wären diese „Pflegefälle“ (vgl. Luhmann 1997: 834).
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Die Familie ist eben keine Organisation und bearbeitet das Sterben auf ihre spezifische Art. Sie kann keine Abläufe und Standards ändern, sodass ihr nur der Affekt in Form auf Personen gerichteter Wut und Invektiven bleibt. Genauso wenig ist die Organisation selbst eine Familie, sondern sie bleibt, auch wenn sie es tagtäglich mit Familien zu tun bekommt, eine Organisation, die auf die „unzufriedenen“ Familien ausschließlich mit ihren eigenen Mitteln reagieren kann. Um auf die Ausgangsthese zurückzukommen: Was sich hier recht deutlich zeigt, ist, dass nicht die Familie die Herausforderung für die Organisation darstellt, sondern dass beim Kontakt mit Familien die Organisation von sich selbst herausgefordert wird, in dem sie auf die Immanenz ihrer eigenen Praxis stößt. All die hier thematisierten Schwierigkeiten mit Abläufen, Standards und Routinen kann es nur geben, weil die Organisation nicht anders kann, als auf alles mit Abläufen, Standards und Routinen zu reagieren. Gäbe es keine festgelegten Abläufe, so könnte auch nicht gegen sie verstoßen werden. Ohne routinierte Abläufe kann die Organisation jedoch nicht operieren, sodass ihr nichts anderes übrigbleibt, als mit dem Blick auf die eigenen Routinen zu reagieren und selbst diesen Blick wiederum zu routinisieren. Was sich hieran letztlich studieren lässt, ist die unvermeidliche Zurückgeworfenheit der Praxis des Organisierens auf sich selbst, die sich immer wieder in ihrer selbsterzeugten operativen Gegenwart vorfindet, aus der es kein Entkommen gibt (vgl. Nassehi 2006: 395).
4.
FAZIT – UNVERMEIDBARKEIT VON ORGANISATION
All dies soll ausdrücklich nicht als Kritik an den Versorgungsakteur:innen verstanden werden. Ganz im Gegenteil soll darauf aufmerksam gemacht werden, in welch schwierigen Gemengelagen und eigensinnigen „sozialen Ordnungen“ das Sterben zu Hause stattfindet. Was an diesem Beitrag gezeigt werden konnte, ist das, woran die Soziologie des Sterbens häufig vorbeisieht und was auch die Professionellen selbst mit der Rede von „Teamgeist“ und „flachen Hierarchien“ nur zu gerne ausblenden möchten, nämlich dass das Sterben in der Moderne zunehmend in einem organisierten Rahmen stattfindet (vgl. Saake 2020). Sobald die Soziologie des Sterbens auf Organisationen stößt, sieht sie darin das Problem der Institutionalisierung, das typischerweise der Individualisierung gegenübergestellt wird (vgl. Thönnes 2020). Organisation wird damit zum Symptom einer Fehlentwicklung von Hospizbewegung und Palliativmedizin, zur Aporie der flächendeckenden Umsetzung eines „guten Sterbens“ (vgl. James/Field 1992). Aus solch einer Perspektive ließe sich der hier dargestellte Interviewausschnitt gar nicht anders lesen als ein Zeugnis einer auf die Spitze getriebenen und selbstge-
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nügsam gewordenen Institutionalisierung, die die individuellen Bedürfnisse der Patient:innen und Angehörigen aus dem Blick verloren hat. Was dieser Beitrag jedoch zeigen konnte ist, dass das Sterben, auch wenn es zu Hause stattfindet, erstens aus der professionellen Perspektive einer Koordinatorin durchweg eine Frage der Organisation ist und dies zweitens nicht als Zeichen einer fehlerhaften Entwicklung gelesen werden muss, sondern dass dies etwas ganz Normales und Unvermeidliches ist, denn was hier zu beobachten war, war das ganz normale und letztlich unvermeidbare Funktionieren von Organisationen. Drittens wird sichtbar, dass Organisationen die Ausdifferenzierung von Expert:innenrollen und Organisationsprofis ermöglichen, die das Sterben zu Hause – um es mit aller nötigen Vorsicht zu formulieren – sehr wahrscheinlich, und wenn auch nur ein bisschen besser machen. Da die Patient:innen und Familienangehörigen in diesem Beitrag noch blass blieben, müsste an dieser Stelle weitere Forschung ansetzen, die deren Perspektiven systematisch rekonstruiert und zu den professionellen Perspektiven in Bezug setzt. So würde sich zeigen lassen, dass aus dieser Perspektive dieselben Problemlagen womöglich vollkommen anders beschreibbar werden. Daraus müsste sich die Frage ergeben, ob für die Charakterisierung der Beziehung zwischen Professionellen und Klient:innen bzw. zwischen Organisation, Patient:innen und Familienangehörigen Semantiken wie symmetrisch, partnerschaftlich, menschlich oder „auf Augenhöhe“ überhaupt instruktiv sind, oder ob es, um sich über die eigene Praxis aufklären zu können, nicht eines erneuerten begrifflichen Fundaments bedarf.
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Gesundheit und Lebenssinn Sterbeideale in der Palliativversorgung aus der Perspektive einer wissenssoziologischen Thanatologie Felix Tirschmann
1.
STERBEIDEALE OHNE STERBEN? WISSENSSOZIOLOGISCHE ASPEKTE VON PALLIATIVE CARE 1
Die wissenssoziologische Perspektive auf Sterbeideale in der Palliativversorgung verknüpft die methodisch kontrollierte Interpretation von professionalisierten Deutungsangeboten für den Umgang mit Sterben und Tod mit der Frage nach der gesellschaftlichen Konstruktion von sozialer Ordnung und ihrer historischen Wandlungsfähigkeit. Aus dieser Perspektive können Sterbeideale als historisch konkrete Materialen für die professionelle Bewältigung von lebensweltlichen Krisen verstanden werden. In ihrer handlungsstabilisierenden Funktion tragen Sterbeideale zur Stärkung von gesellschaftlichem Zusammenhalt bei. Sie bieten individuelle Orientierung und ermöglichen zugleich soziales Handeln in Lebenssituationen. Als spezifische Wissenselemente des „gesellschaftlichen Wissensvorrats“ sind Sterbeideale ein Teil der „gesellschaftlich etablierten Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 2001: 3 ff.). Sterbeideale repräsentieren ein orientierungsstiftendes und handlungssteuerndes Sonderwissen, welches „Fertigkeiten, Gebrauchswissen, Rezeptwissen
1
Palliative Care ist ein ganzheitliches Betreuungskonzept, welches auf die Verbesserung von Lebensqualität bei lebensbedrohlichen Erkrankungen abzielt (vgl. World Health Organization 2014). Palliativversorgung ist die deutsche Übersetzung des englischen Begriffs. Im Text werden die Begriffe synonym verwendet.
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und explizite Wissenselemente“ (Schütz/Luckmann 2003: 418) umfasst. Typischerweise bezieht sich das mit palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Sterbeidealen verbundene Sonderwissen auf das professionelle Handeln in der Palliativversorgung oder in Hospizen. Dieses [gemeint ist das professionelle Handeln; FT] wiederum fasst die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), zu deren Aufgaben die Entwicklung von gesundheitsbezogenen Standards gehört, konzeptionell zusammen als Palliative Care. In der Resolution „Strengthening of palliative care as a component of comprehensive care through the life course“ wird der grundlegende Ansatz der Palliative Care folgendermaßen definiert: „[P]alliative care is an approach that improves the quality of life of patients (adults and children) and their families who are facing the problems associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and correct assessment and treatment of pain and other problems, whether physical, psychosocial or spiritual.“ (World Health Organization 2014)
Die Weltgesundheitsorganisation benennt das Behandlungsziel in der Palliativversorgung als die Erhöhung von Lebensqualität bei lebensbedrohlich erkrankten Patientinnen und Patienten sowie ihren Familien. Mit dem Bezug auf das Konzept von Lebensqualität als „individual’s perceptions of their position in life in the context of the culture and value system in which they live and in relation to their goals, expectations, standards and concerns“ (World Health Organization 1998) erhält der subjektiv erlebte Gesundheitszustand der lebensbedrohlich erkrankten Person sowie seine soziale Bedingtheit eine hervorgehobene Beachtung. Professionelle Behandlungsmethoden, wie Früherkennung und umfassende Schmerzbehandlung, sollen die Lebensqualität in der Palliativsituation fördern. Neben den physischen Schmerzen sollen auch psychologische und spirituelle Aspekte bei der Palliative Care beachtet werden. Aufgrund eines erweiterten Aktionsradius sowohl bei den Adressaten „patients (adults and children) and their families“ als auch bei den Untersuchungs- und Behandlungsobjekten „pain and other problems, whether physical, psychosocial or spiritual“ erhält Palliative Care den Charakter einer ganzheitlichen Gesundheitsleistung, welche den Betroffenen, wie den mitbetroffenen Angehörigen, bei der Gesundheitsversorgung regelhaft zugutekommen soll (vgl. World Health Organization 2014). Anders als im klassischen medizinischen Sinne sollen palliativmedizinische zusammen mit palliativpflegerischen Maßnahmen nicht ausschließlich symptomorientiert an Patientinnen- und Patientenkörpern durchgeführt werden, sondern dialogorientiert mit Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen als
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Personen. Empfohlen wird Palliative Care als: „an effective person-centred health service that values patients’ need to receive adequate, personally and culturally sensitive information on their health status, and their central role in making decisions about the treatment received“ (ebd.). Palliative Care ist ein personenzentrierter Ansatz im Gesundheitswesen, bei welchem Diversitätsaspekte für die professionelle Vermittlung von gesundheitsbezogenen Informationen im Sinne des Respekts vor der Autonomie der Person berücksichtigt werden sollen. Die Resolution der Weltgesundheitsorganisation formuliert Empfehlungen für Expertinnen und Experten im Gesundheitswesen darüber, wie sich die Lebensqualität bei lebensbedrohlichen Erkrankungen erhöhen lässt. Zugleich enthält sie Anweisungen, wie in gesundheitsbezogenen Angelegenheiten professionell kommuniziert werden soll. Bezeichnenderweise fehlen in der Resolution ethisch sensible Formulierungen wie „death“, „dead“ oder „dying“. Auch die im Englischen mildere Formulierung „end of life“ wird an keiner Stelle des Dokuments erwähnt. Aus wissenssoziologischer Perspektive kann diese sprachliche Auffälligkeit damit erklärt werden, dass mit der bewussten Aussparung der Sterbens- und Todessemantiken eine handlungspraktische und legitimatorische Funktion erfüllt werden soll. Die bewusste Wortwahl bei der Definition palliativmedizinischer und palliativpflegerischer Standards kann auch als eine Sprachregelung für die gesundheitsbezogene Kommunikation in der Palliativversorgung verstanden werden, mit der erreicht werden soll, dass die Palliativversorgung als Bestandteil einer ganzheitlichen Versorgung wahrgenommen wird, welche in den Lebensverlauf von Patientinnen und Patienten integriert ist. Als Sterbeideal avant la lettre fungiert bei der Palliative Care somit gewissermaßen eine Art dem Leben zugewandte Inversion des Lebensendes, bei welcher Kontinuität im Lebensverlauf zu einem Zeitpunkt suggeriert wird, wo Diskontinuität das Leben auf absehbare Zeit zu beenden droht. Dieses, zugespitzt formuliert, Ideal eines Sterbens ohne Sterben eröffnet auf der semantischen Ebene von professionalisierter Kommunikation spezielle Handlungsoptionen für Expertinnen und Experten im Gesundheitswesen, indem das Ende des Lebens, welches mit der Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung auf existenzielle Weise bewusst wird, als Phase im Leben gedeutet wird. Das Sterbeideal in der Palliativversorgung zeigt sich schließlich als eine Idealisierung des Lebens unter den Vorzeichen seiner temporalen Begrenzung. Beim Palliative Care wird das Sterbeideal zum Lebensideal am Lebensende, welches die Aspekte Lebensqualität, Gemeinschaftlichkeit und Lebenssinn zu einem ganzheitlichen Ansatz verbindet.
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Die Idealisierung des Sterbens bei der Palliative Care als eine unter Einbezug des sozialen Umfeldes behandlungsfähige und optimierbare Phase im Leben von Schwersterkrankten verfolgt eine gesundheitspolitische Intention. Im Gesundheitswesen wie in der Öffentlichkeit soll Palliativmedizin nicht als Sterbemedizin wahrgenommen werden: „Moderne Palliativmedizin ist definitiv mehr als nur „Sterbemedizin“ (…) Palliativmedizin ist (…) die umfassende Betreuung schwerkranker Menschen mit begrenzter Lebenserwartung“ (Ärztezeitung 2010). Die Diagnose einer schweren, unheilbaren Krankheit ist jedoch die Voraussetzung für den Einschluss von Patientinnen und Patienten in die Palliativversorgung. In der Palliativmedizin und bei der Palliative Care werden Sterbeideale von Expertinnen und Expertinnen deshalb in multiprofessionellen Arbeitsfeldern für die Herstellung und Legitimation von Handlungsfähigkeit im Umgang mit Sterbenden genutzt (vgl. Bauer/Saake/Breitsameter 2022). Im Topos vom „guten Sterben“ finden Sterbeideale seit jeher ihre gemeinschaftlich und gesellschaftlich legitime Ausdruckgestalt. In der Palliativsituation wird „gutes Sterben“ als „ganzheitliches Sterben“ (ebd.) zum Leitbild für die Behandlung und Begleitung von schwer erkrankten Menschen in Organisationen, SAPV-Strukturen und Hospizen. Wie eine empirische Studie zeigt, kann es insbesondere in Pflegeheimen zwischen den dort Handelnden zu Differenzen hinsichtlich der konkreten Gestaltung eines als ideal zu erachtenden Sterbensprozesses kommen (vgl. Saake/Nassehi/Mayr 2019). Das Sterbeideal eines ganzheitlichen Sterbens kann im Pflegealltag aus verschiedenen Perspektiven betrachtet also mit unterschiedlichen Sterbeverlaufsformen realisiert werden. Sterbeideale in der Palliativmedizin und beim Palliative Care können sowohl „philosophische, kulturelle, soziale, religiöse, spirituelle, psychologische, medizinische, pflegerische und ethische Determinanten“ als auch „situations-, geschlechts-, schichts- und altersspezifische Unterschiede“ umfassen (SteffenBürgi 2009: 373). Angesichts dieser Vielheit an Bezugsrelationen und Einflussfaktoren entsteht in der Palliativsituation eine Vielschichtigkeit bei den Sterbeidealen, welche zu einer Kultur im Umgang mit lebensbedrohlichen und inkurablen Erkrankungen führt, deren gemeinsame Haltung als Sterbeideal ex negativo dort am deutlichsten zutage tritt, wo sich der ganzheitliche Ansatz von der „Praxis der Sterbehilfe“ und der „Lebensverlängerung um jeden Preis“ (ebd.: 376) abgrenzen soll. Zum qualitativen Aspekt des palliativmedizinischen Sterbeideals (schmerzfrei, sinnhaft, sozial integriert) tritt schließlich noch ein quantitativer Aspekt hinzu, bei dem sowohl ein als zu kurz erachtetes, willentlich herbeigeführtes Sterben durch aktive Sterbehilfe als ein zu lang andauerndes, unwillentlich durch passives Siechtum in Kauf genommenes Sterben, vom Sterbeideal eines „guten Sterbens“ ausgeschlossen werden.
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2.
STERBEIDEALE AUS DER PERSPEKTIVE EINER WISSENSSOZIOLOGISCHEN THANATOLOGIE
Palliativmedizinische und palliativpflegerische Sterbeideale können als Anzeichen einer fortlaufenden „Institutionalisierung des Sterbens“ (Knoblauch/Zingerle 2005) interpretiert werden. Als Elemente des Sonderwissens tragen sie zu einer Erweiterung des gesellschaftlichen Wissens über den Umgang mit Sterben und Tod bei und eröffnen eine Vielzahl an Handlungsoptionen am Lebensende. Neben dem konkreten Problemlösungspotenzial enthalten Sterbeideale zudem aufschlussreiche Informationen darüber, in welche Richtungen sich eine Gesellschaft entwickelt und welche Konsequenzen mit dieser Entwicklung verbunden sind. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Zusammenhänge zwischen dem Wandel und der Verstetigung kollektiver Sterbeideale sowie den Auswirkungen dieser Phänomene auf die individuellen Handlungs-, Deutungs- und Wahrnehmungsweisen gehört zum zentralen Aufgabengebiet einer wissenssoziologischen Thanatologie (vgl. Tirschmann 2019). Die wissenssoziologische Thanatologie wird von einem doppelten Erkenntnisinteresse geleitet: Sie will erklären, welche Handlungsprobleme im Umfeld von Sterben und Tod entstehen, die empirisch gelöst werden müssen, und sie will verstehen, wieso diese Handlungsprobleme exakt auf jene (und keine andere) Weise gelöst worden sind. Entsprechend des wissenssoziologischen Ansatzes verbindet die wissenssoziologische Thanatologie rekonstruktive und dekonstruktive Aspekte des soziologischen Erklärens und Verstehens zu einem empirisch orientierten Erkenntnisstil, der über den Konstruktionscharakter von Gesellschaft, wie über den Charakter ihrer Konstrukteurinnen und Konstrukteure, aufklären möchte, um Deutungs- und Handlungspotenziale am Lebensende aufzuzeigen. Übertragen auf die Analyse von Sterbeidealen in der Palliativversorgung bedeutet diese doppelte Aufgabenstellung, dass, neben einer Untersuchung der semantischen und funktionalen Eigenschaften von Sterbeidealen in den palliativmedizinischen und -pflegerischen Sonderwissensgebieten, auch ihre gesellschaftliche Funktion für die Aufrechterhaltung von sozialer Ordnung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht aus dem Blick geraten sollte. Dieser Aufgabenstellung folgend, schließt die wissenssoziologische Analyse von Sterbeidealen am Aspekt der Wissensbeziehung an, um zu beantworten, welches soziale Problem mit Sterbeidealen auf welche Weise gelöst wird und welche Auswirkungen auf das individuelle Handeln wie auf die Kohärenz gesellschaftlicher Ordnungszusammenhänge mit den spezifischen Lösungsansätzen verbunden sind.
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Erste Hinweise für eine strukturorientierte Beantwortung dieser Frage finden sich in kulturvergleichenden Studien über Trauerrituale (vgl. Assmann/Maciejewski/Michaels 2005). Aus diesen Studien ist bekannt, dass Sterbeideale ihre handlungsleitende Funktion ursprünglicherweise innerhalb von rituellen Handlungen entfaltet haben. Im Unterschied zu den Sterbeidealen fortgeschrittener Gesellschaften verweisen die Sterbeideale tribalistischer Gesellschaften jedoch nicht durchgehend auf das Lebensende einer sterbenden Person, sondern können Vorstellungen über einen Sterbensprozess beinhalten, welcher über das biologische Ende der Person hinausragt: „Tatsächlich sind die Toten erst tot, wenn die Hinterbliebenen sie ‚sterben‘ lassen“ (ebd.: 11). Der synchrone und diachrone Kulturvergleich zeigt das Sterben-Lassen als kulturanthropologische Universalie, die entweder passiv über das Vergessen-Werden oder aktiv mit dem Einsatz ritueller Handlungen kulturübergreifend konkretisiert werden kann (vgl. ebd.). Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat der Ethnologe Arnold van Gennep in komparativen Studien nachgewiesen, dass bei den Sterbeidealen der „halbzivilisierten Völker“ (van Gennep 2005: 14) der Verwesungsprozess des Leichnams gewissermaßen in den Sterbeprozess der Person integriert wird. Die kultische Überformung der Autolyse zeigt sich in ausgefeilten Manipulationstechniken am Leichnam, wie beispielsweise dem Kochen (zur Skelettierung), der Mumifizierung (zur Konservierung) oder dem Verbrennen (zur Vernichtung). In allen Fällen zielt der Gebrauch der Kulturtechniken darauf ab, dass die Trennung des Körperlichen vom Geistigen entweder beschleunigt oder verlangsamt wird (vgl. van Gennep 2005: 142 ff.). Van Gennep weist darauf hin, dass die Befolgung der in einem Sterbeideal zusammengefassten rituellen Handlungsvorgaben stets auf den Abschluss des Sterbeprozesses durch ordnungsgemäße Angliederung der oder des Toten an eine im weitesten Sinne jenseitige Welt abzielt (vgl. ebd.: 158). Deutlich wird hieran nicht zuletzt, dass das genuin soziale Problem, welches mit der kollektiven Orientierung am Sterbeideal gelöst werden soll, bei aller Verschiedenheit hinsichtlich der rituellen Handlungen und ihrer vielfältigen Bedeutungen immer auch darin besteht, die durch den Verlust einer Person verursachte Gefährdung der sozialen Ordnung durch das Inkrafttreten einer Ersatzordnung symbolisch zu formen (vgl. Soeffner 2010). Wissenssoziologisch gesprochen sind Sterbeideale bei den tribalistischen Gesellschaften (und möglicherweise gilt das auch in Abstufungen für Gesellschaften modernen Typs) somit sowohl Orientierungssysteme für die Gestaltung von Übergängen zwischen den Sphären der Lebenden und der Toten als auch symbolische Überbrückungshilfen für temporäre Unterbrechungen von sozialer Ordnung, mit welchen der soziale Zusammenhalt über die von einem Todesfall ausgelöste Erschütterung der Sozialstruktur für eine bestimmte Zeit gewährleistet werden soll.
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Für die Deutung von Sterbeidealen in Palliativmedizin und Palliative Care bleiben von den Studienergebnissen Arnold van Genneps die wertvollen Hinweise darauf, dass Sterbeideale in der Struktur von rituellen Handlungen als sogenannte Übergangsritualen, orig. „rite des passages“, handlungspraktisch wirksam werden können und dass diese Strukturierung des Sterbeprozesses mithilfe ritueller Handlungen, die in der Regel als Gemeinschaft ausgeführt werden, eine Funktion für die Stabilisierung sozialer Ordnung übernehmen kann. Fast schon kurios wirken indes die ausführlich beschriebenen Handlungspraktiken, welche sich auf den Umgang mit dem toten Körper beziehen. Die meisten der Techniken am und mit dem toten Körper erscheinen aus heutiger Perspektive betrachtet sehr fremd. In dieser Fremdheitserfahrung kommt jedoch eine gesellschaftliche Tendenz im Umgang mit Sterben und Tod zum Vorschein, welche insbesondere für die Sterbeideale der vom Christentum beeinflussten Gesellschaften typisch geworden ist und das ist die Abwendung vom Toten und die Hinwendung zum Sterbenden.
3.
STERBEIDEALE GESTERN UND HEUTE: VON DER ARS MORIENDI ZUR ARS MORIENDI NOVA
Auf der Grundlage der christlich geprägten Ars-moriendi-Literatur des 15. und 16. Jahrhundert kann der Bedeutsamkeitsgewinn des Sterbens historisch rekonstruiert werden. Spätestens seit dieser Zeit findet bei den Sterbeidealen eine Aufmerksamkeitsverschiebung vom toten Körper zum sterbenden Menschen und dessen Seelenheil statt. Angetrieben wird dieser Wandlungsprozess von der religiösen Vorstellung, dass der Mensch nur durch ein gottgefälliges Leben in das Jenseits einziehen kann, seine Jenseitsoptionen und Eintrittschancen also nicht post mortem durch die Ausübung von rituellen Handlungen verbessert werden können. Hinzu kommt, dass das eigentliche Sterben in der christlichen Tradition mit dem biologischen Ende der Person zusammengedacht wird, weil der Übergang zwischen Leben und Tod als unmittelbar vorgestellt wird. Diese Annahme einer Vollendung des Sterbens im Augenblick des Todes führte schließlich dazu, dass die Sterbestunde an Bedeutsamkeit gewinnt (vgl. Rudolf 1979). Im 15. Jahrhundert übernehmen Sterbeideale eine pädagogische Funktion und verbinden die „Kunst des heilsamen Lebens“ mit der „Kunst des heilsamen Sterbens“ (Bernhard von Waging). In der protestantischen Ars-moriendi-Literatur des 16. Jahrhunderts wird die Sterbestunde dann zum Ort der Rechtfertigung des Individuums vor Gott. Im Jahr 1522 formuliert Martin Luther in der ersten seiner Invokavitpredigten: „Wir sind alle zum Tode gefordert und wird
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keiner für den anderen sterben; sondern ein jeglicher in eigner Person muss geharnischt und gerüstet sein für sich selbst, mit dem Teufel und Tod zu kämpfen.“ Luther erinnert in seiner Predigt daran, dass am Ende des Lebens der Mensch die Verantwortung für die Früchte seines Glaubens selbst zu tragen habe. Das lutherische Sterbeideal, welches hier formuliert wird, entfaltet eine individualisierende Kraft, weil es die Einzelnen individuell „in eigner Person“ ins Gewissen nimmt. Der Prozess des Sterbens wird zur Bewährungsprobe stilisiert, die jeder Mensch vor Gott zu bestehen habe (alle Zitate in: Rudolf 1979). Theologisch stiegen damit die Chancen, durch gottgefälliges Handeln die eigenen Jenseitschancen zu optimieren und das christliche Verlangen nach dem Tode als Befreiung von der Sündhaftigkeit des Daseins zu steigern. Psychologisch wuchs gleichzeitig aber auch der Druck, das innere Leben bis ins kleinste Detail zu durchleuchten, um es so auf seine Tauglichkeit als Jenseitshypothek zu überprüfen. Wissenssoziologisch kann diese Hinwendung zur Person als Subjekt des Glaubens, welche mit dem Reformationsprozess einsetzt, als Initialzündung eines Individualisierungsschubes verstanden werden, welcher zu einer Steigerung von Selbstreflexivität und Autonomiebewusstsein führte und bis in die heutige Zeit nachhallt: als Übergang von der „Kollektivität des Glaubens und der Lebensführung hin zur Vereinzelung in Glaubens- und Lebensführung“ (Soeffner 1992: 22). Bezogen auf eine wissenssoziologische Analyse von Sterbeidealen in der Palliativmedizin und beim Palliativ Care ist der Blick zurück auf zentrale Leitmotive der Ars-moriendi-Literatur, wie die Versöhnung von Leben und Tod im Sterben als pädagogischer Auftrag oder die Bilanzierung des Lebens in der Erwartung des Todes als moralische Selbstrechtfertigung, insofern relevant, als dort das für den heutigen Sozialcharakter so entscheidende Motiv der Individualisierung im Sterbeideal des Sterben-Lernens historisch reifen konnte. Wir wissen heute, dass über die Erfindung des Buchdrucks und unter dem Eindruck der Todeswellen von Pest und Dreißigjährigem Krieg die Ars-moriendi-Literatur eine breite gesellschaftliche Beachtung erfuhr, wodurch sich auch die Vorstellung einer individuellen und authentischen Lebensführung als fortwährende Arbeit am Selbst gesellschaftlich etablierte. In den Diskussionen um eine Ars moriendi nova kommt dieser Gedanke von einer Selbstoptimierung zum Tode in säkularisierter Form als „Sterbeoptimierung“ (Streeck 2016: 157) und „zeitlebens währende Auseinandersetzung mit dem Sterben“ (ebd.: 158) zurück. Herausgelöst aus der christlichen Kosmologie der Ars moriendi findet das Suchen und Finden nach einem dem Menschen angemessenen Sterben in der Gegenwart aber nicht mehr in einem Lebenskonzept „gerahmt von Tod, Gericht, Himmel und Hölle“ statt, sondern es wird konkret in der „Vielfalt der Selbstverständnisse
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Sterbender in einer weltanschaulich und kulturell heterogenen, liberalen Gesellschaft“ (Wils 2014: 135) und damit tendenziell zu einer Frage des Lebensstils. Aus dem Blickwinkel der wissenssoziologischen Thanatologie kann ein Zusammenhang zwischen Sterbeidealen und sozialer Ordnung am Wandel der Selbstdeutungs- und Selbsterkenntnismuster konstatiert werden, welche den historisch konkreten Erscheinungsweisen von Sterbeidealen ihre jeweils typischen Konturen verleihen. Mit der steigenden Verbreitung der Ars-moriendi-Literatur nahm auch das Bewusstsein über den Einfluss der Lebensführung und die Gunst der Sterbestunde auf die Vermeidung höllischer Bestrafungen an Bedeutung zu. Die Menschen gingen von einem Zusammenhang zwischen Sterben und Tod aus, der sich in einer Verbindung von Sterbeideal und Lebensideal manifestierte und zu einer Verklammerung von Praktiken des Sterbens und Semantiken des Todes als normatives Regulativ individueller Lebensführung führte. Im 18. Jahrhundert und dem intellektuellen Umfeld der Aufklärung entstanden Deutungsalternativen diesseits dieses Regulativs und eröffneten einen gesellschaftlichen Zugang auf ein Sterbeideal ohne Jenseitskonsequenz. Der Historiker Philippe Ariès beschreibt in seiner Geschichte des Todes das 18. Jahrhundert als eine Epoche, welche von der Vorstellung getrieben war, Höllenvorstellungen und die Erbsünde ließen sich abschaffen, das Sterben vom Leid des Todes entbinden und „[d]er allgemeine Fortschritt der Wissenschaft, der Moral und der gesellschaftlichen Organisation würden bruchlos zum allgemeinen Glück führen“ (Ariès 2002: 788). In der Gesellschaft der Gegenwart sieht Ariès diese Utopie nahezu verwirklicht. Der Tod erscheine heute nicht mehr als spirituelles und moralisches „malum“, die Medizin wäre auf bestem Wege „das physische Leid abzuschaffen“, doch das erhoffte „allgemeine Glück“, welches die Aufklärer noch erwarteten, blieb aus, weil mit der Jenseitsfurcht nicht auch die Todesangst aus der Welt verschwunden war (ebd.). Seit den 1960er Jahren wirken die Sterbeideale der Psychologie (Kübler-Ross 1969) in die von Ariès beschriebene Gesellschaftssituation hinein und versuchen die semantische Leere, welche aus dem Auseinanderklaffen zwischen Sterbepraktiken und Todessemantiken hervorging, mit Akzeptanzmodellen auszufüllen. Nachdem die religiös konnotierten Jenseitsvorstellung als Regulative für die Gestaltung der individuellen Lebensführung ihren Sanktionscharakter eingebüßt hatten, weil ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit nachließ und sie deshalb zu Deutungsoptionen geworden sind (siehe Kap. 4), versuchen, parallel zur Psychologisierung des Todes, auch die medizinischen Erklärungsansätze die gesellschaftlich verbindlichen Vorstellungen der Natürlichkeit von Sterben und Tod zu beeinflussen. Die kurativen Maßnahmen der Biomedizin sparen den Tod als Kontrapunkt des Lebens jedoch aus, weil der Exitus mit dem ärztlichen Auf-
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trag des Heilens strukturlogisch nicht widerspruchsfrei in Übereinstimmung gebracht werden kann. Ob es schließlich der Palliativmedizin gelingen kann, die Paradoxie eines Heilens ohne Heilung auszugleichen und den Endpunkt des Lebens professionell einzuhegen, entscheidet sich mitunter daran, ob es gelingen wird, auf den von Ariès diagnostizierten gesellschaftlichen Wandel mit einem akzeptanzfähigen Sterbeideal zu reagieren.
4.
ALTERUNG – PLURALISIERUNG – PROFESSIONALISIERUNG. STERBEIDEALE VOR DEM HINTERGRUND VON GESELLSCHAFTLICHEM WANDEL
Das Potenzial von palliativmedizinischen Sterbeidealen für die individuelle Krisenbewältigung wie für die Stabilisierung von sozialer Ordnung gewinnt vor dem Erwartungshorizont verschiedener sozialstruktureller Entwicklungen und empirischer Wandlungsphänomene an Kontur. Diese Entwicklungen beziehen sich, erstens, auf den demografischen Wandel bei der Alterung der Gesellschaft, zweitens, auf den Verlust verbindlicher Jenseitsvorstellungen in einer pluralistischen Gesellschaft sowie, drittens, auf die Professionalisierung bei den Palliativ- und Hospizstrukturen im ambulanten und stationären Sektor. Entsprechend der empirischen Belege beziehen sich die im Folgenden zu beschreibenden Entwicklungstendenzen auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Das Potenzial von Sterbeidealen erhält unter der Perspektive einer Alterung der Gesellschaft eine quantitative Dimension. Der demografische Wandel hat einen direkten Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit Sterben und Tod, weil sich der mit Bevölkerungsvorausberechnungen bestimmte Effekt in einer fortlaufenden Verschiebung des Lebensendes bemerkbar macht (vgl. Statistisches Bundesamt 2016, 2019). Dieses wiederum wirkt sich aus auf den regulativen Charakter von Sterbeidealen, weil sich dieser vorrangig auf den Umgang mit solchen Gruppen beziehen soll, die vom demografischen Wandel besonders betroffen sind. Kurz gesagt, müssen Sterbeideale glaubhaft überzeugen können. Ändern sich die Bezugsgruppen, für welche Sterbeideale gelten sollen, müssten möglicherweise auch die Sterbeideale geändert werden, um glaubhaft und koordinationsfähig zu bleiben. Mit der sogenannten Alterung der Gesellschaft wandern Gruppenanteile innerhalb der Gesellschaftsstruktur „nach oben“ und diese Entwicklung nimmt einen Einfluss auf die Verteilung der Mehrheiten (siehe Abb.1). Deutlich wird dieser Trend an den geburtenstarken Jahrgängen der sogenannten Baby-Boomer-
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Generation: Das Altern dieser Generation verleiht der Altersstruktur eine glockenförmige Form. Gleichzeitig gehen die Geburtenzahlen zurück: Von über 1 Million im Jahr 1950 auf 784.000 im Jahr 2018 und 645.000 im Jahr 2060. In Folge dieser demografischen Entwicklung wächst die Gruppe der Alten und die Gruppe der Jungen schrumpft, weil die Menschen älter werden und weil sie weniger Kinder bekommen (vgl. Statistisches Bundesamt 2016). Abbildung 1: Ergebnis der 14. Bevölkerungsvorausberechnung
Quelle: Statistisches Bundesamt. Datei abrufbar unter: https://www.demografie-portal.de/ DE/Fakten/bevoelkerung-altersstruktur.html?nn=676784 (Abruf: 15.07.2022). Bildrechte: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2021
Neben der Gruppe der Neugeborenen sind die Erwerbsfähigen eine weitere Gruppe, die vom Rückgang betroffen ist. In den kommenden 15 Jahren schrumpft diese Gruppe um vier bis sechs Millionen und bis 2060 um weitere eins bis fünf Millionen. Insgesamt schrumpft die Gruppe von 51,8 Millionen (2018) auf 40 bis 46 Millionen (2060) (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Wegen des demografischen Wandels werden die Pflege- und Rentenkassen in naher Zukunft deutlich weniger Beitragszahlungen verbuchen können als bisher. Diese Entwicklung könnte den sozialen Zusammenhalt gefährden, weil der erforderliche Ausgleich bestehende soziale Ungleichheiten verschärfen könnte, beispielsweise wenn der Mehrwertsteuersatz oder die Beitragssätze erhöht oder das Rentenniveau gesenkt werden sollten. Ein weiterer Effekt des demografischen Wandels resultiert daraus, dass die Gruppe der Personen ab 67 Jahre zwischen 1990 und 2018 von 10,4 auf 15,9
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Millionen gestiegen ist und bis zum Jahr 2039 um weitere fünf bis sechs Millionen auf mindestens 21 Millionen wachsen wird. Gemessen an der Bevölkerungszahl kommt die Gruppe ab 67 Jahre bis 2050 auf einen Anteil von mindestens 25 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2016). Damit steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung könnten bis 2030 fast 500.000 „Vollzeitäquivalente“ bei den Arbeitszeiten in der Pflege fehlen (Rothgang et al. 2016: 11). Mit der Alterung der Gesellschaft erhöht sich schließlich auch die Anzahl der Todesfälle pro Jahr und die Gruppe der Sterbenden wächst proportional zur Gruppe der Pflegebedürftigen. Von 954.874 Todesfällen in 2018 auf schätzungsweise 1.100.000 Todesfälle in 2030. Dieses entspricht einer Steigerung um 15 Prozent im Zeitraum von zwölf Jahren. Begleitet wird das demografische Wachstum in den Gruppen der Alten, Pflegebedürftigen und Hochbetagten von einem soziomentalen Wandel, welcher in einem Bedeutungsverlust bei den konfessionellen Jenseitsvorstellungen abgelesen werden kann. In zwei repräsentativen Umfragen wurden im Auftrag eines überregionalen Nachrichtenmagazins kollektive Meinungsbilder über die Vorstellungen vom Leben nach dem Tod eingeholt (vgl. DER SPIEGEL 2020). Sowohl Katholiken als auch Protestanten als auch die Gruppe der Konfessionslosen wurden befragt, ob sie an ein Leben nach dem Tod glauben würden. Von den Katholiken glaubten im Jahr 2005 noch 65 Prozent an ein Leben nach dem Tod, im Jahr 2019 waren es nur noch 53 Prozent, bei den Protestanten schrumpfte die Prozentzahl von 49 auf 41 Prozent. In der Gruppe der Konfessionslosen stieg indes die Prozentzahl von 15 Prozent im Jahr 2005 auf 25 Prozent im Jahr 2019. Im Zeitraum von 14 Jahren nahm innerhalb der Gruppen der Konfessionellen die Zahl derjenigen, die an ein Leben nach dem Tod glauben, deutlich ab, außerhalb dieser Gruppen nahm diese Zahl deutlich zu. Dem Bedeutsamkeitsverlust des Jenseits bei den konfessionell Gebundenen steht also ein Bedeutsamkeitsgewinn des Todes außerhalb der konfessionell Gebundenen gegenüber. Möglicherweise könnte die von dem Religionssoziologen Hubert Knoblauch konstatierte „Auflösung des religiösen Feldes“ (Knoblauch 2021: 303) zu einer Pluralisierung bei den Jenseitsvorstellungen beigetragen haben, die weg von den tradierten Vorstellung des Christentum und hin zu den esoterischen Anschauungen des Spirituellen und Spiritistischen verläuft. Die Ergebnisse der Umfragen zeigen, dass tradierte soziale Ordnungen, wie sie auf der ganzen Welt aus der Durchsetzung religiöser Ideen und Überzeugungen entstanden sind, in der Gesellschaft der Gegenwart ihre auf Exklusivität ausgelegten Gültigkeitsansprüche in der Ausdeutung des Sterbe- und Todessinns eingebüßt haben. An den veränderten Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod wird somit deutlich, dass Jenseitsvorstellungen in der Gesellschaft der
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Gegenwart nicht mehr verbindlich sind. Selbst unter den Gläubigen sind sie zu Optionen geworden, die für eine Bekennung zum Glauben nicht mehr als zwingend notwendig erachtet werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass an Jenseitsvorstellungen nicht mehr geglaubt wird, es bedeutet nur, dass sich der Jenseitsglaube aus der christlichen Kosmologie gelöst hat und von alternativen Sinnangeboten aus den Bereichen des Esoterischen oder anderer Religionen assimiliert wurde. Der dritte Aspekt gesellschaftlichen Wandels, vor dem die Einstufung der Potenziale von palliativmedizinischen Sterbeidealen erfolgen soll, ist mit den Entwicklungen auf dem Gebiet der Palliative Care verbunden. Dieser Aspekt bezieht sich auf die Akademisierung der Fachdisziplin und auf gesetzliche Entwicklungen in der Palliativversorgung. Wie eine Recherche in der Metadatenbank PubMed zeigt, hat die Anzahl der medizinischen Publikationen zu den Themen „palliative medicine“ und „palliative care“ seit den 2000er Jahren deutlich zugenommen (siehe Abbildung 2). Abbildung 2: Pubmed-Timeline-Ergebnisse für die Suchkategorien „palliative medicine“ und „palliative care“ (2000-2021)
Quellen: Pubmed-Timeline-Ergebnisse für den Zeitraum von 2000 bis 2021 abrufbar unter https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=palliative+medicine und https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=palliative+care (Abruf: 15.02.2022). Bildrechte: Eigene Darstellung
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Der Anstieg bei den wissenschaftlichen Publikationen kann auf eine steigende Professionalisierung in diesem Segment zurückgeführt werden. Zugleich gibt dieser Anstieg auch eine gesellschaftliche Entwicklungstendenz wieder. Für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hat sich nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes die Zahl der ambulanten Dienste in der Hospiz- und Palliativversorgung seit 1996 verdreifacht und die der stationären Dienste im selben Zeitraum verachtfacht (vgl. Deutscher Hospiz- und Palliativverband 2021). Zurückzuführen ist dieser Anstieg auf eine Änderung bei der gesetzlichen Regelung der Pflegeversicherung. Seit 2015 ist die Hospiz- und Palliativversorgung in der Bundesrepublik Deutschland zu einem Bestandteil der Regelversorgung geworden. Patientinnen und Patienten haben somit einen Anspruch auf palliativmedizinische Leistungen erhalten. Damit ist auch die Nachfrage nach palliativmedizinischer Expertise gestiegen. Fast 14.000 Medizinerinnen und Mediziner haben bis zum Jahr 2020 eine Zusatzausbildung zur Palliativmedizinerin bzw. zum Palliativmediziner absolviert (ebd.). In der Gesamtschau zeigen die hier umrissenen Entwicklungstendenzen das folgende Bild: Die Zahl der Pflegebedürftigen und damit auch die Zahl der Sterbenden nimmt bis zum Jahre 2060 zu. Der demografische Wandel hat Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil er mit steigenden Kosten verbunden ist. Die Sorgen um Versorgungslücken und Pflegeengpässe sind hierbei nur zwei Aspekte, die in diesem Zusammenhang auf die Gesellschaft zukommen. Beachtet werden sollte auch, dass im gesellschaftlichen Segment der Alten, Pflegebedürftigen und Hochbetagten eine wachsende Gruppe entsteht, die nach einem besonderen Regelungsbedarf beispielsweise bei der Vergabe von gesundheitsbezogenen Leistungen und nach einem besonderen Deutungsbedarf insbesondere bei der Ermöglichung von Lebenssinn am Lebensende verlangt. Im öffentlichen Diskurs über das Altern wird diese Deutungsdimension häufig übersehen. Begegnet werden soll der Alterung der Gesellschaft mit fiskalen und normativen sowie medizinischen Maßnahmen. Eine solidarische Gesellschaft sollte auf den Wandel der Bevölkerungsstruktur jedoch umfassender vorbereitet werden, wenn sie Lösungen anbieten möchte, die den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft gewachsen sind. Wie die zweite Entwicklungstendenz zeigt, können immer mehr Menschen immer weniger mit den klassischen Deutungsangeboten des Christentums anfangen. Verglichen mit der Ars moriendi des Spätmittelalters üben die Jenseitsvorstellungen weniger regulierenden Einfluss auf die Gestaltung des Lebens wie des Sterbens aus. Das wirkt sich aus auf die Sinnhaftigkeit des Sterbens und zeigt die Notwendigkeit für eine neue Sterbekultur. Mit den Entwicklungen in der Palliativversorgung könnte bereits eine neue Epoche im Umgang mit Sterben und Tod begonnen haben, die sich durch eine Affirmation
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dessen auszeichnet, was der Moderne von ihren schärfsten Kritikern unterstellt wurde, dass nämlich der Tod verdrängt und das Sterben sinnlos werden würden, weil es keine gesellschaftliche Sinnintegration des Todes mehr gibt, aus der gesellschaftliches Handeln im Umfeld von Sterben und Tod seine Legitimität beziehen könnte (vgl. Nassehi/Weber 1989).
5.
EMPIRISCHE STERBEIDEALE ZWISCHEN VERSACHLICHUNG UND ENTSACHLICHUNG DES STERBENS
Im Folgenden soll an zwei Fallbeispielen veranschaulicht und wissenssoziologisch interpretiert werden, wie Sterbeideale empirisch erfahren werden. Die Fallbeispiele wurden auf ihren exemplarischen Gehalt hin ausgewählt. Beide Fälle stehen für soziohistorisch unterschiedliche Deutungstypen des Sterbens und zeigen auf, wie äußere Faktoren auf die innere Wahrnehmung eines Sterbens einwirken. Die zeitliche Differenz zwischen den Beispielen kann mentalitätsgeschichtlich gedeutet werden (vgl. Ariès 2002). Aus wissenssoziologischer Perspektive verweist das Exemplarische der Fallbeispiele auf Stationen eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Das erste Fallbeispiel bezieht sich auf die Wahrnehmung eines Sterbefalls im Krankenhaus im Modus der Versachlichung. Bei diesem Fallbeispiel handelt es sich um eine Passage aus dem 1976 erschienen Tagebuchbericht Sterben im Krankenhaus. Aufzeichnungen über einen Tod (Kautzky 1980). In dem schmalen Band wird die letzte Etappe der Krankheitsgeschichte eines Sechzigjährigen aus der Angehörigenperspektive beschrieben. Die ausgewählte Passage kann als kritischer (und bisweilen polemischer) Kommentar zur subjektiven Wahrnehmung des Sterbeprozesses unter den bürokratischen Rahmenbedingungen eines Krankenhauses der 1970er Jahre interpretiert werden. Gleichzeitig lässt sich daran aber auch zeigen, wie die Versachlichung des Sterbens aus der Expertenperspektive völlig anders erfahren wird, nämlich als Voraussetzung für professionelles Handeln im Krankenhaus. Dieses Fallbeispiel bildet gewissermaßen den historischen Hintergrund, vor welchem das zweite Fallbeispiel an Tiefenschärfe gewinnen soll. Dieses Beispiel bildet den Kontrastfall und stammt aus dem Kontext der Hospizbewegung. Es zeigt auf, wie im weniger bürokratisierten Umfeld des Hospizes eine Entsachlichung im Umgang mit Sterben und Tod möglich wird, die Raum für individuelles Handeln diesseits regulatorischer Zwänge eröffnet.
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Mitte der 1970er Jahre war der Umgang mit dem Tod im Krankenhaus ein gesellschaftlich kontrovers diskutiertes Thema (vgl. Illich 2022). Die anonym veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen haben entsprechend dem geistigen Klima dieser Zeit eine Debatte über die Liberalisierung von Sterben und Tod angestoßen. Die eindringlichen Worte der Betroffenen gingen „unter die Haut“ (Klee 1976), hieß es in einem ausführlichen Kommentar in einer überregionalen Wochenzeitung, der mit der Bemerkung schloss, der Bericht sende ein wichtiges Signal von der Erfahrung der „Entmenschlichung“ in einer „Welt des Funktionierens“ (vgl. ebd.). Der Bericht ist die Introspektion einer Trauernden, die Zeugnis darüber ablegen möchte, wie es sich anfühlen kann, wenn die subjektive Verwirklichung eines individuellen Sterbeideals mit den rationalen Handlungszwängen einer Organisation kollidiert. In der Schlüsselstelle des Textes formuliert die Trauernde ihre Klage über die Imperative des Sterbens im Krankenhaus mit den folgenden Worten: „Ich hasse diese Stadt, die mir nicht erlaubt, in die Nähe eines geliebten Toten zu treten. Ich hasse diese Ärzte, die mich von der Seite des Sterbenden vertreiben. Ich hasse die Allmacht der Behörden, die mir nicht erlauben, mit dem Toten ein letztes Wort zu wechseln, den Toten selbst zu waschen und zu kleiden, die mir nicht erlauben, ihm die letzten Liebesdienste zu erweisen, die die Toten in ihren Kellern versteckt und mir keinen Zutritt dazu freigibt. Und ich hasse diese Stadt, die mir die Entscheidung darüber abnimmt, ob ich die Zeichen der Verwesung an dem Toten sehen will oder nicht. Ich hasse diese Stadt, ich hasse diesen Staat, ich hasse diese Ärzte, ich hasse diese Krankenhäuser.“ (Kautzky 1980: 127)
Vordergründig richtet sich die Hasstirade der Hinterbliebenen gegen das professionelle Handeln der Ärzte im Krankenhaus, welche, dem Anschein nach, blindlings ordnungsbehördlichen Verordnungen folgten, statt auf die individuellen Bedürfnisse von Betroffenen einzugehen. Hintergründig richtet sich die Klage aber auch gegen die Ursache dieses Handelns, welche als Verrechtlichung des Umgangs mit dem Leichnam auf den Begriff gebracht werden kann. Der Einfluss kodifizierter Handlungszwänge auf die Gestaltungsmöglichkeiten individuellen Handelns erscheint am Ende der Notizen denn auch als das eigentliche Thema der Auseinandersetzung mit der Sterbesituation im Krankenhaus. Das Fallbeispiel verdeutlich, wie Handlungsimperative im Alltag als äußere Handlungszwänge erlebt werden. Die Verrechtlichung des Leichnams wird von der Betroffenen als Handlungsdruck „von außen“ und damit als nicht verhandelbarer „äußerer Zwang“ empfunden. Dieser Zwang erzeugt starke negative Ge-
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fühle, weil er als unangemessen und unabänderlich erlebt wird. Jedoch bleiben die „äußeren Zwänge“ in ihrer Darstellung eher abstrakt als konkret, was auf ihren korporativen (letztlich: gesellschaftlichen) Status hinweist. Am Ende richtet sich die geäußerte Wut gegen alles und jedes: Ärzte, Krankenhäuser, Behörden, Stadt und Staat, die für einen, wie der Soziologe Norbert Elias in seiner Kritik einer strukturellen „Einsamkeit der Sterbenden“ (Elias 1982) fast zur selben Zeit formulierte, „Verdeckungszwang“ (ebd.: 66) verantwortlich gemacht werden. Der Bericht dokumentiert, wie der Einfluss von Behörden auf den individuellen Umgang mit dem Tod wirkt und wie dieses Wirken auf der subjektiven Ebene erfahren wurde. Die Berichtende erfuhr die Bürokratisierung des Todes als Resultat einer „Allmacht der Behörden“ (Kautzky 1980: 127) und als Repression einer lebensfernen Gesellschaft, die sich von den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen entfremdet hatte. Nicht die Menschen vor Ort, sondern abstrakte Vorschriften legten das Sterbeideal fest, wie im Umgang mit Verstorbenen gehandelt werden sollte. In das Handlungsgefüge zwischen der Witwe und ihrem verstorbenen Ehemann waren gesellschaftliche Normen, objektivierte Ge- und Verbote, getreten, die von Organisationen repräsentiert und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgeführt wurden und welche die Trennung der Toten von den Lebenden wie aus fremder Hand bestimmten. Hygienevorschriften legen fest, wie rasch die Toten in einen speziellen Bereich des Krankenhauses überführt werden müssen. Die vorschriftsmäßige Exklusion von Leichnamen aus den Stationen wurde von der Betroffenen aber als illegitime Einflussnahme empfunden, welche die Verwirklichung ihres individuellen Sterbeideals verhinderte. Aus wissenssoziologischer Perspektive ist hieran interessant, dass diese Einschränkung beim Umgang mit dem Verstorbenen nicht auf das Handeln von Einzelpersonen zurückgeführt wird, sondern auf eine abstrakt gesteuerte Regulierung des Lebensendes, welche den Abstand zwischen den Lebenden und den Toten vergrößert, weil sie den Umgang mit dem Leichnam versachlicht. Erwähnenswert ist auch, dass die Tagebuchnotizen nicht unkommentiert veröffentlicht wurden. Als Herausgeber trat der damalige Leiter der neurochirurgischen Abteilung eines Hamburger Krankenhauses in Erscheinung. In seinem Vorwort verortete der Arzt den Bericht als „den subjektiven Eindruck einer tiefbetroffenen, hochsensiblen Frau“ (Kautzky 1980: 9) die „eine Anklage, nicht gegen eine Schwester, nicht gegen einen Arzt, sondern gegen das ‚System‘“ (ebd.) gerichtet hatte. Der Mediziner zeigte Verständnis für die Reaktion der Betroffenen und die Empörung darüber, dass Kranke im Krankenhaus wie eine „Sache“ (ebd.) behandelt werden würden. Zugleich gab er aber auch zu beden-
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ken, dass es Gründe für diese Versachlichung gebe, die aus falscher Sentimentalität nicht übersehen werden dürften. Der Arzt erklärte der Leserschaft, dass sich der menschliche Körper und sogar das menschliche Verhalten wie eine „Maschine“ (ebd.) betrachten lassen müsse. Der Mensch müsse sich objektivieren lassen, nur dann ließe sich seine medizinische Behandlung überhaupt „perfektionieren“ (ebd.). Die Aufgabe von „Wissenschaft und Technik“ (ebd.) läge in der Entwicklung von Mitteln und Methoden, welche zu einer Optimierung der Behandlung beitragen sollen. Ohne Objektivierung des Menschen, ohne Versachlichung also, sei eine solche Perfektionierung der medizinischen Mittel nicht zu erreichen. Schließlich sei sie [die Versachlichung; FT] die unverzichtbare Voraussetzung für medizinischen Fortschritt und steigende Behandlungserfolge. Erst die Ausklammerung menschlicher Eigenschaften brächte den bloßen Körper als Träger von Symptomen zum Vorschein, die dann durch medizinisches Handeln gezielt behandelt werden könnten. Die medizinische Sichtweise des „ärztlichen Blicks“ (Foucault 2000) hebt den Objektcharakter des menschlichen Körpers als notwendige Voraussetzung für seine professionelle Behandlung hervor. Die professionelle Sichtweise stößt jedoch dort an ihre Grenzen, wo eine Erkrankung nicht mehr professionell geheilt werden kann. Dieses Dilemma im Blick schloss der einleitende Kommentar des Chefarztes mit einem Appell an die Kolleginnen und Kollegen der Zunft, im Menschen nicht immer nur das „sachlich Notwendige“ (Kautzky 1980: 9) zu sehen, sondern auch das „menschliche Gegenüber“ (ebd.: 11) wahrzunehmen und nahm damit vorweg, was von der Weltgesundheitsorganisation über 30 Jahre später als personenzentrierter Ansatz zum Behandlungsstandard der Palliative Care erhoben werden sollte (siehe Kap. 1). Die Erfahrung eines versachlichten Todes ist das Resultat einer umfassenden Verwissenschaftlichung der Gesellschaft (vgl. Bell 1999). Am Beispiel der Verwissenschaftlichung des menschlichen Körpers und seiner Funktionsweise wird deutlich, was das für die Individuen bedeuten kann, die mit den Folgen dieser Verwissenschaftlichung konfrontiert werden. Am Beispiel des Sterbeideals eines versachlichten Todes wird eine Diskrepanz sichtbar zwischen der Welt der Laiinnen und Laien und der Welt der Expertinnen und Experten. Derselbe Vorgang, die Versachlichung des Leichnams als Resultat einer Versachlichung des Körpers, kann so einmal aus der Perspektive der Betroffenen harsch kritisiert werden, weil Angehörige unter diesem Vorgang leiden und ihn als ungerechtfertigte Einschränkung der ihnen zustehenden Handlungsfreiheit empfinden. Zugleich wird derselbe Vorgang aber aus der Perspektive des zuständigen Experten zum Gegenstand der Verteidigung und die von der Betroffenen als sozialpathologisch charakterisierten Versachlichungseffekte erscheinen plötzlich als erforderliche
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Bedingungen des medizinisch-technischen Fortschritts. Einerseits wird das versachlichte Sterben als Skandal empfunden, andererseits ist es die Voraussetzung für die soziale Ordnung des Krankenhauses, die funktional auf Versachlichung aufbaut, ja ohne Versachlichung schlechterdings nicht aufrechtzuerhalten wäre. Im Vergleich der Deutungen des Sterbeideals eines versachlichten Sterbens wird sichtbar, das dieses aus der Sicht der Angehörigen als völlig anderes empfunden werden kann als aus der Sicht einer Person, welche die Versachlichung des Krankenhaus über seine Rolle als individueller Träger dieses Versachlichungsprozesses repräsentiert und bereits in seinen Wahrnehmungsapparat internalisiert hat. Von der Angehörigen wird die Versachlichung des Sterbens als Ohnmachtsempfinden gegenüber einer organisational wirksamen Geltung wahrgenommen. Die Tagebuchnotizen beschreiben ein Sterben, wie es aus den Augen vieler nicht sein sollte, überreguliert und versachlicht auf Kosten individueller Handlungsspielräume, doch hinter dieser Beschreibung konturiert das Wunschbild vom „guten Sterben“ als einem Sterben, wie es eigentlich sein sollte. Die Interpretation des gegenteiligen Sinns offenbart auch hier ein Sterbeideal avant la lettre, welches über die latente Hoffnung einer Entsachlichung der Ist-Zustände artikuliert wird: Was wäre, wenn der Umgang mit Verstorbenen in Absprache mit den Hinterbliebenen stattfände? Wenn den Hinterbliebenen die Waschung und die Ankleidung des Leichnams erlaubt wären? Wenn die Hinterbliebenen Zugangsrechte zur Leichenhalle bekämen? Wenn es ihnen gestattet wäre, selbst zu beurteilen, ob sie sich den „Zeichen der Verwesung an dem Toten“ (Kautzky 1980: 127) aussetzen wollten? In der umgekehrten Lesart fügt sich die Skizze zu einem Verhaltenskatalog für den Umgang mit verstorbenen Angehörigen zusammen: als Plädoyer für ein neues Sterbeideal im Umgang mit Sterben und Tod auf der Grundlage einer Entsachlichung des Todes. Mitte der 1970er Jahre galt in weiten Teilen der (deutschsprachigen) Medizin, aber auch der Soziologie, der Tod als ein „unbewältigtes Problem“ (von Ferber 1970). Erst innerhalb der vergangenen Jahrzehnte konnte sich mit der Entwicklung der Hospizbewegung in Deutschland ein Mittelweg zwischen Versachlichung und Entsachlichung von Sterben und Tod etablieren. Diese Entwicklung hat zu einer Erweiterung gesellschaftlicher Sterbeideale im Umfeld von Sterben und Tod geführt, bei denen das Sterben nicht mehr ausschließlich als Krankheit wahrgenommen, sondern zur eigensinnigen Lebensphase aufgewertet wird (vgl. Student 1999: 32). Dabei wird das Hospiz als Idee und Wirklichkeit zu einem Ort innerhalb der Gesellschaft stilisiert, von welchem aus die Wandelungsdynamik der Entsachlichung von Sterben und Tod wichtige Impulse und Antriebe erfahren hat. Dieses gilt insbesondere für die geistige Einstellung der
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Hospizbewegung, welche von Cicely Saunders, die als deren Begründerin gilt, beschrieben wurde als „a climate (…) in which patients and families can reach out in trust towards what they see as true and find courage and acceptance of what is happening to them“ (Saunders 1996). Bis in die 1990er Jahre hinein liegt der Hospizbewegung ein Organisationsmodell zugrunde, das sich am Sozialmodell der Zivilgesellschaft orientiert und sich weitgehend unabhängig von staatlichen Regulierungen entwickeln konnte. Der Einbezug von ehrenamtlichem Engagement und die Finanzierung aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen waren (und sind) für dieses Sozialmodell typisch (vgl. Klie/Roloff 1997). Das Publikum der jährlichen Hospiz-Tage setzte sich in den Anfängen vorwiegend aus „ehrenamtlichen Mitarbeitenden“ (Gerstenkorn 2004: 29) zusammen. Getragen wird die Hospizbewegung von einer Orientierung am diakonischen Leitmotiv der Gastfreundschaft (lat. hospitium), welches ihr Selbstverständnis bis heute prägt und ihre Außenwahrnehmung bestimmt. Die Entsachlichung des Todes übernimmt bei der Umsetzung des Hospizgedankens eine zentrale Funktion ein, auch wenn sich diese „Bewegung“ bisweilen zu einem festen Bestandteil der Regelversorgung im Gesundheitswesen verstetigen konnte (vgl. Kap. 4). Am folgenden Ausschnitt aus einem Interview wird deutlich, was unter einer Entsachlichung des Todes als Haltung und Einstellung im sozialen Setting des Hospizes verstanden werden kann (vgl. Tirschmann 2019: 105). „Die haben eine Krankenhauskarriere hinter sich. Die ist nicht schön. Und dieses Lebensunmüdigwerden ist ja ein zentrales Thema. Und det Hospiz ist ja dann so det letzte Dings […] und dann haben sie det im Prinzip schon abgehakt. Und dann geht bei uns die Maschinerie anders los […] Die können sich öffnen. Da hat jemand Zeit für sie […] Und det ist was ganz Schreckliches. Weil sie wollen dann wieder leben. Da denkt niemand dran […] Det ist irre. Ist halt auch ein Stück Qualität an der Arbeit, die ick leiste […] Wir machen die nochmal hoffnungsfroh.“ (Hospizleiterin, 48 Jahre, Frankfurt/Oder)
Auffallend an dieser Sequenz ist die Stehgreifformulierung „Lebensunmüdigwerden“. Diese Formulierung „Lebensunmüdigwerden“ wird als „zentrales Thema“ markiert und benennt auch tatsächlich die zentrale Thematik der Aussage, welche als eine Form der Rückgewinnung von Lebenswillen und Lebensqualität, ausgelöst durch den Einsatz professionellen Handelns, zusammengefasst werden kann. Innerhalb der Aussage übernimmt die Formulierung „Lebensunmüdigwerden“ die Funktion eines „natürlichen Kodes“ (Strauss 1998: 94). Solch ein „natürlicher Kode“ beschreibt behelfsmäßig, was in den herkömmlichen Be-
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griffen nicht adäquat ausgedrückt werden kann, und das ist beim vorliegenden Fall die Emergenz eines sozialen Phänomens im sozialen Setting des Hospizes. Mit einer Wort-für-Wort-Analyse können entlang der Aussagesequenz zwei Personengruppen rekonstruiert werden, die im sozialen Setting des Hospizes aufeinandertreffen: Auf der einen Seite gibt es eine Gruppe von Personen, zu denen sich die Gesprächspartnerin nicht selbst dazuzählt: Das sind „die“ oder „sie“. Die Personen dieser Gruppe zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine „Krankenhauskarriere“ hinter sich gebracht haben, die „nicht schön“ gewesen sei und die deswegen ihr Leben „im Prinzip schon abgehakt“ hätten. Dann gibt es auf der anderen Seite eine weitere Personengruppe, zu der sich die Gesprächspartnerin selbst dazuzählt, und die durch Formulierungen wie „uns“ und „wir“ vergegenwärtigt wird. Diese Gruppe wirke zusammen, wie eine gut geölte „Maschinerie“, und leiste eine „Arbeit“, deren „Qualität“ der anderen Personengruppe zugutekomme. In der Formulierung „Wir machen die nochmal hoffnungsfroh“ wird das Ergebnis dieses organisierten Gemeinschaftshandelns zusammengefasst. Die abschließende Bewertung desselben fällt dann überraschenderweise deutlich negativ aus. Am Ende der Aussage wird ein merkwürdiges Spannungsverhältnis aufgebaut, das einerseits aus der Formulierung „hoffnungsfroh [machen]“ hervorgeht und andererseits von der Kommentierung der Aussage mit den Worten „det ist was ganz Schreckliches“ konterkariert wird. Auf der einen Seite ist das „Lebensunmüdigwerden“ ein „Stück Qualität“, welches aus dem Erfolg des professionalisierten Handelns resultiert. Auf der anderen Seite kann es zu den problematischen Nebeneffekten einer gelungenen Hospizarbeit gezählt werden. Dann ist es das ungewollte Symptom einer nur widersprüchlich zu bewerkstelligenden Aufgabe: denen zu helfen, denen nicht mehr geholfen werden kann. Dabei birgt das „Lebensunmüdigwerden“ eine nicht zu unterschätzende Gefahr, wenn aus dem Hoffnungsvoll-Machen ein Hoffnungsvoll-Werden wird und mit einer ungedeckten Gesundungserwartung einhergeht, welche nicht eingelöst werden kann, weil auf die subjektiv wahrgenommene Verbesserung von Lebensqualität keine objektiv messbare Verlängerung der Lebensaussichten folgt. Als unerwünschte Nebenfolge des „Lebensunmüdigwerdens“ kann es schließlich sogar zu einer Akzeptanzverweigerung gegenüber dem eigenen Sterben kommen. Im sozialen Setting des Hospizes gibt es bestimmte Vorstellungen von einem gelungenen Sterbeverlauf. Schmerzfrei, angstfrei und verbunden mit einer Haltung der Akzeptanz sollte in Hospizen idealerweise gestorben werden (vgl. Dreßke 2005). Andere empirische Studien spezifizieren das Sterbeideal in Palliativstationen und Hospizen entlang der Attribute „ruhig, selbstbestimmt, begleitet und gelassen“ (Breitsameter 2020: 331). Das Phänomen des „Lebensunmüdig-
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werdens“ steht diesen idealisierten Sterbeverläufen gewissermaßen im Weg und spezielle Handlungsformen müssen eingreifen, um diese Gefährdung des „guten Sterbens“ zu verhindern (vgl. Tirschmann 2019: 105-115). Zu diesen Maßnahmen zählen, erstens, dass ausschließlich die Personen ins Hospiz aufgenommen werden, welche laut ärztlicher Prognose auch tatsächlich in naher Zukunft versterben. Die Einweisung erfolgt durch den Hausarzt oder die Klinik. Zweitens wird die oder der Sterbende im Hospiz als „Gast“ adressiert. Diese Status-Zuschreibung soll die Kürze des Aufenthalts und den transitorischen Charakter desselben im Bewusstsein der Sterbenskranken verankern. Zugleich ist es eine Distanzierung vom Patienten-Begriff und der damit verbundenen Versachlichung der Person. Drittens werden die Sterbegäste gleich zu Beginn auf ihr Sterben angesprochen. Wünsche, aber auch Sorgen, sollen, ganz im Sinne der von Anselm Strauss und Barney Glaser untersuchten „open awareness“ (Glaser/Strauss 2017), offen thematisiert werden. Zu Lebzeiten soll die Entsachlichung des Todes durch eine Form der enttabuisierten Kommunikation erfolgen, welche ein ungezwungenes Reden über Sterben und Tod ermöglichen soll. Ein wesentlicher Aspekt der Entsachlichung des Todes findet jedoch erst nach dem Ableben der betroffenen Person statt. Ein Teil der Handlungen, die aus der Sicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hospizes zum „guten Sterben“ dazugehören, richtet sich auf Handlungen am toten Körper. Der tote Körper erhält dadurch eine Aufwertung, die sich von dem streng reglementierten Umgang mit Leichnamen im Krankenhaus und insbesondere in der Pathologie unterscheidet. Die Toten werden persönlich angesprochen, für die Angehörigen zurechtgemacht und mit selbstgestalteten Ritualen verabschiedet. Dieser achtsame und zeitintensive Umgang mit dem toten Körper ist ein wesentlicher Aspekt einer Kultur der Entsachlichung im hospiziellen Setting, welche auf den Umgang mit Sterbenden zurückwirkt. Interessanterweise findet hier bei dieser Umsetzung des „Ideals vom guten Sterben“ wieder einer Verlängerung des Sterbens über den biologischen Todeszeitpunkt statt. Aus der Perspektive der Hospizleiterin beinhaltet ein professionelles Handeln, welches sich am „Ideal des guten Sterbens“ orientiert, nicht nur ein Handeln mit Lebenden, sondern auch ein Handeln an Toten. Damit inkludiert dieses Sterbeideal genau jene Handlungsstrecke, die beim Sterbeideal des versachlichten Todes über den Katalysator der Bürokratisierung – metaphorisch gesprochen – herausgeschnitten wird und eine unbewältigte Lücke im Trauerverarbeitungsprozess von Hinterbliebenen hinterlassen kann.
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6.
STERBEIDEALE ZWISCHEN GESUNDHEIT UND LEBENSSINN
Sterbeideale können individuelle Orientierung bieten und soziale Ordnung sicherstellen. Dafür sollten sie mindestens zwei Bedingungen erfüllen: Zum einen sollten Sterbeideale mit einer Vorstellung von Gesundheit als Förderung und Aufrechterhaltung von Lebensqualität harmonisieren und dabei auch die Lebensqualität der Angehörigen und weiterer Begleitpersonen nicht ausblenden. Hier sind Organisationsformen gefragt, die Sterbebegleitung mit Angehörigenbegleitung verbinden und nach dem Tod der begleiteten Person sich gegenüber individuellen Formen des Abschiednehmens nicht verschließen. Zum anderen sollten Expertinnen und Experten im Gesundheitswesen auf eine Weise geschult werden, die diese mit jenen Paradoxien am Lebensende professionell umgehen lässt, welche aus der Forderung nach einem ganzheitlichen Ansatz bei der Förderung von Lebensqualität am Lebensende resultieren können, um die angemessene Umsetzung eines letztlich im Individuellen der sterbenden Person und ihrer Angehörigen begründeten Sterbeideals auch tatsächlich realisieren zu können.
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Die Vulnerabilität sterbender Menschen als Vermittlungsproblem im Pflegeunterricht Jonas Hänel
HINFÜHRUNG Auch Lehrer/-innen für Pflegeberufe setzen sich mit einer ihnen eigenen Perspektive mit dem Sterben auseinander. Gilt es Pflegeschüler/-innen den pflegenden Umgang mit Sterbenden zu vermitteln bzw. anzuregen, dass diesen eine menschwürdige Begleitung Sterbender gelingt. Wie man sich ohne Weiteres vorstellen kann, ist dieser Anspruch kein geringer, zumal Sterben ein hochgradig individueller Prozess ist. Die Pflegeschule spielt vor diesem Hintergrund eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Organisation des Sterbens, wobei sich die Frage stellt, welche sozialen Prozesse in pflegeschulischen Kontexten ablaufen und wie diese wiederum das Setting des Sterbens prägen (Krankenhaus, Pflegeheim, ambulante Pflege etc.). In diesem Zusammenhang ist im Besonderen zu fragen, welche Effekte mit der Didaktisierung des pflegerelevanten Phänomenkomplexes Sterben einhergehen: Ist die didaktisch-methodische Aufbereitung mit Verkürzungen und Zurichtungen des Themas verbunden? Welche medialen Darstellungsformen lassen sich finden und welche Folgen haben diese für die Vermittlung beruflicher Fähigkeiten in Bezug auf die Pflege Sterbender? Stellt die Pflegeschule einen Reflexions- und Erfahrungsraum dar, in dem die Problemhaltigkeit der emphatischen Begleitung Sterbender wie auch deren Angehöriger reflexiv wird? Werden gesellschaftlich vermittelte Tabus gebrochen oder Klischees und Ideologien zum Sterben reproduziert? Vor dem Hintergrund dieser Fragen soll im folgenden Beitrag betrachtet werden, wie in der sozialen Ordnung der Pflegeschule bzw. des Pflegeunterrichts ein bestimmter Umgang mit dem Sterben getätigt wird. Es fragt sich dabei im Speziellen, welche Sterbeverständnisse sich im Pflegeunterricht dechiffrieren und enttarnen lassen. Wie erfolgt ein didaktisch-methodischer Umgang mit dem
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Sterben? Werden dominierende und ideologisch durchsetzte Verständnisse zu einem bewussten und rationalen Sterben (re-)produziert oder ergeben sich situativ Brüche und alternative Thematisierungsformen? Vorangestellt sei diesen Überlegungen folgende Annahme: Auch die vielfältigen Praktiken der Lehrer/-innen an der Pflegeschule, die bei der didaktischen Bearbeitung des Themenkomplexes Sterben zusammenwirken, lassen sich als soziale Ordnung eigener Art auffassen. Wie es in diesem Band immer wieder zum Gegenstand gemacht wurde, beschreiben soziale Ordnungen die performative und praktische Struktur- und Ordnungsbildung auf der Ebene des Gegenstandes selbst (vgl. Garfinkel 2020; Luhmann 1998). Es handelt sich dabei um einen Prozess, der nicht strukturell vorherbestimmt ist, sondern sich prekär und unsicher einstellt.1 Bei sozialen Ordnungen handelt es sich daher keineswegs um geordnete Verhältnisse – wie es der Begriff suggerieren mag –, sondern gerät eine nicht loszuwerdende Unordentlichkeit des Sozialen in den Blick. Soziale Ordnungen erscheinen aus dieser Perspektive „als prekäre und letztlich verfehlte Versuche, das Feld der Differenzen zu zähmen“ (Laclau/Mouffe 1991: 142). Von daher ist eine empirische Bezugnahme zum Gegenstand der sozialen Praxis unabdingbar, gilt es sowohl Struktur- und Ordnungsbildungen als auch
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Eine soziale Ordnung ist dementsprechend das Resultat von Vorgängen im Gegenstand selbst. Der Begriff Garfinkels (2020) wie auch Luhmanns (1998) unterscheidet sich stark von dem Durkheims und Parsons, da er die Offenheit und das Prekäre dieses Geschehens betont (vgl. Walthert 2019: 143 f.). Es handelt sich folglich um eine soziale Ordnung ohne normative Grundlegung. Eine soziale Ordnung beinhaltet dergestalt Möglichkeitsräume, wenngleich Strukturen gleichzeitig auch reproduziert werden: „Die Gesellschaft und die sozialen Agenten haben kein Wesen, und ihre Regelmäßigkeiten bestehen lediglich aus den relativen und prekären Formen der Fixierung, die die Errichtung einer bestimmten Ordnung mitsichbringt [sic].“ (Laclau/Mouffe 1991: 145). Die soziale Ordnung kann daher als prekäre Realisierung von Strukturen verstanden werden, womit Luhmann (1984: 219) folgend im sozialen Feld zwar bestehende Erwartungen kursieren, aber nicht bereits hergestellte bzw. vorherbestimmte Verknüpfungen. Anstelle von Determinationen werden Spielräume betont. Über das Konzept von Erwartungen wird die Herstellung sozialer Ordnung entsprechend als Vorgang gesehen, der zwar nicht determiniert, aber dennoch durch Überzufälligkeiten, Affinitäten oder Assoziationen (vgl. Latour 2010) strukturiert ist. Zudem gibt es nicht die Soziale Ordnung, sondern soziale Ordnungen: Es geht folglich nicht um ein allgemeines Abstraktum, sondern darum, unterschiedliche Konfigurationen von „social relations across time and space“ (Giddens 1986: 35, zit. in Walthert 2019: 105) zu untersuchen.
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Brüche und Ungereimtheiten kenntlich zu machen, die diesen Prozess durchziehen. Im ersten Teil des Aufsatzes möchte ich mich daher auf einer empirischen Ebene zunächst niederschwellig und ausschnitthaft den Praktiken des Pflegeunterrichts annähern, welche das Sterben zum Gegenstand machen. Dies kann an dieser Stelle keineswegs erschöpfend geleistet werden, sondern stellt lediglich einen Problemaufriss dar. Ich möchte dabei anhand eines Falls aus dem Kontext der hochschulischen Pflegelehrer/-innenbildung diskutieren, welche Verständnisse und Logiken zum Sterben im Pflegeunterricht sich unter Umständen einstellen bzw. reproduzieren. Dabei möchte ich exemplarisch darlegen, dass eine Logik der abstrakten und allgemeinen Klassifikation und Objektivierung Gefahr läuft, im Pflegeunterricht zu dominieren, wohingegen die Reflexion und Bearbeitung von Erfahrungen der Pflegeschüler/-innen mit Sterbenden und deren Angehörigen in den Hintergrund geraten können. Wie ich zeigen möchte, ist speziell auch der Pflegeunterricht mit dem Problem konfrontiert, das individuelle Leid der Sterbenden und deren Angehörigen zur Darstellung zu bringen. In diesem Zusammenhang werde ich im Besonderen darauf eingehen, dass die Verletzlichkeit oder die Vulnerabilität der Sterbenden im Kontext der Vermittlung pflegerischer Maßnahmen Gefahr läuft, verdrängt zu werden. So gesehen beinhalt der Pflegeunterricht und seine didaktisch-methodischen wie auch medialen Praktiken das Risiko, dass zentrale Qualitäten der Pflege Sterbender aus dem Blick geraten. Im zweiten Teil möchte ich daran anschließen und auf das in den letzten Jahren vermehrt diskutierte Konzept der Vulnerabilität eingehen. Der interdisziplinär verhandelte Begriff der Verletzlichkeit bzw. Vulnerabilität markiert eine wesentliche Akzentverschiebung in den Wissenschaften hin zu einer anderen Anthropologie (vgl. Stöhr et al. 2019). Ein Menschenbild wird dabei verhandelt, das die vielfältige Verwundbarkeit des Menschen als zentrales Charakteristikum herausarbeitet. Dies trifft selbstverständlich in besonderer Form auf den Prozess des Sterbens zu, da dort die Vulnerabilität des Menschen in zugespitzter Form vorzufinden ist (vgl. Springhardt 2015). Speziell für die Pflegewissenschaft wie auch Pflegedidaktik bietet diese Debatte wichtige Impulse, da Pflegende wie auch Pflegelehrer/-innen im Besonderen auch mit der Verletzlichkeit des Menschen (nicht nur) im Sterbeprozess konfrontiert sind. In diesem Zusammenhang möchte ich problematisierend und in Ansätzen Perspektiven für einen vulnerabilitätssensiblen Pflegeunterricht im Kontext des Themas Sterben aufzeigen. Im Speziellen zeige ich dabei, dass andere und erweiterte pflegedidaktische Darstellungsformen nötig sind, um sich der Verletzlichkeit Sterbender anzunähern. Neben komplexeren textlichen Falldarstellungen möchte ich speziell auch dafür
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plädieren, andere Materialien und Medien wie beispielweise Bilder und Filme zu integrieren. Abschließend und im dritten Teil möchte ich dieser Argumentation weiter folgen und aufzeigen, inwieweit sich über das Medium Film der Verletzlichkeit Sterbender im Pflegeunterricht angenähert werden kann. Dabei zeige ich zunächst, dass eine Vielzahl der filmischen Darstellungen des Sterbens für dieses Anliegen ungeeignet scheinen, da diese thanatoideologische Zerrbilder reproduzieren, die die Verletzlichkeit Sterbender geradezu ausschließen. Mit Blick auf den Film Halt auf freier Strecke von Andreas Dresen (2011) möchte ich dennoch zeigen, warum filmische Inszenierungen des Sterbens auch für den Pflegeunterricht reflexive Potenziale bieten können, um sich der komplexen Problemhaltigkeit einer Pflege Sterbender anzunähern. Der Schluss des Beitrags beinhaltet etliche Desiderate, Fragen und einen Ausblick, warum Vulnerabilität als querliegendes Konzept in der Pflegedidaktik zukünftig von Gewinn sein könnte.
TEIL 1 PROBLEMAUFRISS: LERNEN PFLEGERISCHER MASSNAHMEN BEI STERBENDEN Anhand exemplarischer Auszüge aus einen Schulcurriculum, Dokumentausschnitten aus einen universitären Schulpraktikumsbericht wie auch basierend auf reflektierten Erfahrungen eines beobachteten Unterrichts möchte ich nachfolgend in Ansätzen problematisieren, wie die Pflegeschule bzw. der Pflegeunterricht als eigene soziale Ordnung funktioniert und Sterben zum Gegenstand macht. Die nachträglichen Überlegungen gehen auf einen von mir beobachteten bzw. hospitierten Unterricht im Rahmen schulpraktischer Studien an der TU Dresden im Jahr 2019 zurück.2 Gegenstand sind zum einen eine Unterrichtsreihe (8 h à 45 Min.) zum Thema „Pflege in der Endphase des Lebens“, die von drei
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In der Pflegelehrer/-innenausbildung an der TU Dresden finden parallel zum Studium der Fachwissenschaften und der beruflichen Didaktiken wiederholt Schulpraktika statt, in denen sowohl die theoretischen Modelle der Didaktik als auch die fachwissenschaftlichen Bezüge ihre Anwendung finden. Bei den sogenannten schulpraktischen Übungen (SPÜ) handelt es sich zunächst um ein Format des Schulpraktikums, welches in der Regel im fünften Semester stattfindet und für den einzelnen Studierenden die Vorbereitung und Reflexion einer Unterrichtseinheit im Umfang von 90 Minuten beinhaltet. Nichtsdestotrotz sind die Studierenden angehalten, die Unterrichtsreihe gemeinsam zu planen.
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Studierenden im Rahmen hochschulischer Schulpraktika geplant, durchgeführt und von mir als universitärem Betreuer begleitet und hospitiert wurde, und zum anderen der Unterricht einer Studentin in diesen Zusammenhang (90 Min.) zum Thema „Symptombezogene Pflegemaßnahmen Sterbender“. In den Fokus gerät damit sowohl eine mesodidaktische Perspektive in Form schulcurricularer Setzungen bzw. Strukturen, welche die Grundlage der Unterrichtsplanungen der drei Studentinnen darstellten, als auch eine mikrodidaktische Perspektive in Gestalt der konkreten Pflegeunterrichtspraxis einer Studentin zum Thema „Pflegerische Maßnahmen bei Sterbenden“. Auf der eher mesodidaktischen Ebene werde ich anhand eines sogenannten Stoffverteilungsplanes speziell den didaktischen Reduktionen, Entscheidungen und Eingrenzungen nachspüren, die bereits auf Ebene der Ordnungsmittel dem Pflegeunterricht im Themenkomplex Sterben vermutlich präformieren.3 In der eher mikrodidaktischen Perspektive wird im Anschluss daran der konkrete Unterricht einer Studentin zum Thema „Pflege bei Sterbenden“ beleuchtet. Es wird dabei diskutiert, wie didaktisch-methodische Planungen und auch der Einsatz von Medien im Unterricht bestimmte soziale Erfahrungsräume ermöglichen oder auch verunmöglichen. Unbestreitbar ist dabei, dass meine empirische Annährung auf Basis meiner protokollierten Erinnerungen als Hochschullehrer wie auch Hospitierender sowie anhand der Dokumente aus dem Praktikumsbericht nicht mehr als eine bruchstückhafte Bezugnahme darstellt und damit keineswegs ethnomethodologischen Kriterien der Protokollierung genügt (vgl. Breidenstein et al. 2020: 85 ff.). Dennoch ermöglicht aus meiner Sicht eine derartig niederschwellige empirische Beschreibung zumindest einen Problemaufriss, der die erfahrenen sozialen Praktiken der Pflegeschule anders zu Geltung bringt als ein Zugang über bestehende erziehungswissenschaftliche und pflegedidaktische Theoriebestände. 1.1 Ebene Schulcurricula – Auszug Stoffverteilungsplan „Pflege in der Endphase des Lebens“ Wie es bei den universitären Schulpraktika zumeist üblich ist, stellt das Curriculum bzw. der sogenannte Stoffverteilungsplan der schulischen Mentorin den
3
Auch die im Kontext der Pflegeschule verwendeten umgangssprachlichen Begriffe des „Stoffverteilungsplanes“ oder auch des „Ordnungsmittels“ entfalten in diesem Kontext einen eigenen Sinn, verdeutlichen sie auch in pflegepädagogischen Kontexten eine übergeordnete strukturierende Dimension, die bereits das Geschehen des Pflegeunterrichts vage präformiert, wenngleich auch hier nicht von einer Determination auszugehen ist.
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schulorganisatorischen Rahmen. Wie in der nachfolgenden Abbildung zu sehen ist, wird in Tabellenform dabei die Stundenverteilung der theoretischen und praktischen Inhalte im größeren Maßstab geplant (jeweils Blöcke im Umfang von 5 h) (siehe Abb. 1). Bereits hier ist die Unterscheidung von Theorie und Praxis interessant, sind mit praktisch vermeintlich komplexere Sozialformen wie Exkursionen und Kinobesuche gemeint, während mit theoretisch verstärkt die Begriffs- und Wissensvermittlung in den Blick kommt. Wie auch an anderer Stelle reflektiert, ist die Verwendung der Begriffe Theorie und Praxis in der Pflegschulpraxis oft unterkomplex und verstellt den Blick für Zwischenbereiche, wonach die Theorievermittlung praktisch und die Vermittlung der Pflegepraxis theoretisch ist (vgl. Ertl-Schmuck 2018: 15). Abbildung 1: Auszug aus dem Stoffverteilungsplan der Pflegeschule
Quelle: Curriculum/Stoffverteilungsplan einer Pflegeschule (Einwilligung vorhanden) Bildrechte: Jonas Hänel (eigene, leicht formal veränderte Darstellung)
Ein erster Blick auf die Tabelle und den theoretischen Themenkomplex „Der sterbende Patient“ zeigt, dass das in Pflegeschulen weitverbreitete Sterbephasenmodell nach Kübler-Ross unterrichtet werden soll, welches – wie es die Klammer suggeriert – aber auch von medizinischen Phasenmodellen ergänzt werden soll. Auch die angeregte Klärung von Begriffen wie Tod und Sterben sowie Palliativpflege und Pflege im Hospiz ist für mich wenig überraschend, ist in Pflegeschulen meiner Erfahrung nach ein Bedürfnis nach begrifflicher Definition vorzufinden. Angesicht des prominenten Bezugs zu Phasenmodellen des Sterbens (Kübler-Ross, Med.) und Begriffen (Tod, Sterben, Palliativpflege etc.) ist zu beobachten, dass bereits auf Ebene der Grobplanung des Pflegeunterrichts eine Textlichkeit der Bezugnahme wie auch eine klassifizierende Logik dominant wird. Eine Annäherung an das individuelle Sterben als Praxis – wie es auch die Überschrift „Der sterbende Patient“ suggeriert – erfolgt paradoxerweise über
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verallgemeinerte Phasenmodelle (Kübler-Ross, medizinische Modelle des Sterbens) und Allgemeinbegriffe (Tod, Sterben etc.). Medien- und zeichentheoretisch betrachtet ist es zwar der Gewinn, von Text- bzw. Schriftzeichen einen Bezug zum Sterben in der Klinik oder auch im Pflegeheim einnehmen zu können, also am Ort der Pflegeschule über das Sterben reflektieren zu können, doch fraglich ist, ob es über eine allgemeine und abstrakte Bezugnahme anhand von Modellen und Begriffen gelingt, das individuelle Leid des Sterbenden (wie es auch die Überschrift beansprucht) im Pflegeunterricht thematisch werden zu lassen. Auch der zweite veranschlagte theoretische Themenkomplex mit dem Titel „Begleitung Sterbender“ legt eher eine klassifizierende Logik nahe, insofern angeregt wird anhand des Kinofilms Halt auf freier Strecke (Dresen 2011) Sterbephasen und vermutlich Begleitungsformen zu identifizieren. Auch der didaktisch geplante Inhalt mit dem Titel „Körperliche Symptome als Zeichen des nahen Todes“ stellt den Fokus auf pathologische Klassifizierungsformen der sogenannten Todeszeichen. Auch die Punkte „Symptombezogene Pflegemaßnamen Sterbender“ und „Veränderungen der Sinneswahrnehmungen“ legen – wenngleich sie weiterer didaktischer Aufarbeitung bedürfen – vorrangig begriffs- und wissensbasierte Vermittlungsformen nahe. Ein erster Blick auf die didaktische Grobplanung der theoretischen Inhalte bringt, so betrachtet, eine Dominanz einer generalisierten und objektivierenden Klassifizierungslogik in den Blick, wobei Problemkomplexe, die sich bei der Begleitung Sterbender im pflegerischen Tun handlungspraktisch ergeben, zunächst eher aus dem Blick geraten. Die mesodidaktische Übersetzung des Sterbens in Form dieses pflegeschulischen Stoffverteilungsplanes geht zuvorderst auch mit einer Reduktion von Komplexität einher in Form einer verallgemeinerbaren und generalisierten Perspektive. Das individuelle Leid oder Erlebensformen des Sterbeprozesses werden über die Praxis der didaktischen Planung in den Hintergrund gedrängt. Zugleich und auf einen zweiten Blick finden sich in der didaktischen Grobplanung in der Spalte „Dazugehörige praktische Inhalte“ geradezu komplementierend auch komplexere Reflexions- und Vermittlungsformen des Pflegeunterrichts wieder, wie eine Exkursion auf die Palliativstation und das Seelsorgezentrum oder auch ein Kinobesuch des Films Halt auf freier Strecke. Anders als die Vermittlung von Modellen oder Begriffsdefinitionen zielen diese Lehr-Lernformate eher auf subjektive Erfahrungen und die Reflexion der Erfahrungen ab. Wie es scheint, komplementieren diese erfahrungsbezogenen Lernformate die oben beschriebene didaktische Verengung auf ein Begriffslernen und die Anwendung allgemeiner Klassifikationssysteme.
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Hier ergeben sich etliche Fragen: Sind sich die Pflegelehrer/-innen dieser Verengung auf Begriffe und Klassifikationen bewusst? Setzen die Pflegelehrer/-innen diese Formate tatsächlich komplementierend ein oder stellen sie nur lose Ergänzungen dar? Genauso fragt sich, ob diese Anteile eher als nebensächlich angesehen werden und als Nice to have eher verdrängt werden. Wie oft wird die Exkursion tatsächlich durchgeführt? Werden diese Lehr-Lernformen lediglich als Zusatz betrachtet? Sicher lässt sich diesbezüglich keine verallgemeinerbare Aussage treffen. Was aber im Kontext der schulpraktischen Übungen bei den Studentinnen beobachtet werden konnte, war, dass diese komplexeren und voraussetzungsreichen Formen der Auseinandersetzung (Exkursion/Kinobesuch) nicht in Erwägung gezogen wurden – wenngleich der Stundenumfang des Praktikums es ermöglicht hätte. Die Gruppe der Studentinnen entschied sich für die didaktische Feinplanung und unterrichtspraktische Vermittlung der theoretischen Inhalte. Worin die Gründe für diese Präferenz der Vermittlung von Begriffen und Modellen liegt, kann freilich nur spekuliert werden. Sicherlich spielt aber die institutionelle Ausgestaltung der universitären Schulpraktika (SPÜ) eine Rolle, insofern die Studentinnen je 90 Minuten Unterricht absolvieren müssen. Bei offeneren Lern- und Reflexionsformen wie Exkursionen oder Kinobesuchen verschwimmen hingegen die Zeitintervalle, wodurch eine klare Zuordnung von Unterrichtseinheiten schwerer möglich ist. Genauso mag es unausgesprochene Erwartungen der Studentinnen gegeben haben, zunächst den konventionellen bzw. „echten“ Pflegeunterricht zu erlernen. Wie man die vage angeführten Sachverhalte auch bewerten mag: Die hochschulischen Schulpraktika erscheinen ebenso als eine eigene soziale Ordnung, bei der Erwartungen seitens Hochschule, Pflegeschule wie auch seitens der Studierenden praktisch wirksam werden. Wie in Ansätzen zu sehen war, tangieren bzw. präformieren diese sozialen Abstimmungsprozesse die Vermittlung des Gegenstands Sterben. Die praktische Folge dieser angedeuteten Verquickungen war, dass die drei Studentinnen zu Beginn des Schulpraktikums aus dem vorgegebenen Stoffverteilungsplan vier Themenblöcke im Umfang von 8 Unterrichtsstunden auswählten, die – wie ausgeführt – eher einer Logik der Klassifikation folgten. Die weiter didaktisch ausgearbeiteten Stunden waren schließlich betitelt: 1. Einführung mit den Begriffen Leben – Sterben – Tod (Studentin A), 2. Sterbephasen nach Kübler-Ross (Studentin B), 3. Palliativpflege und Symptombezogene Pflegemaßnahmen Sterbender (Studentin C), 4. Gesellschaftliche Aspekte und Trauerphasen (Studentin A, B). Wie am zurückliegenden Beispiel in Ansätzen diskutiert wurde, präformieren scheinbar auch mesodidaktische Planungen die Unterrichtspraxis, wobei abstrakte und objektivierende Thematisierungsformen des Sterbens Dominanz erlangen können und offenere bzw. erfahrungsbezogenere
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Formen Gefahr laufen, eher als nachrangig abgestempelt zu werden. Ein ähnliches Problem konnte auch bei dem geplanten und durchgeführten Unterricht von Studentin B mit dem Thema „Symptombezogene Pflegemaßnahmen Sterbender“ beobachtet werden. 1.2 Ebene Pflegeunterricht – Symptombezogene Pflegemaßnahmen Sterbender Im nachträglichen Bericht der Studentinnengruppe zu den schulpraktischen Übungen findet sich eine didaktische Auswahl, welche Symptome aufzählt und auswählt, die für das Sterben und die Pflege Sterbender angenommen und erwartet werden. Auffällig ist hierbei, dass es sich – wie es der Begriff des Symptoms schon angekündigt – um speziell medizinische Fachausdrücke handelt. Dies verwundert wenig, wenn man betrachtet, dass zur Begründung dieser Auswahl vor allem Veröffentlichungen medizinischer Fachgesellschaften und nur vereinzelt pflegewissenschaftliche Bezüge vorzufinden sind.4 Die Studentinnen konstatieren im Bericht zum Schulpraktikum wie folgt: „Die Pflegephänomene, welche es in der Palliativen Pflege besonders zu beachten gilt, sind: Schmerz, Dyspnoe, Fatigue, Obstipation, Mundpflege (Mundtrockenheit, -geruch, Borken und Belege, Entzündungen, Lippenpflege bzgl. Rhagaden), Nausea/Emesis, Pruritus, Inappetenz, Unruhe und Angst.“ (Studentin A-C, S. 21)
Bei der durchaus begründeten Auswahl der Begriffe und Wissensbestände fällt zum einen auf, dass vorrangig körperliche Problemzusammenhänge wie Dyspnoe, Obstipation und Emesis etc. benannt werden. Eher psychologische und emotionale Probleme des Pflegerischen wie Unruhe und Angst erscheinen in dieser Aufzäh-
4
So werden die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V. (2019) und deren „Pflegeleitlinien“ angeführt wie auch die Leitlinie der Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung, die von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) sowie der Deutschen Krebshilfe (DKH) (2018) veröffentlicht wurde. Daneben finden sich aber auch wissenschaftliche Lehrbücher zum Thema Palliative Care (vgl. Kränzle et al. 2018) wie auch eine veröffentlichte Bachelorarbeit der HAW Hamburg (vgl. Folke 2018). Wie es diese unterschiedlichen Quellen verdeutlichen, gilt es speziell in der Pflegedidaktik zukünftig genauer zu eruieren, welche Wissensbestände und welcher Abstraktionsgrad des Wissens im Pflegeunterricht etabliert werden sollten.
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lung eher als randständig. Umgekehrt fragt es sich, warum nicht auch psychologische Phänomene wie Aggression oder Depression eingebunden sind. Betrachtet man dazu die Forschung von Saake et al. (2019) zum Professionsverständnis der Pflege bei der Begleitung von Sterbenden, so ist dieser Befund wiederum wenig verwunderlich. Wie die besagten Autor/-innen konstatieren, richtet die Pflegeprofession – entgegen der häufig getätigten Selbstzuschreibungen einer ganzheitlichen Pflege – ihren Blick vor allem auf die „Gegenwart von versorgungsbedürftigen Körpern“ (ebd.: 43). Interessanterweise wurden auch emotionale Zustände wie Unruhe und Angst bei der Planung der Unterrichtsstunde von der Studentin separiert betrachtet und in Abgrenzung zu den vermeintlich mehr körperbezogenen Themen wie Schmerz, Dyspnoe, Inappetenz, Fatigue, Obstipation, Übelkeit/Erbrechen und Mundpflege geplant. Die vermehrte Fokussierung des Pflegeunterrichts auf körperliche Probleme bringt zudem die Frage in dem Vordergrund, wie die Körperarbeit, welche dem Soziologen Dreßke (2005) zufolge die Pflege Sterbender im Kern auszeichnet, im Pflegeunterricht didaktisch-methodisch vermittelt wurde. Die besagte Studentin plante für dieses Unterrichtsthema eine Erarbeitung in Kleingruppen (2-3 Personen). Dazu erstellte sie Arbeitsaufträge für die einzelnen körperbezogenen Pflegeprobleme (Schmerz, Dyspnoe, Inappetenz etc.), die wie folgt strukturiert waren (Abb. 2). Abbildung 2: Exemplarischer Arbeitsauftrag zur Pflege Sterbender (Oberbegriff „Dyspnoe“)
Quelle: Auszug eines Arbeitsblattes von Studentin C (Einwilligung vorhanden) Bildrechte: Jonas Hänel (eigene, leicht formal veränderte Darstellung)
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Wie es ein erster Blick auf den Arbeitsauftrag der Studentin deutlich macht, intendierte sie dabei im Speziellen einen Erfahrungsbezug der Schüler/-innen bei der Bearbeitung der Aufgaben, insofern sie diese explizit dazu aufforderte, die Aufgaben mithilfe von ihren eigenen Erfahrungen aus der Praxis zu lösen. Zugleich teilte die Studentin zeitgleich zu den Arbeitsaufträgen auch Informationstexte aus, die Textbestandteile aus Lehrbüchern zum Thema der Pflege Sterbender beinhalteten. In der Verschränkung von persönlichen Erfahrungen und kompaktem Wissen aus Lehrbüchern plante die Studentin entsprechend ihrer Arbeitsaufträge, dass Ursachen für das jeweilige (medizinische/pflegerische) Symptom benannt, entsprechende Pflegemaßnahmen notiert und zu guter Letzt – wie es auch hochschulische Erwartungen zum Ausdruck bringen – institutionelle Widersprüche diskutiert werden sollten. Abschließend sollten die auf den speziellen Arbeitsblättern vorstrukturierten Überlegungen im Klassenraum präsentiert werden. Dabei konnte bei der Bearbeitung und Präsentation im Unterricht beobachtet werden, dass die Schüler/-innen sich fast ausschließlich auf die Informationstexte aus den Lehrbüchern fokussierten und so die Beschreibung eigener praktischer Erfahrungen im Umgang mit Sterbenden (bspw. Dyspnoe, Schmerz etc.) ins Hintertreffen gerieten. Studentin C reflektiert diesen Umstand im Bericht zum Praktikum wie folgt: „In der Präsentationsphase zeigte sich dann, dass die Informationstexte als bevorzugte Quelle zur Lösung der Aufgaben und nicht die eigenen Erfahrungen dienten. Dadurch wurde meine Absicht, die Anwendung eigener Erfahrung der Lernenden und anschließender Reflexion dieser nicht entsprochen.“ (Studentin C, S. 36) In den Präsentationen der Kleingruppen im Pflegeunterricht wurde schließlich die Terminologie der Lehrbücher in Form von Begriffen und Stichworten vorgetragen und eigene erfahrungsbasierte und problemhaltige Beschreibungen der Schüler/-innen im Zusammenhang mit der Pflege Sterbender kamen nicht bzw. kaum zur Geltung. Es wurde vielmehr eine abstrakte und allgemeine Logik des Lehrbuches reproduziert, in dem für Probleme im Zusammenhang der Pflege Sterbender wie etwa Dyspnoe passende Lösungen relativ mühelos zugeordnet wurden. Es ließen sich nun verschiedene (pflege-)didaktische Gründe anführen, warum die geplante Unterrichtssequenz in dieser Form verlief, entscheidend für unseren Zusammenhang ist aber vielmehr, dass in der sozialen Ordnung des Pflegeunterrichts scheinbar erfahrene und erlebte Probleme bei der Pflege Sterbender Gefahr laufen, unzureichend zur Geltung zu kommen. Bei mir als Beobachter des Pflegeunterrichts entstand das Bild, dass die Pflege Sterbender in die-
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ser Form reibungs- und störungsfrei abläuft, da jegliche Problemhaltigkeit der Zusammenhänge scheinbar systematisch getilgt wurde. So gesehen ging scheinbar der Wunsch bezüglich des ersten zu haltenden Unterrichts, dass dieser möglichst störungsfrei ablaufen solle, auf das Thema über. Vor allem auch die Schwachheit und Verwundbarkeit der Sterbenden wurde dabei aus dem Blick gebracht, insofern verallgemeinernd und generalisierend pflegerische Maßnahmen für ein vermeintliches Einheitssubjekt benannt wurden. Jegliche Unsicherheit im pflegerischen Kontakt mit Sterbenden wurde, so gesehen, negiert. Pflegerische Maßnahmen in Bezug auf das Sterben wurden, so betrachtet, ohne Bezug zur Lebenswelt und zum Ich gelehrt. Eine Haltung des Ich pflege an etwas wurde vermittelt, wobei auch die situativ-performative Facette des Pflegehandelns gemeinsam mit dem Sterbenden eher verdrängt wurde. Damit an dieser Stelle keine Missverständnisse entstehen: Ich möchte damit keineswegs die Studentin anklagen, vielmehr glaube ich, dass der Pflegeunterricht im Besonderen mit dem Problem konfrontiert ist, dem individuellen Leid der Betroffenen und speziell die Verletzlichkeit des sterbenden Individuums adäquat zu begegnen. Wie sich am Beispiel des beobachteten Unterrichts im Themenkomplex Sterben problematisieren lässt, sparen (pflege-)didaktische Bezugnahmen, Verallgemeinerungen und Reduktionen unter Umständen oft den schwachen Körper wie auch die lebensmüde Person aus. Die Folge ist aus meiner Sicht die Gefahr, dass wesentliche Problemstellungen bei der Pflege Sterbenskranker verdrängt werden. Beispielsweise: Wie kann ein schwacher, ausgemergelter Körper überhaupt berührt oder bewegt werden? Wie berühre ich die Haut eines Sterbenden, wenn diese pergamentartig verändert ist? Wie spreche ich mit einen Sterbenden, wenn er nicht sprechen möchte oder kann? Etc., etc. Diese Fragen spielen aus meiner Perspektive auch auf eine ästhetische bzw. wahrnehmungsbezogene Dimension des Pflegens an, die bedroht ist, im Pflegeunterricht und seiner sozialen Ordnung bzw. Darstellungspraxis verdrängt zu werden (vgl. Hoops 2013: 239, 250). Denn didaktische Methoden und Sozialformen wie auch medientechnische Darstellungen implizieren unter Umständen Komplexitätsreduktionen und Verallgemeinerungen, die speziell auch das individuelle Leid des Betroffenen ausschließen können. Wie ich mit dem ausschnitthaften Beispielen auf der Ebene des Schulcurriculums (Kap. 1.1) wie auch der Unterrichtspraxis (Kap. 1.2) verdeutlichen wollte, beinhaltet auch die didaktische Aufbereitung und unterrichtspraktische Darstellung des Themas „Pflege bei Sterbenden“ die Gefahr, dass wesentliche Qualitäten nicht zur Geltung kommen. Insofern fragt es sich, welche Erfahrungs- und Reflexionsräume in Pflegeunterricht nötig sind, um speziell auch die individuelle Verletzlichkeit des Sterbenden zur Geltung zu bringen. Wie mitunter auch Butler (2010) aufzeigt, muss Ver-
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letzbarkeit anerkannt werden; es bedarf bestimmter Praktiken der Anerkennung, die auch die Verletzbarkeit selbst konstituieren (vgl. Stöhr et al. 2019: 225).5 Vor diesen Hintergründen fragt sich: Wie kann es gelingen, die Vulnerabilität Sterbender im Pflegeunterricht reflexiv werden zu lassen? Wie im zurückliegenden Teil zu sehen war, beinhaltet sowohl die Dominanz einer klassifizierenden und generalisierenden Logik der Definition, des Modells und des Begriffs auf mesodidaktischer Ebene, wie auch die Verdrängung von Erfahrungsbezügen auf mikrodidaktischer Ebene die Gefahr, dass speziell die Verletzlichkeit und Problemhaltigkeit palliativer Pflege aus dem Blick gerät. Bevor Anregungen in dieser Frage diskutiert werden, möchte ich zunächst plausibilisieren, warum das übergreifende Konzept der Vulnerabilität stärker im Kontext des Pflegeunterrichtes im Zusammenhang des Themas „Sterben“ Beachtung finden müsste.
TEIL 2 DIE VULNERABILITÄT STERBENDER ALS REFLEXIONSANLASS IM PFLEGEUNTERRICHT Im Zuge der Corona-Pandemie ist die Vulnerabilität des Menschen verstärkt in den Vordergrund gerückt (vgl. Müller 2022), da sie ihm insbesondere seine situative und inhärente Verletzbarkeit vor Augen geführt hat (vgl. Schmidbauer 2020: 273). Selbstverständlichkeiten des Alltags vor der Krise brachen plötzlich weg und legten die menschliche Vulnerabilität in diversen Facetten offen. Daneben ist der Begriff der Vulnerabilität aber auch in den letzten Jahren als neuer Zentralbegriff unterschiedlicher Disziplinen zu bemerken (vgl. Keul 2021). Weiterhin – und das ist wenig verwunderlich – wird im Besonderen im Zusammenhang mit dem Sterben eine Verletzlichkeit des Menschen betont (vgl. Springhardt 2015). Für die berufliche Ausbildung personenbezogener Dienstleistungsberufe wie jenen der Pflege sind meines Erachtens damit besondere Herausforderungen verbunden, gilt es die Vulnerabilität Sterbender im Unterricht systematisch zu verankern. Wie ich in diesem Kontext nachfolgend problematisieren
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Wie Butlers (2010) Reflexionen zur Verletzlichkeit zeigen, bedarf diese einer Wahrnehmung und Anerkennung. Denn es wird nicht jede Verletzlichkeit anerkannt, sondern sie kann auch sozial und politisch für irrelevant erklärt werden. Anders als Honneth in seinen Werken zur Anerkennung, welche begrifflich an einen intrinsischen Wert des Individuums geknüpft sind, verweist Butler (2010: 61) vielmehr darauf, dass Anerkennungen sozial konstruiert sind bzw. sozial festgelegten Kriterien der Anerkennung folgen.
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möchte, werden andere bzw. erweiterte Reflexions- und Vermittlungsformen notwendig, um der Verletzlichkeit der Sterbenden im Pflegeunterricht Anerkennung zu schenken. 2.1 Das Konzept der Vulnerabilität als interdisziplinärer Schlüsselbegriff Der Begriff der Vulnerabilität hat sich in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum als neuer Schlüsselbegriff interdisziplinärer Forschung etabliert (vgl. Keul 2021). Davon zeugen Monografien und Aufsatzbände, welche das Konzept der Vulnerabilität aus philosophischer, pädagogischer oder auch theologischer Sicht beleuchten (vgl. Stöhr et al. 2019; Keul 2021; Springhardt 2015). Auch die wachsende Zahl an Bewilligungen von DFG-Projekten, die den Begriff der Vulnerabilität in ihrem Thema integrieren, zeugen von einer gesteigerten Aufmerksamkeit bezüglich des Themas.6 Das neuere Interesse an Vulnerabilität als anthropologischem Leitbegriff ist dabei verbunden mit dem in den Lebenswissenschaften sich vollziehenden Paradigmenwechsel von einem an Autonomie und Willensfreiheit orientierten Denken hin zur stärkeren Wahrnehmung der Körperlichkeit und sozialer Dependenz des Menschen. Dabei wurde bereits im Kontext der Psychoanalyse Freuds (2009) und in seinen Betrachtungen zum Unbewussten, zu den körperbezogenen Trieben und den Dynamiken der Psyche nicht mehr das selbstbestimmte und idealisierte Subjekt der Aufklärung zentral, sondern ein vulnerables, anfälliges und dünnhäutiges Subjekt.7 Genauso spiegeln subjektphilosophische Überlegungen im 20. Jahrhundert, wie beispielsweise bei Lévinas (1992) zum Antlitz des Anderen oder bei Butler (2010) zum fragilen Subjekt, ein gewachsenes Interesse an der konstitutiven Verletzbarkeit des Menschen wieder. Kurzum, im 20. Jahrhundert lässt sich ein neues Verständnis des Subjekts ausmachen und eine andere Anthropologie, in der der Mensch als vulnerables Subjekt in das Zentrum des Dramas der eigenen Geschichte rückt (vgl. Stöhr et al. 2019: 4).
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Quelle: https://xn--vulnerabilittsdiskurs-h2b.de/vulnerabilitaetsdiskurs, (Abruf: 07.03. 2022).
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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff der Vulnerabilität zunächst zur Beschreibung von Schizophrenieverläufen bzw. -dispositionen verwendet wurde. Der Psychiater Ciompi (1982) entwickelte ein Vulnerabilitäts-Stress-Modell, um die dynamische Verbindung von individueller Neigung und Umwelteinflüssen bzw. Stress in diesem Zusammenhang genauer darzustellen.
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Dabei ist der Begriff der Vulnerabilität von Zwiespältigkeit und Paradoxien geprägt: Vulnerabilität beschreibt sowohl die für menschliches Zusammenleben notwendige Offenheit und Risikobereitschaft gegenüber möglichen Verletzungen als auch die Gefährdung des Menschen. Sie ist sowohl Ressource als auch Risiko des Menschen und beschreibt eine wesentliche Dimension dessen, was den Menschen zum Menschen macht (vgl. Springhardt 2015). Illhardt (2008: 104) betont, dass die „Verwundbarkeit des Subjekts das Wesen des Menschen ebenso charakterisiert wie die Autonomie, also gleichsam eine ausgeblendete Seite der Autonomie ist“. Folglich ist auch eine externe Zuweisung von Verletzlichkeit nicht unproblematisch, kann diese auch Entmündigung oder Einschränkung von Autonomie und Selbstbestimmung bedeuten. Zudem ist Vulnerabilität per se ein prozessual ausgerichteter Begriff, insofern er zukunftsoffen ist. Wunden und Verletzungen können heilen oder zerstören. Sie hinterlassen Narben und können sozial bedingt sein und sozial wirksam werden. Zugleich weisen speziell auch Adornos (2013) Überlegungen zu einem beschädigten und narzisstisch gekränkten Subjekt in die Richtung, dass die zunehmende Selbststilisierung der Verletzlichkeit, die Ideen von individueller Autonomie, Freiheit und Gleichheit in eine hohle Ideologie verkehren. Adorno (2013: 293) spricht auch von einer „Schwäche, die sich womöglich als Stärke verkennt.“ Verletzte und gekränkte Personen neigen ihm zufolge stärker dazu, einen Anschluss an ein ebenso gekränktes Kollektiv zu suchen, was sich zudem dadurch auszeichnet, empfänglich für irrationale Mythen und Feindbilder zu sein. Die sozialpsychologischen und -philosophischen Implikationen des Konzepts der Vulnerabilität sind entsprechend weitreichend und können an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Dennoch wurde anhand der kursorischen Darlegung unterschiedlicher Bedeutungshöfe des Begriffs in Ansätzen ersichtlich, dass die neuere Thematisierung der Verletzlichkeit des Menschen mit dem inhärenten Problem konfrontiert ist, dass es eine Vielfalt an Dingen, institutionellen Strukturen oder Entwicklungen gibt, die verletzend wirken können (vgl. Stöhr et al. 2019: 8). Verletzlichkeit gibt es nicht an sich, sondern immer nur in sozialen, kulturellen, körperlichen, psychischen etc. Relationen, weshalb es gilt, sich einem spezifischen Raum der Verletzlichkeit zuzuwenden (vgl. ebd.: 8). Vulnerabilität wird in einer konkreten Ausformung und Ausprägung hergestellt, wobei nicht nur materielle Gegebenheiten, sondern auch symbolische und sprachliche Ordnungen für Verletzungen verantwortlich sein können. „Kurz: Vulnerabilität ist eine Frage, die nie aufhört sich zu stellen.“ (Vgl. ebd.) Speziell im Kontext unserer Betrachtungen stellt sich die Frage, wie auch soziale Ordnungen Verwundungen unterschiedlicher Genese und Wirkung herstellen, aber auch bearbeiten können. Soziale Einrichtungen der Pädagogik sowie
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des Gesundheitswesens sind beständig mit Vulnerabilitäten konfrontiert, die sie einerseits bearbeiten, aber andererseits vermutlich selbst evozieren. In diesem Zusammenhang wird die Frage prominent, wie besonders soziale Ordnungen des Sterbens, also gesellschaftliche Institutionalisierungsformen des Sterbens, Verletzlichkeiten begegnen, aber auch herstellen können. Die Beiträge in diesem Band, wie auch speziell die Befunde von Salis Gross (2005) zum ansteckenden Tod, deuten in diese Richtung.8 Verwundungen und Leid betreffen dabei im sozialen Kontext des Sterbens nicht nur die Betroffenen selbst, sondern im Besonderen auch Berufsgruppen wie Pflegende, die sich ebenso verwundbar machen. Umgekehrt sichert man sich gegebenenfalls auch selbst gegen Verwundungen ab, indem man andere der Verwundung aussetzt. Ohne diese vielfältigen Fragen an dieser Stelle weiterführend aufzugreifen, möchte ich nachfolgend zunächst weiter kenntlich machen, dass das Sterben als Prozess des Lebens zu verstehen ist, der im höchsten Maße eine Verwundbarkeit des Menschen zum Ausdruck bringt. 2.2 Vulnerabilität und Sterben Im Prozess des Sterbens scheinen jegliche Machbarkeitsillusionen, wie sie im Kontext der prominent gewordenen salutogenetischen Begriffe der Gesundheitsförderung oder der Gesundheitskompetenz etc. auftauchen, zu verblassen. Das im Kontext von Medizin und Gesundheitswissenschaft etablierte Begriffspaar Vulnerabilität und Resilienz – was auch auf die Verbindung zu Wunden und deren Heilung anspielt – greift im Prozess des Sterbens, setzt man eine endliche Todesvorstellung voraus, nur noch bedingt. Eine sterbende Person stellt, so betrachtet, die Verletzlichkeit des Menschen in aller Deutlichkeit aus. Als intensiver Prozess im Leben ist Sterben verbunden mit schmerzhaften Abschieden und mit der Erfahrung prinzipieller Vulnerabilität: „Sterben lässt sich verstehen als Prozess der sich konkretisierenden und realisierenden Vulnerabilität im Sinne der Möglichkeit, des Bewusstseins und der Konkretion der Verwundbarkeit“ (Springhardt 2015: 116, Herv. im. Orig.).
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Salis Gross (2005) zeigt in ihrer ethnografischen Studie zum Doing Death im Pflegeheim, dass etwa Tötungsfantasien von Pflegenden, die Annahme den Tod vermeintlich verschuldet oder beschleunigt zu haben, Ausdruck eines belastenden Erlebens des Sterbens sind. Auch die Vorstellung, den Patienten nicht zu einem „guten“ Tod verholfen zu haben, führt unter Umständen zu einem Scham-Schuld-Dilemma, was auf psychische Verwundungen der Pflegenden hindeutet.
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Wie die Theologin Springhardt (2015) zeigt, ist mit Blick auf das Sterben insbesondere der gebrochene, verfallende und verletzte Körper von Relevanz, weil an ihm die Infragestellung des Lebens deutlich wird. Vulnerabilität im Sterbeprozess ist aber mehrdimensional: „Als konstitutiv leiblicher Prozess des körperlichen Verfalls bedeutet Sterben zunächst eine körperlich fordernde, schmerzliche Phase, die einerseits mit abnehmenden Gestaltungsmöglichkeiten und mit einer zunehmenden Reduktion der räumlichen Bewegungsfreiheit einhergeht (somatische Vulnerabilität), andererseits aber auch häufig mit zunehmendem Kontrollverlust, der dem Autonomiestreben diametral entgegengesetzt ist (psychische Vulnerabilität). Damit geht systemisch ein erhöhtes Maß an Abhängigkeit von anderen einher, das nicht nur die Vulnerabilität steigert, sondern auch die soziale Interdependenz (systemische Vulnerabilität).“ (Springhardt 2015: 220) Auch der Soziologe Dreßke (2005) hat in seiner ethnografischen Studie zum Sterben im Hospiz die Vielschichtigkeit der Verwundbarkeit im Sterbeprozess herausgearbeitet. Der verletzliche Körper des Sterbenden ist immer auch mit einem Identitäts- und Autonomieverlust verbunden: „Der defizitäre Körper drängt sich derart in den Vordergrund, dass von seiner Präsentationsfähigkeit für das bürgerliche Selbst kaum noch was übrigbleibt.“ (Ebd.: 92) Dies mündet über kurz oder lang in soziale Abhängigkeiten, die unter Umständen wiederum eigene Verwundungen bereithalten können. Auch Institutionen der Sterbebegleitung, wie etwa das Hospiz, und ihre sozialen Ordnungen halten scheinbar eigene Verwundungen bereit, etwa, wenn Sterbende der Sozialisationsleistung der Einrichtung widerstreiten (vgl. ebd.: 106). Umgekehrt laufen auch bestimmte Berufsgruppen wie Pflegende – wie oben bereits angeklungen – Gefahr, eigene psychische Verwundungen zu erfahren, zumal sie angesichts der Vulnerabilität des Sterbenden auch mit der eigenen Verletzlichkeit konfrontiert sind. Es fragt sich, wie diese Problemzusammenhänge im Kontext des Sterbens auch im Pflegeunterricht bearbeitet bzw. reflexiv werden können. 2.3 Vulnerabilitätsdiskurse und Pflegedidaktik In der Pflegedidaktik, also der Disziplin, die sich mit Lern- und Bildungsprozessen im Kontext des Pflegeberufs beschäftigt, ist der Begriff der Vulnerabilität bisher nicht direkt expliziert worden; wenngleich es viele indirekte Bezüge gibt. Denn Vulnerabilität lässt sich als zentraler Ausgangs- und Bezugspunkt einer professionellen Pflegepraxis betrachten (vgl. Schrems 2020), die, als Beziehungs- und Arbeitsbündnis zwischen Pflegenden und zu Pflegenden, durch eine asymmetrische, Nähe und Distanz ausbalancierende Zugangsweise geprägt ist
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(vgl. Friesacher 2015: 53). Die am Leibkörper ansetzende fürsorgende, pathische, anteilnehmende und edukative etc. Haltung der Pflegenden lässt sich als eine eigenständige Antwort auf die Konfrontation mit Leiden, Krankheit, Verlust, Trauer, Sterben und Tod verstehen (vgl. ebd.). Gerade weil der menschlichen Vulnerabilität im Handlungsfeld der Pflege eine so herausgehobene Bedeutung zukommt, ist professionelle Pflege als eine spezifische Antwort auf die menschliche Vulnerabilität zu verstehen (vgl. Sarvimäki/Stenbock-Hult 2016: 372). So wird die individuelle Leiderfahrung und die Schutzbedürftigkeit von Betroffenen als zentrales Charakteristikum pflegerischen Handelns starkgemacht, genauso wie angenommen wird, dass auch Pflegende in Mitleidenschaft gezogen werden können, also per se verletzlich sind (Hänel/von Gahlen-Hoops 2020: 61; Greb 2003). Pflegerisches Handeln ist unter Umständen mit Verwundungen auf beiden Seiten der Pflegebeziehung verbunden, womit ebenfalls (pflege-)didaktische Implikationen verbunden sind. Wie Schrems (2020: 133 ff.) aufzeigt, ist die Reflexion der fremden wie auch eigenen Vulnerabilität unter pflegedidaktischen Gesichtspunkten zentral. Auch Greb (2003) bringt die Spannung zum Ausdruck, dass empathisches und mimetisches Handeln immer auch Risiken birgt, selbst Verwundungen zu erfahren. Diesen Problemzusammenhang von notwendiger Offenheit und möglicher Verletzbarkeit, gilt es auch im Pflegeunterricht reflexiv werden zu lassen. Was impliziert nun diese ubiquitäre Vulnerabilität für die Gestaltung von Pflegeunterricht? Wie sieht eine vulnerabilitätssensible Pflegeausbildung aus? Wie kann Verletzlichkeit im Pflegeunterricht Anerkennung finden? Oder: Wie lässt sich ein vulnerabilitätssensibles Verhalten gegenüber Betroffenen, wie auch mir selbst anbahnen? Und: Welche spezifischen Schlüsse beinhaltet dies speziell für die Thematisierung der Pflege Sterbender? Die didaktischen Konsequenzen dieser Fragen sind in der Pflegedidaktik bisher eher randständig formuliert worden und finden sich nicht unter dem Schlüsselkonzept Vulnerabilität vereint. Dennoch finden sich bereits Anhaltspunkte: So lässt sich der Anspruch, den Betroffenen und sein individuelles Leiderleben im Pflegeunterricht zur Geltung zu bringen, als ein wesentliches pflegedidaktisches Problem der letzten Jahre beschreiben (Hänel/von Gahlen-Hoops 2020; Greb 2003). Weiterhin finden sich vereinzelt didaktische Vorschläge, wie die individuelle Erfahrung des Sterbeprozesses auch im Kontext des Pflegeunterrichts verstärkt Beachtung finden kann. Wie etwa Greb (2018: 130) in einer pflegedidaktischen Ausarbeitung zum Thema „Sterben“ aufzeigt, geht es in erster Linie auch darum, überzogene Erwartungen abzumildern und die Unsicherheit beim Beistand Sterbender und ihrer Angehörigen zum Gegenstand zu machen. Ihrer Ar-
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gumentation nach geht es daher in erster Linie darum, die Problemhaltigkeit des Unterfangens kenntlich zu machen, anstatt einfache Lösungen zu präsentieren (ebd.).9 Das für die Pflegedidaktik wesentliche Prinzip der Fallorientierung wird dabei zentral, gilt es die Betroffenen- und Angehörigenperspektive einzunehmen, um eigene pflegerische Außensichten zu reflektieren bzw. relativieren. Es ist der Versuch, sich dem fremden Erleben des Sterbeprozesses anzunähern, wenngleich dieser Anspruch sicherlich nicht in Gänze erfüllt werden kann. In diesem Zusammenhang geht es auch um die Irritation von generalisierenden oder verallgemeinerten abstrakten Darstellungsformen wie beispielsweise die Phasenverläufe von Kübler-Ross, die Greb (2018: 132) zufolge auch von den Auszubildenden als Mittel der Distanzierung genutzt werden. Wie sie in der pflegedidaktischen Reflexion des Themas „Sterben“ anhand des Einzelfalls Hella Dietz weiter zeigt, beobachtet etwa die Tochter des Sterbenden den Sterbeprozess ihres Vaters aus biografischer Kenntnis heraus, wodurch theoretische und verallgemeinerte Phasenverläufe (etwa Kübler-Ross) relativiert und hinterfragt werden können (vgl. ebd.: 133).10 Der öffentliche Fallbericht, wie der der Soziologin Hella Dietz, die ihren Vater im Sterbeprozess begleitet, bietet darüber hinaus auch erweiterte Einblicke in die Praxis des Doing Death der Pflegenden (vgl. ebd.: 123). Wie es die Ausarbeitungen von Greb (2018) verdeutlichen, können in diesem Zusammenhang auch andere Qualitäten bei der Pflege Sterbender thematisch werden, wie die Verletzlichkeit der Angehörigen, Betroffenen, aber auch Pflegenden. So lesen wir beispielsweise auch reflexive Darstellungen pflegepraktischer Maßnahmen der Tochter, die aber die Problemhaltigkeit des Zusammenhangs erhalten: „So steht in fast jeder Broschüre zu natürlichem Sterben, dass es von zentraler Bedeutung ist, den Mund des Sterbenden zu befeuchten oder auszuwaschen, weil eine leichte Dehy-
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So konstatiert Greb (2018: 130) in Bezug auf die aus ihrer Sicht überzogenen Zielformulierungen im Lernfeld, das „Auszubildende die Kompetenz besitzen, schwerkranke und sterbende Menschen sowie deren Bezugspersonen individuell und einfühlsam zu begleiten“, Folgendes: „Aber lässt sich das wirklich lernen? Werden Auszubildende schon dadurch befähigt, Sterbende individuell und einfühlsam zu begleiten, weil sie Altenpflege gelernt haben? Nur weil es zu ihren Aufgaben gehört, Patienten bis zu ihrem Tod zu pflegen? Oder sind sie im Umgang mit Sterbenden genauso unsicher wie jeder andere Mensch heute?“ (Ebd., Herv. im Orig.).
10 Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2016-06/sterbebegleitung-sterben-familie-palliativ medizin-eltern, (Abruf: 07.03.2022).
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drierung zwar Schmerzen lindert und der Sterbende auch nicht viel Wasser in seinem Körper braucht, unbedingt aber eine feuchte Mundhöhle; denn wenn der Mund austrocknet, werde das Sterben zur Qual. Dort steht jedoch auch, man solle den Sterbenden zu nichts zwingen – und mein Vater hat schon Mundabwischen oder Eingecremtwerden gehasst, darin blieb er sich auch in seinen letzten Tagen treu. Was tun?“ (Dietz 2016)
Die vermeintlich einfache pflegerische Maßnahme der Flüssigkeitszufuhr oder das Abwägen von Hydration und Dehydration erscheint angesichts des Sterbens wie auch der biografisch geprägten Präferenzen des Sterbenden als große Herausforderung. Die Qualität der erlebten Unbill und der Verletzlichkeit, die sich zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen des Vaters und dessen Tochter ansiedeln, wird hier ansatzweise reflexiv thematisierbar. Genauso werden in der Beschreibung von Dietz (2016) eine Unsicherheit und ein Ausweichverhalten der Pflegenden thematisiert, die auch die Verletzlichkeit in der Konfrontation mit Sterbenden in den Blick rücken: „Der Pflegedienst und die Haushaltshilfe wollten vom Sterben zunächst nichts wissen und erhofften sich Rettung durch Infusionen; der Hausarzt hatte bei seinem Besuch am Tag zuvor zwar keine Idee, wie sich der seit Wochen wiederkehrende Durchfall unter Kontrolle bringen ließe, befand aber, sein Zustand sei ‚noch nicht besorgniserregend‘.“ (Dietz 2016) Wie die kurzen Fallausschnitte es an dieser Stelle illustrieren sollen, erfordert die didaktische Thematisierung von Vulnerabilität im Kontext des Themenkomplexes „Sterben“ scheinbar dichtere und komplexere Beschreibungs- und Darstellungsformen als distanzierte und verallgemeinerte Abstraktionen in Lehrbüchern der Pflege etc. Nicht zuletzt, da Verletzlichkeit sich situativ sehr unterschiedlich äußert, bedarf es einzelfallbezogener Narrative, die eine diffizile Darstellung ermöglichen. Die Falldarstellungen bedürfen einer entsprechenden Komplexität, wie sie der journalistische Text der Soziologin Dietz (2016) ansatzweise aufweist. Die persönlichen Schilderungen und Beschreibungen ihrerseits weisen aus meiner Sicht ein hohes Sprachniveau und eine hohe Detailliertheit auf, was interessanterweise vermutlich auch mit ihrer Tätigkeit als Soziologin zusammenhängt. Die Anerkennung von Verletzlichkeit bedarf aus dieser Warte einer bestimmten Materialität des textlichen Falls, die aber nicht ohne Weiteres vorliegt. Hier ergeben sich viele Fragen: Existieren Kriterien, anhand derer eine Fallauswahl seitens der Pflegelehrer/-innen gestaltet werden kann? Konterkarieren strukturelle Voraussetzungen des Pflegeunterrichts auch die Auswahl komplexerer textbasierter Falldarstellungen? Ermöglichen auch nichttextliche Medien wie Bilder und Filme elaborierte Beschreibungen, welche die Verletzlichkeit Sterbender wie Pflegender erhalten?
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Wenngleich auch hier viele Fragen offenbleiben müssen, sprechen die zuletzt angeführten Aspekte für Komplexitätserhöhungen bei der Falldarstellung, gilt es spezifische Qualitäten des individuellen Erlebens im Kontext von Vulnerabilität und Sterben reflexiv werden zu lassen. Es geht also um eine Umkehrbewegung zu dem, was Foucault (1973: 31) in Die Geburt der Klinik konstatiert: „Wer eine Krankheit erkennen will, muss vom Individuum und seinen besonderen Qualitäten absehen.“ Das erweiterte Thematisierungs- und Darstellungsformen von Vulnerabilität im Kontext von Sterben vor allem auch Filme sein können, möchte ich abschließend diskutieren.
TEIL 3 ZUR VERLETZLICHKEIT STERBENDER IM PFLEGEUNTERRICHT – FILMISCHE INSZENIERUNGEN DES STERBENS Sterben und Tod finden sich vermehrt auch in kulturellen Produktionen wie Filmen wieder. Während wir im Realen immer weniger mit Sterben und Tod zu tun haben, scheint es, dass wir in Film und Fernsehen immer mehr damit konfrontiert werden. Wie speziell Sontag (2005) zeigt, basiert die westliche Kultur gerade auf einer Verleugnung des Todes, wobei paradoxerweise der Tod in den letzten Jahren verstärkt in Fotografien wie auch in Filmen anzutreffen ist. Filme wie beispielweise Das Meer in mir (Amenábar 2003), Million Dollar Baby (Eastwood 2004) oder Das Beste kommt zum Schluss (Reiner 2007) inszenieren das Sterben in ihrer eigenen, oft fiktionalen Weise.11 Die fiktionale Verfremdung ermöglicht dabei unter Umständen andere Darstellungsformen, die geläufige Narrative zu unterwandern vermögen, beinhaltet aber auch die Gefahr, dass Ideologien zum Sterben reproduziert werden. Folglich ist keineswegs anzunehmen, dass Filme, die das Sterben inszenieren, per se reflexive Bildungs- und Lernanlässe beinhalten. Vielmehr können sie auch gesellschaftliche Diskurse beispielsweise zum Thema „Sterbehilfe“ widerspiegeln und verzerren. Wie ich nachfolgend diskutieren möchte, können Spielfilme womöglich auch die Vulnerabilität Sterbender verschleiern, romantisieren oder ganz aus dem Blick bringen. Es kommt dabei auf das spezifische Filmmaterial und die konkrete filmästhetische Komposition an, inwieweit die Verletzlichkeit im Sterben zur Darstellung kommt, womit auch Auffassungen zum „rationalen“, „bewussten“ und „guten“
11 Einen gelungenen Überblick über die Vielzahl filmischer Inszenierungen über das Sterben und den Tod bietet Hörschelmann (2008).
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Sterben kritisch hinterfragt werden können. Im nachfolgenden Teil möchte ich daher zunächst auch auf Begrenzungen der filmischen Inszenierung des Sterbens eingehen, bevor die Möglichkeiten des Mediums Film diskutiert werden, die Vulnerabilität Sterbender und das Leiden ihrer Begleitpersonen reflexiv werden zu lassen. Am Beispiel des Films Halt auf freier Strecke von Andreas Dresen (2011) möchte ich danach beispielhaft zeigen, wie die Verwundbarkeit im Sterben filmisch inszeniert wird, und diskutieren, inwieweit diese Darstellungsform für den Pflegeunterricht Impulse bieten könnte, die Verletzlichkeit Sterbender anzuerkennen und thematisch werden zu lassen. 3.1 Sterben im Film Wie Hörschelmann (2008) mit Blick auf Inszenierungsformen des Sterbens in Filmen wie Emmas Glück (Taddicken 2006), Mein Leben ohne mich (Coixet 2003) oder Das Beste kommt zum Schluss (Reiner 2007) zeigt, handelt es sich um Filme, die das gelungene Leben bzw. Sterben zum Gegenstand haben. Erstens fordert die Darstellung der letzten Phase des Lebens laut Hörschelmann (2008: 3) das Publikum beharrlich auf, selbst ein erfülltes und aktives Leben nach der Maxime „Carpe diem!“ anzustreben und zu führen. Besagte Filme regen die Zuschauer zum Nachdenken über den Sinn des Lebens an und fordern ihn auf, jede Minute zu genießen, weil man bekanntlich nie weiß, was der nächste Tag bringt. Zweitens erscheinen auch die Protagonisten der besagten Filme – also die Sterbenden – als selbstbestimmte und autonome Vollstrecker ihrer Wünsche. Die Gewissheit des Sterbens erscheint insofern als Motor und Impuls, nochmalig eine intensive Phase eines selbstbestimmten Lebens zu leben (vgl. ebd.: 10). Mit dem Sterben im Kontext von Pflegebedürftigkeit und sozialer Dependenz hat dies nichts zu tun, vielmehr werden weit verbreitete Ideologien der Autonomie und Machbarkeit im Zusammenhang des Sterbens reproduziert. Filme wie die Komödie Das Beste kommt zum Schluss (Reiner 2007) zeigen, so gesehen, ein Sterben in den Zeiten des Neoliberalismus, wobei sich Idealisierungen bzw. Romantisierungen des Sterbens finden lassen, die auch ein starkes und autonomes Subjekt im Sterbeprozess erhalten (vgl. Wulff 2008). Das Sterben in derartigen Filmen unterstellt zudem eine Sinnhaftigkeit des Sterbens wobei auch Ideologien oder Paradigmen wie das „gute“ und „bewusste“ Sterben reproduziert werden (vgl. Haines 2017). Aus dieser Perspektive erscheint die soziale Ordnung
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des Kinos bzw. das Kinodispositiv12 als wirkmächtige Instanz zur unhinterfragten Reproduktion einer Vorstellung vom Sterben als rational und selbstbestimmt.13 Aus dieser Warte wird gerade die Verletzlichkeit Sterbender verdrängt. Romantisierte oder beschönigende Darstellungsformen des Sterbens im Film scheinen gerade die Schwachheit und Vulnerabilität der Sterbenden zu negieren. Das zeigt sich auch daran, dass das konkrete Sterben oder der Tod in Filmen wie Das Meer in mir (Amenábar 2004) ohne jegliche Qualen dargestellt wird. In der medialen Wirklichkeit wird das Sterben harmonisiert, so dauert die Inszenierung des Todes der Hauptfigur Ramón Sampedros nur einen kurzen Augenblick, obwohl man weiß, dass der Todeskampf in Wirklichkeit mehr als 20 Minuten gedauert haben soll.
12 Mit dem Begriff des Kinodispositivs ist im Sinne Foucaults die soziale Ordnung des Kinos angesprochen, die als Zwischenbereich von Sichtbarem und Sagbarem Diskurse reproduziert, aber auch unterwandert bzw. transformiert – aber selbst dabei unsichtbar bleibt. Das Dispositiv meint eine gesellschaftliche Konstruktion, die regelt, wie etwas wahrgenommen wird (vgl. Agamben 2008: 11). Dispositive erzeugen dabei Sichtbarkeit, ohne selbst sichtbar zu sein. Speziell Mediendispositive wie das Kino organisieren Wahrnehmung auf eine zumeist nicht bewusste und deshalb oft als natürlich bzw. selbstverständlich angenommene Weise. Das Kinodispositiv – das Zusammenspiel von optischen und akustischen Apparaten – erlaubt es dem Zuschauer, sich ins Schicksal der Figuren und die virtuelle Szenerie des Films hineinzuprojizieren und dabei Kinoraum und Artefaktcharakter der Mise en Scène zu vergessen. 13 Daneben reproduzieren derartige Filme unter Umständen auch normative Anschauungen zum speziellen Thema „Sterbehilfe“. Filme wie das Das Meer in mir (Anemábar 2004) oder Million Dollar Baby (Eastwood 2004) thematisieren Sterbehilfe und beinhalten die Gefahr, dass wertende Anschauungen unflektiert bleiben und Perspektiven vereinseitigt werden. Speziell das Arrangement der Szenen um die Beihilfe zur Selbsttötung von Ramón Sampedro in Das Meer in mir macht deutlich, dass der Regisseur höchstwahrscheinlich ein Befürworter der aktiven Sterbehilfe ist. Der Film hat, so gesehen, einen Weckruf-Charakter, wobei dezidiert die Perspektive eines Außenstehenden thematisch wird. Ausgeblendet wird hingegen der Umstand, dass viele Betroffene selbst in schwierigsten Situationen eher das Leben vorziehen als einen assistierten Suizid (vgl. Goldgruber et al. 2021). Speziell auch in der Pflegedidaktik stehen Reflexionen bezüglich dieser problematischen bzw. einseitigen oder tendenziösen Darstellungsformen der Sterbehilfe bisher aus. Vor diesen Hintergrund fragt es sich, wie derartige Filme auch im Pflegeunterricht eingesetzt werden: Wird die Darstellungsform der Sterbehilfe von den Pflegelehrer/-innen kritisch reflektiert?
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Anders verhält es sich aus meiner Sicht bei naturalistischen Filmen wie Michael Hanekes Liebe (2011) oder Andreas Dresens Halt auf freier Strecke (2011). Beide Filme unterbrechen die konventionellen Filmdarstellungen des Sterbens, indem die banale und schreckliche Realität des Sterbens erfahrbar wird, wie auch das Leid der Bezugspersonen.14 Haines (2017) zeigt, dass speziell der Film Dresens aufgrund des Ausschlusses jeglicher Symbolifizierung, Mystifizierung oder Metaphysik einen spezifischen Zugang zur Realität oder Wirklichkeit ermöglicht und damit speziell auch die Vulnerabilität als Ausdruck des Menschseins kenntlich macht. Speziell am Beispiel des Films Halt auf freier Strecke möchte ich daher der Frage nachgehen, ob und wie dieser aufgrund seiner filmästhetischen Machart auch Impulse für den Pflegeunterricht beinhaltet, um die Verletzlichkeit Sterbender anzuerkennen und reflexiv werden zu lassen. 3.2 Sich der Verletzlichkeit Sterbender filmästhetisch annähern – Halt auf freier Strecke (Dresen 2011) Halt auf freier Strecke zeigt wie ein Berliner Familienvater (gespielt von Milan Peschel) langsam an einem Hirntumor verstirbt. Das Drama wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Preis der deutschen Filmkritik (2012) und dem Deutschen Filmpreis (2012). Die Pressemeldungen waren sich weitgehend einig und haben den Film als brutales, zärtliches, rücksichtslos menschliches Werk; als mutig, bewegend, grausam und versöhnlich, beschrieben (vgl. Volk 2020). Was den Film Halt auf freier Strecke aus meiner Sicht außergewöhnlich macht, ist, dass darin das Wissen um den nahenden Tod keine kathartische oder erhellende Wirkung entfacht. Anders als in Das Beste kommt zum Schluss (Reiner 2007) oder Emmas Glück (Taddicken 2006) versteckt sich im Sterben der Hauptfigur keine Botschaft an das Leben; er kann seine Krankheit nicht als Chance begreifen, wie es etwa auch eine Therapeutin ihm im Film nahelegt. Der Film konfrontiert uns frontal, nüchtern und sachlich mit dem Sterbeprozess eines Menschen und inszeniert im Besondern auch die Verletzlichkeit des Sterbenden und seiner Angehörigen. Wie Haines (2017) betont, wird vor allem menschliche Verletzlichkeit und soziale Verbundenheit im Film thematisch. Die Autorin erkennt dabei auch das ethische Anliegen und den Aufruf Butlers (2005) wieder,
14 Dass der filmisch dargestellte Verfalls- und Sterbeprozess im Film Liebe (Haneke 2011) auch unter bildungstheoretischer Perspektive interessant ist, zeige ich ausführlich an anderer Stelle (vgl. Hänel 2022).
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sich dem Menschlichen wieder zuzuwenden.15 Denn Gefährdung und Verletzbarkeit drückt sich in ihrem Sinne als ein wesentliches Moment des Menschseins aus (vgl. Stöhr et al. 2019: 224). Wie im Film Halt auf freier Strecke zu sehen ist, handelt es sich dabei um eine Vulnerabilität, die sich in ihrer rauen und spröden Banalität einer Sinnhaftigkeit und Verständlichkeit entzieht und uns ratlos und unsicher zurücklässt. Dass Menschliche zeigt sich, so gesehen, unsicher an den Rändern des Verstehens und der Sinneszuweisung. Im Film entsteht dieser Eindruck oder dieses Gefühl durch eine schmerzliche und entwaffnende Sachlichkeit. Dresen nähert sich dem unbequemen Sujet des Sterbens weitaus nüchterner und zugleich radikaler an, als es zumeist üblich ist. Denn er vermeidet alles Metaphysische, auch alle Worte darüber, was dieses Leben, das da zu Ende geht, nun bedeutet haben könnte. In seiner strickt naturalistischen Darstellung widersteht er damit auch einer Mystifizierung des Todes, wie sie im Arthousekino, beispielweise in Liebe (Haneke 2011), vorzufinden ist (vgl. Haines 2017). Dresen stellt den Tod und das Sterben in Halt auf freier Strecke extrem sachlich und naturalistisch aus, ohne der Überdramatisierung oder auch dem Voyeurismus zu verfallen. Er scheut sich nicht, „alles zu zeigen“ – tropfende Speichelfäden, letzter Sex, die letzte Inkontinenzwindel etc. Die Auswahl der Szenen oder die Mise en Scène beleuchtet dabei auch speziell alltägliche und tabuisierte Grenzbereiche, sei es die Vermittlung der tödlichen Diagnose am Abendbrottisch der Familie oder auch der Umgang des Sterbenden mit seinen Kindern (siehe Abb. 3). Derartige Szenen entbehren jeglichem Unterhaltungswert. Das sachliche Inszenieren des Sterbens in seiner Alltäglichkeit und Banalität hinterlässt den Zuschauer vermutlich sprachlos wie auch verletzlich.
15 Am Ende des Buches Gefährdetes Leben formuliert Butler (2005: 178) folgende Aufgabe einer sich als Kulturkritik verstehenden Geisteswissenschaft: Sie solle „uns zum Menschlichen zurückzuführen, wo wir nicht erwarten, es zu finden: in seiner Fragilität und an den Grenzen seiner Fähigkeit, verständlich zu sein“.
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Abbildung 3: Filmstill aus „Halt auf freier Strecke“ (Dresen 2011)
Quelle: Pressebilder des Films / https://presse.pandorafilm.de/halt-auf-freier-strecke Bildrechte: © Rommel Film/Foto Andreas Dresen
Die „Suche nach der Wirklichkeit“, wie sie Kremski (2002) seit jeher bei Dresen erkennt, erreicht in Halt auf freier Strecke, so gesehen, ihren vermeintlichen Höhepunkt. Speziell auch Dresens dokumentarischer Stil, der auch Laiendarsteller einbezieht, entfaltet einen eigenen Bezug zur Wirklichkeit an der Grenze zwischen fiktionaler Narration und nichtfiktionaler, fast dokumentarischer Begleitung. Auch in Halt auf freier Strecke stellt Dresen eine Wirkung von Authentizität her, indem er reale Personen einbezieht, wenngleich eine fiktionale Spielfilmnarration weiter dominierend ist.16 Etliche Nebendarsteller im Film, etwa der
16 Interessanterweise plädiert Dresen dafür, dass ein Thema wie das Sterben nicht im Dokumentarfilm, sondern im Spielfilm verhandelbar ist: „Ich glaube, dass es als Doku nicht realisierbar ist. Es gibt viel zu viele Szenen, wo man als Dokumentarfilmer – ich mach ja selbst auch Dokumentarfilme – wo ich nicht in der Realität dabei sein möchte. Wo es eine Distanz des Machers braucht. Ich würde mich als Dokumentarist – selbst wenn die Leute bereit dazu wären – in vielen Szenen viel zu diskret verhalten. Ich hätte das in der Realität nicht drehen können. Das geht nur mit einer spielerischen Verabredung und hier gibt es ja auch Szenen zwischen dem Paar, die nicht gerade freundlich sind. In so einer Situation, in die die beiden da geraten, sagt man sich auch unangenehme Dinge. Und der Kranke ist kein Heiliger. Und die pflegende Frau ist permanent überfordert. So isses nun mal, das haben uns alle, die so was erlebt haben, bestätigt. Man sagt selbst irgendwann: jetzt kann es endlich mal vorbei sein, ich kann nicht mehr. Das sind Sachen, die sind zwar so in der Realität, ich glaube aber, man
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behandelnde Arzt im Krankenhaus (Uwe Träger) oder die Palliativärztin (Petra Anwar), die die Ehefrau Susanne (Steffi Kühnert) bei der häuslichen Betreuung ihres Mannes Frank unterstützt, verkörpern Rollen, die ihnen aus ihrem eigenen Leben vertraut sind. Eine Spielfilmgeschichte wird so mit dem Alltag von realen Personen konfrontiert und erhält dadurch eine besonders authentische Wirkung. Durch Verzicht auf ein statisches Drehbuch, durch Einbindung von echten Menschen, die im Film ihre echten Berufe ausüben, erzeugt Dresen einen nahezu größtmöglichen Authentizitätseindruck (vgl. Dunker 2007). Auch der semidokumtentarische Inszenierungsstil, bei dem die Protagonisten des Films sich selbst mit einem iPhone filmen vermittelt diesen Eindruck. Die nüchterne Sachbezogenheit und die Vermittlung von Authentizität erscheinen als Stilmittel eines Realismus im Film, der sich auch im Schauspiel der Figuren und in den Dialogen der Protagonisten zeigt. Allen voran ist die preisgekrönte schauspielerische Leistung von Milan Peschel (Frank Lange) und Steffi Kühnert (Simone Lange) anzuführen.17 Nicht drastische Bilder, sondern überzeugende Darsteller sind es, die Halt auf freier Strecke glaubhaft wirken lassen und die die Verletzlichkeit Sterbender und ihrer Angehörigen in nahezu jedem Filmbild zum Thema werden lassen. Ohne zu „überziehen“ bzw. zu „übersteigern“ sind es die vielfältigen verzweifelten Blicke und Gesten der Schauerspieler, die Scham, Unsicherheit aber auch Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen. Milan Peschels leerer und suchender Blick im Film stellt ohne Umschweife Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verletzlichkeit aus (siehe Abb. 4).
kann sie im Dokumentarfilm so nicht abbilden. Deshalb ist der Spielfilm das adäquate Mittel.“ Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/man-muss-auch-einen-film-nicht-mit -schrecklichkeiten-100.html, (Abruf: 07.03.2022). 17 Für seine Hauptrolle des tumorkranken Vaters Frank Lange in dem Drama wurde Peschel mit dem Bayerischen Filmpreis (2011) und dem Deutschen Filmpreis (2012) ausgezeichnet. Auch Steffi Kühnert wurde für ihre Rolle der Simone Lange mit dem Bayerischen Filmpreis (2012) ausgezeichnet.
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Abbildung 4: Filmstill aus „Halt auf freier Strecke“ (Dresen 2011)
Quelle: Pressebilder des Films / https://presse.pandorafilm.de/halt-auf-freier-strecke Bildrechte: © Rommel Film/Foto Andreas Dresen
Auch die Dialoge im Film entbehren einer klassischen Narrationsform, da diese vor allem durch Sprachlosigkeit und Schweigen gekennzeichnet sind. Dies wird speziell in der Eingangssequenz, der Inszenierung der Mitteilung der tödlichen Diagnose des Hirntumors erkennbar. Im Sprechzimmer erklärt der behandelnde Arzt Frank und seiner Frau Simone den Befund. Der Tumor in Franks Kopf sei bösartig und schon so groß, dass er sich nicht mehr entfernen lasse. Chemotherapie und Bestrahlung könnten den Verlauf der Krankheit allenfalls verlangsamen. Man hört die Diagnose dabei aus dem Off, weil die Kamera quälend lange und unbewegt auf Frank und seiner Frau verharrt; auch dann noch, als das Telefon klingelt und der Arzt mit einem Kollegen organisatorische Abläufe bespricht, anstatt im Gespräch zu bleiben. Das Schweigen des Ehepaares nach der tödlichen Diagnose ist unüberhörbar. Nach einer Weile stellt Frank fragend fest, dass er den zehnten Geburtstag seines Sohnes nicht mehr erleben wird. Und der Arzt sagt nichts dazu, weil es nichts dazu zu sagen gibt. Man hört, wenn er sich in medizinisches Fachvokabular flüchtet, wie unangenehm ihm dieses Gespräch ist, aber auch, wie alltäglich ihm solche Situationen geworden sind. Auch Szenen, in denen der Umgang der Familie mit der tödlichen Diagnose verhandelt wird, sind durch eine spezifische Sprachlosigkeit gekennzeichnet. Denn es gelingt nur teilweise und verklausulierend, über den Tod zu sprechen. So beobachten wir etwa, wie Frank plötzlich am Abendbrottisch zusammenbricht und den Raum verlässt und es Ehefrau Simone daraufhin nur ausweichend gelingt, über die tödliche Diagnose zu den Kindern zu sprechen; dass es „Papa
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nicht gut gehe“ und sie nun auf ihn „aufpassen“ müssen. Auch die erste Frage von Simone bei der Diagnosestellung des Arztes ist, ob man es den Kindern sagen soll. Genauso Frank, der im Film nach der Diagnose zeitweise auf seinem Handy mit einer Art Tamagochi-App kommuniziert, stellt dem Gerät die Frage: „Wie sag ich’s meinen Kindern?“ Diese Hilflosigkeit und Unsicherheit, mit dem Sterben sprechend umzugehen, offenbart einmal mehr eine Dimension der Verletzlichkeit des Menschseins im Sterben. Das Sprachversagen verweist, wie auch Lacan (1964) nahelegt, auf eine Konfrontation mit dem Realen im Sterben und zeigt zugleich auf, dass Menschen wegen oder trotz dieses unvorstellbaren Moments auf Symbolisierungsformen angewiesen sind. Es sind derartige, sperrige und einem Unterhaltungswert entbehrende, filmische Darstellungsweisen, welche einfache Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zu dem (sinnlosen) Sterben im Film Halt auf freier Strecke erschweren. Genauso wenig findet sich eine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Dennoch gibt es ein Leben nach dem Sterben, wie es die Kinder Lilly Lange (Talisa Lilli Lemke) und Mika Lange (Mika Nilson Seidel) verkörpern. Aber auch hier ersparen sich die Dialoge jegliche Romantisierung, sondern stellen aus meiner Sicht vor allem das für die Kinder Unvorstellbare des Todes aus. Wenn Mika seinen Vater Frank fragt, ob er sein iPhone nach dessen Tod bekommt oder Lilly nach dem Ableben ihres Vaters unmittelbar zum Schwimmunterricht geht, so zeigt dies vor allem auch die Unsicherheit und die Ohnmacht, mit dem Ereignis umzugehen. Die schwer greifbare Banalität des Todes hält auch für die Kinder aktuelle und zukünftige Verwundungen bereit, die im Film angedeutet werden. Wie ich anhand der punktuellen Darstellung der inhaltlichen und filmästhetischen Machart des Films versucht habe zu zeigen, eröffnet Halt auf freier Strecke neue Reflexions- und Erfahrungsräume bezüglich Sterbeprozessen. Im Hinblick auf die pflegeschulische Ausbildung wäre aber gesondert zu untersuchen, welche Wirkungen die Filmaufführung beinhalten könnte. Genauso ergeben sich auch ethische Fragen, wie eine derart schonungslose Darstellung des Sterbens im Kontext des Pflegeunterricht Anwendung finden kann. Die Auseinandersetzung mit dem Sterben im Film konfrontiert uns letztendlich auch mit unserer eigenen Verletzlichkeit, wodurch auch die Schüler/-innen wie auch die Lehrer/-innen zu Tränen gerührt oder irritiert sein können. Ob diese Affektionen Anlässe für reflexive Lern- und Bildungsprozesse im Kontext des Themas Sterben bieten, bedarf aus meiner Sicht gesonderter Diskussion. Wie ich aber bereits jetzt glaube, kann ein Film wie Halt auf freier Strecke auf andere Qualitäten des Sterbens im Pflegeunterricht aufmerksam machen, die kategorische, textliche bzw. unterkomplexe Darstellungen eher verdrängen. Ob und wie damit die eigene und
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fremde Verletzlichkeit im Kontext der Pflege Sterbender reflexiv wird, ist eine von vielen Fragen, die ich am Schluss des Beitrages in Kürze aufwerfen möchte.
SCHLUSS UND AUSBLICK Wie ich im Problemaufriss des Beitrags gezeigt habe, stellt der Pflegeunterricht zum Thema „Tod“ eine soziale Ordnung eigener Art dar. Die didaktische Aufbereitung des Themas Sterben ist, wie ich gezeigt habe, unter Umständen mit etlichen Darstellungsproblemen verbunden. Im Besonderen besteht dabei die Gefahr, dass eine klassifikatorische Logik zentral wird, die wichtige Qualitäten des Pflegens im Zusammenhang mit dem Sterben verdrängt. Wie ich argumentiert habe, droht insbesondere die für das Sterben zentrale Verletzlichkeit des Menschen in den bestehenden Reflexions- und Thematisierungsformen des Pflegeunterrichts zu wenig zur Geltung zu kommen. Neben der Forderung, komplexere textbasierte Falldarstellungen zu verwenden, bieten sich insbesondere auch Spielfilme an, um andere bzw. verdrängte Qualitäten des Sterbeprozesses zur Geltung zu bringen. Dabei sind meines Erachtens zukünftig speziell auf Seiten der Pflegelehrer/-innen aber mediendidaktische Reflexionen der filmischen Inszenierungen des Sterbens unabdingbar, möchte man vermeiden, dass ideologische Zerrbilder, wie die einseitige bzw. idealistische Vorstellung eines „rationalen“, „bewussten“ oder „selbstbestimmten“ Sterbens im Pflegeunterricht unreflektiert verbreitet werden. Wie ich am Beispiel des Films Halt auf freier Strecke ansatzweise gezeigt habe, ergeben sich aber bestenfalls mit dem Medium Film auch erweiterte Reflexionsräume, die die Verletzlichkeit des Betroffenen und seiner Angehörigen im Prozess des Sterbens thematisch werden lassen. Die schonungslose und nüchterne Darstellung des Sterbens im besagten Film setzt aber – wie bereits angeklungen ist – auch die Zuschauer Risiken aus bzw. konfrontiert diese unter Umständen mit ihrer eigenen Verletzlichkeit. Angesichts der beschriebenen filmästhetischen Aufbereitung sind durchaus Momente der Irritation wie auch der Rührung anzunehmen. Genauso sind aber auch Formen der Selbstdistanzierung denkbar, dass etwa über den Film gelacht wird oder ähnliches. Wie neuere Studien zur Bild- oder Filmrezeption problematisieren, handelt es sich um ein zutiefst kontingentes Geschehen, ob und wie bestimmte Szenen oder Bilder Wirkungen entfalten (vgl. Hänel 2022; Sabisch 2018). Auch an dieser Stelle wäre genauer zu untersuchen, wie speziell auch filmische Inszenierungen des Sterbens im Kontext des Settings Pflegeunterricht mit neuen xis- bzw. Thematisierungsformen verbunden sind. Gelingt es, ideologische oder einseitige Vorstellungen zum „guten“ bzw. „bewussten“ Sterben zu hinterfragen
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oder zu relativeren? Gerät die Problemhaltigkeit der Pflege Sterbender reflexiv in den Blick? Gelingt es im Besonderen, sich der Verletzlichkeit Sterbender zu vergewissern bzw. diese anzuerkennen? Wie es im zurückliegenden Beitrag zudem angeklungen ist, rückt die Pflege Sterbender und die damit verbundene Konfrontation mit der Vulnerabilität des Menschen auch eine Ethik in der Lesart Butlers (2005) in den Vordergrund des Pflegeunterrichts. Es geht dabei, wie auch Greb (2018) zeigt, zunächst darum, die eigene Unsicherheit im Umgang mit Sterbenden erfahrbar zu machen bzw. reflexiv werden zu lassen. Auch im pädagogischen Kontext des Pflegeunterrichts rückt damit ein fragiles und fehlbares Subjekt in den Blick, geht es darum – wie auch Adorno und Foucault betonen – Souveränität einzubüßen, um menschlich zu sein (vgl. Stöhr et al 2019: 226). Dies meint dezidiert kein Defizit, sondern stellt die Ermöglichungsbedingung dar, eigene Macht- und Gewaltpotenziale im Zusammenhang mit der Pflege Sterbender zu reflektieren. Eine Ethik, die ihre eigenen Gewaltpotenziale kritisch reflektiert, weist daher selbst eine Verletzbarkeit aus (vgl. ebd.: 225). Konkret meint dies aus meiner Sicht, Bildungsumgebungen zu entwickeln, die Risiken und Verletzlichkeit zumindest nicht im Vorhinein kategorisch ausschließen. Sicher kann es auch nicht darum gehen, im Pädagogischen bewusst oder unbewusst Verletzungen zu setzen. Vielmehr haben (Pflege-)Pädagogen auch die Verantwortung dafür, nicht zu verletzen (vgl. Stöhr et al. 2019: 7). Wie der Bildungsphilosoph Sanders (2020) aber bemerkt, nehmen uns unsere Bildungsinstitutionen zunehmend die Möglichkeit zu scheitern bzw. ersparen sie uns auch systematisch Risiken und Momente der Verletzlichkeit. Denn unter bestimmen Umständen – wie etwa beim Schauen des Films Halt auf freier Strecke – scheinen Verletzungen unumgänglich zu sein. Wie die Bildungsphilosophen um Stöhr et al. (2019: 7) hellsichtig bemerken kann auch das pädagogische Vermeiden von Verletzungen Vulnerabilitäten erzeugen. So kann die ausbleibende reflexive Bearbeitung der eigenen Vulnerabilität bei der Begleitung Sterbender in der Pflegeschule eigene Vulnerabilitäten mit sich bringen, wie auch die Nichtanerkennung der Verletzlichkeit der Sterbenden zu Verwundungen bei den Betroffenen führen kann. Wie Stöhr et al. (2019: 7) daher konstatieren, ist in pädagogischen Zusammenhängen vielmehr eine „praktische Dialektik der Vulnerabilität“ anzunehmen. Es geht also darum, die Spannung von Vermeidung und Anerkennung des Unumgänglichen reflexiv offenzuhalten, um zu verhindern, dass gerade die Vermeidung jeglicher Verletzbarkeit andere und neue Vulnerabilitäten erzeugt (vgl. ebd.). Ein an der Ethik im Sinne Butlers (2005) geschulter Pflegeunterricht würde zudem en gros beinhalten, sich mit den Grenzen dessen, was wir verstehen, se-
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hen oder auch empfinden können, auseinanderzusetzen. Dass dies schmerzhaft sein kann, liegt nahe. Denn es geht dabei um nichts Geringeres als die Anerkennung der Vulnerabilität des fremden wie des eigenen Lebens. Verantwortliches Handeln im Sinne Butlers (2005) ist in dieser Lesart nicht an absolute Selbsttransparenz bzw. Selbstidentität des Subjektes gebunden, sondern erscheint gerade im Moment der Verletzbarkeit, da dort die Fehlbarkeit, Begrenztheit und Bruchstückhaftigkeit der Selbsterkenntnis auftaucht (vgl. Stöhr et al. 2019: 226). Der Verletzlichkeit und damit auch der Menschlichkeit im Pflegeunterricht Geltung zu verschaffen, beinhaltet, so gesehen, eine Grenzhaltung die das produktive Nichtwissen integriert: „Wir werden das Entstehen und Verschwinden des Menschlichen an den Grenzen dessen, was wir wissen können, hören können, sehen können, empfinden können, untersuchen müssen.“ (Butler 2005: 178) Derartige Momente der Verunsicherung und Unsicherheit hinterfragen Routinen sozialer Ordnungen vermutlich eher als ein Handeln nach Vorschrift. Vor allem im Kontext der Vermittlung pflegerischer Maßnahmen gegenüber Sterbenden ist zukünftig zu wünschen, dass die inhärente Verletzbarkeit verstärkt zum Thema wird. Es geht also darum, die Unsicherheiten und Erkenntnisgrenzen, die die Pflegearbeit mit Sterbenden grundlegend prägen, im Pflegeunterricht zur Darstellung zu bringen. So gesehen geht es dabei auch um die Reflexion der unauflösbaren Problemhaftigkeit, die sich angesichts des singulären Individuums und seines Sterbens stellt, und die sich nicht mit dem Bezug zum Allgemeinen bzw. zu allgemeinen Normen auflösen lässt (vgl. Stöhr et al. 2019: 226). Mit Blick auf den dargestellten Unterricht der Studentin zu Beginn besteht das Ziel nun darin, allgemeine Hinweise zu vermitteln, ohne die Verletzlichkeit der einzelnen betroffenen Person gänzlich aus den Fokus zu bringen. Die geschilderte Arbeit mit dem Film Halt auf freier Strecke wäre dann als ein Versuch zu werten, kategoriale Bezeichnungen, die dazu neigen, das Ganze unter einen Begriff zu subsumieren, zumindest reflexiv aufzuarbeiten – wenngleich sie sich nicht ganz vermeiden lassen. Es wäre vielleicht ein weiterer zukunftsoffener Versuch einer „Wiedergewinnung des Menschlichen“ (Sattler 2009: 73), wie er sich im Pflegeunterricht abspielen könnte.
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Die tiefe und kontinuierliche Sedierung am Lebensende und ihre soziale Dimension Claudia Bozzaro, Anne Letsch und Claudia Schmalz „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert“ (Woody Allen)
EINLEITUNG Sterben ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Selbstverständlich ist zwar, dass jeder sterben wird, aber keineswegs selbstverständlich ist, wie man sterben wird. Der Sterbeprozess ist dank der Fortschritte der Medizin zu einer eigenen Phase geworden, die zumindest teilweise auch sehr persönlich ausgestaltet werden kann (vgl. Maio 2011). Allerdings bedarf es einer Vorstellung davon, was ein „gutes Sterben“ ist, um diese Phase tatsächlich gestalten zu können. Wie vor allem die Debatten um die medizinische Begleitung am Lebensende zeigen – aktuell im Deutschland vorrangig die Diskussion um den assistierten Suizid –, wird ein „gutes Sterben“ häufig mit einem „leidfreien Sterben“ (vgl. Streeck 2020; Bozzaro 2013) in Verbindung gebracht. Auch die Vorstellung eines „Sterbens im Schlaf“ wird von vielen Menschen als Ideal eines guten Sterbens verstanden. Diesem Ideal scheint gerade die palliative Sedierung zu entsprechen. Die anvisierte Leidfreiheit wird in diesem Fall dadurch erzielt, dass das Bewusstsein der sterbenden Person eingetrübt und in einigen Fällen gänzlich abgeschaltet wird. Diese Maßnahme wird einerseits als „Wunderwaffe“ (so bezeichnet, wenn auch mit Fragezeichen versehen im Titel einer Podiumsdiskussion von der Gesellschaft für Humanes Sterben; vgl. www.yumpu.com) für ein humanes Sterben angesehen und mit dem Bild des „sanften Einschlafens“ (vgl. www.tagblatt.ch) in Verbindung gebracht. Andererseits wird sie als unzulässige Form der Herbei-
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führung eines frühzeitigen „sozialen Todes“ kritisiert bzw. als ein „Verschlafen“ des eigenen Todes (vgl. www.kup.at) benannt. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Einsatzes dieser Maßnahme und des wachsenden, auch öffentlichen, Interesses darüber, stellen die folgenden Ausführungen einen ersten Versuch dar, soziale Dimensionen bzw. soziale Ordnungen – so der Titel des vorliegenden Sammelbands – im Kontext der palliativen Sedierung zu umreißen. In Anbetracht der noch unvollständigen Erforschung der Abläufe bei und im Umfeld von palliativen Sedierungen verstehen sich die folgenden Betrachtungen lediglich als Schlaglichter ohne Anspruch darauf, ein umfassendes Bild zu geben. Die Autorinnen unternehmen diesen Versuch vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Expertise als Ethikerin (Claudia Bozzaro) und als klinisch tätige Ärztinnen, die langjährige Erfahrungen mit der Durchführung dieser Maßnahme aufweisen (Anne Letsch und Claudia Schmalz). Der Text ist in zwei Teile gegliedert. Das erste Kapitel dient dazu, die Praxis der palliativen Sedierung präziser darzustellen. Im zweiten Teil werden die sozialen Dimensionen dargestellt. Dieser Teil ist in drei Schwerpunkte gegliedert, grob gesagt, von einer Mikro- über eine Meso- hin zur Makro-Ebene.
1.
WAS IST EINE TIEFE UND KONTINUIERLICHE PALLIATIVE SEDIERUNG?
Der Begriff „palliative Sedierung“ bezeichnet den Einsatz sedierend wirkender Medikamente mit dem Ziel, durch eine teilweise oder komplette Bewusstseinsminderung unerträgliches Leiden bei sonst therapierefraktären Symptomen zu lindern (vgl. Cherny et al. 2009). Als therapierefraktär gelten Symptome, die in einem angemessenen Zeitraum, durch invasive und nicht-invasive Therapien, nicht zufriedenstellend kontrolliert werden können (vgl. Cherny/Portenoy 1994). Der Begriff der „palliativen Sedierung“ dient als Sammelbegriff für unterschiedliche Formen von Sedierungsmaßnahmen, die im Hinblick auf Dauer und Tiefe differenziert werden können: Hier wird zum einen zwischen einer milden und einer tiefen und zum anderen zwischen einer intermittierenden und einer kontinuierlichen Sedierung unterschieden. Eine milde Sedierung führt zu einer mehr oder weniger starken Dämpfung des Bewusstseins des Patienten/der Patientin, jedoch bleibt dieser/diese weiterhin kontaktierbar. Im Fall einer tiefen Sedierung hingegen wird das Bewusstsein sehr stark gedämpft, wodurch die Fähigkeit des Patienten/der Patientin zur aktiven Kommunikation weitestgehend verloren geht. Bei einer intermittierenden Sedierung wird der Patient/die Patientin zunächst für einen begrenzten Zeitraum sediert, etwa für eine Nacht, um ihm
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etwas Ruhe und Entspannung zu ermöglichen. Danach kann entschieden werden, ob die Maßnahme hilfreich war und ggf. intermittierend wiederholt werden oder dauerhaft erfolgen sollte. Dann spricht man von einer kontinuierlichen Sedierung, die in der Regel bis zum Todeseintritt fortgeführt wird (vgl. Morita et al. 2002). Bei der speziellen Form der tiefen und kontinuierlichen palliativen Sedierung (im Folgenden TKPS) werden dem Patienten/der Patientin bewusstseinseindämpfende Medikamente verabreicht, um eine tiefe und bis zum Todeseintritt dauernde Ausschaltung des Bewusstseins zu erreichen und dadurch „unerträgliches Leiden bei sonst therapierefraktären Symptomen zu lindern“ (Sauer 2007: 26). Im Wesentlichen sind dies Benzodiazepine, meist in Kombination mit Opiaten zur Schmerzlinderung, sowie Neuroleptika und andere Medikamente. Die tiefe und kontinuierliche Sedierung gilt dabei als eine Maßnahme der ultima ratio, also als eine Maßnahme, die lediglich in Extremfällen, wenn keine weiteren Möglichkeiten der Symptomkontrolle zur Verfügung stehen, und nur in der terminalen Phase einer Erkrankung angewendet werden sollte (vgl. Cherny et al. 2009). Alternativ wird in Bezug auf eine tiefe und kontinuierliche Sedierung vor allem im angelsächsischen Sprachraum und von niederländischen und belgischen Autoren/Autorinnen der Begriff der „terminalen Sedierung“ (terminal sedation) verwendet (vgl. Jones 2013; Battin 2008). Dabei bezieht sich das Adjektiv „terminal“ auf den Zustand des Patienten/der Patientin und nicht auf die Intention, mit der die Sedierung durchgeführt wird – also den Tod herbeizuführen oder zu beschleunigen (vgl. Charter 1998). In der Regel führt eine tiefe und kontinuierliche Sedierung nicht zu einer Beschleunigung des Todeseintritts (vgl. Coors et al. 2019; Radbruch 2010). Deshalb ist und bleibt die Abgrenzung dieser Maßnahme zur indirekten Sterbehilfe oder zu einer verdeckten aktiven Sterbehilfe problematisch und ist Gegenstand von Diskussionen (vgl. Rys et al. 2012).
2.
DIE SOZIALE DIMENSION DER TIEFEN UND KONTINUIERLICHEN PALLIATIVEN SEDIERUNG
Während medizinische, ethische und auch rechtliche Fragen rund um die TKPS – vor allem die Frage nach der Abgrenzung dieser Maßnahme von anderen Formen der Sterbebegleitung – und Sterbehilfe bereits breit diskutiert worden sind, findet sich bezüglich der sozialen Dimension kaum Literatur. Das hängt womöglich damit zusammen, dass der Begriff „soziale Dimension“ recht unbestimmt ist. Wenn im palliativmedizinischen Kontext von „sozialer Dimension“ die Rede ist, so geschieht dies meistens im Zusammenhang mit der psychologischen Di-
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mension. So schreibt beispielsweise die seit 2015 bestehende AG „psychosoziale und spirituelle“ Versorgung innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin: „Der Begriff ‚psychosozial‘ fasst die psychische und die soziale Dimension zusammen und betont ihre Verbundenheit und gegenseitige Wechselwirkung.“ „Der Mensch“, so heißt es weiter, „ist ein soziales Wesen. Die psychosoziale Dimension betrachtet das Individuum im Kontext der ihn/sie umgebenden Umwelt. (…) Dabei ist die Beeinflussung von Individuum und Umwelt als interpersonelle wechselseitige Interaktion anzusehen.“ (Vgl. www.dgpallia tivmedizin.de) Wir schließen uns dieser Definition dahingehend an, dass wir davon ausgehen, dass eine TKPS eine Maßnahme darstellt, die in einem besonderen Maße die interpersonelle Interaktion betrifft. Gleichzeitig wollen wir den Begriff etwas weiter fassen und darunter auch die gesellschaftliche Diskussion rund um diese Maßnahme berücksichtigen. Bei therapeutischen Maßnahmen im klinischen Kontext stehen in der Regel die betroffenen Patienten/Patientinnen im Mittelpunkt. Eine Maßnahme wird erwogen, besprochen und durchgeführt zu ihrem Wohle und in Absprache mit ihnen oder ihren Stellvertretenden. Es ist nicht zuletzt ein Verdienst der modernen Medizinethik, dass individuelle Wünsche und Entscheidungen von Patienten/Patientinnen im medizinischen Kontext eine zunehmende, auch rechtlich geregelte, Bedeutung erhalten haben. Die Fokussierung auf den autonomen Wunsch eines Patienten/einer Patientin kann jedoch auch den Blick dafür verstellen, dass Handlungen im klinischen Kontext immer auch eine soziale Dimension haben, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Eine Behandlung erfolgt im Rahmen spezifischer Beziehungskonstellationen und betrifft verschiedene soziale Ebenen: auf der Mikro-Ebene, weil eine Behandlung im Rahmen einer Arzt-Patient-Beziehung erfolgt und einen unmittelbaren Einfluss auch auf die nahestehenden Personen rund um den Patienten/die Patientin hat; auf der Meso-Ebene, weil eine medizinische Maßnahme innerhalb von Institutionen, z.B. einer palliativmedizinischen Station und unter Einbeziehung eines Behandlungsteams erfolgt, und auf der Makro-Ebene dahingehend, dass die Kosten der medizinischen Maßnahme im Rahmen eines öffentlich finanzierten Krankenkassensystems von der Allgemeinheit mitgetragen und politisch gesteuert werden. Im Folgenden sollen einige Überlegungen zur sozialen Dimension der Praxis der palliativen Sedierung mit Blick auf die eben eingeführte Unterscheidung verschiedener Ebenen des Sozialen skizziert werden. Diese Skizze soll einen ersten Beitrag dazu liefern, diese zunehmend bedeutsame therapeutische Maßnahme in umfassender Weise zu verstehen und Fragestellung und Probleme, die mit ihr einhergehen, gezielter adressieren zu können.
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2.1 Die soziale Dimension bei der Indikationsstellung Jede medizinische Maßnahme bedarf einer medizinischen Indikation. Diese ergibt sich in der Regel aus messbaren Befunden und Parametern, die eine bestimmte Therapieoption unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse angezeigt erscheinen lassen (vgl. Wiesing 2017). Bis zu einem gewissen Grad spielen aber auch subjektive Faktoren bezüglich der Lebenssituation und der Präferenzen der Patienten/Patientinnen bei der medizinischen Indikationsstellung eine Rolle. Ist eine medizinische Indikation gegeben, wird ein Therapie-Angebot ausgesprochen, zu dem sich der Patient/die Patientin gemäß eigenen Wünschen und Präferenzen verhalten kann. Bei einigen medizinischen Maßnahmen gestaltet sich die Indikationsstellung schwierig. Dies kann bei der TKPS der Fall sein. Als Indikation für eine palliative Sedierung gelten neben therapierefraktären Symptomen ein unerträgliches Leiden (unbearable/intractable suffering) des Patienten/der Patientin (vgl. Bruinsma et al. 2013; Juth et al. 2010). Die Therapierefraktärität vor allem körperlicher Symptome wie Übelkeit oder Dyspnoe lässt sich relativ gut einzuschätzen – anhand entsprechender Gradeinteilungen und Skalen. Die Beurteilung eines unerträglichen Leidens, das sich eher auf psychische oder existenzielle Symptome wie Angst oder Verzweiflung bezieht, ist hingegen eine größere Herausforderung und kann nur in der Auseinandersetzung zwischen dem Behandlungsteam und dem Patienten/der Patientin ermittelt werden. In einer der wenigen auffindbaren Definitionen wird unerträgliches Leiden beschrieben als „die individuelle und subjektiv empfundene Intensität von Symptomen oder Situationen, deren andauerndes Empfinden bzw. Erleben so belastend ist, dass sie von einem Patienten nicht akzeptiert werden kann.“ (Müller-Busch et al. 2006: 2734) Wenn man davon ausgeht, dass das Vorliegen eines Leidens und dessen Unerträglichkeit primär durch den Patienten/die Patientin festgelegt wird, können sich bei der Indikationsstellung Schwierigkeiten ergeben, und zwar dann, wenn die Intensität eines Leidens durch den Patienten/die Patientin und denArzt/die Ärztin anders eingeschätzt wird. Denn schließlich muss Letzterer/Letztere die Indikation stellen, die Maßnahme durchführen und verantworten (vgl. Bozzaro 2015; Bozzaro u.a. 2018). Diese Problematik kommt vornehmlich dann zum Tragen, wenn das Leiden, welches eine Sedierung legitimieren soll, ein „existenzielles Leiden“ ist, z.B. Angst, Verzweiflung, ein Gefühl von Isolation (vgl. Swart et al. 2014). Diese Zustände lassen sich, anders als Übelkeit oder Dyspnoe, nur bedingt „objektiv“ feststellen vonseiten Dritter. In entsprechenden Leitlinien besteht keine Einigkeit darüber, ob eine TKPS überhaupt bei solchen Symptomen eingesetzt werden sollte.
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Grundsätzlich zeigt diese Problematik eine soziale Dimension der TKPS auf: sofern sichergestellt sein soll, dass eine TKPS mit entsprechender Sorgfalt und lege artis vonstattengeht, bedarf es einer Interaktion und Verständigung zwischen den Ärzten/Ärztinnen/dem Behandlungsteam und dem Patienten/der Patientin bezüglich des Vorliegens und des Schweregrades des Leidens. Bei dieser Bewertung spielen in einer stärkeren Weise als bei anderen medizinischen Maßnahmen – etwa bei einem Knochenbruch, der sowohl für den Arzt/die Ärztin als auch für den Patienten/die Patientin auf einem Röntgenbild sichtbar gemacht werden kann – subjektive und gesellschaftlich vermittelte Normen und Werte eine Rolle. Diese beziehen sich zum einen auf das Leiden, zum anderen aber auch auf den „Wert“ des Bewusstseins und die Frage, ob und wann dieses „abgeschaltet“ werden dürfe, um Leiden zu lindern. Materstvedt (2012) hat kritisch moniert, dass eine tiefe Sedierung letztlich absichtlich die Persönlichkeit beeinträchtigt und damit den ihr innewohnenden moralischen und ethischen Wert beseitigt. Sulmasy (2018) hat ebenfalls in einem jüngeren Artikel argumentiert, dass es nicht legitim sei, Leiden zu lindern, indem man einen Menschen komplett bewusstlos macht. Demgegenüber argumentieren Takla et al. (2020), dass das Bewusstsein nicht per se einen moralischen Wert darstelle, der geschützt werden müsse. Es seien vielmehr die jeweiligen Bewusstseinsinhalte, welche den Wert des „Bei-Bewusst-Sein“ ausmachen. Sind diese für die betroffene Person ausschließlich negativ konnotiert, so sei auch eine komplette Abschaltung des Bewusstseins am Lebensende legitim. Diese hier angedeuteten Diskussionen rund um die TKSP zeigen, dass bei der Indikationsstellung und bei der Bewertung dieser Maßnahme letztlich Werturteile eine Rolle spielen, die in der intersubjektiven Entscheidungssituation zwischen dem Patienten/der Patientin und dem Behandungsteam ausgehandelt werden müssen. Werden sie nicht ausführlich mit den Patienten/Patientinnen, Angehörigen oder auch im Team besprochen und beraten, so kann der Einsatz einer solchen irreversiblen Maßnahme zu Handlungsunsicherheiten und Schwierigkeiten führen. 2.2 Das soziale Umfeld: Behandelnde und Angehörige Viele Behandelnde sehen die TKSP als eine sehr nützliche Maßnahme für Patienten/Patientinnen an und berichten von ihren Schwierigkeiten, es zu respektieren und auszuhalten, wenn in einigen Fällen Patienten/Patientinnen eine Sedierung ablehnen, trotz hoher Leidenslast. Eine Pflegende berichtet in einer qualitativen Studie von Breitsameter beispielsweise davon, dass sie einen Patienten von einer Kollegin übernommen habe, weil diese die Auswirkungen der Ablehnung
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der Sedierung nur schwer ertragen konnte: „Wir würden geben. Aber er hat seinen freien Willen (…). Weil, ich biete ihm das an, er versteht mich, und wenn er sagt: nein, dann sagt er nein, aber wie gesagt, das muss man aushalten, dass er das nicht will.“ (Breitsamer 2020: 338) Was vor allem vonseiten der Professionellen häufig beschrieben wird, ist die Tatsache, dass eine Sedierung dazu beiträgt, Ruhe zu schaffen. Das kann auch dazu führen, dass eine Sedierung nicht nur zugunsten des Patienten/der Patientin durchgeführt wird, sondern letztlich zur Beruhigung des sozialen Umfelds. Eine Ärztin, die im Rahmen derselben Studie interviewt wurde, hebt diesen Punkt hervor, wenn sie sagt, wenn „die Patienten dann einfach auch unruhig sind, wo man dann auch ebenso diese Gratwanderung zwischen Sedieren, aber doch noch irgendwie diese Persönlichkeitsrechte behalten, also diese Würde. Keiner von uns würde einfach wegsediert werden wollen, nur weil man unruhig ist. Man muss ja auch die Würde der Pflege auch irgendwie bewahren.“ (Ebd.: 336) Die Berücksichtigung des professionellen Umfelds bei der Frage der Sedierung wird bei dem folgenden Zitat aus derselben Studie noch deutlicher: „Wir hatten eine Patientin, die hat halt dann wirklich das Zimmer mit ihrem Kot beschmiert, täglich. Und da muss man schon auch auf die Pflege achten. Und da so diese Gratwanderung zu sehen, welche Unruhe lässt man zu, welche nicht?“ (Ebd.: 336) Auch wenn eine TKPS natürlich primär für den betroffenen Patienten/die betroffene Patientin gedacht ist, so weisen diese Berichte von Behandelnden auch auf die Tatsache, dass eine Sedierung natürlich auch einen Effekt auf das behandelnde Umfeld und die Angehörigen hat. In einer qualitativen Studie, in der die Erfahrungen des Pflegepersonals mit der palliativen Sedierung untersucht wurden, wurde berichtet, dass neben dem Leiden des Patienten/der Patientin auch die Belastung der Familie ein Grund für den Einsatz der palliativen Sedierung war. Darüber hinaus wurde die palliative Sedierung nicht nur als positiver Beitrag zur Sterbequalität des Patienten/der Patientin angesehen, sondern auch als positiver Beitrag zur Erfahrung der Angehörigen (Rietjens et al. 2007). Neben den Behandelnden sind offenkundig die Angehörigen des Patienten/der Patientin unmittelbar von der Sedierung betroffen. Ist ein Mensch tief sediert mit der Absprache, aus diesem Zustand auch nicht mehr zurückgeholt zu werden, so ergibt sich für die ihm nahestehenden Personen eine eigentümliche Situation. Man könnte es vielleicht so ausdrücken: Der Patient ist anwesend im Modus der Abwesenheit. Er liegt da, im Idealfall wirkt er, als würde er friedlich schlafen. Der Körper ist warm, macht Geräusche, gibt Sekrete ab. Doch die Person des Patienten/der Patientin ist nicht mehr da. Sofern man unter Person bzw. Persönlichkeit etwas versteht, das mit Bewusstsein und Kommunikationsfähigkeit zu tun hat.
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Je nach Sensibilität des Umfelds wird in diesem Zustand noch mit dem Patienten/der Patientin gesprochen und umgegangen, als wäre er/sie noch da, würde aber nur schlafen. Da sind die Angehörigen, die nicht von der Seite des Patienten/der Patientin weichen, die zu ihm/ihr sprechen, die auf Zeichen achten, die ein mögliches Unwohlsein zu erkennen geben (vgl. Raus et al. 2014). Da sind aber auch die Angehörigen, die nach Beginn der Sedierung gehen, denn „sie haben sich von der Person verabschiedet“, er oder sie ist nun schon nicht mehr da. Zwei Zitate aus einer Studie, in der die Erfahrungen von Angehörigen in den Niederlanden und in U.K. verglichen wurden, zeigen dies sehr eindringlich: Die belgische Patientin berichtet: „‚And when he was dying he was constantly pulling, always pulling. (...) And he started to vomit. (...) Gosh yes, how should I say this? I’m very content that we had those last 14 days together, but in those final hours, I wouldn’t even wish that on my worst enemy. The ago- ny ...‘(BE, community).“ (Bruinsma 2014: 3247) Die englische Patientin: „Erm ... I thought that perhaps the medications maybe had dosed him up too, too much ... of course, probably (...) So even, although they put him on some medication that you thought was perhaps making him a lit-, or he was a little bit over-medicated ... (UK, community, 2).“ (Ebd.: 3247) Es ist bislang wenig darüber bekannt, wie Angehörige diesen Zustand erleben. In der Studie von Bruinsma u.a. (2014) empfanden die meisten Angehörigen die Sedierung als ein effektives Mittel, um einen „friedvollen“, ruhigen und würdevollen Tod zu erhalten. Einige äußerten aber auch Zweifel, ob ihre Angehörigen wirklich nichts mehr mitbekämen, oder waren mit der Begleitung überfordert, wenn diese mehrere Tage andauerte. Einige schätzten an der Sedierung, dass sie ihnen die Möglichkeit gegeben hat, sich gut und würdevoll zu verabschieden. Andere wiederum fanden die Zeitspannen zwischen dem Beginn der Sedierung und dem Eintritt des Todes als eine Art „Vakuum“ (Bruinsma et al. 2014: 3248) Man hat sich verabschiedet, aber die Person ist irgendwie noch da, sie ist eben nicht verstorben. Wie die oben angeführten Studien von Raus u.a. und Bruinsma u.a. zeigen auch verschiedene weitere empirische Studien zu den Erfahrungen von Angehörigen mit der palliativen Sedierung, dass diese häufig in die Entscheidungsfindung stark involviert sind. Während der Sedierung haben sie einen sehr hohen Bedarf an Informationen vonseiten des Personals, denn offensichtlich besteht Unsicherheit darüber, wie es Patienten/Patientinnen in der Sedierung tatsächlich geht. Des Weiteren geben zwar Angehörige mehrheitlich an, dass sie die Sedierung für eine gute Entscheidung halten, aber nicht wenige hadern auch mit dieser Maßnahme.
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Die bisher durchgeführten empirischen Studien deuten also daraufhin, dass die TKSP von vielen als ein wichtiges Mittel im Kontext der Sterbebegleitung angesehen wird. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass es eine Maßnahme ist, die Unsicherheiten im sozialen Umfeld hervorruft. Diese Unsicherheit bezieht sich maßgeblich auf den schwer zu definierenden Zustand, in den der Patient/die Patientin versetzt wird. Und in der Tat handelt es sich um einen speziellen Zustand, der in philosophischer und soziologischer Perspektive bislang noch kaum eigens reflektiert wurde. Einige haben diesen Zustand als einen „sozialen Tod“ definiert (Rothärmel 2004: 350). Der Begriff „social death“ wurde zuerst 1973 von Sudnow für eine letzte Phase des biologischen Sterbens benutzt. Er bezeichnet einen Zustand, in dem relevante soziale Attribute, wie z.B. die Fähigkeit aktiv zu kommunizieren, nicht mehr vorhanden sind und die Anderen die Patientin/den Patienten deshalb bereits als tot ansehen. In den vergangenen Jahren wurde der Begriff von Klaus Feldmann in kritischer Weise genutzt, um die schrittweise Marginalisierung älterer Menschen aus der Gesellschaft zu beschreiben (vgl. Fuchs-Heinritz 2020). 2.3 Der gesellschaftliche Diskurs In den vergangenen 10 bis 15 Jahren ist der Einsatz der palliativen Sedierung, darunter auch der in den meisten Ländern angewendeten speziellen Form der tiefen kontinuierlichen Sedierung, konstant gestiegen. Laut den Ergebnissen einer Studie aus den Niederlanden wurde eine tiefe Sedierung in bis zu 18,3% aller Todesfälle angewendet (vgl. van der Heide et al. 2017). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Schweizer Erhebung (vgl. Bosshard et al. 2016). Die Studien- und Datenlage bezüglich der Häufigkeit des Einsatzes von palliativen Sedierungsmaßnahmen in Deutschland ist spärlich. Eine ältere Studie ergab eine Häufigkeit von 12 bis 13% bei steigender Tendenz (vgl. Müller-Busch et al. 2012). In einer jüngeren Studie wurden 1.124 Patienten und Patientinnen in drei Institutionen – Palliativstation, Hospiz und SAPV untersucht. Insgesamt wurden 5,25 % (n = 59) der Patienten/Patientinnen palliativ sediert (vgl. Jülich et al. 2020). Es ist bislang wenig darüber bekannt, wie auf einer gesellschaftlichen Ebene die Maßnahme der TKPS wahrgenommen wird. Was bekannt ist, ist, dass in den Augen vieler Menschen ein „guter“ Tod einer sei, bei dem man abends einschläft und morgens nicht mehr aufwacht (vgl. Müller-Busch 2015). Ein „friedliches Sterben im Schlaf“ ist auch das, was viele sich unter einer TKPS vorstellen. Eine vom Nachrichtenmagazin Spiegel initiierte Umfrage aus dem Jahr 2012 rund um das Thema des „guten Sterbens“ ergab, dass 67 % der Befragten auf ein schnel-
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les und plötzliches Sterben aus einer guten gesundheitlichen Verfassung heraus hoffen (vgl. von Bredow et al. 2012). Dieses Ergebnis lässt sich so interpretieren, als wolle die Mehrheit der Befragten das Sterben, den Sterbeprozess gerade nicht erleben, sondern einen plötzlichen Tod bevorzugen. Der Wunsch, das Sterben nicht bei Bewusstsein erleben zu müssen, ist in der Tat in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet. So geben laut einer Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2001 lediglich 14% der Frauen und 12% der Männer der deutschen Allgemeinbevölkerung an, bewusst und begleitet sterben zu wollen (vgl. Meinungen zum Sterben – Emnid-Umfrage 2001). Im Gegensatz dazu geben jedoch in einer anderen Studie 92% der Patienten/Patientinnen mit fortgeschrittenen schweren Erkrankungen an, dass sie es für wichtig halten, im Sterbeverlauf bei klarem Bewusstsein zu sein (vgl. Steinhauser et al. 2000). Diese Diskrepanz spiegelt möglicherweise die Veränderung der Einstellungen zu Tod und Sterben im Verlauf der Sterbephase wider und sollte bei der Indikationsstellung zur palliativen Sedierung berücksichtigt werden. Hinsichtlich der Lebensqualität am Ende des Lebens geben sowohl Patienten/Patientinnen und Angehörige als auch Ärzte/Ärztinnen und Pflegekräfte die Linderung von Schmerzen und die Behandlung von Krankheitssymptomen als zentrales Attribut für „gutes Sterben“ an (vgl. Granda-Cameron 2012; Miyashita et al. 2007; Pierson et al. 2002). Gleichzeitig weckt diese Maßnahme aber auch Kritik, nicht zuletzt vonseiten der Palliativmedizin. Wobei der Palliativmediziner Lukas Radbruch in einem 2013 erschienen Beitrag betonte: „Ein Tod in Würde bedeutet nicht, dass der Kranke das Sterben nicht miterleben darf.“ (Radbruch 2013; malteser-blog.de) Raus et al. (2012) haben darauf hingewiesen, dass die TKPS eine große gesellschaftliche Akzeptanz genießt. Sie vermuten als eine Erklärung, dass diese Maßnahme als ein friedliches und natürliches Sterben im Schlaf verstanden und eingeordnet werde. Ob sich eine TKPS tatsächlich als ein sanfter, ruhiger Schlaf anfühlt oder nicht auch die Möglichkeit eines Schlafes mit Albträumen beinhalten könnte, wird im öffentlichen Diskurs bislang kaum thematisiert.
ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN Der Beitrag stellt einen ersten Versuch dar, auf verschiedenen Ebenen die soziale Dimension im Kontext der Praxis der tiefen und kontinuierlichen palliativen Sedierung zu skizzieren. Es wurde gezeigt, dass diese Maßnahme in einem komplexen sozialen Gefüge stattfindet und einem verbreiteten Sterbeideal in der Gesellschaft entspricht. Voraussichtlich wird die Bedeutung dieser Praxis im Zuge
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der weiteren Alterung der Gesellschaft weiter zunehmen, daher ist es ratsam die soziale Dimension dieser nicht unumstrittenen Praxis genauer zu erforschen.
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Digitalisierung des Todes Perspektiven der Sozioinformatik und Thanatologie auf digitale Systeme der Thanatopraxis Nele Wulf, Dominic Lammert, Stefanie Betz, Enno Edzard Popkes und Ullrich Schiller
1.
EINFÜHRUNG: EIN NEUES FORSCHUNGSFELD
Nicht nur unser Leben wird zunehmend von digitalen Transformationsprozessen begleitet, auch das Sterben, die Bestattungsrituale und Formen des Trauerns ändern sich unter dem Eindruck dieser Entwicklungen. Die Forschungsgruppe DigiThan (Digitale Thanatopraxis) setzt sich das Ziel, diese in der Wissenschaft bislang kaum betrachteten Veränderungen zu untersuchen. Der vorliegende Beitrag versteht sich als wissenschaftliche Einführung in das neue Forschungsfeld der Digitalisierung der Thanatopraxis, welches sich der Entwicklung und dem Einsatz digitaler Systeme in der Thanatopraxis widmet. Wir stellen hier das Forschungsfeld vor und skizzieren unsere Agenda der Beforschung desselbigen. Der vorliegende Beitrag bietet dazu einen Überblick zu digitalen Werkzeugen innerhalb der Thanatopraxis sowie zu Methoden, diese Werkzeuge partizipativ und nachhaltig zu gestalten. Adressat*innen unserer Ausführungen sind sowohl Softwareentwickler*innen, die Werkzeuge für die Thanatopraxis planen und umsetzen, als auch beruflich in Sterbe- und Trauerbewältigung Involvierte, die den Einsatz digitaler Werkzeuge in Erwägung ziehen oder bereits praktizieren. Die dargelegten Überlegungen speisen sich dabei maßgeblich aus der Kooperation zweier wiederum interdisziplinär angelegter Forschungsperspektiven, die in den gängigen akademischen Strukturen bisher kaum miteinander in Beziehung stehen: Der Sozioinformatik und der Thanatologie (vgl. Betz et al. 2020). Bei der Sozioinformatik handelt es sich um einen Teilbereich der Informatik, in dem
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Wechselwirkungen von digitalen Produkten und Dienstleistungen mit der Gesellschaft untersucht werden. Demgegenüber setzt sich die Thanatologie, abgeleitet vom griechischen Begriff thanatos, mit allen Phänomenen auseinander, die mit dem Sterben und dem Tod in Beziehung stehen. Aus diesem Grund versteht sich die Thanatologie ebenfalls als interdisziplinäres Fach, insofern alle wissenschaftlichen Disziplinen miteinander in Beziehung gesetzt werden, in denen die Thematik von Relevanz ist, wie Theologie, Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft, Psychologie, Medizin, Rechtswissenschaft und Soziologie. Eine der Leitfragen unserer sozioinformatischen und thanatologischen Perspektive ist, in welcher Weise eine wissenschaftlich reflektierte Auseinandersetzung mit dem Tod hilfreich sein kann, um den gesellschaftlichen Umgang mit ihm positiv zu gestalten. Mit Rekurs auf die Sozioinformatik erweitern wir diese Frage um die Bedeutung von Digitalisierung für dieses Unterfangen: Wie sollen digitale Produkte und Dienstleistungen angelegt sein, um die Thanatopraxis zu unterstützen und positiv zu gestalten? Der dargestellte Anspruch ist also durchaus normativ. Eine „positive Gestaltung“ verstehen wir entsprechend als grundsätzlich offen für demokratische, nachhaltig und im Einklang mit den Bedürfnissen betroffener Akteure gestaltet. Derzeit ist in der westlichen Welt der Umgang mit dem Tod vom Wunsch des Hinausschiebens bis hin zur Überwindung und Verdrängung geprägt. Die medizinischen Bemühungen der Lebensverlängerung, Anti-Aging als Milliardenindustrie sowie futurologische Fantasien der (digitalen) Realisierung von Unsterblichkeit sprechen dafür. Noch gilt jedoch der Bestatter*innen-Grundsatz: „Gestorben wird immer.“ Doch die Formen des Umgangs mit dem Tod verändern sich. Immer stärker verlagert sich das Sterben in Institutionen des Gesundheitswesens. Akut wird dieser Trend durch die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie verstärkt. Frank Thieme beobachtet in diesem Zusammenhang eine „Individualisierung der Trauerkultur“ (Thieme 2019: 152). Diese Individualisierung wird durch die Digitalisierung der Thanatopraxis weiter vorangetrieben. Der vermehrte Einsatz soziotechnischer Systeme – also solcher, bei denen menschliches Handeln und Technik zusammenkommen, um ein Ergebnis zu produzieren – wie Online-Therapien, virtuelle Friedhöfe oder KI-Erinnerungsavatare und die Etablierung eines dazugehörigen Marktes machen die Frage nach der Gestaltung dieser Systeme notwendig. In diesem Beitrag stellen wir hierzu Orientierungswissen bereit. Zentrale Fragen, mit denen wir uns zudem im Rahmen der Forschungsgruppe DigiThan beschäftigen, lauten:
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• Welche Herausforderungen treten beim Wandel von herkömmlichen bzw. ana-
logen Formen der Sterbebegleitung und Trauerbewältigung hin zu digitalen Systemen auf? • Welche Funktionen der Thanatopraxis lassen sich nur analog und welche auch digital umsetzen? • Wie soll die Softwareentwicklung gestaltet sein, damit sie den Sterbebegleitungs- und Trauerbewältigungsprozess angemessen und hilfreich unterstützen kann? Im Folgenden skizzieren wir das Forschungsfeld von DigiThan. Danach stellen wir fünf klassische Themenfelder aus der digitalen Thanatopraxis vor, einschließlich exemplarisch ausgewählter, dort bereits eingesetzter digitaler Werkzeuge. Die Frage, wie die Softwareentwicklung aussehen sollte, um sich jeweils unterstützend auf diese Themenfelder auszuwirken, wird anhand von möglichen Gestaltungsmethoden im vierten Abschnitt erläutert.
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2.
DAS FORSCHUNGSFELD VON DIGITHAN (DIGITALE THANATOPRAXIS)
Abbildung 1: Skizzierung des Forschungsfeldes von DigiThan
Quelle: eigene Darstellung
Digitalisierung des Todes | 345
Das Verhältnis der in DigiThan zusammengetragenen theoretischen Zugänge ist in Abbildung 1 dargestellt. Die Thanatopraxis lässt sich in fünf verschiedene Bereiche/Phasen aufteilen (vgl. ebd.), die in der mittleren grauen Ebene dargestellt sind. Die linke Hälfte dieser Ebene bildet die Sterbebegleitung ab, zu der etwa die Palliativmedizin und -pflege, die Seelsorge sowie Angehörigenbesuche gehören. Im mittleren Bereich in Form des schwarzen Kreises setzt die Sepulkralkultur ein, welche die Gesamtheit aller Riten im Bereich der Trauer- und Begräbniskultur umschließt. Hierzu zählen beispielsweise die Beerdigung und die Grabgestaltung. Wir behandeln sie abgegrenzt von der dritten Phase, welche die rechte Ebenenhälfte einnimmt: die Trauerbewältigung. Die Trauerbewältigung setzt unmittelbar nach dem Begräbnis ein. In diese Phase fällt somit auch der vierte Bereich, die Nachlassverwaltung, wie etwa die Testamentseröffnung und die Haushaltsauflösung. Der Transhumanismus/Posthumanismus ist der fünfte Bereich, den wir abgegrenzt unterhalb der anderen vier Bereiche aufgeführt haben, da er zwar in allen Phasen, aber nicht für alle Personen von Bedeutung ist. Im Kontrast zu transhumanistischen bzw. posthumanistischen Konzepten wird nach unserer Deutung der Tod in den anderen Bereichen als Teil des Lebens akzeptiert. Es geht hier nicht um die Hoffnung, den Tod zu überwinden. In den weiß abgebildeten Ebenen über und unter den Bereichen/Phasen sind die Akteur*innen zu sehen, die im untersuchten Feld maßgeblich agieren. Auf der äußersten, rechten Seite dieser beiden Ebenen wird die Verzahnung deutlich: Aus unserer Forschungsperspektive heraus geht es in der Sozioinformatik um die Gestaltung, Entwicklung und den Einsatz digitaler Werkzeuge; in der Thanatologie hingegen geht es um den Wissenstransfer in Form von Konzepten. Diesen Aufgaben widmet sich die Forschungsgruppe DigiThan gemeinsam, indem sie interdisziplinäre (und international) ausgerichtete Projekte durchführt, die durch transdisziplinäre Kooperationen mit außeruniversitären Einrichtungen ergänzt werden. Die eingangs eingeführten drei Hauptfragen beantworten wir mithilfe der beiden Methodensammlungen, die jeweils im obersten und untersten Bereich der Abbildung aufgeführt werden: Methoden I (Sozioinformatik) und Methoden II (Thanatologie). In Kapitel 4 stellen wir diese Methodensammlungen exemplarisch vor.
3.
DIE FÜNF BEREICHE DER DIGITALEN THANATOPRAXIS
In diesem Abschnitt erfolgt für jeden der fünf Bereiche der Thanatopraxis zunächst eine kurze Hinführung. Danach wird jeder Bereich kurz anhand von aus-
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gewählten Merkmalen näher erläutert. Anschließend werden digitale Produkte und Dienstleistungen vorgestellt, die im Rahmen einer digitalen Thanatopraxis zum Einsatz kommen (können). Der jeweilige Bereich endet mit Forschungsfragen, welche die Potenziale und Herausforderungen der Digitalisierung aufgreifen. 3.1 Digitale Sterbebegleitung Die digitale Sterbebegleitung sollte nach unserer Auffassung zentral an den Bedürfnissen der Sterbenden ansetzen. Die amerikanische Psychologin Emily A. Meier hat zehn Aspekte herausgearbeitet, denen Sterbende in ihrer letzten Lebensphase ein hohes Maß an Bedeutung beimessen: 1. Sterbeszenario, 2. Schmerzfreiheit, 3. Emotionales Wohlbefinden, 4. Mit der Familie im Reinen sein, 5. Sterben in Würde, 6. Lebensbilanz, 7. Religion und Spiritualität, 8. Behandlungspräferenzen, 9. Lebensqualität und 10. In guten Händen sein (vgl. Meier et al. 2016). Diese Bedürfnisse stellen einen sinnvollen Ausgangpunkt dar, um das formulierte Ziel einer digitalen Thanatopraxis, die den Betroffenen gerecht wird, zu erreichen. Digitale Werkzeuge sollten so konzipiert sein, dass sie auf die hier skizzierten Bedürfnisse antworten. Entsprechend könnte z.B. die klassische Seelsorge mit VideotelefonieSoftware ergänzt werden, mit sogenannten Voice-Over-IP-Plattformen (z.B. Skype, Zoom, Microsoft Teams). Diese könnten auch für die Kommunikation mit Angehörigen genutzt werden, die einen Besuch nicht einrichten können. Zudem könnte auf diese Weise beispielsweise das emotionale Wohlbefinden oder allgemein die Lebensqualität durch die Möglichkeit sozialer Interaktion verbessert werden. Wie sich an diesem Beispiel erkennen lässt, bedarf es nicht in jedem Bereich neuer digitaler Werkzeuge, denn auch die Nutzung bestehender und längst bewährter Systeme lässt sich auf eine Vielzahl an Bereichen übertragen (z.B. Telefonseelsorge). Ein weiteres Beispiel, das sich den wichtigsten digitalen Werkzeugen im Bereich der Sterbebegleitung zuordnen lässt und von Organisationen aus dem Gesundheitswesen eigens entwickelt und vorangetrieben wird, ist die Digitale Ambulanz. Vielerorts beteiligen sich auch Kliniken an der Entwicklung digitaler Werkzeuge, um das Konzept der digitalen Ambulanz mit dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe älterer und sterbender Menschen durch digitale Angebote, zu ermöglichen bzw. voranzubringen. Dieses Werkzeug könnte auch für die Aspekte der Realisierung von Schmerzfreiheit sowie die kurzfristige Kommunikation von Behandlungspräferenzen dienlich sein.
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Weiterführende Forschungsfragen in diesem Bereich könnten folgende sein: (Wie) können digitale Produkte und Dienstleistungen trotz räumlicher Distanz zu einer Nähe zwischen Sterbenden und Angehörigen beitragen? Im Zuge dessen schließt sich die Frage an, wo die Potenziale und Herausforderungen des Technischen liegen. Gehört es nicht dazu, dass die/der Seelsorger*in die Sterbenden in den Arm nehmen kann? Lässt sich körperliche Nähe gleichwertig durch digitale Werkzeuge ersetzen? Wo liegen die Unterschiede zwischen der Präsenz- und Online-Seelsorge? Inwieweit wäre die Digitalisierung hier als ergänzendes Angebot sinnvoll? Wo und wie können Menschen in der letzten Lebensphase verloren gegangene Möglichkeiten bzw. Freiheiten durch den Einsatz von Technologien zurückgewinnen? Wie lassen sich Betroffene sinnvoll in den Gestaltungsprozess einbinden? 3.2 Digitale Sepulkralkultur Die Sepulkralkultur umschließt, wie eingangs erwähnt, die Gesamtheit aller Riten im Bereich der Trauer- und Begräbniskultur, z.B. die Trauerrede, die Bestattung und ein sich anschließendes gemeinsames Essen. Schon der französische Ethnologe Arnold van Genepp beschreibt eine „außergewöhnliche Vielfalt“ von Bestattungsritualen, die er als kompliziert bezeichnet, weil selbst bei „ein und demselben Volk gewöhnlich mehrere, einander widersprechende oder unterschiedliche, aber dennoch miteinander verschmolzene Vorstellungen von der jenseitigen Welt existieren“ (Genepp 2005: 143). Die neu hinzukommende digitale Erweiterung der Sepulkralkultur steigert diese Komplexität der Thanatopraxis weiter. Bestattungen gehören zu den ältesten und komplexesten Riten der Menschheit. Im heutigen westlichen Kulturkreis dienen sie symbolisch dazu, den Verstorbenen zu verabschieden und ihn gleichzeitig den Lebenden gegenwärtig zu erhalten, wodurch „eine Art Reintegration“ ermöglicht wird (Thieme 2019: 14). Aufgrund der Komplexität, des emotionalen Gewichts und der damit einhergehenden Notwendigkeit eines hohen Einfühlungsvermögens ist offensichtlich, dass Softwareentwickler*innen sich in diesem Feld mit großen Herausforderungen konfrontiert sehen. Im Bereich der Sepulkralkultur sind besonders zwei stetig zunehmende digitale Werkzeuge zu benennen: Online-Gedenkseiten und virtuelle Friedhöfe. Online-Gedenkseiten können mithilfe von einfachen Content-Management-Systemen (CMS), die je nach Anbieter kostenpflichtig oder kostenfrei angeboten werden, von Hinterbliebenen erstellt werden. Nach der Ausgestaltung mit Texten, Bildern, Videos und Musik können Hinterbliebene hier digitale Ker-
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zen anzünden, in ein Kondolenzbuch schreiben oder zu einer Trauerfeier einladen (vgl. Bundesverband Bestattungsbedarf 2016). Online-Gedenkseiten lassen sich somit als eine Erweiterung von Todesanzeigen verstehen. Entsprechend werden sie von Zeitungsverlagen wie der Süddeutschen Zeitung unter SZ Gedenken angeboten (Süddeutsche Zeitung 2021). Sie gehören aber auch in das Produkt- und Dienstleistungsportfolio von zahlreichen Bestattungsinstituten (z.B. Scherer 2021). Virtuelle Friedhöfe gehen einen Schritt weiter, indem sie als Ergänzung oder gar Ersatz für reale Friedhöfe fungieren. Das Spektrum an Funktionen fällt je nach Anbieter unterschiedlich groß aus. Bei einem virtuellen Friedhof kann es sich um eine Website handeln, die der Online-Gedenkseite ähnelt, aber auch um eine an Videospiele erinnernde 360°-Welt, die mit einer VR-Brille betreten wird (vgl. Häkkilä et al. 2019; Ryan 2013). Soulium ist der Name eines virtuellen Friedhofs, bei dem Anwender*innen zwischen dreizehn verschiedenen Orten auswählen können: Neben einem christlichen, einem muslimischen und einem jüdischen Friedhof gibt es beispielsweise auch einen „Friedhof für Sternenkinder“ und einen „Bergfriedhof“. Auf einem entsprechend gestalteten Bild in Form einer JPEG-Datei lässt sich hier ein Grab platzieren, das sich anschließend mit Nachrichten, Kerzen und Weiterem befüllen lässt (vgl. Dittrich 2021). In Bezug auf die digitale Sepulkralkultur lassen sich folgende anschließende Forschungsfragen definieren: Welche Herausforderungen bestimmen den Wandel von herkömmlichen bzw. analogen Formen der Sepulkralkultur hin zu digitalen Systemen? Welche Funktionen der Grabpflege lassen sich nur analog und welche auch digital umsetzen und bis zu welchem Grad ist dies möglich? 3.3 Digitale Trauerbewältigung Um eine Ordnung in den Trauerbewältigungsprozess zu bringen, werden oftmals Phasenmodelle herangezogen. Diese Phasen sind idealtypisch zu verstehen. Das heißt, dass sie weniger als linearer Prozess zu begreifen sind, der zwangsläufig nacheinander abläuft. Der Psychologe Joachim Küchenhoff hält fest, dass der Trauerbewältigungsprozess erst dann erfolgreich abgeschlossen werden könne, wenn bei Trauernden dreierlei Voraussetzungen gegeben seien: 1. sich auf einen Trauerprozess überhaupt einlassen zu können, 2. ihn emotional zu ertragen und 3. ihn zu beenden bzw. abschließen zu können (vgl. Küchenhoff 2011). Auch das Internet nimmt auf die identifizierten Phasen Einfluss und verändert die Art zu trauern. Dieses Phänomen wird auch unter dem Begriff Trauer 2.0 gefasst (vgl. Sörries 2020). Angehörige verarbeiten ihre Trauer zunehmend in sozialen Netzwerken, wie etwa Trauerforen, Blogs oder auch mithilfe von
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YouTube-Videos. Auch hier kommen kommunikationsunterstützende Werkzeuge wie Videotelefonie-Software zur Online-Therapie zum Einsatz. Im Kontext der digitalen Trauerbewältigung sind ebenfalls die bereits erwähnten KI-Erinnerungsavatare wichtig. Es existieren zahlreiche Software-Unternehmen, die sich dem Bereich der kurativen KI-Erinnerungssysteme gewidmet haben. Replikas KI-Chatbot unterhält sich über persönliche Erinnerungen und Erfahrungen, um – so das Unternehmen – die psychische Gesundheit zu fördern. Eternime ist eine Ausgründung des MIT, die dazu dienen soll, das eigene Andenken oder das anderer zu bewahren bzw. zu verewigen. Lifenaut baut an KI-Avataren, die zunächst digital und später potenziell biologisch (durch Klonen) das Weiterleben ermöglichen sollen. Der Einsatz von KI-Erinnerungsavataren evoziert die Frage, welchen Einfluss er auf die von Küchenhoff identifizierten Phasen des Trauerbewältigungsprozesses bzw. deren erfolgreichen Abschluss nimmt. Zwar können Anwender*innen von einem Trostgefühl profitieren, fraglich ist aber, ob diese Trauer, wenn der Erinnerungsavatar abgeschaltet wird, nicht (erneut) beginnt und der Einsatz ihn nur verschiebt oder sogar verlängert. Wie formiert sich das Feld der angeleiteten Trauerprozesse (durch Kirche, Trauer-Coachings etc.) durch diese Angebote neu? Welche Werte transportieren die verwendeten Systeme? Es wäre wünschenswert, derartige Fragen zu klären, bevor sich solche Arten von Software auf dem Markt etablieren. 3.4 Digitale Nachlassverwaltung Die Digitalisierung erweitert das Erbe, da nicht nur der Inhalt eines Kontos oder Immobilien vererbt werden, sondern auch digitale Daten. Die Frage, wie mit den Daten verfahren werden soll, ist ebenso umstritten wie die Frage, wer diesen Teil des Nachlasses überhaupt verwalten darf. Der digitale Nachlass einer Person umfasst sämtliche digital vorliegenden Informationen, die sie zu Lebzeiten geschaffen hat. Dazu gehören unter anderem Profile in sozialen Medien, Online-Unterhaltungen, Spieleprofile oder Blogs. „Der Kreuzpunkt, an dem die Zahl der Toten die der Lebenden [bei Facebook] übersteigt“, so Emily Dunham, „würde dann ungefähr im Jahr 2065 liegen.“ (Dunham 2014: 301) Sobald Facebook erfährt, dass ein*e Anwender*in verstorben ist, wird das Profil in eine Online-Gedenkseite umgewandelt. Allerdings ist es möglich, zu Lebzeiten eine*n Nachlassverwalter*in (legacy contact) zu bestimmen, die/der einen Status posten, Fotos herunterladen oder Freundschaftsanfragen beantworten kann (Facebook 2021). Andere soziale Netzwerke, wie Twitter, bieten solche Funktionen bisher nicht an.
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Verbände wie die Digital Legacy Association widmeten sich der Entwicklung eines Frameworks, das sich an Fachleute richtet, die Menschen in ihrer letzten Lebensphase dabei unterstützen sollen, Entscheidungen über ihren digitalen Nachlass zu treffen. Zudem bietet die Digital Legacy Association Leitfäden zur Unterstützung an, die bei der Betreuung des digitalen Nachlasses von kürzlich Verstorbenen von Nutzen sein können (vgl. Norris et al. 2021). Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, sind beispielsweise: Sollten gesetzlich verankerte Designregeln den digitalen Nachlass betreffend erstellt werden? Inwiefern verändert ein digitaler Nachlass unsere Erinnerungskultur? 3.5 Transhumanismus/Posthumanismus In den Diskursen zu transhumanistischen und posthumanistischen Vorstellungen werden Fragen neu gestellt, die bereits in verschiedenen Kulturen und in unterschiedlichen Epochen gestellt wurden: Was ist der Tod? Kann der Mensch es schaffen, den Tod zu überwinden? Gibt es Dimensionen menschlicher Existenz, welche den Tod des Körpers überleben? Zentrale Themen, die mit diesen Fragen in Beziehung stehen, lassen sich bereits in dem Gegenüber von zwei Philosophen beobachten, die zu den wirkungsmächtigsten Denkern der Geschichte gehören: Platon und sein bedeutendster Schüler Aristoteles. Platon zufolge gibt es eine Dimension menschlicher Existenz, welche nicht nur den Tod des Körpers überlebt, sondern die auch bereits vor der körperlichen Geburt existiert hat, nämlich die Seele bzw. die unsterblichen Anteile der Seele. Diese Vorstellung kann als einer der größten Gegensätze zu einem transhumanistischen und posthumanistischen Menschenbild verstanden werden. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Transhumanismus und der Posthumanismus als konsequente Ausgestaltungen eines aristotelischen Menschenbildes gedeutet werden können, in dem alle Dimensionen menschlicher Existenz auf materielle Grundlagen zurückgeführt werden (vgl. Krüger 2019: 165). Jene Diskurse, welche seit langer Zeit zwischen platonischen und aristotelischen Menschbildern geführt werden, erfahren im Bereich technologischer Entwicklungen eine neue Aktualität. Technologien wie die Künstliche Intelligenz und die Nanobiotechnologie sind dabei, eine Brücke zwischen Medizin und Informatik zu bauen, indem sie den menschlichen Organismus als ein komplexes Software- und Hardware-System begreifen. Sie streben an, den (vermeintlichen) Traum einer künstlichen Unsterblichkeit zu verwirklichen. Der US-amerikanische Futurist, Erfinder und Chef-Ingenieur von Google, Ray Kurzweil, prophezeit in seinem Buch „Menschheit 2.0. Die Singularität naht“ (2005), dass die technische Evolution die Fortsetzung der biologischen sein wird. Unser Körper sei „in seiner derzeiti-
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gen Version gebrechlich und fehleranfällig, ganz zu schweigen von den mühsamen Instandhaltungsroutinen, die er erfordert.“ (Kurzweil 2014: 8) Auch Gerald Sussman, Informatiker am MIT und bekannt für seine Forschungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz, meint: „Ich fürchte, dass ich zur letzten Generation gehöre, die noch sterben wird.“ (Sussman 2015) Einige Wissenschaftler*innen gehen sogar noch weiter: Durch Künstliche Intelligenz soll der Mensch gottähnlich werden, unsterblich und superintelligent. Angeblich schon in den nächsten Jahrzehnten (vgl. Krüger 2019: 297 ff.). Nanobiotechnolog*innen geht es darum, die Bau- und Wirkprinzipien des Lebens auf atomarer und molekularer Ebene zu verstehen. Später sollen nanoskalige Roboter konstruiert werden, die mit dem biologischen System in Interaktion treten. Mithilfe eines 3D-Druckverfahrens arbeitet der Biotechnologe Andrew Hessel am Bau künstlicher Viren, die Krebszellen angreifen sollen (vgl. Cycholl 2015). Hier stellen sich daher etwa folgende Fragen: Wie wirken sich biotechnologische Entwicklungen auf unser Menschenbild aus? Welche Zukunftsvorstellungen sind erstrebenswert und welche nicht? Und darauf aufbauend: Wie sind solche Systeme zu gestalten? Wer trifft die Designentscheidung? Welchen Einfluss hat weitere Forschung in diesem Bereich auf das Menschenbild? Und wie können diese Einsichten im Bereich der Seelsorge und Trauerbewältigung digital vermittelt werden?
4.
METHODEN UND WERKZEUGE DER DIGITALEN THANATOPRAXIS
In diesem Abschnitt stellen wir drei mögliche Methoden vor, die Softwareentwickler*innen bei der Gestaltung von Systemen für die Thanatopraxis unterstützen und nicht intendierte Auswirkungen minimieren sollen, um einen positiven Umgang mit dem Tod zu unterstützen. 4.1 Participatory Design Mit dem Partizipativen Design wird das Ziel verfolgt, Akteur*innen aktiv am Softwaregestaltungsprozess teilhaben zu lassen. Ursprünglich wurde diese Methode eingeführt, um die Arbeiterschaft demokratisch in Unternehmensentscheidungen einzubeziehen, insbesondere bei Fragen rund um die Einführung neuer Technologien am Arbeitsplatz (vgl. Spinuzzi 2005). Auf die Thanatopraxis bezogen geht es um die Einbeziehung von Sterbenden und Angehörigen bei der Gestaltung digitaler Produkte und Dienstleistungen. Ferner ist die Einbeziehung
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von Expert*innen vorgesehen, die in diesem Kontext forschen und/oder praktisch tätig sind. Eine der Hauptaufgaben, die das Partizipative Design an seine Anwender*innen stellt, ist die Generierung von Wissen und Meinungen mithilfe eines heterogenen Ensembles von Akteur*innen. Diese sollen auch den eigenen Standpunkt kritisch hinterfragen, um die Risiken und Chancen der digitalen Systeme so gut wie möglich zu prognostizieren (vgl. Grunwald 2010: 284 ff.). Infolgedessen können Handlungsempfehlungen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft initiiert werden, mit denen der erste Schritt des Weges hin zu einer wünschenswerten Zukunft begangen werden kann. Im Participatory Design werden in der Regel vier Stufen durchlaufen (vgl. Simonsen/Robertson 2013): • In der Anforderungsanalyse („Requirements Engineering“) werden zunächst
die Bedarfe der Akteur*innen evaluiert, und es wird eine Übereinkunft darüber getroffen, was das System leisten soll. Den Software-Entwickler*innen wird ein Verständnis für die Anforderungen vermittelt. Außerdem werden die Systemgrenzen festgelegt. • Die zweite Stufe wird als Analyse und Entwurf („Analysis and Design“) bezeichnet. Hier werden die Anforderungen aus Stufe 1 in das Design des Zielsystems überführt. Im Anschluss wird eine robuste Architektur entwickelt. • Es folgt die Implementierung („Implementation“). Ein mehr oder weniger ausgereifter Prototyp wird entwickelt, in dem die einzelnen Komponenten zu einem ausführbaren System zusammengesetzt werden. • Schließlich wird das System einem Test unterzogen. Hier wird validiert, ob die Software tatsächlich wie intendiert funktioniert und ob die Anforderungen wie spezifiziert implementiert wurden. Des Weiteren werden drei Arten von Quellen unterschieden, welche die nutzer*innenzentrierte Gestaltung gewährleisten sollen (ebd.): • Stakeholder: Die Anerkennung des Verfahrens bedingt eine heterogene Zu-
sammensetzung der Teilnehmer*innen. Die Stakeholder sollten sich möglichst ausgewogen repräsentiert fühlen. So fällt die Sterbebegleitung in den Verantwortungsbereich des Pflegepersonals, von Seelsorger*innen und Psychotherapeut*innen. Wird angestrebt, die Sterbebegleitung durch ein digitales Produkt oder einen digitalen Service zu erweitern, bietet es sich an, bereits in der Gestaltungsphase Vertreter*innen aus diesen drei Bereichen als Stakeholder zu involvieren. In diesem Beispiel könnte es sich zudem anbieten, auch Sterbende selbst und Angehörige in die Gestaltung einzubeziehen. Die Stakeholder-Zusammensetzung sollte individuell auf das jeweilige Themenfeld abge-
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stimmt werden. Das Bestimmen von Mediator*innen könnte der gerechten Vereinbarung und fairen Einhaltung von Verfahrensregeln zugutekommen. • Dokumente: Dokumente enthalten Informationen, aus denen Anforderungen gewonnen werden können. Es kann sich um Erfahrungsberichte handeln, um Gesetzestexte, Normen, ethische Wertediskussionen, Fehlerberichte passender Alternativsysteme usw. Befindet sich beispielsweise ein virtueller Friedhof in Planung, ließen sich passende Informationen des Bundesverbands Bestattungsbedarf heranziehen (Bundesverband Bestattungsbedarf 2016) sowie wissenschaftliche Studien, die sich direkt mit der Gestaltung und Nutzung von virtuellen Friedhöfen befassen (z.B. Häkkilä et al. 2019; Ryan 2013). • Systeme in Betrieb: Das Ausprobieren und die Analyse von Vorgängerund/oder Konkurrenzsystemen kann zu neuen oder veränderten Anforderungen führen. Widmen sich Softwareentwickler*innen der Gestaltung von KI-Erinnerungsavataren, könnten z.B. die in Abschnitt 2.3 aufgeführten Beispiele für solche Systeme als Test herangezogen werden. 4.2 Value Sensitive Design Der Value-Sensitive-Design-Ansatz hat zum Ziel, menschliche Grundwerte in spezifische Anforderungen an die zu gestaltenden Systeme zu übersetzen. Im Folgenden werden daher kurz die Grundlagen zu menschlichen Werten erläutert. Anschließend wird der Designansatz vorgestellt. Menschliche Werte lassen sich den Leitprinzipien gesellschaftlichen Zusammenlebens zuordnen, welche die Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen einer jeden Person im Blick auf die Gemeinschaft organisieren (vgl. Schwartz 2006). Menschen empfinden ein Gefühl der Erfüllung, wenn ihre Handlungen mit ihren wichtigsten Werten übereinstimmen (vgl. Rokeach 1973). Dies führt zu einem bewussten und/oder vorbewussten Streben nach Kohärenz zwischen Werten und Verhaltensentscheidungen (vgl. Bardi/Schwartz 2003; Crompton 2010). Indes lassen sich Werte in einem engeren Sinne verstehen und in einem erweiterten. Im engeren Sinne ist hier der ökonomische Wert gemeint. Im erweiterten Sinne sind Werte das, was eine Person oder eine Gruppe von Personen als wichtig erachtet. Das kann nahezu alles sein: „Kinder, Freundschaft, der Morgentee, Bildung, Kunst, ein Spaziergang im Wald, gute Umgangsformen, gute Wissenschaft, ein weiser Führer, saubere Luft.“ (Friedman et al. 2007) Value Sensitive Design ist ein theoretisch fundierter Ansatz für die Gestaltung von Technologie, der die menschlichen Werte während des gesamten Designprozesses in einer prinzipiellen und umfassenden Weise berücksichtigt (vgl. Friedman et al. 2007). Der Ansatz mündet in einem ethischen Übersetzungspro-
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zess, der Werte anhand von Anforderungen in die Gestaltung einfließen lässt. In der Regel wird im Value Sensitive Design zwischen drei Phasen unterschieden (Friedman et al. 2007): • Konzeption: Am Anfang werden die Werte aller Akteur*innen zu einer breiten
Wissensbasis zusammengefasst. Zunächst muss sich, wie auch im Participatory Design, die Frage gestellt werden, wer die von der Software betroffenen Akteur*innen sind. Im Falle virtueller Friedhöfe sind das neben Angehörigen u.a. Bestatter*innen, Trauerredner*innen und Zeitungsverlage (siehe Abb. 1). Im Anschluss stellt sich die Frage, welche Werte hier berührt werden. Gegebenenfalls wird an dieser Stelle eine Gewichtung notwendig, wenn sich z.B. ein moralischer Wert (z.B. das Recht auf Privatsphäre) mit einem nichtmoralischen Wert (z.B. ästhetische Vorlieben im Webdesign) schneidet. • Empirie: Konzeptuelle Untersuchungen werden im Anschluss durch qualitative und quantitative Designforschungsstudien ergänzt, um eine Verbreiterung der Wertebasis der Akteur*innen zu erarbeiten. So könnte eine ImpactAnalyse hinsichtlich der Trauerbewältigung seitens der Angehörigen durchgeführt werden. • Technologie: Schließlich wird, falls vorhanden, der Einsatz verwandter Technologien und Dienstleistungen mit derselben Zielsetzung herangezogen, um die Werteermittlung durch eine praktische Verwendung zu ergänzen. Je nach Technologie lassen sich Werte einfacher und schwieriger materiell umsetzen. Die Software kann durch ihre Eigenschaften die Realisierung menschlicher Werte unterstützen, aber auch behindern. Oftmals müssen hier Kompromisse gefunden und abgewogen werden. 4.3 Sustainability Awareness Framework (SusAF) Softwareentwickler*innen neigen dazu, sich auf technische Elemente zu konzentrieren. Demgegenüber sind Softwaresysteme in andere nicht-technische Systeme eingewoben. Sie verschwimmen mit unserer Umwelt, sodass ihre gesellschaftlichen, umweltbedingten und ökonomischen kurz- und langfristigen Auswirkungen nicht bewusst wahrgenommen werden (Becker et al. 2016). 2015 hat eine internationale Gruppe von Wissenschaftler*innen die Prinzipien für eine nachhaltige Software-Gestaltung, welche sich mit diesen Auswirkungen auseinandersetzt, im sogenannten Karlskrona Manifesto for Sustainability Design (Becker et al. 2015) zusammengetragen. Darauf aufbauend entstand das Sustainability Awareness Framework (SusAF), eine Methode, welche die Prinzipien des Manifests einschließt. Dem SusAF liegt ein Prozess zugrunde, der sich
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beispielsweise im Rahmen von Workshops umsetzen lässt: Zunächst werden Fragen zu den sozialen, persönlichen, ökologischen, ökonomischen und technischen Dimensionen beantwortet und in vorgefertigte, modifizierbare Dokumentvorlagen eingefügt. Die Ergebnisse werden in einem Bericht zusammengefasst und in ein Sustainability Awareness Diagram (SusAD) übertragen (siehe Abb. 4). Indem es mögliche Wirkungsketten visualisiert, dient das ausgefüllte SusAD dazu, ein Bewusstsein für die Folgen soziotechnischer Systeme zu schaffen. Die verwendeten fünf Dimensionen der Nachhaltigkeit unterteilen sich wie folgt: • Sozial: umfasst die Beziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen. • Persönlich: umfasst die Fähigkeit der/des Einzelnen, sich zu entfalten,
ihre/seine Rechte wahrzunehmen und sich frei zu entwickeln. • Ökologisch: umfasst die Nutzung und den Umgang mit natürlichen Ressour-
cen. • Wirtschaftlich: umfasst die finanziellen Aspekte und den geschäftlichen Wert. • Technisch: umfasst die Fähigkeit des technischen Systems, sich Änderungen
anzupassen. Die Auswirkungen soziotechnischer Systeme können kurz- und langfristig eintreten. Daher sollten nicht nur die unmittelbaren Merkmale und Auswirkungen von Software berücksichtigt werden, sondern auch ihre längerfristig aggregierten und kumulativen Auswirkungen. Es wird daher zwischen drei Arten von Auswirkungen differenziert: • Unmittelbar sind direkte Auswirkungen der Produktion, des Betriebs, der Nut-
zung und Entsorgung sozio-technischer Systeme. Dazu gehören die Eigenschaften und die Auswirkungen über den gesamten Lebenszyklus, wie z.B. beim Life-Cycle-Assessment-Ansatz (LCA). • Die Ermöglichung des Betriebs und der Nutzung eines Systems umfasst alle Veränderungen, die durch das System ermöglicht oder induziert werden (z.B. Rebound-Effekte). • Strukturelle Veränderungen sind systemische Veränderungen, die durch den laufenden Betrieb und Nutzung des sozio-technischen Systems über mehrere Jahre und von sehr vielen Nutzern verursacht werden (z.B. Gesetzesänderungen). Beispielhaft ist nachfolgend die Anwendung des SusAF auf virtuelle Friedhöfe zu sehen (siehe Abb. 2):
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Abbildung 2: Ein ausgefülltes „Sustainability Awareness Diagram“ (SusAD) am Beispiel virtueller Friedhöfe
Quelle: eigene Darstellung • In der persönlichen Dimension hat die Erstellung des virtuellen Grabs eine di-
rekte Auswirkung auf diejenigen Angehörigen, welche die Webseite gestalten: Sie werden zu einer Auseinandersetzung mit der verstorbenen Person und damit der Trauer bewogen. Dem Trauerbewältigungsprozess kommt die „digitale Nähe“ hier auch auf der aktivierenden Effektebene zugute, da ein häufigerer Besuch des (virtuellen) Grabs (auch bei räumlicher) Distanz geschaffen wird. • Diese beiden Aspekte können in der sozialen Dimension zu einem strukturellen Effekt führen: der Entstehung neuer (religiöser) Rituale. In der Ebene darunter ist die Online-Kommunikation anzuführen, da gemeinsame „Besuche“ in Form von Textnachrichten ermöglicht werden, sowie die Auseinandersetzung mit dem Tod durch jüngere Personen. Es ist davon auszugehen, dass internetaffinere Personen die Erstellung des virtuellen Grabs übernehmen werden, da diese oftmals eher mit der Handhabung eines ContentManagement-Systems vertraut sind (durch Blogs, soziale Netzwerke etc.).
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• Innerhalb der ökonomischen Dimension könnte ein Mehrwerden virtueller
Gräber langfristig dazu führen, dass die Zahl „echter“ Gräber weiter abnimmt. Sie könnten sich als Alternative etablieren. Dies würde einen geringeren Kostenfaktor für Angehörige mit sich bringen. • Dies würde in der ökologischen Dimension einen erhöhten Energieverbrauch durch Webhosting und damit einen Anstieg der CO 2-Emissionen zur Folge haben, insofern nicht auf klimaneutrale Möglichkeiten zurückgegriffen wird. • In der technischen Dimension müsste zunächst auf den Datenschutz geachtet werden bzw. auf die Konformität mit der DSGVO. Dies wirft auf der aktivierenden Ebene zudem Fragen in Richtung digitaler Nachlassverwaltung auf, die im Vorfeld von den Betreiber*innen virtueller Friedhöfe sowie den Angehörigen geklärt werden müssten. Das in Abbildung 3 dargestellte SusAD soll nicht als Grundlage im Sinne einer Vorgabenliste fungieren. Stattdessen soll hier exemplarisch aufgezeigt werden, zu welchen Resultaten die Verwendung des Frameworks in der Anwendung führen kann. Das SusAF ermöglicht es den Stakeholdern, eine Diskussion um die Auswirkungen des digitalen Werkzeugs zu beginnen. Darauf aufbauend können Richtlinien erarbeitet werden, die als Basis für die Softwaregestaltung fungieren.
5.
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
Die Thanatopraxis hat sich unlängst der Digitalisierung zugewendet und umgekehrt. In allen fünf Bereichen (Sterbebegleitung, Sepulkralkultur, Trauerbewältigung, Nachlassverwaltung und Transhumanismus/Posthumanismus) lässt sich ein wachsendes Interesse an digitalen Produkten und Dienstleistungen erkennen. Diese Entwicklung geht zwangsläufig mit der wachsenden Herausforderung einher, Software angemessen, hilfreich und im Dialog mit den Betroffenen zu gestalten. An dieser Stelle sei anzumerken, dass die Digitalisierung der Thanatopraxis Fragen aufwirft, die auch aufgrund ihrer Sensibilität nicht der Wirtschaft allein überlassen werden sollten. Sowohl die in diesem Kontext entstehenden Produkte und Dienstleistungen als auch ihr Entstehungsprozess selbst sollten von der Wissenschaft kritisch begleitet werde. Eine transdisziplinäre Ausrichtung, die Betroffene einbezieht, ist hierbei anzustreben. Unser Ziel in diesem Beitrag bestand darin, das Forschungsfeld Digitale Thanatopraxis vorzustellen, einen umfassenden Überblick über den Einsatz digitaler Werkzeuge innerhalb der Thanatopraxis zu liefern sowie hilfreiche Methoden aus der Sozioinformatik vorzustellen, die in ihrer Gestaltung zum Einsatz
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kommen können. Wir hoffen, damit zu einer kritischen Überprüfung der Thematik im jungen Forschungsfeld Digitale Thanatopraxis beitragen zu können. Darüber hinaus hoffen wir, dass weitere Forscher*innen aus unseren und anderen Disziplinen sich dem Vorhaben unserer Forschungsgruppe DigiThan anschließen und sich ebenfalls den Chancen, Risiken und Grenzen der digitalen Thanatopraxis widmen.
ACKNOWLEDGEMENT Wir bedanken uns bei Feyza Susan Akbay und Bethold Winkler für ihre wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags und für zahlreiche instruktive Diskussionen.
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Digitaler Nachlass als Herausforderung für gesellschaftliche Neuordnungen Kirsten Brukamp
1.
DIGITALER NACHLASS ALS HERAUSFORDERUNG
1.1 Digitalisierung und Erinnerung Prozesse der Digitalisierung bestimmen zunehmend das Leben von Menschen – und ihr Sterben. Die Nutzung digitaler Dienste und Netzwerke erfuhr in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine bemerkenswerte Verbreitung, die weiterhin einen Aufwärtstrend besitzt. Nach dem ersten umfassenden Aufbau und Ausbau von Informations-, Kommunikations- und Netzwerkmedien ab den 1990er Jahren entstand besonders ab den 2000er Jahren ein Bedarf für die inhaltliche Thematisierung von Tod, Sterben und Trauer. Bedingende Faktoren umfassen vermutlich die größeren Nutzungszahlen auch in höheren Altersgruppen, die Erweiterung des digital abgebildeten und verhandelten Themenspektrums sowie die demografische Entwicklung bei den Nutzungspionierinnen und -pionieren. Initiale Formen digitaler Trauerverarbeitung umschließen digitale Todesanzeigen, digitale Friedhöfe, digitale Erinnerungsartefakte, Austausch- und Vernetzungsmöglichkeiten der Hinterbliebenen (Brukamp 2011). Damit sind die Digitalisierungsmöglichkeiten für die transformierte Erinnerung jedoch noch nicht abgeschlossen. Informationstechnische Fortschritte versprechen weitere Steigerungen bei der Repräsentation von Verstorbenen (Brukamp 2020). Zukunftsweisende Methoden der Informatik könnten Anwendungen der Künstlichen Intelligenz auf fortgeschrittene Daten-, Text-, Bild-, Video- und Audioanalyseansätze sein, die dazu führen dürften, dass eine Interaktion mit einer digitalen Darstellung der Verstorbenen umgesetzt würde, sei es auf der Text-, Bild- oder Sprachebene. In der Tat finden sich entsprechende Spekula-
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tionen bereits in der Populärkultur und in Science-Fiction-Filmen. Diese Entwicklungslinien könnten fortgesetzt werden durch materialwissenschaftliche Potenziale, die virtuelle Avatare in materielle Roboter verwandeln, so dass eine neue Materialität der Darstellung Toter resultiert (Brukamp 2020). 1.2 Digitaler Nachlass Abgesehen von schwer einzuschätzenden Zukunftsvisionen ergeben sich bereits heute konkrete Herausforderungen der Digitalisierung für das Sterben im Hinblick auf akzeptierte Rechtskonzepte und etablierte Alltagspraktiken. Aufgrund der demografischen Alterung stellt sich zunehmend die Frage, wie mit dem digitalen Nachlass von Nutzenden nach deren Versterben umzugehen ist, beispielsweise mit Zugängen zu E-Mail-Konten und Netzwerkprofilen. Insofern werden hier soziale Ordnungsvorgänge für den Prozess des Sterbens in der Gesellschaft erforderlich. In den letzten Jahren ist Bewegung beim Thema Digitaler Nachlass in der Gesellschaft entstanden. Die Aufmerksamkeit steigt in der breiten Öffentlichkeit. Konkret zeigt sich diese Entwicklung an der Berücksichtigung der entsprechenden Inhalte bei Ratgebung für und Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Damit wird die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger angesprochen und zur Vorsorge aufgefordert. Beispielsweise wird digitaler Nachlass durch die Stiftung Warentest thematisiert und führt zu dezidierten Kapiteln in für den allgemeinen Markt bestimmten Ratgebungsbüchern (bspw. in Bittler et al. 2020; Kiefer 2021). Digitale Güter sind dadurch gekennzeichnet, dass sie elektronisch codiert vorliegen und die Nutzung eines Komplementärgeräts als eines materiellen Wiedergabegeräts voraussetzen, da sie sonst nicht genutzt werden können. Die für den Erbfall zu regelnden digitalen Entitäten, Daten und Dienstleistungen sind vielfältig. Dazu gehören unter anderem sowohl gespeicherte Informationen als auch installierte Softwareanwendungen auf technischen Geräten wie Computern und Smartphones, eigene Internetseiten, E-Mail-Konten, Nutzungskonten in Netzwerkdiensten, Profile bei Online-Dating-Plattformen, Zugänge für Online-Shops und Online-Versteigerungsplattformen, Online- und StreamingAbonnements, monetär wertvolle virtuelle Figuren oder Gegenstände in Online-Spielen, elektronisch realisierte Boni oder Rabatte, digitale Zustellungen von Vertragsunterlagen und Rechnungen, Cloud-Speicherplätze und Kryptowährungen. Anhand dieser Einleitung wird deutlich, dass die Prozesse der Digitalisierung mit neuen sozialen Ordnungen des Sterbens einhergehen, bis hin zu konkreten
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Aufforderungen nach juristisch und sozial wirksam werdenden Neuregelungen von Besitz und Eigentum nach dem Todeseintritt. Im Folgenden werden rechtliche, sozialwissenschaftliche und ethische Perspektiven auf den digitalen Nachlass eröffnet.
2.
RECHTLICHE KONTEXTE: ANALYSE EINER KASUISTIK AUS DER RECHTSPRECHUNG
2.1 Vorstellung der Kasuistik Die Konzepte der Vererbung und der Vererblichkeit von digitalen Entitäten bleiben, zuvörderst wegen ihrer Neuartigkeit, aktuell umstritten. Dieses zeigt sich an sukzessiv unterschiedlichen Gerichtsurteilen in einem Fall, der letztendlich 2018 vor dem Bundesgerichtshof (BGH) verhandelt wurde. Die Klägerin war die Mutter eines 15jährigen Mädchens, das bei einem Verkehrsunfall starb; die Beklagte war ein Unternehmen, das einen Netzwerkdienst mit Personenprofilen betrieb. Die Mutter begehrte Zugang zum Nutzungskonto der Tochter, unter anderem, um deren Suizidalität einzuschätzen. Die Beklagte argumentierte, dass das Profil in einen sogenannten Gedenkzustand versetzt worden sei, wodurch die üblichen Nutzungsoptionen entfielen (BGH 2018, BGH 2020). Der BGH entschied 2018, dass der Vertrag über das Konto im OnlineNetzwerk auf die Erbin übergehe (BGH 2018, BGH 2020). Dadurch werden also die vertraglichen Bindungen der Erblasserin auf die Erbin übertragen. Obwohl die Beklagte der Klägerin die Kommunikationsinhalte bereits vor dem abschließenden Gerichtsurteil zur Verfügung gestellt hatte, reichte dieses nicht aus, weil das Konzept eines Vertrags zugrunde gelegt wurde, in den die Mutter eintrat. Ihre Nutzungsmöglichkeiten sollten denen der Tochter genau entsprechen (BGH 2020). 2.2 Analyse der Kasuistik Das rechtliche Konstrukt eines vererbten Vertrags, speziell eines Nutzungsvertrags, wurde in diesem Urteil als entscheidend angesehen. Verschiedene andere rechtliche Konzepte könnten jedoch angeführt werden, um Einwände dagegen zu erheben, nämlich höchstpersönliche Rechte, Persönlichkeitsrecht, Fernmeldegeheimnis und Datenschutz.
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Nach dem Konzept der höchstpersönlichen Rechte, auch Rechte höchstpersönlicher Natur genannt, treffen bestimmte Rechte, Verpflichtungen und Bindungen einer Person ausschließlich auf diese zu und können (in der Regel) nicht auf andere übertragen werden. Dazu gehören beispielsweise Eheschließung, Urhebungsrecht, Wahlrecht, Vereinsmitgliedschaften und Arbeitspflicht von Arbeitnehmenden. Zum Beispiel kann in unserer entstandenen Kultur die höchstpersönliche Eheschließung nicht an andere Personen weitergegeben werden: Es ist undenkbar, den Status als Ehegattin oder Ehegatte auf eine andere Person zu übertragen, was gegebenenfalls zum Eintritt in eine Ehe wider Willen mit psychischen und emotionalen Belastungen führen könnte. Aus der Übertragbarkeit folgt die Vererblichkeit, aber aus der Vererblichkeit folgt keine Übertragbarkeit; das Gegenbeispiel stellen hier die Urhebungsrechte dar. Unvererbliche Rechte gehen unter (DAV 2013: 31). Im Hinblick auf den BGH-Kasus wurde verneint, dass höchstpersönliche Rechte und Persönlichkeitsrechte dem Zugang der Mutter zum Online-Profil und zu Kommunikationsaussagen der Tochter entgegenstehen, denn in der Vergangenheit konnten auch höchstpersönliche Inhalte in persönlichen Briefen und Tagebucheinträgen vererbt werden (BGH 2018). Nach der Einschätzung des BGH treten im vorliegenden Beispielfall keine Einschränkungen der Erbin durch das Datenschutzrecht (DS-GVO 2016) ein, weil es nur lebende Personen schützt (BGH 2018). Des Weiteren unterstützt das Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz Erbinnen und Erben, indem es für „Rechte des Erben des Endnutzers und anderer berechtigter Personen“ besagt: „Das Fernmeldegeheimnis steht der Wahrnehmung von Rechten gegenüber dem Anbieter des Telekommunikationsdienstes nicht entgegen, wenn diese Rechte statt durch den betroffenen Endnutzer durch seinen Erben oder eine andere berechtigte Person, die zur Wahrnehmung der Rechte des Endnutzers befugt ist, wahrgenommen werden.“ (§ 4 TTDSG 2021) Laut Grundgesetz soll das Fernmeldegeheimnis geschützt werden: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.“ (Art. 1 Abs. 1 GG 2020) Daraus folgt jedoch nicht, dass die Inhalte und Vorgänge der Telekommunikation nicht auf der Grundlage von anderen Gesetzen weitergegeben werden dürfen, beispielsweise durch Vererbung. Insbesondere expliziert das Telekommunikationsgesetz (TKG 2021) selbst den Schutz und die Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses. Überlegungen aus dem Urhebungsrecht (UrhG 2021) bieten auf keinen Fall Angriffspunkte gegen das BGH-Urteil (BGH 2018), weil alle Regelungen aus dem Urhebungsrecht eine Vererblichkeit voraussetzen, wie explizit zur „Vererbung des Urheberrechts“ hervorgehoben wird: „Das Urheberrecht ist vererb-
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lich.“ (§ 28 Abs. 1 UrhG 2021) Ebenfalls klar äußert sich das Gesetz zum „Rechtsnachfolger des Urhebers“: „Der Rechtsnachfolger des Urhebers hat die dem Urheber nach diesem Gesetz zustehenden Rechte, soweit nichts anderes bestimmt ist.“ (§ 30 UrhG 2021) Insofern darf im vorgestellten BGH-Fall (BGH 2018) die Mutter die Werke der Tochter, an denen letztere Rechte nach dem Urhebungsrecht besaß, uneingeschränkt nutzen. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG 2020 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG 2020) und darauf beruhende Rechtskonzepte können nicht gegen die BGH-Entscheidung (BGH 2018) eingewandt werden. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist an das lebende Individuum geknüpft und erlischt mit dem Tod der Person.
3.
RECHTLICHE KONTEXTE: KONZEPTE IN DER GESETZGEBUNG
3.1 Vererblichkeit Rechtlich könnte eine zweistufige Prüfung des digitalen Nachlasses vorgesehen werden, und zwar in der ersten Stufe auf die Übergangsfähigkeit als Vererbbarkeit und in der zweiten Stufe auf den Übergangsmodus mit praxisorientierten Vorgehensfragen (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 22). Digitale Güter könnten in solche mit einem finanziellen versus solche mit einem ideellen Wert eingeteilt werden (Fraunhofer SIT 2019: 32); die Sinnhaftigkeit dieser Unterscheidung ist jedoch fragwürdig, da auch ursprünglich aus ideellen Gründen konzipierte Datenzusammenstellungen finanziell bewertet werden können und kontinuierlich neuartige Geschäftsmodelle zur Vermarktung digitaler Daten entstehen. Das Erbrecht in Deutschland wird im Buch 5 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB 2021) mit den Paragrafen 1922 ff. geregelt. Dort heißt es zur „Gesamtrechtsnachfolge“: „Mit dem Tode einer Person (Erbfall) geht deren Vermögen (Erbschaft) als Ganzes auf eine oder mehrere andere Personen (Erben) über.“ (§ 1922 Abs. 1 BGB 2021) Hier wird traditionell aufgrund der historischen Gegebenheiten zuerst an materielle Güter und physische Gegenstände gedacht, jedoch ebenfalls unterstellt, dass jegliches Eigentum und aller Besitz der Person an die Erbinnen und Erben weitergegeben wird. Letzteres wird in der Tat an anderer Stelle im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB 2021) festgestellt, nämlich im Buch 3 zum Sachenrecht bezüglich „Vererblichkeit“: „Der Besitz geht auf den Erben
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über.“ (§ 857 BGB 2021) Bestimmte vermögenswerte Rechtsverhältnisse sind ebenfalls vererbbar (DAV 2013: 32). Insofern leitet sich hieraus die juristische Möglichkeit ab, alle ausschließlich digital oder online existierenden Entitäten ebenfalls nach denselben Rechtsgrundsätzen der Vererbung zu behandeln, wie sie im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB 2021) seit vielen Jahrzehnten nach und nach expliziert und ausdifferenziert wurden. „Der digitale Nachlass ist gemäß der erbrechtlichen Vorschriften des BGB grundsätzlich vererblich.“ (Fraunhofer SIT 2019: 11) 3.2 Postmortale Willensumsetzungen Zum Thema Digitaler Nachlass wurden für Deutschland Empfehlungen aus einer juristisch informierten Perspektive der Technologiesicherheit entwickelt (Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT 2019). Dazu gehören auch Vorlagen für die praktische Gestaltung des digitalen Nachlasses durch Bürgerinnen und Bürger (Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT 2019: 345-360). Die Vorlagen erstrecken sich auf Vorsorgevollmachten für digitale Angelegenheiten, letztwillige Verfügungen (Testamente) und Vermächtnisse, gegebenenfalls mit Teilungsanordnungen und Auflagen (FraunhoferInstitut für Sichere Informationstechnologie SIT 2019: 345-355). Darüber hinaus kommen zur Regelung noch schriftliche Fixierungen der Verbraucherinnen und Verbraucher im Rahmen von vertraglichen Regelungen in Betracht, zum Beispiel als Optionsrecht für den Todesfall oder als Optionsrecht für den Fall der Handlungsunfähigkeit (Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT 2019: 355-360). Anzumerken ist zusätzlich im Hinblick auf lebende, aber durch verschiedenste Gründe eingeschränkte Personen, dass sie ihre Rechte bezüglich digitaler Entitäten auch durch die „Erteilung der Vollmacht“ (§ 167 BGB 2021) oder durch eine „Rechtliche Betreuung“ (§§ 1896 ff. BGB 2021) wahrnehmen können. Als Begründungen für die rechtliche Betreuung werden psychische Krankheit oder körperliche, geistige oder seelische Behinderung genannt (§§ 1896 ff. BGB 2021), während für die Einsetzung von Bevollmächtigten (§ 167 BGB 2021) keine speziellen Bedingungen erfüllt werden brauchen. „Der Betreuer hat Wünschen des Betreuten zu entsprechen [...] Dies gilt auch für Wünsche, die der Betreute vor der Bestellung des Betreuers geäußert hat [...].“ (§ 1901 Abs. 3 BGB 2021) Des Weiteren kann eine „Patientenverfügung“ (§ 1901a BGB 2021) zur Umsetzung des Willens hinsichtlich Gesundheitsfragen nach Eintritt einer Einwilligungsunfähigkeit dienen.
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Die Möglichkeit einer Vorausverfügung als Willensbekundung von Menschen ist damit juristisch etabliert, doch das Versterben vor der Umsetzung führt zu einer besonderen Konstellation. Im Fall einer Vollmacht wird von einer „trans- oder postmortalen Vollmacht“ gesprochen: „Eine Vollmacht kann aber auch zu dem Zweck erteilt werden, dass eine dritte Person im Todesfall den digitalen Nachlass für den Erblasser verwaltet. [...] Dabei kann in der Vollmacht bestimmt werden, dass ihre Wirksamkeit erst im Todeszeitpunkt eintritt (postmortale Vollmacht). Daneben besteht [...] auch die Möglichkeit, die Vollmacht als transmortale Vollmacht zu erteilen, also mit Wirkung bereits zu Lebzeiten über den Todeszeitpunkt hinaus.“ (Fraunhofer SIT 2019: 180) Der Status der Postmortalität hält generell große Herausforderungen für die aktuellen und die zukünftigen Rechtsregelungen bereit, weil der quantitative Umfang und die qualitative Tiefe digitaler Daten zu verstorbenen Menschen zunehmen und digitale Repräsentationen das „Weiterwirken der Toten durch moderne Medien“ (Brukamp 2011) ermöglichen werden, bis hin zu einer Interaktion und einer Kommunikation mit den Repräsentationen in Echtzeit (Brukamp 2020). Viele ungeklärte Fragen betreffen das postmortale Persönlichkeitsrecht (Fraunhofer SIT 2019: 101) und den postmortalen Datenschutz (Fraunhofer SIT 2019: 103-110). Die Legitimation eines auch postmortal existierenden Persönlichkeitsrechts, auch vorsichtiger als postmortaler Persönlichkeitsschutz bezeichnet, wird in der Regel im Kern des Grundgesetzes gesehen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG 2020) Das postmortale Persönlichkeitsrecht ist nach dem Willen der Betroffenen auszugestalten und auch von Erbinnen und Erben zu respektieren, was deren unbeschränkte Nutzung oder Vermarktung verbietet (Fraunhofer SIT 2019: 101). Dazu darf auch das Verbot der „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ (§ 189 StGB 2021) gezählt werden, welches als eine Extremform postmortaler Schädigung, neben beispielsweise der „Störung der Totenruhe“ (§ 168 StGB 2021), mit der Androhung einer Freiheits- oder Geldstrafe verbunden ist. Im Hinblick auf den postmortalen Datenschutz sollten Bürgerinnen und Bürger zu Lebzeiten aktiv werden, um ihre eigenen Regelungen zu treffen: „[...] das Datenschutzrecht [ist] nicht auf personenbezogene Daten Verstorbener anwendbar, denn das Persönlichkeitsrecht und damit auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erlöschen mit dem Tod des Menschen. [...] Der Schutz von Daten nach dem Tod durch den Erblasser selbst ist ein integraler Bestandteil der Ausübung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu Lebzeiten.“ (Fraunhofer SIT 2019: 103) und „Postmortaler Datenschutz setzt sich somit aus Elementen
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des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I und Art. 1 I GG) sowie des postmortalen Persönlichkeitsrechts (nur Art. 1 I GG) zusammen.“ (Fraunhofer SIT 2019: 104) Juristische Konzepte wie informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz sind ursprünglich für lebende Personen entwickelt worden und benötigen daher voraussichtlich Fortentwicklungen im Hinblick auf den digitalen Nachlass. Im Zusammenhang mit dem digitalen Nachlass ist auch der Begriff „digitale Bestattung“ (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 381-385) aufgekommen. Dieser bezeichnet die postmortalen Löschungen von digitalen Daten und Verträgen durch die Erbinnen und Erben. Ihnen, und nicht den Angehörigen, stehen diese Rechte gemäß Universalsukzession (siehe Abschnitt 3.1 und § 1922 Abs. 1 BGB 2021) zu (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 385), analog zu den Nachlassverbindlichkeiten gemäß „Erbenhaftung, Nachlassverbindlichkeiten“: „Der Erbe haftet für die Nachlassverbindlichkeiten“ (§ 1967 Abs. 1 BGB 2021) und „Beerdigungskosten“: „Der Erbe trägt die Kosten der Beerdigung des Erblassers.“ (§ 1968 BGB 2021) 3.3 Unternehmensangebote Einige gewinnorientierte Unternehmen für digitale Netzwerke und digitale Services bieten selbst Dienstleistungen an, die das Ableben von Nutzerinnen und Nutzern berücksichtigen. Zum Beispiel existiert die Option, Profile in einem Netzwerkservice in einen Gedenkzustand zu versetzen (siehe Abschnitt 2.1 sowie bspw. in BGH 2018 und BGH 2020). Auf diese Weise wird der Tod kommuniziert, und die Nutzungsmöglichkeiten werden verändert, so dass unter Umständen weitere Einträge von anderen Personen möglich sind. Solchen Ansätzen lassen sich durchaus positive Aspekte abgewinnen, beispielsweise die Selbstbestimmung des Lebenden im Rahmen eines Nutzungsvertrags, doch das grundlegende Problem der Vererbung, welches juristisch in Gesetzgebung und Rechtsprechung adressiert werden sollte, wird dadurch weder umfassend angegangen noch gelöst. Im Gegenteil könnten, auch juristische, Konflikte entstehen, falls Erbende das Profil vollumfänglich nutzen möchten, während die NetzwerkUnternehmen die Nutzungsmöglichkeiten im Gedenkzustand einschränken wollen (siehe Abschnitt 2.1 sowie bspw. in BGH 2018 und BGH 2020). Einige Firmen haben sich auf die Verwaltung des digitalen Nachlasses spezialisiert. Ihre Seriosität, Vertrauenswürdigkeit und Kosten lassen sich schwer einschätzen, so dass in Ratgebungsliteratur für Verbraucherinnen und Verbraucher teilweise für eine genaue Prüfung plädiert (bspw. in Kiefer 2021) oder davon abgeraten wird (bspw. in Bittler et al. 2020). Die Auswertung und die Nut-
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zung der zur Verfügung gestellten Daten, einschließlich von Zugangsdaten und Passwörtern, durch die Firmen bleibt intransparent, insbesondere für kommerzielle Zwecke. 3.4 Absolutes Recht an Daten Digitale Entitäten fallen zunächst unter das Immaterialgüterrecht, da sie keine materiellen Komponenten besitzen, wie sie im Bürgerlichen Gesetzbuch für den „Begriff der Sache“ vorausgesetzt werden: „Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände.“ (§ 90 BGB 2021) Im Hinblick auf ein potenziell zu entwickelndes absolutes Recht an Daten sollten Schutzumfang, dogmatische Verortung und personelle Zuordnung geklärt werden (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 36-44). Beim Schutzumfang könnten (Sach-)Eigentum oder Immaterialgüterrechte als Bezugspunkt dienen (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 36-37). Positive Rechte würden Zugangsrecht, Herausgaberecht, Nutzungsrecht und Verfügungsrecht umfassen; negative Rechte dürften eine Ausschlusswirkung entfalten (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 38-39). Die dogmatische Verortung bleibt bisher ungeklärt; sowohl die Schaffung einer neuen Kategorie als auch die Anknüpfung an ein bestehendes absolutes Recht kämen in Betracht (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 39-41). Recht an Daten könnte als Registerrecht ausgestaltet werden und Datenschutz als Dateneigentums- oder Datenverwertungsrecht (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 41-42). Die personelle Zuordnung könnte sich nach dem Schaffensprozess in einem Skripturakt oder nach der Verkehrsanschauung mit der Datenerzeugung richten (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 42-44). Ob ein absolutes Recht an Daten existiert, existieren könnte oder existieren sollte, bleibt noch ungeklärt: „Absolute Rechte beinhalten zwei grundlegende Funktionen. Der Inhaber eines absoluten Rechts kann einerseits Dritte von dem Recht bzw. der Nutzung des Rechts ausschließen (Ausschlussfunktion). Andererseits steht ihm die Befugnis zu, das Recht zu nutzen (Nutzungsfunktion). Absolute Rechte wirken gegenüber jedermann und sind nicht verjährbar, das bedeutet, sie bilden keinen gegen einen bestimmten Dritten gerichteten Anspruch. […] [Es] sind auch Immaterialgüterrechte wie Firma, Marke, Design, Patent oder Urheberrecht als absolute Rechte zu klassifizieren. Im Kern geht es [...] um die Frage, ob absolute Rechte an Daten ent- oder bestehen können. Nach geltendem Recht existiert keine explizite Zuordnung von Daten zu Rechten, die als absolut zu qualifizieren sind. Die Diskussion in der juristischen Literatur betrifft daher die Frage, ob es einer Erweiterung der bestehenden Rechtsordnung um absolute Rechtspositionen an Daten bedarf und wie solche absoluten Rechte an Daten
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ausgestaltet sein könnten bzw. sollten. Die Frage nach einem absoluten Recht an Daten, oder – abstrakter ausgedrückt – nach einer Zuordnung von Daten, steht in direktem Zusammenhang zu der oft gestellten Frage, wem Daten ‚gehören‘.“ (Fraunhofer SIT 2019: 85) Insofern ist offen, ob digitale Entitäten juristisch analog zu Sachen betrachtet werden sollten und demnach auch Eigentumsrechte vorliegen könnten. Ein absolutes Recht an Daten könnte als positive Rechte Zugangsrecht, Herausgaberecht, Nutzungsrecht und Verfügungsrecht beinhalten sowie als negatives Recht Befugnisse im Sinne einer Ausschlusswirkung, zum Beispiel zur Abwehr von Störungen durch Dritte bei der Ausübung der positiven Rechte (Fraunhofer SIT 2019: 87). Eine neuartige Kategorie von Rechten an digitalen Daten könnte dafür geschaffen werden, oder Weiterentwicklungen bestehender Konzepte böten sich an, wie im Hinblick auf Sachenrecht, Urheberrecht, Patentrecht und Leistungsschutzrecht (Fraunhofer SIT 2019: 87). Dazu kommen Überlegungen zu einem „Recht an Daten als Registerrecht“, wobei nur registrierte Daten geschützt würden, und „Datenschutz als Dateneigentums- und Datenverwertungsrecht“ mit einer Weiterentwicklung des Datenschutzrechts (Fraunhofer SIT 2019: 87).
4.
SOZIALWISSENSCHAFTLICHE ASPEKTE
4.1 Sozialwissenschaftliche Aspekte im Hinblick auf rechtliche Kontexte Sozialwissenschaftlich ist das Wesen der Daten, der Interaktion und der Kommunikation, welches sich in den genutzten Diensten spiegelt, zu untersuchen, um zu einer Einschätzung zu gelangen, inwiefern die digitalen Daten einfach an eine überlebende Person weitergegeben werden können. Das Spektrum der digitalen Entitäten ist so breit (siehe Abschnitt 1.2), dass Differenzierungen vorgenommen werden sollten. Traditionell am einfachsten zu beurteilen sind digitale Güter, die einen offensichtlichen finanziellen Wert besitzen; nach der etablierten Gesetzgebung ist die Übertragung auf Erbinnen und Erben legitimiert. Auf der anderen Seite liegen digitale Güter, die zum persönlichen, privaten oder intimen Lebensbereich gehören. Unter Umständen haben die Erblasserinnen und Erblasser diese Informationen zu Lebzeiten niemals mit den Erbinnen und Erben geteilt und würden es auch weiterhin nicht tun. Jedoch bestand bei diesen Betroffenen wahrscheinlich kein Bewusstsein für den Vererblichkeitscharakter auch des digitalen Besitzes. Um dieses Problem zu umgehen, sollte das Thema Digitaler Nachlass in der Öffentlichkeit stärker bekannt gemacht werden, so dass
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die Präferenzen und Wünsche der Menschen besser berücksichtigt werden können. Dieses geschieht bereits durch die Entwicklung von Vorlagen (Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT 2019: 345-360) und in Ratgebungsliteratur (bspw. in Bittler et al. 2020; Kiefer 2021), könnte jedoch noch stark ausgebaut werden. Eventuell besteht ein postmortaler Schutz der verstorbenen Person bezüglich privater Informationen durch den mutmaßlichen, wenn auch nie schriftlich fixierten Willen oder durch allgemein anerkannte Standards, wie den Respekt vor der Menschenwürde. Fraglich ist, wer die Rechte der Verstorbenen durchsetzen sollte. Eine Möglichkeit wäre, das Konzept der postmortalen Stellvertretung zu entwerfen, analog zur rechtlichen Betreuung (§§ 1896 ff. BGB 2021; siehe Abschnitt 3.2) während der Lebenszeit. Die postmortale Stellvertretung könnte dann mit der Aufgabe betraut werden, post- und transmortale Rechte allgemein, Persönlichkeitsrechte und Datenschutzrechte für die Verstorbenen einzufordern. Für die Wahrnehmung dieser Rolle würden sich die Erbinnen und Erben anbieten, alternativ entsprechend zu Lebzeiten Bevollmächtigte (§ 167 BGB 2021; siehe Abschnitt 3.2). Diese postmortalen Stellvertretungen könnten durch Gerichte eingesetzt werden, wieder analog zum Betreuungsrecht (§§ 1896 ff. BGB 2021). Bei der Nutzung der Daten im Sinne einer kreativen und interaktiven Weiterentwicklung ergeben sich weitere Herausforderungen. Beispielsweise sind Situationen mit dialogischen Interaktionsmustern vorstellbar, in denen Kommunikationsausschnitte der verstorbenen Person genutzt werden, um neue Kommunikationsinhalte bei den Hinterbliebenen hervorzurufen (Brukamp 2020). Dieses wäre rechtlich möglicherweise als Koproduktion aller Beteiligten zu interpretieren, die entsprechende Urhebungs- und Nutzungsrechte nach sich zieht. 4.2 Sozialwissenschaftliche Aspekte allgemein Sozialwissenschaften befassen sich wesentlich mit Menschen und ihren Beziehungen. Die Benennungen der Teildisziplinen Techniksoziologie und Technikpsychologie wirken auf einige Außenstehende womöglich zunächst wie ein Selbstwiderspruch, doch die Gegenstände dieser Fächer setzen einen Bezug zu Menschen voraus: Dazu gehören unter anderem Mensch-Technik-Interaktion, Nutzungsorientierung, Einfluss von Charaktermerkmalen, Umgang mit technischen Geräten am Arbeitsplatz, psychologische und soziale Aspekte der Einführung neuer Technologien in Organisationen, Schulungsbedarfe, Sicherheits- und Risikoanalysen, Perspektiven auf Maschinen als Werkzeug, zum Defizitersatz oder für Assistenz sowie Analysen von technikbezogenen Entwicklungen als
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Trend, Hype oder Dystopie. Gerade die letzteren Themen überschneiden sich mit denen der Technikphilosophie (vgl. Kornwachs 2013). Innerhalb der Disziplinen der Techniksoziologie und der Technikpsychologie könnten eine Soziologie und eine Psychologie der Digitalisierung wiederum als zusätzliche Unterdisziplinen verstanden werden. In solchen Fächern ist die Untersuchung der Wahrnehmung digitaler Güter mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen. Damit ist auch das Thema ihrer Bewertung verknüpft. Beispielhafte Fragen für Digitalisierungssoziologie und Digitalisierungspsychologie könnten lauten: Wie sehen Menschen digitale Entitäten? Besitzen sie ein Bewusstsein für ihren besonderen Status? Welchen ideellen oder finanziellen Wert messen sie ihnen bei? Sehen sie sie aufgrund der Diffusion der Digitalisierung zunehmend als Sachen? Daraus ließen sich gegebenenfalls konkrete rechtliche Schlussfolgerungen ableiten. Aus der Sicht der Ökonomie wird der finanzielle Wert digitaler Güter noch unterschätzt. Hier zeigen sich blinde Flecke, verminderte Aufmerksamkeit und fehlendes Wissen der Nutzerinnen und Nutzer. Viele Personen profitieren zwar subjektiv von der Proliferation digitaler Dienstleistungen und Angebote, doch sie machen sich nicht bewusst, dass sie zur finanziellen Wertschöpfung zugunsten anderer beitragen. Beispielsweise entsteht ein monetärer Wert für Personen, deren Aktivitäten von vielen anderen positiv bewertet werden, wie für Influencerinnen und Influencer durch zahlreiche Followerinnen und Follower. Des Weiteren können personenbezogene Daten auch nach einer anonymisierenden Aggregation monetären Wert entwickeln. Die Vermittlung von Wissen über ökonomische Implikationen von digitalen Daten und Online-Dienstleistungen würde voraussichtlich bei vielen Bürgerinnen und Bürgern zu einer höheren Sensibilität bei der Nutzung führen und auch die Relevanz von Vorausverfügungen klarstellen. Durch virtuelle Repräsentationen von verstorbenen Personen wird das Spektrum zwischenmenschlicher Beziehungen erweitert. Die Hinterbliebenen erhalten das Potenzial, sich die Toten unmittelbarer und flexibler zu vergegenwärtigen, als es in der Vergangenheit möglich war. Technikgestützte Repräsentationen könnten Simulationen, Animationen und komplexe Video-TonArrangements umfassen, im Vergleich zu bisher üblichen Erinnerungsstücken wie Fotos, Videos oder anderen, einzelnen materiellen Gegenständen. Mit der Realisierung einer so gearteten neuen Beziehungsform zu Repräsentationen sind Chancen, aber auch Risiken für die Trauerarbeit der Überlebenden verbunden (Brukamp 2020).
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5.
ETHISCHE DIMENSIONEN DES DIGITALEN NACHLASSES
Ethik-Dimensionen wie Respekt vor Selbstbestimmung, Fürsorge und Selbstverständnis erweisen sich als äußerst relevant für die Beurteilung der Angemessenheit des Umgangs mit digitalem Nachlass. Der Respekt vor der Selbstbestimmung oder Autonomie von Personen ist ein fundamentales Prinzip der biomedizinischen Ethik (Beauchamp/Childress 2019) und der Menschenrechte allgemein (United Nations General Assembly 1948). Menschen sollten selbst bestimmen können, was mit ihnen, ihrem Besitz und ihren Daten geschieht, auch nach dem Todeseintritt. Der Wirkungsbereich dieses Prinzips ist weit und erstreckt sich juristisch unter anderem auf Menschenwürde, informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz und Vorausverfügungen. Auch das ethische Konzept der Privatheit lässt sich hier einordnen, weil Menschen selbstständig festlegen können sollten, welche Lebensbereiche sie zu Lebzeiten oder nach dem Todeseintritt ausgewählten Personenkreisen, der Öffentlichkeit oder niemandem zugänglich machen möchten. Aus ethischer Sicht lässt sich argumentieren, dass die Verleihung von postmortalen Rechten eine Wertschätzung des lebenden Individuums darstellt und die subjektive Lebensqualität, Zufriedenheit und Sicherheit von Menschen erhöhen kann. Insofern stellt die Zusicherung von postmortalem Schutz einen Wert für Bürgerinnen und Bürger dar. Im Gegensatz dazu bedeutet die Verweigerung von postmortalen Festlegungen eine emotionale Einschränkung für die Menschen: „Für den Betroffenen wäre es nicht hinnehmbar, zu keinem Zeitpunkt zu wissen, was nach dem Tod mit den Daten passiert. Durch einen derartigen Kontrollverlust wären die betroffenen Personen bereits zu Lebzeiten im Umgang mit den sie betreffenden personenbezogenen Daten gehemmt.“ (Fraunhofer SIT 2019: 103) Die Argumentation bezieht sich also auf die Rechtssituation zur Zeit der Willensbildung des lebenden Menschen, dessen Willen transmortal gelten und postmortal umgesetzt werden soll: „Es ist einem Erblasser bereits nach derzeit geltender Rechtslage möglich, testamentarische Regelungen über den Umgang mit den in seinen Accounts abgelegten persönlichen Daten zu treffen […] Auch de lege ferenda sollte dies unzweifelhaft gewährleistet bleiben: Hätte der Erblasser keine Möglichkeit dies zu tun, würde ihn dies bereits zu Lebzeiten in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, seinem informationellen Selbstbestimmungsrecht und in seiner Testierfreiheit einschränken. Wenn man sich zu Lebzeiten bewusst sein müsste, dass man keinen Einfluss darauf nehmen kann, was im Todesfall mit den persönlichen Daten passiert, dann wäre man deutlich gehemmter
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im Umgang mit persönlichen Daten.“ (Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ 2017: 364) In der Tat wurden Vorabfestlegungen von Menschen auch in der Vergangenheit im Rechtssystem berücksichtigt, sei es beim klassischen Erbrecht oder beim historisch neueren Betreuungsrecht mit der Möglichkeit von Verfügungen von Patientinnen und Patienten (§ 1901a BGB 2021). Daher existiert bereits eine Tradition zur Anerkennung von selbstbestimmten Entscheidungen auch nach dem Tod, und diese Tradition könnte in Zukunft auf weitere Rechtskontexte ausgeweitet werden. Der Respekt vor der Würde von Menschen lässt sich ethisch mit den Prinzipien des Wohltuns, der Fürsorge und der Schadensvermeidung begründen. Die Achtung vor lebenden Menschen verschwindet nicht mit dem Tod, sondern verwandelt sich in eine andere Ausdrucksform. Auch dafür existieren historische Belege, nämlich beispielsweise im antiken Dictum „De mortuis nil nisi bene“, also der Empfehlung, über die Toten ausschließlich gut zu sprechen beziehungsweise, weiter gefasst, ihr Andenken zu achten. Allerdings eröffnet hier das hinzutretende ethische Prinzip der Gerechtigkeit durchaus unterschiedliche Optionen: Gerechtigkeit ließe sich als Unterstützungsfaktor verstehen und damit die Zuschreibung von bewundernswerten Verdiensten auch nach dem Tod als Ausdruck der Gerechtigkeit; doch Gerechtigkeit könnte in der Abkehr vom alten Sprichwort auch dazu führen, die sozial positiv und negativ evaluierten Taten in großer Ehrlichkeit und Klarheit zu sehen, so dass eine negativ bewertete Untergruppe von Menschen unter Umständen gerade keine postmortalen Ehrungen erhalten dürfte. Zusätzlich lässt sich hinsichtlich Fürsorge an dieser Stelle auch als Argument anführen, dass die Lebenden bei einer Grundhaltung der postmortalen Achtung in der Gesellschaft durch das Versprechen von langfristiger Würdigung, sofern sie verdient ist, profitieren. Die Digitalisierung führt zu veränderten Perspektiven auf die EthikDimensionen Selbstverständnis, Selbstbild und Teilhabe hinsichtlich des digitalen Nachlasses. Menschen können virtuell repräsentiert werden, und neue Formen der Weiterführung von Beziehungen entstehen (siehe Abschnitt 4). Der Blick auf sich selbst und auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten könnte sich wandeln, bei den einen im Sinne eines Ermächtigungsgefühls, bei den anderen im Sinne eines Selbstentwertungsgefühls. Online-Teilhabegemeinschaften können in der Trauer stützen oder sie perpetuieren und so differenziell positive oder negative Effekte auf Hinterbliebene ausüben.
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6.
DIGITALER NACHLASS: AUSBLICK FÜR DIE ZUKUNFT
Zusammenfassend wird der Umgang mit digitalem Nachlass in Zukunft auch weiterhin eine wachsende Herausforderung für die Ausbildung gesellschaftlicher Geordnetheit beim Sterben darstellen. Die bisherigen Schritte der Digitalisierung erfordern Neuordnungen bei den sozialen Ordnungen des Sterbens, und die zukünftig zu erwartenden Entwicklungslinien werden sie als noch dringlicher erweisen. Die Entstehung der Relevanz digitalen Nachlasses erfordert interdisziplinäre Perspektiven, mit rechtlichen Beiträgen aus Gesetzgebung und Rechtspraxis sowie mit ökonomischen, sozialen und ethischen Bezügen. Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Phänomen Digitaler Nachlass sollte gesteigert werden, und für Laiinnen und Laien verständliche Informationen sollten vermehrt offeriert werden, um die Regelungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger zu erweitern und ihre Willensumsetzungen auch postmortal zu ermöglichen – im Sinne einer umfassenden Würdigung des Menschen über den Tod hinaus.
LITERATUR Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ (2017). Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder. Bericht vom 15. Mai 2017. Online: https://www.justiz.nrw.de/JM/schwerpunkte/ digitaler_neustart/zt_bericht_arbeitsgruppe/bericht_ag_dig_neustart.pdf (Abruf: 12.02.2022). Beauchamp, Tom L./Childress, James F. (2019). Principles of Biomedical Ethics. 8. Auflage. Oxford: Oxford University Press. BGB (2021). Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S.738), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 21. Dezember 2021 (BGBl. I S. 5252) geändert worden ist. BGH (2018). BGH v. 12.07.2018, III ZR 183/17. Bundesgerichtshof-Urteil im III. Zivilsenat mit Aktenzeichen Az. III ZR 183/17 vom 12.07.2018. Bundesgerichtshof-Pressemitteilung Nr. 115/2018 vom 12.07.2018. Online: https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/ 2018115.html (Abruf: 12.02.2022). BGH (2020). BGH v. 27.08.2020, III ZB 30/20. Bundesgerichtshof-Urteil im III. Zivilsenat mit Aktenzeichen Az. III ZB 30/20 vom 27.08.2020. Bundesgerichtshof-Pressemitteilung Nr. 119/2020 vom 09.09.2020. Online: https://
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www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/2020119 .html (Abruf: 12.02.2022). Bittler, Jan/Frey, Carina/Nordmann, Heike/Schuldzinski, Wolfgang (2020). Das Vorsorge-Handbuch. Patientenverfügung. Vorsorgevollmacht, Digitaler Nachlass. Betreuungsverfügung. Testament. Düsseldorf: Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e. V. (Hrsg.)/Verbraucherzentrale Baden-Württemberg e. V./Verbraucherzentrale Hamburg e. V. (Mithrsg.). Brukamp, Kirsten (2011). Weiterwirken der Toten durch moderne Medien. In: Groß, Dominik/Tag, Brigitte/Schweikardt, Christoph (Hrsg.). Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod. Frankfurt am Main: Campus, S. 77-92. Brukamp, Kirsten (2020). The Material Re-Turn of the Avatar: Computational Commemoration of the Deceased via Social Robots. In: Nørskov, Marco/Seibt, Johanna/Quick, Oliver Santiago (Hrsg.). Culturally Sustainable Social Robotics. Amsterdam: IOS Press, S. 215-226. DAV (2013). Deutscher Anwaltverein (2013). Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins durch die Ausschüsse Erbrecht, Informationsrecht und Verfassungsrecht zum Digitalen Nachlass. Stellungnahme Nr. 34/2013. Berlin: Deutscher Anwaltverein. Online: https://anwaltverein.de/files/anwaltverein. de/downloads/newsroom/stellungnahmen/2013/SN-DAV34-13.pdf (Abruf: 12.02.2022). DS-GVO (2016). Datenschutz-Grundverordnung: Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG. Fraunhofer SIT (2019). Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT. Der digitale Nachlass. Eine Untersuchung aus rechtlicher und technischer Sicht. Autorinnen und Autoren: Kubis, Marcel/Naczinsky, Magdalena/Selzer, Annika/Sperlich, Tim/Steiner, Simone/Waldmann, Ulrich. Darmstadt: Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT. Online: https://www.sit.fraunhofer.de/fileadmin/dokumente/studien_und_technical_r eports/DigitalerNachlass-Studie-Webversion.pdf?_=1594381988 (Abruf: 12.02.2022). GG (2020). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 u. 2 Satz 2 des Gesetzes vom 29. September 2020 (BGBl. I S. 2048) geändert worden ist. Kiefer, Philip (2021). Das große Vorsorge-Paket. Burgthann: Markt+Technik Verlag.
Digitaler Nachlass als Herausforderung | 377
Kornwachs, Klaus (2013). Philosophie der Technik. München: C. H. Beck. StGB (2021). Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 22. November 2021 geändert worden ist. TKG (2021). Telekommunikationsgesetz vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 10. September 2021 (BGBl. I S. 4147) geändert worden ist. TTDSG (2021). Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1982), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 12. August 2021 (BGBl. I S. 3544) geändert worden ist. United Nations General Assembly (1948). The Universal Declaration of Human Rights. 183rd Meeting on 10 December, 1948. Paris: United Nations Department of Public Information. UrhG (2021). Urheberrechtsgesetz vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273), das zuletzt durch Artikel 25 des Gesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858) geändert worden ist.
Autor*innen
Anna Bauer, Jg. 1990, Dr. des., ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Vom ‚guten Sterben‘. Akteurskonstellationen, normative Muster, Perspektivendifferenzen“. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie, Medizin- und Thanatosoziologie sowie die qualitative sozialwissenschaftliche Versorgungsforschung. Wichtige Publikationen: gem. mit C. Breitsameter und I. Saake: „Perspektiven auf Sterbende – zum Sterben in multiprofessionellen Kontexten“, Zeitschrift für Palliativmedizin (2022); gem. mit S.H. Krauss, W. Schneider u.a.: „Versorgungsqualität in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung aus Sicht der Leistungserbringer: eine qualitative Studie“, Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (2021); gem. mit F. Greiner, S.H. Krauss, M. Lippok, S. Peuten (Hrsg.): „Rationalitäten des Lebensendes“, Baden-Baden: Nomos (2020). Stefanie Betz studierte Informationswirtschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), promovierte auch dort und hat in Schweden am Software Engineering Research Lab (SERL at BTH) ihren PostDoc verbracht. Anschließend war sie Nachwuchsgruppenleiterin der Gruppe „nachhaltiges Software Systems Engineering" am KIT. Heute ist Sie Professorin für Sozioinformatik an der Fakultät für Informatik an der Hochschule Furtwangen (HFU) und versucht in ihrer Forschung herauszufinden, wie individuelle, soziale und ökologische Auswirkungen von Softwaresystemen schon beim Design berücksichtigt und verbessert werden können. Claudia Bozzaro, Jg.1980, ist Philosophin und Professorin für Medizinethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen ethische Fragestellungen am Lebensanfang und am Lebensende, die Analyse normativer Konzepte wie Leiden, Schmerz und Vulnerabilität, ethische Fragen
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der Präzisionsmedizin und der Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen. Wichtige Publikationen: „Das Leiden an der verrinnenden Zeit. Eine ethisch-philosophische Untersuchung zum Zusammenhang von Alter, Leid und Zeit am Beispiel der Anti-Aging-Medizin“; „Der Leidensbegriff im medizinischen Konntet. Ein Problemaufriss am Beispiel der tiefen Palliativen Sezierung am Lebensende“ (2014); „Is egg freezing a goos Response to socioeconomic and cultural factors that lead Women to postpone motherhood?“ (2018). Kirsten Brukamp ist Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Sie erwarb Studienabschlüsse in Humanmedizin, Philosophie mit dem Schwerpunkt Ethik und Kognitionswissenschaft. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Forschung und Entwicklung für innovative Gesundheitstechnologien sowie ethische, normative und soziale Implikationen der Lebenswissenschaften. Wichtige Publikationen betreffen die Bereiche Medizin, Biologie, Neurowissenschaften und Gesundheitstechnologien. Christine Dunger, Jg. 1982, ist Pflegewissenschaftlerin und Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialphilosophie und Ethik im Gesundheitswesen der Universität Witten/ Herdecke sowie am Institut für Pflegewissenschaft und -praxis der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Versorgung am Lebensende/Palliative Care, klinisch-ethische Entscheidungsfindung, die Professionalisierung nicht-medizinsicher Berufe verbunden mit organisationsethischen Fragen, Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie deren Begründungsrahmen durch wissenschaftstheoretische und forschungsethische Betrachtungen. Sie ist Vorsitzende der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft, Mitherausgeberin der Pflege & Gesellschaft und der pflegen:palliativ sowie der Buchreihe Palliative Care & Forschung. Christian Fuchs, Jg. 1976, ist W3-Professor und Leiter der Abteilung für Mediensysteme und Medienorganisation an der Universität Paderborn (Institut für Medienwissenschaften). Seine Forschungsgebiete sind die politische Ökonomie der Kommunikation, der Medien und des Internets, Gesellschaftstheorie, Sozialphilosophie und Kommunikationstheorie. Zu seinen Publikationen zählen „Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie“ (2020) und „Digital Humanism: A Critical Philosophy for 21st Century Digital Society“ (2022). Er ist Herausgeber der Zeitschrift tripleC: Communication, Capitalism & Critique.
Autor*innen | 381
Jonas Hänel, Jg. 1982, ist Krankenpfleger, Lehrer für Pflegeberufe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am lehramtsbezogenen Studiengang Gesundheit und Pflege an der Technischen Universität Dresden. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Etablierung einer filmbasierten Pflege- und Pflegebildungsforschung, ästhetische Ansätze in der Pflegebildung sowie systematische Konzepte zur Darstellung pflegerischen Handelns. Wichtige Publikationen: „Im Strom der Bewegungsbilder. Film-, Bildungs- und Pflegeprozesse ausgehend von Michael Hanekes ‚Liebe‘“ (2022) beim transcript Verlag sowie „Die Zeichen der Pflege? Über den Gewinn einer zeichentheoretischen Perspektive auf pflegerisches Handeln“ (2022) in der Fachzeitschrift Pflege & Gesellschaft. Sine Maria Herholdt-Lomholdt, Jg. 1973, ist Krankenschwester, Master in Pädagogik, Phd., Außerordentliche Professorin für „Pflege- und Gesundheitswissenschaften“ an Nord Universität in Norwegen. Zu Ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Entwicklung der Existenzphänomenologie als Forschungsmethode und Schreibform und Erforschung von Pflege als Phänomen und Praxis aus philosophisch-ästhetischer Perspektive. Wichtige Publikationen: „Invisible but sensible aesthetic aspects of excellence in nursing“ (2019), „Fenomenologi. Å leve, samtale og skrive ut mot det gåtefulle i tilværelsen [Phänomenologie. Das Rätselhafte in der Existenz zu leben, zu sprechen und zu schreiben]“ (2022). Matthias Hoffmann, Jg. 1976, ist Soziologe und bei der Arbeitskammer des Saarlandes Referent für Arbeitspolitik. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Transformation des Verhältnisses von Mensch und Arbeit, die Soziologie von Tod und Sterben sowie musik- und kultursoziologische Fragestellungen. Wichtige Veröffentlichungen: „Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet. Die Angst vor dem „sozialen Sterben“ (Wiesbaden 2011), „Restgröße Mensch? – Arbeitswelt(en) in Zeiten von Digitalisierung und Industrie 4.0“ (AK-Beiträge, Saarbrücken 1/2021), „Kulturindustrie – vermasste Kultur – Jazz“ (in: Christine Bähr et al. (Hrsg.): Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis des Verausgabens, Bielefeld 2009, S. 59-73 (mit Rebecca Weber)). Dominic Lammert studierte Ethnologie und Literatur in Wien und Freiburg (B.A.), anschließend Medieninformatik in Bielefeld und Aix-en-Provence (M.Sc.). Danach arbeitete er für knapp drei Jahre in der IT/Digitalabteilung des Verlags Herder und ein weiteres Jahr in Startups. Heute ist er als Akademischer Mitarbeiter in der Sozioinformatik an der Hochschule Furtwangen tätig. Dazu promoviert er im Fach Software Engineering in Kooperation mit der LUT University (Finnland) über Nachhaltigkeit von Softwareprodukten und -services.
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Anne Letsch, Jg. 1974, ist Hämatologin, Onkologin und Palliativmedizinerin und Professorin für Internistische Onkologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Leitung des Onkologischen Zentrums UKSH Kiel und Vorstand des Universitären Cancer Centers Schleswig-Holstein. Einen Forschungsschwerpunkt bildet die Optimierung von Versorgungskonzepten von Krebspatient:innen und eine verbesserte Patient:innenorientierung. Wichtige Publikationen beschäftigen sich mit der Einbeziehung von Patient-ReportedOutcome-Daten (Rohrmoser 2020, Hermann 2021) und der systematischen Integration supportiver und palliativer Versorgungskonzepte frühzeitig im Verlauf onkologischer Krankheiten (Rohrmoser 2017, Preisler 2018 und 2019). Christine Matter, Jg. 1967, ist Soziologin und Historikerin und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin Senior an der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW, in Olten. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziologie des Alters, Erinnerung und soziales Gedächtnis, Wissenssoziologie. Wichtige Publikationen: „Flucht im Alter – Die Rolle von Erinnerungswissen in Prozessen der Neuorientierung“ (2022), „Heimat und die Bedeutung des Vergangenen: soziale Bindungen im Alter. Age Report IV: Wohnen in den späten Lebensjahren“ (2019) sowie „‚Fremdes‘ Alter – Ausgrenzungen, Sorge, Selbstsorge" (2018). Melanie Pierburg, Jg. 1981, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Analyse spätmoderner Umgangsstrategien mit dem Sterben, die Rekonstruktion von Alltagsveränderungen durch Krisen und die Deutung historischer Bildungserfahrungen. Wichtige Publikationen: „Das Comeback der Infektionskrankheiten. Covid-19 und die Perspektiven der Thanatosoziologie“ (2022), „Sterben und Ehrenamt. Eine Ethnographie der Ausbildung zur Sterbebegleitung“ (2021) und „Pandemie und Theorie: eine Annäherung an Modi ethnographischer Sinnstiftung“ (2021). Enno Edzard Popkes, geb. 1969, ist Theologe und Professor für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der Kieler Akademie für Thanatologie e.V. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die wissenschaftliche Erforschung des Phänomens Tod und den damit in Beziehung stehenden Phänomenen, u.a. in Bezug auf die religionshistorischen Hintergründe der gegenwärtigen Diskurse. Seine wichtigsten Publikationen zu diesem Themenfeld lauten: „Erfahrungen göttlicher Liebe: Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus und zum frühen Christentum“ (Göttingen 2018), „Plato-
Autor*innen | 383
nisches Christentum: Historische und methodische Grundlagen (Platonisches Christentum 1)“ (Norderstedt 2019). Ullrich Schiller, geb. 1956 in Hamburg, Studium der Theologie und Philosophie in Hamburg und Münster (Judaistik). Pastor, Kommunikationswirt und Fundraiser im Dienst der Ev.-Luth. Nordkirche. Schwerpunkte neben der Arbeit in unterschiedlichen Gemeinden ist unterrichtliche Tätigkeit sowie die Ausbildung von Schulseelsorger*innen. Gründungsmitglied und im Vorstand der „Kieler Akademie für Thanatologie“, Schwerpunkt dort „Mystik und Zen“ (Eckernförder Mystik), lebt in Eckernförde. Claudia Schmalz, Jg.1966, ist Strahlentherapeutin, Palliativmedizinerin, Koordinatorin für Ethikberatung im Gesundheitswesen und Leitende Oberärztin in der Klinik für Radioonkologie am UKSH, Campus Kiel. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Gesundheitsbezogene Lebensqualität, Kommunikation, und Implementierung palliativmedizinischen Arbeitens in der Radioonkologie. Wichtige Publikationen: „Cause of death in patients in Radiation oncology“ (2021), „Psychometric validation of the European Organisation for Research and Treatment of Cancer-Quality of Life Questionnaire Sexual Health“ (2021), „Transparent Entscheiden im Moralischen Dilemma“ (2022). Martin W. Schnell ist Universitätsprofessor für „Sozialphilosophie und Ethik im Gesundheitswesen“, Leiter des „Querschnittsbereichs 2: Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ und stellv. Leiter des Masterstudiengangs „Ethik und Organisation“ an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke. Er ist Mitherausgeber der Buchreihe „Palliative Care und Forschung“ (Springer Verlag) und Mitherausgeber der Zeitschrift „Journal Phänomenologie“. Von ihm liegen eine Vielzahl von einschlägigen Publikationen vor: 37 Bücher, 300 Aufsätze und Journalbeiträge. Daniel Schönefeld, Jg. 1979, ist Soziologe und Professor für „Sozialwissenschaftliche Grundlagen für Gesundheit und Pflege“ an der Hochschule Neubrandenburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die ethnomethodologische Rekonstruktion sozialer Ordnungen, die Digitalisierung der Arbeitswelt und Heterogenität in Lehr-Lern-Situationen. Wichtige Publikationen: „Der konversationsanalytische Zugang zur Pflege“ (2021), „Selbstständige Unselbstständigkeit: Crowdworking zwischen Autonomie und Kontrolle“ (hrsg. mit Isabell Hensel, Eva Kocher, Anna Schwarz und Jochen Koch, 2019) sowie „Arbeiten und Unterscheiden. Zur Praxis des Diversity-Managements“ (2017).
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Klaus R. Schroeter, Jg. 1959, Prof. Dr. habil., ist Soziologe, Professor für „Soziale Arbeit und Alter“ und Leiter des Schwerpunktes „Menschen im Kontext von Alter“ an der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW in Olten (Schweiz). Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Geschichte und Theorien der Soziologie, Soziologie des Alters, Kritische Gerontologie. Wichtige Publikationen u.a.: „Das soziale Feld der Pflege“ (2006), „Handbuch Soziologie des Alter(n)s“ (Hrsg. zusammen mit Claudia Vogel und Harald Künemund) (2020) und „Kritische Gerontologie“ (Hrsg. gemeinsam mit Kirsten Aner) (2021). Jakob Schultz, Jg. 1991, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bayreuth, wo er zum Thema „‚Begehrung des Unendlichen‘. Georg Simmel als Philosoph und Soziologe“ promoviert. Seine weiteren Forschungsinteressen liegen im Bereich der Sozialtheorie (historisch und systematisch) sowie der Konflikt- und Kriegsforschung. Felix Tirschmann, Dr. rer. soc., ist Sozialwissenschaftler in der Forschungsgruppe Gesundheit – Technik – Ethik an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Arbeitsschwerpunkte beinhalten neben der wissenssoziologischen Thanatologie die ethischen und sozialen Aspekte von innovativen Technologien für das Gesundheitswesen und Mensch-Roboter-Interaktion. Wichtige Publikationen (Auswahl): „Der Alltag des Todes. Perspektiven einer wissenssoziologischen Thanatologie“ (2019), „Kommunikation mit Kommunikationslosen“ (2020), „Mensch-Roboter-Interaktion im Gesundheitswesen. Robotische Assistenzsysteme für die Pflegesituation“ (2022). Wolfgang von Gahlen-Hoops, Jg. 1974, ist Professor für Didaktik der Pflege und Gesundheitsberufe an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Systematik des pflegerischen Handelns, Interprofessionalität, Umschüler*innen in Pflegeausbildungen, Lehren und Lernen in Gesundheitsausbildungen. Wichtige Publikationen: „Pflege als Performance“ (2013), „Intransparenz des Unzeigbaren – ein Essay über das pflegerische Handeln“ (2018). Er ist Herausgeber der Reihe Pflege – Bildung – Wissen beim transcript Verlag. Nele Wulf ist Techniksoziologin und arbeitet aktuell als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin sowie an der Informatik der Hochschule Furtwangen (HFU). Sie promovierte zur Bedeutung von Nichtwissen für die Entsorgung von Atommüll. Zu ihren weiteren Forschungsinteressen zählen u.a. Digitalisierung, Nachhaltigkeit
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sowie Zukunfts- und Innovationsforschung. Wichtige Publikationen: „Die Gestaltung der Ewigkeit. Eine Analyse der konstitutiven Bedeutung von Nichtwissen für den Prozess der Entsorgung nuklearen Abfalls“ (2022) und „Changing Death: Software Development in End-of-life Care, Funeral Culture and Coping with Grief – Guidelines for Software Developers based on the Sustainability Awareness Framework (SusAF)“ (2022).
Kulturwissenschaft Tobias Leenaert
Der Weg zur veganen Welt Ein pragmatischer Leitfaden Januar 2022, 232 S., kart., Dispersionsbindung, 18 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5161-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5161-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5161-4
Michael Thompson
Mülltheorie Über die Schaffung und Vernichtung von Werten 2021, 324 S., kart., Dispersionsbindung, 57 SW-Abbildungen 27,00 € (DE), 978-3-8376-5224-6 E-Book: PDF: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5224-0 EPUB: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5224-6
Erika Fischer-Lichte
Performativität Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2021, 274 S., kart., Dispersionsbindung, 3 SW-Abbildungen 23,00 € (DE), 978-3-8376-5377-9 E-Book: PDF: 18,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5377-3
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Kulturwissenschaft Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: PDF: 16,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2
Maximilian Bergengruen, Sandra Janßen (Hg.)
Psychopathologie der Zeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2021 Januar 2022, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-5398-4 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5398-8
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur und Kritik (Jg. 10, 2/2021) 2021, 176 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-5394-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-5394-0
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