Häuslich - persönlich - innerlich: Bild und Frömmigkeitspraxis im Umfeld der Reformation 9783050051659, 9783050051642

In the world of the Protestant Reformation, laypersons became the bearers of new practices and forms of personal appropr

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German Pages 437 [438] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Der Weg zum Himmel und die nahe Gnade
Bildgeleitete Andacht
Das illustrierte Flugblatt und sein Publikum
Aneignung der Bibel über Bilder
Die Kirche in der Kammer
Selbstdeutung als Frömmigkeitspraxis
Die Transformation der mittelalterlichen ars moriendi zur reformatorischen Leichenpredigt
Lutherische Erbauungsbücher für den persönlichen Gebrauch aus Nürnberg
Zum-Verschwinden-Bringen, Alludieren, Distanzierung
„Also, das das hertze anhebe“
„Spectator ardens discere“
Carthusians, Modern Devotees and Vernacular Bible Readers in the Low Countries (1350–1550)
Catechisms and Their Images
Neuer Wein in alten Schläuchen?
Der Nachlass der Herzogin und Nonne Philippa von Geldern
Church Authority and Individual Devotion
Zweifaches Bekenntnis
Abbildungsnachweis
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Häuslich - persönlich - innerlich: Bild und Frömmigkeitspraxis im Umfeld der Reformation
 9783050051659, 9783050051642

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Häuslich – persönlich – innerlich

Häuslich – persönlich – innerlich Bild und Frömmigkeitspraxis im Umfeld der Reformation Herausgegeben von Maria Deiters und Ruth Slenczka

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands

ISBN 978-3-05-005164-2 e-ISBN (PDF) 978-3-05-005165-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-05-502000-1 Library of Congress Control Number: 2019955885 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Cranachwerkstatt, Evangelist Lukas als Schreiber und Maler, Holzschnitt in der ersten deutschen Übersetzung der Vollbibel von Martin Luther, Wittenberg 1534, koloriertes Exemplar. Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek / CI I: 58 (c). Satz/Datenkonvertierung: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band versammelt Beiträge einer interdisziplinären, internationalen Tagung, die 2010 unter dem Titel „Häuslich – persönlich – innerlich. Bereiche der privaten Frömmigkeitsausübung im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit“, am Kunsthistorischen Institut der Universität Leipzig stattfand. Veranstalter waren neben letzterem das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) Leipzig mit dem VW-Projekt „Bild und Konfession“ sowie der Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Universität Jena. Die Tagung wurde gefördert von der Gerda Henkel Stiftung sowie dem Schroubek Fonds Östliches Europa der Ludwig-Maximilians-Universität München. Unter den Stichworten „häuslich – persönlich – innerlich“ wurde ein Themenspektrum behandelt, das auf Religiosität außerhalb eines kirchlich-institutionell vorgegebenen Rahmens abzielt: auf Laien als Akteure einer auf das alltägliche Leben und den Raum des Hauses bezogenen Frömmigkeitskultur, auf häusliche Frömmigkeitspraktiken wie Bibellektüre und Gebet sowie auf Formen und Methoden individueller Heilsaneignung und Verinnerlichung von Glaubensinhalten. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Bedeutung der Bilder und der Bildpraxis im entstehenden und sich etablierenden Luthertum. Idee und Konzeption der Tagung wurden maßgeblich mitbestimmt von Agnieszka Madej-Anderson, der wir zu großem Dank verpflichtet sind. Volker Leppin (damals Friedrich Schiller Universität Jena) hat die Veranstaltung mit initiiert und ebenso wie Winfried Eberhard (GWZO) von theologisch-kirchenhistorischer Seite konzeptionell begleitet. Michaela Marek (†) hat als Veranstalterin mit großer Tatkraft und Begeisterungsfähigkeit das Zustandekommen des Projekts ermöglicht. Das vorliegende Buch, dessen Erscheinen sie bedauerlicherweise nicht mehr erlebt, steht in dankbarem Andenken an sie. Die Tagung ist auf eine erfreulich positive Resonanz gestoßen und hat im interdisziplinären Spektrum der Vorträge und in den Diskussionen die Relevanz ihrer Ausgangsfragestellungen erwiesen. Das Thema „Reformation und Bild“ war in den wissenschaftlichen Debatten des Reformationsjubiläums seither keineswegs ein Randthema. Vielmehr war ihm 2015 sogar ein eigenes Themenjahr gewidmet, in dem unter anderem die Cranachforschung entscheidende Impulse erhielt. Insgesamt setzte sich die Erkenntnis von der großen Bedeutung durch, die Bildern in der Reformation und im Prozess der Ausbildung einer lutherischen Konfessionskultur zukam. Jedoch blieb nach wie vor – auch außerhalb dezidiert kunsthistorischer Untersuchungen – das Thema der Frömmigkeitspraktiken im persönlichen und häuslichen Bereich wenig beachtet, ungeachtet der Tatsache, dass gerade dieser Bereich im Zuge der Reformation für Religion und Glauben einen enormen Bedeutungszuwachs erfuhr. Die Individualisierung von Frömmigkeit und religiösem Leben darf geradezu als Charakteristikum der sich ausbildenden evangelischen Konfessionskulturen bezeichnet werden. Die hier vorliegenden Beiträge haben deshalb nichts von ihrer Aktualität eingebüßt und füllen nicht nur eine Lücke im breiten Spektrum von Publikationen der https://doi.org/10.1515/9783050051659-202

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Vorwort

Lutherdekade, sondern können Anstöße für weitere Forschungen geben. Wir halten es deshalb für wichtig und lohnend, das Buch trotz der bedauerlichen, u. a. auf personelle und berufliche Wechsel der Herausgeberinnen zurückzuführenden Verzögerungen zu publizieren.1 Wir bedanken uns bei den Referentinnen und Referenten, dass viele von ihnen nicht nur ihre Vorträge im Nachgang der Tagung noch erweitert und vertieft haben, sondern auch die lange Bearbeitungszeit mit getragen haben. Nicht alle Manuskripte konnten noch aktualisiert werden, sondern entsprechen dem Stand der letzten Redaktionsphasen 2013 bzw. 2015 (siehe auch jeweilige Anmerkungen). Sabine Hiebsch und Kai Wenzel konnten für zusätzliche Beiträge gewonnen werden, die wichtige thematische Ergänzungen zu den Tagungsbeiträgen darstellen. Insgesamt enthält der Band profunde Studien, die in dieser interdisziplinären Zusammenstellung und thematischen Zuspitzung besonders ertragreich sind. Der Schwerpunkt liegt auf der lutherischen Bildkultur. Doch fanden nicht nur Referenzstudien zur altgläubigen und reformierten Konfession Aufnahme, sondern der Untersuchungszeitraum setzt bewusst bereits im Spätmittelalter ein. Eine Besonderheit des Bandes besteht in seinem interdisziplinären Ansatz. So wird beispielsweise der reformatorische Wandel der Frömmigkeit, der durch die Verwendung und Ausbildung spezifischer Medien, Modelle und Topoi gekennzeichnet ist, nicht nur aus historischer und kunsthistorischer, sondern auch aus theologischer Sicht beleuchtet. In der Zusammenschau der Beiträge seien folgende Themenstränge und Forschungserträge besonders hervorgehoben: Greifbar wird ein Prozess der Privatisierung und Individualisierung von Religion, der durch die Reformation entscheidend befördert wurde, sich jedoch nicht auf das Luthertum beschränkt, sondern bereits im Spätmittelalter einsetzte. So schildert Bernd Hamm eine verinnerlichende, individuelle Tendenz als einen Pol der „bipolaren“ Frömmigkeit am Vorabend der Reformation, den es neben jenem mehr beachteten der Veräußerlichung und des Kirchlich-Dogmatischen stark zu machen gilt. Befördert durch eine auf (volkssprachliche) Laienseelsorge ausgerichtete, das Gnadenwirken Gottes betonende Frömmigkeits- und Reformtheologie entstanden Medien wie die von Hamm analysierten Ulmer Einblattdrucke, die als Frömmigkeitsanleitung der persönlichen Andacht, Erbauung und Heilszueignung dienten. Diese war von Anfang an ganz wesentlich bildgestützt, bzw. kombinierte das Bild mit seiner Vergegenwärtigungsleistung mit volkssprachlichen Texten. Die Tatsache, dass die Frömmigkeitsliteratur – Flugblätter, Flugschriften, Bücher, – die durch den Druck mit beweglichen Lettern massenhaft verbreitet wurde und die Reformation wesentlich mit beförderte, häufig bebildert war, ließ Bilder von Anfang an zum Bestandteil der erstarkenden Laienfrömmigkeit werden.

1 Neben Maria Deiters ist Ruth Slenczka in die konzeptionelle und redaktionelle Bearbeitung der Publikation mit eingestiegen.

Vorwort

VII

Mehrere der Beiträge des Buchs widmen sich dieser bebilderten Frömmigkeitsliteratur und anderen neuen Medien, deren Blüte in Wechselwirkung mit der Reformation stand, und deren Bildkultur noch immer zu wenig behandelt ist. Betrachtet werden neben den mittelalterlichen Einblattdrucken und Druckgrafiken (Hamm, Heinrichs), Flugblätter (Wegmann), Illustrationen der gedruckten Lutherbibel (Deiters, Slenczka) auch lutherische Erbauungs- und Gebetsliteratur (Münch) sowie ein Tafelwerk des spanischen katholischen Theologen Benito Arias Montano, das zur bibelbasierten Meditation anleitet (Melion). Wie fruchtbar hier eine überkonfessionelle Analyse sein kann, demonstriert exemplarisch der Aufsatz von Lee Palmer Wandel, die in vergleichender Perspektive die Katechismen von Calvin, Luther und Canisius betrachtet. Insgesamt zeigen sich – besonders bezogen auf die lutherische und die katholische Konfession – sehr ähnliche Formate und Text-Bild-Kombinationen, in denen beide Elemente im Zusammenspiel an den verinnerlichenden, verdeutlichenden Funktionen und Wirkungsweisen beteiligt sind. Im Falle der reformierten Katechismen übernimmt eine bildhafte Anordnung des Textes memorative Aufgaben. Ein Ergebnis aller Studien ist dabei, dass Bilder dem Text nicht untergeordnet sind, sondern eigene mediale Aufgaben und Qualitäten übernehmen. Das gilt für ästhetisch hoch anspruchsvolle Kunstwerke wie die von Ulrike Heinrichs und Walter Melion behandelten Druckgrafiken, die durch ihre gestalterische Disposition Versenkung und andächtige Betrachtung befördern, ja voraussetzen, ebenso wie für diagrammatische Flugblatt-Illustrationen (Wegmann) oder für weniger anspruchsvolle, im Sinne einer schnellen, ökonomischen und dennoch reichen Bebilderung aus verschiedenen Quellen zusammengesuchten Holzschnitte des Passionals von Luther bzw. der Martyrologien des Ludwig Rabus (Münch). Das komplexe, nur auf den ersten Blick widerspruchsvolle Wechselspiel zwischen ästhetischem Genuss, der Bewunderung künstlerischer Virtuosität und religiös-andächtiger Betrachtung war das Thema des Vortrags von Evelin Wetter über zwei spätmittelalterliche Betnüsse. Diese haben mit ihrer doppelten Funktion und Wertschätzung als Andachts- und Sammlungsobjekte, auf der Tagung wichtige Aspekte vertreten, die in separaten Publikationen der Autorin ausführlich behandelt worden sind.2 Von hohem ästhetischem Anspruch sind auch die Miniaturen und kolorierten Druckgrafiken in den von Sabine Sauer untersuchten Erbauungsbüchern des lutherischen Nürnberger Patriziers Hans Imhoff sowie in der im selben konfessionellen und sozialen Milieu entstandenen Familienbibel der Familie Pfinzing (Deiters). Sie

2 Wetter, Evelin: Zwei spätmittelalterliche Betnüsse aus den südlichen Niederlanden (Monographien der Abegg-Stiftung 15). Riggisberg 2011; Ead.: Small scale boxwood carvings as instruments of devotion and collector’s item: Pictorial Sources, Material Findings, and Archival Evidence. In: Prayer Nuts, Private Devotion, and Early Modern Art Collecting, ed by ead. and Frits Scholten. Riggisberg 2017 (Riggisberger Berichte 22), 27–44.

VIII

Vorwort

offenbaren ebenso wie z. B. die Bibel des Seidenstickers Hans Plock (Deiters) oder Gemälde Cranachs (Slenczka), dass sich die Künstler intensiv mit der Bedeutung der Kunst für den Glauben auseinandergesetzt haben und eine durch die konkrete Bildpraxis geprägte Reflexionskultur entwickelten, die unabhängig von den dogmatischen Bilddebatten bestand und einen religiös suchenden, experimentellen Charakter hat. Unzweifelhaft erscheint dabei, dass im lutherischen Bereich Bildern nach wie vor ein ungemein hohes Potential für Verinnerlichung und Heilsvergewisserung zugemessen wurde. So erweist sich z. B. das Herz als für Luther zentrales Symbol emotionaler Beteiligung und Verinnerlichung des Glaubens in Gebet und Bibellektüre (Hiebsch) und begegnet uns in dieser Weise auch in Texten der lutherischen Tradition, die – in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Kunsttheorie und in Fortführung mittelalterlicher Traditionen (Heinrichs, Brachmann) – das einprägende, emotional-affektive ‚herzbewegende‘ Potential von Bildern betonen (Deiters). Dass Bildern eine Vermittlungsrolle zwischen dem in der Bibel materialisierten Wort Gottes und seiner verinnerlichenden Aneignung durch den Gläubigen zukommt, reflektiert Cranach beispielsweise, indem er die künstlerische Aneignung der Heilsgeschichte durch sprechende Signaturen, selbstreferenzielle Verweise auf die Tätigkeit des Malers sowie durch Rollen- und Identifikationsporträts selbst zum Gegenstand seiner Kunst macht (Slenczka). Über Verinnerlichungsprozesse hinaus werden Bilder außerdem als besonders unmittelbare, nahezu körperlich-haptische Medien der individuellen Heilsaneignung genutzt, was in der Einbindung von Familienporträts in die Hausbibel oder im Prozess der künstlerischen Ausgestaltung der im Besitz des Künstlers Plock befindlichen Bibel greifbar wird (Deiters). Sich hartnäckig haltende Klischees werden damit infrage gestellt. Dazu gehört das Diktum von der rein didaktischen protestantischen ‚Wort-Bild-Kunst‘ ebenso wie die These von der Entsinnlichung und Entsakralisierung der protestantischen Frömmigkeit. Viele der exemplarischen Fallanalysen des Bandes berühren die Frage, wie Laien auf die Umbrüche und Verunsicherungen der Reformationszeit reagierten, welche neuen Wege der Heilsvergewisserung sie suchten und wie sich konfessionelle Formierungsprozesse auf der Ebene des einzelnen Gläubigen sowie der Familie als kleinster gesellschaftlicher Einheit durchsetzen (Deiters, Leppin, Sauer, Slenczka, Wenzel). Zu beobachten ist zunächst ein vielfältiger und zunehmender Zugriff der Laien auf Heilsmedien und theologische Deutungen. Dies lässt sich etwa für den Umgang mit den neuen volkssprachigen Bibeln, deren Aneignung und Nutzung in der persönlichen Frömmigkeitspraxis sehr gut nachvollziehen. Wim François beschreibt, dass volkssprachliche Bibelübertragungen in den Niederlanden bereits ab dem späten 14. Jahrhundert nicht nur vermehrt entstanden, sondern auch von Laien besessen und im Zusammenhang mit steigendem Bildungsniveau besonders nachgefragt wurden. Geht es hier noch um den semireligiosen Bereich der Devotio moderna und

Vorwort

IX

vorrangig leicht rezipierbare Aufbereitungen wie Historienbibeln, wird mit lutherischen Hausbibeln, die auf dem Druck der Vollbibel beruhen und umfangreiche Spuren der persönlichen Aneignung zeigen, eine neue Qualität und Intensität deutlich. Reformatorische Lehren wie die Selbstauslegung der Schrift oder das Priestertum aller Gläubigen bilden prononciert den Hintergrund für Medien wie die Reformationsdialoge, in denen der ‚gemeine Mann‘ die Bibel ausdeutet (Wegmann), aber auch im Erstellen eigener Glaubensanleitungen und -ausdeutungen wie wir sie in den Erbauungsbüchern des Hans Imhoff vorfinden (Sauer). Auch Maler zählen zu den neuen Laientheologen, die sich die Bibel mit den spezifischen Mitteln ihres Berufs aneignen. So zeigt Ruth Slenczka, wie Lucas Cranach die Rolle des Malers als Laientheologe in seinen reformatorischen Bildentwürfen reflektiert und dabei zugleich im Gemälde veräußerlicht, was dem Rezipienten beim Vorgang des Betrachtens zur Aneignung des Heils im Glauben und das heißt zur Verinnerlichung des Heilsgeschehens dient. Dass die Individualisierungsprozesse nicht linear und eindimensional bzw. auch nicht ohne Folgen für die Wahrnehmung religiöser Medien und Bilder blieben, thematisiert Jörg Jochen Berns in Analyse der konfessionellen Bildkontroversen des 16. Jahrhunderts, die, wie er nachweist, eben durch die Privatisierung von Frömmigkeit und deren befürchtete Folgen besonders befeuert wurden. So rücken etwa die Verfügbarkeit von Gnaden- und Andachtsbildern durch ihre serienmäßige Vervielfältigung in den Druckmedien und die damit einhergehende persönliche Betrachtung Gnade und Heil näher an den Einzelnen; zugleich birgt diese Individualisierung jedoch auch die Gefahr unkontrollierter, beliebiger und ‚unfrommer‘ Rezeptionsweisen, zu denen auch eine vornehmlich ästhetisch motivierte Betrachtung und Profanierung als ‚Kunstbild‘ gehört. Überhaupt zeigen sich Privatisierung und Individualisierung von Frömmigkeit und Heilsmedien von Beginn an vielfältig verknüpft mit Normierungstendenzen sowie dem Versuch von Autoritäten, der Individualisierung entgegen zu wirken. So tragen Einblattdrucke, Holzschnitte u. ä. durch ihre Vervielfältigung und Verbreitung zu vereinheitlichender Lenkung von Frömmigkeitsvorstellungen bei und sind effektive Mittel zur normierenden Einflussnahme auf den einzelnen Gläubigen (Hamm, Heinrichs, Berns, Wegmann, François, Münch). Katechismen verfolgen dezidiert diesen Zweck (Wandel). Bibelübersetzungen enthalten Glossen und Vorworte, die konfessionelle Lesarten und Prägungen formulieren und einüben. So wird die Gefahr der Rezeptionsoffenheit der biblischen Botschaft durchaus auch innerhalb der Konfessionen kontrovers diskutiert (François). Auch konfessionsspezifische Bilder wirken durch ihre breite Rezeption normierend; in der Individualisierung der Heilsgeschichte durch die Integration von Porträts prominenter Glaubenszeugen entstehen dabei konfessionelle Rollenbilder (Slenczka). Ars moriendi-Drucke und – über die verallgemeinerte theologisch ausgedeutete Schilderung des Einzelschicksals – auch die gedruckt verbreiteten Leichenpredigten vermitteln Modelle und Normen des richtigen Sterbens, Glaubens und Lebens (Leppin).

X

Vorwort

Eine sich hier anschließende Frage ist auch diejenige nach dem Verhältnis von ,privat‘ und ,öffentlich‘, bzw. nach den Räumen und Orten der Devotion und der Bilder, die in mehreren der Beiträge behandelt wird. Berns unternimmt den Versuch einer Systematisierung dieser Bildorte unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmbarkeit und des Wirkungspotentials religiöser Bilder. Die Übergänge zeigen sich dabei fließend. Hamm betont die grundsätzliche und selbstverständliche Bipolarität der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, etwa zwischen verinnerlicht und veräußerlicht oder persönlich und kirchlich. Verschiedene Mediengattungen für den häuslichen und persönlichen Gebrauch bereiten auf die öffentlich-gemeinschaftliche Frömmigkeitspraxis vor und vertiefen z. B. liturgische Inhalte (Hamm, Heinrichs, Wandel, François, Hiebsch). Umgekehrt werden auch im öffentlichen Raum verfügbare Bilder mit ihren Heilsangeboten und Glaubenslehren vielfach individuell rezipiert und so als Medien der privaten Frömmigkeitspraxis genutzt. Dass die Funktionen und Rezeptionsangebote monumentaler Wandbilder in Kirchenräumen zwischen politischer Repräsentation, theologischer Lehre, religiöser Verehrung und Heilsaneignung ebenso wie Anleitung zur Andacht oszillieren können, hat Grazyna Jurkowlaniec am Beispiel des Kultes um die Maria Regina Tafel aus S. Maria in Trastevere beschrieben und dabei einen zeitlich weitreichenden Bogen vom Frühmittelalter bis zur katholischen Reform geschlagen. ,Äußerer‘ Kirchenraum und ‚innerer‘ Seelenraum werden auch auf der geistigmetaphorischen Ebene zusammengesehen und Bilder als Medien der Vermittlung zwischen beidem betrachtet, wie die Holzschnitte des Meisters W mit ihren suggestiven Kirchenräumen (Heinrichs) ebenso zeigen wie die Tempelmetaphorik lutherischer Bibelillustrationen (Deiters) und der „Humanae salutis monumenta“ (Melion). Für den altgläubig-klösterlichen Kontext beschreibt Christoph Brachmann am Beispiel der Stiftungen der Herzogin und Colettinerin Philippa von Geldern für den Konvent Pont-à-Mousson anschaulich ein vielfältiges Übereinanderblenden von Sakralraum, Heilslandschaft und Seelenraum, das sich etwa in der Markierung verschiedener Passionsstationen in den Konventsgebäuden mit entsprechenden Bildwerken, dem täglichen Abschreiten, Memorieren und dem Nachvollzug bis hin zu körperlichen Gesten zeigt und sich gemeinsam mit den überlieferten Handschriften aus dem Besitz Philippas zu einem sehr persönlichen, von einer verinnerlichten Frömmigkeit geprägten Gesamtensemble fügt. Bilder spielen hier ähnlich wie in der lutherischen Tradition bei Cranach eine wichtige Mittlerrolle zwischen äußerem und inneren Raum, zwischen äußerem Sehen und innerem Glauben (Slenczka). Wie das Kloster bildet das ‚Haus‘ einen Übergangsraum zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘. Letzteres wird im Laufe des Spätmittelalters auch als Religionsgemeinschaft immer bedeutsamer (siehe François) und erreicht – besonders im lutherischen Bereich, begründet durch das Gedankengebäude der oeconomia christiana – eine regelrechte Sakralisierung. Der Hausstand wird zum ‚neuen Orden‘, die Familie wie im Konvent zum Abbild der Heiligen Familie (Deiters).

Vorwort

XI

Werke wie Familienbibeln, aber auch niederländische Gemälde, die symbolkräftig den Kirchenraum in den Haushalt holen, veranschaulichen eine Erweiterung sakraler Sphären in den familiären, persönlichen Raum: mit der Heiligung alltäglicher Vollzüge, einer Aufwertung der Ehe und Familie als gottgewolltem Stand, dem Konzept vom ‚Haus‘ als ‚Kirche‘. In welch hohem Maße dies nicht nur im Luthertum, sondern auch in den reformierten Niederlanden konfessionskulturell bestimmend und über Bilder transportiert wurde, wie Andreas Gormans anhand der Analyse von zwei Gemälden Emanuel de Wittes herausstellt, gehört zu den überraschendsten Ergebnissen des Bandes. Bilder werden dabei auch zu Medien der ethisch-religiösen Formierung nach innen sowie als demonstrative Kennzeichen konfessioneller Zugehörigkeit nach außen – wie etwa der von Kai Wenzel behandelte Wandbildzyklus aus der CranachWerkstatt in einem Görlitzer Bürgerhaus zeigt. Dass aus dem Buch ein Band wurde, der nicht nur textlich, sondern auch ästhetisch die Bedeutung von Bildern in den Frömmigkeitsprozessen im Umfeld der Reformation vermittelt, ist zum einen der Gerda Henkel Stiftung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zu verdanken, die durch großzügige Druckkostenförderung ein Erscheinen in der vorliegenden Form ermöglicht haben, zum anderen dem de Gruyter-Verlag, der die Drucklegung mit großer Professionalität, Qualitätsbewusstsein und nicht zuletzt sehr schätzenswertem Vertrauen in das gute Ende eines sich hinziehenden Prozesses übernommen hat. Hier danken die Herausgeberinnen besonders Albrecht Döhnert, Karin Mittmann und Lukas Lehmann. Zum sprachlichen Fluss und der Einheitlichkeit der Texte hat das gründliche Lektorat von Nico Huhle und Ben Dare entscheidend beigetragen. Maria Deiters und Ruth Slenczka

Inhalt Vorwort

V

Berndt Hamm Der Weg zum Himmel und die nahe Gnade Neue Formen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit am Beispiel Ulms 1 und des Mediums Einblattdruck Jörg Jochen Berns Bildgeleitete Andacht Auskünfte der konfessionellen Kontroversliteratur des 16. Jahrhunderts zu Gefahren und Gefährdung der Bildandacht 37 Susanne Wegmann Das illustrierte Flugblatt und sein Publikum Massenmedien, Massenwirksamkeit und eine Anleitung zur Rezeption

61

Maria Deiters Aneignung der Bibel über Bilder Die Haus- und Familienbibeln des Nürnberger Patriziers Martin Pfinzing und des Hallenser Seidenstickers Hans Plock 77 Andreas Gormans Die Kirche in der Kammer Zum Verhältnis zweier Gemälde Emanuel de Wittes aus dem Jahre 1678 Ruth Slenczka Selbstdeutung als Frömmigkeitspraxis Cranachs gemalte Selbstzeugnisse

113

141

Volker Leppin Die Transformation der mittelalterlichen ars moriendi zur reformatorischen Leichenpredigt 165 Christine Sauer Lutherische Erbauungsbücher für den persönlichen Gebrauch aus Nürnberg

179

Ulrike Heinrichs Zum-Verschwinden-Bringen, Alludieren, Distanzierung Strategien der Verinnerlichung und der Unterstützung des Gebets in Beispielen der deutschen und niederländischen Grafik des 15. und frühen 16. Jahrhunderts 207

XIV

Inhalt

Sabine Hiebsch „Also, das das hertze anhebe“ Herz und Gebet in Luthers Einleitung zu Johannes 17

253

Walter Melion „Spectator ardens discere“ Die visuelle Poesie biblischer Meditation in Benito Arias Montano’s „Humanae 275 salutis monumenta“ von 1571 Wim François Carthusians, Modern Devotees and Vernacular Bible Readers in the Low Countries 297 (1350–1550) Lee Palmer Wandel Catechisms and Their Images

323

Birgit Ulrike Münch Neuer Wein in alten Schläuchen? Luthers Betbüchlein und die Martyrologien des Ludwig Rabus als Substitut 337 der altgläubigen Heiligenlegenden zur privaten Frömmigkeitsübung Christoph Brachmann Der Nachlass der Herzogin und Nonne Philippa von Geldern Eine persönliche Sammlung von Gegenständen zum devotionalen 359 Gebrauch Grażyna Jurkowlaniec Church Authority and Individual Devotion The Cult of the Maria Regina of Santa Maria in Trastevere, Rome, until the Late 379 Sixteenth Century Kai Wenzel Zweifaches Bekenntnis Ein konfessioneller Bilddiskurs in einem Görlitzer Bürgerhaus 397 des 16. Jahrhunderts Abbildungsnachweis

421

Berndt Hamm

Der Weg zum Himmel und die nahe Gnade Neue Formen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit am Beispiel Ulms und des Mediums Einblattdruck

Auffallende Quantitäten und Qualitäten der spätmittelalterlichen Frömmigkeit Zu den Selbstverständlichkeiten der gegenwärtigen kirchengeschichtlichen Forschung gehört es, dass das ausgehende Mittelalter des fünfzehnten und beginnenden sechzehnten Jahrhunderts im Abendland nördlich der Alpen die Ära einer ungewöhnlich forcierten Kirchenfrömmigkeit und eines gesteigerten religiösen Eifers war.1 Die Quantitäten dieser Devotion übertreffen alles, was wir aus anderen Epochen der Christenheit kennen. Erinnert sei nur an die seit dem späten vierzehnten Jahrhundert sprunghaft nach oben gehende Zahl der Schutzheiligen, Reliquien, Gnadenstätten, Gnadenbilder, Wunderberichte, Prozessionen, Wallfahrten, Ablässe, Gebete, Stiftungen, Messfeiern, Priester, Bruderschaften, Kirchen- und Kapellenbauten, Altäre, schützenden Bildchen und Abzeichen und vieler anderer Devotionalien. In großen Reichsstädten wie Ulm erreicht eine derartige Massenhaftigkeit Höchstgrade der Kumulierung und Verdichtung – man denke nur an die 52 Altäre des Münsters2 –, aber auch das Ulmer Landgebiet ist sehr typisch, weil es zeigt, wie stark der spätmittelalterliche Frömmigkeitsboom auf Kleinstädte und Dörfer ausstrahlte und von ihnen angereichert wurde.3

1 Vgl. Hamm, Berndt: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. In: Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern. Hg. v. Gerhard Müller, Horst Weigelt und Wolfgang Zorn, Bd. 1. St. Ottilien 2002, 159–211, hier 182–92. 2 Während der Dominikaner Felix Fabri für das Jahr 1488 noch 51 Altäre zählt (vgl. unten, Anm. 16), nennt die 1493 erschienene Schedelsche Weltchronik (fol. 191r) bereits 52 Altäre. Das war der Stand zu Beginn der Reformation; vgl. Litz, Gudrun: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten. Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 35), 116 mit Anm. 83 (Literatur). Zwei dieser Münsteraltäre, der Hochaltar und der Marienaltar nahe der Kanzel, waren Ratsstiftungen, alle anderen private Familienstiftungen. 3 Vgl. Fuhrmann, Rosi: Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation. Stuttgart u. a. 1995. Anmerkung: Für wertvolle Hilfe bei der Entstehung des Aufsatzes und bei der Vorbereitung des Manuskripts für die Drucklegung danke ich meiner Frau Dr. Gudrun Litz (Haus der Stadtgeschichte – Stadtarchiv Ulm). Der Aufsatz wurde erstmals veröffentlicht in: Betweeen Lay Piety and Academic Theology. Festschrift für Christoph Burger. Hg. v. Ulrike Hascher-Burger, August den Hollander und Wim Janse. Leiden 2010. https://doi.org/10.1515/9783050051659-001

2

Berndt Hamm

Hinter den außerordentlichen Quantitäten einer zählbaren Frömmigkeitsvermehrung standen zweifellos auch entsprechende Qualitäten einer sich verändernden Seelenlage: auffallende Intensitäten der Devotion4 und religiöse Erregungszustände bis zur Hysterie. Zwar hat es nicht an zeitgenössischer Kirchen- und Frömmigkeitskritik gefehlt, die in vielen populären Frömmigkeitspraktiken Aberglaube, Unvernunft und Leichtgläubigkeit diagnostizierte.5 Aber diese Kritiker, meist reformbewusste Vertreter der Amtskirche, waren in der Regel selbst Multiplikatoren einer intensivierten und forcierten Kirchenfrömmigkeit, indem sie die spirituelle Kraft der sakralen Institutionen und die Ernsthaftigkeit des Frömmigkeitsstrebens steigern wollten.6 Das vielseitige Drängen nach Reform (reformatio) erwies sich daher als integrativer Faktor und Motor der Frömmigkeitssteigerung und -multiplizierung. So

4 Der Erfurter Augustinereremit Johannes von Paltz betont zu Beginn des 16. Jahrhunderts, dass die gegenwärtige Zeit für das Angebot des Jubiläumsablasses wegen der intensiven Kirchenfrömmigkeit der Gläubigen besonders geeignet sei. Er erwähnt dabei vor allem (1.) die inbrünstige Verehrung der Passion Christi, der Jungfrau Maria und der Heiligen, (2.) die demütige Devotion gegenüber den kirchlichen Sakramenten und (3.) die Hochschätzung der Heiligen Schrift: „Jetzt wird nämlich die Heilige Schrift klarer ausgelegt als jemals zuvor, zumindest was das Verständnis im Volk betrifft, und sie wird häufiger gepredigt als früher und lieber gehört als künftig“ (wenn die Zeit des Antichrist anbrechen wird). „Iam enim sacra scriptura clarius exponitur, quam prius umquam exposita fuerat, saltem quoad intelligentiam popularem, et frequentius praedicatur quam prius et gratius exauditur, quam postea audietur.“ Johannes von Paltz, Coelifodina (1502). Hg. v. Christoph Burger und Friedhelm Stasch (Johannes von Paltz, Werke, Bd. 1). Berlin / New York 1983, 419, 5–34 und 420, 22–32 (Zitat: 420, 24–26). 5 Vgl. auch in dieser Hinsicht wieder exemplarisch Johannes von Paltz, der sich mit der Bedrohung des christlichen Glaubens durch die vier teuflischen Versuchungen der illegitimen Wallfahrten, Magie, Astrologie und Alchimie auseinandersetzt, in seinem Supplementum Coelifodinae (1504). Hg. v. Berndt Hamm (Johannes von Paltz, Werke, Bd. 2). Berlin / New York 1983, 385–441. – Vgl. dazu Burger, Christoph: Volksfrömmigkeit in Deutschland um 1500 im Spiegel der Schriften des Johannes von Paltz OESA. In: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter. Hg. v. Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer. Paderborn u. a. 1990 (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Neue Folge 13), 307–27. Bei Paltz findet sich in demselben Werk auch eine höchst kritische Beurteilung des Weltpriesterstandes. Im Blick auf die moralische Würdelosigkeit und seelsorgerliche Nachlässigkeit der Priester diagnostiziert er, dass eine Reform dieser Kleriker bei den gegenwärtigen Verhältnissen so gut wie unmöglich sei, „es sei denn, es stiege vielleicht eine große Macht Gottes herab und käme seiner Kirche auch in diesen [Weltpriestern und nicht nur durch die Reformen der Ordensleute] zu Hilfe“; „[…] sed hoc est quasi impossibile in sacerdotibus saecularibus, quod reformentur stantibus rebus ut nunc, nisi forte magna potentia dei descenderet et ecclesiae suae etiam in talibus subveniret.“ Supplementum Coelifodinae, zitierte Edition, 282, 21–24. 6 Auch dafür ist Johannes von Paltz ein gutes Beispiel, da er sich sowohl tatkräftig für die Klosterreform im Rahmen der observanten Kongregation der Augustinereremiten Deutschlands unter der Führung des Andreas Proles einsetzte als auch ein wichtiger Mitarbeiter des Kardinallegaten Raymund Peraudi bei der Verkündigung des Jubiläumsablasses in Deutschland war und darüber hinaus in Böhmen als Prediger wirkte, um hussitische Utraquisten zum katholischen Glauben zu bekehren. Vgl. Hamm, Berndt: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis. Tübingen 1982 (Beiträge zur historischen Theologie 65); Weinbrenner, Ralph: Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis. Der Augustiner-

Der Weg zum Himmel und die nahe Gnade

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gesehen war die dann folgende Reformation des sechzehnten Jahrhunderts nicht nur Gegensatz zur Kirchlichkeit des Spätmittelalters, sondern auch das Produkt der vorausgegangenen Frömmigkeitsblüte, vor allem des in ihr virulenten Strebens nach sicheren Gnaden- und Heilsgarantien.7

Vielfalt und polare Spannungsverhältnisse in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit Charakteristisch für diese Kirchenfrömmigkeit des ausgehenden Mittelalters war sowohl die Tendenz zur massenhaften Vervielfältigung als auch die zu einer ungemein differenzierten und spezialisierten Vielfalt. Einem Einwohner des spätmittelalterlichen Ulm, ob Mann oder Frau, ob reich oder arm, ob Laie oder Kleriker, standen viele Möglichkeiten offen, um durch religiöse Vorsorge sein irdisches Wohl zu sichern und vor allem seine Jenseitsaussichten zu verbessern. Man konnte zwischen einer Vielzahl von heiligen Schutzpatronen, Kirchen, Ordensgemeinschaften, Bruderschaften, Gnadenbildern, Heiltümern, Ablässen, Gebeten, Wallfahrten, Almosenspenden, Stiftungen und anderen Arten der Frömmigkeitsgestaltung und der guten Werke wählen – je nach persönlichem Bedürfnis, sozialem und ökonomischem Status und Geschlecht. Es gab viele Wege zum Himmel im spätmittelalterlichen Ulm.8 Auffallend und besonders typisch für diese Epoche aber ist vor allem die spannungsvolle Polarität und Gegenläufigkeit der religiösen Gestaltungsformen: So tendierten Frömmigkeitsstile z. B. gleichzeitig verstärkt zum GemeinschaftlichKollektiven oder zum Privaten und Persönlich-Individuellen, zur Außendimension kirchlicher Liturgien, Rituale und Formeln oder zur Innendimension einer intimen Herzensandacht, zu einer Vermaterialisierung des Heiligen in sinnlich berührbaren und kraftgeladenen Objekten oder zu einer Vergeistigung des Heiligen im Bereich mystisch gestimmter Meditation und Kontemplation. Man könnte noch wichtige weitere Polaritäten nennen, betonen aber möchte ich vor allem zweierlei: erstens, wie selbstverständlich für das ausgehende Mittelalter diese polaren Spannungsverhältnisse waren – eine Grundsignatur der Ära9 –; zweitens aber sei hervorgehoben, eremit Andreas Proles (1429–1503) und die privilegierte Observanz. Tübingen 1996 (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 7). 7 Vgl. Grosse, Sven: Heilsungewissheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit. Tübingen 1994 (Beiträge zur historischen Theologie 85). Vgl. unten, S. 35, mit Anm. 107 und 108. 8 Siehe die Übersicht bei Geiger, Gottfried: Die Reichsstadt Ulm vor der Reformation. Städtisches und kirchliches Leben am Ausgang des Mittelalters. Ulm 1971 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 11), 76–178. 9 Leppin, Volker: Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation. In: Frömmigkeit – Theologie – Frömmig-

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dass man in diesen Spannungsverhältnissen nicht nur Konkurrenz und Konflikt erkennt – z. B. den Gegensatz zwischen inbrünstiger Ablassfrömmigkeit und gleichzeitiger Geringschätzung der Ablässe –, sondern häufig auch eine kompatible, komplementäre Zweiseitigkeit oder Divergenz, die es ein und derselben Person möglich machte, gegenläufige Frömmigkeitsformen miteinander zu kombinieren. Vieles erscheint aus heutiger, vor allem protestantischer Sicht als widersprüchlich, was für einen spätmittelalterlichen Menschen problemlos miteinander zu verbinden war: z. B. einerseits die private, zurückgezogene und verinnerlichende Meditation über einem Andachtstext oder vor einem religiösen Bildnis und andererseits Formen einer sehr körperbezogenen, ‚äußerlichen‘ Devotion,10 die den Andachtsgegenstand mit Küssen, Kniebeugen oder Sich-Bekreuzigen ehrt oder Gebete an einem Rosenkranz abzählt und mit all dem Ablassberechnungen verbindet. Wie sich beide Dimensionen der Frömmigkeit miteinander kombinieren lassen, zeigt in Ulm etwa der bekannte Dominikaner Felix Fabri11: Einerseits ist er ein Verehrer der Mystik des im Ulmer Dominikanerkonvent 1366 gestorbenen Heinrich Seuse12 und ein Meister der meditativen und kontemplativen Verinnerlichung, die er vor allem in seinem 1492 verfassten Buch über die „Geistliche Pilgerfahrt oder die Sionpilger“ propagierte.13 Fabri bietet hier für geistliche Personen, insbesondere für klausurierte Nonnen, die „von gantzem hertzen das hailig land ze sehen“ begehren,14 aber diese Pilgerfahrt nicht leiblich realisieren können,15 eine Anleitung, wie sie gleichwohl im Geiste zu den heiligen Stätten wallfahren und so durch vergegenwärtigende Imagination reiche Gnadenerfahrungen machen können. Derselbe Fabri neigte aber andererseits auch zu einer Frömmigkeit, der es auf äußerlich registrierbare Quantitäten, auf Zählen und Berechnen ankam. So berichtet er voller Lokal-

keitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm. Hg. v. Gudrun Litz, Heidrun Munzert und Roland Liebenberg. Leiden / Boston 2005, (Studies in the History of Christian Traditions 124) 299–315; ders.: Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten. Stuttgart / Leipzig 2008 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philol.-hist. Klasse 140/4). 10 Vgl. Lentes, Thomas: Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in Undis zu Straßburg (1350–1550). Diss. theol. masch., Münster 1996. 11 Vgl. Hannemann, Kurt: Fabri, Felix. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2. Berlin / New York 1980, Sp. 682–689. 12 Zur Pflege der Seuse-Memoria durch Felix Fabri – er hat das deutschsprachige Werk des Mystikers im Druck herausgegeben und eine Vita Seuses verfasst – vgl. Griese, Sabine: Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-Holz- und Metallschnitten des 15. Jahrhunderts. Zürich 2011 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 7), 167–169. 13 Vgl. die kritische Edition: Felix Fabri: Die Sionpilger. Hg. v. Wieland Carls. Berlin 1999 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit). 14 Ebd., 77, 13 f. 15 Ebd., 78, 7–9: „und die gaistlichen bilgrin, die nit lyblich ziehen, aber gaistlich mit dem gemiet, werden genent syon bilgrin“.

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stolz, dass es in der ganzen Christenheit keine größere Pfarrkirche als das Ulmer Münster gebe, keine mit mehr Altären und keine, in der so oft die heiligen Sakramente gefeiert werden und in die so viele Menschen hineinströmen; mehr als 15.000 gehen dort während der Osterzeit zu Kommunion.16 Ein besonderes Anliegen war es ihm stets, seinem Lesepublikum mitzuteilen, wo Ablässe in welcher Höhe zu erlangen sind;17 und er war es auch, der 1483 in Ulm nach Kölner Vorbild die Rosenkranzbruderschaft gründete, die in kurzer Zeit über 4.000 Mitglieder gewinnen konnte.18 Die gezählte Quantität der Rosenkranzgebete und die innerseelische Qualität der kontemplativen Andacht sind zwei Seiten oder Pole der Frömmigkeit, die aber für Felix Fabri ebenso wie für viele Zeitgenossen unlösbar zusammengehören und für sie eine spannungsvolle Einheit in der Vorbereitung auf das Jenseits bilden.19

Die generelle Zweiseitigkeit von menschlichem Bemühen und himmlischer Gnadenhilfe Über diese Beobachtungen hinaus muss man aber noch in ganz anderer Hinsicht von einer prinzipiellen und generellen Zweiseitigkeit oder Polarität der spätmittelalterlichen Religiosität sprechen. Aus der Sicht aller Beteiligten, sowohl der gelehrten

16 Vgl. aus der Zeit 1488/89 Felix Fabri O. P.: Tractatus de civitate Ulmensi. Traktat über die Stadt Ulm, hg., übersetzt und kommentiert von Folker Reichert, Konstanz 2012 (Bibliotheca Suevica 35), S. 74–77: „est ecclesia parrochialis maior quam quecunque alia“; „altaribus numerosior cunctis parrochialibus ecclesiis est illa. Habet einm altaria quinquaginta unum“; „illa ecclesia [est] cunctis aliis, audenter dico, in tota christianitate populosior“; „communi cursu tempore paschali communicantur ultra quindecim milia hominum in ea“. – Vgl. dazu die Formulierung in Fabris Sionpilgern (wie Anm. 13), 86, 20–23: „Da by gehoͤrn so waiß ich fúr war, das in der gantzen cristenhait kain kirch ist und kain pfarr, in der so vil bruchs der hailigen sacrament ist as in der. So wirt auch kain pfarr funden, in die so vil personen und lúten gehoͤrn as in die pfarr.“ 17 Hannemann (wie Anm. 11), Sp. 685, spricht daher von dem „ablaßfreudigen“ Felix Fabri und identifiziert ihn als den Autor des Textes „Ain gůtten ördnung ze hölen den ablaus der vij kyrchen ze rom“. Zur zentralen Ablassthematik in Fabris „Sionpilgern“ vgl. die Edition (wie Anm. 13), 79, 1– 22. 18 Vgl. Geiger (wie Anm. 8), 158. Zu den werbenden und zur Rosenkranzfrömmigkeit anleitenden Aktivitäten der Bruderschaft auf dem Gebiet der Druckproduktion vgl. Amelung, Peter: Der Frühdruck im deutschen Südwesten 1473–1500. Eine Ausstellung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bd. 1. Stuttgart 1979. 7.21.236 f.; Griese (wie Anm. 12), 151–84. 19 Wie intensiv bei der Rosenkranzfrömmigkeit die quantitativ (äußerlich) zählende Komponente und die qualitativ auf meditatio und contemplatio zielende (verinnerlichende) Intention zusammengehören, zeigen sehr instruktiv zwei Einblattholzschnitte (davon einer aus Ulm 1485), „die präzise im Text erläutern, wie man den Rosenkranz betet und zugleich in zehn Medaillons die sogenannten Clausulae, die Geheimnisse des Rosenkranzes und damit die Verbindung von Reihengebet und Meditationsvorlage sowie -anleitung bieten“; Griese, ebd., 171.

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Theologen als auch der einfachen Gläubigen, greift die Zweiseitigkeit in das Grundverhältnis zwischen Gott und Mensch hinein. Ich habe darauf bereits im Titel des Vortrags angespielt, indem ich zweiseitig-polar formulierte: „der Weg zum Himmel und die nahe Gnade“. Das Bild des Weges oder der Pilgerschaft begegnet uns im ausgehenden Mittelalter als die häufigste Metapher für die Aufwärtsbewegung des Menschen auf seine Zielbestimmung der Seligkeit zu.20 Felix Fabris „Sionpilger“ sind, wie er es formuliert, geistliche Pilger auf dem Wege zur Schau Gottes, die schon auf Erden anhebt, um dann im Himmel vollendet zu werden.21 Die Art des Weges kann auch als Emporstreben über Grade und Stufen,22 als Aufstieg auf einer Himmels- und Tugendleiter23 oder als Erklimmen eines Berges charakterisiert werden.24 Entscheidend wichtig an dieser gesamten Wegemetaphorik ist stets, dass hier

20 Vgl. exemplarisch eine Kompilation gereimter geistlicher Texte aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: „der slecht weg zuo dem himelrich“. Ein oberrheinisches Erbauungsbuch. Edition und Kommentar. Hg. v. Arnold Otto. Berlin 2005 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit). Das Adjektiv „slecht“ (schlicht, einfach) im Titel weist in programmatischer Weise auf den Charakter der Gesamtanlage des Werks. Mit der keineswegs originellen, sondern exemplarischen Kombination theologisch elementarisierender und popularisierender Anleitungstexte zu zentralen Fragen der christlichen Lebensgestaltung kann es geradezu als Kompendium einer ‚Frömmigkeitstheologie‘ (dazu unten Anm. 46) in Gedichtform für nicht gelehrte Priester, Ordensleute und Laien beiderlei Geschlechts gelten. 21 Fabri: Sionpilger (wie Anm. 13), 78, 11–14. 22 Die ganze mittelalterliche Theologie und Frömmigkeit ist von diesem Stufendenken (‚Gradualismus‘) geprägt. Besonders einflussreich im mystischen Bereich war das 1259 entstandene Werk von Johannes Bonaventura: Itinerarium mentis in deum – Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, lat.dt. Hg. v. Marianne Schlosser. Münster 2004 (Theologie der Spiritualität. Quellentexte 3). – Zur deutschsprachigen Überlieferung des Werks im Mittelalter vgl. Ruh, Kurt: Artikel ‚Bonaventura‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1. Berlin / New York 1978, Sp. 937– 47: hier Sp. 942. 23 Prägend für die Leitermetaphorik der Texte und Bilder des Mittelalters wurde besonders das Ende des 6. Jahrhunderts entstandene Werk des Johannes Klimakos / Climacus: Scala paradisi. Ausgabe von Migne. Paris 1864 (Patrologia Graeca 88), Sp. 631–1164. – Zur Geschichte der Metaphorik vgl. Heck, Christian: L’échelle céleste. Une histoire de la quête du ciel. Paris 21999; Kaufmann, Eva-Maria: Jakobs Traum und der Aufstieg des Menschen zu Gott. Das Thema der Himmelsleiter in der bildenden Kunst des Mittelalters. Tübingen / Berlin 2006; Seebaß, Gottfried: Die Himmelsleiter des hl. Bonaventura von Lukas Cranach d. Ä. Zur Reformation eines Holzschnitts; vorgetragen am 15. Dezember 1984. Heidelberg 1985 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Jg. 1985, Bericht 4). 24 Urparadigma für die Bergmetaphorik, insbesondere im Bereich der Mystik, war der auf den Berg Sinai zu Gott emporsteigende Mose; vgl. besonders Gregor von Nyssa (335/40−394/95): De vita Moysis. Hg. v. Jean Daniélou. Paris 31987 (Sources chrétiennes 1). – Für das Verständnis des mystischen Erkenntnisweges als einer geistlichen Bergbesteigung auf steilem, beschwerlichem Pfad (via ardua) vgl. im Mittelalter vor allem die einflussreiche Schrift von Richard von St. Viktor (gest. 1173): Benjamin minor, c. 75–83. Ausgabe von Migne. Paris 1880 (Patrologia Latina 196), Sp. 1–64, hier Sp. 53– 9. – Zum Verständnis des klösterlichen Vollkommenheitsstrebens und Tugendfortschritts als einer ‚Bergbesteigung‘ vgl. Anleitungstexte für Nonnen des 15. Jahrhunderts, zitiert und interpretiert von Steinke, Barbara: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen

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das sich bewegende menschliche Subjekt im Blick ist und damit das aktive Beteiligtsein des Menschen an seiner Erlösung. Zugleich aber wird die Erlösung als Gnadengeschehen verstanden. Während der ‚Weg‘ die Entfernung anvisiert, die durch menschliche Bewegung und Anstrengung zu überwinden ist, meint ‚Gnade‘ grundsätzlich die schenkende Bewegung Gottes, die dem Menschen hilfreich zuvor- und entgegenkommt und ihn zum Ziel der ewigen Herrlichkeit führt. Einerseits hat der Mensch selbst der himmlischen Heimat entgegenzustreben, andererseits wird er auf diesem Wege von Gottvater, Jesus Christus und dem Heiligen Geist, von Maria, den Heiligen und Engeln gnadenvoll heimgesucht, getragen, geleitet und gestärkt. Diese zwei Seiten, das menschliche Bemühen und die himmlische Gnadenhilfe, gehören nach mittelalterlichem Verständnis immer zusammen, so unterschiedlich auch die Verteilung der Gewichte sein kann. Und auch wenn spätmittelalterliche Theologen den Primat der Gnade betonen können – dass es allein das ‚Ziehen‘ Gottes ist, das den sündigen Menschen aus seinem Elend herausholt und den Weg zum Himmel finden und gehen lässt (Joh. 6, 44)25 –, so haben sie doch zugleich vor Augen, dass ohne das eigene Gehen des Menschen das Heil für ihn nicht zu erlangen ist. Das gnadenhafte Ziehen des Heiligen Geistes wird im menschlichen Subjekt zur Kraft seiner Eigenbewegung, seines Wollens und Handelns.26 Zueignung Gottes und Aneignung des Menschen müssen zusammenkommen, damit der Sünder sein Ziel erreicht. Klosterreform und Reformation. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 30), 87 f. mit Anm. 65 und S. 114. – Ein dazu genau passender Einblattholzschnitt (Oberrhein, um 1480– 1490), der eine kniende Nonne vor einem steilen, mit Dornen und Disteln bewachsenen Felsen zeigt, zu dessen Gipfel zwölf (durch Spruchbänder bezeichnete) Tugendstufen emporführen, ist abgebildet, beschrieben und interpretiert (durch Sabine Griese), in: Kat-Nr. 11, Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Ausst. Washington / Nürnberg 2005 / 2006. Hg. v. Peter Parshall u. a. Nürnberg 2005, 290–292. – Auch der Humanist Francesco Petrarca hat seine (auf den 36. April 1336 datierte) Besteigung des Mont Ventoux metaphorisch als geistlichen Aufstieg in einem Bekehrungsprozess stilisiert in dem (wohl erst 1353 entstandenen) Brief an seinen Beichtvater, den Augustinereremiten Dionigi da Borgo San Sepulcro, Epistola familiaris IV, 1, lat.-dt. Ausgabe. Hg. v. Kurt Steinmann. Stuttgart 1995 (Reclams UniversalBibliothek 887). – Vgl. auch Groh, Ruth / Groh, Dieter: Die Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt am Main 1996 (Zur Kulturgeschichte der Natur 2), 15–82. 25 Diese Betrachtungsweise vom Primat der Gnade her (im Sinne der streng antipelagianischen Gnaden- und Prädestinationslehre des späten Augustin) ist vor allem ein Kennzeichen derjenigen spätmittelalterlichen Theologen des Augustinereremiten-Ordens, die dem Augustinismus Gregors von Rimini (gest. 1358) und Hugolins von Orvieto (gest. 1373) verpflichtet sind, einer Traditionslinie, die in Deutschland bis zu Johannes von Staupitz (gest. 1524), dem Ordensvorgesetzten, Lehrer, Seelsorger und väterlichen Freund Martin Luthers, reicht. Vgl. Gregor von Rimini, Werk und Wirkung bis zur Reformation. Hg. v. Heiko A. Obermann. Berlin / New York 1981 (Spätmittelalter und Reformation. Texte und Untersuchungen 20); Zumkeller, Adolar: Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters. Würzburg 1984 (Cassiciacum 35); Saak, Eric L.: High Way to Heaven. The Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292–1524. Leiden u. a. 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought 89). 26 Daher können auch die spätmittelalterlichen Vertreter eines gnadentheologisch strikten Augustinismus wie Staupitz die guten Werke des gerechtfertigten Menschen als verdienstlich / meritorisch

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Schrecken einflößende Theologie So sehr dieses Prinzip der Zweiseitigkeit des göttlich-menschlichen Kooperierens für das gesamte Mittelalter bis zur Schwelle der Reformation gilt, so deutlich zeigt sich doch im späten Mittelalter des vierzehnten und besonders des fünfzehnten Jahrhunderts eine Veränderung, die ich durch die Wortverbindung ‚nahe Gnade‘ andeute.27 Bevor ich darauf eingehe, sei wenigstens kurz erwähnt, dass es in den Jahrzehnten vor der Reformation auch viele Theologen und Prediger gab, die davor warnten, sich allzu vertrauensvoll auf das Erbarmen Gottes zu verlassen, die ein Zuwenig an Gerichts-, Fegefeuer- und Höllenangst beklagten und die vor allem auf Strenge, Anstrengung und Anspannung der menschlichen Heiligungskräfte setzten.28 Das mittelalterliche Axiom, dass das menschliche Subjekt selbst an seiner Erlösung kooperativ beteiligt sein muss, war stets der Ansatzpunkt für angstvolles Erschrecken und für eine drohende Predigtweise des Erschrecken-Wollens („terrifica praedicatio“).29 Die Gegensätze zwischen eher vergeltungs- und eher erbarmensorientierten Denk- und Lebensformen sind auffallend. Im Folgenden wende ich mich der im Spätmittelalter besonders innovativen Perspektive des gütigen Erbarmens und der schenkenden Gnade Gottes zu.30

Voraussetzungen für das Hervortreten der nahen Gnade im Spätmittelalter Innerhalb der Zweiseitigkeit des menschlichen Weges und der himmlischen Gnade verschiebt sich in vielen Texten und auf vielen Bildern die Proportion auf die Seite (im Blick auf den himmlischen Lohn) und genugtuend / satisfaktorisch im Blick auf die Abtilgung der zeitlichen Sündenstrafe bezeichnen. Vgl. Zumkeller, Adolar: Johannes von Staupitz und seine christliche Heilslehre. Würzburg 1994 (Cassiciacum 45), 176–90. 27 Vgl. Hamm, Berndt: Die „nahe Gnade“– innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit. In: „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts. Hg. v. Jan A. Aertsen und Martin Pickavé. Berlin / New York 2004 (Miscellanea Mediaevalia 31), 541–57. 28 Vgl. Burger, Christoph: Die Erwartung des richtenden Christus als Motiv für katechetisches Wirken. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Hg. v. Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1987, 103–122; Hamm, Berndt: The Reformation of Faith in the Context of Late Medieval Theology and Piety. Essays. Ed. by Robert J. Bast. Leiden / Boston 2004 (Studies in the History of Christian Thought 110), 50–87 (Between Severity and Mercy. Three Models of Pre-Reformation Urban Reform Preaching, erstmals veröffentlicht 2000). 29 So die Formulierung von Girolamo Savonarola: Compendium revelationum (Okt. 1495). In: Compendio di revelazioni […]. Hg. v. Angelo Crucitti. Rom 1974, 136, 5 f. (über die Predigt vom 27. April 1491). 30 Zur These, dass das Spätmittelalter in der Darstellung der erbarmensreichen und schenkenden Seite der himmlischen Kräfte weit innovativer und vielseitiger war als in der Artikulation des religiösen Droh- und Schreckenspotentials, vgl. unten, Anm. 39.

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der Gnade, so dass man die Beobachtung machen kann: Ein möglichst großes Maß an Gnade und Erbarmen, Hilfe, Schutz und Trost wird möglichst nahe an den erlösungsbedürftigen Menschen herangerückt, sozusagen in seine unmittelbare Reichweite, so dass der Weg, den er mit eigenem Bemühen zu gehen hat, vergleichsweise kurz wird. Wo die Gnade zu ihm kommt, muss er sich ihr nicht auf mühseligem Anstieg nähern. Wir werden darauf achten müssen, welche unterschiedlichen Qualitäten diese Nähe des gnädigen Erbarmens für Menschen einer Stadt wie Ulm und ihres Landgebiets gewinnen kann. Fragt man nach den mentalen und religiösen Hintergründen für die so auffallenden neuen Dimensionen einer nahen Gnade im Spätmittelalter, dann sind vor allem drei Faktoren zu nennen: (1.) Eine wichtige Voraussetzung für die neuen Dimensionen der Gnadennähe sind erstens eine seit dem dreizehnten Jahrhundert wachsende religiöse Angst und Verunsicherung der Menschen,31 das Erschrecken vor einem unvorbereiteten Sterben, die panische Furcht vor dem unerbittlich näher rückenden Gericht,32 den furchtbaren Jenseitsstrafen und der Versuchungsmacht Satans und der Dämonen, die angstvoll erschütternde Wahrnehmung der eigenen Sündhaftigkeit und Schwäche und das angespannte Verlangen nach einer optimalen, vor allen Seelengefährdungen absichernden Heilsvorsorge. Das Drängen nach naher Gnade ist damit die spiegelbildliche Reaktion auf die Eskalation spätmittelalterlicher Ängste vor der nahen Ungnade. Je panischer, je obsessiver die Ängste wurden, insbesondere die im Spätmittelalter neu hinzukommende Furcht vor dem schrecklichen Fegefeuer, mit dem auch der Frömmste rechnen musste, desto drängender wurde auch das Verlangen nach dem nahen, leicht erreichbaren, jederzeit abrufbaren Gnadenschutz. Man suchte und fand ihn bei der communio sanctorum, bei Christus, Maria, den Heiligen und Engeln und nicht zuletzt bei der füreinander eintretenden religiösen Solidargemeinschaft in der Stadt und im Dorf, in ihren Fürbitten und Seelstiftungen.33

31 Vgl. Dinzelbacher, Peter: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie. Paderborn 1996, speziell zu Spätmittelalter und Frühneuzeit: 135– 260; mit Vorsicht zu verwenden: Delumeau, Jean: La Peur en Occident (XIVe–XVIIIe siècle). Une cité assiégée. Paris 1978; deutsch: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde. Reinbek 1985; ders.: Le péché et la peur. La culpabilisation en Occident (XIIIe–XVIIIe siècle). Paris 1983. 32 Zum persönlichen Gericht unmittelbar nach dem Tode vgl. unten, Anm. 34. 33 Ein sehr anschauliches Beispiel findet sich auf dem Ulmer Landgebiet in der Stadtpfarrkirche St. Maria von Geislingen / Steige. Für einen Altar dieser Kirche schuf der Ulmer Künstler Daniel Mauch ca. 1518–1520 ein Schnitzretabel, das im Altarschrein Maria mit dem Kind, flankiert von Sebastian (oder Mauritius?) und Magdalena, auf den Flügelinnenseiten Rochus und Elisabeth (die Außenseiten sind schmucklos) und im Gesprenge nochmals Sebastian zeigt. In der Altarpredella wird das Fegefeuer dargestellt: „Zwischen hochschlagenden Flammen befinden sich zehn nackte,

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(2.) Eine zweite grundlegende Voraussetzung für das Verständnis der Gnadennähe im ausgehenden Mittelalter ist die christologische Wende, d.h. der sich seit dem zwölften Jahrhundert vollziehende Wandel des Christusbildes vom triumphalen göttlichen Weltenherrscher hin zum menschgewordenen Erlöser, der dem armen, elenden Menschen als Kind in der Krippe und Passionsheiland gleich wird, ihn als minnevoller Bräutigam liebevoll umfängt und ihm als Advokat im persönlichen Gericht unmittelbar nach dem Tode beisteht.34 Die Grundbewegung in dieser Barmherzigkeitswende des Mittelalters ist die condescensio, das Sich-Herablassen des barmherzigen Erlösers in die größte Niedrigkeit und Armseligkeit der Kreatur; er kommt herab mitten hinein in meine Not, um mir schützend nahe zu sein. In die Nahpräsenz des Schmerzensmannes wird die hilfreiche Nähe der mitleidenden Maria und der ebenfalls passionsförmigen Heiligen einbezogen. Die Passion wird insofern zum zentralen, omnipräsenten und unendlich variationsreichen Inhalt aller Gnadennähe im Spätmittelalter. Sie steht im Mittelpunkt einer neuen Kultur der emotionalen Nähe, einer neuen Gefühlskultur der Liebe, der erlösenden Liebe Gottes und der antwortenden Liebe des Menschen. Als Verbildlichungen dieser rettenden und schützenden Passionsnähe stehen uns viele Bildwerke Ulmer Künstler vor Augen, allen voran die berühmten Darstellungen des Gekreuzigten, des Schmerzensmannes und des Leidensantlitzes Christi,

kahlköpfige Seelen. Ihre Gesichter sind schmerzverzerrt, die Münder aufgerissen. Einige Seelen strecken ihre Arme weitausgreifend und händeringend nach oben oder schlagen die Hände vor das Gesicht. […] Das Flehen richtet sich wohl an die Madonna und die Heiligen im Schrein.“ Wegmann, Susanne: Auf dem Weg zum Himmel. Das Fegefeuer in der deutschen Kunst des Mittelalters. Köln u. a. 2003, 258 f. – Vgl. auch Wagini, Susanne: Der Ulmer Bildschnitzer Daniel Mauch (1477–1540). Leben und Werk. Ulm 1995 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 24), 47–55, 148 f., 197 (Abb. 11); Maier-Lörcher, Barbara: Ulmer Kunst in aller Welt. Plastische Bildwerke des 15. und 16. Jahrhunderts (Ulm, 1996), 140 f. mit Abb. – Gestiftet hat das Bildwerk sehr wahrscheinlich die Geislinger Sebastiansbruderschaft. Die Verbildlichung des Fegefeuers weist darauf hin, dass der Altar für sie offensichtlich die Funktion eines ‚Seelaltars‘ hatte: Für die verstorbenen Mitglieder der Bruderschaft wurden an dem Altar Seelmessen gelesen und für sie wie auch für die Lebenden zu Christus, Maria und den Heiligen des Altars gebetet, damit die Verstorbenen aus dem Fegefeuer befreit und die Lebenden vor den Jenseitsstrafen und vor schlimmen Heimsuchungen im Diesseits wie vor allem der Pest bewahrt werden. 34 Zur kirchlichen Lehre vom Individual- oder Partikulargericht unmittelbar nach dem Tode, die seit dem 13. Jahrhundert ausgebildet wurde und der gleichzeitigen Festigung der Fegefeuer-Idee entsprach, vgl. Dinzelbacher, Peter: Die letzten Dinge. Himmel, Hölle, Fegefeuer im Mittelalter. Freiburg i. Br. u. a. 1999 (Herder-Spektrum 4715), 47–57. – Zur Rolle Christi als Advokaten und Interzessor vor dem richtenden Gottvater im Individualgericht vgl. Hamm, Berndt: Gottes gnädiges Gericht. Spätmittelalterliche Bildinschriften als Zeugnisse intensivierter Barmherzigkeitsvorstellungen. In: Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext. Beiträge zur 11. Internationalen Fachtagung für Epigraphik vom 9.–12. Mai 2007 in Greifswald. Hg. v. Christine Magin, Ulrich Schindel und Christine Wulf. Wiesbaden 2008, 17–35.

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eines Hans Multscher,35 Michel Erhart 36 und Martin Schaffner.37 Von kunsthistorischer Seite wurde dabei die im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmende Realitätsnähe in der anatomisch und physiognomisch möglichst genauen Abbildung des geschundenen, sterbenden und toten Körpers hervorgehoben. Aus theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Sicht darf man in diesem neuen drastischen spätgotischen Realismus der Passion den Versuch sehen, die wirklichkeitsgefüllte, ontische Wahrheit des Menschseins Christi und seines qualvollen Leidens anschaulich werden zu lassen und so die rettende Erbarmensnähe Gottes dem hilfsbedürftigen Menschen noch näher zu rücken und noch eindrücklicher seinem Bewusstsein zu vergegenwärtigen. Bemerkenswert neu ist aber im fünfzehnten Jahrhundert darüber hinaus, dass sich diese Vorstellung von der unmittelbaren, vermenschlichenden Gnadennähe Gottes nicht nur mit dem Sohn Gottes verbindet, sondern in Kunst und Literatur auch auf die erste Person der Trinität, auf Gottvater, übergreift, indem er ebenfalls in die Abwärtsbewegung des liebenden Erbarmens und eines mitfühlenden Schmerzes hineingezogen wird. Eines der besten Beispiele dafür finden wir in der Ulmer Bildschnitzkunst um 1495, in Gestalt einer sog. ‚Erbärmdegruppe‘, die wohl von der Werkstatt Michel Erharts für die Pfarrkirche von Tosters bei Feldkirch geschaffen wurde (Abb. 1).38 Dargestellt sind drei Personen, die eine Gruppe des erbärmlichen Leidens, des mitleidenden Schmerzes und des Erbarmens mit den Menschen bilden. In der Mitte steht der leidgezeichnete Schmerzensmann auf der Weltkugel, d. h. Christus erscheint als Salvator mundi, der die Welt durch sein Leiden erlöst hat. Er wird von beiden Seiten liebevoll gestützt von seinen Eltern. An die Stelle, die bei solchen Gruppen der Jünger Johannes einzunehmen pflegt, ist Gottvater getreten, wie Maria eine Gestalt der compassio, des mitfühlenden Schmerzes.

35 Hans Multscher, Christus als Schmerzensmann, 1429, Sandstein, H. 168 cm, B. 62 cm, T. 42 cm, Ulmer Münster, ursprünglich am Mittelpfeiler des Westportals; vgl. Kat. Nr. 15. In: Hans Multscher. Bildhauer der Spätgotik in Ulm. Ausst. Stuttgart / Ulm 1997. Hg. v. Ulmer Museum, Brigitte Reinhardt und Michael Roth. Ulm 1997, 300–302, mit Abb.; Maier-Lörcher (wie Anm. 33), 12–14 und 28 f. mit Abb. 36 Michel Erhart, Chorbogenkruzifix, 1495, Lindenholz, Körperlänge 5,80 m, Gesamtlänge 8,10 m, Landshut, St. Martins-Kirche; vgl. Kahsnitz, Rainer: Kruzifixe im Werk Michel Erharts. In: Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä. Spätgotik in Ulm. Ausst. Ulm 2002. Hg. v. Ulmer Museum, Brigitte Reinhardt und Stefan Roller. Stuttgart 2002, 112–127 mit Abb. 104–108; Maier-Lörcher, Ulmer Kunst (wie Anm. 33), 76 f. mit Abb. 37 Martin Schaffner, Vera icon, hintere Predella des Hutz-Altars, 1521, Malerei auf Nadelholz, 76,5 × 171,5 cm, Choraltar des Ulmer Münsters, ursprünglich in der Turmvorhalle des Münsters; vgl. Teget-Welz, Manuel: Martin Schaffner. Leben und Werk eines Ulmer Malers zwischen Spätmittelalter und Renaissance. Ulm 2008, 442–463, speziell zur Vera icon 460 und Abb. 58. 38 Werkstatt Michel Erhart, Erbärmdegruppe, 1490–1495 (?), Laubholz, H. 108 cm, B. 105 cm, T. 25 cm, Tosters bei Feldkirch / Vorarlberg, kath. Pfarrkirche Zum hl. Cornelius und hl. Cyprian; vgl. Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä. (wie Anm. 36), 340–342, Nr. 57, mit Abb.; Maier-Lörcher (wie Anm. 33), 82 f. mit Abb.

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Abb. 1: Werkstatt Michel Erharts, Erbärmdegruppe, 1490–1495. Tosters bei Feldkirch/Vorarlberg, kath. Pfarrkirche Zum hl. Cornelius und hl. Zyprian.

Ikonographisch ist diese Gruppe ganz ungewöhnlich, offensichtlich ohne Parallele, wie überhaupt die spätmittelalterliche Kunst in der Darstellung von Leiden, Mitleiden, Liebe, Versöhnung und Erbarmen ihre größte Innovationskraft entfaltete.39 Zu-

39 Nahezu alle bedeutenden ikonographischen Innovationen und Neuakzentuierungen seit dem 13. Jahrhundert sind erbarmens- und gnadenorientiert, z. B. Gnadenstuhl, Not Gottes (vgl. Anm. 40), Schmerzensmann, Christus in der Kelter, Ölberg, Vera icon, Gregorsmesse, Pietà, Schmutzmantelmadonna, die brustzeigende und milchspendende Maria, Rosenkranzbilder, Heilstreppe, Heilsbrunnen, Hostienmühle, das verwundete und blutende Herz Christi und das selbständig stehende nackte Christuskind. Zum Bereich der Weltgerichtsikonographie vgl. auch einige Bilder aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert, die dem Weltenrichter Christus eine zweite Christusgestalt, den Gekreuzigten, zuordnen, ja diesen Passionschristus geradezu in die Gerichtsszene hineinschieben. Vgl. Thümmel, Hans Georg: Der Gekreuzigte als Richter. Der doppelte Christus im Weltgerichtsbild. In: Multiplicatio et variatio. Beiträge zur Kunst. Festschrift für Ernst Badstübner. Berlin 1998, 139–151, mit der Deutung (S. 151): „ein Bild, das zum Ausdruck bringt, daß der strenge Weltenrichter mit dem Erbarmenden identisch ist, der sich selbst für das Heil der Welt hingegeben hat“. – Selbst die neue Fegefeuer-Ikonographie des Spätmittelalters dient nicht einer einschüchternden Drohbotschaft, die das Reinigungsfeuer infernalisiert, sondern gehört auf die Seite einer Dominanz der Erlösungs-, Erbarmens- und Trostperspektive; vgl. Wegmann (wie Anm. 33), 223: „Die Bilder beziehen stets das

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gleich aber steht diese kühne Vermenschlichung Gottvaters in einem engen inhaltlich-thematischen Bezugsnetz zu anderen Bildern des späteren fünfzehnten und beginnenden sechzehnten Jahrhunderts, die Gottvater aus der verborgenen Transzendenz in voller Menschengestalt als den gütigen und barmherzigen Vater der bedrängten Menschen hervortreten lassen.40 Als weiteres Beispiel bietet sich ein Holzschnitt aus den um 1450 beginnenden Drucken der weit verbreiteten ‚Bilder-Arsmoriendi‘ an, hier in der Version des Ulmer Drucks von ca. 1469 (Abb. 2)41: Gottvater wird aus seinem ikonographisch traditionellen Ort im Himmel herab an das Bett eines sterbenden Menschen geholt und bildet hier ebenfalls zusammen mit Christus und Maria eine ‚Erbärmdegruppe‘. Gemeinsam mit der Taube des Heiligen Geistes, den vielen Heiligen hinter ihnen und dem Schutzengel sind sie für den Sterbenden die personifizierte nahe Gnade, die ihn vor den Anfechtungen der Dämonen abschirmt und sie in die Flucht schlägt. Die trennende Kluft zwischen Gott und Mensch ist hier völlig überwunden. Gottvater selbst wird zum barmherzigen Mediator. Oberflächlich betrachtet, steht diese völlig vermenschlichte Darstellung Gottvaters in einem Gegensatz zu einem transzendenteren und vergeistigteren Gottesverständnis in der spätmittelalterlichen Theologie.42 Und doch ist eine innere Logik der neuen Ikonographie zu erkennen: Erlösend kann die Nähe Gottes nach damaligen

Motiv der Hoffnung mit ein, entweder durch die Darstellung der Erlösung von Seelen aus dem Fegefeuer oder durch den ikonographischen Kontext.“ Letzterem kommt das entscheidende Gewicht bei dem in Anm. 33 genannten Beispiel aus dem Ulmer Landgebiet (Geislinger Altar) zu: Die über dem Fegefeuer dargestellte Maria mit dem Christuskind garantiert zusammen mit den vier Heiligen die Chance der armen Seelen auf ihre vorzeitige Befreiung aus dem Läuterungsfeuer. 40 Vgl. besonders die Gnadenstuhl-Ikonographie in ihrer Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert und dazu als eindrucksvolles Beispiel aus Ulm (heute im Münster) das Tafelbild eines unbekannten Ulmer Malers aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts (?); Abbildung, Beschreibung und kunsthistorische Einordnung in Hans Multscher (wie Anm. 35), 427–30, Nr. 65, besonders 428: „Der sogenannte Gnadenstuhl […] zeigt Gottvater in Begleitung der Taube des Heiligen Geistes das Kruzifix mit dem Gekreuzigten haltend. Die Ulmer Darstellung folgt einem erst später aufkommenden, dann aber [im Laufe des 15. Jahrhunderts, B. H.] zusehends verbreiteten Typus, der ‚Pitié-de-nostreSeigneur‘ oder ‚Not Gottes‘. Charakteristisch für diesen Typus ist, daß Gottvater statt des Kruzifixes den Schmerzensmann hält, den vom Kreuz gelösten Leichnam Christi mit den Wundmalen.“ Damit wird die unmittelbare barmherzige Verbundenheit des Vaters mit dem Leiden des Sohnes stärker akzentuiert. 41 Vgl. die Faksimile-Ausgabe dieses Ulmer Blockbuch-Drucks des „ludwig ze vlm“: Die deutsche Übersetzung der Ars moriendi des Meisters Ludwig von Ulm um 1469. Hg. v. Ernst Weil. München / Pasing 1922. – Vgl. auch Hamm, Berndt: Die Nähe des Heiligen im ausgehenden Mittelalter. Ars moriendi, Totenmemoria, Gregorsmesse. In: Sakralität zwischen Antike und Neuzeit. Hg. v. dems., Klaus Herbers und Heidrun Stein-Kecks. Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie 6), 185–221, hier 190–4 (mit der gleichen Abbildung aus der Bilder-Ars, aber nach der ‚editio princeps‘, Blockbuch um 1450). 42 Ein Indiz dafür ist z. B. die Differenzierung zwischen Erstursächlichkeit Gottes und Zweitursächlichkeit der Kreaturen bei Thomas von Aquin – vgl. dazu Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 115–119 – oder die von der nominalistischen Theologie des 14. Jahrhunderts reflektierte ontologische Kluft zwischen Gott, Welt und begreifender ratio des Men-

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Abb. 2: Bilder-Ars-Moriendi, Die gute Eingebung des Engels hinsichtlich des Glaubens, Holzschnitt aus dem Ulmer Druck des Ludwig von Ulm.

Begriffen nur sein, weil er sich als der absolut Weltüberlegene so tief in das Leiden der Menschen und das Mitleiden mit seinem Sohn herablässt. Der Glaube an diese unbegreifliche Distanzüberwindung, in der die Spannung zwischen unendlicher Ferne und intimster Nähe erhalten bleibt, eröffnet der spätmittelalterlichen Religio-

schen bei gleichzeitiger „Immediatisierung des Gottesbildes“; so Leppin, Volker: Theologie im Mittelalter. Leipzig 2007 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen I/11), 128–47.

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sität neue Möglichkeiten, die Anwesenheit Gottes in der Welt und eine Art von vermittelter Unmittelbarkeit seiner heilvollen Präsenz zu erfahren und zu artikulieren. (3.) Eine wichtige dritte Grundlage für die Dynamik der nahen Gnade bildet die Intensivierung und Expansion der Seelsorge, wie sie vor allem durch die Bettelorden ins 15. Jahrhundert hineingetragen wurde,43 aber nun auch außerhalb der Bettelorden weiter vorangetrieben wird. Bestimmte einflussreiche Reformtheologen wie der Franzose Johannes Gerson (1363–1429) wollen die gelehrte Theologie ganz in eine Seelsorgetheologie für ungelehrte Menschen, Männer und Frauen, transformieren.44 Ziel dieser volksmissionarischen Seelsorgekonzeption ist es, möglichst viele Seelen von der Kanzel, im Beichtstuhl und durch frömmigkeitsorientierte Schriften für ein ernsthaftes Bußleben in der Nachfolge Christi zu gewinnen und ihnen zugleich die rettenden Gnadenhilfen nahe zu bringen. So entsteht ein enges Bündnis zwischen Theologie und alltagsorientierter Seelsorge. Es entspricht dem drängenden Bedürfnis vieler Ordensleute, Priester und Laien, die nach einer verständnisvoll orientierenden und elementarisierenden Heilslehre, nach praktikablen Anleitungen zur Andacht und nach tröstenden Vergegenwärtigungen sicherer Gnaden- und Heilsgarantien verlangen.45

Der Multiplizierungsdrang der Frömmigkeitstheologie und die Drucktechnik Um diese wachsenden Bedürfnisse der gebildeter und lesekundiger werdenden Gläubigen zu befriedigen und zugleich regulierend in die gewünschte Richtung einer privaten und öffentlichen Religionsausübung zu lenken, entfaltet die seelsorgerlich ausgerichtete ‚Frömmigkeitstheologie‘46 im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts innovative Kräfte der Transformation,47 der Popularisierung und Multiplizierung theologischer Erträge in Rede, Text, Bild und Gesang. Das bedeutet inhaltliche Vereinfachung und Konzentration auf das Heilsdienliche, verstärkte Hinwendung zur

43 Vgl. Ertl, Thomas: Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Berlin / New York 2006 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 96), bes. 271–305. 44 Vgl. Burger, Christoph: Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris. Tübingen 1986 (Beiträge zur historischen Theologie 70). 45 Vgl. Hamm, Berndt: Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert. In: Praxis Pietatis. Beiträge zur Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Wolfgang Sommer. Hg. v. Hans-Jörg Nieden und Marcel Nieden. Stuttgart u. a. 1999, 9–45, hier 29–31. 46 Zum Begriff der ‚Frömmigkeitstheologie‘, den ich seit 1977 im Blick auf die theologische Landschaft zwischen 1400 und 1520 in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt habe, vgl. zusammenfassend meinen in Anm. 45 zitierten Aufsatz. 47 Vgl. Burger, Christoph: Transformation theologischer Ergebnisse für Laien im späten Mittelalter und bei Luther. In: Praxis Pietatis (wie Anm. 45), 47–64.

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Volkssprache, Vermehrung der Predigt,48 immense Handschriftenproduktion und vor allem auch ein offensives Zusammengehen mit den neuen drucktechnischen Vervielfältigungsmöglichkeiten. Seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts entsteht eine intensive Symbiose zwischen dem religiösen Drang zur Multiplizierung von Texten und Bildern und den Reproduktionsverfahren des sich ausbreitenden Buchdrucks: einerseits des xylographischen Drucks mit der Holzschnitttechnik und andererseits der typographischen Drucktechnik Gutenbergs mit beweglichen Lettern – all dies auf der neuen materiellen Grundlage einer preisgünstigen Papierproduktion. Man kann sagen: Der starke Reform- und Popularisierungsimpetus der Frömmigkeitstheologie profitierte von den neuen technisch-materiellen Verbreitungsmöglichkeiten und beflügelte ihre Dynamik; und umgekehrt: Die neuen Drucktechniken profitierten von dem religiösen Markt und beflügelten die Produktion einer Fülle von Frömmigkeitstexten und Frömmigkeitsbildern – oft in der Kombination von Text und Bild, wie etwa im Fall der bereits erwähnten, weit verbreiteten Bilder-Ars-moriendi, einer Anleitung zum seligen Sterben.49

Der Ulmer Einblattdruck als Medium der Frömmigkeitsreform Als auch in Ulm um 1469 eine in Holz geschnittene Ausgabe dieser Bilder-Ars entstand,50 hatte in der Reichsstadt gerade das Zeitalter der Holzschnittkunst begonnen,51 und nur wenige Jahre später, 1473, konnte auch hier das typographische Druckverfahren mit auffallend kostbaren Bänden Fuß fassen.52 Eine außergewöhnliche Ausstrahlung gewann Ulm in der Folgezeit – parallel zur Blüte der Bildschnitzerei – auf dem Gebiet der Holzschnitttechnik, also des xylographischen Drucks. Vor allem in der Produktion von plakatartigen Einblattdrucken mit religiösen Themen entwickelte sich die prosperierende Handels- und Kulturstadt zu einem der führenden Zentren in Deutschland bis zum Beginn der neunziger Jahre des fünfzehnten

48 Vgl. die Diagnose eines Zeitgenossen („frequentius praedicatur quam prius“) oben, Anm. 4. 49 Vgl. oben, Anm. 41 und Palmer, Nigel F.: Ars moriendi und Totentanz. Zur Verbildlichung des Todes im Spätmittelalter. Mit einer Bibliographie zur „Ars moriendi“. In: Tod im Mittelalter. Hg. v. Arno Borst u. a. Konstanz 1993 (Konstanzer Bibliothek 20), 313–334. 50 Vgl. oben, Anm. 41. 51 Zu Ulm als Produktionszentrum für Holzschnitte vgl. Griese (wie Anm. 12), 129–221. 52 Vgl. Amelung (wie Anm. 18). – Zur Produktion der 128 typographischen Einblattdrucke Ulms (darunter marianische und ablassbezogene Drucke, aber auch Nicht-Religiöses wie Almanache und amtliche Ausschreiben) vgl. Eisermann, Falk: Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (VE 15), Bd. 1. Wiesbaden 2004, 218–21 (Druckerregister, Stichwort ‚Ulm‘).

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Jahrhunderts.53 2006 haben die Ulmer Einblattdrucke und ihre Medienfunktion eine ausgezeichnete Darstellung durch Sabine Griese gefunden.54 Im Jahr zuvor wurde in Washington und Nürnberg eine Ausstellung über „Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch“ mit einem vorzüglichen Katalog gezeigt, in dem auch zahlreiche religiöse Holzschnittblätter Ulms vorgestellt werden.55 Diese markanten Fortschritte in der Einblattdruckforschung56 haben mir den Anstoß gegeben, das nach neuen historischen Methoden aufbereitete Quellenmaterial in einen stärker theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Interpretationszusammenhang zu stellen. Die Ulmer Drucke, die gelegentlich nur ein Andachtsbild zeigen, meist aber Bild und Text, beide in Holz geschnitten, kombinieren, wurden offensichtlich zum kongenialen Medium der skizzierten frömmigkeitstheologischen, seelsorgerlichen Popularisierungs- und Elementarisierungsoffensive. Auf einem Einblattdruck konnte man durch kurze volksprachliche Texte und anschauliche Illustrationen das Wesentliche der christlichen Heilsbotschaft, das Gnaden- und Schutzangebot ebenso wie eine anleitende Regularisierung der Frömmigkeit in die Häuser der menschenreichen Stadt und ihres Umlandes hineintragen. Alles, was ich über die Zweiseitigkeit der Religiosität, den selbst zu gehenden Weg zum Himmel und die nahe Gnade, gesagt habe, findet man in erstaunlich vielen Variationen auf den Ulmer Holzschnitten. Es fehlt auf ihnen die Dimension des Bedrohlichen, Angsterregenden und Er-

53 Die Herstellung der Blätter verbindet sich mit Namen wie Ludwig Maler, Bastian (Sebastian) Ulmer, Hans Hauser, Hans Schlaffer, Michel Schorpp, Peter Maler; vgl. Griese (wie Anm. 12), 129 f. – Zur Frage der Ulmer Wirksamkeit eines auf manchen Blättern signierenden „michel“ oder „michil“ vgl. ebd., 118 f. – Als Drucker von Ulmer Einblatt-Holzschnitten ist besonders Konrad Dinckmut bekannt; vgl. Amelung (wie Anm. 18), 149–260; Griese, ebd., 185–210. – Bei der Herstellung der Blätter muss man zwischen den Arbeitsgängen des Reißens oder Vorzeichnens auf den Holzstock, des Schneidens in den Holzstock, des Druckens und des späteren Bemalens der fertigen Blätter unterscheiden. Daher spricht man von Reißern, Formschneidern, Druckern und Briefmalern, obwohl die Zuordnung der Arbeitsschritte zu verschiedenen Handwerkern umstritten ist; vgl. Griese, ebd., 134, Anm. 31. 54 Griese (wie Anm. 12). Die Habilitationsschrift wurde bereits 2006 vorgelegt. – Der Verfasserin bin ich sehr dankbar, dass sie mir ihre Arbeit schon vor Drucklegung zur Verfügung gestellt und auch in den folgenden Jahren immer wieder Einblick in den Ergebnisreichtum ihrer Forschungen zu den xylographischen Einblattdrucken gewährt hat. 55 Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24). Vgl. in diesem Band auch die einführenden Essays über die ersten Jahrzehnte der xylographischen Druckgraphik im 15. Jahrhundert von Peter Parshall, Rainer Schoch, Richard S. Field und Peter Schmidt. 56 Zu diesen Fortschritten der jüngsten Zeit gehört vor allem auch das Erscheinen des dreibändigen Verzeichnisses der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts von Falk Eisermann (wie Anm. 52). Eisermann und Griese waren Mitarbeiter in dem von Volker Honemann geleiteten Projekt „Textierte Einblattdrucke im Deutschen Reich bis 1500 als Ausdruck pragmatischer Schriftlichkeit“ im Rahmen des Münsteraner Sonderforschungsbereichs 231 „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter“. Eine Frucht dieses Projekts ist u. a. der wichtige Band: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien. Hg. v. Volker Honemann u. a. Tübingen 2000.

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schreckenden. In einer für das Phänomen des spätmittelalterlichen Einblattdrucks weithin charakteristischen Weise offerieren sie alle das zur persönlichen Aneignung einladende Gnadenangebot.57 Dies mögen einige Blätter exemplarisch verdeutlichen.

Beispiele für den Ulmer Einblattdruck von Frömmigkeitsbildern (zwischen 1460 und 1490) (1. Beispiel) Thematisch stehen auf den Ulmer Blättern – dem dominierenden Zug der damaligen Religiosität entsprechend – Passion, Kreuz und Leiden im Mittelpunkt. Der kolorierte Holzschnitt, der den Schmerzensmann mit den Leidenswerkzeugen, den sog. arma Christi, zeigt (Abb. 3),58 vermittelt dem Betrachter die nahe Gnade des göttlichen Erbarmens und stellvertretenden Sühneleidens, zugleich aber appelliert das Blatt an die liebevoll, mitleidend und dankbar meditierende Andacht des hilfsbedürftigen Menschen, mit der er sich im Gebet an Christus wenden soll. (2. Beispiel) Wie dieses andächtig betende Antwortverhalten gestaltet werden kann, erfährt man durch ein anderes Ulmer Blatt (Abb. 4).59 Noch deutlicher präsentiert es sich nicht nur als Barmherzigkeitsbild, sondern durch die Anreicherung der arma Christi auch als Erinnerungsbild,60 das die Passionsgeschichte in szenischer 57 Es entspricht allerdings der spätmittelalterlichen Drohpredigt, der oben erwähnten „terrefica praedicatio“ (Anm. 29), dass sich unter den überlieferten Einblattdrucken auch einige finden, die nicht nur instruierenden und ermahnenden, sondern auch drohenden Charakter haben. Ein Beispiel (dessen Bildkomposition bereits im späten 14. Jahrhundert auf einer Wandmalerei in Lemgo zu finden ist) ist abgebildet bei Signori, Gabriela: Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter. Ostfildern 2005, 72, Abb. 10: Moses mit den Zehn Geboten, den ägyptischen Plagen und den Sünden, Einblattholzschnitt, British Museum; das Blatt hat einen katechetisch-anleitenden Charakter und vermittelt mit dem Wissen über Gebote und Sünden die Botschaft: Wenn du dich gegen Gottes Gebote versündigst, wirst du wie Pharao von Gottes Plagen heimgesucht. Solche Blätter sind mir aus dem Bereich der Ulmer Produktion nicht bekannt geworden. 58 Der Schmerzensmann mit den arma Christi, kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier, 26,1 × 40,0 cm, Ulm, um 1465–1480; Exemplar: The Art Institute of Chicago, Robert A. Waller Fund; Abbildung und Beschreibung in: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 242–245, Nr. 72. 59 Der Schmerzensmann mit den arma Christi, kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier, 41,4 × 27,6 cm, Ulm: „Michil“, um 1470–1485; Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv. Nr. H 9: Abbildung und Beschreibung in: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 248–50, Nr. 74; vgl. auch Griese (wie Anm. 12), 191–194. 60 Zur Memorierfunktion der Leidenswerkzeuge als untergeordnete Erinnerungsbilder (Subimagines) im Verhältnis zur Zentralgestalt (Superimago) des Schmerzensmanns mit seinen Wundmalen als Gedächtnismalen vgl. Hamm, Berndt: Normierte Erinnerung. Jenseits- und Diesseitsorientierungen in der Memoria des 14. bis 16. Jahrhunderts. In: Die Macht der Erinnerung. Neukirchen-Vluyn 2008 (Jahrbuch für Biblische Theologie 22, 2007), 197–251, hier 212–214 (bezogen auf die Bildkompo-

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Vergegenwärtigung vor das geistige Auge des Betrachters holt und ihn so zur Gebetsmeditation auffordert. Durch den Kelch, in den das Blut der Seitenwunde spritzt, wird die Nähe der erlösenden Gnade auch als sakramentale Präsenz erkennbar. Vor allem aber wird nun das Bild auf der Fußleiste mit einem Text versehen, der dem andächtigen Menschen ein Mustergebet an die Hand gibt. Es wendet sich an die große Barmherzigkeit des Schmerzensmannes: Er möge an der betenden Person das Ziel seiner Passion zur Wirksamkeit bringen.61 Das Aussprechen dieser Gebetworte ermöglicht es, durch eigenes Zutun die Gnadenkraft des Bildes zu erschließen. Daher wird dem Gebet eine einleitende Ablasszusage vorangestellt, die lautet: „Wer dieses Gebet mit Andacht spricht, hat ebenso viele Tage Ablass, wieviel Wunden unser Herr Jesus Christus um unsertwillen empfangen hat.“ 62 Nach einer verbreiteten spätmittelalterlichen Zählung waren es 5,490 Wunden.63 Das Ablassversprechen meint, dass die angegebene Menge der Tage von jenem Gesamtquantum zeitlicher Sündenstrafe abgezogen wird, das der Mensch, falls er jetzt stirbt, im Fegefeuer abbüßen müsste. Um den Ablass zu erhalten, muss das Gebet mit Andacht gesprochen werden. ‚Andacht‘ aber meint den seelisch tätig werdenden Habitus der Liebe und wahren Reue, die Aktivierung eines Zustandes also, in dem der Beter um der Passion Christi willen bereits die Vergebung seiner Sündenschuld und der ewigen Verdammnis der Hölle empfangen hat – und empfangen haben muss, bevor der Ablass die zeitlich begrenzte Sündenstrafe teilweise oder ganz tilgen kann. Das Blatt vermittelt so auf sehr typische Weise die Zweiseitigkeit von schenkender Gnade und eigenem Bemühen, d. h. der eigenen Qualität und Aktivität. Die nahe Gnade ist das besondere Ablassangebot, das dem schutzbedürftigen Sünder durch das Medium des Einblattdrucks nahegebracht wird.

sition der ‚Gregorsmesse‘ mit ihrer Zuordnung von Schmerzensmann / Imago Pietatis und arma Christi). – Generell zur Memorierfunktion von Einblattdrucken vgl. Henkel, Nikolaus: Schauern und Erinnern. Überlegungen zu Intentionalität und Appellstruktur illustrierter Einblattdrucke. In: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (wie Anm. 56), 209–243 (mit Literatur zur ars memorativa in Anm. 9). 61 „[…] Vnd bit dich, l‹ie›ber herre durch din gros erbarmhertzikeit [Barmherzigkeit], das du alles das an mir volbringest, d[a]z es dir loblich sige [sei] in der ewigkeit vnd mir trostlich sige in direr [dieser] zit. Amen.“ 62 „Wer dis gebet spricht mit andacht, der het als mengen tag aplas als menig wonden vnser herr ihesus christus het enphangen durch vnsern willen.“ 63 Die Zahlenangaben variieren in einem Bereich von über 5.400 Wunden. Die höchste Zahl 5.490 wurde durch die „Vita Jesu Christi“ des Ludolf von Sachsen, dem wohl verbreitetsten Andachtsbuch des Spätmittelalters, populär. Vgl. Angenendt, Arnold u. a.: Gezählte Frömmigkeit. In: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), 1–71: hier 45; zu anderen Zahlenangaben vgl. Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 181 f., 187 f. Vgl. auch Areford, David S.: The Passion Measured. A Late-Medieval Diagram of the Body of Christ. In: The Broken Body. Passion Devotion in Late-Medieval Culture. Ed. by Alasdair A. MacDonald, H. N. Bernhard Ridderbos and Rita M. Schlusemann. Groningen 1998 (Mediaevalia Groningana 21), 211–238.

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Abb. 3: Der Schmerzensmann mit den arma Christi, kolorierter Einblattholzschnitt, Ulm um 1465–1480. Chicago, Art Institute, Robert A. Waller Fund, 1947.731.

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Abb. 4: Der Schmerzensmann mit den arma Christi, kolorierter Einblattholzschnitt, Ulm: „Michil“, um 1470–1485. Nürnberg; Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. H 9.

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(3. Beispiel) Eine Steigerung besonderer Art erfährt diese Nahvergegenwärtigung der Gnade auf einem weiteren Ulmer Passionsblatt (Abb. 5).64 Mit der Darstellung des Christusantlitzes bezieht es sich auf die berühmteste und heiligste Bildreliquie des Abendlandes, das Schweißtuch der Veronika, das in der alten Peterskirche zu Rom aufbewahrt wurde und das nach spätmittelalterlichem Glauben den realen Abdruck des Leidensgesichtes Jesu, die Vera icon, darbot;65 wer zu ihr über die Alpen nach Rom wallfahrtete, erhielt dort, wie es in den meisten (differierenden) Zahlenangaben hieß, einen päpstlichen Ablass von 12.000 Jahren und mehr66 – eine ferne Berührungsreliquie Jesu und damit auch eine ferne Gnade, die nur strapaziös zu erreichen war. Durch die unermesslich vielen Nachbildungen dieses Gnadenbildes, die es zusammen mit seiner Ablasswirkung überallhin transferierten, wurde die Vera icon aber im ausgehenden Mittelalter geradezu ein Massenmedium der nahpräsenten Gnade. Der Betrachter musste nicht mehr zum Bild kommen, sondern das wahre Antlitz Christi kam aus Rom zu ihm,67 und durch ein andächtiges Gebet vor dem Bild konnte er seine Ablasswirkung abrufen.68 Der kolorierte Ulmer Einblattdruck von ca. 1482 bietet ein schönes Beispiel für diese stereotype Kombination von Vera icon, Gebet und Ablasszusage. Das hier verwendete Gebet hatte einen festen Platz in der Vera-icon-Andacht, bietet es doch die deutsche Fassung des oft zitierten lateinischen Hymnus „Salve sancta facies“ (Gegrüßet seist du, heiliges Antlitz!)69 –

64 Das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch (Vera icon), kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier, 12,9 × 11,2 cm, Ulm: gedruckt bei Konrad Dinckmut, um 1482; Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv.-Nr. H 96; Abbildung und Beschreibung in: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 240–242, Nr. 71. 65 Zur Legende des Schweißtuchs (Sudarium) der hl. Veronika und zur Bildtradition vgl. Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 313 f., Nr. 100. – Vgl. auch Belting, Hans: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München 2005. 66 Zu der häufigsten Zahlenangabe von 12.000 Jahren und mehr, z. B. „12.000 Jahre Ablaß und 12.000 Karenen [= Einheiten von 40 Tagen]“, vgl. Miedema, Nine Robijntje: Die römischen Kirchen im Spätmittelalter nach dem ‚Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‘. Tübingen 2001 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 97), 326 f. (Nr. 17), 368, 374 f., 378–80, 382, 385. 67 Vgl. Wolf, Gerhard: Das Paradox des wahren Bildes. In: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod. Von der Entwicklung religiöser Bildkonzepte. Ausst. Wien 1995 / 96. Hg. v. Christoph Geissmar-Brandi und Eleonora Louis. Klagenfurt 21996, 430–433. 68 Zur Quantität dieses Vera-icon-Ablasses fern von Rom (es sind verschiedene Zahlenangaben bis zu einer Höhe von 30.000 Jahren und zusätzlichen Tagen im Umlauf) vgl. Paulus, Nikolaus: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters. Darmstadt 22000, 250. 69 Der typographisch gedruckte Gebetstext „Griest siestu hailiges antlit […]“ bietet die Übertragung einer seit dem 14. Jahrhundert nachweisbaren Kurzredaktion des Hymnus Salve sancta facies, der Papst Johannes XXII. (1316–1334) zugeschrieben wird. Dieser Papst soll auch die Verknüpfung von verehrungsvoller Betrachtung des Veronikabildes, Gebet dieses Hymnus und Ablassbewilligung begründet haben. Der lat. Text der Kurzfassung findet sich bei Mone, Franz Xaver: Lateinische Hymnen des Mittealters, Bd. 1. Freiburg i. Br. 1854 (Nachdruck: Aalen 1964), 155 f., Nr. 119. – Zur Überlieferung des Gebetshymnus auf Einblattdrucken vgl. Eisermann, Falk: Medienwechsel – Medienwandel. Geistliche Texte auf Einblattdrucken und anderen Überlieferungsträgern des

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ein Gebet, das die Bitte formuliert, durch die Hilfe und den Schutz Christi vor den Sündenstrafen bewahrt sowie zur ewigen Ruhe und himmlischen Schau des Christusantlitzes geführt zu werden.70 Ungewöhnlich und erstaunlich ist die Art der Ablassverheißung am Ende des Blatts: Diesem Gebet werden so viele Tage und Karenen (Vierzig-Tages-Einheiten) Ablass gegeben, „das ich sy hie nit kuͤ nd wol begriffen“: dass man die Quantität hier nicht in Worte fassen könnte.71 Der Verfasser des Textes verwendet einen sog. ‚Unsagbarkeitstopos‘, um auszudrücken, dass die Menge des Ablasses ein an exakten Zahlenangaben orientiertes Vorstellungs- und Sprachvermögen übersteigt.72 Eine immense Ablassgnade wird also in Aussicht gestellt, und der Weg zu ihr wird so leicht wie möglich gemacht: Ein andächtiges Gebet genügt als Zugang zum unermesslichen Gnadenreichtum. Diese Kombination von extremer Erleichterung des Weges und Steigerung der nahen Gnade erinnert an das erwähnte Buch des Ulmer Dominikaners Felix Fabri über die Zionpilger, das etwa ein Jahrzehnt später entstand.73 Auch Fabri bietet in seinem Meditationsbuch eine erstaunliche Erleichterung an – nicht nur, weil er den in der Andacht ihres Geistes Pilgernden den weiten, mühseligen, gefahrvollen und kostspieligen physischen Weg ins Heilige Land erspart, sondern vor allem auch, weil er ihnen gleichwohl eine Vermehrung der Ablassgnade in Aussicht stellt: An den einzelnen Wegstationen, die sie sich kontemplativ vergegenwärtigen, können sie unmittelbar von Gott selbst mehr Ablass erhalten als die leiblichen Jerusalempilger durch die quantitativ festgelegten Ablassbewilligungen der Päpste und Bischöfe.74 Dieses ‚Mehr‘ wird wie auf dem Vera-icon-Einblattdruck zahlenmäßig nicht festgelegt. Es ist eine nicht definierbare Gnadenfülle, die, wie Fabri andeutet, offen-

15. Jahrhunderts. In: Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit. Wolfenbütteler Arbeitsgespräch 1997. Frankfurt a. M. 1998 (Mikrokosmos 50), 35–58, hier 41–43. 70 „[…] Fier uns czů dem vatterland, o du selige figure, zů sehend das wonneuglich antlit cristi vnsers herren. Bis [sei] uns aim sichere hilff, ain siesse erkielong, trost und ain schirme, das vns nit schaden můg die beschwerong vnser sůnde, sonder das wir niessend die ewig ruͤ o. Amen.“ Lat. Vorlage (Mone, 155: „[…] Nos perduc ad patriam, / o felix figura, / ad videndam faciem, / quae est Christi pura. // Esto nobis, quesumus, / tutum adjuvamen, / dulce refrigerium / atque consolamen, nobis ut non noceat / hostile gravamen, / sed fruamur requie, / omnis dicat: amen.“ 71 Zu dieser Wortbedeutung von ‚begreifen‘ vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 3. Berlin 1995–2001, Artikel ‚begreifen‘, Sp. 650–667, hier Sp. 665, Nr. 23: „etw. (einen Sachverhalt) sprachlich ausdrücken, festhalten, formulieren […]“. Für diesen Sinn spricht vor allem die Ortsangabe „hie“ (= an dieser Stelle, in diesem Text); freundlicher Hinweis von Dr. Andreas Zecherle (Tübingen). 72 Zwar ist die Ablasszusage, deren Unbestimmtheit Unermesslichkeit ausdrückt, auffallend und ungewöhnlich. Es gibt aber Parallelen; vgl. Miedema (wie Anm. 66), 368: „unzählbar großer Ablaß“ beim Zeigen des Veronika-Tuches (drei Belege). 73 Vgl. oben, S. 4 mit Anm. 13. 74 Vgl. Fabri, Sionpilger (wie Anm. 13), 79, 1–22 („Doch mag im [kann ihm, d. h. dem Sionpilger] got me[hr] geben“, Z. 10).

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Abb. 5: Das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch (Vera icon), kolorierter Einblattholzschnitt, um 1482. Nürnberg Germanisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. H 96.

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sichtlich in Zusammenhang mit der Intensität der Andacht und der Lebensführung der geistlichen Zionpilger steht.75 Die Nähe der Gnade hat also sowohl die Dimension meditativ-kontemplativer Unmittelbarkeit als auch die einer Erleichterung, die das zweiseitige Verhältnis zwischen Gnade und eigener Anstrengung deutlich auf die Seite des Gnadenreichtums, der Heilsgarantien in allernächster Reichweite, verschiebt. Die Gnaden der Jerusalemwallfahrt kommen ebenso wie die Gnaden Roms und Santiago de Compostelas nach Ulm.76 (4. Beispiel) In Fortführung der Passionsthematik wende ich mich einem weiteren xylographischen Einblattdruck zu, der wohl in den achtziger Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts ebenfalls in Ulm entstanden ist (Abb. 6).77 Er zeigt den unter der schweren Kreuzeslast niedergefallenen Christus – eine Szene auf dem Weg nach Golgatha, die, wie die beiden Inschriften verdeutlichen, für den Weg aller Christen zur himmlischen Seligkeit grundlegend und exemplarisch ist. Im linken Inschriftband steht das Gebet: „O Herr Jesu Christe, in deiner Müdigkeit [= Schwäche, Erschöpfung] und [deinem] schweren Fallen hebe mich auf von meinen Sünden allen!“ 78 Gemeint ist, dass der Mensch um des stellvertretenden Sühneleidens Christi willen von seiner Sündenschuld, allen Sündenstrafen und seinem sündigen Leben befreit werden will. Christi Fallen soll so den Sündenfall des Menschen mit all seinen Konsequenzen aufheben. Durch die Kombination des Bildes mit diesem Gebet rückt das Blatt dem Betrachter die Grundlage und Möglichkeit seiner Erlösung vor Augen. Das zweite Gebet im rechten Schriftband führt diese Botschaft weiter, indem es nun auch den mitwirkenden Anteil des Menschen an seinem Erlösungsweg zur Sprache bringt: „O Herr, um deiner schweren Last, die du willig getragen hast, als du mit ihr schwer beladen wurdest, hilf allen Menschen mit deinen Gnaden, dass

75 Vgl. ebd., Z. 4 f.: „Doch mag er [der Sionpilger] so andechtig sin, das er von got me ablas von pen und schuld empfacht denn der ritter bilgrin.“ Vgl. auch Z. 10–6. 76 In seinem Buch „Sionpilger“ über die Pilgerfahrt im Geiste hat Fabri dem Teil über die Jerusalemfahrt noch zwei kleinere Teile über die virtuelle Rom- und die Santiagofahrt und die dabei zu erlangenden Ablässe angeschlossen; vgl. ebd., 313–53 bzw. 355–95. – Vgl. auch den Gnadentransfer aus Rom nach Ulm durch die Repliken römischer Gnadenbilder, vor allem der sog. Imago pietatis von Santa Croce in Gerusalemme auf den Darstellungen der ‚Gregorsmesse‘ (zur Gregorsmesse auf Ulmer Einblattdrucken vgl. exemplarisch Rosenthal, Erwin: Zur Ulmer Formschneidekunst im XV. Jahrhundert im Anschluß an einen Einblattholzschnitt der „Messe des heiligen Gregor“. In: Beiträge zur Forschung. Studien aus dem Antiquariat Jacques Rosenthal. NF 3 [1930], 23–35) sowie des Marienbildes von Santa Maria del Populo (zu einem Ulmer Einblattdruck mit diesem Gnadenbild und dem dazu passenden Ablassgebet vgl. Griese [wie Anm. 12], 300–309 und 555, Abb. 52). 77 Christus fällt unter der Kreuzeslast, kolorierter Einblattholzschnitt auf Papier, 12,6 × 18,8 cm, Ulm (?), um 1480–1490; Exemplar: National Gallery of Art Washington, Rosenwald Collection 1943.3.536; Abbildung und Beschreibung in: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 234–236, Nr. 68. 78 „O herr ihuͤ su christe, in diner muͤ de und schwaͤrem fallen hebe mich uff von minen sunden allen.“

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Abb. 6: Christus fällt unter der Kreuzeslast, kolorierter Einblattholzschnitt, Ulm (?) um 1480–1490, um 1480–1490. Washington, National Gallery of Art, Rosenwald Collection, 1943.3.536.

sie ihr Leiden geduldig tragen!“ 79 Christus selbst soll also den Menschen stärkend zu Hilfe kommen, damit sie nach seinem Vorbild, in seiner Kreuzesnachfolge die Leidenslasten ihres Lebens geduldig und bereitwillig ertragen können. In einprägsamer gereimter Verdichtung formuliert das Gebet damit einen zentralen Inhalt unendlich vieler spätmittelalterlicher Frömmigkeitsanleitungen, die aus der Passion Christi heraus eine Leidenslehre der imitatio Christi entwickeln. Stereotyp betonen sie, dass die kostbarste Lebens- und Sterbekunst überhaupt, die verdienstvoller und straftilgender als alle besonderen und noch so asketischen und aufwendigen guten Werke ist, in einer geduldigen, wenn möglich sogar freudigen Einwilligung in das von Gott auferlegte Leiden liegt.80 Eine derartige innere Leidensbereitschaft aber setzt immer die Liebe zu Christus voraus und damit auch das innere Gnadenwirken des Heiligen Geistes, das den Mensch erst wahrhaft liebensfähig macht. Es ist jenes gnadenhafte ‚Ziehen‘ Gottes, von dem ich bereits gesprochen habe, das in der Seele des Menschen mit seiner Eigenbewegung, seinem eigenen

79 „O herr, dinen schwaͤren last, den du willig getragen hast, do du schwaͤr wurd mit beladen, hilff allen menschen mit deinen gnaden, das si ir lyden geduldig tragen.“ 80 Vgl. Hamm, Berndt: Luthers Anleitung zum seligen Sterben vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Ars moriendi. In: Leben trotz Tod. Neukirchen-Vluyn 2005 (Jahrbuch für Biblische Theologie 19, 2004), 311–362, hier 318–332.

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Abb. 7: Neujahrswunsch mit Christkind, kolorierter Einblattholzschnitt, Ulm (?) um 1460–1475. Halle, Marienbibliothek, B. Nr. 3.

Wollen und Wirken, zusammengeht.81 Die leidenswillige Geduld ist so zugleich Geschenk Gottes und eigenes Bemühen des Menschen. Der auf den Boden seiner Sünden niedergefallene Mensch wird emporgehoben und getragen und trägt doch zugleich selbst. (5. Beispiel) Ein letztes Beispiel aus dem Bereich der Ulmer Einblattholzschnitte, die zwischen den sechziger und neunziger Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts entstanden sind, zeigt das Jesuskind mit einer Neujahrsbotschaft (Abb. 7).82 Es gehört in den Kontext zahlreicher gleichzeitiger Neujahrsblätter, die alle mit der Abbil-

81 Siehe oben, S. 7 mit Anm. 25 und 26. Vgl. dazu einen Ulmer Einblatt-Holzschnitt (mit Bild und Text) von ca. 1490: Christus zieht das Herz des Gläubigen zu sich; Abbildung und Beschreibung in: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 282–4, Nr. 88; Griese (wie Anm. 12), 151– 153. 82 Neujahrswunsch mit Christkind, Einblattholzschnitt auf Papier, 36,5 × 25,5 cm, Ulm (?) um 1460–1475; Exemplar: Halle, Marienbibliothek, B. Nr. 3; Abbildung und Beschreibung in: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille. Ausst. Bern / Strasbourg 2000. Hg. v. Cécile Dupeux, Peter Jezler u. a. Zürich 2000, 222, Nr. 75.

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dung des nackten Christkindes Spruchbänder kombinieren, die dem Empfänger des Blatts gute Wünsche zum kommenden Jahr übermitteln.83 Die Nacktheit des Körpers, die das Kind mit dem Passionschristus verbindet, symbolisiert nicht nur Entblößung von allem irdischen Gut, Armut und Elend, sondern auch die menschlichreale, sichtbare und berührbare Nähe der erlösenden Heiligkeit Gottes. Das Kind unseres Holzschnitts hält einen Glücksvogel in Händen und ist von den Worten umgeben: „Ich heiß Jesus, das ist wahr, und geb mich euch zu einem guten Jahr. Und wer mich im Herzen lieb hat, dem geb ich mich an seiner letzten Not.“ 84 Zweimal wird die Zusage ausgesprochen, dass sich Jesus dem Menschen gibt, einmal im Blick auf das gerade beginnende neue Jahr, zum andern im Blick auf die Sterbestunde, die „letzte Not“. Die sich in Jesus schenkende, segnende und beschützende Güte und Barmherzigkeit Gottes umspannt also den Lebensbogen vom Anfang bis zum Ende. Der Ausdruck „und wer mich im Herzen lieb hat“ artikuliert eine intime, mystische Gnadennähe zwischen Jesus und der Seele: Wer Christus liebt, wer also den Gottessohn in sein Herz aufnimmt und so gleichsam zur Geburtsstätte und Krippe des Jesuskindes wird,85 dem schenkt sich Christus am Ende seines Lebens, indem er seine Seele alsbald zur ewigen Freude führt.86 Das Blatt veranschaulicht noch einmal sehr deutlich die prinzipielle Zweiseitigkeitsstruktur der spätmittelalterlichen Zuordnung von Gnade Gottes und Heilsweg des Menschen. Geradezu regelhaft formuliert das Blatt eine Zweiseitigkeitsformel nach dem ‚Wer-der-Muster‘87: „Wer mich liebt, dem gebe ich mich“ – wobei selbst83 Zum Kontext der zeitgenössischen Christkind-Andacht vgl. Johannes Tripps, ebd., 223, Nr. 76 (mit Literatur). 84 „Ich haiss ihesus, das ist waͧr: Und gib mich uͥch zuͦ aim guͦ te Jaͧr / Und wer mich im hertzen lieb haut Dem gib ich mich an seiner letsten naͧt.“ 85 Vgl. die im 15. Jahrhundert häufigen, von der Passionsmystik des 13. und 14. Jahrhunderts inspirierten Darstellungen des Jesusknaben in einer geöffneten Herzwunde, die sowohl die erlösende Seitenwunde Christi (als Liebeswunde) als auch die Liebeswunde jedes begnadeten Herzens, das den Gottessohn in sich aufnimmt, symbolisiert; z. B. ein koloriertes Holzschnittblatt (um 1470) aus der Wiener Albertina, das den Jesusknaben mit den Leidenssymbolen der Geißel und der Ruten in dem durch die Lanze geöffneten Herzen zeigt; Abbildung und Beschreibung in: Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod (wie Anm. 67), 148 f. Vgl. weitere Beispiele ebd., 150 f., und in der folgenden Anm. 86. 86 Vgl. einen weiteren Einblattdruck, ein Kupferstichblatt des berühmten Meisters E. S. (Oberrheingebiet?) aus dem Jahr 1467: Umgeben von Putten mit den Leidenswerkzeugen (arma) Christi ist in der Mittelachse des Blattes ein großes Herz zu sehen, das von den Tau-förmigen Kreuzesbalken überhöht wird. In der weit geöffneten Wundes des Herzens steht ein segnendes, nacktes Christuskind, das in seiner linken Hand ein langes Band mit der Inschrift hält: „Wer jhesus in sinem herzen tret [trägt], dem ist alle zit die ewig froed beraeit.“ Abbildung und Beschreibung Kat. Nr. 55. In: Spätmittelalter am Oberrhein. Große Landesausstellung Baden-Württemberg, Karlsruhe 2001, Bd. 1: Maler und Werkstätten 1450–1525. Hg. v. Lorenz Sönke und Markus Dekiert. Stuttgart 2001, 137. – Die Darstellungsweise und der Text des Blattes sind im Zusammenhang einer stark imaginativen mystischen Theologie, insbesondere der Nachwirkung Heinrich Seuses (gest. 1366), zu sehen. 87 Vgl. Sabine Griese (wie Anm. 12), 255–258, die treffend von „wer-Formeln“ spricht, „die eine Art Vertrag zwischen Betrachter und ‚Bild / Abgebildetem‘ vorschlagen: ‚wer etwas bestimmtes tut, erhält dafür etwas bestimmtes‘“.

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verständlich vorausgesetzt ist, dass das Lieben-Können des Sünders auf der vorausgehenden Liebe und Gnadenzuwendung Gottes beruht.88 Die entscheidende Schlüsselrolle der Liebe ist für die gesamte spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit grundlegend und normativ: Gerettet werden kann am Ende seines Lebens nur, wer im Stand der Gottesliebe stirbt, wer Gott liebt und als Gottliebender von Gott geliebt und zur ewigen Seligkeit angenommen wird. Diese aktive Liebe des Menschen schließt immer den Schmerz einer wahren herzlichen Reue über die begangenen Sünden als Herzstück echter Buße ein, ebenso wie auch die Bereitschaft, das von Gott geschickte Leiden und Sterben als Teil der Buße willig und gelassen anzunehmen. Alles, was der Mensch sonst an guten Werken, an Almosen, Stiftungen, Gebets- und Fastenübungen, Wallfahrten und dergleichen, tun kann, ist nur heilsdienlich, d. h. straftilgend (genugtuend / satisfaktorisch) und Lohn vermehrend (verdienstlich / meritorisch), wenn es auf der Grundlage der Liebe und Liebesreue geschieht; und auch die kirchlichen Sakramente sind für ihn nur dann Stationen auf dem Weg zum Himmel, wenn sie in Liebe empfangen werden oder die Liebe hervorrufen.89

Die innovative Medienfunktion der Einblattdrucke Abschließend möchte ich noch einmal auf die besondere religiöse Medienfunktion der Einblattdrucke zu sprechen kommen. Ich habe bei meiner Darstellung der spätmittelalterlichen Frömmigkeit Ulms vor allem dieses Medium berücksichtigt, (1.) weil der textierte und illustrierte Einblattdruck im ausgehenden Mittelalter wohl das innovativste religiöse Medium war und (2.) weil Ulm speziell auf dem Gebiet der Einblattholzschnitte zeitweilig, zwischen den sechziger und neunziger Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts, die Bedeutung eines führenden Multiplikationszentrums hatte. Das Medium Einblattdruck, xylographisch oder typographisch, verband sich mit bestimmten innovativen Zügen einer reformorientierten Seelsorge, Theolo-

88 Zur allgemein verbreiteten Normaltheologie des 15. Jahrhunderts gehört die Auffassung, dass eine echte Gottesliebe des Menschen, die Gott um seiner selbst willen über alles liebt und der Intention des göttlichen Gesetzgebers entspricht, immer die Eingießung der rechtfertigenden Gnade Gottes in das Herz des Sünders voraussetzt. Nur im Besitz einer derartigen „dilectio Dei propter se ipsum / super omnia“ kann der Mensch zur Seligkeit gelangen. 89 Für die Wirksamkeit der Sakramente ist nach spätmittelalterlichem Verständnis entscheidend, dass sich der Effekt der heiligmachenden Gnade Gottes mit der Liebe des Menschen verbindet. Diese allerdings muss nicht unbedingt der sakramentalen Gnadenwirkung vorausgehen, sondern kann auch erst durch das Sakrament selbst bewirkt werden. So ist in der Bußtheologie um 1500 unter dem Einfluss des Skotismus die Auffassung üblich, dass im Bußsakrament durch die priesterliche Absolution die unvollkommene Reue (attritio) des sündigen Menschen in eine vollkommene Reue aus dem Motiv der reinen Gottesliebe (contritio) gewandelt wird. Zu dieser Theorie vgl. besonders Heynck, Valens: Zur Lehre von der vollkommenen Reue in der Skotistenschule des ausgehenden 15. Jahrhunderts. In: Franziskanische Studien 24 (1937), 18–58.

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gie und Frömmigkeit. Diese innovativen Momente finden sich während des fünfzehnten Jahrhunderts in verschiedenen sprachlichen, bildlichen und musikalischen Vermittlungsformen, aber im Einblattdruck verdichtet sich eine Vielzahl von Innovationsfaktoren. Ich erwähne zusammenfassend nur folgende zehn Aspekte: 1. Die Einblattdrucke transportieren durch ihre Reproduktionsmenge von einigen hundert Exemplaren90 und durch ihren günstigen Preis, aber auch durch ihr Layout und die bildlich-textliche Präsentation die Vervielfältigungs- und Popularisierungsdynamik einer kirchlichen Reformbewegung, die mit ihrem Ziel der Frömmigkeitsformung möglichst viele Menschen und nicht nur eine spirituelle Elite erreichen will. Es ist die gleiche Zeit und der gleiche kirchliche Frömmigkeitszusammenhang, in dem, beginnend mit dem Zypern-Ablass Mitte der fünfziger Jahre und kulminierend in den Jubiläumsablass-Kampagnen des päpstlichen Legaten Raymund Peraudi (gest. 1505), der typographische Einblattdruck von päpstlichen Ablassbullen, darauf bezogenen lateinischen und deutschen Summarien und vor allem von AblassbriefFormularen einen Zug ins Massenhafte gewann. Die Auflagenhöhe ging in die Tausende.91 Mit Recht hat Falk Eisermann hier „eine substantielle Entgrenzung traditioneller Kommunikationsformeln“ diagnostiziert, „die ohne den Einsatz des Buchdrucks nicht denkbar gewesen wäre“.92 Während aber der Gebrauch dieser Ablassmedien an die priesterliche Gnadenvermittlung im Bußsakrament, an Beichte und Absolution, gebunden war, wurde die Gnaden- und Ablasswirkung der – in

90 Die gängige Forschungsmeinung vermutet, dass von jedem Holzstock normalerweise mehr als 100 und kaum mehr als 1.000 Exemplare hergestellt wurden. – Vgl. Field, Richard S.: Der frühe Holzschnitt. Was man weiß und was man nicht weiß. In: Anfänge der europäischen Druckgraphik (wie Anm. 24), 19–35, hier 19; Eisermann, Falk: Auflagenhöhen von Einblattdrucken im 15. und frühen 16. Jahrhundert. In: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (wie Anm. 56), 143– 77. 91 Vgl. Eisermann, Falk: Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert. Mit einer Auswahlbibliographie. In: Tradition and Innovation in an Era of Change / Tradition und Innovation im Übergang zur frühen Neuzeit. Hg. v. Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur frühen Neuzeit 1), 99–128; eine englische Fassung dieses Aufsatzes erschien in der wichtigsten neueren Publikation zum spätmittelalterlichen Ablass: Swanson, Robert (Ed.): Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe. Leiden / Boston 2006 (Companions to the Christian Tradition 5), 309–330. – Zur Massenhaftigkeit vgl. besonders ebd., 113 f.: „Auf dem Höhepunkt von Peraudis deutscher Kampagne in den Jahren 1488 bis 1490 verzeichnen wir jährlich über dreißig verschiedene Ablaßbrief-Ausgaben, die in Druckereien von Antwerpen bis Passau und von Lübeck bis Memmingen hergestellt wurden. Um die Intensität der Verteilung nachzuvollziehen, sei nur darauf hingewiesen, daß Auflagenhöhen von 5.000 bis 20.000 Stück für einzelne Ablaßbrief-Ausgaben nachweisbar sind, manche zeitgenössische Mitteilung über die Zahl der ausgegebenen Exemplare liegt noch viel höher.“ Eisermann erwähnt ein Beispiel von 50.000 Ablassbrief-Formularen (ebd., Anm. 50). – Zu einem spanischen Beispiel von 1499 mit einer Produktion von 142.950 Ablassbriefen für Lebende und 46.500 für Verstorbene vgl. ders. (wie Anm. 90), 155. 92 Eisermann (wie Anm. 91), 115.

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wesentlich geringerer Menge produzierten – illustrierten Einblattdrucke mit Gebetstext außerhalb des sakramentalen und klerikalen Kontextes abgerufen. Auch in dieser Hinsicht ist also von einer ‚Entgrenzung‘ bisheriger Heilsvermittlung zu sprechen – was im Folgenden noch deutlicher wird. 2. Der nicht-elitäre, popularisierende religiöse Impetus, der durch Einblattdrucke vermittelt wird, zielt nicht nur auf die Lebensgestaltung von Ordensleuten, sondern über den Klosterbereich hinaus auch auf die Laienbevölkerung. Die auf den Drucken verwendeten deutschsprachigen Texte stammen zwar nicht selten wortwörtlich bzw. in Übersetzung aus dem klösterlichen Literaturbereich;93 indem sie aber nun einen Medienwechsel erfahren, dienen sie dem neuen Ziel einer Entgrenzung der klösterlichen Meditations- und Kontemplationsformen in ein breites Laienspektrum hinein.94 3. Mit dieser Art von popularisierendem Transfer ist unmittelbar verbunden, dass Einblattdrucke vornehmlich für den privaten Besitz und für die private Frömmigkeitssphäre der Haushalte produziert wurden, und zwar für eine Laienfrömmigkeit ohne die direkte Beteiligung des Klerus. Aber auch in den Wohnbereich von Weltklerikern und in die Zellen von Ordensleuten fanden Einblattdrucke ebenso wie andere schriftliche und bildliche Hilfsmittel der persönlichen Andacht Zugang.95 Für die Möglichkeit zur Andacht war es ein großer Unterschied, ob man einen Schmerzensmann als Steinbildnis an einem Kirchenportal und als Tafelbild in einer

93 So wird beispielsweise ein Spruch aus der im Tösser Schwesternbuch überlieferten Vita der Dominikanerin Anna von Klingnau auf einen Ulmer Einblattholzschnitt übernommen; vgl. Griese (wie Anm. 12), 134–138 und 147–50. 94 Vgl. z. B. den Weg, den in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts deutschsprachige mystischtheologische Texte vom Kloster Tegernsee zu Frauen des Münchener Bürgertums fanden; Bauer, Christian: Geistliche Prosa im Kloster Tegernsee. Untersuchungen zu Gebrauch und Überlieferung deutschsprachiger Literatur im 15. Jahrhundert. Tübingen 1996 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 107), 150–153. – Zur Bedeutung von Andachtsund Erbauungsbüchern für eine Meditationsschulung der Laien vgl. Günthart, Romy: Deutschsprachige Andachtsbücher um 1500. Drucke zwischen Wissensvermittlung und Meditationshilfe. In: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period. Ed. by Karl A. E. Enenkel and Wolfgang Neuber. Leiden / Boston 2005 (Intersections. Yearbook for Early Modern Studies 4), 455–78. – Den medialen Zusammenhang zwischen derartigen Andachtsbüchern und gleichzeitigen Einblattdrucken beleuchtet Griese (wie Anm. 12), 322–342. 95 Zum Gesamtphänomen der hohen Bedeutung von Bildwerken für den privaten Devotionsbereich von Laien und Klerikern (im Unterschied zu „den im öffentlichen Raum positionierten Bildern“) vgl. Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. Ausst. Nürnberg 2000. Hg. v. Frank Matthias Kammel. Nürnberg 2000, vor allem die Einführung von Kammel: Imago pro domo. Private religiöse Bilder und ihre Benutzung im Spätmittelalter, 10–33 (Zitat S. 17). – Speziell zu den Einblattdrucken vgl. Griese, Sabine: „viel Andacht gehabt vor den heiligen Briefen“. Der private Gebrauch des gedruckten Bildes im 15. Jahrhundert. In: Im Zeichen des Christkinds. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. Ergebnisse der Ausstellung Spiegel der Seligkeit. Hg. v. Frank Matthias Kammel. Nürnberg 2003, 16–29.

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Kirche vor sich sah oder ob man einen Schmerzensmann-Holzschnitt mit Gebetsanleitung und Ablasszusage zuhause hatte. Eine neue mediale Qualität der Präsenzerfahrung schützender Heiligkeit innerhalb des intimen Lebensbereichs wurde so verfügbar. Die Nähe der Gnade gewann im Privaten auch die Dimension der Eigenverfügbarkeit und multiplen Nutzbarkeit. Man konnte das Blatt an der Wand, an einer Schranktüre oder im Deckel einer Truhe befestigen und sich so jederzeit an den Passionschristus um Hilfe wenden; man konnte das Blatt auch auf Reisen überallhin mit sich führen oder in ein Andachtsbuch kleben.96 Die spätmittelalterliche Tendenz zur Privatisierung des Religiösen bedeutete aber, wie man gerade an diesem Medium sehen kann, nicht eo ipso Individualisierung der Frömmigkeitspraxis. Denn diese Blätter wurden ja zu Hunderten verbreitet und dienten so einer transindividuellen Frömmigkeitsnormierung und Standardisierung, die von den Vorgaben des Klerus ausging. Jeder Einblattdruck hatte sozusagen seine Benutzergemeinde. 4. Es entsprach ganz dem vorherrschenden Trend der seelsorgerlichen Frömmigkeitstheologie im fünfzehnten Jahrhundert, dass Einblattdrucke zum idealen neuen Medium für eine prägnante, sentenzenhafte Komprimierung der Heilsbotschaft und ihre bildliche Abbreviatur wurden. Zielte doch dieser theologische Trend auf reduzierende Vereinfachung von Lehre und Anleitung, um die Aufmerksamkeit der Gläubigen auf das wirklich Heilsdienliche (den geistlichen ‚Nutzen‘97) zu lenken. Ihre Erinnerung, ihr intellectus und affectus, ihre Imagination und ihre Handlungsbereitschaft sollten ganz auf die Substanz des Glaubenswissens, der Ermahnungen und des Trostes ausgerichtet werden. Wer hatte schon in der Bevölkerung so viel Geld, Muße, Bildung und Ausdauer, um ein voluminöses Buch wie den eigens für Laien gedruckten „Schatzbehalter“ des Franziskaners Stephan Fridolin (1491)98 anschaffen und lesen zu können? Wer lesefähig war, bevorzugte kleine, preisgünstige, leicht zu lesende und nach Möglichkeit auch anschaulich bebilderte Erbauungsbüchlein wie die erwähnte ‚Bilder-Ars-moriendi‘99 oder die „Himmlische Fundgrube“ des Johannes von Paltz (1490), die bis zum Beginn der Reformation 21

96 Zu den vielfältigen Verwendungsweisen der Einblattdrucke vgl. Griese, Sabine: Gebrauchsformen und Gebrauchsräume von Einblattdrucken des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. In: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (wie Anm. 56), 179–208; Schmidt, Peter: Beschrieben, bemalt, zerschnitten. Tegernseer Mönche interpretieren einen Holzschnitt. In: ebd., 245–276; Griese (wie Anm. 12), 350–374. 97 Zum Zentralbegriff des ‚Nutzens‘ (utilitas) in der Frömmigkeitstheologie des 15. Jahrhunderts, die sich damit gegen die eitle ‚curiositas‘ fruchtloser akademischer Spekulationen, Spitzfindigkeiten und Quisquilien eines hypertrophen scholastischen Lehrbetriebs wandte, vgl. Burger (wie Anm. 44). 98 Das bei Anton Koberger in Nürnberg gedruckte und prächtig ausgestattete Werk war, verlegerisch gesehen, offensichtlich ein Fehlschlag. Zu diesem Großprojekt, seinen Adressaten und mediationsbezogenen Inhalten vgl. Seegets, Petra: Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Tübingen 1998 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 10), 168–285. 99 Vgl. oben, S. 13 mit Anm. 41.

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Druckausgaben erlebte.100 Noch gebrauchsfreundlicher aber war der Einblattdruck, der in der Kombination von Bild und Text religiöse Information, Anleitung und Gnadenangebote zu größter kognitiv-affektiver Verdichtung brachte. In diesem Sinne war das neue Medium das ideale Instrument für eine normative Zentrierung der Frömmigkeit auf Passion, Christusliebe, Buße und Ablass hin.101 Um dies zu verdeutlichen, wäre all das zu entfalten, was die neuere Forschung über den memorierenden, narrativen, repetierenden, reduzierenden, appellativen, erkenntnis- und handlungsorientierenden Charakter der Text-Bild-Einblattdrucke gesagt hat.102 Geht man ihren einzelnen Kurztexten und ikonographischen Komponenten nach, dann erkennt man ein höchst komplexes Beziehungsfeld zwischen den Einblattdrucken und der Literatur- und Bildproduktion ihres Umkreises, der Stadt, der Region, der Druckerwerkstätten und bestimmter kirchlicher Institutionen.103 Für den Gebrauchswert der Einblattdrucke selbst aber war es entscheidend, dass ihnen die mediale Abbreviatur, der Transfer von der Komplexität der Kontexte zur komprimierenden Vereinfachung, glückte. 5. Einblattdrucke waren Erleichterungs- oder Hilfsmedien.104 Sie ermöglichten die Präsenz und vertraute Nähe einer Gnade, die ohne sie mühsamer, schwieriger, zeitraubender und kostspieliger zu erreichen war; und diese leichtere Zugänglichkeit einer großen Gnade entsprach ganz dem seelsorgerlichen Anliegen jener Richtung der zeitgenössischen Frömmigkeitstheologie, die Gottes rettende Gnade in die Reichweite möglichst vieler Sünder rücken wollte. Diesem Ziel diente auch die im fünfzehnten Jahrhundert deutlich hervortretende Intention der privaten Andachts-

100 Vgl. die kritische Edition von Horst Laubner, Walter Simon u. a. in: Johannes von Paltz, Opuscula. Hg. v. Christoph Burger u. a. Berlin / New York 1989 (Johannes von Paltz, Werke, Bd. 3), 155– 284. 101 Zu dem von mir seit 1992 zur Charakterisierung bestimmter religiöser, politischer und anderer kultureller Vorgänge des Spätmittelalters, der Reformation und des konfessionellen Zeitalters vorgeschlagenen Forschungsbegriff der ‚normativen Zentrierung‘ vgl. Normative Zentrierung / Normative Centering. Hg. v. Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra. Frankfurt a. M. 2002 (Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 2). 102 Vgl. Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (wie Anm. 56) und darin besonders den Beitrag von Henkel (wie Anm. 60) – vgl auch Körner, Hans: Der früheste deutsche Einblattholzschnitt. Mittenwald, 1979 (Studia Iconologica 3); Griese (wie Anm. 12), 319–344. 103 Ein gutes Beispiel dafür ist die Produktion von Rosenkranz-Einblattdrucken und ihr Zusammenhang mit den für sie werbenden Aktivitäten des Dominikanerordens; zu Ulm vgl. oben, Anm. 18. 104 Innerhalb des breiten Spektrums spätmittelalterlicher Gnaden- und Heilsmedialität unterscheide ich zwischen der Primär- oder Basismedialität des menschgewordenen Gottessohnes, Marias und der Heiligen, der Partizipationsmedialität, z. B. der Sakramente, Ablässe, Gebete oder Meditationspraktiken, und der Erleichterungs- oder Hilfsmedialität, die etwa den Zugang zur Wirksamkeit von Sakramenten, Ablässen, Gebeten oder Meditationsweisen erleichtert. Vgl. Hamm, Berndt: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter. In: Die Medialität des Heils im späten Mittelalter. Hg. v. Christian Kiening und Cornelia Herberichs. Zürich 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10).

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bilder, den Abstand zum Betrachter zu verringern, ihm die Themen und Gestalten der Heilsgeschichte nahezurücken und vor Augen zu führen.105 Durch die distanzüberwindende Präsenzwirkung des Bildes – etwa des als vera icon vergegenwärtigten Leidensantlitzes Christi (Abb. 5) – wird ein Unmittelbarkeitserleben der Gläubigen, ihre kontemplative Ergriffenheit und der Mitvollzug ihrer Gefühle möglich. Die illustrierten Einblattdrucke sind, wie die ausgewählten Beispiele verdeutlichen konnten, Medien einer Popularisierung und einer Art ‚Demokratisierung‘ dieser Funktion des privaten Andachtsbildes. 6. Die Nachvergegenwärtigung der Gnade war aber, wie wir am Beispiel der ausgewählten Drucke sehen konnten, stets mit der Anleitung und dem Appell an das eigene Bemühen, die Aktivierung des eigenen Wollens und Handelns verbunden, vor allem mit der Aufforderung zu einem Gebet in Andacht und Liebe. Das Heil im Himmel war also nie völlig umsonst zu haben, sondern setzte einen Weg voraus, den man selbst gehen musste. Die Einblattdrucke aber erleichterten dem hilfesuchenden Menschen das eigene Gehen, indem sie ihm durch Bild und Text Andachtshilfen, klare Instruktionen und vorformulierte Mustergebete boten, die mit Gnadenzusagen und speziellen Ablassgarantien verbunden waren. So lag auch in der informierenden und orientierenden Prägnanz dieser Regularisierung eine besondere Qualität der Einblattdrucke, die die Distanz zu Gnade und Heil verkürzte. 7. Die ‚nahe Gnade‘ des ausgehenden Mittelalters, z. B. die auf den Einblattdrucken versprochene Ablassgnade, hatte daher zwei Dimensionen der Erleichterung: Die eine betraf die objektive Zueignungsseite, die andere die subjektive Aneignungsseite. Die Nähe entstand einerseits durch die Vergegenwärtigung der Gnade selbst: sie kommt zu mir und liegt in Reichweite z. B. in Form eines Ablassversprechens; und die Nähe entstand andererseits durch anleitende Impulse, die das eigene Kommen zur Gnade unterstützen, indem sie einen andächtigen Seelenhabitus wie Dankbarkeit, Demut und Reue und seine Frömmigkeitsakte bis hinein in die

105 Vgl. Suckale, Robert: Rogier van der Weydens Bild der Kreuzabnahme und sein Verhältnis zur Rhetorik und Theologie. Zugleich ein Beitrag zur Erneuerung der Stilkritik. In: ders.: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters. Hg. v. Peter Schmidt und Gregor Wedekind. Berlin 2003, 409–431 (besonders 414 mit der Unterscheidung der Andachtsbilder von den Altarbildern, die „Schranken aufbauen und Distanz zum Betrachter schaffen“); Panofsky, Erwin: ‚Imago Pietatis‘. Ein Beitrag zur Typengeschichte des ‚Schmerzensmannes‘ und der ‚Maria Mediatrix‘. In: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60. Geburtstage. Leipzig 1927, 261–308, hier besonders 264–266; Ringbom, Sixten: Devotional Images and Imaginative Devotions. Notes on the Place of Art in Late Medieval Private Piety. In: Gazette des Beaux-Arts 73 (1969), 159–170; Belting, Hans: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion. Berlin 1981, 69–83 und 91–93; ders.: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 31993, 457–509; Kecks, Ronald G.: Madonna und Kind. Das häusliche Andachtsbild im Florenz des 15. Jahrhunderts. Berlin 1988 (Frankfurter Forschungen zur Kunst 15); Schade, Karl: Andachtsbild. Die Geschichte eines kunsthistorischen Begriffs. Weimar 1996; Noll, Thomas: Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67 (2004), H. 3, 297–328.

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Körpergebärden einüben durch eine elementare Schulung des inneren und äußeren Menschen zugleich. In dieser Weise waren die Einblattdrucke in doppelter Hinsicht ein Erleichterungs- und Hilfsmedium auf dem Weg zum Himmel: Sie wollen die objektive Vergegenwärtigung der Gnade ebenso wie ihre persönliche Aneignung erleichtern und so möglichst vielen Menschen zur Partizipation am Heil verhelfen. 8. Aus der theologischen Sicht der Zeitgenossen sind beide Seiten intensiv miteinander verquickt, weil durch das göttliche Medium des Heiligen Geistes die objektive Zueignung der Gnade in ihre subjektive (habituelle und aktualisierende, seelische und körperliche) Aneignung hineinwirkt. Das mit den Drucken anvisierte Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch setzt also die objektive und subjektive Vermittlung des Heils jeweils in Beziehung zu einer externen und internen Dimension der Medialität: Das Objektive wird auch innerlich; und das Subjektiv-Innere verwirklicht sich in einem Raum äußerer Kontakte. Die Gefälle laufen reziprok von außen nach innen und von innen nach außen – und im Schnittbereich der Dimensionen und Gefälle wird der suggestiven Anschaulichkeit und Lesbarkeit der Bild-Text-Drucke ihre spezifische religiöse Medienfunktion zugeschrieben. 9. Die Einblattdrucke sind im Zusammenhang eines großen spätmittelalterlichen Medienwandels zu sehen, der angesichts wachsender Sünden-, Teufels- und Strafängste auf die vervielfältige und leicht zugängliche Präsenz der Gnade im Lebensalltag zielte. Die spezifische Aufgabe und Leistung des neuen Mediums war es vor allem, durch die gesteigerte Form der Vergegenwärtigung des Heiligen die Angebote von Schutz, Hilfe und (apotropäischer) Abwehr von diesseitigem und jenseitigem Unheil verfügbarer und sicherer zu machen.106 Die neuen Text-Bild-Blätter sind daher im Zusammenhang jenes spätmittelalterlichen Mentalitätswandels zu sehen, den man auf die Formel „the search for new security“,107 gesteigerte „Suche nach Gnaden- und Heilsgarantien“ 108 in einer Ära gravierender religiöser Verunsicherung gebracht hat. In enger Verbindung mit dem Klerus waren die Ulmer Maler, Bildschnitzer, Formschneider, Drucker und Verleger wichtige Akteure in diesem medialen und mentalen Veränderungsgeschehen. Sie alle ermöglichen den Transfer von der praxisnahen Frömmigkeitstheologie der Experten zu den Sicherheitsbedürfnissen einer nicht-elitären und doch anspruchsvollen Laienfrömmigkeit. 10. Die Dynamik des Medienwandels, der Gnadenvergegenwärtigung und neuer Garantieangebote wurde von der Reformation aufgenommen, weitergeführt und verstärkt, aber zugleich auch in eine wesentlich andere Richtung geleitet. Denn die Teilhabe am Heil war aus reformatorischer Sicht nicht mehr eine Sache des eigenen Gehens und Bemühens.109 So vollzog auch das reformatorische Ulm einen tiefge-

106 Vgl. Griese (wie Anm. 12), 375–402. 107 Obermann, Heiko A.: The Dawn of the Reformation. Essays in Late Medieval and Early Reformation Thought. Edinburgh 1986, 25–29. – Vgl. Anm. 7. 108 Hamm (wie Anm. 6), 216–303. 109 Statt diese grundlegende und systemverändernde Kritik der Reformation am spätmittelalterlichen Wegemodell hier genauer darzustellen, verweise ich auf meine beiden Darstellungen des Ge-

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henden Bruch mit der traditionellen Vorstellungswelt des ‚Weges zum Himmel‘ und dem entsprechenden religiösen Bildgebrauch.110 Das Medium Einblattdruck aber behielt vor allem als ‚Flugblatt‘ auch in der reformatorischen Bewegung eine zentrale religiöse Funktion.111

meinsam-Reformatorischen in: Hamm, Berndt / Moeller, Bernd / Wendebourg, Dorothea: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation. Göttingen 1995, 73–97; Hamm, Berndt / Welker, Michael: Die Reformation. Potentiale der Freiheit. Tübingen 2008, 29–66. 110 Vgl. Litz (wie Anm. 2), zu Ulm 91–132. 111 Zur medialen Funktion der Text-Bild-Einblattdrucke in diesem wesentlich veränderten Kommunikationszusammenhang vgl. grundlegend Harms, Wolfgang: Einleitung zu Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. v. dems. und Michael Schilling, 7 Bde. Tübingen 1980–2005, Bd. 1; Oelke, Harry: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin u. a. 1992 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 57).

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Bildgeleitete Andacht Auskünfte der konfessionellen Kontroversliteratur des 16. Jahrhunderts zu Gefahren und Gefährdung der Bildandacht Für Andachtsübungen bot sich im 16. Jahrhundert eine Vielzahl von Bildarten an, deren Zugänglichkeit und individuelle Verfügbarkeit seit dem Spätmittelalter sich in einem eingreifenden Veränderungsprozess befanden. Im Folgenden soll erörtert werden, ob denn jener neue Typ von Privatheit und Häuslichkeit bildgeleiteter Andacht, der da darstellungstechnisch, finanztechnisch und reproduktionstechnisch ermöglicht wurde, eine Intensivierung von Innerlichkeit und Frömmigkeit hervorgebracht oder – auf lange Sicht zumindest – einen progredierenden Sakralitätsverlust auf dem Wege von Mysterienzerstörung und Zerreißung von Gemeindlichkeit herbeigeführt habe. Die vielen neuen Arten frühneuzeitlicher Bildzugänglichkeit und Bildnutzung führten, auch wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten entstanden waren, zu Auseinandersetzungen. Denn die Nutzungsarten bestanden ja nicht einfach nebeneinander, sondern sie rivalisierten und konfligierten miteinander, sodass sie an der Auslösung jenes großen deutschen Bildstreits beteiligt waren, der mit Gutenbergs Erfindung und mit der Reformation einsetzte und erst kurz vor Beginn des 30jährigen Krieges abebbte. Bezeugt wird dieser Streit von einer – bis heute noch nicht systematisch erfassten – Menge von Kontroversschriften zur Frage, ob und gegebenenfalls wie Bildwerke in religiösen Zusammenhängen zu verwenden seien.1 Diese Bilddebatte unterscheidet sich von anderen, gleichzeitigen oder späteren, Mediendebatten durch ihre strikte Rezipientenbezogenheit. Nie zuvor und nie hernach wurde der Bildbetrachter so ernst genommen wie in der Bildstreittraktatistik des 16. Jahrhunderts. Denn der Streit um die Bilder war Streit um die Seelen der Bildbetrachter. Die Frage, was Bilder in den Seelen ihrer Betrachter bewirken, war nicht nur eine, die das Seelenheil im theologischen Sinne, sondern ebenso auch die Seelenkonstitution im physiologischen, wahrnehmungspsychologischen und erkenntniskritischen Sinne betraf: die Seele als energetische Gesamtheit der Gemütskräfte. Wenn im Folgenden versucht wird, verschiedene Bildarten und deren Nutzungsformen nach Maßgabe ihrer Öffentlichkeit – und somit ihrer Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Privatisierbarkeit – zu sortieren, so ergibt sich, auch wenn die

1 Der Verfasser hat unter dem Titel „Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bildstreits im 16. Jahrhundert“. Berlin 2014 (Frühe Neuzeit 184), eine zweibändige Ausgabe der wichtigsten Kontroversschriften publiziert. – Vgl. auch den umfänglichen Aufsatz dess.: Der deutsche Bildstreit des 16. Jahrhunderts. Hinweise zu Kontur und Binnenstruktur. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Herbert Jaumann und Gideon Stiening, Bd. II. Berlin 2016, 213–266. https://doi.org/10.1515/9783050051659-002

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Sortierung beileibe keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und soll, daraus ein Modell von Verwandtschaftsgraden und Funktionsverteilungen. Obschon die Bilddebatte selbst ein solches Modell nirgends systematisch expliziert 2 – dazu sind die Debattenteilnehmer zu parteiisch und ihre Beiträge nach Intention und Niveau zu unterschiedlich – ist die Supposition eines solchen Modells doch unverzichtbar, wenn es um eine Rekonstruktion des historischen Realitätsbezugs der Debatte geht. Hinsichtlich des Verhältnisses von individueller und gemeinschaftlicher Andacht muss generell bedacht werden, dass die Zuweisung unterschiedlicher Räume für die unterschiedlichen Frömmigkeitspraxen in der Geschichte des Christentums seit je grundlegende Bedeutung hatte. Referenzsatz ist die Anweisung Jesu (Mt 6, 6): „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu, und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten“.3 Diese Anweisung spricht vom verborgenen Gott, der einen verborgenen Beter will. Sie spricht damit zugleich von zwei verschiedenen Arten des Sichverbergens und zwei verschiedenen Arten von Sehvermögen, die das Verbergen einerseits garantieren, andererseits perforieren. Gott allein sieht alles, und der Mensch soll sich von ihm gesehen wissen. ‚Private Andacht‘ war somit immer schon topisch definiert. Sie war auf häusliche, persönliche, innerliche Zuwendung des Andachtswilligen verwiesen, die in der Gemeinde und ihrer confessio ihren sozietären Rahmen hatte. Privater Raum und sozietärer Raum, cella und templum, definierten sich wechselseitig. Im bis zur Reformation anderthalb Jahrtausende währenden Entfaltungsprozess der Kirche veränderte sich zwar diese Maxime nicht, wohl aber deren praktische Umsetzung in sich ändernden Ordnungen topographischer, architektonischer und ikonischer Art. Was bedeutete das für die Verwendung von Andachtsbildern? Welche Rolle das Einzelsubjekt (die Einzelseele) bei Lektüre unterschiedlicher Arten von Andachtsbildern beanspruchen konnte, ergab sich aus deren jeweiligem Umfeld. Die Zugänglichkeitsgrade der Bildwerke entsprachen den unterschiedlichen Sakralitätsgraden. Prinzipiell galt: Je ferner ein Bild, desto sakraler. Denn das Heil des Heiligen war immer anderswo, nicht in der eigenen Kammer, sondern fern. Deshalb musste, wer des Heils teilhaftig werden wollte, seine Kammer, seine Kommune und gar sein Land verlassen. Er konnte das Heilige aber womöglich, in geminderter Form, auch nach Hause tragen. Indes lässt sich konstatieren, dass der Zug und Drang zum fernen Heiligen seit dem späteren Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zunehmend durch eine Gegenbewegung zu nahem Heiligen abgeschwächt und aufgefangen wurde: Durch Sakra-

2 Keiner der mehr als 60 Autoren der Bildstreitdebatte bietet einen systematischen Überblick über die Bildarten, die frömmigkeitspraktisch genutzt wurden. 3 Im Wortlaut der Vulgata: „Tu autem cum oraveris, intra in cubiculum tuum, et clauso ostio, ora Patrem tuum in abscondito: et Pater tuus, qui videt in abscondito, reddet tibi.“

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lisierung des überschaubar (und vordem übersehenen) Nahen und des fühlbar (und zugleich unheimlich) Nächsten wurde das ferne Heilige und das heilige Ferne ergänzt und womöglich aufgehoben, beispielsweise durch Implantation des Heiligen Grabes, des Kalvarienberges, der Loretokapelle und ähnlicher Bildarrangements in heimatliche Gefilde, durch Ersetzung von Fernwallfahrten (z. B. nach Jerusalem, Rom, Compostela) durch Nahwallfahrten (z. B. nach Altötting, Walldürn oder Regensburg). Im Folgenden sollen die signifikantesten Bildarten, die frömmigkeitspraktisch genutzt wurden, nach dem Kriterium ihrer Verfügbarkeit vorgestellt werden. Zunächst die, die sich aus dem Wallfahrtswesen ergaben, nämlich aus dem Gnadenbild und dessen Derivatbildern: Pilgerzeichen, Bildspiegel, Einblattdruck und Votivbild. Sodann Bildarten, die nicht von der Suggestionseinheit des Wallfahrtswesens zehrten, vielmehr daneben entstanden und neuartige Wirkungen samt andachtsgefährdenden Kräften entwickelten.

Gnadenbild und Wallfahrt Wer sich der Energie des fernen Heils versichern wollte, musste, allein oder gemeinsam mit anderen, pilgern, zu einem Ort, der auf mannigfache Weise seine Wundermächtigkeit erwiesen hatte, sei es, dass dort ein Erscheinen (apparitio, visio) Christi, Mariens oder sonst eines Heiligen beobachtet worden war, sei es, dass dort Reliquien deponiert waren, oder sei es, dass sich dort ein Heiligenbildnis befand. Dies sakrale Bildnis soll in unserem Problemzusammenhang nun besondere Beachtung finden. Das ferne Bild an fernem Ort ist seiner Ferne wegen besonders attraktiv. Es gewährt dem, der die Beschwernisse und Gefahren einer Pilgerreise auf sich nimmt, individuelle Genugtuung. Diese besteht in energetischer Aufladung an energetischem Ort – dem Wallfahrtsort – in dessen Zentrum ein Bildnis steht, das Wunder tut: das Gnadenbild.4 Die Wahrheit des Bildes sowie die Berechtigung seiner Verehrung kann sich auf zweierlei Art erweisen: Zum einen in seiner formalen (ideologischen) Nähe zum Urbild (Protoikone), zum andern in seiner Wundermächtigkeit. Die Protoikone ist in der Regel ein gottgestiftetes, ein acheiropoietisches Bildnis. A-cheiro-poietisch ist, wie der griechische Begriff sagt, ein solches Bildnis, das ohne Beteiligung menschlicher Hände (non manufactum) entstanden ist; so namentlich die Vera Icon, das Schweißtuch der Veronica, ein Linnentuch, das durch Berüh-

4 „Das ‚Gnadenbild‘ ist also die konkret-sinnliche Erscheinung des Numinosen oder Heiligen am bestimmten Ort, der Wert-Kern der Wallfahrtsstätte, ihm gilt das Hauptinteresse der Wallfahrer, ihm nähern sie sich, um es anzuschauen und zu verehren; von ihm verschaffen sie sich eine Reproduktion […].“, Scharfe, Martin: Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur. Köln / Weimar / Wien 2004, 148 f.

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rung mit dem Antlitz Christi – in einer Art von Frottagedruck – dessen Züge aufgenommen haben soll; so auch das ‚Turiner Grabtuch‘, das den Ganzkörperabdruck des toten Christus zeigen soll; und schließlich das Bildnis der ‚Lukasmadonna‘, das zwar durch Hände – durch die Hände des Evangelisten Lukas eben – gemacht, aber doch durch die unmittelbare Präsenz der Gottesmutter und ihres Kindes sowie deren Portraitwunsch entstanden sein soll und besondere Authentizität hat (sodass Lukas hier nicht eigentlich als artifex, sondern als medium oder instrumentum fungiert). Einzig die formale und ideologische Nähe zum archeiropoietischen Primärbild entscheidet über Richtigkeit/Unrichtigkeit und meditative Qualität jedweden Sekundärbildnisses, jedweder Bildniskopie, nicht aber deren Materialien oder gar der künstlerische Rang des Kopisten. Die Kopie ist sakral, sofern das Bild als im Abbild enthalten gemeint wird. Die zweite Art, die Wahrheit eines Bildes sowie die Berechtigung seiner Verehrung zu erweisen, bestand, wie gesagt, in seiner Wundermächtigkeit. Diese Legitimationsform wurde zunehmend für die seit dem 14. Jahrhundert allenthalben im deutschsprachigen Kulturraum auflodernden Lokalwallfahrten bedeutsam. Das wundermächtige Gnadenbild definierte den Wunderort, wie umgekehrt der Wunderort das Wunderbild definierte. Die Heilsenergie des Gnadenbildes bestand (und besteht, wie der Bilderkult der beiden jüngsten Päpste zeigt) nicht zuletzt in seiner Unverrückbarkeit.5 Die Gnadenbilder der Wallfahrtsorte wurden Objekte individueller Sehnsucht und Objekte von Privatandacht, sofern das Wallen zum Bildnis nicht nur in gemeindlicher Ordnung, sondern als wildes ‚Laufen‘ von Einzelpersonen stattfand. Man muss diese jähe, unreglementierte Form des Wallens auf eigene Faust – Musterbeispiel Regensburg6 – als Extremform privater Bildzuwendung würdigen. Da sie die gemeindliche Observanz und insbesondere die priesterliche Zensur untergrub, ist sie wundertheologisch und psychologisch besonders aufschlussreich. Der plebiszitäre Zuwendungsakt, der entstand, wenn zahlreiche solcher willkürlichen Bildläufer aufbrachen, war ein Beglaubigungsakt des Gnadenortes und Gnadenbildes, den der Priester nicht unterbinden, aufgrund nachträglicher Prüfung aber beglaubigen konnte – und oft auch musste. Die Heilsenergie des Gnadenbildes wurde durch räumliche Annäherung, durch individuelle Distanzminderung also, sowie durch Blickkontakt, am verlässlichsten aber durch Körperkontakt gesteigert und womöglich – etwa in einem psychischen Erleuchtungs- oder physischen Heilungswunder – freigesetzt. Obschon die Ortsgebundenheit, ja Unverrückbarkeit des Gnadenbildes Bedingung seiner nie versiegenden Heilsenergie war, setzte sich aber daneben (und ten-

5 Die Tatsache, dass bestimmte frühe Gnadenbilder Roms und Konstantinopels mobilisiert wurden – in Kriegszusammenhängen (als Palladium) oder auch zur Segnung der Flur – , ist damit nicht bestritten; sie spielt aber für das hier erörterte Problem keine Rolle. 6 Vgl. Stahl, Gerlinde: Die Wallfahrt zur Schönen Maria in Regensburg. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. 2. Regensburg 1968, 35–282.

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denziell dagegen) doch das Bedürfnis vieler Pilger durch, Teile dieser Energie auf transportable Energiespeicher zu übertragen und sie damit diversifizierbar und privatisierbar zu machen. Derlei batterieartige Speicherfunktion übernahmen verschiedene Arten sekundärer Sakralbilder, die jeweils zu dem Primärbildnis in unmittelbarem Abhängigkeitsverhältnis standen, sich untereinander aber durch Machart und Funktion unterschieden. Vordringliches Problem war das Schaffen massenhafter Reproduktionen des Primärbildnisses. Visionärer Elan in Verbund mit inventionell-technischer Phantasie, die dazu, spätestens seit dem 12. Jahrhundert, aufgeboten wurden, ermöglichten es endlich, das langwierige und kostspielige Anfertigen von Handkopien des Primärbildes weitgehend abzulösen durch massenhafte technische Reproduktion in Wachs, Ton, Metall und Druck. In unserem Interessenzusammenhang sollen nur die vier wichtigsten Arten des Transfers der Bildenergie in sekundäre Bildmedien Berücksichtigung finden: die des Pilgerzeichens, des Bildspiegels, des Einblattdruckes und des Votivbildes.

Miniaturisierte Gnadenbildkopien: Pilgerzeichen Metallene, in Bleiguß, Zinnguß oder Messingblech geformte Pilgerzeichen,7 die das Gnadenbild (oder auch andere lokale Heiltümer) so stark miniaturisierten, dass man es an der Kleidung befestigen, als Merkzeichen in eine (Gebets-)Kette integrieren oder gleich einer Münze in einem Beutel deponieren konnte, wurden als erschwingliche Massenware seit dem Hochmittelalter an vielen abendländischen Wallfahrtsorten feilgeboten. Medien- und psychologiegeschichtlich besonders aufschlussreich ist die Marienvision eines Zisterziensermönches des 13. Jahrhunderts. Visionsauslösend war für ihn das Gnadenbild der Madonna von Rocamadour;8 doch bot sich in seiner Vision das Bild miniaturisiert und vervielfältigt dar, „wie jene kleinen Pilgerzeichen aus Blei, die man in ihrem Heiligtum in Rocamadour verkaufte.“ 9 Hier erschien die Visionsgestalt also nicht bloß konform mit ihrem stationären Kultbild, sondern sie

7 Näheres hierzu bei Brückner, Wolfgang: Die Sprache christlicher Bilder. Nürnberg 2010, 82–87, mit zahlreichen Abb.; Haasis-Berner, Andreas: Pilgerzeichen des Hochmittelalters (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte d. 94). Würzburg 2003; Plötz, Robert: Signum peregrinationis. Heilige Erinnerung und spiritueller Schutz. In: Das Zeichen am Hut im Mittelalter. Europäische Reisemarkierungen. Symposion in memoriam Kurt Köster (1912–1986). Hg. v. Hartmut Kühne, Lothar Lambacher, Konrad Vanja. Frankfurt a. M. u. a. 2008 (Europäische Wallfahrten, Bd. 4), 47–70. 8 Französischer Pilgerort bei Gourdon (Lot). 9 Zitiert nach Dinzelbacher, Peter: Himmel, Hölle, Heilige. Visionen und Kunst im Mittelalter. Darmstadt 2002, 18. – Siehe auch Berns, Jörg Jochen: Himmelsmaschinen / Höllenmaschinen. Zur Technologie der Ewigkeit. Berlin 2007, 196.

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erschien in stark miniaturisierter und vervielfachter Form. Die Protoikone hatte mithin, um sich in der Vision aktual zu beleben, das Bildgenre mehrfach wechseln müssen: von der (sei's acheiropoietischen, sei's von Menschenhand geschaffenen) Protoikone zum Imaginationsbild und sodann, unter imaginativer Abgleichung von ortsgebundenem Stammbild und Vielheit der transportablen Miniaturbilder, in die aktuelle visionäre Wahrnehmung. Die imaginative Faszination ging in diesem historischen Fall zwar auf das kultische Stammbild zurück, aber sie ging nicht von ihm aus. Das eigentliche Wunder entsprang dem Staunen vor der Vielheit der formidentischen Bildchen, vor dem Vermehrungswunder der Reproduktionstechnik. Eine andere Art frommen Staunens vor dem Wunder technischer Reproduzierbarkeit und der Multiplizität formidentischer miniaturisierter Reproduktionsbildnisse lässt sich an der Ursprungslegende und Kultgeschichte des sogenannten Blutbildes von Walldürn10 studieren. Auch in diesem Fall wird eine wegen der vielen Medienwechsel zumutungsreiche Imaginationsleistung von dem Gnadenbildbesucher verlangt. Da ist zunächst, wie die Ursprungslegende lehrt,11 ein unachtsamer Priester, der im Jahr 1330 (oder 1408?) bei der Konsekration des Abendmahles den Weinkelch umstößt, sodass der – bereits zum Blut Christi gewandelte – Wein über das Corporale (das geweihte Tuch, auf dem beim Messritus das Messgeschirr steht) rinnt. Aus den Rinnsalen bildet sich alsbald eine Vielzahl von kleinen Christuskopfbildnissen, die als miniaturisierte Reproduktionen des römischen Sudariums, des Christuskopfbildnisses der hl. Veronica, erkannt werden. Die imaginativ suggestive Entstehung des Blutbildes setzt voraus, dass durch Autopsie von Rompilgern12 sowohl das acheiropoietische Urbild, das Sudarium zu Rom, als auch eine Vielzahl von miniaturisierten Reprobildnissen (wie sie in pergamentener, textiler und metallischer Form von Pilgerzeichen verbreitet waren) bekannt waren. Überdies muss die acheiropoietische Qualität des Sudariums bekannt gewesen sein, denn das Blutbild von Walldürn entsteht ja ebenfalls acheiropoietisch: Die Unachtsamkeit des Priesters ermöglichte nachgerade eine Acheiropoiesis zweiten Grades, sodass die frottage des Schweisses sich durch die dripping-art des Blutes bestätigen konnte. Jenseits solcher multiplen Reproduktionswunder, wie sie sich, lange vor den Gutenbergschen Experimenten, in Rocamadour und Walldürn darboten, war mit der Miniaturbildproduktion ein geldvermittelter Privatisierungsakt intendiert und ermöglicht. Das zum Bildchen herabgeminderte Bild konnte dem Pilger im Transport-

10 Brückner, Wolfgang: Die Verehrung des Heiligen Blutes in Walldürn. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen zum Strukturwandel barocken Wallfahrtens. Aschaffenburg 1958 (Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg, Bd. 3). 11 Zur Ursprungslegende Brückner, ebd., 21 f.; zur Abhängigkeit des Blutbildkultes von dem italienischen Vorbild in Orvieto ebd., 31 f.. 12 Die Verehrung des Sudariums in St. Peter zu Rom ist seit dem 12. Jahrhundert belegt, im ersten Heiligen Jahr, 1300, wurde das Schweißtuch erstmals im Petersdom öffentlich ausgestellt. Darstellungen des Tuches in Form metallener Zeichen wurden zu einem beliebten Massenartikel, der alsbald die anderen römischen Pilgerzeichen verdrängte, Plötz (wie Anm. 7), 56 f.

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akt als Apotropaion dienlich sein, konnte als Souvenir memoriaförderlich sein und schließlich als Mitbringsel den Daheimgebliebenen ein bisschen vom Gnadenschatz, sozusagen in kleiner Münze, auszahlen. Auf welche Weise der Pilger das ikonische Mitbringsel der heimatlichen Gesamtgemeinde heilbringend kommunizieren konnte, lehrt das Faktum, dass viele der metallenen Pilgerzeichen sich nicht als selbständige Gegenstände in ursprünglicher Form erhalten haben, sondern als ornamentale Applikationen von Glocken.13 Dort dienten sie indes nicht (jedenfalls nicht in erster Linie) als Schmuckelemente. Denn Glocken waren im Turm ja nicht in Augenschein zu nehmen. Vielmehr erhöhten die applizierten Pilgerzeichen die gemeindepolitische und magische Macht der Glocke. Bis ins 19. Jahrhundert noch kam einer Glocke vermöge ihres raumgreifenden Klanges identifikatorische Bedeutung für eine Gemeinde, auch grenzdefinitorische Bedeutung für ihr Territorium, zugleich aber engelrufende und teufelvertreibende Macht für den von ihr erzeugten Klangraum zu.14 Die in die Außenhaut der Glocke eingesenkten Pilgerzeichen nun verstärkten diese segenspendende und apotropäische Energie. Voraussetzung dafür, dass dies geschehen konnte, war aber eine – wie immer bewerkstelligte15 – Umwandlung des visuell-bildlichen Energeticums des Pilgerzeichens derart, dass es mit dem akustischen Energeticum des Glockenklanges koagieren und dessen engel- und teufelbewegende Macht verstärken konnte.

Bildnisspiegel Ein nach Material und Machart dem Pilgerzeichen eng verwandtes Gerät ist der Bildnisspiegel (auch ‚Heiltumsspiegel‘). Auch er diente einer visuellen Ableitung und Transportabelmachung der Heilsenergie eines ortsgebundenen Gnadenbildes (wie auch anderer dort deponierter Heiltümer). Er leistete dies aber vermöge einer anderen Medientechnik: der Spiegelung, genauerhin: der Spiegelbildspeicherung. Bekanntlich hat man sich – auch experimentalwissenschaftlich im Rahmen der Ka-

13 Brückner (wie Anm. 7), 84, erklärt: „Im Spätmittelalter sind Kirchenglocken sehr oft mit Pilgerzeichen geschmückt gewesen, weil sich diese kleinen bleiernen Gittergüsse als verlorenes Ornament in den Tonmantel der Glockengussform einfach eindrücken ließen, wie die Bordüren und Schriftzüge mithilfe von Modeln. Darum gehört heute die Kenntnis der Pilgerzeichen zur Wissenschaft der Campanologie, der Glockenkunde.“ – Vgl. zuletzt Brumme, Carina: Pilgerzeichen auf Glocken und Erztaufen. In: Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Hg. v. Hartmut Kühne. Petersberg 2013, 212–222. 14 Vgl. Corbin, Alain: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Übers. v. Holger Fliessbach. Frankfurt a. M. 1995 (franz. EA Paris 1994). – Zur raumdefinitorischen Macht des Glockenklangs 111–120, zur apotropäischen Macht S. 147 f., zur Glockenepigraphik 199–209 und 451. 15 Corbin ebd., 451, Anm. 1, weist darauf hin, dass Glocken auch Gebetstexte aufgeprägt wurden, die im Geläut dann mitschwingen sollten.

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toptrik,16 der Spiegel- und Spiegelungswissenschaft als Zweig der Optik – über Jahrhunderte hin bemüht, Spiegelbilder (und auch Camera obscura-Bilder sowie Kombinationen von beiden) stillzustellen, fixierbar und transportabel zu machen, bis das endlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Daguerrotypie gelang. Der Bildnisspiegel nun, der vermutlich an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert in Gebrauch kam, war ein in besonderer Weise hergerichtetes Pilgerzeichen: In das Zentrum eines metallenen Bildes, das das ikonische Heiltum in Form eines Bleigussreliefs präsentierte, war ein kleiner Spiegel montiert,17 der dazu dienen sollte, das Gnadenbild, dessen Nahsicht den meisten Pilgern ja nicht vergönnt war, wenigstens im hochgereckten Spiegelmedium einzufangen; und zwar mit dem Wunsch, das so gefangene Bild oder doch dessen heilbringende Strahlen in einem Tuch geborgen nach Hause zu bringen, sodass auch die Daheimgebliebenen in den heilbringenden Genuss der Bildabstrahlung kommen konnten. Es ist unergiebig, diese Praxis der Bildnisspiegelung als abergläubisch abzutun und damit unerklärt zu lassen. Vielmehr steht der Usus in Tradition einer antiken, auf Demokrit (5. Jh. v. Chr.) zurückweisenden Katoptrikinterpretation, derzufolge Spiegelung nicht als Vorgang des Zurückprallens und Ablenkens von Strahlen, sondern als ein Sichtbarsein von etwas in etwas, als ein vom Objekt emaniertes Anwesendsein von Gesehenem zu verstehen ist.18 (Letztlich basiert auch die Lehre vom ‚blickenden Bildnis‘ – die unten noch genauer erläutert werden wird – auf dieser Interpretation.) Die angesichts von Gnadenbildern geübte Spiegelungspraxis folgt demnach einem zwar veralteten, subkutan aber fortlebenden Wissenschaftsmodus von Optik und Katoptrik; veraltet insofern, als die antike (emanative) Spiegelungslehre seit dem 10. Jahrhundert n. Chr. durch die von den Arabern Al-Kindi und Alhazen vertretenen Lehren in der wissenschaftlichen Welt Europas überlagert und zunehmend verdrängt worden waren. Erwähnt werden muss, dass im Dispositiv des Bildnis- oder Heiltumsspiegels nicht nur (im Larvenstatus eines frommen Wunsches) der inventorische Urgedanke der Photographie gegeben war, sondern dass außerdem die Invention des Lettern-

16 Zur Tradition der Katoptrik als naturmagischer Wissenschaftsdisziplin vergleiche man die einschlägigen frühneuzeitlichen Werke von Della Porta, Daniel Schwenter, Athanasius Kircher, Georg Philipp Harsdörffer u. a. – Überblicke bieten Baltrušaitis, Jurgis: Der Spiegel. Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien. A. d. Französ. übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Gießen 1986 sowie neuerdings die umfassende Geschichte von Kacuno, Slavko: Spiegel – Medium – Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes. München 2010. 17 In spanischen und südamerikanischen Pilgerorten kann man heute noch Flachglasspiegelchen in Funktion sehen und erwerben. 18 Vgl. dazu die zitatreichen Darlegungen von Lindberg, David C.: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. A. d. Amerikan. übers. v. Matthias Althoff. Frankfurt a. M. 1987; 20 f. – Simon, Gérard: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Mit einem Anhang: Die Wissenschaft vom Sehen und die Darstellung des Sichtbaren. A. d. Franz. übers. v. Heinz Jatho. München 1992, 48–52.

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drucks durch Gutenberg hier ihren Initial- und Ausgangspunkt gehabt haben dürfte. Denn Gutenberg hatte, wie zuerst Kurt Köster nachweisen konnte, vor seinem Bemühen um die Herstellung und Montage beweglicher Lettern sich mit der Herstellung von bleiernen ‚Aachener Heiltumsspiegeln‘ befasst.19 Bei diesen musste nicht allein der Spiegel montiert, sondern alle sieben Jahre, gemäß dem Rhythmus der Aachener Heiltumsschau, auch die Ziffernfolge des Jahresdatums geändert werden. Sodass Grund zu der Annahme besteht, Gutenberg könnte in diesem Zusammenhang erstmals mit beweglichen bleiernen Zifferelementen experimentiert haben. Köster weist diese Annahme zwar zurück, unterstreicht aber den Zusammenhang von serieller „Devotionalienproduktion“ und Gutenbergs „werck der bucher“.20

Einblattdrucke In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Entstehung des Letterndrucks wurde meist nicht berücksichtigt, dass die mechanische Reproduktion von Bildern der mechanischen Reproduktion von Lettern historisch vorausgegangen war. Man darf mutmaßen, dass der Bilddruck den Schriftdruck aus sich hervorgetrieben hat. Denn Bildholzschnitte fertigte man bereits seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert; die frühesten erhaltenen datierten Einblattholzschnitte stammen aus den Jahren 1418 und 1423. Bald darauf entstanden Kupferstich und Schrotblattdruck. Die Themen der Einblattdrucke, die mittels dieser drei Druckverfahren hergestellt wurden, waren in den ersten Dezennien fast ausnahmslos religiöser Art. Etliche von ihnen zeigen Heiltümer von Wallfahrtsorten und machen so, ähnlich wie

19 Vgl. hierzu Köster, Kurt: Gutenberg in Straßburg. Das Aachenspiegel-Unternehmen und die unbekannte „afentur und kunst“. Mainz 1973 (Kleiner Druck der Gutenberggesellschaft 93 und 22. Eltviller Druck); Ders.: Gutenbergs Straßburger Aachenspiegel-Unternehmen von 1438/40. In: Gutenberg-Jahrbuch 1983. – Siehe auch Kapr, Albert: Johannes Gutenberg. Persönlichkeit und Leistung. München 1987; Wagner, Sabina: Bekannter Unbekannter – Johannes Gutenberg. In: Hanebutt-Benz, Eva-Maria (Konzeption): Gutenberg. aventur und kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution. Katalog zur Ausstellung der Stadt Mainz. Mainz 2000, 114–143. – Ferner Berns, Jörg Jochen: Umrüstung der Mnemotechnik im Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfindung. In: Ars Memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400– 1750. Hg. v. dems. und Wolfgang Neuber. Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit, Bd. 15), 35–72; hier besonders S. 61–72; Brückner (wie Anm. 7), 86. 20 Köster (wie Anm. 19), 77 f.: „Der Ersatz zeitraubender Handarbeit durch den mechanischen Vorgang des Prägens in der Presse, die beim Guss der metallenen Spiegeleinlagen gewonnene und erprobte Erkenntnis der härtenden Wirkung des Antimons, die bei einer Massenfertigung dieses Umfangs zwangsläufig sich ergebende Arbeitsteilung, die durch Deckung der hohen Investitionen für Werkzeuge und Ausgangsmaterialien erforderliche Vorfinanzierung, vor allem aber die bei der Devotionalienproduktion gewonnene Erfahrung, wie aus einer Urform unbegrenzte Stückzahlen eines stets gleichen Artikels gefertigt werden können: dies alles war dem späteren Gutenberg von der Herstellung seiner Aachenspiegel her geläufig.“

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Pilgerzeichen und Bildnisspiegel, ein Gnadenbild in Reproduktionsform erschwinglich und transportabel.21 Was das bewirken konnte, schildert eine Episode in Grimmelshausens Simplicissimus-Roman (1669). Da fragt ein Eremit den zehnjährigen Simplicius, der ihm auf der Flucht vor räuberischen Soldatenhorden im Spessart zugelaufen ist: „weistu nichts von unserm HERR Gott?“ und der antwortet: „Ja / er ist daheim an unserer Stubenthür gestanden auff dem Helgen / mein Meüder hat ihn von der Kürbe mitgebracht / und hin gekleibt.“ 22 Die Episode ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Die Ikone, die in Form eines Einblattdrucks auf der Kirmes erworbene Abbildung Gottes oder Christi, ist privat verwendbar geworden. Gleich einem antiken Schwellengott hat das (gedruckte) Gottesbild über der Stubentür für die Einödbauern selbstdefinitorische und mnemonische und zugleich apotropäische Bedeutung. Dass die durch Bilddruck und Kauf ermöglichte Privatisierung und Verhäuslichung des Gottesbildnisses die Frömmigkeit der Bildeigner durchaus nicht steigern muss, markiert Grimmelshausen ironisch dadurch, dass das Bauernkind gleich einem ‚Heiden‘ zwischen Abbild und Abgebildetem nicht unterscheidet und somit Repräsentant naturgegeben-paganer Idolatrie ist. Die Bilddrucktechniken ermöglichten es im 15. Jahrhundert bereits und erzwangen es wohl auch, dass die Einblattproduktion sich mehr und mehr von der Aufgabe emanzipierte, lediglich stationäre Sakralbilder mechanisch zu reproduzieren, zu vervielfachen und durch Vertrieb ubiquitär zu machen. Vielmehr schufen die Druckgraphikproduzenten zunehmend auch sakrale Bilddruckmodel, die keinen unmittelbaren Bezug zu bereits vorhandenen stationären (gemalten oder geschnitzten) Bildwerken hatten, sondern eigens zu Reproduktionszwecken erfunden wurden. Und schließlich nahm in der Druckgraphikproduktion der Anteil von Blättern mit weltlichen Sujets so kontinuierlich und rasch zu, dass er schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Anteil der Sakralbilddrucke überstieg.

Votivbilder Neben den drei bisher vorgestellten Arten von Sekundärbildern oder Bildträgern – Pilgerzeichen, Bildspiegel, Einblattdruck – , die kraft Miniaturformat, Transportabi-

21 Siehe zusammenfassend zur frühen Druckgrafik: Parshall, Peter u. a.: Die Anfänge der europäischen Druckgrafik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Ausst. Washington / Nürnberg 2005 / 2006. Hg. National Gallery of Art Washington in Zusammenarbeit mit dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Nürnberg 2005; Schmidt, Peter, Heilsvermittlung und Reproduktion. Die Mediengeschichte der ‚Gnadenbildkopie‘ im ausgehenden Mittelalter. In: Original – Kopie – Zitat. Hg. v. Wolfgang Augustyn und Ulrich Söding. Passau 2010 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 26), 373–403. 22 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von: Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi. Hg. v. Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 1989 (ders.: Werke I.1), 38.

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lität und allgemeiner Erwerbbarkeit eine Verhäuslichung von Andacht ermöglichten, entließ der Gnadenbildkult noch einen vierten Bildtyp aus sich: das vom Votanten selbst gemalte Votivbild.23 Das Votivbild – durch das ein Gelöbnis gegenüber einer oder einem bestimmten Heiligen eingelöst wird – unterscheidet sich jedoch in mannigfacher Hinsicht von den genannten Bildarten: Es dient weder der Verhäuslichung und Verinnerlichung von Andacht, noch ist es käuflich. Vielmehr dient es der Veräußerlichung, ja, im Modus der Promulgation,24 der Veröffentlichung eines persönlich im Gebetsakt beschworenen, persönlich erfahrenen Wunders, das ein bestimmter Gnadenbildheiliger an jemandem getan hat. Die Interaktion von Gnadenbild und Votivbild ergibt sich in mehreren Schritten: Ein Mensch ruft in einer Notsituation – beispielsweise bei einem Gebäudebrand – einen bestimmten Heiligen an, dessen Bildnis ihm vertraut ist. Der Votant verlobt sich im Akt des Stoßgebets gewissermaßen dem Heiligen. Hilft der Heilige, ist der gerettete Votant gehalten, das Rettungswunder zu promulgieren, indem er selbst malend ein bildliches Mirakelprotokoll anfertigt, um dieses möglichst nahe bei dem Gnadenbild des bemühten Heiligen zu deponieren. Das gemalte Mirakelprotokoll setzt in der Regel (mindestens) drei Dinge ins Bild: den Votanten, die Gefahrensituation (oft auch den Votanten in der Gefahrensituation) und die oder den Angerufenen in der Gestalt des Gnadenbildes. Die Tatsache, dass der Votant das Mirakelprotokoll eigenhändig malerisch umsetzt, besagt, dass das Votivbild einer Aktion entspringt, in welcher der besonderen imaginativen und manufaktorischen (cheiropoietischen) Leistung des Bildstifters Ausdruck verliehen wird. Im Malakt repetiert und festigt der Gelegenheitsmaler den erlebten Wundercasus, und er quittiert ihn durch die Eigenhändigkeit nachgerade wie durch eine Unterschrift. Die Tatsache aber, dass das Votivbild möglichst nahe bei dem Bildnis des als Retter in Erscheinung getretenen Heiligen deponiert werden muss, besagt, dass das pure malende Zitieren des Heiligenbildnisses im Votivbild nicht genügt, dass vielmehr der Ort des unverrückbaren Gnadenbildes als eine Art von Kommunikationsstation benötigt wird, an der cheiropoietisches Bemühen und acheiropoietische Bildverheißung zusammentreffen. Nur dort nämlich kann die Promulgation des individuell erfahrenen Mirakels vor der Pilgeröffentlichkeit erfolgen, nur dort kann die sakrale Dignität des Gnadenbildes attestiert und gesteigert werden, und nur dort ist die Erreichbarkeit des heiligen

23 Volkskundliche Forschung verzeichnet unter dem Begriff ‚Votivbild‘ eine Reihe von unterschiedlichen Typen mit unterschiedlichen Wirkungsintentionen. Wenn es mir hier einzig um den Typ des ‚selbstgemalten Rettungsprotokolls‘ geht, so soll damit durchaus nicht in Abrede gestellt sein, dass solche Rettungsprotokolle zunehmend und dann überwiegend von beauftragten Malern realisiert wurden. Doch waren auch bei Delegation der Malleistung an eine Fachkraft imaginatio und reminiscentia des Votanten bei der Bildgestaltung unverzichtbar. Zum Verhältnis der selbstgemalten und der im Auftrag des Votanten professionell gemalten Votivbilder Engl, Thomas: Zur Medizingeschichte der Votivtafeln in der Kirche auf dem Geiersberg. In: Deggendorfer Geschichtsblätte 8 (1987), 51–96, hier S. 60 f., 64 und 68 f. 24 Zur Bildmitteilung des Votivbildes als Promulgation vgl. Brückner (wie Anm. 7), 101.

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Nothelfers in besonderem Maße gewährleistet, der hier, wie aus einem Briefkasten, das Votivbild als „Bildbrief zum Himmel“ 25 entgegennimmt.

Der Bildstock extra muros Die Frömmigkeitsenergie des Gnadenbildkultes war immens, und das durch sie bewirkte Spiel von Ferne, Annäherung, Aneignung und Heimholung war in der Vielfalt der Sekundärbildarten medien- und psychologiegeschichtlich aufschlussreich. Gleichwohl ist damit allein das ganze Ensemble all’ der Bildarten, die in der Frühen Neuzeit strittig waren, noch nicht in den Blick gebracht. Auch die Bildausstattung der heimatlichen Landschaft durch Bildstöcke sowie die Bildausstattung der heimischen Kirchengebäude boten Möglichkeiten persönlicher frömmigkeitspraktischer Zuwendung, die konfessionell umstritten waren. Bildstöcke entwickelten sich aus vorchristlichen Wegkreuzmarkierungen. Im Jahr 779 schon hatte Papst Leo III. angeordnet, christliche Kreuze zu setzen,26 die im deutschsprachigen Raum seit dem 10. Jahrhundert zu Bildstöcken szenisch erweitert wurden. Als Markierungszeichen innerhalb einer Kommune, vor allem aber außerhalb im Wegesystem einer Landschaft ist der Bildstock nicht nur zugänglich, sondern nachgerade unvermeidlich. Katholische Territorien wurden, auch im 17. und 18. Jahrhundert noch, von Bildstockmarkierungen planmäßig überzogen (beispielsweise im Zuge der obrigkeitlichen Propagierung einer Pietas Austriaca oder Pietas Bavarica27), welche zwar individuell genutzt werden konnten, aber kirchlichobrigkeitlich aufgedrungen wurden. Sie verlangten Kurzgebete und evozierten Heiligenmemoria. Die psychologischen Überlegungen, mit denen der altgläubige Johannes Cochlaeus (1479–1552) das Stiften und Setzen von Bildstöcken 1544 wider protestantische Bildkritik verteidigt, sagen das sehr eindrücklich: „Also setzen auch fromme leüt denen die ehr Christi und seyner heyligen, und darneben das heyl und wolfart des nechsten lieb ist: Bildstöcke und Crucifix vor die stat unter die Thor auff die kirchhöfe an die strassen und gemeyne wege, das volck zu vermanen zu andacht und zu gepet welcher da für geet, das er ein Vatter unser spreche got dancke und sich in sein gnad durch sein bitters leyden bevelhe. Denn manches gepet da gesprochen wirt bey dem bild, welchs nit geschehe wenn kein bild da were.“ 28 25 Zur Funktion des Votivbildes als ‚Bildbrief zum Himmel‘ siehe ebd., 99 f. 26 Vgl. Kramer, Ernst: Kreuzweg und Kalvarienberg. Historische und baugeschichtliche Untersuchung. Kehl / Straßburg 1957 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 313), 9 f.; Zoepfl, Friedrich: Bildstock. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. II. München 1940, 695–700. 27 Zur obrigkeitlichen Propagierung von Pietas Austriaca durch die Habsburger und Pietas Bavarica durch die Wittelsbacher detailreich Hüttl, Ludwig: Marianische Wallfahrten im süddeutschösterreichischen Raum. Köln / Wien 1985 (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte 6). 28 Cochlaeus, Johannes: Von altem gebrauch des Bettens in Christlicher Kirchen zehen Underschaid. Ingolstadt 1544, Bl. Jiir.

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Es ist deutlich, welche Appellfunktion man Bildstöcken zudachte. Man muss nicht eigens zu ihnen wandern, vielmehr stellen sie sich in den Weg. Als ikonische Knotenpunkte eines raumüberspannenden Frömmigkeitsnetzes fangen sie zerstreute Passanten ein, halten sie nicht eigentlich auf, sondern halten sie im Vorübergehen zu frommer Besinnung lediglich an.

Das Bild im Kirchenraum Die Möglichkeit der einzelnen Gläubigen, sich nach eigenem Gutdünken sakralen Bildnissen29 in der Heimatgemeinde zuzuwenden, galt als kaum weniger seelengefährdend als das Wallen und wilde Laufen zum mehr oder minder fernen Gnadenbild. Denn auch in der Heimatkirche konnten sich Fromme in individueller Zuwendung zu einem bestimmten Bildnis der Observierung durch den heimischen Pastor durchaus entziehen. Ihre Bildbeziehung verabsolutierte sich. Da allgemein galt, dass Sakralbilder ausschließlich der Didaktik, der Erinnerung und – als Transfermedium – der Meditation nützen sollten, sah man im 16. Jahrhundert namentlich zwei Gefahren, die diesen Nutzen untergraben konnten: erstens die Fixierung von Andacht auf ein einziges, ganz bestimmtes Bild und zweitens die Vereitelung von Andacht durch ein Überangebot von Bildern.30 Die Fixierung auf ein einzelnes Bild wurde sowohl von altgläubigen wie von protestantischen Theologen perhorresziert. Es galt unter allen Umständen, ein ‚Kleben am Bild‘ zu vermeiden. So schreibt schon 1522 Andreas Bodenstein (um 1477−1541) in seiner den Bildstreit eröffnenden Flugschrift „Von abtuhung der bilder“: „Ich wil dir dein hertz, o Pfaff, o Monich, bald rüren, und beschlissen, dastu an bildern klebst, und hast eynen warhafftigen abtgot [Abgott] an dem bild das menschen hende gemacht haben.“ 31 Der Befund, dass ein Beter vor einem von Menschenhand gemachten Bildnis betet und sich im Gebetsakt von dem Artefakt nicht befreit, wird so als Indiz von

29 Der Terminus ‚Bildnis‘ entstammt der Originalliteratur der Frühen Neuzeit, in der er noch nicht auf ‚Portrait‘ festgelegt ist, vgl. Berns: Strittigkeit der Bilder (wie Anm. 1). 30 Während des 16. Jahrhunderts gibt es verschiedenenorts Verfügungen, den Bildandrang in Sakralgebäuden zu mindern oder zu verhindern. Denn vermögende Privatpersonen, vor allem aber Gilden, Zünfte und Bruderschaften füllten die Seitenkapellen und Wände der kommunalen Kirchen mit Stiftungsbildern, irritierten durch solche Bildmassierung zugleich aber die visuelle Orientierung von Andachtswilligen. – Einen Überblick über die Innenausstattung von Kirchen um 1500 gibt Suckale, Robert: Der mittelalterliche Kirchenbau im Gebrauch und als Ort der Bilder. In: Ders.: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters. Hg. v. Peter Schmidt und Gregor Wedekind. München, Berlin 2008, 391–406. 31 Bodenstein, Andreas: Von abtuhung der Bylder / Vnd das keyn Betdler vnther den Christen seyn soll. Carolstatt. in der Christlichen statt Wittenberg. Wittenberg 1522. [Neudruck: Nürnberg 1979.], Bl. Bijr.

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Abgötterei genommen. Dem widerspricht 1523 der Konstanzer Fürstbischof Hugo von Hohenlandenberg (1457−1532): „Also hören wir, wiewol dise außwendigen zeychen, als neygen, knyen, betten etc. vor disen bildern leiplich geschehen, bleibt doch unser gemüt da nit kleben, sonder es erhebt sich uber sich in die himmelischen unsichtbaren bildner, bedenckt, betrachtet, und schauet geystlich an, alles das so durch die auff erdtrich gschehen ist, welche die bildnüssen bedeüten und anzeygen.“ 32 Folgenreich war, dass Erasmus von Rotterdam (1469–1536), der ja für altgläubige wie protestantische Christen gleich bedeutsame Autorität besass, 1533 von Freiburg i. Br. aus zur Frage der Fixierung ans Bild höchst differenziert und kritisch Stellung nahm: „Daß es Bilder in den Kirchen geben solle, schreibt kein Gebot, nicht einmal ein menschliches, vor. Es ist einfacher und auch sicherer, alle Bilder aus den Kirchen wegzuräumen, als darauf zu dringen, daß weder das Maß überschritten werde noch sich irgendein Aberglaube einschleiche. Denn selbst wenn das Herz von jeglichem Aberglauben frei ist, so gerät ein Beter doch in den Verdacht des Aberglaubens, wenn er sich vor einem hölzernen Bildnis niederwirft, seine Augen daran heftet, Worte an es richtet, es küßt und nirgendwo anders als vor dem Bildnis betet. Auch möchte ich beifügen: Wer immer sich Gott anders vorstellt, als er ist, der verstößt wider das Gebot und verehrt Standbilder.“ 33 Noch am Ende des Jahrhunderts warnt der durchaus bildfreundliche Protestant Johann Arndt (1555–1621) in seiner „Ikonographia“: „Wer ein Bilde anschauet, der sehe zu, das sein Gemüte nicht am Bilde hangen bleibe, sondern zu Gott und Christo sich erhebe. Denn wie dein Glaube aus Gott seinen uhrsprung nemen mus: also mus er sich in Gott wider enden, und in keinem Bilde oder Gemehlde, auff das du nicht mit dem vergenglichen vergehest, und zuschanden werdest.“ 34 Freilich gab es sehr verschiedene Arten von Bildfaszination und verschiedene Interaktionsformen mit einem wie immer heiligen Bild im sakralen Raum. Der von allen altgläubigen Theologen favorisierte Gebrauch nimmt das Bild lediglich als Impuls und Medium meditativer Betrachtung, die zu bildloser Kontemplation und Schau hinleitet. Bertold, Fürstbischof von Chiemsee (1465–1543), macht das beispielhaft deutlich: 32 Ebd., Bl. Fiijr. 33 Erasmus von Rotterdam, Desiderius: Explanatio Symboli. in: ders.: Opera omnia, Tom V., ed. Petrus van der Aa. Leiden 1609; Sp. 1133–1196, Zitat Sp. 1188: „Nam ut Imagines sint in Templis nulla præcipit vel humana constitutio. Et ut facilius est, ita tutius quoque est omnes Imagines e Templis submovere, quam impetrare, ut nec modus prætereatur, nec admisceatur superstitio. Jam ut animus sit ab omni superstitione purus, tamen non caret superstitionis specie, orantem ad ligneum simulacrum procumbere, in hoc intentos habere oculos, ad hoc verba facere, huic oscula figere, nec orare prorsus nisi coram imagine. Illud addam, quicumque sibi aliusmodi fingunt Deum quam est, contra præceptum hoc colunt sculptilia.“ 34 Arndt, Johann: IKONOGRAPHIA. Gründtlicher und Christlicher Bericht Von Bildern. Halberstadt o.J. [1597], Bl. 47v.

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„Daneben mögen wir die heyling pitten, daz sy uns von got gnad und hayl erwerben […]. Dergestallt bleibt unser gepet und andacht nit an der wand noch am pilde, sonder es wirt erhebt [erhoben] ubersich zu got und zu seinen himlischen pilden, das seind die lieben heyling.“ 35 Diese Hinleitungs- und Transferfunktion (der zugleich Membran- und Diaphanwirkung zugedacht war) konnte aber – und darauf richtet sich durchgehend die Sorge – durch ästhetische, illusionistische, erotische Reizpotentiale gemindert, wo nicht gar auf unheilige Objekte abgelenkt werden.

Erotische Anmutung Heinrich Heine hat 1827 erotische Heiligenbildfaszination wunderbar zart und beziehungsreich in ein Lied gefasst: Im Rhein, im heiligen Strome, Da spiegelt sich in den Well'n, Mit seinem großen Dome, Das große, heilige Cöln. Im Dom da steht ein Bildniß, Auf goldenem Leder gemalt; In meines Lebens Wildniß Hat's freundlich hineingestrahlt. Es schweben Blumen und Englein Um unsre liebe Frau; Die Augen, die Lippen, die Wänglein, Die gleichen der Liebsten genau.36

Zoomartig wird so, von der Totale (Stromspiegel, Stadtvedute) zum Detail (Dominneres, Marienbildnis) vordringend, die visuelle Erscheinung der Liebsten imaginiert. In der Tat war der Umstand, dass die Betrachtung eines Heiligen-, zumal eines Madonnenbildnisses nicht notwendig zu fernem Himmlischem meditativ vordringen muss, sondern ebensogut oder besser ein herbeigesehnt-assoziiertes Irdisches evozieren kann, auch im Bildstreit des 16. Jahrhunderts durchaus bewusst: Das Bild, das sich portraitartig gibt, strahlt, es blickt, es schafft einen auratischen, womöglich auch erotischen Raum. Aber wie wäre das zu vermeiden? Es ist, wie etliche Autoren wissen wollen, eine neuartige Bildniskunst, die sich als bedrohlich verführerisch erweist. Sie wird in der angeblich freizügigen Bildnismalerei einer jüngeren Malergeneration und ihrer modeerpichten Kundschaft ausgemacht, die weltliche Portraits und Heiligenbildnisse aneinander bedenklich an-

35 Bertold von Chiemsee: Tewtsche Theologey. München 1528, Cap. 26, § 5, Bl. niiijr. 36 Heine, Heinrich: Buch der Lieder. Hamburg 1827, Nr. XI, S. 120.

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gleicht. So stellt Erasmus 1524/25 sarkastisch fest: „Demnach das ouch die heiligen nit dergestalt anzöigt, und gebyldet syen die jn zympte, sidt der moler so er entwerfen will die jungkfrow muter, oder Agatham, nimpt er das vorbyld etwa von einer schandbaren dirnen, und so er Christum oder Paulum abryssen wil, setzet er für sich etwan ein truncknen oder ein buben, Wann es sind etliche byld die do meer reytzent zu der geylheit, dann zu der geistlicheit [...].“ 37 Ängstlich fordert auch der Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck (1486– 1543): „Gayle, unverschämbte bildtnuß solt man wol nicht in der kirchen brauchen.“ 38 Und der mit Eck befreundete Hofkaplan zu Dresden Hieronymus Emser (1478−1527) sieht 1522 einen sich neuerdings breitmachenden „mißbrauch“ darin, „das die maler und bildschnitzer der liben heiligen bilder so gantz unverschembt, hurisch und bubisch machen, das ouch weder Venus noch Cupido so schandtlich von den Heiden ye geschnitzt oder gemalt worden ist, welches unsere Vetter ouch nit zugegeben [erlaubt] hetten.“ 39 – „Dann wann wir die alten bild ansehen, so ist es gar ein erber [ehrbares] ding, und alle gelider bedeckt, das keyner keyn boose begir oder gedancken darauß schöpfen kann. Derhalben ich halt, das got die maler itzo darumb strafen und in [ihnen] das hantwerck legen wird, wo sie nit von diser schandtlichen weyß ablassen. Dann vil besser wer, soliche unzuchtige und unverschampte bild legen [lägen] in dem feur, dan das sie auff den altarien oder in der kirchen stehen. Ja es solten ouch die weltlichen bilder nit so gar schamloß, nacket und bloß gemalt werden, dan sie gros anreitzung geben zu fleischlicher bewegung, sund und schanden. Das ist aber nit der bilder, sonder der verkerten welt schuld, und sollen darumb die bilder alle und in gemeyn nit abgethon werden.“ 40 Ähnlich auch Hugo von Hohenlandenberg: „Item es werden auch etwan durch jre werckmeyster die bilder so üppig und schnöd [verwerflich] gemachet, das die, so sy eusserlich ansehen in uppig und unzimlich gedancken fallent. Deßhalb solich uppigkeit verhüt und verbotten werden sol, mit den bildern der Heiligen zebrauchen. Auch der gemeyn mensch nit sich zelang einlassen, so er soliche böse gedank-

37 So in der anonymen deutschen Übersetzung Ein schön buch Wie man Gott bitten / loben vnd dancken soll / gemacht zu Latin durch den hochgelarten doctor Erasmum von Roterodam / nüwlich / so vil müglich was zu gemeinem nutz vertütschet. Basel: Joh. Froben 1525, Bl. hv r. Die lateinische Originalfassung publizierte Erasmus 1524 ebenfalls bei Froben in Basel. 38 Eck, Johannes: Enchiridion. Handbüchlin gemainer stell und Artickel, der jetzt schwebenden Neüen leeren. Augsburg 1533, Bl. 98v. – Einen guten Überblick über das Problem der Bildniserotisierung bietet ein Aufsatz von Robert W. Scribner: Vom Sakralbild zur sinnlichen Schau. Sinnliche Wahrnehmung und das Visuelle bei der Objektivierung des Frauenkörpers im 16. Jahrhundert. In: ders.: Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800. Hg. v. Lyndal Roper. A. d. Amerikanischen v. Wolfgang Kaiser. Göttingen 2002, 147–176. 39 Emser, Hieronymus: Emsers vorantwurtung, auff das ketzerische buch Andres Carolstats von Abthueung der bilder. Leipzig 1522, Bl. Hijv. 40 Ebd., Hijr.

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ken in jm empfindt, sonder wie oben angezeygt ist, in die unsichtbaren hymelischen bildner sein gemüt erheben.“ 41 Selbst der als Magieexperte und Wissenschaftskritiker berühmte Jurist und Arzt Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) sieht 1530 eine Erotisierung der weltlichen und kirchlichen Bildnerei: „Nichts aber destoweniger sind wir Christen für andern Heyden so närrisch / daß wir zum höchsten Verderb unserer Sitten und guten Lebens / in allen Sälen / Häusern und Kammern solche [erotischen Bilder] zu setzen uns nicht schämen / damit ja durch dergleichen leichtfertige Bilder unsere Weiber und Töchter zur Wollust angereizet werden möchten / ja wir führen auch solche in unsern Kirchen / Capellen / und Altären mit gröster Ehrerbietung / nicht ohne Gefahr des Götzen-Dienstes / ein.“ 42 Doch bleibt es nicht bei blossen Klagen.

Zensur Die kirchliche Zensur greift zu, wie beispielsweise ein Synodaldekret des Bistums Brixen von 1603 bezeugt. Dort wird unter dem Titel „De Ecclesijs & alijs locis pijs. § XV“ [Von Kirchen und anderen frommen Orten. § 15] verfügt: „Zerschlissene, unziemliche, geile, unzüchtige, fremde, neue, ungewöhnliche, abergläubische und andere Bilder, die die Gemüter der Gläubigen verstören und beleidigen, sollen aus allen heiligen Orten entfernt werden.“ 43 Und diese Zensur soll auch die private Bildverwendung reglementieren: „Ebenso sollen die, die leichtfertige und unzüchtige Bilder verkaufen, erwerben oder bei sich aufbewahren, strengstens bestraft wer-

41 Hugo von Hohenlandenberg: Christenliche underrichtung […], die Bildtnüssen und das Opffer der Mess betreffend. Straßburg 1523. Bl. Gr. 42 [Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius:] HENRICI CORNELII AGRIPPÆ Ungewißheit Und Eitelkeit Aller Künste und Wissenschaften / auch Wie selbige dem Menschlichen Geschlechte mehr schädlich als nutzlich sind. Ferner von eben diesem Autore zwey curieuse Tractätlein / als I. Von dem Vorzug und Fürtrefflichkeit des Weiblichen Geschlechts vor dem Männlichen. II. Von dem H. Ehestand. Aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt. Cölln 1713. 113 f. – Lateinischer Originaltext nach der Ausgabe von Lyon 1600, 59: „Nihilo minus tamen nos Christiani præ cæteris gentibus sic desipimus, in hanc vitæ, & morum corruptelam, ut ubique in atriis, in domibus, in cubiculis tenere non pudeat, quo lascivis imaginibus nostræ matronæ filiæque ad lasciviam invitentur: quin etiam hæc in templa, in sacella, in aras Dei, magnis venerationibus traducimus, non absque idololatriæ periculo. sed hoc latius in Religione disputabimus.“ Die Erstausgabe erschien 1530 in Antwerpen. 43 „Imagines lacerae, indecorae, procaces, obscoenas, ignotae, novae, superstitiosae, alique; omnia quae fidelium mentes distrahunt aut offendunt, ex omnibus locis sacris eijciantur.“ [Christophorus Andrea Episcopus Brixinensis, ed.:] Decreta in dioecesana Synodo Brixinae anno […] 1603 sancita et promulgata. Innsbruck 1603, S. 55, zitiert nach Pallaver, Günther: Das Ende der schamlosen Zeit. Die Verdrängung der Sexualität in der frühen Neuzeit am Beispiel Tirols. Wien 1987, 133.

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den.“ 44 Solche Bildzensur war durchaus nicht auf den katholischen Raum beschränkt. Schon 1539 hatte der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger gefordert, die omnipräsent gewordenen Bilder omnipräsenter Zensur zu unterwerfen: „Begebe es sich aber, daß du den Bildern daheim in deinem Hauß, oder auff einem offenen Platz zuvil zulegest, soltestu darumb nicht meinen, als billigten wir solches. Darumb wann du das Gemähle in deinem Hauß mißbrauchest, halte ich gäntzlich darfür, daß dasselbig Gemäle aus deiner Behausung abgeschafft […] werden sol.“ 45 Vorgaben für derlei Maßnahmen lieferte die Reichspolizeiordnung, die seit 1530 als Rahmenordnung für die Policeyerlasse der verschiedenen Reichsstände fungierte. In ihren Fassungen von 1548 und 1577 bot sie, in Zusammenhang mit der Buchzensur, auch Vorschriften für eine Bildzensur. So heißt es 1548: „Ferrer setzen / ordnen und wöllen wir [nämlich die „Römische Keyserliche Maiestat“] / das […] nichts schmelichs / Pasquillisch oder anderer weiß […] gedicht / geschrieben / inn Truck bracht / gemahlet / geschnitzt / gegossen oder gemacht / Sonder wo solche und dergleichen Bücher / Schrifften / gemelde / Abgüß / geschnitz und gemechts / imm Truck oder sunst vorhanden weren / oder künfftiglich außgiengen und an tag kämen / das dieselben nit feylgehabt / gekaufft / umbgetragen noch außgebreyt / Sonder den verkäuffern genommen / und soviel möglich undergedruckt werden / und soll nit alleyn der Verkauffer oder Feylhaber / sonder auch der Kauffer und andere / bei denen solliche Bücher / schmeschrifften oder gemälts / Pasquils oder anderer weiß / sie seien geschrieben / gemalet oder getruckt befunden / gefengklich angenommen / gütlich / oder wo es die notturfft erfordert peinlich / wo ime solche Bücher / gemeld oder schrifft herkommen / gefragt […]“ werden.46 Die Fassung der Reichspolizeiordnung von 1577 (die dann bis 1806, bis zum Ende des alten Reiches, in Kraft blieb) verschärft die früheren Fassungen in einigen

44 „Item qui petulantes, & obscoenas imagines […] vendiderint, emerint, vel apud se retinuerint, in eos severissimè animadvertatur.“ Decreta 1603 (wie Anm. 43), 2 f., zitiert nach Pallaver (wie Anm. 43), 132, Anm. 47. 45 [Heinrich Bullinger / Philipp Mertzig:] Der Origine Erroris et de Conciliis. Das ist Von Ursprung, Aufkommen / und Fürgang aller Jrrthumben / so je bey den Heyden / Juden und Christen gewesen / und noch sind. Deßgleichen von den Concilijs [...] Durch [...] Heinrich Bullinger in Latein beschrieben / jetzo aber dem gemeinen [...] Mann zu gutem getrewlich in hoch Teutsch versetzt / durch Philips Mertzig Pfarrherrn in Churfürstlichen Pfaltz zu Heidelßheim. Neustatt a. d. Hardt: Matth. Harnisch, 1590, 160. – Im Wortlaut der lateinischen Erstausgabe: „Proinde si in foro aut in aedibus tuis pictura abuteris vel propter has quicquam in legem dei peccas, & e foro & e privatis domibus illas tollendas, atque legem dei, imo quodvis vitae officium illis praeferendum esse censeo.“ In: [Bullinger:] De Origine Erroris Libri Duo […]. Basel 1539, 133. 46 Zitiert nach der Edition von Weber, Matthias: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. Frankfurt a. M. 2002 (Ius Commune, Sonderhefte 146), 209. – Kursivierung der Passagen, die die gemalten, gedruckten oder skulptierten Bildwerke betreffen, von mir, JJB.

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überwachungspragmatischen Punkten: Jedes Druckerzeugnis – auch ein gedrucktes „gemält“ – sollte einer behördlichen Präventivzensur unterworfen werden. Jedes Buch sollte die Namen von Autor, Drucker und Druckort anführen, und Drucker sollten künftig nur noch in Residenz-, Universitäts- und Reichsstädten tätig sein.47 War damit gewiss eine bessere Überwachbarkeit auch der Bilddrucke gewährleistet, so ist doch unbekannt, ob und gegebenenfalls auf welchen Wegen und in welchem Umfang es tatsächlich gelang, eine private Verwendung privat erworbener Bilder an privatem Ort zu überwachen und gegebenenfalls auch zu bestrafen. Bei Bildern in kirchlichen Räumen (aller Konfessionen) griff die Zensur indes durch: Missliebige Bilder wurden entfernt. Ikonoklasmus war lediglich eine Extremform der Bildzensur, die viele Varianten kannte.

„zu vil kunst“ In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, dass in der Papstkirche selbst über Vorzüge unterschiedlicher Darstellungsarten sakraler Kunst durchaus gestritten wurde. Im Zentrum der Kontroverse stand die Frage, ob neuere Darstellungsmittel – wie sie mit Zentralperspektive, Farbperspektive, Lichtperspektive und portraitähnlicher Personendarstellung entstanden waren – besser geeignet seien, das frömmigkeitsdidaktische Ziel sakraler Bildnerei zu erreichen oder nicht. Es ging mithin um die Frage, ob eine im neuen Sinn illusionsmächtigere weil realitätsgetreuere Bildnerei den meditativen Transfer vom Bildnis zum Abgebildeten optimieren könne. Dass im 14. und 15. Jahrhundert, in vorreformatorischer Zeit also, die Bildprogramme etlicher Kirchen ausgetauscht und gemäß neuer ästhetischer Möglichkeiten ‚modernisiert‘ worden waren, war Anlass dieses Streits. Drei Modernisierungsgegner des 16. und frühen 17. Jahrhunderts – Emser, Hugo von Hohenlandenberg und Guarinonius – bezeugen dies. Hieronymus Emser differenziert: „… so haben die alten, wie ich in vilen alten Clostern und stifftkirchen gesehen, gar schlechte [schlichte] bild in die kirchen gestelt, nit auß gebrechen [Unvermögen] der kunst (dann vor zeyten gleych so wol kunstliche maler gewest, wie wol sie nit so gar gemeyn, als sie itzo seyn) sonder auß zweyerley anderen ursachen, namlich das sie das uberig gelt und uncost, den wir auff bilde legen, und offt fur ein tafel sechs, siben, achthundert ja etwan ouch tausend gulden geben, liber und seliglicher armen leuten außgespendet, und damit enthalten [unterhalten] haben. Die ander ursach ist die, das ye kunstlicher die bildt gemacht seyn, ye mher sie ire anseher in beschauung der kunst und art der bossen [Machart der Bildwerke] auffhalten, welche beschauung wir von den bilden auff die liben heiligen keren und wenden sollten. Ja es verglafft [vergafft] sich mancher an den bildern, und verwundert sich so ser ab der kunst, das er nymmer an die heiligen

47 Vgl. die Weber-Edition (wie Anm. 41), 265 f.

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gedencket. Darumb so wer es vil besser, wir volgeten in dem den alten nach und hetten gantz schlechte [schlichte] bilder in den kirchen, damit vil uncost erspart, Got und die liben heiligen mher geehret wurden, dann mit diser nawen weyß [neuen Weise] die wir itzo furhaben [vor uns haben].“ 48 Ähnlich tadelt Bischof Hugo neuartige Bildnerei, die zu viel Kunst biete; dass nämlich „die so die bild schnitzlent oder malent etc. zum offtern mal zu vil kunst daran legen, dardurch dann der gemeyn mensch mer synnet und betrachtet, was kunst an dem bild sey, dann wen es bedeüte oder anzeyg.“ 49 Noch drastischer weiss 1610 der Tirolische Arzt Hippolyt Guarinonius (1571− 1654) den psychischen Effekt neuartig elaborierter Realitätsdarstellung zu beschreiben: „Wann aber auch solliche […] ding mit den Farben gemahlen, und zierlich von und auß einander gescheyden sein, erst wird das Gemüt eingenommen, gefasst und dermassen sehr verzuckt, das man nicht allein, alles leyds und der geschäfften vergessen thut, sonder auch bißweylen speiß und tranck nicht achtet, und wegen ansehen eines Gemähls, an einem Hauß oder sonsten in den Kirchen, der Mensch gleichsamb seiner selbsten nicht wahr nimbt, und wol so balt, mit den Füssen hin und herwider anstoßt, oder sonst mit gantzem Leib, an ein Eck oder Maur unachtsam anfehrt, oder auch die fürüber gehenden übersieht.“ 50 Übereinstimmend kritisieren die drei Autoren demnach die neuartige in ihren Lebens- und Erfahrungsraum vordringende Kunst („kunst der nawen weyß“). Diese sei „kunstlicher“ als die Kunst von ehedem (die ja in vielen Sakralgebäuden durchaus noch präsent war), welche „schlechter“, mithin einfacher, und just deshalb für die Transferleistung der Meditation tauglicher gewesen sei. Die Autoren sehen eine kunsthistorische, durch kunsttechnisch-fakturspezifische Neuerungen angebahnte Differenz. Wenn die frühere Bildnerei einfacher gewesen sei, so sei das nicht etwa auf artifizielles Unvermögen der früheren Bildmacher zurückzuführen, sondern darauf, dass man bei den Bildern eben den Zweck der Andachtsförderung im Auge behalten habe. Alle drei Autoren sehen ein Vordringen von darstellungstechnischer Elaboriertheit. In diesem Sinne werden die Bilder tatsächlich „kunstlicher“, „kunstvoller“, ja die Bildermacher legen „zu vil kunst“ in die Bildherstellung, etwa durch differenziertere Farb- und Bildraumgestaltung, was bewirkt, dass die dargestellten Realitäten „zierlich von und auß einander gescheyden sein“. Die neue Bildnerei, die da in die Kirchen vorrückt, ist insofern andachtsfeindlich, als sie den meditationswilligen Betrachter aufhält, – „ye kunstlicher die bildt gemacht seyn, ye mher sie ire anseher in beschauung der kunst und art der bossen auffhalten“ – wo nicht gar von der Hinwendung zum Abgebildeten gänzlich abhält.

48 Emser (wie Anm. 35), Bl. Hij r+v. 49 Hugo von Hohenlandenberg (wie Anm. 37), Bl. Gv. 50 Guarinonius, Hippolytus: Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts. Ingolstatt 1610 [Neudr., hg. v. Elmar Locher, Bozen 1993], 185.

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Demnach bezeugen die drei einen kirchenimmanenten und kunstimmanenten Säkularisationsvorgang: Die Heiligenandacht mutiert zu ‚kunst‘-Andacht; wobei ‚kunst‘ hier zwar gewiss noch die handwerkliche Fertigkeit im Sinne der ars mechanica meint. Doch ist in dieser ‚kunst‘ zugleich eine welthaltige Realitätszugewandtheit und affektheckende Artifizialität latent, die den früheren Sakralitätsanspruch unterhöhlt. Bedingt ist die Umorientierung nicht zuletzt dadurch, dass die laienhaften Bildbetrachter ein eigentümliches Interesse an der Machart der (neuen) Bilder selbst beweisen: „dann der gemeyn mensch mer synnet und betrachtet, was kunst an dem bild sey, dann wen es bedeüte oder anzeyg“. Dieses Interesse aber, das sich nicht auf das Dargestellte, sondern auf die Herstellungsart richtet – ein genuines Interesse am Medium selbst – , dürfte an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit besonders hoch gewesen sein. Und vielleicht muss man beim „gemeynen mensch“ eine Art von Bildhunger unterstellen, da ja außerhalb der Kirchen und der von ihnen kontrollierten Zonen Bilder nur selten in den Blick kamen, deren Betrachten den Gläubigen überdies nicht freigestellt, sondern gezielt zugeteilt wurde.

Chancen und Gefahren privater Sakralbilder für die verhäuslichte Andacht Angesichts aller dieser oben vorgestellten, uns heute zumeist fremden oder befremdlichen Bildfunktionen fragt sich nun endlich, ob denn in einem Prozess fortschreitender Privatisierung und Verhäuslichung von Bildnissen diese Funktionsvielfalt erhalten bleiben konnte; mehr noch: ob etliche Bildnisarten sich nicht selbst einer Privatisierung und Verhäuslichung entzogen. In der Tat konnte und musste ja, wo die Bezugnahme auf das Gnadenbild und dessen Derivate schwand, der Einzug von privaten Andachtsbildern in private Kammern stärker werden. Wenn in der frühneuzeitlichen Gesellschaft es zuvorderst eine soziale Position, die zu höchster Individuation fähig machte, gab: die des princeps, so besagt das zugleich, dass Individuation und Privatisierung zunächst keine psychologischen, sondern soziale und ökonomische Qualitäten waren. Nur der princeps – will sagen: der weltliche, geistliche oder finanzielle Potentat – hatte hinreichende Mittel, sich ein Stundenbuch ausmalen, eine Privatkapelle bauen und diese mit Bildnissen eigener Wahl ausstatten zu lassen. Diese Möglichkeiten erweiterten sich durch Öffnung des Geblütsadels hin zum Geldadel, durch fortschreitende Monetarisierung (Bankwesen), aber vor allem durch Buch- und Bilddruck sowie neue künstlerische Darstellungsmittel. Zunächst propagierten seit dem 15. Jahrhundert Geistliche wie Cusanus, Geiler von Kaysersberg oder Cochlaeus die (druckgraphische) Verbreitung von Sakralbildern als Erweiterungschance bildgeleiteter Einzelandacht in der privaten Kammer.

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Cochlaeus: „Derhalben sollen wir in unsere kamern, an unsere wende, an die fenster, an die Stirn, auch in unsere gemüt das creütz mit grossem fleyß einpflantzen. Denn es ist ein zeychen, unsers heyls, gemeiner freyheit, der sanfftmütigkeit und demut des Herrn.“ 51 Substrat der Andachtsbewegung, die hier, am Exempel des Bildnisses des Gekreuzigten, entwickelt wird, ist die strategisch-didaktische Vorstellung, die Bilder rückten von der Peripherie der eigenen Kammer (Wände und Fenster) auf den Leib (Stirn) und schließlich ins Gemüt als Ort von Meditation und Kontemplation vor. Die Verhäuslichung soll so zugleich eine Verinnerlichung gewährleisten. Indes ließ sich nicht verheimlichen, dass die frömmigkeitspraktischen Folgen der Privatisierung von Sakralbildern zwiespältig waren. Das gilt nicht allein für die durch Einblattdrucke ermöglichte Diversifikation (wie sie an Grimmelshausens Episode vom Herrgottsblatt über der bäuerlichen Stubentür zu studieren war), sondern das gilt ebenso für die Diversifikation der drucktechnisch illustrierten Andachtsbücher. Die illuminierten Handschriften wichen mehr und mehr gedruckten, mit Holzschnitten und Kupferstichen ausgestatteten Stundenbüchern und anderen Erbauungsbüchern, Katechismen, Bibeln usw. War es aber den Miniaturisten und Illuminatoren fürstlicher Erbauungswerke möglich, bei der Bildgestaltung auch privaten Wünschen ihrer Auftraggeber entgegenzukommen, ohne sich an die Konventionen des öffentlichen Bildes oder auch die Vorgaben priesterlicher Präventivzensur halten zu müssen, so galten diese Vorteile für die Graphiker der über den Buchhandel privatisierten gedruckten Erbauungsbücher, die ja der allumfassenden Zensur ausgesetzt waren, nun freilich nicht mehr. Ambivalent war auch das Faktum, dass aufgrund der Vielzahl der gedruckten Bildbücher eine Vielzahl von privaten Bildbetrachtern mit den Bildern sich nun einsam vergnügen konnte. Doch wusste jeder der vielen einzelnen Bildbuchleser ja auch, dass neben ihm eben die Besitzer der vielen anderen Druckexemplare dies gleiche Individuationsvergnügen hatten. Wobei freilich nicht festzustellen war, ob die privatisierten Sakralbilder ihrer frömmigkeitsdidaktischen oder ästhetischen oder womöglich auch erotischen Vorzüge wegen betrachtet wurden. Eine höchst brisante Konsequenz der Privatisierung von Andachtsbildern aller Art war, das soll hier zuguterletzt wenigstens angedeutet werden, deren Überführung in Kunstkammern.

Gnadenbildandacht und Kunstbildandacht In protestantischen Territorien, in welchen ja in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die tradierten Bildausstattungen der Sakralgebäude (weitgehend) beseitigt

51 Cochlaeus (wie Anm. 29), Bl. Gijv.

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und (teilweise) ersetzt worden waren,52 hatte man seitens der Obrigkeit Arsenale angelegt, in welchen eine Menge obsolet gewordener Bildnisse deponiert waren. Wie Beispiele sächsischer und welfischer Fürsten zeigen, wurden die desakralisierten Gemälde und Skulpturen keineswegs vernichtet, sondern wanderten in den interkonfessionellen höfischen Geschenkverkehr, vor allem aber in den Kunsthandel ein. Sie waren nun der Kunstandacht ausgesetzt. Gewiss: Das Deponieren eines Sakralbildnisses in einer Kunstkammer lag in der Konsequenz der privaten Bildandacht. Die Kunstbildandacht verhält sich zur Kultbildandacht wie die Kunstkammer zur Hauskapelle. Dem Sakralbild wurde nun in der Kunstkammer aber eine neue Form von Andacht zuteil: die ästhetische Andacht des Connaisseurs.53 Welches Befremden die Integration sakraler Bilder in die Kunstkammer auslösen konnte, macht abermals eine Episode aus Grimmelshausens Simplicissimus-Roman kenntlich. Der wilde Junge, der als Zögling des Spessarteremiten bibelfromm geworden ist, gerät nach dem unverhofften Tod seines Lehrers an den militärischen Fürstenhof von Hanau, wo er auch eine Kunstkammer besichtigen kann: „Ich kam einsmals mit einem vornehmen Herrn in eine Kunst-Kammer / darinnen schöne Raritäten waren / unter den Gemählden gefiele mir nichts besser / als ein Ecce Homo! wegen seiner erbärmlichen Darstellung / mit welcher es die Anschauer gleichsam zum Mitleiden verzuckte; darneben hienge eine papierne Charte in China gemahlt / darauff stunden der Chineser Abgötter in ihrer Majestät sitzend / deren theils wie die Teuffel gestaltet waren / der Herr im Hauß fragte mich / welches Stück in seiner Kunst-Kammer mir am besten gefiele? Ich deutet auff besagtes Ecce Homo, Er aber sagte / ich irre mich / das Chineser Gemähld wäre rarer / und dahero auch köstlicher / er wollte es nicht umb zehen solcher Ecce Homo manglen. Ich antwortet / Herr / ist euer Hertz wie euer Mund? Er sagt, ich versehe michs; Darauff sagte ich: So ist auch euers Hertzen Gott der jenige / dessen Conterfait ihr mit dem Mund bekennet / das köstlichste zu seyn: Phantast / sagt jener / ich æstimire die Rarität! Ich antwortet / was ist seltener und verwundernswürdiger als daß Gottes Sohn selbst unsertwegen gelitten / wie uns diß Bildnus vorstellt?“ 54 Der kindlich fromme Kunstkammerbesucher und der interkulturell erfahrene Sammler reden aneinander vorbei. Denn Simplex verkennt, dass das Andachtsbild den Ort nicht zu sakralisieren vermag, an dem es ausgestellt ist, um sich nun in einer anderen Kontextevidenz, einer ästhetischen nämlich, zu behaupten. Der Sammler hingegen vermag nicht mehr anzuerkennen, dass das Ecce Homo-Bild jenseits seiner Raritätenqualität und der dadurch bestimmten Kostbarkeit noch einen

52 Dazu aspektreich die Aufsätze in dem Sammelband Die bewahrende Kraft des Luthertums. Hg. v. Johann Michael Fritz. Regensburg 1997. 53 Wie christliche Sakralbilder und exotische Bilder in einer Kunstkammer koexistieren konnten, veranschaulichen etliche Abbildungen bei Mauriès, Patrick: Das Kuriositätenkabinett. A. d. Englischen v. Susanne Vogel und Reinhard Ferstl. Köln 2002, 32 f., 53, 93. 54 Grimmelshausen (wie Anm. 22), 90 f. (Kursivsetzungen im Zitat entsprechen der Vorlage).

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Gebrauchswert haben könne: den des sakralen Appells und erbaulich-meditativen Hinleitens zum bedeuteten Dargestellten und dessen sakralem Rang. In diesem Sinne hatte schon 1544 Cochlaeus gemahnt: „Denn die bilde nicht für sich selbs geehret werden, sonder allein als bild und zeychen. Darumb ehren wir höher ein hültzes oder steinen crucifix dann ein guldenes oder silbrenes bild Marie. Denn die ehr der bilde sol nicht ausgerechnet werden nach der Materien [und, so wäre hier zu ergänzen, auch nicht nach der künstlerischen Faktur], sonder nach der bedeüttung.“ 55 Das Ergebnis des Kampfes zwischen Andachtsbild und Kunstbild – und vermittelt auch das Ergebnis der Privatisierung von Bildandacht – ist an den Beständen unserer Museen zu studieren.56

55 Cochlaeus (wie Anm. 29), Bl. H ivr. 56 Thomas Rahn und Hole Rößler danke ich für Einwände und Hinweise!

Susanne Wegmann

Das illustrierte Flugblatt und sein Publikum Massenmedien, Massenwirksamkeit und eine Anleitung zur Rezeption Dass die frühe Reformation, also der Zeitraum von 1517–1525, als Kommunikationsprozess gesehen werden kann, der „in neuer Weise Kommunikationszusammenhänge herstellte“, darauf wies Bernd Moeller bereits 1994 hin.1 Unbestritten wurde der Erfolg der Reformation wesentlich durch den Buchdruck befördert. Die zu Massenmedien aufgestiegenen Druckerzeugnisse, wie Flugblatt und Flugschrift, stellten dabei vor allem Öffentlichkeit her. In ungekannter Weise wurde nun öffentlich ein aktueller Diskurs über theologische Fragen geführt. Das Ziel dieser massenmedial gestützten Kommunikation war dabei weniger Information oder Wissensvermittlung denn Meinungsbildung.2 Das Publikum, an das sich die Autoren richteten, war mit dem Massenmedium auch ein anonymes und disparates wie nie zuvor geworden.

1 Moeller, Bernd: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß. In: ders.: Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte. Hg. v. Johannes Schilling. Göttingen 2001, 73–90 (erstmals publiziert in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. v. Hartmut Boockmann. Göttingen 1994, 148–164), hier: 74. Die Literatur zum Thema der druckgraphischen Medien und ihrer Bedeutung für die Reformation ist vor allem im Bereich der theologischen und philologischen Forschung kaum mehr überschaubar, so sei hier nur auf einige zentrale Beiträge verwiesen, die insbesondere die von Flugschriften getragenen Kommunikationsprozesse thematisieren und damit die folgenden Überlegungen dieses Beitrags angeregt haben: Oelke, Harry: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin / New York 1992; Burkhardt, Johannes: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617. Stuttgart 2002; Kaufmann, Thomas: Anonyme Flugschriften der Frühen Reformation. In: Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199 (1998) (Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch), 191–267; Köhler, Hans-Joachim: Fragestellungen und Methoden zur Interpretation frühneuzeitlicher Flugschriften. In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Hg. v. Hans-Joachim Köhler. Stuttgart 1981, 1–27. Insbesondere die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Medien thematisiert Hamm, Berndt: Die Reformation als Medienereignis. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 11 (1996), 137–166. Hamm verweist neben dem gedruckten und gesprochenen Wort auch auf die Rolle des gedruckten Bildes innerhalb dieses Kommunikationsprozesses (146–148); er sieht als Rezipienten nicht nur die „Analphabeten oder Nicht-Leseerfahrenen“, sondern ebenso „literarisch kundige und gelehrte Betrachter“. Das wechselseitige Zusammenspiel von gedrucktem Text und gedrucktem Bild innerhalb der Flugschriften und Flugblätter (aber auch die Intermedialität im Prozess der Konfessionalisierung) muss jedoch immer noch als Forschungsdesiderat gesehen werden. Vgl. dazu Emich, Birgit: Bildlichkeit und Intermedialität in der frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche. In: Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008), 31– 56. 2 Oelke (wie Anm. 1), 21; Moeller (wie Anm. 1), 74; Hamm (wie Anm. 1), 162. https://doi.org/10.1515/9783050051659-003

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Gesellschaftsschichten wurden nun erreicht, die bislang nicht in gelehrte theologische Dispute verwickelt waren, die damit aber auch spezifische Rezeptionsvoraussetzungen bzw. Defizite mitbrachten, auf die eingegangen werden musste. Die Drucke zeigen etwa in differenzierten Rezeptionsanweisungen,3 dass sie das neue Publikum wahrnahmen und seine Bedürfnisse berücksichtigten. Moeller betonte daher auch, dass die auf Druckschriften gestützte Kommunikation der frühen Reformation keineswegs nur einseitig vom Autor auf eine indifferente Masse ausgerichtet war, sondern das Publikum durchaus in gegenläufiger Richtung die Autoren und das Schrifttum beeinflusste.4

Dialogschriften und das Laienpublikum der Massenmedien Aus dieser Situation entstand der Reformationsdialog als eine literarische Gattung, die insbesondere auf diese neu anzusprechende – modern ausgedrückt ,bildungsferne‘ – Gesellschaftsschicht ausgerichtet war. Die ‚Gesprächsbüchlein‘, die ihre Blütezeit zwischen 1521 mit dem Wormser Reichstag und dem wohl wegweisenden „Gesprächsbüchlein“ Ulrich von Huttens und dem Jahr 1526 erlebten,5 stellten Handwerker oder Bauern ins Zentrum des Geschehens. Diese sind nun die Helden der Handlung, die zum Teil in derber Direktheit gelehrten Geistlichen reformatorisches Gedankengut nahebringen und sie bekehren. So überzeugt in dem 1523 erschienenen „Gespräch von der Wallfahrt im Grimmetal“ ein lutherisch gesinnter Handwerker einen Mönch von der Sinnlosigkeit der Wallfahrt, der Mönch will sich daraufhin Arbeit in einem Bergwerk suchen.6 Nach Rudolf Bentzinger treten in den 50 von ihm untersuchten Dialogen Bauern, Bauernknechte, Schuhmacher, Weber, Löffelmacher und Schneider als „aktiv Handelnde“, als „Überlegene“ und „siegreich Argumentierende“ auf.7 Die Ungelehrten belehren und bekehren die Gelehrten. 3 Moeller (wie Anm. 1), 83; Rössing-Hager, Monika: Wie stark findet der nicht-lesekundige Rezipient Berücksichtigung in den Flugschriften. In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Stuttgart 1981, 77–137, hier: 77 mit Anm. 1; Scribner, Robert W.: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen? In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980. Hg. v. Hans-Joachim Köhler. Stuttgart 1981, 65–76, hier insbes.: 67. 4 Moeller (wie Anm. 1), 76. 5 Smolinsky, Heribert: Dialog und kontroverstheologische Flugschriften in der Reformationszeit. In: Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. Hg. v. Bodo Guthmüller und Wolfgang G. Müller. Wiesbaden 2004, 277–291, hier: 279; Kaufmann (wie Anm. 1), 266. 6 Vgl. Beyer, Franz Heinrich: Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit. Frankfurt / M. u. a. 1994, 53. 7 Bentzinger, Rudolf: Untersuchungen zur Syntax der Reformationsdialoge 1520–1525. Ein Beitrag zur Erklärung ihrer Wirksamkeit. Berlin 1992, 14.

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Die Reformationsdialoge führten Exempel des theologischen Disputs vor, sie ermutigten insbesondere die Laien im Sinne des von Luther vertretenen allgemeinen Priestertums, sich in die Glaubensstreitigkeiten einzumischen, diese auch als ihre Angelegenheit zu begreifen.8 Die Lebensnähe und die nachvollziehbaren Alltagssituationen der Dialoge zeigten Wirkung. Leser fanden für sich Identifikationsfiguren oder ihren Gesprächspartner in den unterschiedlichen am Disput beteiligten geistlichen und weltlichen Ständen. Leser kommentierten die Dialoge.9 Wie beteiligte Gesprächspartner fügten sie ihre Meinung ein, widersprachen dem einen oder stimmten dem anderen zu. Laien, Handwerker und sogar Frauen verfassten in dieser Zeit eigene theologische Schriften und gaben diese in Druck.10 Den illustrierten Flugblättern, die die Frühzeit der Reformation begleiteten, wie grundsätzlich auch den Illustrationen der Flugschriften wird häufig unterstellt, als Publikum vor allem Ungelehrte und illiterati ansprechen zu wollen.11 Ob dieses visuelle Massenmedium tatsächlich als Flugschriften der Nicht-Lesefähigen konzipiert war, die hier erfuhren, was sie selbst den Schriften nicht zu entnehmen vermochten,

8 Vgl. dazu etwa: Kaufmann (wie Anm. 1), 267; Smolinsky (wie Anm. 5), 280. 9 Ein sehr eindrückliches Beispiel bei: Campbell, Fiona M. K.: Dialog und Dialogizität in den Flugschriften der frühen Reformation. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hg. v. Nikolaus Henkel, Martin H. Jones und Nigel F. Palmer. Tübingen 2003, 337–347, hier: 342–344. Hier kommentiert ein Pfarrer, Johannes Dorn, mit handschriftlichen Einträgen ein Exemplar der Dialogflugschrift „Dialogus das ist ein gesprech oder rede/ zwischen zweien. Einem Pfarrer und einem Schultheiß, antzeigende geistliches unnd weltliches stands übel hanlung, war zu allein geytzigkeit sie zwinget“, Basel: Thomas Wolf, 1521. Dorns Exemplar: Wolfenbüttel, HAB, 131.6 Theol (26). 10 Siehe dazu: Moeller (wie Anm. 1), 80; Halbach, Silke: Legitimiert durch das Notmandat. Frauen als Verfasserinnen frühreformatorischer Flugschriften. In: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), 365–387; Arnold, Martin: Handwerker als theologische Schriftsteller. Studien zu Flugschriften der frühen Reformation (1523–1525). Göttingen 1990; Jung, Martin H.: „Ich habe euch kein Weibergeschwätz geschrieben, sondern das Wort Gottes“. Flugschriftenautorinnen der Reformationszeit: ihr Selbstverständnis im Kontext reformatorischer Theologie. In: Luther 69 (1998), 6–18; Hamm (wie Anm. 1), 143. 11 Grundlegend für diese Sichtweise zweifellos: Scribner, Robert W.: For the sake of simple folk. Popular Propaganda for the German Reformation. Oxford 1994 [Cambridge 1981]. Auch: Scribner (wie Anm. 3), 71–73; Schuster, Klaus-Peter: Die Kunst als Waffe. In: Luther und die Folgen für die Kunst. Ausst. Hamburg 1983–1984. Hg. v. Werner Hoffmann. München 1983, 152–203. So auch Kampe, Jürgen: Problem „Reformationsdialog“: Untersuchungen zu einer Gattung im reformatorischen Medienwettstreit. Tübingen 1997, 100–117, er geht von einer dreiteiligen Leserschaft aus, „die lateinisch lesen, nach denen, die deutsch lesen, und nach denen, die Bilder lesen“ (S. 100). Gegen diese Sicht nimmt beispielsweise Harms Stellung: Harms, Wolfgang: Das illustrierte Flugblatt in Verständigungsprozessen innerhalb der frühneuzeitlichen Kultur. In: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Tagung Ascona 31. 10. bis 4. 11. 1999. Hg. v. Wolfgang Harms und Alfred Messerli. Basel 2002, 11–21. Ebenso: Messerli, Alfred: War das illustrierte Flugblatt ein Massenlesestoff. In: ebd., 23–31. Beide verweisen dabei auf die Flugblattsammlung des Johann Jakob Wick (1522–1588), Schüler von Heinrich Bullinger und Chorherr am Züricher Grossmünster.

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wird eine Frage sein, auf die ich zurückkommen werde. Im Folgenden wird ein anonymer Reformationsdialog12 im Fokus stehen, der einen anhand eines Bildes, genauer eines illustrierten Flugblattes, geführten Disput in Szene setzt: „Ein Gespräch auf das kurtzt zwischen eynem Christen und Juden, auch eynem Wyrthe sampt seynem Hausknecht, den Eckstein Christum betreffendt, so noch Götlicher schrifft abkunterfeyt ist, wie alhie bey gedruckte figur auß weyßet“ (Abb. 1). Zwei Auflagen sind für diese Flugschrift bekannt, die erste, wohl 1524 entstandene, wird dem Erfurter Buchdrucker Michel Buchfürer zugewiesen, eine zweite wurde vermutlich um 1533 in Köln gedruckt.13 Die im Titel angesprochene Figur „den Eckstein Christum betreffendt“ bezieht sich auf ein Flugblatt, das heute nur noch in einem Exemplar im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg erhalten ist (Abb. 2). Entgegen der Aussage des Titels war es offenbar keiner der bekannten Ausgaben der Flugschrift beigedruckt oder beigebunden. Der genaue Entstehungshintergrund, ob das Flugblatt schon vor der Flugschrift entstanden war oder mit ihr zusammen konzipiert und in Umlauf gebracht wurde, ist ungeklärt.14 Die Forschung behandelte bislang Flugschrift und Flugblatt weitgehend getrennt oder sah in der Flugschrift nicht wesentlich mehr als eine Interpretationsschrift des illustrierten Flugblattes. So thematisiert Scribner

12 Die Dialogschriften stellten nach Kaufmann (wie Anm. 1), 198 f., 230 den weitaus größten Anteil der anonymen Flugschriftenliteratur. Die Anonymität der Flugschriften ist für diese Zeit beinahe die Regel. Kaufmann sieht den Grund dafür weniger darin, aus Angst vor Repressalien nicht in die Öffentlichkeit treten zu wollen, sondern erkennt „die von den anonymen Verfassern in Anspruch genommene Allgemeinheit und globale Repräsentanz ihrer Auffassungen und Meinungen als ein wesentliches Moment ihrer Publikationsstrategie“. 13 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (im Folgenden: VD 16) G 1864 und 1865. Die erste Ausgabe im Quart-, die zweite im Octav-Format mit einer etwas abweichenden Gestaltung des Titelblattes. Vgl. Haupt, Walter: Ein Gespräch zwischen einem Christen und Juden auch seinem Wirte samt seinem Hausknecht, den Eckstein Christum betreffend (1524). In: Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation. Hg. v. Otto Clemen, Bd. 1, Heft 10. Halle 1907, 375–422, hier: 385–386. 14 Dass die Flugschrift auch erst nach dem Flugblatt entstanden sein könnte, zeigen beispielsweise „Flugschriftenserien“ – nach Kaufmann (wie Anm. 1), 231: „literarische Reihenerzeugnisse, die anonym erschienen sind, auf jeweils bereits erschienene oder geplante Folgeschriften verweisen und mit diesen einen lockeren literarischen Zusammenhang bilden, ohne daß die Kenntnis der voraufgegangenen Flugschriften die notwendige Verständnisvoraussetzung wäre“. – Auch für Flugblatt und Flugschrift ist eine getrennte Rezeption durchaus möglich. Die Flugschrift ist auch für sich stehend verständlich. Allerdings war in diesem Zusammenhang die Autopsie der erhaltenen, nachweisbaren Einzelexemplare nicht realisierbar; inwieweit die bisherige Forschung dies geleistet hat, war nicht nachvollziehbar, so wäre es durchaus vorstellbar, dass hier noch Hinweise zu finden wären. Für diese Untersuchung wurde das Digitalisat des Exemplars Wolfenbüttel, HAB 108.5 Quodl. 40 (21) verwendet, das als Ausgabe VD 16 G 1864 zugerechnet wird. Doch ob dies wirklich die Erstausgabe der Flugschrift ist, könnte durchaus bezweifelt werden, nicht nur wegen der Ungereimtheit des fehlenden beigedruckten Bildes, auch im Vorwort erwähnte Verweise auf Bibelzitate im Anhang der Schrift sind in dieser Ausgabe nicht zu finden.

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Abb. 1: Titelblatt zu: Ein gesprech auff das kurtzt zwuschen eynem Christen und Juden … den Eckstein Christum betreffend. Holzschnitt, Gedruckt vermutlich in Erfurt bei Michael Buchführer, 1524.

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Abb. 2: Monogrammist H, Christus als Eckstein, Flugblatt, Holzschnitt, 53,3 × 34,4 cm, 1524. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, HB 25.

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zwar die in der Flugschrift vorgeführte Rezeptionssituation, doch belegt für ihn der Text vor allem, dass die reformatorischen Ideen effektiv allein durch das gesprochene Wort verbreitet werden, das Bild hat aus seiner Sicht nur unterstützende Funktion. Das Fehlen des Flugblattes in den Flugschriften wertet er als Beleg für den längerfristigen Triumph des geschriebenen Wortes über das Bild.15 Doch scheint der Modellcharakter des Dialogs als Rezeptionsanweisung eines illustrierten Flugblattes oder eines Bildes im reformatorischen Sinne weit wichtiger zu sein.16

Das Flugblatt „Den Eckstein Christum betreffend“ Das Flugblatt 17 wird bestimmt durch eine diagrammatische Struktur, gebildet aus fünf senkrecht auf der Mittelachse angeordneten Kreisen, von denen nur der zentrale unüberschnitten bleibt, welcher den gekreuzigten Christus umschließt. In den inneren Kreis ist ein Quadrat eingelagert. Dieses umgibt weitere acht Quadrate, die von den Ecken aus diagonal auf Christus hin angeordnet sind. Zur mittleren senkrechten Achse fügt sich eine weitere Einteilung des Blattes durch vier Diagonalen,

15 Haupt (wie Anm. 13), der die Flugschrift edierte und kommentierte, war das Flugblatt noch unbekannt. Scribner (wie Anm. 11), 6–7, 211–215. Vgl. außerdem: Rublack, Hans-Christoph: … hat die Nonne den Pfarrer geküßt? Aus dem Alltag der Reformationszeit. Gütersloh 1991, 37–42, stellt den Inhalt der Flugschrift vor und gibt eine Beschreibung des Flugblattes, doch seine Rezeption im Gespräch wird nicht weiter analysiert. Oelke (wie Anm. 1), 235–237 erwähnt die Flugschrift, beschränkt sich aber auf die inhaltliche Deutung des Flugblattes, das er als „selbständiges Merkbild zu einer gleichzeitig publizierten Flugschrift“ bezeichnet. Campbell (wie Anm. 9), 337–347, erhebt zwar den Anspruch, anhand des Dialogs die „Wechselbeziehungen zwischen Dialogflugschrift und anderen Medien (für diesen Fall das Bild, Anm. d. Verf.in)“ ebenso die „Methoden der Überzeugung und des Lehrens“ aufzuzeigen, den Text sieht die Autorin dann jedoch lediglich als „Erläuterung“ (siehe insbesondere 338–340) des Bildes. Smolinsky (wie Anm. 5) kennt das Flugblatt nicht und behandelt nur den Text der Flugschrift, auch die Rezeption, die Stellung und Bedeutung des Bildes im Gespräch wird von ihm nicht weiter analysiert. Er vermutet, dass der Text die „Auslegung“ zum Bild lieferte. Insofern zeigt das Beispiel die nach wie vor offene Problematik einer auf Intermedialität zielenden Forschung, die trotz der philologischen und kunsthistorischen Text-Bild-Forschungen von den Disziplinen geprägte Sichtweisen produziert. Vgl. Emich, Birgit: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche. In: Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008), 31–56, hier: 35 f., 41. 16 In diesem Sinne auch Konrad Hoffmann, Kat. Nr. 309. In: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Ausst. Nürnberg 1983. Hg. v. Gerhard Bott. Frankfurt / M. 1983, 245 f. Er sieht mit der Flugschrift die „Gebrauchssituation“ des Flugblattes vorgeführt, Flugblatt und Flugschrift zeigen für ihn exemplarisch, „wie bei der Ausbreitung der Reformation mündliche, schriftliche und bildliche Überlieferung wechselseitig verschränkt waren“. 17 Bislang ist nur ein einziges Exemplar des Flugblattes bekannt: Nürnberg, Germanischen Nationalmuseum, HB 25. Maße: 53,3 × 34,4 cm. Vgl. Hoffmann (wie Anm. 16); Oelke (wie Anm. 1), Nr. 15, Abb. 12.

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von den Seiten des Blattes ausgehend, die beiden oberen treffen sich dabei im rechten Winkel auf dem Haupt Christi, die beiden unteren entsprechend in der Fußwunde. So ergeben sich Bildfelder auf der vertikalen Mittelachse aus Kreisen und Kreissegmenten und weitere seitlich davon angeordnet, die durch die Diagonalen als drei horizontal gelagerte Register erscheinen. Die inhaltlichen Bezüge übergreifen dabei die vertikale Achse der Kreise, die gleichzeitig auch als Trennungsachse einer Antithese fungiert. Das oberste Register ist dabei unschwer als himmlische Zone auszumachen, mit Gottvater im obersten Kreissegment und dem Heiligen Geist darunter, unmittelbar über dem Gekreuzigten, der das Zentrum des gesamten Bildes markiert. Außerhalb der Kreise sind seitlich Portale zu sehen, auf der rechten Seite geschlossen, gegenüber geöffnet. Christus steht mit der Auferstehungsfahne im geöffneten Portal, dahinter erscheint ein siebenarmiger Leuchter. Die mittlere Zone beherrscht der gekreuzigte Christus, seine Hand- und Fußwunden bestimmen die Abmessungen des großen Quadrats. Auf seinem Leib ist die römische Ziffer „eins“ zu sehen, was ihn als Anfangspunkt des gesamten Bildes kennzeichnet, dessen Hauptmotive mit Ziffern bis 11 durchnummeriert sind. Eine erläuternde Legende scheint es aber nicht gegeben zu haben. Die vier kleinen Quadrate, die sich seitlich an den Leib Christi anfügen, zeigen die Evangelistensymbole. Die etwas größeren Quadrate umschließen Vertreter des Alten Testaments: links oben David mit der Leier, darunter der nackte Hiob, rechts oben ein Prophet mit Buch und rechts unten schließlich Moses. In den äußersten Kreissegmenten stehen links die trauernde Maria und rechts Johannes, die der Kreuzigungsszene entnommen, aber gleichzeitig durch die Wolken zu ihren Füßen dieser geschichtlichen Zeitlichkeit entrückt sind. Weitere vier Felder bilden sich als Zwickel an den mittleren Kreis anliegend, bereits den oberen und unteren Kreisen zugehörig, aber in der horizontalen Registerbildung noch zur mittleren Zone des irdischen Lebens zählend. Sie enthalten ebenfalls Darstellungen von Einzelfiguren: Oben links ist Johannes der Täufer zu identifizieren, ihm gegenüber Daniel in der Löwengrube, darunter hält links Petrus den Schlüssel in Händen und rechts Paulus sein Schwert. Wie Maria und Johannes Ev. sind auch die gekreuzigten Schächer in der mittleren Zone dem Personal des historischen Kreuzigungsgeschehens zuzurechnen, ebenso die Gestirne Sonne und Mond. An die Kreuzesstämme der Schächer sind Kanzeln gerückt mit einem nach oben deutenden Prediger links und einem nach unten weisenden rechts. Beischriften lassen hier keinen Zweifel an der Identifikation: Der Prediger zur Rechten Christi wird als „Evangelischer prediger als Luther vnd ander etc.“ benannt, während sein Gegenüber einen „Ablas prediger als Eck, Emser vnd Cocleus etc.“ darstellt. Vor dem Evangelischen Prediger erscheint zudem ein Reiter, der auf den Gekreuzigten zeigt. Unterhalb der Schächerkreuze versammeln sich zwei Figurengruppen. Die rechte besteht vorwiegend aus Vertretern der geistlichen Stände, angeführt vom Papst, darunter auch ein weltlicher Herrscher. Die Beischrift nennt sie unter Bezug auf

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Joh. 15 „die vnfruchtbarn reben vonn dem stock Christo abgeschnitten“. Unter ihnen ist die Hure Babylons zu sehen, sie gleicht der babylonischen Hure von Lucas Cranach im Septembertestament, auch wenn sie hier ohne Papsttiara erscheint.18 Die linke Gruppe besteht aus Laien unterschiedlichen Standes, männlich und weiblich, sie folgt laut Inschrift 19 dem „klaren Gottis wort“, ist eine Kirche „nach Christus lere und Paulus predig“. Auf der Mittelachse, in der Überschneidung der beiden unteren Kreise, liegt die „Wellt“ mit dem aus dem Paradies vertriebenen Urelternpaar sowie Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt. Sünde und Mühsal herrschen auf Erden direkt unterhalb des Kreuzes, durch das die Menschheit Erlösung erfahren kann. Direkt darunter öffnet sich rechts der Höllenrachen und stößt ein Teufel mit einem langen Spies gegen die unter der wahren Kirche geschlossene Höllenpforte. Gegenüber öffnet ein Teufel diese Pforte, in die die „ungerechten hynein gehen“ 20 werden. Den Spieß des Teufels erklärt eine Inschrift als „den langen gebrauch so ettlich antzeygen als die Römische kirch etc.“ Das Flugblatt zeigt damit kurz gefasst eine Antithese der Anhänger Luthers, denen das Himmelreich offensteht, weil sie dem Wort Gottes folgen, und der römischen Kirche, welcher der Himmel versperrt bleibt, die verdammt wird, weil sie von der Lehre Christi abgewichen ist. In dieser Gegenüberstellung von der „wahren und falschen Kirche“ wird ein Thema aufgegriffen, das vielfach auf Flugblättern dieser Zeit thematisiert wurde und im Grundsatz durchaus verständlich gewesen sein dürfte. Im Gegensatz zu vielen anderen Flugblättern wird hier allerdings auf grobe Polemisierungen verzichtet und das Thema stattdessen in einem vorgeblich objektivierten Merkbild behandelt. Statt narrativer Bildelemente nutzt es weitgehend zeichenhaft verknappte Motive.

Der Dialog zwischen einem Christen, Juden, Wirt und Hausknecht Das Bild der „wahren und falschen Kirche“ wird nun zum Thema eines Reformationsdialoges zwischen einem Christen, einem Juden, einem Wirt und einem Hausknecht. Der Dialog wird eingeleitet mit einer Vorstellung des Christen und einer Situationsbeschreibung, dem Zusammentreffen mit dem Juden und dem Beschluss, die Nacht in einem Wirtshaus vor Nürnberg zu verbringen. Zudem erhält der Leser

18 So auch Hoffmann (wie Anm. 16). Vgl. Oelke (wie Anm. 1), 240. 19 Die Inschrift ist durch einen Fehldruck des Blattes nicht vollständig abgedruckt: „[…] lich kirch darin kein secten sein sollen / nach Christus lere, und Paulus predige / sondern sind alles eyns muts nach dem / klaren Gottis wort.“ 20 „Diss bedeut die pfordt Sathane, die vngerechten werden hynein gehen.“

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(oder Zuhörer, die Dialoge waren auch auf mündlichen Vortrag ausgerichtet) eine kurze Inhaltsangabe zum folgenden Gespräch sowie Anweisungen zur Rezeption: Die Flugschrift solle er nicht mit dem Verstand beurteilen wollen, sondern auf Grundlage der Bibel. Auf entsprechende Bibelstellen sollte im Anhang der Schrift verwiesen werden.21 Der zweite Teil der Schrift umfasst den Dialog zwischen dem Christen und dem Juden. Der Wirt und sein Hausknecht schalten sich zunächst noch nicht in das theologische Gespräch ein, hören aber zu. Nachdem der Jude das Wirtshaus verlassen hat, wird das Gespräch zwischen dem Christen und dem Wirt fortgeführt, in das am Ende auch der Hausknecht eingebunden wird. Als auch der Christ seine Reise nach Nürnberg fortgesetzt hat, entschließen sich Wirt und Hausknecht, das Gespräch in Druck zu geben. Im dritten und letzten Teil der Flugschrift wendet sich der Hausknecht, hinter dessen „exemplarische Person“ 22 der anonyme Autor zurücktritt, in direkter Rede an Leser oder Hörer. Der Christ wird in der Flugschrift am ausführlichsten vorgestellt. Er ist Doktor der Rechte, hat in Bologna studiert, wandte sich dann aber der Theologie zu, denn „der geyst Gottis hat yhne mehr gereytzt vnnd getrieben, die Biblien (…) zu lesen“.23 Er befindet sich auf einer Reise zum Reichstag nach Nürnberg 1524, um dort dem theologischen Disput beizuwohnen. Seine lutherische Gesinnung wird bereits in der Einführung deutlich hervorgehoben. Der Jude erscheint hier keineswegs als negativer Charakter. Der Text spiegelt Luthers anfänglich positiv versöhnliche Stellung zu den Juden wieder, deren Abwendung von Christus er wesentlich vom Papsttum mit verschuldet sah. Nach Heribert Smolinsky unterbreitete die Reformation den Juden „eine Art neues, jetzt reformatorisches Angebot christlicher Lehre und christlichen Lebens“.24 Die „Hoffnung auf Bekehrung“ durch das Eingeständnis der falschen Lehre, auch des falschen Bildgebrauchs unter dem Papsttum, dem eine strikte Argumentation auf Grundlage der Bibel entgegengesetzt wird, durchzieht so auch das Gespräch zwischen dem Christen und dem Juden. Der theologische Diskurs entwickelt sich aus der Alltagssituation. Dass der Wirt in der Fastenzeit zunächst nur kalte Erbsen und Brathering offeriert, führt zu einer Erläuterung über das von Luther verworfene Fastengebot und die Speisevorschriften der Juden. Daraus entsteht ein grundsätzlicher Disput über das Judentum, das den auf Christus weisenden alttestamentlichen Prophetien nicht folgen würde. Auch wenn am Ende der Jude nicht bekehrt wird, so wird dem Leser doch die Dominanz der Argumente des Christen verdeutlicht, denen der Jude hier meist nur zustimmen kann.

21 Dieser Anhang ist bei den Ausgaben der Flugschrift nicht vorhanden. 22 Kaufmann (wie Anm. 1), 202. 23 Die Zitate aus der Flugschrift hier und im Folgenden nach dem unpaginierten Druck von 1524. Benutzt wurde das Exemplar in Wolfenbüttel, HAB, 108.5 Quodl. 40(21). Digitalisat: http://diglib.hab.de/drucke/108-5-quod-21/start.htm (2. 5. 2011). 24 Smolinsky (wie Anm. 5), 283. Siehe auch: Haupt (wie Anm. 13), 378–382.

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Die beiden anderen Beteiligten des Dialogs, der Wirt und der Hausknecht, sind entgegen dem häufigen Schema der Reformationsdialoge nicht die Gesprächsführer, die ihren Glauben bekennen und andere bekehren. Sie werden im Verlauf des Gesprächs durch den Christen unterrichtet und von der lutherischen Lehre überzeugt. Sie sind aber auch nicht ungelehrt oder völlig unwissend in den theologischen Fragestellungen ihrer Zeit. Der Wirt erweist sich als gut unterrichtet über den Reichstag in Nürnberg, er hört Predigten, zitiert die Bibel und kann lesen. Es ist der Hausknecht, der das Gespräch mitschreibt und am Ende in Druck gibt. Letztlich sorgt also er für die Unterweisung der Leser.

Das Bild und seine Rolle im Dialog Der Jude bringt das von ihm erworbene Flugblatt ins Gespräch ein, als die Rede auf die angebrochenen neuen Zeiten kommt und die Frage gestellt wird, wie diese aussähen. Das Bild wird als visuelle Umsetzung dieser neuen Zeiten vorgelegt. Die entscheidende Frage formuliert der Jude: „Was bedeut die gestalt?“ Es folgt zunächst eine allgemeine Themenbestimmung durch den Christen: „Ich sehe wol was das ist, es ist vom Eckstein Christo, den die bawleut verworffenn.“ Der Wirt selbst hat derartiges noch nie gesehen, er ist auch im weiteren Verlauf des Gesprächs auf die Deutung des Christen angewiesen, doch kann er dessen Erklärungen zumindest mit von ihm gehörten Predigten verbinden: „Das hab ich auch wol zu Nurnberg hören predigen, und ist Christus Jesus der steyn, der gecreuziget von juden.“ Insbesondere der philologischen Forschung zur Flugschrift bedeutete das Bild einen für illiterati konzipierten Schriftersatz. Diese Erklärung ist hier schon deshalb problematisch, da nicht das Bild den Inhalt des Textes visualisiert, sondern der Text den Gehalt des Bildes verhandelt. Die Flugschrift wurde daher – vor allem durch die historische (kultur- und kunsthistorische) Forschung – als Interpretationsschrift des Flugblattes gesehen. Robert Scribner bewertete die Schrift als Beleg für das Problembewusstsein der Reformation über die Uneindeutigkeit des Mediums ‚Bild‘. Die Bilder, nach seinem Verständnis Informationsmedien für illiterati und semi literati, bedürften letztlich doch der Eindeutigkeit des Textes.25 Diese Sicht greift wohl zu kurz. Zur Deutung einiger Motive zieht tatsächlich die gesamte Forschungsliteratur die Flugschrift als Beleg heran. Den Reiter neben dem lutherischen Prediger erklärt die Schrift als apokalyptischen Reiter „Trew und Warheit“, der Vorbild für die Fürsten sein solle, das Evangelium in ihren Landen ans

25 Scribner (wie Anm. 11), 5–6. Auch Campbell (wie Anm. 9), 338–340, sieht den Text als Interpretation des Bildes, wobei für sie der Text ohne das Bild verständlich erscheint und mehr Informationen liefert, während das Bild nicht für sich stehen könnte, „denn das Bild allein bietet keine vollständige Erklärung“. Diese Sichtweise erscheint angesichts der umfangreichen Produktion illustrierter Flugblätter, die ohne Interpretationstext auskommen, unverständlich.

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Licht kommen zu lassen.26 Für die Anordnung von Daniel in der Löwengrube, Johannes Ev. und Paulus zur Linken Christi wird in der Flugschrift der Hinweis auf deren Ankündigungen des Antichrists gegeben.27 Doch daneben findet eine Reihe von Motiven des Flugblatts überhaupt keine Erwähnung im Dialog, etwa das Urelternpaar sowie Kain und Abel zu Füßen des Kreuzes, ebenso der siebenarmige Leuchter. Andere Bildmotive werden zwar kurz benannt, aber nicht weiter in den Gesamtkontext eingebunden. Der Jude hat das Blatt aus Neugierde erworben, kann es selbst aber nicht deuten. Im Gespräch ist es überwiegend der gelehrte Christ, der die Interpretation des Bildes übernimmt. Jude, Wirt und Hausknecht stellen vor allem Fragen über das Bild und einzelne Motive. Das Gespräch handelt nun jedoch nicht die einzelnen Bildmotive ab, sondern nutzt das Bild als Anlass und Anregung für die Ausführungen des Christen, die sich vom Bild lösen und weit darüber hinaus reichen. Das Bild und einzelne Motive darin können dabei als Stichwortgeber fungieren. So deutet der Christ die inneren Quadrate als „das Evangelion der vier Evangelistenn“ und schließt daran eine Erklärung über Gesetz und Gnade an: „Das Evangelium tzeyget ahnn durch das gesetz, das vnss viel gebotten ist durch Mossen das wyr haltenn sollen, nhu befindt sichs das keyner das geringst auß eygener krafft vermagk tzu volnbrengenn (…).“ Im Gespräch zwischen dem Christ und dem Juden dient das Flugblatt der Verständigung über die Situation des Judentums. Der Blick der beiden richtet sich in diesem Zusammenhang vor allem auf das Zentrum des Blattes und die Seite zur Linken des gekreuzigten Christus. Die Erläuterungen des Christen werden dabei nicht nur vom Bild angeregt, teilweise wird das Bild auch als Argument für eine These herangezogen, oder es dient der Veranschaulichung des Gesagten. Nachdem der Christ dem Judentum das Abweichen von der Heiligen Schrift vorgeworfen hat und sein Schicksal beschreibt, „verstrawt in alle landt“ und gefangen zu sein, „bisß so lange ein yder sich bekert zu dießen unßern Christo vnd ym gleubt vnd getauft

26 „HK. Was bedeut das weiß pferdt vnd der druf syczt vntter dem prediger zu der rechten handt, G. ich haldt es bedeut den mit dem weissen pferdt den Johannes yhn der heimlichen offenbarung am .19: Capittel, beschreibt, heist: Trew vnd Warheit, Aber bedeut ein yczlichen fromhen furstehenden hern dem das Ewangelium yhn sein stadt ader landt kompt vnd erh das auff nympt mit dancksagung gotis.“ Darauf Bezug nehmend Scribner (wie Anm. 11), 213; Oelke (wie Anm. 1), 236; Hoffmann (wie Anm. 16). 27 „Wy[rt]: (…) was bedeuten aber die sechs bildtenis vmb das quadrat. Gast Oben anzuheben vff der linkcken seyte, ist ein gestalt noch der lawen gruben Danielis der hat .14. capi: zeyget an den Antichrist am .9.10. vnd .11. cap. klaer, der den Christum verdunckeln würde, vnd sich an seyn stadt setzen wie dann erklert. Das ander bildt herunder bedeut Joann: den Euangelisten nach seynen dreyen Episteln darin er schreybt in der ersten Episteln des andern cap: vom Antichrist (…). Wyr[t]: Was bedeut dann der mit dem schwert. Gast. Bedeut den heyligen Paulum mit seinen Episteln der .13. sindt (…) sagt auch zu den Tessalo: in der andern Episteln des andern cap: vom widerchrist wie der die schrifft, verkert hat (…)“. Darauf in der Deutung des Flugblattes verweisend: Scribner (wie Anm. 11), 213.

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wird“, zeigt er dem Juden anhand des Bildes, dass sein Volk deshalb auf der linken Seite steht: „Darumb stehet ir gemalet mit den anderen, noch erklerung heiliger schriftt vff der lincken seyten, vnter der zall .5. vnd .3. die weyl yhe verstockt bleybt, Gott bekere euch.“ Das Bild schließt und krönt die Argumentation mit der Sichtbarmachung des Standortes der Juden im logisch aufgebauten Bildgefüge. Dem Bild wird Beweiskraft zugeschrieben, da es, wie schon im Titel der Flugschrift und ebenso häufig im Gespräch betont, nichts anderes als eine Verbildlichung der Heiligen Schrift darstelle. Aus der Verortung der Juden im Bild wird den Gesprächspartnern innerhalb und außerhalb des geschriebenen Textes auch das drohende Verhängnis des Volkes deutlich, der Himmel bleibt ihnen verschlossen und die Hölle steht für sie weit offen. Doch genau an dieser Stelle wird das Bild auch manipulativ eingesetzt, denn auf dem Bild in der Menge zur Linken Christi kann der Jude ebenso wenig wie der Rezipient außerhalb des Textes Juden erkennen. So wendet der Jude – durchaus zu Recht – ein: „Ich hab lange die rodt des hauffens angesehenn so sehe ich doch nuhr ewer Bepst, Bischof, pfaffen, Mönich, der secten in yrer kleydung, wo sindt die auf vnnser seyten do yhr von redet mit yrem gebot zetteln.“ Der Christ entgegnet dem „Ey sie stehen do hynden“ (was wohl meint, dass sie hinter den Dargestellten stünden) und setzt darauf zu einer Erklärung an, dass die Juden die „ersten gewest die Christum verhönet verspot vnd veracht vnd vmbgebracht (…)“ hätten, und die Vertreter der Papstkirche die letzten Verfolger Christi wären. Diese „stehen vorn vnd der hymel ist vber yhne zu geschlossen und die hell offen“. Genaugenommen verortet der auslegende Christ, nicht das Bild, die Juden zur Linken Christi, damit wird das Bild Mittel zum Zweck. Es wird nicht interpretiert, sondern dient als Argument für eine These, die an es herangetragen wird, die es selbst jedoch nicht thematisiert. Im ersten Gesprächsteil zwischen den theologisch Versierten, dem Christen und Nicht-Christen, geht es somit nicht um eine Interpretation des Bildes, sondern um seine Funktion innerhalb des Disputs. Das Bild ist Gegenstand dieses Streitgesprächs, aber es wird nicht ausgelegt, sondern eher assoziativ als Fundus von Bildzitaten genutzt, die ähnlich wie Bibelzitate Argumente veranschaulichen und Thesen belegen können, die selbst nicht aus dem Bildzusammenhang, sondern unabhängig davon entwickelt werden. Im Gespräch zwischen dem gelehrten, lutherisch gesinnten Christen, dem Wirt und dem Hausknecht, die zwar über Schreib- und Lesefähigkeit verfügen, aber weit weniger theologisch beschlagen sind, werden weitere und andere Rezeptionsweisen des Bildes exemplifiziert. Auch hier bestimmen die Situation und die spezifischen Erfahrungshintergründe der Gesprächspartner das Geschehen. Der Wirt, der bereits verschiedene Prediger gehört hat und die beiden Prediger zur Rechten und Linken Christi im Bild erblickt, möchte erfahren, wie er die wahren und die falschen Prediger unterscheiden könne. Der für die Versorgung der Reitpferde zuständige Hausknecht sieht auf dem Bild einen Reiter und fragt nach dessen Bedeutung. Das Bild ist zwischen diesen Gesprächspartnern weniger Teil eines theologischen Diskurses,

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der bereits im Gange ist, sondern es weckt Interesse und regt das Gespräch an. Es gibt dem theologisch Unerfahrenen Anknüpfungspunkte zu seiner Alltagswelt und zeigt ihm auf diese Weise, dass die aktuellen theologischen Auseinandersetzungen auch Teil seines Lebens sind, dass auch er davon betroffen ist und dass er Stellung beziehen und kritische Urteilsfähigkeit erlangen muss, um nicht auf den falschen Weg geführt zu werden. Das Bild ist so Teil eines umfänglichen Lernprozesses und kann dabei auch konkret zur Memorierhilfe neu erworbenen Wissens werden. So fragt der Wirt nach den Büchern der Bibel, die ihm der Christ der Reihe nach aufzählt, dabei aber immer wieder auf die Darstellung der Autoren im Bild verweist: „Wyrdt: ich hab die Bibel offt hören nennen, was ists doch vor ein dingk. (…) gebet mir die bücher noch ein ander vertzeychent, das ich sie wiß zu nennen. Gast Do habt yhr sie vnd heyssen alßo wie dann das eusserst quadrat vmb die Figur Christi außweyßet, als verstehe ich, das, erst Mose vff der ersten ecken werden zu geeygent, sein funff bücher (…). zu dem andern mal werden vnter ym bedeut Samuel . 1. Regum .1. und .2. Der könige .1. Regum .3. vnd .4. (…), Summa .14. bücher. 2 Hiob vff der ander ecken mit seynem buch. 3 David auff der dritt ecken, mit seynem Psalter, vnter ym werden noch volgent bedeut Sprüch Salomonis, Prouerbi: Prediger Salomonis, Ecclesiastes, Hohelied Salomonis Canticum canticorum. Summa vier bücher. 4 Jsaia auff der vierden ecken bedeutt halt ich vnther yhme Jheremia, Eseckiel, die großen propheten, vnnd die andern .12. kleyne (…) Summa .15. bücher. (…) also habt ihr die bücher des alten testaments.“ So wird am Flugblatt auch die mnemotechnische Funktion vorgeführt, die das Bild aus dem funktionalen Kontext von Andacht und Memoria herauslöst: Die Informationen, die Reihe und Abfolge der biblischen Bücher, mit dem klar geometrisch strukturierten Bild zu verknüpfen, verankert sie leichter im Gedächtnis und lässt sie mit Hilfe des Bildes in Erinnerung rufen.28 Das „Gesprech (..) zwischen eynem Christen und Juden, auch eynem Wyrthe sampt seinem Hausknecht“ gibt wie die Gattung der Reformationsdialoge generell ein Muster eines theologischen Disputs, das insbesondere an Rezipienten gerichtet ist, die in solch gelehrte Gespräche bislang nicht verwickelt waren. Auch die Einbeziehung des illustrierten Flugblatts ist in diesem Sinne als Unterweisung zu verstehen: Der Dialog wird genutzt, um Möglichkeiten der Bildrezeption im theologischen Streit- oder Lehrgespräch vorzuführen. Die Schrift verteidigt einerseits das Bild gegen den Juden und verweist dabei auf den göttlichen Befehl zur Errichtung der Eher-

28 Aus der umfangreichen Literatur zur Ars memorativa und zur mnemotechnischen Funktion des Bildes sei hier insbesondere hingewiesen auf eine Untersuchung speziell zum reformatorischen Kontext: Berns, Jörg Jochen: Umrüstung der Mnemotechnik im Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfindung. In: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Hg. v. dems. und Wolfgang Neuber. Tübingen 1993, 35–72. Wobei Berns eine Abwendung der Reformation von einer bildgestützten Ars memorativa zu einer „auf das Wort verpflichteten“ konstatiert, wobei „das Wort innere Bilder evoziert und mobilisiert“ (60). Dass dies offenbar nicht uneingeschränkt gelten kann, zeigen das Flugblatt und das Gespräch der Flugschrift.

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nen Schlange. Sie verwirft andererseits die Bildpraxis der Papstkirche als heidnische Abgötterei und setzt dem ein Exempel des richtigen Bildgebrauchs entgegen. Der Dialog behandelt das Bildmedium keineswegs als die Schrift der Ungelehrten oder illiterati. Die Textgattung, die die Vorstellung des ungebildeten, derben Handwerkers oder Bauern aufbrechen will, gesteht auch hier dem Wirt und dem Hausknecht unerwartete Fähigkeiten im Lesen und Schreiben zu, sie benötigen keinen Ersatz zum Text. Für das Verständnis des Bildes und seinen rechten Gebrauch sind dagegen andere Kompetenzen notwendig. So wird der Bildgebrauch vom gelehrten Christen vorgeführt. Deutung und Umgang mit dem Bild bedürfen theologischen Wissens. Insbesondere das Studium der Schrift ist Voraussetzung für eine kompetente Rezeption des Bildes, deshalb wird auch der Leser aufgefordert, das Gespräch mit Hilfe der Bibel kritisch zu überprüfen: „(…) als lese du das best hieraus, vnd lese yhm nach der genanthen schrift nach, vnd las wo dich solch geschwetz torlich dunckt fahren (...).“ Auch versteht sich der Text nicht als Interpretation eines uneindeutigen Mediums. Vielmehr zeigen die vorgeführten Möglichkeiten der Bildrezeption, dass dieses für viele Anknüpfungspunkte des Diskurses offen ist. So ist der assoziative Umgang mit dem Bild erwünscht, der Überlegungen anstößt und das Gespräch weit über das Dargestellte hinausführt. Das Bild erhebt nicht den Anspruch auf eine in ihm verborgene Wahrheit, die vom Rezipienten offenzulegen ist. Prüfstein ist nicht, ob das Bild diese Aussage auch wirklich intendiert, sondern ob die am Bild entwickelten Überlegungen der Hl. Schrift entsprechen. Die Flugschrift als Massenmedium, deren in der Anonymität verbleibender Verfasser auf eine selbstbezogene Individualisierung verzichtet,29 gibt damit der Leserschaft eine grundlegende und über das spezielle Flugblatt hinausweisende Anweisung zur individuellen situativen Rezeption des Mediums Bild. Die gedruckte Dialogschrift will sich und das besprochene illustrierte Flugblatt – exemplarisch über sich selbst hinausweisend – nicht als Informationen vereinheitlichende Medien verstanden sehen. Stattdessen eröffnet sie eine Vielfalt von Deutungsansätzen und Rezeptionsformen, die den individuellen Gesprächssituationen unterschiedlicher Gesprächspartner Raum bietet. Die neuen Massenmedien zeigen selbstreferentiell auf, dass selbst der theologisch Ungebildete in den Glaubensdisput eintreten kann. Wortführer des Disputs bleibt in der vorgestellten Dialogschrift zwar der gelehrte lutherische Christ; er gibt die theologischen Argumente vor, doch der Ungebildete hat bedeutenden Anteil an ihrer Verbreitung. Denn folgt man den Angaben der Schrift über ihre Entstehung, dann übernimmt der ungebildete Hausknecht die Rolle des Autors, der literarisch festhält, was mündlich geäußert wurde. Er präsentiert dem Leser im letzten Abschnitt des Textes in direkter Anrede sein aus dem Dialog erworbenes, theologisch fundiertes Wissen, das er als Gesprächsstoff für weitere Diskurse in Umlauf bringt.

29 Vgl. dazu Kaufmann (wie Anm. 1), 198 f.

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Aneignung der Bibel über Bilder Die Haus- und Familienbibeln des Nürnberger Patriziers Martin Pfinzing und des Hallenser Seidenstickers Hans Plock Die Reformation reinstallierte die Bibel als Zentrum des Glaubens und öffnete u. a. durch Lehren wie diejenige von der ‚Selbstauslegung der Schrift‘1 und den unmittelbaren Zugang zu Gott im Zusammenhang mit dem ‚Priestertum aller Gläubigen‘ den Zugang zur Heiligen Schrift für Laien in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Gerade für den Bereich der häuslichen und persönlichen Frömmigkeit ist jedoch wenig untersucht, welches Spektrum an tatsächlichen Frömmigkeitspraktiken und Aneignungsformen sich damit verband. Wichtige Quellen sind hier Haus- oder Familienbibeln, die vornehmlich im lutherischen Bereich zahlreich entstanden.2 Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen zwei – auch kunsthistorisch betrachtet – besonders herausragende Exemplare der Gattung: die Bibel des Hallenser Seidenstickers Hans Plock sowie die Familienbibel der Nürnberger Patrizierfamilie Pfinzing. Beide beruhen auf Drucken der Lutherbibel und erfuhren jeweils durch ihre Besitzer eine umfangreiche Bearbeitung und Nachausstattung, aus deren komplexem Programm im Folgenden zwei Themenstränge herausgegriffen werden sollen, die die Bibeln jeweils exemplarisch vertreten und die die im vorliegenden Band thematisierten Frömmigkeitsbereiche des Häuslich-Familiären und des PersönlichInnerlichen abschreiten.3

1 Siehe Harasimowicz, Jan: „Scriptura sui ipsius interpres“. Protestantische Bild-Wort-Sprache des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG Symposion 1988. Hg. v. Wolfgang Harms. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 11), 262–282, 314–318. 2 Zu den „Leserspuren“ bzw. den vielfältigen Formen von textlichen und bildlichen Einfügungen in Bibeldrucken nach der Reformation siehe einführend Reinitzer, Heimo: Leserspuren in Bibeln. In: Wolfenbütteler Beiträge 13 (2005), 149–251; Rublack, Ulinka: Grapho-Relics: Lutheranism and the Materialization of the Word. In: Past and Present (2010) 2006, Suppl. 5, 144–166. – Zu einem prominenten Einzelbeispiel siehe auch Schauerte, Thomas: Die Luther-Bibel des Hans Ulrich Krafft. Ein Fund von Autographen Luthers, Melanchthons, Cranachs und Dürers in der Herzog August Bibliothek und ihre illustre Provenienz. In: Wolfenbütteler Beiträge 13 (2005), 255–308. 3 Siehe zu einer ausführlichen Analyse der Pfinzingbibel: Deiters, Maria: Die Familie in der Bibel: Lutherische Bibelrezeption und Bildpraxis am Beispiel der Bibel der Nürnberger Patrizierfamilie Pfinzing. In: Bild und Konfession im östlichen Mitteleuropa. Hg. v. ders. und Evelin Wetter. Ostfildern 2013 (Studia Jagellonica Lipsiensia 11), 283–402. – Anders als die Pfinzingbibel wurde die Plockbibel u. a. wegen der Prominenz der in sie eingefügten Grafiken von Grünewald ausführlicher behandelt und publiziert. Siehe besonders: Ausst.-Kat. Das Rätsel Grünewald. Hg. v. Rainhard Riepertinger u. a. Augsburg 2002 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 45/02), 251–266; Vom Kardinalsornat zur Luther-Bibel. Kunst und Leben des Seidenstickers Hans Plock im Spannungsfeld der Reformation. Ausst. Berlin 2005. Hg. v. der Stiftung Stadtmuseum Berlin. Berlin 2005; Deiters, Maria: Bible, Image, Artist – The Bible of Hans Plock. In: „Wading Lambs and Swimming https://doi.org/10.1515/9783050051659-004

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Dabei soll die Rolle der Bilder bei der Aneignung der Bibel untersucht werden – in der Erwartung, dass die Analyse individuell und gezielt gestalteter Programme mehr über die tatsächliche Bildpraxis aussagt als die bildertheologische Literatur der Zeit.

Heilige Familie – Die Pfinzingbibel Die Pfinzingbibel wurde in den Jahren 1568–1571 durch den Nürnberger Patrizier Martin II. Pfinzing angelegt.4 Die Familie Pfinzing gehört zu den ältesten der Nürnberger Patrizierfamilien. Martin II. war Mitglied des Rats, seit 1566 gehörte er dem Kollegium der sog. ‚Alten Bürgermeister‘ an. Basis des zweibändigen Werks ist eine im Verlag Sigmund Feyerabends in Frankfurt a. M. 1561 im stattlichen Folioformat gedruckte Lutherbibel, die durch ein umfangreiches zusätzliches Text- und Bildprogramm – u. a. an prominente Stelle gesetzte Druckgrafiken von Albrecht Dürer (Abb. 7, 10) – erweitert und durch eine auch materiell aufwendige, qualitätvolle Kolorierung in einen Prachtkodex verwandelt wurde. An das Ende des ersten Bandes mit dem Alten Testament wurde ein Familienbuch der Pfinzing mit einer Porträtfolge gebunden. Die zwei Bestandteile der Pfinzingbibel – Bibeldruck und Familienbuch – gehen eine Fusion ein, die vielfältige Aussagen über die religiöse Konzeption von Familie und die Ausgestaltung familiärer Frömmigkeit im Luthertum zulässt. Sehr aussagekräftig ist hier bereits die spezifische Ausgestaltung des Bibelteils: Der Druck der Feyerabend-Bibel hatte bereits durch den Nürnberger Künstler Virgil Solis entworfene Illustrationen besessen. Martin Pfinzing ließ diese jedoch noch erheblich durch Holzschnitte desselben Künstlers und Jost Ammans ergänzen. Diese wurden, paarweise aufgeklebt, auf zusätzliche Seiten in den Bibeldruck eingebunden. Auf der Rückseite der eingefügten Blätter erläutern gereimte Kommentare die Bilder bzw. die von diesen illustrierten Bibelstellen. Die Kommentare verdeutlichen den Inhalt des Bibeltextes auf mehreren Ebenen, etwa indem sie ihn pointierend nacherzählen oder auf theologische Ausdeutungen hinweisen. Sehr häufig haben sie einen moralisch-anleitenden Charakter. Besonders dicht ist das Nachillustrationsprogramm in den – vorher entsprechend dem Schema der Wittenberger Luther-

Elephants“. The Bible for the Laity and the Theologians in Late Medieval and Early Modern Era. Hg. v. August den Hollander u. Wim François. Leuven 2012 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovanensium 257), 153–179. – Aber auch sie harrt noch einer eingehenden Gesamtanalyse. 4 Die Bibel wird heute im Privatarchiv der Familie Haller von Hallerstein in Großgründlach aufbewahrt. Ich danke Bertold Freiherrn Haller von Hallerstein für die vielfältige praktische und wissenschaftliche Unterstützung bei der Untersuchung der Pfinzingbibel. Diese erfolgte im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Projekts „Bild und Konfession“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig.

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Abb. 1: Bild-Text-Sequenz zu Mt. 7 und 8, Gleichnis von den guten und den schlechten Früchten und Heilung des Aussätzigen, Doppelseite mit eingefügten Holzschnitten von Virgil Solis, Pfinzingbibel, Bd. 2, fol. 246v und folgendes Blatt. Großgründlach, Hallersches Archiv, Pfinzing-Archiv.

bibeldrucke kaum bebildert gewesenen – Evangelien (Abb. 1, 2).5 Jede zweite Seite ist hier durch ein Bildpaar ergänzt, dessen Unterschriften sich auf die Perikopen des Kirchenjahres beziehen. Die zugehörigen Textstellen im Bibeldruck wurden mit Goldfarbe markiert. Diese Struktur mit der Ordnung nach den Perikopen, der Dreiteilung in Bibelstelle, Illustration und vertiefenden Kommentar stellt den Bibelteil der Pfinzingbibel in einen Gattungszusammenhang mit den nach der Reformation im lutherischen Bereich außerordentlich verbreiteten bibelvermittelnden, hauskatechetischen Literaturen wie den Postillen und Summarien. Ein prominentes Beispiel

5 Siehe zum Illustrationsschema der Lutherbibeln, in denen neben dem Alten Testament vorrangig die Offenbarung des Johannes illustriert war, Martin, Peter: Martin Luther und die Bilder zur Apokalypse. Die Ikonographie der Illustrationen zur Offenbarung des Johannes in der Lutherbibel 1522 bis 1546. Hamburg 1983 (Vestigia Bibliae 5), bes. 93–114. – Zu den Feyerabendschen Bibeldrucken siehe Oertel, Hermann: Die Frankfurter Feyerabend-Bibeln und die Nürnberger Endter-Bibeln. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 70 (1983), 75–114. – Der von Martin Pfinzing nachausgestattete Bibeldruck ist die 1561 im Verlagshaus Zephelius, Rasch & Feyerabend in Frankfurt / Main erschienene Vollbibel Luthers. – Zur Nachillustration des Bibelteils wurden ebenfalls im Auftrag Sigmund Feyerabends entstandene Holzschnittserien von Jost Amman (nach Entwürfen von Johann Bocksberger d. J.) zum Alten Testament und von Virgil Solis zum neuen Testament verwendet, die dieser in anderen Ausgaben der Lutherbibeln nutzte bzw. als Bilderbibeln verbreitete.

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Abb. 2: Bild-Text-Sequenz zu Mt. 7 und 8, Doppelseite mit eingefügten Kommentaren, Pfinzingbibel, Bd. 2, fol. 247r und vorangehendes Blatt.

sind die „Summaria christlicher Lehr“ des Luthervertrauten und späteren Pfarrers an St. Sebald in Nürnberg Veit Dietrich, die 1546 erstmals in dem Nürnberger Verlag Johann vom Berg und Ulrich Neuber erschienen und große Verbreitung erfuhren.6 Dies gibt uns Auskunft über einen Funktionszusammenhang der Pfinzingbibel, denn Veit Dietrich gibt im Nachwort der „Summaria christlicher Lehr“, die aus seinem Pfarrhaushalt heraus entstanden und die dort geübte familiäre Frömmigkeitspraxis als exemplarisch vermitteln, eine Anleitung zur Verwendung seines Werks. Dieses sollte als Vorlage für die häusliche, durch den Hausvater geleitete Andacht und Katechese ebenso dienen7 wie für die persönliche Vertiefung, etwa durch die Kinder.8

6 Die „Summaria Christlicher lehr f[ue]r das junge volck / Was auß eim yeden So[nn]tags Euangelio zu mercken sey […]“ sind eines von zwei einflussreichen Summarien-Werken, die Veit Dietrich verfasste. Siehe zu seinem zweiten wichtigen Werk, den 1541/44 im selben Verlag erschienenen „Summaria uber die gantze Bibel, das Alte und Newe Testament: Darinn auffs kürtzte angezeigt wirdt, was am nötigsten und nützten ist, dem jungen volck und gemeinen Mann [...]“, Kolb, Robert: The Summaria of Veit Dietrich as an Aid for teaching the Faith. In: Archiv für Reformationsgeschichte 99 (2008), 97–119. – Abb. siehe Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 306 f., 310. 7 So soll der Hausvater am Sonntag den jeweiligen Bibelspruch rezitieren, in der folgenden Andacht die Auslegung vorlesen und schließlich gemeinsam mit der Familie beten, Kapitel „An den christlichen Leser“, in der Erstausgabe unpaginiert. 8 Dass eine solche persönliche Aneignung des Werks tatsächlich stattgefunden hat, zeigt z. B. ein Exemplar in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, dessen Holzschnitte von Kinderhand aus-

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Die hauskatechetische Ausrichtung der Pfinzingbibel erhält weitere Dimensionen durch die Zusammenfügung mit dem Familienbuch. Als Medien der familiären Memoria und ständischen Repräsentation erlebten Familienbücher seit dem späten Mittelalter und besonders im 16. Jahrhundert eine große Blüte im stadtbürgerlichpatrizischen Milieu.9 Sie hatten ihre Wurzeln ebenso in der pragmatischen Schriftlichkeit kaufmännischer Haushalte wie in der adligen Chronistik und brachten vielfältige Formen hervor – vereinheitlicht vor allem durch die Kernbestandteile Genealogie, Familiengeschichte und die Absicht „traditionaler Sinnstiftung, sozialer Statuslegitimierung [...] und allgemein ethischer Didaktik“.10 Nürnberg gehörte zu den Städten mit einer besonders reichen Kultur der Familienbücher, die eine zentrale Rolle in der Repräsentations- und Distinktionskultur der patrizischen Ratsfamilien spielten.11 Im Pfinzingschen Familienbuch folgen auf eine ausführliche Vorrede und einen chronikalischen Teil, der die Geschichte der Pfinzing mit der Nürnberger Geschichte verknüpft und den Adelsstatus des Geschlechts begründet, genealogisch orientierte Teile, zu denen auch eine Reihe von ganzfigurigen Porträts gehört, ausgeführt und signiert von Jost Amman und dem bedeutenden Nürnberger Illuministen Georg Mack d. Ä. Den Auftakt der Porträtreihe bilden Martin II. Pfinzing und seine Frau Katharina Scherl (Abb. 3). Es folgen jeweils paarweise einander zugeordnet die Porträts der Pfinzing-Ahnen bis zum ersten damals bekannten Träger dieses Namens sowie die Eltern und Großeltern der Katharina Scherl. Die Paare erscheinen einander zugewandt, nahezu seitenfüllend auf angedeuteten Wiesengründen, näher bestimmt durch kleine Wappenschilder und Namensnennungen.12 Auffallend ist die Pracht

gemalt worden sind: Ausgabe von 1546, Nürnberg: Johann vom Berg und Ulrich Neuber; HAB Wolfenbüttel, H: C 566.8º Helmst. (1). 9 Siehe zu einem Überblick über die Forschung: Bürgermacht & Bücherpracht. Augsburger Ehrenund Familienbücher der Renaissance. Ausst. Augsburg 2011. Hg. v. Christoph Emmendörfer und Helmut Zäh. Luzern 2011; Bock, Hartmut: Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance – Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat. Frankfurt / Main 2001 (Schriften des Historischen Museums Frankfurt am Main 22); Rohmann, Gregor: ‚Eines Erbaren raths gehorsamer amptman‘. Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts. Diss. Göttingen 2000. Augsburg 2001 (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 28); Studt, Birgit (Hg.): Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Köln 2007 (Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Reihe A, 69). 10 Studt (wie Anm. 9), Einleitungstext, XIII. 11 Einen Überblick über die Nürnberger Geschlechterbücher gibt Haller von, Helmut Freiherr: Nürnberger Geschlechterbücher. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 65 (1978), 212–235. – Zum Großen Tucher-Buch als einem der bedeutendsten Werke der Gattung in Nürnberg jüngst Kuhn, Christian: Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert. Göttingen 2010 (Formen der Erinnerung 45). 12 Ausführlichere biographische Angaben enthält ein der Porträtfolge vorgeschalteter Textteil.

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Abb. 3: Jost Amman / Georg Mack d. Ä.: Martin II. Pfinzing und Katharina Scherl, kolorierte Zeichnung, um 1568, Pfinzingbibel, Bd. 1, Geschlechterbuchteil, Ahnenfolge, fol. 26r.

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der Kleidung, die Sorgfalt in der Ausgestaltung der Details, die stoffliche Ästhetik ebenso zum Ziel hat wie die minutiöse Wiedergabe von Standeskennzeichen wie Pelzen, Ketten und Diademen. Viele der Trachten lassen sich mit bestimmten Lebenssituationen und Anlässen der patrizischen Festkultur in Verbindung bringen,13 etwa Hochzeiten (Abb. 4) oder dem ratsfähigen Familien vorbehaltenen ‚Tanz auf dem Rathaus‘.14 In Jagdkleidung gewandete Paare spielen auf das adlige Privileg der Hochwildjagd an (Abb. 5). Das damit verbundene Motiv der ‚Falkenreichung‘ gehört zu den zahlreichen Minnemotiven, die den Zyklus durchziehen. Exotisierend wilde Zaddeltrachten und ritterliche Rüstungen, in die die älteren Ahnen gekleidet sind, historisieren die Ahnenfolge und betonen den adligen Ursprung und die Anciennität des Geschlechts (Abb. 6).15 Auf den ersten Blick vermitteln die Familienbildnisse also ein genealogisch und ständisch-repräsentativ geprägtes Programm. Doch verknüpft sich dieses vielfältig mit der Bibel.16 Diese Verknüpfung stellt sich bereits her mit der programmatischen Gegenüberstellung des in den Innendeckel des ersten Bandes der Pfinzingbibel geklebten Sündenfallholzschnitts Albrecht Dürers (Abb. 7) mit den Porträts am Ende desselben. Dabei ist die Korrespondenz zwischen den in ganzer Figur wiedergegebenen Mitgliedern der Pfinzingschen Familie und dem Dürerstich, der die Körper Adams und Evas ebenfalls mit nur relativ wenig erzählerischem Umfeld exemplarisch in den Vordergrund rückt, sicher kein Zufall.17 Geistiger Hintergrund ist hier die lutherische Ökonomielehre, die das verheiratete Paar – mit Bezug auf die biblischen Ureltern – als Keimzelle der christlichen Gesellschaftsordnung definierte. Anschaulich begründet Justus Menius in seiner einflussreichen, von Luther mit einem Vorwort versehenen „Oeconomia christiana“

13 Die Zuordnung vieler der Trachten wird ermöglicht durch den Umstand, dass Jost Amman mehrere der Zeichnungen aus der Pfinzingfolge als Vorlagen für seine Holzschnitte im sog. Trachtenbuch des Hans Weigel (1577) benutzte, siehe Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 330–332. – Der Porträtzyklus in der Pfinzingbibel steht damit im selben enzyklopädischen, ein geographischständisches Ordnungsmodell aufbauenden Zusammenhang. 14 Siehe zum ‚Tanz auf dem Rathaus‘ Fleischmann, Peter: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Bd. 1–3. Nürnberg 2008 (Nürnberger Forschungen 31, 1–3) – Viele der Paare in der Ahnenreihe erscheinen in der typischen Bewegung des Schreittanzes, einige tragen die für den Tanz auf dem Rathaus vorgeschriebenen Trachten. 15 Zum Rückgriff auf Zaddeltrachten als Symbole ritterlich-höfischer Vergangenheit im 16. Jh. siehe Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 333 f. – Siehe ebd., 330, auch zur Vorrede Martin Pfinzings, die den historisierenden Aufbau der Ahnenfolge unterstreicht. 16 Auch die Historisierung der Ahnenreihe enthält einen religiösen Subtext, denn sie kann als Hinweis auf die conditio humana als Unterworfensein der Menschheit unter die Zeitlichkeit seit der Vertreibung aus dem Paradies gedeutet werden. 17 Es ist dabei eine im Vergleich mit den Porträtreihen anderer Familienbücher bemerkenswerte formale Entscheidung, die Figuren in ganzer Größe, freigestellt und mit unauffälligen kleinen Wappen wiederzugeben, s. dazu etwa das ungefähr gleichzeitige Buch Hans I. Rieter, in dem die Porträts als relativ kleine Halbfiguren aus Wappen und Stammbaumranken ‚herauswachsen‘, Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 338–341, mit. Abb.

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Abb. 4: Jost Amman / Georg Mack d. Ä.: Paulus Grundherr und Katharina Stromer in Nürnberger Hochzeitstracht, Pfinzingbibel, Ahnenfolge, fol. 32v.

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Abb. 5: Jost Amman / Georg Mack d. Ä.: Seitz Pfinzing mit Clara Schürstab und Peter Mendel mit Anna Stromer mit Jagdkleidung und -attributen, Pfinzingbibel, Ahnenfolge, fol. 35v-35r.

Abb. 6: Jost Amman / Georg Mack d. Ä.: Friedrich Pfinzing mit Gattin aus der Familie Geuschmidt und Burckart Löffelholz mit Anna Münzmeister, Pfinzingbibel, Ahnenfolge, fol. 44v-45r.

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Abb. 7: Albrecht Dürer: Adam und Eva, Kupferstich, 1504, koloriert und in den Innendeckel von Bd. 1 der Pfinzingbibel geklebt.

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die Vorbildfunktion von Adam und Eva für jede Familie aus der Schöpfungsgeschichte heraus (Gen. 1, 26): „Gott schuf den menschen ihm zum bilde [...] und er schuff sie ein mennlin und frewlin. etc. Unnd Gott segnete sie / und sprach zu inen: Seid fruchtbar und mehret euch / und füllet die erden“.18 Die unter Bezugnahme auf die biblischen Voreltern positiv gedeutete eheliche Liebe kann damit – gekleidet in das Gewand der höfischen Minne – geradezu als eines der Hauptmotive der Porträtfolge in der Pfinzingbibel gelten. Die Gegenüberstellung mit dem Sündenfall verdeutlicht aber auch den religiösen Subtext weiterer Elemente der gemalten Ahnenreihe. So ist deren kostümliche Historisierung ein Hinweis auf die conditio humana als Unterworfensein der Menschheit unter die Zeitlichkeit seit der Vertreibung aus dem Paradies.19 Die Porträts der Pfinzing erlangen durch die Ganzfigurigkeit und die Freistellung auf dem Blatt eine große körperliche Präsenz. Der Gedanke des Eingebundenseins der Familie in die Heilsgeschichte und in das Bibelbuch wird so beim Durchblättern des Buches mit bemerkenswerter optisch und auch haptisch erzeugter Assoziationskraft deutlich. Die Textteile des Familienbuches gestalten dies inhaltlich weiter aus. So ist der Vorrede ein Katalog von zehn Geboten vorgeschaltet, der mit zahlreichen Anleihen aus der lutherischen Ökonomieliteratur und Bibelstellenverweisen eine Anleitung für ein an der Bibel ausgerichtetes familiäres Leben enthält.20 In dem unmittelbar darauf folgenden Abschnitt wird den Kindern und Nachfahren der Pfinzing auch die auf die irdischen Dinge wirkende Gnade Gottes verheißen, wenn sie sich christlich-sittlich verhalten und die gegebenen „vatterliche warnungen recht behertzigen“.21 In dieser auf biblischer Grundlage formulierten sittlich-religiösen Anleitung seiner Familie agiert Martin Pfinzing als das Ideal des lutherischen Familienvaters. Dabei weist schon die Zehnzahl der Gebote auf die das Gedankengebäude der oeconomia christiana stützende Analogie zwischen Gottvater und Hausvater hin.22 Die Einbettung dieser Gedanken in den Zusammenhang des Geschlechterbuches der

18 Menius, Justus: An die hochgeborne Furstin, fraw Sibilla Hertzogin zu Sachsen, Oeconomia Christiana, das ist von Christlicher haushaltung. Mit einer schönen Vorrhede D. Martini Luther. Wittenberg: Hans Lufft, 1529. Kap. IV, unpaginiert. 19 Dies wird gestützt durch die Tatsache, dass in den Porträtzyklus eine Altersstufenfolge eingeflochten ist, siehe Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 328–347. 20 Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 325–328. 21 Pfinzing-Bibel, Geschlechterbuch, fol. 6v. 22 Frühsorge, Gotthardt: Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen ‚oeconomia christiana‘. Zur Rolle des Vaters in der ‚Hausväterliteratur‘ des 16. bis 18. Jahrhunderts in Deutschland. In: Das Vaterbild im Abendland. Hg. v. Hubertus Tellenbach, Bd. I. Berlin / Köln / Mainz 1978, 110–123, hier 116. – Kataloge mit ethischen Anleitungen, die bereits in ihrer Zehnzahl als Paraphrasen des Dekalogs gekennzeichnet werden, enthalten auch andere Familienbücher. – Siehe z. B. Kuhn (wie Anm. 11), 310–321 zum Scheurl-Buch und dem Großen Tucher-Buch.

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Pfinzing gibt der Sorge des pater familias für sein Haus jedoch noch weitere Dimensionen. Denn die christliche Ökonomie richtete sich an die gegenwärtige familia im oben geschilderten Sinne. Das Familienbuch erfasste dagegen den gesamten dynastischen Familienverband, das ‚Haus‘ des Pfinzingschen stammens.23 Es enthält die dynastische Generationenfolge der Vorfahren, die die gegenwärtige Familie in ihrem adligen Anspruch legitimiert. Gleichzeitig bezieht sich auch der erzieherische, sittlich konstituierende Anspruch des Werkes nicht allein auf die im Haus lebenden Kinder, sondern auf die kommenden Generationen des Geschlechts, dessen Weiterbestehen sie wesentlich mit sichern soll. Diese ethisch getragene Zukunftssicherung war durch den Hausvater zu leisten.24 Dessen zentraler, alles verbindender Rolle entspricht die Wiedergabe Martin II. Pfinzings in der Porträtreihe (vgl. Abb. 3). Sein geradezu übergroßer Kopf kennzeichnet ihn bildhaft als ‚Haupt‘ der Familie. Der von Händen und leicht geöffnetem Mund vollführte Redegestus, mit dem er als einziger in dem Porträtzyklus auf den Betrachter zutritt, stellt ihn als Autor des Familienbuches bzw. des Gesamtwerks vor und nimmt gleichzeitig auf den Familienvater als viva lex familiae und als ‚Hausprediger‘ Bezug.25 In seiner Person fließen entsprechend dem Gedankengebäude der lutherischen oeconomia christiana alle Aufgaben zusammen, die sich auch in den einzelnen inhaltlich verknüpften Bestandteilen und Funktionsbereichen der Pfinzingbibel – Bibelteil und Familienbuch – widerspiegeln: auf der Bibel beruhende hausgottesdienstliche Frömmigkeitspraxis und gottgemäße tägliche Lebensführung ebenso wie die genealogische Dokumentation, ständisch-ethische Konstituierung und Sicherung des Geschlechts. Dass die Zukunftssicherung dabei sehr wesentlich auch auf das jenseitige Heil ausgerichtet war, wird nicht zuletzt in dem komplexen Programm des großen

23 Siehe zum Geltungsbereich des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Begriffes des ‚Hauses‘ für 1. das Gebäude im materiellen Sinn, 2. die in diesem lebenden Menschen, 3. Besitz, Vermögen usw. sowie 4. bezogen auf die adlige Familie, „die durch ihre gemeinsamen Vorfahren definiert wird, also ein ‚Geschlecht‘ bildet“, Oexle, Otto Gerhard: Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. In: Europäischer Adel 1750–1950. Hg. v. Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1990 (Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, Sonderheft 13), 19–56, hier 27 f. 24 Die diesbezügliche Verbindung von Ökonomik und Familienbuchschreibung zu untersuchen, wird von Studt (wie Anm. 9), XI, als Desiderat angemahnt. 25 Zur Aufgabe, die Luther dem Familienvater als ‚Hausprediger‘ und ,viva lex familiae‘ zuschrieb, siehe zusammenfassend Bieritz, Karl-Heinrich / Kähler, Christoph: Artikel „Haus“ III. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 14. Berlin / New York 1985, 478–492 hier bes. 480, 487. – Zu seiner zentralen Rolle gerade auch in Beziehung auf die Familiengeschichtsschreibung siehe die Einleitung der Herausgeberin in: Studt (wie Anm. 9): Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Köln 2007 (Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, Reihe A, 69), XVII f. – Rohmann (wie Anm. 9), 142–148.

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Stammbaumblatts deutlich, das dem Familienbuch im Rückdeckel des ersten Bandes der Pfinzingbibel beigegeben war (Abb. 8).26 Der Stammbaum wird dargestellt als eine üppig wuchernde Ranke, die aus der Brust des im Vordergrund lagernden, ritterlich gerüsteten Urahns erwächst. Am unteren Bildrand breitet sich eine Landschaft aus, die die Gegend um Henfenfeld zeigt, den von dem Vater Martins II. Pfinzing erworbenen Landsitz der Familie. Von der wohlbestellten Feldflur signifikant abgesetzt ist die Zone, in der der schlafende Ahn lagert. Wild wucherndes Buschwerk und mehr noch die für zeitgenössische Sündenfalldarstellungen topischen Tiere spielen auf Paradiesesräume an und lassen den Ahn adamsgleich erscheinen.27 Die Familie Pfinzing wird so eingespannt zwischen Schöpfung, Sündenfall und Erlösung durch Christus, der in der Himmelszone als Weltenrichter und Salvator erscheint und damit die eschatologische Dimension des Programms aufzeigt. Ein heilsgeschichtliches Verständnis von Stammbäumen ist in der Forschung mit Verweis auf die Wurzel Jesse als Vorbild bereits thematisiert worden.28 In den verwandten juristischen Schemata der Verwandtschaftsgrade (arbores consanguinitatis) finden wir darüber hinaus eine Ausdeutung auf den biblischen Baum der Erkenntnis hin.29 Auch die Tiere auf den Ranken des Pfinzing-Stammbaums belegen eine vielfältige Verknüpfung mit der Paradiesbaumsymbolik.30 Sie verbildlichen Tugenden des ehelichen Lebens wie etwa die schnäbelnden Tauben, die nistenden, fütternden Vogelpaare, die treuen Störche und Kraniche. Prominent platzierte Tiere wie Pelikan und Phönix symbolisieren aber auch die Passion Christi und die Aufer-

26 Auch das Stammbaumblatt ist von Jost Amman und Georg Mack ausgeführt. Es wurde im 19. Jahrhundert von der Pfinzingbibel getrennt und befindet sich heute als Depositum der Familie Löffelholz im Germanischen Nationalmuseum. 27 Eine ähnliche Parallelisierung des eigenen Urahns mit Adam zeigt auch ein 1603 von Johann Kreuzfelder für die Patrizierfamilie Behaim geschaffenes Epitaph mit der Erschaffung Evas in St. Sebald, Nürnberg, s. Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 352, Abb. 69. 28 Klapisch-Zuber, Christiane: La genèse de l’arbre généalogique. In: L’Arbre. Histoire naturelle et symbolique de l’arbre, du bois et du fruit au Moyen Age. Ed. par Michel Pastoureau. Paris 1993 (Les cahiers du Léopard d’Or 2), 41–82. – Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004, 46–60. – Auch im Pfinzingstammbaum ist die assoziative Verbindung zur Wurzel Jesse sicher mitgedacht worden, steht aber nicht im Widerspruch zur Deutung des Ahns als adamsgleiche Figur, sondern ist Teil der auch sonst überaus vielschichtigen Baumsymbolik des Werks. 29 Z. B. im arbor consanguinitatis aus der Bibel von Foigny, Paris, Bibliotèque nationale de France, lat. 15177, dessen Krone von der Schlange umwunden wird und zu dessen Füßen die Paradiesflüsse fließen, Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 354, Abb. 71. – Zu heilsgeschichtlichen Aufladungen des Verwandtschaftsschemas auch Reudenbach, Bruno: Gemeinschaft als Körper und Gebäude. Francesco di Giorgios Stadttheorie und die Visualisierung von Sozialmetaphern im Mittelalter. In: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. v. Klaus Schreiner und Norbert Schnitzler. München 1992, 171– 198. 30 Zu einer detaillierten Analyse des Symbolprogramms des Stammbaums siehe Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), 350–358, mit ausführlichen Literaturangaben.

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Abb. 8: Jost Amman / Georg Mack d. Ä.: Stammbaum der Familie Pfinzing, kolorierte Zeichnung, um 1568/69, ursprünglich eingefaltet in den Rückdeckel von Bd. 1 der Pfinzingbibel. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Leihgabe der Familie Löffelholz).

stehung. Die Pfauen am Hauptstamm sind sowohl Paradiessymbole als auch als Attribute der Juno, Hinweise auf die eheliche Treue und Liebe. Doch mischt sich darunter auch Bedrohliches und Lasterhaftes, wie ein Fuchs, der ein nistendes Storchenpaar belauert, oder aber ein Affenpärchen, von denen einer als Hinweis auf den Sündenfall in einen Apfel beißt, der andere als geläufiges Zeichen von Laster

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und Vergänglichkeit in den Spiegel schaut. Die Kombination aus Tugenden und Lastern zeigt, dass auch das Stammbaumblatt an den ethisch-didaktischen Aufgaben des Gesamtwerks beteiligt war, zugleich aber unterlegt sie die Ausdeutung des Stammbaums als Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.31 Besonders relevant in unserem Zusammenhang aber ist angesichts der Passions- und Auferstehungssymbolik des Stammbaums auch die Lebensbaumallegorie. Der Zusammenhang von Familienstammbaum und heilsgeschichtlicher Baummotivik enthält Sinnebenen, die das Eingefügtsein der Familie in ein göttliches Ordnungsmodell transzendental überhöhen. Denn die Lebensbaummotivik hatte traditionell ausgeprägte ekklesiologische Implikationen.32 Ein aufschlussreiches Parallelbeispiel ist das Familienbuch des Kölner Ratsherren Hermann von Weinsberg (* 1518, † 1597).33 Teil des vielgliedrigen Programms sind die von Weinsberg selbst gefertigten Illustrationen, von denen besonders eine Serie von Zeichnungen im familiengeschichtlich-genealogisch geprägten „Boich Weinsberg“ in unserem Zusammenhang von besonderer Relevanz ist.34 In ihnen werden – hier mit einer besonderen namensetymologischen Basis – Familie, Lebensbaum und Christus als Weinstock allegorisch aufeinander bezogen. Besonders anschaulich ist dies in der Schlussillustration der Sequenz umgesetzt. Sie zeigt das ‚Haus Weinsberg‘, aus dem ein Weinstock wächst, in dessen Zweigen der Gekreuzigte erscheint und ihn damit zum Lebensbaum werden lässt (Abb. 9). Auf diesem wie auch den anderen Blättern der Folge wird außerdem an herausgehobener Stelle ein zentraler Ausspruch Jesu aus einer seiner Abschiedsreden an die Jünger zitiert: „Ego vitis vera vos palmites“ (Joh. 5, 15).

31 O’Reilly, Jennifer: Studies in the Iconography of the Virtues and Vices in the Middle Ages. New York u. a. 1988, 325–333, zur Verknüpfung von Tugend- und Lasterbäumen mit dem Thema des Lebensbaums und des Baums der Erkenntnis. 32 Siehe z. B. die ekklesiologische Deutung der Ordensbäume der Franziskaner, die ebenfalls als üppig wuchernde Ranken dargestellt und mit der Lebensbaummotivik verknüpft werden, bei Preisinger, Raphaèle: Die Bilder des Lebens Christi im Orden des heiligen Franziskus. In: Bild und Körper im Mittelalter. Hg. v. Kristin Marek. München 2006, 315–342, 335 f. 33 Historisches Archiv der Stadt Köln, Chroniken und Darstellungen 49–52; die ersten drei Bücher online http://www.weinsberg.uni-bonn.de/ (letzter Zugriff 13. 09. 2019).– Aus der umfangreichen Literatur s. Studt, Birgit: Der Hausvater. Haus und Gedächtnis bei Hermann von Weinsberg. In: Rheinische Vierteljahresblätter 61 (1997), 135–160 (mit einer guten Übersicht über die ältere Literatur und ältere Teileditionen). – Glasner, Peter: „Ein geschrift zu ewiger gedechtnus…“. Das erinnernde Ich bei Hermann von Weinsberg (1518–1597) in der Medialität von Schrift und Bild. In: Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Gerald Kampfhammer, Wolf-Dietrich Löhr und Barbara Nitsche. Münster 2007 (Tholos 2), 285– 323. – Slenczka, Ruth: Die Heilsgeschichte des Lebens. Altersinschriften in der nordalpinen Porträtmalerei des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 76 (2013), 493–540. 34 Das heute zusammenfassend als ‚Buch Weinsberg‘ bezeichnete umfangreiche Werk besteht aus 4 Bänden. Der von Weinsberg selbst als „Boich Weinsberch“ bezeichnete Band enthält familiengeschichtliche und genealogische Darstellungen (1559 niedergeschrieben und tagebuchartig bis zum Tode Weinsbergs ergänzt).

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Abb. 9: Hermann von Weinsberg: Das Kreuz als Lebensbaum wächst aus dem Haus Weinsberg. Boich Weinsberg, 1559 und später. Köln, Historisches Archiv der Stadt, Chroniken und Darstellungen 52, fol. Qv.

Dieses Motiv, dem die sog. ‚Weinstockrede‘ Christi „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Joh. 15, 1–10) zugrunde liegt, kann ekklesiologisch gedeutet werden – war doch schon der Weinstock ein Sinnbild der Ekklesia.35 Man kann hier von einer Übertragung sakraler Vorstellungen auf das Familiäre sprechen, die sich als Verständnishintergrund auch für das Programm der Pfinzingbibel eignet.36 Dies gilt umso mehr, als sich auch im sog. „Großen Tucherbuch“, einem Familienbuch der Patrizierfamilie Tucher, das kurz nach der Pfinzingbibel – im selben Umfeld lutherischer Nürnberger Patrizierfamilien – entstand, ähnliche Gedanken formuliert finden. Dort wird im Rahmen eines theologisch-programmati-

35 Zur sog. Weinstockrede und deren Ekklesiologie Borig, Rainer: Der wahre Weinstock. Untersuchungen zu Jo 15, 1–10. München 1967 (Studien zum Alten und Neuen Testament 16), bes. 250– 252. – Zur Gleichsetzung von Weinstock und Ekklesia siehe auch Lemma Eglise – La vigne. In: Dictionnaire des Spiritualité ascétique et mystique, IV, I, Paris 1960, Sp. 389–392. 36 Im Falle des altgläubigen Hermann von Weinsberg mag Gedankengut der Devotio moderna, der er nahe stand, eine Sakralisierung des Häuslichen befördert haben.

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schen Kapitels der Vorrede mehrfach von der „ewig[en] Kirch“ gesprochen, die Christus durch sein Werk auf Erden Gott „auß seinem geliebten geschöpff / der Menschen“ geschaffen hat bzw. – an anderer Stelle – „durch den Ehestandt und Weibliche Geburt Ihme zusammenbringt“,37 wobei eine von Erlösungsgewissheit und Auserwählungsbewusstsein bestimmte Perspektive aufgezeigt wird, denn die „Ewig kirch und vollck“ sollen „neben seinen auch lieben Engeln bei Ihme in Ewigkait sein und bleiben […] in Ewiger Frewd und Seeligkait“.38 Es scheint möglich, das Bildprogramm des zwischen ‚Adam‘ und Christus als Salvator eingespannten Pfinzing-Stammbaumes als Verbildlichung derselben Gedanken zu interpretieren. Das Bild von einer ‚Heiligung der Familie‘ rundet sich mit der Tatsache, dass an das Ende des zweiten Bandes der Pfinzingbibel, also parallel zum Familienbuch am Ende des ersten Bandes, die Marienlebenfolge von Albrecht Dürer eingebunden ist. In Fortführung und gleichzeitig Umdeutung spätmittelalterlicher Traditionen wurde Maria im Luthertum des 16. Jahrhunderts nicht nur zum Vorbild von Glauben und Demut, sondern auch als Idealbild der ‚Hausmutter‘ stilisiert und die Hl. Familie zum Modell des häuslichen Lebens.39 Die Marienlebenfolge Dürers muss mit ihrer ausführlichen Schilderung des Lebens des Elternpaares Anna und Joachim sowie der Kindheit Marias und Jesu sehr geeignet für eine Weiternutzung im lutherischen Sinne erschienen sein.40 Zumal sich die reformatorische Positivbewertung der Ehe und Familie in der spätmittelalterlichen Verehrung Annas, Joachims und der Hl. Sippe bereits abzeichnet.41 Dies gilt auch für die Heiligung von Alltagssituationen durch den Bezug auf das Vorbild der Hl. Familie bei der Arbeit (Abb. 10). Neu war dabei die breite theologische Fundierung durch die lutherische Ökonomie und Ehetheologie, innerhalb derer das gesamte auf der Grundlage der Bibel und des Glaubens geregelte Leben zum ‚Gottesdienst‘ wurde und die Familie in gewisser Hinsicht in die Nachfolge mittelalterlicher Ordensgemeinschaften trat – von Luther entsprechend als „heiliger Orden“ benannt.42 Hieraus konnte mit hoher Selbstver-

37 Großes Tucher-Buch, Vorrede, fol. 3v, 8v, zitiert nach Kuhn (wie Anm. 11), 400, 412, dort auch eine ausführliche Darstellung und Analyse dieses Teils der Vorrede. 38 Großes Tucher-Buch, Vorrede, fol. 3v, zitiert nach Kuhn (wie Anm. 11), 400. 39 Siehe dazu ausführlich Kreitzer, Beth: Reforming Mary. Changing Images of the Virgin Mary in Lutheran Sermons of the Sixteenth Century. New York 2004. – Heal, Bridget: The Cult of the Virgin Mary in Early Modern Germany. Cambridge 2007, bes. 94–102. 40 Zum Marienlebenzyklus von Dürer: Scherbaum, Anna: Albrecht Dürers Marienleben. Form – Gehalt – Funktion und sozialhistorischer Ort. Wiesbaden 2004. 41 Sheingorn, Pamela: Appropriating the Holy Kinship: Gender and Family History. In: Interpreting Cultural Symbols. Saint Anne in Late Medieval Society. Ed. by Kathleen Ashley and Pamela Sheingorn. Athens / London 1990, 169–198, hier 184–186. 42 „Wer Vater und Mutter ist, haus wol regirt und kinder zeucht zu Gottes dienst, ist auch eitel heiligthum und heilig werck und heiliger orden“, Martin Luther, Vom Abendmahl Christi (1528), WA 26, 505b, Zeile 1f. Die Aussagen zur Familie sind eingeordnet in eine Passage zur Ständelehre, in der entsprechend zum Ehestand auch Priesterstand und ‚Obrigkeit‘ als „heilige Orden“ bezeichnet werden, ebd. Zeile 1–11.

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Abb. 10: Albrecht Dürer: Die Heilige Familie bei der Arbeit, Holzschnitt aus dem Marienlebenzyklus, 1511, koloriert und eingefügt in Bd. 2 der Pfinzingbibel.

ständlichkeit ein Bewusstsein vom Eingefügtsein der Familie und des gesamten Geschlechts in die göttliche Heilsordnung entstehen sowie eine Verknüpfung von transzendentalen Vorstellungen mit einer eschatologischen Erlösungsgewissheit, die sich aus der lutherischen Rechtfertigungslehre ergab. Die Entstehung der Pfinzingbibel folgt unmittelbar auf die Verleihung von Adelsprivilegien an die Pfinzing durch Kaiser Karl V. sowie den Erwerb und Ausbau des Familiensitzes. Sie kann in diesem Zusammenhang als ein Gründungswerk des Pfinzingschen ‚Hauses‘ – im zeitenübergreifenden Sinne – betrachtet werden, in dem sich sittlich-religiöse Unterweisung und dynastische Zukunftssicherung mit familiärer Memoria und Heilsvorsorge verknüpfen. Sie ist zugleich ein Medium des konfessionellen Bekenntnisses, das sich nicht nur im Sinne einer Formierung an die eigene – derzeitige und zukünftige – Familie richtete, sondern auch Teil der Selbstvergewisserung und Repräsentation innerhalb des Kreises städtischer Eliten in der Nürnberg war. Denn Familienbücher wurden z. B. bei gegenseitigen Besuchen gezeigt. Elemente der ständischen Repräsentation und Distinktion verknüpfen sich dabei eng mit konfessionellen Signalen.

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Selbstverortung in der Bibel und Verinnerlichung des göttlichen Worts – die Bibel des Hans Plock Anders als die Pfinzingbibel mit ihrem halböffentlichen, repräsentativen, auf den gesamten Familienverband bezogenen Charakter ist die Bibel des Hans Plock das Resultat eines eher persönlich geprägten Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozesses.43 Der Seiden- und Perlsticker Hans Plock gehörte zu den Hofkünstlern Kardinal Albrechts von Brandenburg. Er schuf für diesen prächtige Heiltümer und Ornate, war jedoch bereits früh ein Anhänger Luthers und blieb in Halle zurück, als der Kardinal 1540 die Stadt verließ. 1541 erwarb er ein in Wittenberg bei Hans Lufft gedrucktes Exemplar der Lutherbibel und stattete es in den folgenden Jahrzehnten bis um 1560 sukzessive mit zahlreichen Randbemerkungen und Notizen aus. Er klebte Druckgrafiken und Zeichnungen in Leerstellen des Drucks und auf eingebundene Blätter. Diese Grafiken, die teilweise von bedeutenden Künstlern stammen, umfassen ein weites inhaltliches Spektrum, von biblischen Szenen über reformatorische Flugschriften bis hin zu Herrscherbildnissen und Wappen (Abb. 11).44 Bekannt geworden ist die Plockbibel aber vor allem wegen den in den ersten Band eingefügten, von Plock zu Kollagen verarbeiteten Zeichnungen Grünewalds.45 In den komplexen Hinzufügungen gibt Plock sich als ein reflektierter Laientheologe zu erkennen, der das Geschehen seiner Zeit genau beobachtet und kommentiert. Wesentlich geprägt ist das Programm seiner Bibelbearbeitung von der Suche

43 Das zweibändige Werk wird inkl. seiner herausgelösten Blätter als Leihgabe der Stiftung Stadtmuseum Berlin im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen Berlin aufbewahrt. Ich bedanke mich herzlich bei Albrecht Henkys (Stadtmuseum) und Michael Roth (Kupferstichkabinett) für die Unterstützung bei der Untersuchung und fotografischen Aufnahme der Bibel und den fachlichen Austausch. 44 Siehe zur Plockbibel und ihrem Programm: Deiters, Maria: Bible, Image, Artist – The Bible of Hans Plock. In: „Wading Lambs and Swimming Elephants“. The Bible for the Laity and Theologians in the Late Medieval and Early Modern Era. Hg. v. Wim François und August den Hollander. Leuven / Paris / Walpole MA. 2012, 153–180; Vom Kardinalsornat zur Luther-Bibel (wie Anm. 3); Das Rätsel Grünewald. Ausst. Augsburg 2002. Hg. v. Rainhard Riepertinger. Augsburg 2002 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 45/02); Rabenau, Konrad von: Der Seidensticker Hans Plock und seine deutsche Bibel von 1478 in der Marienbibliothek. In: 450 Jahre Marienbibliothek in Halle a. d. Saale. Kostbarkeiten und Raritäten einer alten Büchersammlung. Hg. v. Heinrich L. Nickel. Halle 2002, 81–93. – Zu einer Auflistung der bildlichen Einfügungen Hans Plocks siehe Timm, Werner: Die Einklebungen der Lutherbibel mit den Grünewaldzeichnungen. In: Forschungen und Berichte der Staatlichen Museen zu Berlin 3 (1957), 105–121. 45 Siehe dazu jüngst Roth, Michael: Matthias Grünewald. Die Zeichnungen. Ostfildern 2008, 28– 31.

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Abb. 11: Hans Plock: Verklärung Christi auf dem Berg Tabor, Kreide und Wasserfarben, und Lucas Cranach d. J: Porträt Johann Friedrichs I. von Sachsen, Holzschnitt koloriert und beschriftet von Hans Plock, Plockbibel, Bd. 2, Innendeckel und fol. 1r, Kupferstichkabinett Staatliche Museen Berlin (Leihgabe der Stiftung Stadtmuseum Berlin).

nach Legitimierung und heilsgeschichtlicher Verankerung seiner Profession. Vor dem Hintergrund der reformatorischen Bilddebatten klagt er darüber, dass die „arme Kunst“ nun „ganz verachtet“ sei. Jedoch findet er unter anderem in den Passagen zur Errichtung der Stiftshütte eine Begründung für die Daseinsberechtigung der Kunst. Denn dort ist die Rede von Bezaleel, der „erfüllet [sei] mit dem geist Gottes“, damit er „geschickt sey [...] zu machen allerley künstlich erbeit“ (Ex. 35, 31). Plock kommentiert triumphierend in dem von ihm gemalten Spruchband am Ende der Seite: „kunst kompt auch vom Geist Gottes“ und „kunst ist auch eine weisheitt von gott“ (Abb. 12).46 Wenig später findet er in Ahaliab, einem „Meister […] zu sticken mit geler seiden“,47 der die Vorhänge der Stiftshütte wirkte, ein direktes professionelles Vorbild. Auch darüber hinaus zeigen Plocks Bearbeitungen ein ausgeprägtes Interesse an der Ausstattung der Stiftshütte bzw. des Salomonischen Tempels. So unterstreicht und glossiert er systematisch alle entsprechenden biblischen Passagen, inklusive der Beschreibung der priesterlichen Gewänder Aarons.

46 Plockbibel, Bd. 1, 53r. 47 Plockbibel, Bd. 1, 54v.

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Abb. 12: Passage mit der Beschreibung des Baus der Stiftshütte mit Kommentaren und Unterstreichungen Hans Plocks, Plockbibel, Bd. 1, fol. 53r.

Mit dem legitimierenden Rückbezug auf Bezaleel und Ahaliab als gottbegabten Baumeistern und Ausschmückenden der Stiftshütte folgt Hans Plock mittelalterlichen Traditionen. So ist dies auch ein prägendes Motiv in den Vorreden des wichtigsten mittelalterlichen Kunsttraktats, der „Schedula diversarum artium“.48 Der unter dem Pseudonym Theophilus schreibende Autor berichtet in der Vorrede zum dritten Buch von den Meistern der Stiftshütte, die Gott „mit dem Geist der Weisheit, der Klugheit und der Erkenntnis auf allen (erforderlichen) Wissensgebieten erfüllt habe, damit sie das Werk entwerfen und in Gold, Silber, Erz, Holz und in sämtlichen Handwerkstechniken ausführen könnten“.49 Und er ruft den Leser seines Werks

48 Siehe dazu Reudenbach, Bruno: Werkkünste und Künstlerkonzept in der „Schedula“ des Theophilus. In: Schatzkunst am Aufgang der Romanik. Hg. v. Christoph Stiegemann und Hiltrud Westermann-Angerhausen. München 2006, 243–248.; Ders.: „Ornatus materialis domus Dei“. Die handwerkliche Legitimation handwerklicher Künste bei Theophilus. In: Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12. / 13. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1994; Bd. 1, 1–16; sowie grundlegend und mit dem neuesten Forschungsstand u. a. hinsichtlich der Autorfrage den Sammelband Speer, Andreas (Hg.): Zwischen Kunsthandwerk und Kunst. Die „Schedula diversarum artium“. Berlin u. a. 2014 (Miscellanea medievalia 37). 49 Prolog zum dritten Buch (Über die Goldschmiedekunst und die Bearbeitung der Metalle), Übersetzung zitiert nach Rüffer, Jens: Werkprozess – Wahrnehmung – Interpretation. Studien zur mittelalterlichen Gestaltungspraxis und zur Methodik ihrer Erschließung am Beispiel baugebundener Skulptur. Berlin 2014, 540.

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auf: „Deshalb geliebter Sohn, sollst Du nicht zaudern, sondern voller Vertrauen glauben, dass Gottes Geist dein Herz erfüllt, wenn Du Sein Haus mit solchem Schmuck und solcher Vielfalt der Werke zierst“.50 Wir wissen nicht, ob Hans Plock die auch in der Frühen Neuzeit noch rezipierte Schrift des Theophilus unmittelbar kannte.51 Doch dass ähnliche Gedanken auch in lutherischen Zusammenhängen verbreitet waren, belegt etwa die Vorrede Sigmund Feyerabends für eine Bilderbibel mit Illustrationen des Virgil Solis: „Wie Bezaleel und Ahab [..] mit iren mancherley künsten die hütten des Stiffts / und den Tempel zu Jerusalem gezieret […] Also hat der Kunstreiche Reisser und Maler / Vergilius Solis zu Nürnberg / die Bibel / von dem Hochgelehrten D. Martin Luther verteuscht […] mit seiner malerkunst geschmückt […] dieweil er nicht allein gesucht / daß er durch seine kunst grossen ruhm“ bekäme, sondern diese „zu Gottes ehr und zierd seines heiligen worts gebraucht hat / als er erkennet / daß solche gab von Gott im gegeben“.52 Hier erweist sich auch, dass man den Themenbereich Tempel und von Gott befohlenen Tempelschmuck in gleicher Weise auf die Bibel und deren Ausschmückung übertragen hat. Beiden Passagen gemeinsam ist, dass sie nicht nur die göttliche Begabung des Künstlers betonen, sondern auch eine Verpflichtung daraus ableiten, diese für die ehrende ‚Zier‘ von Kirchenraum bzw. Bibel einzusetzen. Für die Zeitgenossen hatte dies weiterreichende Implikationen. Bereits in der oben zitierten Theophilus-Passage deutet sich eine Wechselwirkung zwischen Außen und Innen, zwischen der Tätigkeit zum ‚Schmücken‘ des Gotteshauses und der Verwandlung des eigenen Herzens an. Seit dem Frühmittelalter war der Terminus ‚Tempel‘ auch ein Bild des menschlichen Inneren. Der Bilderschmuck der Kirche konnte dabei sowohl auf das Innere einwirken als auch umgekehrt als Bild für die mit Tugenden gezierte Seele dienen.53 Dass auch dieser Gedanke über die Reformation hinaus tradiert wurde, spiegelt die Einweihungspredigt der lutherischen Kirche in Freudenstadt 1608 wider, in der der Prediger Andreas Veringer seine Zuhörer auffordert: „So oft Ihr in diese schoene Kirchen kommet / und sehet / wie außbuendig schoen dieselbige gezieret und gemalet / soll es euch allweg ein anmahnung und erinnerung seyn / dass ihr ewer Hertz / den tempel des Heiligen Geistes / auch schoen zieret und heraußstreichet“.54 50 Ebd. 51 Zur Verbreitung und Rezeption der „Schedula“ siehe Speer, Andreas: Zwischen Kunsthandwerk und Kunst. Die ‚Schedula diversarum artium‘ als „Handbuch“ mittelalterlicher Kunst? In: Speer (wie Anm. 48), XI–XXXIV, bes. XI–XIII. 52 Biblische Figuren deß Alten Testaments gantz künstlich gerissen durch den weitberümpten Vergilium Solis […]. Frankfurt a. M.: Sigmund Feyerabend 1562. 53 So verknüpft etwa Durandus in seinem „Rationale Divinorum“ die Tempelbilder von Seele und Kirche (mit ihren kostbaren Ausstattungsstücken) auf komplexe Weise und greift dabei auf eine bis zu Gregor dem Großen zurückreichende Tradition zurück, s. Faupel-Drevs, Kirstin: Vom rechten Gebrauch der Bilder im liturgischen Raum. Mittelalterliche Funktionsbestimmungen bildender Kunst im Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende (1230/1–1296). Leiden / Boston / Köln 2000 (Studies in the History of Christian Thought, 89), 227, 263 f., 350–360. 54 Zitiert nach Harasimowicz (wie Anm. 1), 44 f.

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Es weist Vieles darauf hin, dass ein besonderes Augenmerk Plocks gerade auf diesen Glaube und Heil verinnerlichenden Funktionen der bildlichen Ausgestaltung seiner Bibel lag. Dies soll im Folgenden an der Sequenz von Bild-Text-Kollagen dargestellt werden, für die Hans Plock Zeichnungen Grünewalds verarbeitete und die er prominent an den Beginn des ersten Bandes seiner Bibel gesetzt hatte. Sie wurden in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zwar aus der Bibel herausgelöst, doch lässt sich ihre Reihenfolge noch rekonstruieren. Die Reihe begann mit der Darstellung des Moses, die auf den Innendeckel des ersten Bandes geklebt war. Die ehemalige Kollagensituation ist hier nur noch fotografisch überliefert, weil die aufgeklebten Schriftteile 1963 zugunsten der Rekonstruktion der Grünewaldzeichnung entfernt und vernichtet wurden (Abb. 13). Die Gesetzestafeln in der Hand der von Plock zu Moses umgedeuteten Prophetenfigur tragen unter anderem die Zehn Gebote. Auf der folgenden Doppelseite standen sich Aaron mit dem Aaronitischen Segen in der Schrifttafel und ein Blatt mit einem weisenden Propheten gegenüber (Abb. 14, 15). Es folgte eine Zeichnung Grünewalds von Johannes dem Evangelisten, ergänzt um Textfelder mit Auszügen aus dessen Evangelium (Abb. 16). Der Leuchter in der Hand, aus dem eine grünende Ranke erwächst, und die Textpassage über dem Evangelisten verweisen auf den Beginn des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort […] und Gott war das Wort […] In Im war das Leben und das Leben war das Liecht der Menschen“.55 Bemerkenswert ist die formale Inszenierung der Texte. Mit den an die römische Capitalis monumentalis gemahnenden Versalien auf nobilitierenden roten und ockerfarbenen (das meint goldenen) Malgründen und ihren profilierten Rahmungen erscheinen sie fast dinglich als antikisierende Schrifttafeln. Eine solche bildhafte Präsentation von Schrift und göttlichem Wort hat Hans Belting als „Ikone des Worts“ bezeichnet, die nun das „Bildgedächtnis“ durch ein „Schriftgedächtnis“ abgelöst hätte.56 In der Tat verweist die Monumentalisierung der Plockschen Schriftfelder, die Kernpassagen der Bibel enthalten, auf das Wort Gottes als Substanz der Bibel. Dabei greift Plock mit der auf Purpurgründe gesetzten Capitalis auf altehrwürdige Auszeichnungsformeln zurück, um die Sakralität und Autorität der Heiligen Schrift zu vermitteln. Die bildlich inszenierte Schrift dient auf diese Weise – ebenfalls in mittelalterlicher Tradition – als Zeichen und Träger des Heils:57 Gerade als

55 Bibelstelle zitiert nach der Bibelübersetzung von Martin Luther in der Ausgabe Wittenberg: Hans Lufft, 1545. 56 Belting, Hans: Bild und Kult. München 21991, 513. 57 Siehe dazu Hamburger, Jeffrey F.: Script as Image. Paris / Leuven / Walpole, MA 2014 (Corpus of Illuminated Manuscripts 21); Becht-Jördens, Gereon: Schrift im Mittelalter – Zeichen des Heils. Zur inhaltlichen Bedeutung von Material und Form. In: Verborgen, unsichtbar, unlesbar – zur Problematik restringierter Schriftpräsenz. Hg. v. Tobias Frese, Wilfried E. Keil und Kristina Krüger. Berlin / Boston 2014 (Materiale Textkulturen 2), 245–311 – jeweils mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen.

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Abb. 13: Hans Plock: Moses empfängt die Gesetzestafeln, Kollage unter Verwendung einer Zeichnung von Grünewald, ehemals eingeklebt in den Innendeckel des Bd. 1 der Plockbibel. Zustand vor Auflösung der Kollage 1965.

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Abb. 14: Hans Plock: Aaron, Kollage mit Zeichnung von Grünewald, ehemals in Bd. 1 der Plockbibel, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett (Leihgabe Stiftung Stadtmuseum Berlin), AM 23–1953.

‚Schrift-Bild‘ ist sie in besonderem Maße in der Lage, das Wort Gottes als solches darzustellen. Schon deshalb kann man m. E. hier nicht von einer Abwertung des Bildlichen und einem Ende des ‚Bildgedächtnisses‘ sprechen.

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Abb. 15: Hans Plock: Prophet, Kollage mit Zeichnung von Grünewald, ehemals in Bd. 1 der Plockbibel, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett (Leihgabe Stiftung Stadtmuseum Berlin), KdZ 4190.

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Abb. 16: Hans Plock: Johannes Ev., Kollage unter Verwendung einer Zeichnung von Grünewald, ehemals eingefügt in Bd. 1 der Plockbibel, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett (Leihgabe Stiftung Stadtmuseum Berlin), AM 21–1953.

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Hinzu kommt, dass die mit den Schrifttafeln eng verknüpften figürlichen Bilder ebenfalls eine stark verinnerlichende Funktion haben: Es fällt auf, dass die von Plock ausgewählten biblischen Personen sich sämtlich in Situationen des direkten Kontakts mit Gott, des Empfangs des göttlichen Wortes, der Teilhabe an Gottes Gnadenspendung oder auch der Erleuchtung durch Gott befinden. Wie wichtig dieser Aspekt für Plock war, belegt das Bild auf dem Innendeckel des zweiten Bandes. Es zeigt Christus in schneeweißem Gewand in der identischen Pose wie Moses im Deckel des ersten Bandes (Abb. 11). Man hat dies bisher als epigonenhafte Kopie des Grünewaldschen Vorbilds interpretiert. Doch ist die Parallelität der Gesten keinesfalls zufällig oder unbeholfen. Christus wird hier im weißen Gewand der Verklärung gezeigt. Der Aufstieg des Moses auf den Berg Sinai wurde typologisch als Präfiguration der Verklärung Christi auf dem Berg Tabor gedeutet – in beiden Fällen ist von einem besonderen Glanz die Rede: Moses’ Antlitz glänzt als Zeichen des Empfangs des göttlichen Worts, sodass die Israeliten sich fürchten (Ex. 34, 30). Christus strahlt in der Verklärung selbst das Licht aus als Zeichen seiner göttlichen Natur: „Und sein Angesichte leuchtet wie die Sonne / und seine Kleider wurden weis als ein Liecht“ (Mt. 17, 2).58 Visualisiert ist dies durch die wohl teilweise von Plock auf die Zeichnungen gesetzten Weißhöhungen. Christus als das wahre Licht der Welt ist auch Hauptthema des Blatts mit Johannes, dessen Evangelium mit den ersten Zeilen ja wie oben zitiert auch die zentrale biblische Quelle für eine Gleichsetzung von Wort Gottes und Licht ist. Weiß kann in mittelalterlicher Tradition als Symbolfarbe des göttlichen Lichts gelten. Die Art, wie Hans Plock die Farbe Weiß einsetzt, entspricht dieser Verbindung von Gott, Wort und Licht. So erglänzt das Gesicht des Aaron von der Gnade, die er mit dem göttlichen Segensspruch empfangen hat und weiter spendet. Die Achse der unbekannten Figur Grünewalds neben ihm wurde von Plock so gekippt, dass diese zum Himmel emporschaute, von wo aus ihr Antlitz hell beschienen wird. Die Bilder vermitteln also visuell das Empfangen des göttlichen Worts und die Teilhabe an der göttlichen Gnade. Man könnte ergänzen: Sie bezeugen das Heilswirken Gottes. Die dargestellten Personen dienen dabei dem Betrachter als Vorbilder für die Erleuchtung, die er beim Lesen des göttlichen Worts in der Bibel erfahren sollte. Sie treten so in besonderer Art und Weise in Interaktion mit der monumentalisierten Schrift, die – ebenso wie das Licht – als Zeichen Gottes und seiner Heilswirkung dient. Plock macht auf diese Weise das göttliche Wort als Substanz der Heiligen Schrift und zugleich das Empfangen des Heils sinnlich erfahrbar. Luther hat in populären Texten wie den Katechismen betont, dass der Heilige Geist mit der gesamten Christenheit auch den Einzelnen erleuchtet – gebunden an das gehörte oder gelesene Wort Gottes.59 Er betonte, dass die Lehren Christi nicht

58 Bibelstelle zitiert nach der Bibelübersetzung von Martin Luther in der Ausgabe Wittenberg: Hans Lufft, 1545. 59 Etwa im Vorwort zum Großen Katechismus. – Siehe auch Wagner, Falk: Artikel Erleuchtung. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 10. Berlin / New York 1982, 167 mit weiteren Ausführungen

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allein mit dem Verstand begriffen werden könnten, sondern dass sie mit dem Herzen begriffen werden müssten. Das Herz als Erkenntnisorgan und Sitz des Glaubens ist bei Luther eine zentrale Metapher. Ein rechtes Verständnis des Evangeliums aber wird dem Gläubigen durch den Hl. Geist direkt in das Herz geschrieben – das Herz wird ‚erleuchtet‘.60 Dies ist eine der theologischen Grundlagen für die Laienexegese der Bibel. Das Thema der Erleuchtung – bzw. der Bitte darum, erleuchtet zu werden – zieht sich auch durch die zeitgenössische lutherische Andachtsliteratur.61 So lautet die Gebetszeile zur Pfingstperikope in den oben zitierten „Summaria christlicher lehr“ von Veit Dietrich: „gib deinen heiligen geist in unsere herzen auff dass wir dein wort von herzen glauben“.62 Das Herz spielt auch in den Beischriften Hans Plocks eine wichtige Rolle. So begegnet es uns auf dem Auftaktblatt mit dem Liebesgebot „und solt den herren deinen gott lieb haben von ganzem herzen“, dem Plock die Aufforderung hinzufügt: „Und diese wort die ich dir heute gebiete soltu zu herczen nehmen und solt […] deinen kindern […] do von redden“. An die entsprechende Stelle im 5. Buch Mose aber schreibt Plock „Das detten sie alles [aber] ins Herz wollts nit“.63 Eine Variation desselben Gedankens klingt auch an in dem stoßseufzerartigen Text unter dem weisenden Propheten: „Ach dass sie ein solich hercz hetten mich zu furchten und zu halten alle mein gebot“. Mit einer Glosse Plocks am Matthäusevangelium schließt sich der Kreis zum Thema der Erleuchtung: „die Klugen der welt – überhaupt – menschlich vernunft [kann] das Evangelium nicht versten. Gott erleucht in dan mit dem hl geist“.64 Wie Plock haben auch Luther und zahlreiche auf diesen folgende Theologen beklagt, dass die Lehre Gottes nur mit Kopf und Ohr aufgenommen, nicht aber mit dem Herzen geglaubt und verinnerlicht wird.65 In diesem Zusammenhang kommt

zum Begriff der Erleuchtung, der zu einem der theologischen Kernbegriffe der lutherischen Orthodoxie wurde. 60 Stolt, Birgit: Martin Luthers Rhetorik des Herzens. Tübingen 2000, bes. 53–61. – Siehe zum ‚Herz‘ bei Luther auch den Beitrag von Sabine Hiebsch im vorliegenden Band. 61 Auch im Programm des Bibelteils der Pfinzingbibel wird dies aufgegriffen und etwa mit dem gezielten Setzen von Goldhöhungen in Szene gesetzt. Siehe dazu Deiters: Familie in der Bibel (wie Anm. 3), bes. 321–323; dies.: Illumination of Images and Illumination through the Image – Functions and Concepts of Gospel Illustration in the Bible of the Nuremberg Patrician Martin Pfinzing. In: Imago Exegetica. Visual Images and Exegetical Instruments 1400–1700. Ed. by Walter S. Melion, James Clifton and Michel Weemans, Boston / Leiden 2014 (Emory University. Lovis Corinth Colloquium IV), 481–508. 62 Dietrich, Summaria christlicher lehr (wie Anm. 6). 63 Plockbibel, Bd. 1, fol. 100v. 64 Plockbibel, Bd. 2, fol. 258r. 65 Stolt (wie Anm. 54), 53–61; Sträter, Udo: „Wie bringen wir den Kopf in das Hertz?“. Meditation in der Lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. In: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Gerhard Kurz, Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 2), 11–35.

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den Bildern – und hier gerade den Bibelillustrationen – eine besondere Bedeutung zu. So begründete Luther im Vorwort zum „Passional“ die Hinzufügung der Bilder damit, dass die Leser „durch bildnis und gleichnis besser bewegt werden, die Goettlichen geschicht zu behalten, denn durch blosse wort odder lere“.66 Lutherische Theologen der Mitte und zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wie Caspar Cruciger und Simon Gedicke betonten die Funktion der Bilder für die Andacht noch deutlicher. Die Bilder seien durch ihre ästhetischen Eigenschaften besonders geeignet, das Herz zu berühren und damit zu einer tiefen Einsicht in Gottes Weisheit zu führen.67 Es geht also um eine den Bildern eigene und herausgehobene Potenz, innere Bewegung auszulösen und das Gedächtnis zu prägen. Mit dieser werben auch die Verfasser und Verleger der Bilderbibeln, so etwa Sigmund Feyerabend, der in einer seiner ersten Bilderbibelausgaben über die Fähigkeit der Bilder schreibt, nicht nur die „augen [zu] erlüstige[n]“, sondern auch „die hertzen an[zu]reitze[n]“.68 Hier treffen sich theologische Gedanken mit den kunsttheoretischen Äußerungen der Zeit.69 Dem Künstler Hans Plock musste der Gedanke an die besonderen ästhetischen Eigenschaften der Kunst, die diese befähigen, die Herzen zum Glauben zu bewegen, sehr nahe liegen. Doch geht seine gestaltende Annäherung an die Heilige Schrift noch darüber hinaus: Für Luther verlief die Aneignung der Bibel in entscheidendem Maße über tägliche Übung und meditierende Reflektion. In seinen in mittelalterlicher Tradition stehenden Anleitungen für Meditation und Gebet empfiehlt er zum Beispiel, Passagen und einzelne Zeilen der Bibel mehrmals täglich in Gedanken zu bewegen, in ihrer Bedeutung für das eigene Heil und Leben zu durchdenken.70 Das Vokabular, das Luther benutzt, ist sinnlich-körperlich geprägt: Man soll sich die Bibel einverleiben, sie in der mystischen Tradition der ruminatio wiederkäuen,71 schmecken, abtasten, wie Thomas die Seitenwunde Christi abgetastet hat, usw.72 Das ist ein wichtiger Aspekt bei der Interpretation der Tätigkeit Plocks. Wenn dieser

66 WA 10, II, 458, allerdings mit dem dezidierten Hinweis, dass die Texte zu den Bildern gefügt sein müssten. 67 S. ausführlich Deiters (wie Anm. 13), 308–315, mit weiterführender Literatur. 68 Widmungsschreiben an Melchior Lorich aus Flensburg, Neuwe Biblische Figuren / deß Alten und Neuwen Testaments […]. Nürnberg: Georg Rab, Sigmund Feyerabend, Weigand Hans Erben 1564. 69 Siehe dazu etwa Wimböck, Gabriele: „Durch die Augen in das Gemüt kommen“. Sehen und Glauben – Grenzen und Reservate. In: Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. ders. u. a. Münster 2007 (Pluralisierung und Autorität 9), 427–452. 70 Nicol, Martin: Meditation bei Luther. Göttingen 1984 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 34), 124–150. 71 Ebenda, 55–61. 72 Martin Luther: Grund und Ursach aller Artikel D. Marti. Luther, so durch Romische Bulle unrechtlich vordampt seyn (1521), WA 7, 315: „Lies doch Christus seyn hend, fusz und seyten tasten, auff das die junger seyn gewisz weren. Warumb sollten wir den auch die schriefft, die do warlich Chrisus geystlicher leyb ist, nit tasten und pruffen“.

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Abb. 17: Bibelpassage mit der Opferung Isaaks mit Notizen, Unterstreichungen und Spruchbändern von Hans Plock, Plockbibel, Bd. 1, fol. 11v-12r.

das biblische Wort mit Bild und Schrift kommentiert, ziert, umrandet, in Schriftbänder einbindet (Abb. 17), mit Bändern und Rankenmotiven umgibt etc., kann man das auch als eine frömmigkeitspraktische Tätigkeit, als Form der Meditation interpretieren. Der prozessuale Charakter der Arbeit Plocks an der Ausgestaltung seiner Bibel kommt dabei u. a. in der Tatsache zum Ausdruck, dass an verschiedenen Stellen Spruchbänder oder auch ganze Textfelder, wie etwa dasjenige neben dem weisenden Propheten, leer stehen blieben.73 Zugleich sei noch einmal an Theophilus erinnert, der das Werk der Ausschmückung des Hauses Gottes an sich bereits als Zeichen für Geisterfülltheit gedeutet hatte.

73 Eine vergleichbare handwerklich-künstlerische und zugleich inhaltliche Auseinandersetzung mit der Bibel, die dezidiert als Frömmigkeitspraxis verstanden wurde, fand zu Beginn des 17. Jahrhunderts in England in der religiösen Gemeinschaft von Little Gidding statt, wo vornehmlich die weiblichen Mitglieder der Familie des Nicholas Ferrer mit Schere, Messer und Klebstoff Konkordanzen aus gedruckten Bibeln herstellten, die sie gemeinsam mit Druckgrafiken, farbigen Papieren u. ä. zu aufwändigen Text-Bild-Kollagen zusammenfügten, siehe Dyck, Paul: „So rare a use“: Scissors, Reading, and Devotion at Little Gidding. In: George Herbert Journal 27 (2003–2004), 67–82; Gaudio, Michael: Cutting and Pasting in Little Gidding. Bible Illustration and Protestant Belief in Seventeenth-Century England. In: Ut pictura meditatio. Ed. by Walter Melion, Ralph Dekoninck and Agnes Guiderdoni-Bruslé. Turnhout 2012, 401–424.

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Bereits hier kommen auch gegenstandsbezogene Aneignungs- und Verehrungspraktiken des Bibelbuches selbst zum Ausdruck. Etienne François hat von einer Sakralisierung der Bibel als Folge des lutherischen sola scriptura gesprochen, wonach sich die gesamte heilende und schützende Macht Gottes im biblischen Wort konzentriert habe, ja er selbst darin anwesend sei.74 Dies äußerte sich in der sakralisierenden Einfassung in kostbare Kassetten und Materialien, häufig der sichtbaren Aufbewahrung im besten Raum des Hauses, aber auch in Praktiken, die an Gegenstandsheiligung und Magie grenzen.75 So legte man Schwangeren die Bibel ins Wochenbett und Sterbenden unter das Kopfkissen. Seit der Zeit um 1600 häufen sich Erzählungen über im Feuer unversehrt gebliebene Bibeln.76 Eine sakralisierende Inszenierung des Bibelbuchs zeigt sich in dem von Plock gestalteten (heute herausgelösten) Auftaktblatt des ersten Bandes (Abb. 18). Mit seinem gemalten Edelsteinbesatz spielt es auf Prachteinbände an. Sehr ähnliche Verzierungen wählte Hans Plock auch für die von ihm gestickten Ornate, etwa die für Kardinal Albrecht entstandenen Prachtmitren, von denen eine vermutlich auf der Mauritius-Erasmus-Tafel Grünewalds abgebildet ist.77 Dieser gestalterische Bezug zu den am Altar gebrauchten ornamenta ist kaum zufällig gewählt, hatte doch das Kerngeschäft Plocks in deren Herstellung gelegen. Vertraut war ihm in diesem Zusammenhang mit Sicherheit auch die Deutung der ornamenta als materielle Zeichen, in denen – ausgedrückt in der Schönheit der Arbeit und der Kostbarkeit der Materialien – das überirdische Heil geschaut werden kann. Dem auf den Altar gelegten Evangelienbuch kam als corpus der Worte Christi, ja als Verkörperung Christi selbst, unter den ornamenta eine besonders hervorgehobene, sakramentale Position zu. Die sakramentale Zeichenbedeutung des Codex aber wurde betont durch

74 François, Etienne: Das religiöse Buch als Nothelfer, Familienreliquie und Identitätssymbol im protestantischen Deutschland der Frühneuzeit (17.–19. Jahrhundert). In: Hören – Sagen – Lesen – Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag: Hg. v. Ursula Brunold-Bigler u. a. Bern 1995, 219–230. – Siehe zu verschiedenen Aspekten der Heiligkeit und Sakralisierung der Bibel außerdem Scribner, Robert W.: The Impact of Reformation on Daily Life. In: Mensch und Objekt im Mittelalter und der Frühen Neuzeit: Leben –Alltag – Kultur. Hg. v. Gerhard Jaritz. Wien 1990 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 13), 315–343; Rublack (wie Anm. 2), 209– 222. 75 François (wie Anm. 74). 76 Siehe dazu die Zusammenstellungen bei Scribner (wie Anm. 74), bes. 328 und 333 (mit weiterführender Literatur). – Rublack (wie Anm. 2), 214 f. – Zu einer differenzierten Darstellung vorreformatorischer Formen der ‚Bibelmagie‘ in ihrem Verhältnis zur Bibellektüre und ihrer Fortsetzung über die Reformation hinweg siehe Schreiner, Klaus: Volkstümliche Bibelmagie und volkssprachliche Bibellektüre. Theologische und soziale Probleme mittelalterlicher Laienfrömmigkeit. In: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter. Hg. v. Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer. Paderborn u. a. 1990, 329–373. 77 Tafel mit den hll. Erasmus und Mauritius, um 1522/23. München, Alte Pinakothek. – Abb. in: Vom Kardinalsornat zur Lutherbibel (wie Anm. 3), Taf. XI.; ebd. Taf. VIf., die in der Dresdner Rüstkammer erhaltene Plock zugeschriebene Prachtmitra.

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Abb. 18: Hans Plock: Auftaktblatt des 1. Bandes der Plockbibel mit Wappen, Feder, aquarelliert (herausgelöst), Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett (Leihgabe Stiftung Stadtmuseum).

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prächtige Einbände.78 Plock übertrug dies auf die ganze Bibel und verknüpfte es mit der reformatorischen Lehre, indem er nicht nur eine Dornenkrone ins Zentrum setzte, sondern in diese das Motto der Reformation GWBE (Gottes Wort bleibt ewig) schrieb. Damit verwies er nicht nur auf die Deutung der gesamten Bibel auf Christus,79 sondern auch auf das Wort Gottes als Substanz des Bibelbuches. Mit beidem – dem Wort Gottes und Christus (und dem Bibelbuch) – verknüpfte er sich schließlich selbst, indem er das eigene Wappen sowie seinen Namen und Beruf in den Mittelpunkt des Titelblatts platzierte – eingefasst von der Dornenkrone. Dies fügt der Aneignung der Bibel eine Ebene hinzu und steht mit der Präsenz und symbolischen Aufladung des materiellen Buches auf eine Weise in Wechselwirkung, die von der oben beschriebenen heilsgeschichtlichen Einschreibung noch nicht vollständig erfasst ist. Auch im Falle der Pfinzingbibel ist die – im Wortsinne – ‚Einbindung‘ der Familie in das Bibelbuch mit den explizit körperlich-präsentisch gestalteten Porträts mehr als die Demonstration der heilsgeschichtlichen Verwurzelung von Familie und Ehe, sondern sie scheint das Buch auch zu einem ‚Heilsraum‘ auszugestalten. Dies war, wie Bruno Reudenbach am Beispiel der architektonisch gestalteten Kanontafeln in frühen Evangelienhandschriften exemplifiziert hat, kein ungewöhnlicher Gedanke.80 Erinnert sei hier auch an die oben beschriebene Überblendung von ‚Tempel‘ und ‚Bibel‘, deren Geläufigkeit sich auch in der Gestaltung der Titelblätter von Drucken der Lutherbibel im späten 16. und im 17. Jahrhundert zeigt.81 Metaphern, die eine heilsräumliche Deutung der Bibel nahelegen, begegnen uns auch bei Luther, der von der Heiligen Schrift als „paradisus noster“ oder gar als „uterus dei“ spricht.82

78 Siehe dazu u. a. Lentes, Thomas: Textus Evangelii. Materialität und Inszenierung des textus in der Liturgie. In: Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. Hg. v. Ludolf Kuchenbuch und Uta Kleine. Göttingen 2006, 133–148. – Zum Einband jüngst ausführlich Ganz, David: Buch-Gewänder. Prachteinbände im Mittelalter. Berlin 2015. 79 Dass er sich dieser von Luther betonten Deutung sehr verpflichtet fühlte, zeigen mehrere seiner Randkommentare zum Alten Testament. Etwa Plockbibel, Bd. 1, fol. 9r als Randkommentar zu Gen. 17: „Luther sagt, daß alt Testament sei wie eine Nuss, darin der Kern Christus verschlossen ist“. 80 Siehe Reudenbach, Bruno: Der Codex als heiliger Raum. Überlegungen zur Bildausstattung früher Evangelienbücher. In: Codex und Raum. Hg. v. Stephan Müller, Lieselotte E. Saurma-Jeltsch und Peter Strohschneider. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 21), 59–84. 81 Siehe Mühlen, Reinhard: Die Bibel und ihr Titelblatt. Die bildliche Entwicklung der Titelblattgestaltung lutherischer Bibeldrucke vom 16. zum 19. Jahrhundert. Würzburg 2001. – Dass die Allusion auch vom (Kirchen)raum zur Bibel führen konnte, zeigt die Ausmalung der Unionskirche in Idstein (um 1670), siehe Deiters, Maria: Bibelbilder, Kirchenraum und Bildersaal der Seele. Thesen zum Verhältnis von Bild und Raum im Ausmalungsprogramm der Idsteiner Unionskirche. In: „dergleichen man in Teutschland noch nicht gesehen“. Die Deckengestaltung der Idsteiner Unionskirche. Hg. v. Esther Meier. Marburg 2014 (ars ecclesia: Kunst vor Ort 1), 77–90. 82 Beutel, Albrecht: Erfahrene Bibel. Verständnis und Gebrauch des verbum dei scriptum bei Luther. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 89 (1992), 302–339, hier 331 f.

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So wie sich der ‚Heilsraum‘ und ‚Buchkörper‘ der Bibel im Herumwandeln der Seiten, im Betrachten der Bilder und Lektüre des Bibelwortes (leise und laut), im Annotieren und Unterstreichen, im Meditieren, Illustrieren und ‚Zieren‘ mit Bildern erschlossen, wirkte die Bibel auch nach außen – durch das in ihr enthaltene Wort Gottes als stetem Bezugspunkt und Richtschnur des christlichen häuslichen Lebens, aber auch durch die zeichenhafte, durch bildliche Gestaltung noch gesteigerte Aura des Bibelbuches. Das Haus wird so umgekehrt zum Bibelraum, in dem sich das Wort Gottes offenbart. Inwieweit sich für Martin Pfinzing und Hans Plock mit den von ihnen angelegten Bibeln tatsächlich die Erwartung eines unmittelbar durch das Bibelbuch gewirkten Heils – für die jenseitige Seligkeit und die Zukunft der Familie, aber auch die gegenwärtigen, täglichen Vollzüge im häuslichen Leben – verband, ist nicht zu klären. Jedoch bleibt abschließend festzuhalten, dass sich Bilder in besonderem Maße eignen, unterschiedlichste Funktionen in Prozessen der Heilsvergewisserung zu erfüllen, die verschiedenen Ebenen symbolisch-metaphorischer und gegenständlicher Aneignung zu verknüpfen und dabei Deutungen auch in der Schwebe zu halten.

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Die Kirche in der Kammer Zum Verhältnis zweier Gemälde Emanuel de Wittes aus dem Jahre 1678 In der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts ist das 1678 datierte Familienbildnis Emanuel des Wittes in der Alten Pinakothek in München (Abb. 1) sicherlich eines der aussagekräftigsten Beispiele für die Bedeutung, die Bilder im Kontext häuslicher Frömmigkeitspraxis besitzen können.1 Was zu dieser Bewertung berechtigt, ist der bis heute immer wieder betonte kunst- und kulturhistorisch beispiellose Rang dieses Gemäldes. Dieser wird daran festgemacht, dass das Bild die Gattungen Porträt und Genre, vor allem aber bürgerliches Interieur und Kircheninterieur auf einzigartige Weise miteinander verbindet.2 Beleg für diese Fusion von privatem und öffentlichem Raum in der mit Ledertapete, Kamin und Marmorbüste, mit Leuchter, Spiegel, Tisch und Teppich kostbar ausgestatteten Kammer ist die zentral platzierte Darstellung eines Kircheninnenraumes, in dem sich eine Gruppe von Zuhörern um eine Kanzel versammelt hat, um den Ausführungen eines Prädikanten zu folgen (Abb. 2). Da diese Verkündigung des Evangeliums in der Oude Kerk in Amsterdam verortet werden kann, mutiert das, was gerade noch wie ein dekoratives Ausstattungsstück in Form einer sakralen Raumphantasie anmutete, zu einer Predigtdarstellung in einem eindeutig lokalisierbaren Sakralraum in der holländischen Metropole. Mit dieser überraschenden Identifizierung des gemalten Kirchenraums, der sich innerhalb der artifiziellen und unwahrscheinlichen Kombination kostbarer

1 Emanuel de Witte, Familienbildnis, 1678, Öl auf Leinwand, 68,5 × 86,5 cm, München, Staatliche Gemäldesammlungen Alte Pinakothek, FV 2. Vgl. Eikemeier, Peter: Das Familienbildnis des Emanuel de Witte in der Alten Pinakothek. In: Pantheon 32 (1974), 255–261. – Burschel, Peter: Gemalte Kirchenräume in den nördlichen Niederlanden des 17. Jahrhunderts. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9 (2005), 527–558. 2 Liedtke, Walter A.: Architectural Painting in Delft. Gerard Houckgeest, Hendrick van Vliet, Emanuel de Witte. Doornspijk 1982 (Aetas Aurea. Monographs on Dutch & Flemish Painting 3). – Von Frans Hals bis Vermeer. Meisterwerke Holländischer Genremalerei. Ausst. Philadelphia / Berlin (Dahlem) / London 1984. Hg. Peter C. Sutton. Berlin 1984. – Giesen, Marianne Katharina Antonia: Untersuchungen zur Struktur des Holländischen Familienporträts im XVII. Jahrhundert. Phil. Diss., Bonn 1997. – Loughman, John / Montias, Michael: Public and Private Spaces. Works of Art in Seventeenth-Century Dutch Houses. Zwolle 2000. – Laarmann, Frauke K.: Families in beeld. De ontwikkeling van het Noord-Nederlandse familieportret in de eerste helft van de zeventiende eeuw. Hilversum 2002 (Zeven Provinciënreeks 20). – Hollander, Martha: An Entrance for the Eyes. Space and Meaning in Seventeenth-Century Dutch Art. Berkeley / Los Angeles / London 2002. – Franits, Wayne: Dutch seventeenth-Century genre painting. Its stylistic and thematic evolution. New Haven / London 2004. – Jensen Adams, Ann: Public Faces and Private Identities in SeventeenthCentury Holland. Portraiture and the Production of Community. Cambridge 2009. https://doi.org/10.1515/9783050051659-005

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Abb. 1: Emanuel de Witte, Familienbildnis. München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen Alte Pinakothek.

Ausstattungsstücke wie ein Unikat ausnimmt, sind die Besonderheiten des bildlichen Wandschmucks allerdings noch keineswegs erschöpft. Bei der Darstellung dieser Predigt in der ältesten Kirche Amsterdams handelt es sich nämlich um ein weiteres, bis heute nachweisbares Werk des gerade erwähnten, 1651/52 nach Amsterdam übergesiedelten Emanuel de Witte. Mehr noch – auch dieses Kircheninterieur ist wie das Kammerbild, dessen Rückwand es ziert, im Jahr 1678 vollendet worden.3 Die ‚Kirche in der Kammer‘, die sich somit als ein real existierendes Bild im Bilde erweist und heute in der Sammlung Kremer bewahrt wird,4 ist demnach ein Gemälde, mit dem sich der auf Kircheninterieurs spezialisierte Maler offenbar selbst zitiert

3 Signatur und Datierung unten links: E. DE Witte A º 1678. Einen Überblick über die älteren Abbildungen der Oude Kerk in Amsterdam liefert Janse, Herman: De Oude Kerk te Amsterdam. Bouwgeschiedenis en restauratie. Zwolle 2004 (Rijksdienst voor de Monumentenzorg, Zeist), 221–249. 4 Emanuel de Witte, Innenansicht der Amsterdamer Oude Kerk während eines Gottesdienstes, 1678, Öl auf Leinwand, 80,5 × 69,5 cm. Nr. 48. In: Niederländische Malerei. Die Sammlung Kremer. Ausst. Köln / Kassel / Haarlem 2008–2009. München 2008, 222–225.

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Abb. 2: Emanuel de Witte, Inneres der Oude Kerk in Amsterdam mit Predigt. Sammlung Kremer.

hat, vor allem aber ist es ein Gemälde, das die Frage nach der Relation zu der gemalten Raumdarstellung aufwirft, in der es hängt. Diese mithin über den Raum lancierte interpikturale Relevanz5 dürfte weit reichende Erkenntnisse über die in dieser Form vermutlich exzeptionelle Konstellation in Aussicht stellen. Da Bilder im Bilde im Sinne der rhetorischen Exempellehre näm-

5 Von Rosen, Valeska: Interpikturalität. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2003, 161–164.

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lich häufig eine bildexegetische Funktion besitzen,6 wird man davon ausgehen dürfen, dass auch das Bild im Hintergrund dieses Raumes eine spezifische Bedeutung für die Genredarstellung im Vordergrund besitzt. Für diesen Zusammenhang, der im Folgenden präzisiert werden soll, spricht zunächst die Tatsache, dass die drei Protagonisten des bürgerlichen Wohnraums auch auf der Innenraumdarstellung der Amsterdamer Kirche wiederzuerkennen sind. Dass sie in beiden Gemälden vergleichbare Körperhaltungen einnehmen, ja sogar dieselbe Kleidung tragen, ist allerdings nur am Gemälde aus der Privatsammlung selbst zu verifizieren, sind die Personen auf dem Bild im Bilde doch durch einen Vorhang am rechten Bildrand verdeckt, möglicherweise, um der aristotelischen Forderung nach einer Einheit von Zeit, Raum und Handlung zu entsprechen.7 Darüber hinaus dürfte der Mann im Bildzentrum nicht zufällig exakt unter dem Kirchenstück sitzen; vielmehr wird mit seiner Positionierung eine klare Intention verbunden gewesen sein. Diese suggeriert, dass die Porträtierten insgesamt eine enge Beziehung zur reformierten Kirche gehabt haben dürften – doch würde man dem Anspruch des Bildes sicherlich nicht gerecht, nähme man an, die Gegenwart des Kirchenstückes beschränke sich vornehmlich darauf, die konfessionelle Zugehörigkeit der Anwesenden zu dokumentieren.8 Individuelle Züge, die für Predigtzuhörer auch in anderen Interieurs De Wittes geltend gemacht werden können und nahelegen, dass es sich um Porträts handelt,9 geben vielmehr Grund zu der Annahme, dass sich hinter den beiden ineinander verschachtelten Raumbildern De Wittes zwei Aufträge ein und derselben Persönlichkeit verbergen, die anscheinend in ein und demselben Jahr gleich zweimal mit überaus klaren Vorstellungen an den in Alkmaar geborenen Maler herangetreten war. Erst die Klärung der Identität dieses Auftraggebers wird also Aufschluss darüber geben, warum sich dieser als Zuhörer einer Predigt in der ältesten Kirche Amsterdams hat darstellen lassen, warum ein Interieur ausgerechnet dieser Kirche hin-

6 Vgl. Weber, Gregor: „Om te bevestige, aen-te-raden, verbreeden ende vercieren“: rhetorische Exempellehre und die Struktur des ‚Bildes im Bilde‘. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 55 (1994), 287– 314. – Beaujean, Dieter: Bilder in Bildern. Studien zur niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Phil. Diss., Berlin 2001. Weimar 2001. 7 Aristoteles: Poetik 1448a–1450b, 1459a–1459b. Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1987 (Reclams Universal-Bibliothek 7828), 17–25 und 77–79. 8 Vgl. Ruurs, Rob: Functions of Architectural Painting, with Special Reference to Church Interiors. In: Perspectives: Saenredam and the architectural painters of the 17th century. Ausst. Rotterdam 1991. Hg. v. Jeroen Giltaij, Guido Jansen. Rotterdam 1991, 43–50, bes. 45. – Liedtke, Walter A.: Faith in Perspective: the Dutch Church Interior. In: Connoisseur 193 (1976), 126–133, bes. 131. 9 So zeigt beispielsweise auch eine 1661 datierte Predigtdarstellung De Wittes am rechten Bildrand ein Familienporträt, bestehend aus einem sich zugewandten Ehepaar mit zwei kleinen Kindern. Emanuel de Witte, Inneres der Oude Kerk in Amsterdam mit Predigt, 1661, Öl auf Leinwand, 101,5 × 121 cm, Amsterdams Historisch Museum, Amsterdam inv.nr. SB 4929. – Middelkoop, Norbert / Van der Molen, Tom: Amsterdams Glorie. De Oude Meesters van de stad Amsterdam. Bussum 2009, 70–71.

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ter seinem Rücken die Wand des repräsentativen Wohnraums schmückt 10 und warum der Dargestellte sich so verhält, wie er es tut. Die in diesem Zusammenhang von Peter Eikemeier, dem damaligen Kustos für frühniederländische und holländische Malerei an der Alten Pinakothek, gleich nach Ankauf des Gemäldes im Herbst 1972 formulierte Vermutung, es könne sich bei der Darstellung des Unbekannten in De Wittes Interieur möglicherweise um einen Prädikanten handeln, ist von Isabella Henriette van Eeghen zurückgewiesen worden. Die Einwände der Archivarin und Historikerin am Amsterdamer Stadtarchiv, dass Prädikanten im Holland des 17. Jahrhunderts ein entschieden einfacheres Leben geführt haben und sich niemals auf eine solche Weise hätten porträtieren lassen, waren so überzeugend, dass Eikemeier seine Ausgangsthese in einem Vortrag vor den Mitgliedern des Vereins zur Förderung der Alten Pinakothek am 7. Mai 1973 bereits revidierte. Allerdings blieben auch Van Eeghens bis 1973 ebenso akribisch wie selbstkritisch verfolgten Identifizierungsversuche, die von der Gruppe der vier Kirchenmeister (kerkmeesters) der Oude Kerk ihren Ausgangspunkt nahmen, mit Zweifeln behaftet.11 Gänzlich unbeeindruckt von diesen Überlegungen schrieb die Verfasserin der bis heute einzigen De Witte-Monographie,12 Ilse Manke, am 7. August 1976 in einem Brief an Eikemeier,13 dass sie keinen Zweifel habe, dass es sich bei dem Dargestellten um Pieter de Graeff (1638–1707)14 handle, also um einen Vertreter einer der politisch einflussreichsten, bedeutendsten und zugleich reichsten Familien Amsterdams.15 Die Bestätigung für ihre These, die wiederum Van Eeghen nicht 10 Vor allem in den gemalten bürgerlichen Interieurs der Niederlande des 17. Jahrhunderts wird die Konstruktion der Identität der dargestellten Personen durch den Raum und die Raumausstattung grundgelegt. Vgl. Ullrich, Wolfgang: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht. Berlin 2000 (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek 64). 11 Van Eeghen, Isabella Henriette: De Familiestukken van Metsu van 1657 en van De Witte van 1678. Met vier levensgeschiedenissen (Gillis Valckenier, Nicolaas Listingh, Jan Zeeuw en Catharina van de Perre). In: Jaarboek van het Genootschap Amstelodamum 68 (1976), 78–107. 12 Manke, Ilse: Emanuel de Witte 1617–1692. Amsterdam 1963. 13 Dieser Brief vom 6. Juni 1976 ist Bestandteil der in der Bilddokumentation zum Münchener Interieur De Wittes gesammelten Korrespondenz. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme dankt der Verfasser Herrn Marcus Dekiert ganz herzlich. 14 Alberdingk Thijm, J. A. / De Roever, N.: Het Patriciaat van Amsterdam, vertegenwoordigd door de genealogie van ’t geslacht Boelens, met aangehuwde familiën en nakomelingschap, uitgegeven naar het handschrift van Jan van Wieringen Ghijsbertsz. Amsterdam 1884, Fol. 19: „Pieter de Graeff, geb. te Amsterdam 15. Aug. 1638, vrijheer van Zuydpolsbroeck, Purmerland, Ilpendam ect., oud scheepen tot Amsterdam, mitsgaders bewinthebber van de Oost-Ind. Compagnie, st. 8 Juni 1707, troude op Ilpendam 11 April 1662 Jacoba Bicker, geb. in 1642, st. 29 Juni 1695, dochter van den Hr Burgermeester Jan Bicker en van Agneta Jacobs de Graeff.“ 15 De Graeff, Pieter / De Graeff, Pieter Gerritsz / De Graeff van Polsbroek, Dirk: Genealogie van de familie De Graeff van Polsbroek. Amsterdam 1882, Fol. 1. – Zandvliet, Kees: De 250 rijksten van de Gouden Eeuw. Kapitaal, macht, familie en levensstijl. Amsterdam 2006, 93–97. – Fock, C. Willemijn: Het stempel van de bewoner. Rede uitgesproken door Prof. dr. C. Willemijn Fock ter gelegenheid van haar afscheid als hoogleraar in de Geschiedenis van de Kunstnijverheid aan de Universiteit Leiden op donderdag 14 Juni 2007. Leiden 2007.

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überzeugte,16 sah Manke – ihren eigenen Angaben zufolge – in drei Porträts, die nachweislich Pieter de Graeff darstellen. Darunter war eines von Caspar Netscher aus dem Jahr 1663, das anlässlich von De Graeffs Hochzeit gemalt worden war.17 Wenngleich man auch dieser Begründung nicht weniger skeptisch begegnen muss, zum einen, weil alle De Graeff-Porträts nicht von De Witte stammen, zum anderen, weil – zumindest im Fall des Netscher-Porträts – zwischen dem Zeitpunkt seiner Vollendung und dem der Vollendung des De Witte-Interieurs eineinhalb Jahrzehnte liegen, lassen sich doch einige Argumente anführen, die es lohnenswert erscheinen lassen, Mankes Spur weiter zu verfolgen. Denn selbst wenn sich dieser Pfad als ein Irrweg erweisen sollte, so eröffnet die Verfolgung der von ihr gelegten Spur doch ein Terrain potentieller Beziehungen, das das Bewusstsein für den grundsätzlichen Anspielungsreichtum des Gemäldes schärft und deswegen für jeden weiteren Identifizierungsversuch nur von Vorteil sein kann. Sollte es sich bei dem Porträtierten also tatsächlich um Pieter de Graeff handeln, hätte De Witte den bedeutenden Repräsentanten der Regentenklasse Hollands im Alter von 40 Jahren gemalt. Bei der Frau an seiner Seite handelte es sich dann sehr wahrscheinlich um seine zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Interieurs 38-jährige Gemahlin Jacoba Bicker (1640–1695): Das Mädchen, das sich De Graeff nähert, wäre dann deren gemeinsame Tochter, Agneta de Graeff, die aus der am 11. April 1662 geschlossenen Ehe hervorgegangen war.18 Die durch das Kirchenstück lancierte enge persönliche Verbindung der dargestellten Familie zur Oude Kerk wäre dadurch gegeben, dass Pieters Vater, Cornelis de Graeff (1599–1664), im Jahre 1648 die frühere Taufkapelle (doopkapel) in der südwestlichen Ecke der mächtigen Hallenkirche erworben hatte, um diese umbauen zu lassen und fortan als Grabkapelle für sich und seine Familie zu nutzen.19 Zu dieser baulichen, auf dauerhafte familiäre Repräsentation angelegten Verbundenheit gesellte sich dann mit dem gemalten Kircheninterieur ein Dokument einer im wöchentlichen Intervall erneuerbaren Verbundenheit in Form des sonntäglichen Kirchenbesuchs, wie sie in De Wittes Predigtdarstellung mit Familienporträt nicht besser hätte demonstriert werden kön-

16 Van Eeghen (wie Anm. 11), 87. 17 Caspar Netscher, Porträt Pieter de Graeffs, 1663, Öl auf Holz, 51 × 36 cm, Amsterdam Rijksmuseum, Inv. A 3977. Wieseman, Marjorie E.: Caspar Netscher and Late Seventeenth-century Dutch Painting, Doornspijk 2002 (Aetas Aurea, Monographs on Dutch & Flemish Painting 16), 179. Weitere Porträts von Pieter de Graeff haben sich erhalten von Gerard ter Borch, Jan Lievens und Wallerant Vaillant. 18 De Graeff / De Graeff / De Graeff van Polsbroek (wie Anm. 15), Fol. 1: „Agneta de Graeff met Jan Baptist de Hochepied 1703. Regeerend Schepen en bewindhebber der O.-I. C.“ Unklar bleibt in diesem Fall allerdings, warum nicht auch die beiden Brüder Agnetas, Cornelis de Graeff (1671– 1719) und Johan de Graeff (1673–1714) auf dem Familienbildnis mit dargestellt worden sind. 19 Noach, Arnoldus: Het Materiaal tot de Geschiedenis der Oude Kerk te Amsterdam (Academisch Proefschrift ter Verkrijging van den Graad van Doctor in de Letteren en Wijsbegeerte aan de Universiteit van Amsterdam). Amsterdam 1937, 49.

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Abb. 3: Jacob Cats, Emblemata / Moralia / Et / Aeconomica. […], Rotterdam 1627, Nr. 27. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek.

nen. Ein weiterer Grund, der für eine Identifizierung De Graeffs spräche, wäre zudem die dargestellte Handlung. Die Geste des Mannes, der eine Weinrebe aus Sorge um deren Empfindlichkeit nur am Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger von seiner Tochter entgegennimmt, spielt auf jene Sorgfaltspflicht an, die im Umgang mit Kindern geboten war; so ist dieses Motiv jedenfalls von Jacob Cats in seinen „Emblemata“ von 1627 ausgelegt worden (Abb. 3).20 Auch für diese im familiären Kontext exemplarisch vorgeführte Maxime ließen sich aus dem Leben des besagten Regenten mehrere konkrete Anhaltspunkte anführen. Pieter de Graeff konnte die Vorzüge des Privatunterrichtes bei Johann Amos Comenius, dem sicherlich bedeutendsten Pädagogen seiner Zeit, genießen.21 Was der einflussreiche Erzieher seinem jungen Schüler mit auf den Weg gegeben hat, dürfte dem späteren Regenten nicht nur bei der Erziehung seiner eigenen Tochter hilfreich gewesen sein, sondern auch im Umgang mit den Kindern seines Schwagers, Johan de Witt, die nach der Ermordung ihres Vaters im Jahre 1672 zu Waisen geworden waren und eines Vormundes (voogd)

20 Cats, Jacob: Emblemata / Moralia / Et / Aeconomica / Virgilius. / Omnia vertuntur, certè vertuntur amores. Rotterdam 1627, Nr. 27. Vgl. De Jongh, E.: Grape symbolism in paintings of the 16th and 17th centuries. In: Simiolus 7 (1974), 166–191. – Bedaux, Jan Baptist: Fruit and Fertility: Fruit Symbolism in Netherlandish Portraiture of the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Simiolus 17 (1987), 150–168. – Henkel, Arthur / Schöne, Albrecht (Hg.): Emblemata, Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe. Stuttgart 1996, 269–270. 21 Vgl. Groenendijk, Leendert F. / Sturm, Johan C.: Das Exempel Böhmens in den Niederlanden. Comenius’ Bedeutung für die familienpädagogische Offensive der pietistischen Reformation. In: Zeitschrift für Pädagogik 38 (1992), 163–182. – Dieterich, Veit-Jakobus: Johann Amos Comenius. Reinbek bei Hamburg 31999 [11991].

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bedurften, zu dem Pieter De Graeff bestellt worden war.22 Hinzu kommt, dass sich im umfangreichen Nachlass Pieter de Graeffs Briefe Johan de Witts erhalten haben, in denen pädagogische Fragen und erzieherische Maximen dargelegt worden sind, die die Erziehung Willems III. (1650–1702) betrafen.23 Die Szenerie mit der Obstschale und der Griff nach den Früchten auf ihr stellen somit einen Pädagogikentwurf in den Vordergrund, der wie der des Comenius vom Kind ausging.24 Kindliche Dankbarkeit auf der einen und elterliche Fürsorge auf der anderen Seite markieren jedenfalls den Rahmen, in dem die offensichtliche Einbindung des Cats’schen Emblems diskutiert werden muss. Kindeserziehung wird hier zum visuellen Exemplum, intelligent vorgeführt im Bild sich wechselseitig bedingender Gesten des Gebens und Nehmens. Unterstrichen wird diese pädagogische Sorgfaltspflicht auch durch den Ausblick in den Garten, dessen Pflege – so die offensichtliche Intention De Wittes – mit der Erziehung eines Kindes verglichen werden sollte; nicht zufällig sind das Mädchen und der Garten einander zugeordnet. Während der Garten auch schon bei Comenius eine zentrale Metapher der Erziehung darstellte, Erziehung also als ein Wachstums- und Kultivierungsprozess verstanden wurde, der im Säen, Pflegen und Ernten seine Entsprechungen fand,25 kommt eine weitere Bedeutungsdimension hinzu: In einem Regentenporträt dürfte die Darstellung einer kultivierten Grünfläche nicht zuletzt auch auf eine politische Landespflege angespielt haben.26 Ein letztes Argument für Mankes These ist der Umstand, dass sich die Familie De Graeff im Jahr 1678, also im Entstehungsjahr beider Interieurs, glücklich geschätzt haben dürfte, ein bedeutendes Erbe antreten zu können. Nach dem Tod Frans Banning Cocqs 1655 und seiner Gemahlin Maria Overlanders 1678 hat das Amsterdamer Patriziergeschlecht nämlich deren repräsentatives Anwesen Purmerland und Ilpendam

22 Rowen, Herbert H.: John de Witt. Statesman of the „True Freedom“, Cambridge 1986. – Israel, Jonathan: The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806. Oxford 1995, 796–806. – Wieseman (wie Anm. 17), 179. 23 Vgl. De Gids 1 (1837), 329: „onderscheidene stukken, betreffende de uitoefening der voogdijschap over Prins Willem III; eenige eigenhandige brieven van den Raadpensionaris Johan de Witt, aan Pieter de Graeff, betreffende de Educatie van voornoemden Prins“. Vgl. Troost, Wout: William III, the Stadholder-King. A Political Biography. Aldershot 2005, http://www.dbnl.org/tekst/_ gid001183701_01/_gid001183701_01_0064.php (abgerufen am: 02. 07. 2015). 24 Comenius, John Amos: The School of Infancy. Ed. with an Introduction by Ernest M. Eller. Chapel Hill 1956. – Schaller, Klaus: Das Kind in der Pädagogik des J. A. Comenius (1592–1670). In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung. Beiträge des Internationalen Symposions vom 12.−15. November 1997 in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hg. v. Josef N. Neumann / Udo Sträter. Tübingen 2000 (Hallesche Forschungen 5), 17–31. 25 Vgl. Guski, Alexandra: Metaphern der Pädagogik. Metaphorische Konzepte von Schule, schulischem Lernen und Lehren in pädagogischen Texten von Comenius bis zur Gegenwart. Bern 2007 (Explorationen, Studien zur Erziehungswissenschaft 53), 216–220. 26 Van Winter, P. J.: De Hollandse Tuin. In: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 8 (1957), 29– 121. – Hunt, John Dixon (Ed.): The Dutch Garden in the Seventeenth Century. Washington 1990 (Dumbarton Oaks Colloquium on the History of Landscape Architecture 12). – De Jong, Erik: Natuur en Kunst. Nederlandse tuin- en landschapsarchitectuur 1650–1740. Bussum 1993.

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unweit Amsterdams und damit eine jener so genannten ‚Herrlichkeiten‘ (Hoge of vrije heerlijkheid Purmerend, Purmerland en Ilpendam), zu der auch eine Gartenanlage gehörte, erworben.27 Nur allzu gut hätte das gerade neu erworbene Territorium eigener Rechtsprechung den herrschaftlichen Bildauftrag stimulieren können. Denn auch wenn dieses Erbe zwar zunächst in den Besitz von Pieters Mutter Catharina Hooft (1618–1691), dann seines jüngeren Bruders Jakob (1642–1690) übergegangen war, so wäre ein Bildauftrag, der auf dieses Ereignis – wenngleich peripher – Bezug genommen hätte, doch ganz im Sinne Pieter de Graeffs gewesen, da dieser sich höchst ambitioniert als Chronist seiner Familie hervortat, zahlreiche genealogische Aufzeichnungen hinterließ und beispielsweise mit dem Grafiker Romeyn de Hooghe wegen der Anfertigung von Karten und Stichen seiner diversen Besitze und Wohnstätten in Kontakt stand.28 Denkbar wäre allerdings auch, dass die Vollendung des 40. Lebensjahres, die Pieter de Graeff ebenfalls im Jahr 1678 beging, mit dem Auftrag des Bildes zu tun hatte. Vielleicht war es sogar ein Geschenk seiner Tochter, die selbst als eine Frucht jener fürsorglichen und besonnenen Erziehung ihres Vaters betrachtet werden sollte, einer Tochter, die ihrem Vater Dank zollte, den dieser nun so erwiderte, wie er es in seiner eigenen Kindheit wiederum von seinem Vater erfahren hatte. Hinzu käme im Fall De Graeffs schließlich die Möglichkeit, all diese historisch rekonstruierten hypothetischen Erklärungsversuche als einen Reflex jener Situation zu begreifen, in der sich die Familie De Graeff im Jahre 1678 zwischenzeitlich befand. Angesichts der Tatsache, dass im Jahr 1672, dem so genannten rampjaar, von den 460 Regenten Hollands 130 politisch bedeutungslos geworden waren – unter ihnen auch die De Graeff, die ihren politischen Einfluss verlieren und nie mehr zurückgewinnen sollten29 –, ruft De Wittes unübersehbar auf Repräsentation bedachtes Interieur einen gesellschaftlichen Status des mutmaßlichen Auftraggebers in Erinnerung, der 1678, zur Zeit der Vollendung des Gemäldes, zwar längst verloren war, in Form eines Interieurs, das einen aristokratischen Lebenswandel spiegelte, allerdings bestens hätte überspielt werden können.30 Die konservative, altmodische Kleidung, die schon Peter Eikemeier aufgefallen war,31 würde eine solche Lesart ebenso unterstreichen wie der kurze, auffällige Lichtreflex im Bildvordergrund, die verwelkende, zu Boden gefallene Rosenblüte rechts und die leichtsinnig aufgestellte chinesische Vase auf dem Kamingesims.32 Letztgenannte muten an wie

27 Vgl. Van Nierop, H. F. K.: The nobility of Holland. From knights to regents, 1550–1650. Cambridge 1993 (Cambridge Studies in Early Modern History). 28 Vgl. Fock (wie Anm. 15), 10. – Otten, Jeanine: Kaarttekenaars en kaartafzetters in de dagboeken van Pieter de Graeff (1638–1707). In: Caert-thresoor. Tijdschrift voor de geschiedenis van de kartografie in Nederland 14, 3 (1995), 53–58. 29 Vgl. Israel (wie Anm. 22), 808. 30 Vgl. Snoep, D. P.: Praal en propaganda. Triumfalia in de Noordelijke Nederlanden in de 16de en 17de eeuw. Alphen aan den Rijn 1975. 31 Eikemeier (wie Anm. 1), 255. 32 Eikemeier (wie Anm. 1), 259.

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punktuelle Anzeichen von Vanitas in einem Gemälde, in dem Prestige, Status und Macht von scheinbar Zeit überdauernder Existenz sind. Zeichen des Machterhalts wäre der Erwerb der erwähnten ‚Herrlichkeit‘ gewesen, die innerhalb dieser bildgestützten politisch-gesellschaftlichen Statusrestituierung das mit Abstand stärkste Argument dargestellt hätte. Wenngleich also trotz aller gebotenen Skepsis nicht wenige Argumente dafür sprechen, dass es sich bei dem Unbekannten in De Wittes Interieur um einen wohlhabenden Regenten, vielleicht ja sogar um Pieter de Graeff handelt, steht und fällt Mankes Vermutung doch mit der Möglichkeit ihrer Verifizierung im Rahmen einer noch ausstehenden Durchsicht des De Graeff-Archivs in Amsterdam.33 Sollte allerdings auch dieser Identifizierungsversuch scheitern, wird man alle Hoffnung auf den Fund eines entsprechenden Inventareintrags setzen müssen, der allein alle Zweifel an einer eindeutigen Auftragsvergabe auszuräumen vermag. So sehr man auch einen derartigen Fund, ob im De Graeff-Archiv oder sonst wo, herbeisehnt, um Näheres über die tatsächlichen Entstehungsbedingungen dieses Gemäldes zu erfahren – aufschlussreich in hohem Maße ist schon allein die Verschränkung von Kirchen- und Wohnraum, wie sie De Witte vorgenommen hat. Geradezu beispielhaft liefert sie Einblicke in das Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum, mehr noch in eine verbreitete Umgangsform mit gemalten Predigträumen, die in den Dienst einer mit Bildern operierenden Frömmigkeitspraxis in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts treten. So ist vor dem Hintergrund dieser eher generalisierenden Perspektive das Kirchenstück in De Wittes Interieur auch als Darstellung einer Kirche zu verstehen, die als moralische Instanz mit unmittelbarer lebenspragmatischer Bedeutung betrachtet werden will. In diesem Sinne ist der Vorhang nicht nur eine Anspielung auf die von Plinius überlieferte Zeuxis-Legende,34 durch die sich De Witte wie selbstverständlich in die Reihe der Großmeister eines malerisch perfekten Illusionismus stellt.35 Auch bietet er nicht nur praktischen Schutz, deutet Kostbarkeit an und stellt Besitz ostentativ zur Schau, sondern als traditioneller Verweis auf den Akt der revelatio des verbum Domini,36 also die Dar- und Auslegung des Gotteswortes durch

33 Gemeentearchief Amsterdam (GAA): Familiearchief De Graeff, nrs. 186–226. Vgl. Fock (wie Anm. 15), 21, Anm. 14. 34 Plinius, Naturalis historiae XXXV, 65. Vgl. Plinius Secundus d. Ä., C.: Naturkunde. LateinischDeutsch, Buch XXXV (Farben – Malerei – Plastik). Hg., übers. u. überarb. v. Roderich König. Düsseldorf-Zürich 21997 (Sammlung Tusculum), 56–58. 35 Deceptions and Illusions. Five Centuries of Trompe l’Oeil Painting. Ausst. Washington 2002– 2003. Hg. v. Sybille Ebert-Schifferer. Washington 2002. 36 Hofius, Otfried: Der Vorhang vor dem Thron Gottes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu Hebräer 6,19 f. und 10,19 f. Tübingen 1972. – Eberlein, Konrad: Apparitio regis – relevatio veritatis. Studien zur Darstellung des Vorhangs in der bildenden Kunst von der Spätantike bis zum Ende des Mittelalters. Wiesbaden 1982. – Heuer, Christopher: Picture Curtains and the Dutch Church Interior, c. 1650: Framing Revelation in the Golden Age. In: Chicago Art Journal 7 (1997), 15–33, bes. 25.

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einen Prädikanten, ist der zur Seite gezogene Stoff auch ein Sinnbild der Offenlegung, Anerkennung und Wertschätzung ideeller Werte von uneingeschränkter Gültigkeit. So enthüllt er qua velum revelatum im Hintergrund buchstäblich den allgemeinen religiösen Deutungshorizont des Raumes und der Handlung im Vordergrund. Durch ihn wird das Bild vom Kirchenraum zur freigelegten, quasi-exegetischen Hintergrundfolie des Wohnraumes. Damit dürfte die bei der Erziehung eines Kindes geforderte Sorgfalt nicht zuletzt auch christlich legitimiert gewesen sein.37 Erasmus von Rotterdam hatte den hohen Stellenwert der christlichen Erziehung in den Niederlanden immer wieder betont,38 und auf der Synode von Dordrecht im November 1618 wurde sogar offiziell proklamiert, dass Kinder von Anfang an in den Grundfesten der wahren Religion unterwiesen und mit wahrer Gottseeligkeit erfüllt werden mögen („in de fondamenten der waare religie onderwezen en met ware godsalicheyt vervult moge worden“).39 In De Wittes Bild wird man also auch den Ausdruck einer grundsätzlichen Bereitschaft erkennen dürfen, die in den Predigten verkündete und dargelegte christliche Lehre und die damit verbundenen Ermahnungen auch für den Privatbereich anzunehmen, kurzum „Gottes Wort zur Richtschnur [des] Lebens“ zu wählen“.40 Der Einfluss der Kirche als Vermittlerin des Gotteswortes, ihr Einfluss als handlungsnormierende Instanz reichte demzufolge bis in den privaten Wohnraum, oder mit anderen Worten: die in der Oude Kerk wie auch in jeder anderen reformierten Kirche gesprochene Sprache war auch die Sprache, die in einem privaten Wohnraum gesprochen wurde. Nicht zufällig präsentiert De Witte die mächtige, prominent platzierte männliche Figur in der Rolle des pater familias, der angesichts der kleiner dargestellten, in Passivität verharrenden Frau an seiner Seite eine patriarchalische Familienstruktur unmittelbar anschaulich werden lässt: In der Rolle eines nicht weniger stark assoziierten Prädikanten stand er den täglichen, in der Familie gemeinschaftlich abgehaltenen religiösen Übungen wie Hauskatechese, Bibellesung, Gebet und Psalmengesang vor.41 Damit verleiht De 37 Groenendijk, Leendert F.: Die reformierte Kirche und die Schule in den Niederlanden während des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft. Hg. v. Heinz Schilling und Stefan Ehrenpreis. Berlin 2007 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 38), 47–74. 38 So heißt es in der 1678 in Amsterdam erschienenen lateinisch-niederländischen Ausgabe der 1530 in Basel erschienenen Schrift „De civilitate morum puerilium“ des Erasmus von Rotterdam: „… de plicht dan van de kindtsheit te onderrichten […] bestaet in vele deelen. […] Van dewelcke gelijck het eerste also oock het voornaemste is […] dat het teder gemoedt indrincke de saden (of beginselen) der godtvruchtigheit.“ D. Erasmi Roterodami, De Civilitate morum Puerilium Libellus. Het Boeckje van D. Erasmus van Rotterdam, Aengaende de Beleeftheidt der kinderlijcke Zeden. […], Amsterdam 1678, 4. 39 Kruithof, Bernhardus: Zonde en deugd in domineesland. Nederlandse protestanten en problemen van opvoeding zeventiende tot twintigste eeuw (Academisch Proefschrift ter Verkrijging van de Graad van Doctor aan de Universiteit van Amsterdam). Groningen 1990, 34. 40 Eikemeier (wie Anm. 1), 258. 41 Hoffmann, Julius: Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert.

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Witte, vielleicht auf besonderen Wunsch seines Auftraggebers, in seinem bürgerlichen Interieur einer weit verbreiteten zeitgenössischen Forderung Ausdruck, die beispielsweise der puritanische Prediger von Purmerland Simon Oomius (1630– 1706) in einer 1661 publizierten Schrift zur Familienreform äußerst prägnant formulierte. In der Widmung dieses Werkes postuliert er, dass die Häuser in Kirchen zu verwandeln seien.42 Demnach galt es, in der familiären Gemeinschaft ein Vorbild der Kirche und damit einen Ort der Einübung und Ausbildung korrekten christlichen Verhaltens zu sehen: „Besides, a familie is a little Church, and a little commonwealth, at least a lively representation thereof, ...“, so lautet beispielsweise auch eine pointierte Formulierung des Londoner Seelsorgers und Predigers William Gouge (1575–1653) in seinen viel gelesenen „Domesticall Duties“ von 1622,43 und auch Jacob Cats urteilt in seiner bekannten calvinistischen Ehemoral „Huiwelijk“ von 1625 nicht anders.44 Das private Wohnhaus sollte der Kirche angeglichen werden, es sollte zu einer kleinen Kirche – mit Oomius gesprochen – zu einer Ecclesiola werden, in der der Hausvater die Rolle des Geistlichen übernahm. Diese religiösfunktionale Assimilierung von unterschiedlichen Lebenssphären wird in De Wittes Interieur zu einer Assimilierung von Wohn- und Kirchenraum, die der Maler durch die rhetorisch intelligente Verwendung ausgewählter Darstellungsmodi, Objekte und Motive mit Signalwirkung nur allzu brillant zu lancieren wusste.45 Dazu gehört zunächst und vor allem der Durchblick (doorzicht) als konstitutives Gestaltungsmerkmal privater wie öffentlicher Innenraumdarstellungen in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts.46 Denn so wie die zum Garten hin geöffnete Tür wird auch das gemalte Kircheninterieur, das mit dieser korrespondiert, zu einem Schwellenort, zu einer Membran zwischen Innen und Außen. Verbindet diese Tür im gemalten bürgerlichen Interieur noch den Wohn- mit dem Gartenraum, so das gemalte Kirchenstück den Wohn- mit dem Kirchenraum.47 Dieselben Verweisqualitäten be-

Berlin 1959. – Koschorke, Albrecht: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Frankfurt a. M. 32001 [12000], 146–162. 42 Oomius, Simon: Ecclesiola, dat is Kleyne Kercke. Ofte Aenwijsingen door welcke oeffeningen, en betrachtingen van Godtsaligheydt, en Godtsdienstigheyt, de Huysgesinnen der Christenen, Kleyne Gemeynten konnen worden, Amsterdam 1661. Vgl. Groenendijk / Sturm (wie Anm. 21), 172. 43 Gouge, William: Of Domesticall Dvties. Eight Treaties [...], London 1622, 18. 44 Cats, Jacob: Alle de Werken. Eerste Gedeelte. Amsterdam 1828, 252: „... dat het beleyt van een welgeregelde huyshouding bynaest niet anders en is, als een eygen gedaente en levendigh afbeelt van het bestier beyde der kerckelijcke en borgerlijcke saeken.“ 45 Fock, C. Willemijn: Werkelijkheid of schijn. Het beeld van het Hollandse interieur in de zeventiende-eeuwse genreschilderkunst. In: Oud Holland 112, 4 (1998), 187–246. 46 Het zien van ruimte. Een tentoonstelling over perspectiefboeken in de 17e eeuw. 17 februari t/ m 12 maart 1978. Expositiekelder. Instituut voor kunstgeschiedenis, Groningen. Groningen 1978. – Liedtke (wie Anm. 2). – Hollander (wie Anm. 2). – Fock (wie Anm. 45), 189–192. 47 Vgl. De Mare, Heidi: Die Grenze des Hauses als ritueller Ort und ihr Bezug zur holländischen Hausfrau des 17. Jahrhunderts. In: Kritische Berichte 20, 4 (1992), 64–79. – Dies.: Räumliche Markierungen holländischer Identität. Das grenzenlose Interesse von Simon Stevin (1548–1620) und Jacob Cats (1577–1660) an Grenzen und Grenzübergängen. In: Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Hg.

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sitzt übrigens auch der Hund. Hier, in Gestalt eines Spaniels, Spielgefährte und Sinnbild der Treue, ist dessen Bedeutung als innerbildlicher Regieassistent und Spurensucher in Kircheninterieurs bislang immer unterschätzt worden.48 Dasselbe gilt ferner für den gewissermaßen omnipräsenten Messingleuchter, der in Kirchenwie Wohnräumen gleichermaßen häufig anzutreffen ist.49 Von keineswegs geringerer Aussagekraft ist zudem die Kleidung, denn auch durch sie wird ein Stück Öffentlichkeit in die Sphäre des Privaten getragen. Mehr nämlich noch als die aufwändige Straßenkleidung, die die beiden Erwachsenen anstelle der eigentlich zu erwartenden einfachen Haustracht tragen, sind es vor allem der auf dem Tisch liegende breitkrempige Hut des Mannes und die Handschuhe in der Hand der Frau, die unmissverständlich klarmachen, dass die Familie gerade erst nach Hause zurückgekehrt zu sein scheint, möglicherweise von einem Kirchgang.50 Das in diesem Zusammenhang wohl mit Abstand intelligenteste Objekt, um beide Räume als ein wechselseitiges Bezugssystem auszuweisen, wird man indes in dem großen Spiegel rechts über dem Tisch erkennen müssen. Wie das gemalte Kircheninterieur hängt auch er an der Wand. Er besitzt zudem annähernd das Format der Predigtdarstellung, die durch den Kunstgriff des Vorhangs optisch an das Quadratmaß der reflektierenden Spiegelfläche angeglichen ist. Kaum deutlicher als durch diese Gegenüberstellung hätte De Witte die grundsätzliche objektbezogene wie begriffliche Kompatibilität von Bild und Spiegel, von imago und speculum, arrangieren können,51 sieht man einmal von seinem in diesem Zusammenhang noch aussagekräftigeren, um 1665 entstandenen Interieur mit einer Frau am Clavichord ab, in dem der Spiegel wie die auffällige

v. Markus Bauer und Thomas Rahn. Berlin 1997, 103–129 – Leonhard, Karin: Das Innenleben eines Hauses. Bürgerliches Wohnen bei Johannes Vermeer. In: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Caroline Emmelius u. a. Göttingen 2004, 179–194. – Loughman / Montias (wie Anm. 2). 48 Ketelsen, Thomas: Duftmarken am Bau. Signaturen, streunende Hunde und Anstandsfragen in holländischen Kirchenbildern. In: Leppien, Helmut R. / Müller, Karsten: Im Blickfeld: Holländische Kirchenbilder in der Hamburger Kunsthalle. Ausst. Hamburg 1995–1996. Hg. v. Uwe M. Schneede. Hamburg 1995, 66–68. – Fölsing, Ulla: Gebell im Gotteshaus: Hunde auf niederländischen Kircheninterieurs. In: Weltkunst 78, 3 (2008), 42–46. 49 Scheurleer, Th. H.: Koperen kronen en waskaarsen voor Japan. In: Oud Holland 93 (1979), 69–95. – Fock (wie Anm. 45), 220–226. Der religiös-funktionalen Assimilierung von Wohn- und Kirchenraum wird gerade durch die Ausstattung des Wohnraums mit Messingleuchtern besonderer Nachdruck verliehen, ist die tatsächliche Verwendung von derartigen Leuchterkronen in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts doch fast ausschließlich für die öffentliche Kirche, kaum hingegen für das private Wohnhaus überliefert. 50 Eikemeier (wie Anm. 1), 255. 51 Yiu, Yvonne: Der Spiegel. Werkzeug des Künstlers oder Metapher der Malerei? Zur Deutung des Spiegels in Produktionsszenarien in der nordischen Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 68 (2005), 475–488. – Kruse, Christiane: Selbstreflexionen. Malerei als Maske und Spiegel. In: Kunst und Kognition. Interdisziplinäre Studien zur Erzeugung von Bildsinn. Hg. v. Matthias Bauer, Fabienne Liptay und Susanne Marschall. München 2008, 147–162.

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Enfilade von mehreren Durchgängen bildparallel wiedergegeben ist.52 Die bildimmanente Klärung des Verhältnisses von Wohn- und Kirchenraum wird damit nicht zuletzt auch kunsttheoretisch gestützt, denn die Stellen in der „Inleyding tot de Hooge Schilderkonst [...]“ aus dem Jahre 1678 sind zahlreich, an denen ihr Autor, Samuel van Hoogstraten, Bild und Spiegel miteinander in Verbindung bringt.53 Was Emanuel de Witte dem Betrachter in seiner raffiniert konzipierten Raumansicht als ein ebenso subtiles wie suggestives Gedankenspiel vor Augen führt, sind somit allgemeingültige Einsichten von normativer Qualität: Im Wohnraum spiegelt sich der Raum der Kirche, im Verhaltenscodex des Alltags die Akzeptanz und praktische Umsetzung ihrer Lehren und Prinzipien. Durch diese von Theologen legitimierten und postulierten Assimilierungsbestrebungen traten Predigtdarstellungen nicht zuletzt auch aus frömmigkeitspraktischen Erwägungen in ein direktes Verhältnis zu den Wohnräumen, in denen sie hingen; durch sie hielt die ‚Kirche‘ Einzug in das Haus, bezogen die Kirchen gewissermaßen Wohnung in den ‚Kammern‘. Dabei dürfte eine Reihe dieser Bilder vor allem dadurch motiviert gewesen sein, dass sie in einer noch näher zu bestimmenden Art und Weise in einem engeren Zusammenhang mit häuslichen Gebets- und Meditationsübungen gestanden haben. Das wird in besonderem Maße deutlich, wenn man sich mit dem vermutlich ersten, 1651 entstandenen Interieur De Wittes genauer beschäftigt, mit dem der Maler sogleich eine der eindringlichsten Predigtdarstellungen vorgelegt hat (Abb. 4).54 Dieser Blick auf die meditativen Implikationen jener Untergattung des Kircheninterieurs hat mit einem Blick auf die Predigt selbst zu beginnen. Mit dem Ziel, theologische Theoriebildung und Lebenspraxis zusammenzuführen, dient sie in erster Linie der religiösen Belehrung und Unterweisung.55 Angesprochen wird aus diesem Grunde in den Bildern in aller Regel ein repräsentativer gesellschaftlicher Querschnitt. Männliche wie weibliche, junge wie alte Predigtzuhörer erscheinen als eine

52 Emanuel de Witte, Interieur mit einer Frau am Clavichord, um 1665, 77,5 × 104,5 cm, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam, Nr. 2313. Nr. 127. In: Von Frans Hals bis Vermeer (wie Anm. 2), 345–346. 53 Weststeijn, Thijs: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Art Theory and the Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age. Amsterdam 2008. Zahlreiche Belegstellen finden sich dort im Index of subjects unter dem Stichwort ‚mirror‘. 54 Emanuel de Witte, Inneres der Oude Kerk in Delft mit Predigt, 1651, Öl auf Eichenholz, 60,5 × 44 cm, London, Wallace Collection P 254. Vgl. Ingamells, John: The Wallace Collection. Catalogue of Pictures IV. Dutch and Flemish. London 1992, 437–440. – Duffy, Stephen / Hedley, Jo: The Wallace Collection’s Pictures. A complete Catalogue. London 2004, 489–490. – The Wallace Collection. Ed. by Esme West, London 2005, 113. 55 Beutel, Albrecht: Kommunikation des Evangeliums. Die Predigt als zentrales theologisches Vermittlungsmedium in der frühen Neuzeit. In: Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit. Hg. v. Irene Dingel und Wolf-Friedrich Schäufele. Mainz 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 74), 3–15.

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Abb. 4: Emanuel de Witte, Inneres der Oude Kerk in Delft mit Predigt. London, Wallace Collection.

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buchstäblich unter dem Wort Gottes stehende und durch sein Wort zusammengeführte Gemeinschaft ,lebendiger Bausteine‘.56 Alle sollen die Worte der Lesung und Predigt wie geistige Nahrung aufnehmen und verinnerlichen, so wie es etwa Textstellen im Matthäus-Evangelium und im ersten Petrusbrief nahe legen und das Bild der stillenden Mutter anschaulich postuliert, die in vielen Predigtdarstellungen in unmittelbarer Nähe zum Predigtstuhl sitzt und Calvins Lieblingsbild einer lebendigen Kirche verkörpert.57 Damit ist jedoch nur die eine, ideale Rezeptionsform angezeigt, nicht aber auf die andere, komplementäre verwiesen, die offensichtlich ebenso bildwürdig war. Das demonstriert eine Predigtdarstellung von Gijsbert Sibilla aus dem Jahre 1635 (Abb. 5).58 Denn wenngleich auch in dieser Versammlung vorne rechts, gewissermaßen als ein Versatzstück, wieder die Figur der Stillenden auftaucht, außerdem links – der Kanzel direkt zugeordnet – die Dressur eines gelehrigen Hundes, der als Sinnbild der geistlichen imitatio fungiert,59 so erkennt man als komplementäres Exemplum jener idealen Rezeptionsform auch eine Frau, die ihre Augen nicht der Andacht, des Gebetes oder der Meditation wegen geschlossen hat,60 sondern, weil sie den Kampf mit dem Schlaf offensichtlich verloren hat.61 Dafür sprechen die benachbarten Figuren, in diesem Fall die beiden Kinder unmittelbar vor ihr, die den Predigtworten ebenfalls keinerlei Bedeutung beimessen, da sie einen weiteren Hund brutal am Schwanz ziehen. Wie die Frau lassen auch sie die geforderte Aufmerksamkeit vermissen, ignorieren auch sie die Unterweisung durch den Prediger, scheinen auch sie die Bedeutung der Predigt nicht verstanden zu haben. Denn was der Prädikant in der Predigt zu Gehör brachte, sollte zum Ge-

56 1 Petr 2, 5. Vgl. Möseneder, Karl: Lapides Vivi. Über die Kreuzkapelle der Burg Karlstein. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 34 (1981), 39–69. 57 Mt 4, 4; 1 Petr 2, 2. Calvin, Johannes: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Neukirchen-Yluyn 2008, IV 1, 4: „Aber wir haben ja jetzt die Absicht, von der sichtbaren Kirche zu sprechen, und da wollen wir schon daraus, dass sie mit dem Ehrennamen ‚Mutter‘ bezeichnet wird, lernen, wie nützlich, ja notwendig es für uns ist, sie zu kennen. Denn es gibt für uns keinen anderen Weg ins Leben hinein, als dass sie uns in ihrem Schoße empfängt, uns gebiert, an ihrer Brust nährt und schließlich unter ihrer Hut und Leitung in Schutz nimmt, bis wir das sterbliche Fleisch von uns gelegt haben und den Engeln gleich sein werden.“ – Lange, Klaus: „Geistliche Speise“. Untersuchungen zur Metaphorik der Bibelhermeneutik. Phil. Diss., Kiel 1962. 58 Vgl. Gijsbert Sibilla, Predigt in der Laurentiuskirche in Weesp, um 1635, Öl auf Leinwand, 107,5 × 165 cm, Utrecht, Museum Catharijneconvent, RMCC s88. Vgl. Van Schooten, C. J. F. / Wüstefeld, W. C. M.: Goddelijk geschilderd. Honderd meesterwerken van Museum Catharijneconvent. Zwolle 2003, 192–194. 59 Vgl. Bedaux, Jan Baptist: Beelden van ‚leersucht‘ en tucht. Opvoedingsmetaforen in de Nederlandse schilderkunst van de zeventiende eeuw. In: Nederlands kunsthistorisch jaarboek 33 (1983), 49–74. 60 Vgl. Lentes, Thomas: ‚Andacht‘ und ‚Gebärde‘. Das religiöse Ausdrucksverhalten. In: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600. Hg. v. Bernhard Jussen und Craig Koslofsky. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), 29–67. 61 Apg 20, 7–12.

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Abb. 5: Gijsbert Sibilla, Inneres der Laurentiuskerk in Weesp mit Predigt. Utrecht, Museum Catharijneconvent.

horsam führen, diesen zumindest fördern, denn wer die Wortes des Predigers ernst nahm, der gehorchte Gott, so, wie es auch eine Darstellung im Ständebuch des Jan und Caspar Luycken von 1694 eindringlich veranschaulicht (Abb. 6).62 Nicht nur, dass der Prediger hier in der Bildüberschrift als Lehrer (leeraar) bezeichnet wird – entscheidend ist vielmehr, dass in der Predigtdarstellung Christus selbst als Prädikant auf der Kanzel erscheint. Auch in Predigtdarstellungen wie der De Wittes von 1651 geht es demnach um die Befolgung des den Tempel allein heiligenden Wortes Gottes, um ein Ausloten zwischen korrekten und unangemessenen Formen der Predigtrezeption, darüber hinaus aber noch viel grundsätzlicher immer auch um die Wahrnehmung, Deutung und Bewertung visueller, akustischer und olfaktorischer Spuren im Labyrinth der überbordenden Wahrnehmungsangebote eines Kirchenraums.63 Diese Angebote

62 Luyken, Jan en Caspar: Spiegel van het menselijk bedrijf, „De Leeraar“, Amsterdam 1694, 185. 63 Craig, John: Psalms, groans and dogwhippers: the soundscape of worship in the English parish church, 1547–1642. In: Sacred Space in Early Modern Europe. Ed. by Will Coster and Andrew Spicer. Cambridge 2005, 104–123. – Herrmann, Heike (Hg.): RaumErleben. Zur Wahrnehmung des Raumes in Wissenschaft und Praxis. Opladen / Farmington Hills MI 2010 (Beiträge zur Sozialforschung 4).

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Abb. 6: De Leeraar’, aus Jan u. Caspar Luycken, Spiegel van het menselijk bedrijf, Amsterdam 1694, S. 185. Den Haag, Koninklijke Bibliotheek.

können dabei sogar zu einem System sich wechselseitig stützender, Sinn forcierender Verweise ausgebaut werden. So sind zur Zeit, als sich diese Predigtdarstellung noch im Besitz des Amsterdamer Kunstsammlers Cornelis Ploos van Amstel befand, die nachweislichen Früchtedarstellungen auf den Flügelaußenseiten des ursprünglich wie ein Triptychon verschließbaren Kircheninterieurs Ausgangspunkte für eine mehrstufige, verschiedene Sinne transzendierende Meditation gewesen.64 Diese begann vermutlich mit einer Reflexion über die Vergänglichkeit der Natur. Sie begriff die Früchte als visuelle Stimulierung zur ruminatio einer in Aussicht gestellten an-

64 Manke (wie Anm. 12), 80, Nr. 12, Versteigerung Ploos van Amstel, Amsterdam (3. 3. 1800), Nr. 6: „Een Gotthische Kerk van binnen te zien: in dezelve ziet men een Predikant op den predikstoel zyn leerreede uitoeffenen; de zittende en staande toehoorders zyn meest alle in aandacht, als opgetogen; dit Schildery is beroemd wegens zyn kunstige uitvoering omtrent ’t licht en donker, door Emanuel de Wit; op paneel. Hoog 23, br. 17 ½ duim, van boven toogsgewys, besloten in een ebbenhoute Kast met twee deuren, die met vruchten beschildert zyn’.“ Vgl. Laurentius, Th. / Niemeijer, J. W. / Ploos Van Amstel, G.: Cornelis Ploos van Amstel 1726–1798. Kunstverzamelaar en prentuitgever. Assen 1980, 103–111, 314, 321, Nr. 22.

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deren, geistigen Kost 65 und führte mit dem Aufklappen der Flügel und im Blick auf die Predigt schließlich in die Sphäre des hörbaren, ewig gültigen, göttlichen Wortes. Zusätzliche kalkuliert positionierte Wahrnehmungsangebote unterstreichen diesen Aufruf zur Meditation nachdrücklich. Das Gaffen des Hundes, der im Bildvordergrund seinem Artgenossen dabei zusieht, wie jener ein größeres Geschäft verrichtet, ist in diesem Zusammenhang sicherlich auf das Schärfste verurteilt worden. Bereits der Akt selbst ist für den Ort völlig unangemessen, noch mehr aber die Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wird. Über diese Schamlosigkeit des kackenden Hundes, mehr noch über die unreflektierte Wahrnehmung des zuschauenden Tieres, soll sich gerade der Mensch erheben, so wie er sich durch seine natürliche Anlage zur Religion ebenso grundlegend vom Tier unterscheidet; diese Differenz ist von Constantijn Huygens in den Ausführungen seiner Schrift „Een goed predikant“ von 1623/24 jedenfalls als zentrales Unterscheidungskriterium herausgestellt worden: es sei die Religion, die den Menschen vom Tier unterscheide („Religie ’tonderscheid des menschen van de beest“).66 Zieht man hieraus ein erstes Resümee, so besteht eine der vornehmsten Pflichten des Menschen darin, sich seiner Verstandesgaben zu bedienen.67 Wahrnehmung heißt demnach, die concupiscentia oculorum, jene sündhafte Schaulust, die Augustinus noch mit dem Begriff der curiositas identifiziert hatte, zu überwinden.68 Kurzum: Sollte Wahrnehmung dem Spezifikum des Menschseins gerecht werden, musste sie eine reflektierende sein, so wie es der englische Theologe Joseph Hall (1574–1656) in seiner „Art of Divine Meditation“, einer der zahllosen ins Niederländische übersetzten englischen Erbauungsschriften, formuliert hat: „Man is placed in this Stage of the world to viewe the severall natures and actions of the creatures; To view them, not idly, without his use, as they doe him.“ 69 Noch verwandter in der Formulierung ist eine Sentenz aus der deutschen Übersetzung der „Praxis Pietatis“ von Lewis Bayly (1565–1631) und Joseph Hall von 1629. Hiernach soll der Mensch die Geschöpfe Gottes so betrachten, „daß er sie nicht schlecht hin angaffe / und müssig darbey sitze / sondern daß er einen Nutzen aus betrachtung deroselben schöpffen möge“, denn würde er anders

65 Vgl. Falkenburg, Reindert L.: The Fruit of Devotion. Mysticism and the Imagery of Love in Flemish Paintings of the Virgin and Child, 1450–1550. Amsterdam-Philadelphia 1994 (Oculi. Studies in the Arts of the Low Countries 5). – Nicol, Martin: Meditation bei Luther. Göttingen 21991 [11984], 55–60. 66 Huygens, Constantijn: Zes zedeprinten. Ingeleid en voorzien van annotatie en cultuurhistorische toelichting door een werkgroep van Utrechtse Neerlandici. Utrecht 1976 (ruygh-bewerp 4), 20– 36, bes. 24, Zeile 24. 67 Cassirer, Ernst: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Darmstadt 71994, 306. 68 Blumenberg, Hans: Der Prozess der theoretischen Neugierde. Frankfurt a. M. 41988 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 24). 69 Hall, Joseph: The Art of Divine Meditation: Profitable for al Christians to know and practise: Exemplified with a large Meditation of eternall life. London 1609, 11.

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verfahren, „were [es] eben so viel / als ob er blind / oder gar sonst ein ander unvernünfftig Thier were“.70 Von der Prämisse einer generellen Deutbarkeit der Welterfahrung ausgehend und dem Topos vom Lesen im Buch der Natur verpflichtet, war der Mensch mithin zu einer Meditationsform aufgefordert, die die Mannigfaltigkeit wahrnehmbarer Objekte und Geschehen in Augenschein nimmt und als probates Mittel einsetzt, um zu theologisch relevanten Einsichten, ja zu frommem Verhalten oder zu geistiger Besserung zu gelangen. Diese Annahme konkretisierte sich vor allem in der Gattung der so genannten Gelegenheitsmeditationen, wie etwa den einflussreichen „Occasional Meditations“ von 1631 des gerade erwähnten Joseph Hall.71 In De Wittes ‚Musterpredigt‘ werden also Wahrnehmungsformen hierarchisiert; dem stumpfsinnigen Gaffen wird das Hören einer Predigt als beispielloser Akt der Hinwendung zu Gott entgegengestellt. Diese Wertschätzung verdeutlicht auch die auf die Kanzel ausgerichtete, in einen auffälligen roten Mantel gehüllte Rückenfigur. In der Frau, die dieser Repoussoirfigur in geringem Abstand folgt, ist eine im Glauben unerschütterliche Person, vielleicht eine Personifikation des Glaubens selbst zu erkennen, wird man die Stärke und Standfestigkeit des massiven Rundpfeilers hinter ihr doch unmittelbar auf sie übertragen dürfen. Die auffällig platzierte Stütze, die in Gerard Houckgeests Hamburger Bild von 165072 an der Seite des Oranier-Grabmals noch Sinnbild der politischen Stärke gewesen ist und hier, im Bild aus der Wallace Collection, auch die Bedeutung der Rolle des Prädikanten auf der Kanzel mit besonderem Nachdruck unterstreichen könnte,73 dürfte bei De Witte also zum Sinnbild des Glaubens geworden sein. Als Vorbild für das Kind, das ihr folgt, geht die Frau buchstäblich mit gutem Beispiel voran; die Bedeutung des im Kontext der imitatio Christi wichtigen Verbs αχολουθεω – „Hinter jemandem Hergehen“ – scheint hier seine unmittelbare, wörtliche Um-, besser noch visuelle Überset-

70 Bayly, Lewis / Hall, Joseph: Praxis Pietatis: das ist Ubung der Gottseligkeit: Darinn begriffen / wie ein Christgläubiger Mensch / in wahrer erkanntnuß Gottes / und seiner selbsten / zunemmen: sein Leben täglich in der forcht Gottes anstellen / mit rühigem Gewissen zubringen / und nach vollendetem lauff seliglich beschliessen kann. Basel 1629, 7–8. 71 Hall, Joseph: Occasional Meditations. The second Edition. London 1631. Vgl. Livingstone Huntley, Frank: Bishop Joseph Hall and Protestant Meditation in Seventeenth-Century England: A Study with the Texts of ‘The Art of Divine Meditation’ (1606) and ‘Occasional Meditations’ (1633). New York 1981 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 1). 72 Gerard Houckgeest, Inneres der Nieuwe Kerk in Delft mit dem Grabmal Willems des Schweigers, 1650, Öl auf Holz, 125,7 × 88 cm, Hamburg, Kunsthalle, Inv.-Nr. 342. Vgl. Müller, Karsten: Inszenierung eines nationalen Monuments. Zu Gerard Houckgeests „Chor der Delfter Nieuwe Kerk mit dem Grabmal Willems von Oranien“ in der Hamburger Kunsthalle (Magisterarbeit Universität Hamburg 1996, Typoskript), 64–72. – Vanhaelen, Angela: Recomposing the Body Politic in Seventeenthcentury Delft. In: The Oxford Art Journal 31 (2008), 363–381. 73 Groenhuis, Gerrit: De Predikanten. De sociale positie van de gereformeerde predikanten in de Republiek der Verenigde Nederlanden voor ± 1700 (Proefschrift ter verkrijging van de graad van doctor in de letteren aan de Rijksuniversiteit te Utrecht). Groningen 1977.

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zung gefunden zu haben.74 Sollte es sich bei dem Mann und der Frau um die Eltern des Jungen handeln, ließe sich sogar ein Bezug zu der 1655 und 1661 erschienenen „Oeconomia Christiana“ des in Amsterdam tätigen und aus Middelburg stammenden pietistischen Reformators und Predigers Petrus Wittewrongel (1609–1662) herstellen: Hausvater und Hausmutter schritten dann voran als exempla virtutis et pietatis, als lebendige Beispiele für Tugendhaftigkeit und wahre Gottseeligkeit („levendige exemplaren van deught en ware Godtsaligheydt“).75 Der Weg des Erwachsenwerdens, auf dem sich das Kind hier offensichtlich befindet, ist demnach der Weg, auf dem es nicht nur körperlich, sondern vor allem auch im Glauben Schritt für Schritt wächst, gestärkt durch die Speise des Wortes, die es akustisch vernimmt und in sich aufnimmt. Entscheidend aber ist in diesem Zusammenhang, dass sich diese intelligente innerbildliche Aufforderung zur imitatio Christi in erster Linie an die Personen vor dem Gemälde richtet, und zwar in Form einer Predigtbetrachtung im umfassenden Sinne; die optisch-perzeptive und die theologisch-meditative Spielform dessen, was Betrachtung meinen kann, fallen nämlich zusammen.76 Der Blick auf die Predigtdarstellung wird dabei zum Ausgangspunkt eines Imaginationsaktes, in dessen Verlauf sich der Betrachter die Worte des Prädikanten erinnernd vergegenwärtigen und gewissermaßen vor sein geistiges Ohr führen kann. Zeitgenössische Beispiele für die Möglichkeit einer solchen Stimulierung des inneren Hörsinns und den akustisch inspirierten Meditationsakt selbst sind im 17. Jahrhundert keineswegs selten: Dass auch Gehörtes zum Ausgangspunkt jener Gelegenheitsmeditationen werden kann, bestätigt etwa der Londoner Seelsorger an St Mary Aldermanbury, Edmund Calamy d. Ä. (1600–1666): „Occasional meditation is this, when a man takes an occasion by what he sees, or by what he hears, or by what he tasts of“.77 Mary Rich, Countess of Warwick (1625–1678), hingegen berichtet in ihrem Tagebuch von 1667 sogar, dass sie sich bei einem ihrer morgendlichen Spaziergänge eine nur einen Tag zuvor gehörte Predigt in Erinnerung gerufen habe, gewissermaßen als Maßgabe ihres christlichen Handelns, und dass Gott sie im Rahmen dieser Meditation bis zur himmli-

74 Milchner, Hans Jürgen: Nachfolge Jesu und Imitatio Christi. Die theologische Entfaltung der Nachfolgethematik seit den Anfängen der Christenheit bis hin in die Zeit der devotio moderna – unter besonderer Berücksichtung religionspädagogischer Ansätze. Münster 2004 (Religionspädagogische Kontexte und Konzepte 11), 11–12. 75 Wittewrongel, Petrus: Oeconomia Christiana. Ofte Christelicke Huyshoudinghe. Bestiert naer den Regel van het suyvere Woordt Godts. Amsterdam 1661, boek 1, 276. Vgl. Groenendijk, Leendert F.: De nadere reformatie van het gezin. De visie van Petrus Wittewrongel op de christelijke huishouding. Dordrecht 1984, 108–109. 76 Kurz, Gerhard: Zur Bedeutung der „Betrachtung“ in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 2), 219–250. 77 Calamy, Edmund: The Art of Divine Meditation. Or, A Discourse of the Nature, Necessity, and Excellency thereof. With Motives to, and Rules for the better performance of that most Important Christian Duty […], London 1680, 6.

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schen Schau geführt habe: „In the morning, went into the wilderness to meditate; God was pleased to bring the sermons into my mind which I had heard the day before, and to enable me to pray earnestly for strength to put them into practice; […]. I did then strive […] to storm heaven by my importunate prayer. God was then pleased, […], to carry me up as it were unto Mount Nebo, and from thence to let me have a view of the Holy Land“.78 Der puritanische Kirchenführer Richard Baxter (1615–1691) wiederum überschreibt das 19. Kapitel des zweiten Teils seines 1678 erschienenen „Christian Directory“ sogar mit dem Titel „Directions for profitable Hearing the Word preached“.79 Besonders schlagend wird der Zusammenhang von Blick, Predigt und Memoria allerdings erst in einer Grafik aus der 1629 nach Zeichnungen von Jean de Saint-Igny entstandenen, zwölf Blätter umfassenden Serie „La Noblesse française à l’église“ von Abraham Bosse (Abb. 7).80 Hier sitzt eine vornehm gekleidete Dame auf einem gotischen Gestühl am linken vorderen Bildrand mit einem geöffneten Buch, vermutlich einer erbaulichen Schrift. Die offensichtlich für einen kurzen Moment (occasion) unterbrochene Lektüre hat sie dazu veranlasst, in Richtung einer leeren Kanzel in der sich hinter ihr öffnenden Kirche zu schauen. Für einen Moment innehaltend, scheint sie den Prediger vor ihrem inneren Auge zu sehen, mehr noch dessen exegetisch-belehrende Worte erinnernd zu hören, sehr wahrscheinlich sogar als Vergewisserung, Bestätigung oder einfach nur Rückbindung dessen, was sie gerade gelesen hat. Diese aufschlussreiche Grafik führt mithin auf eindringliche Weise vor Augen, dass das in der frömmigkeitsförderlichen Schrift gelesene Wort offenbar mit dem zuvor in der Predigt gehörten, nunmehr imaginierten Wort in der Kirche korrespondiert; oder anders formuliert: Das im Buch vom Einzelnen Gelesene kann auf das vom Prädikanten Gesprochene und von der Versammlung gemeinschaftlich Gehörte bezogen werden. Durch diese Allianz von Rezeptionsformen werden fundamentale Bezüge zwischen der religiösen Buch- und Bildproduktion in den Niederlanden vor allem im Kontext der praxisorientierten, so genannten weiterreichenden Reformation (nadere Reformatie) deutlich.81 Auf der einen Seite stehen dabei die vornehmlich für das

78 Rich, Mary, Countess Dowager of Warwick: Memoir of Lady Warwick: Also Her Diary, from A. D. 1666 to 1672, [...]. London 1847 (The Religious Tract Society), 81–82. – Mendelson, Sara Heller: The Mental World of Stuart Women. Three Studies. Amherst 1987, 62–115. – Rippl, Gabriele: Lebenstexte. Literarische Selbststilisierung englischer Frauen in der frühen Neuzeit. München 1998 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Texte und Abhandlungen 96, Neue Folge, Reihe A, Hermeneutik, Semiotik, Rhetorik 12), 221–297. 79 Baxter, Richard: A Christian Directory: Or, A Summ of Practical Theologie, and Cases of Conscience. … The Second Part Viz. Christian Oeconomicks: Or, the Family Directory, Containing Directions for the true Practice of all Duties belonging to Family Relations, with the Appurtenances. London 1677, 84–89. 80 Kat. Nr. 15–20. In: Abraham Bosse, savant graveur. Tours, vers 1606–1676, Paris. Sous la direction de Sophie Join-Lambert et de Maxime Préaud. Ausst. Paris 2004, 86–87. 81 Van den Berg, J.: Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden. In: Geschichte des Pietismus I. Hg. v. M. Brecht. Göttingen 1993, 57–112. – Van Lieburg, Fred A.: From Pure Church to

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Abb. 7: Abraham Bosse, Lesende Dame in einer gotischen Kirche mit Kanzel. London, British Museum, Prints & Drawings, Reg.No. 1933, 1209.10.

häusliche Studium gedachten Katechismen sowie eine Fülle praxisorientierter Schriften, darunter zahllose Übersetzungen puritanischer Werke aus dem Englischen,82 die seit Anfang des 17. Jahrhunderts dem Verlangen nach einer gesteigerten Spiritualität vor allem in Familie, Gesellschaft und Kirche folgten. Auf der anderen Seite stehen die gemalten Predigtdarstellungen mit leitmotivisch wiederkehrenden ikonographischen Anknüpfungspunkten, die unmittelbar auf die spezifische Rezeptionsform eben jener Schriften verweisen: In kaum einer dieser Predigtdarstellun-

Pious Culture: The Further Reformation in the Seventeenth-Century Dutch Republic. In: Later Calvinism. International Perspectives. Ed. by W. Fred Graham. Missouri 1994 (Sixteenth Century Essays & Studies 22), 409–429. 82 Schoneveld, Cornelis Willem: Intertraffic of the Mind. Studies in Seventeenth-Century AngloDutch Translation with a Checklist of Books translated from English into Dutch, 1600–1700. Leiden 1983. – Op ’t Hof, Willem Jan: Engelse pietistische geschriften in het Nederlands, 1598–1622. Rotterdam 1987 (Monografieen Gereformeerd Pietisme 1). – Sträter, Udo: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987 (Beiträge zur Historischen Theologie 71).

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gen wird nämlich auf das Motiv der lesenden Frau verzichtet.83 Diese Frau ist nicht immer, aber doch auffällig häufig – anders als die Mehrheit der Predigtzuhörerinnen und -zuhörer – direkt auf den außerbildlichen Betrachter ausgerichtet, oftmals auf einem tragbaren Hocker oder einer Bank vor dem Taufgarten (dooptuin) sitzend und intensiv in die Lektüre eines Büchleins vertieft, das sie auf ihren Knien hält (Abb. 8).84 Erinnert man sich an den in De Wittes Münchner Interieur subtil lancierten Gedanken einer begrifflich-funktionalen Austauschbarkeit von imago bzw. pictura und speculum, so wird man in der Lesenden in der Kirche auch eine Spiegelung der Lesenden in der Stube erkennen dürfen. Die kirchliche Tätigkeitsdarstellung spiegelt also jene häuslichen Tätigkeitsdarstellungen, die in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts mitunter zu großartigen figürlichen Einzelstudien entwickelt worden sind und als Exempla einer privaten Frömmigkeitspraxis begriffen wurden. So wird beispielsweise in Rembrandts Bild einer alten lesenden Frau von 1631 (Abb. 9)85 die Buchlektüre und damit die lesend-visuelle Wahrnehmung zu einer Gotteserfahrung mit geradezu taktilen Qualitäten. Vorsichtig tastend legt die an eine Seherin erinnernde Frau, für die in der Bibel die Tag und Nacht den Tempeldienst verrichtende Prophetin Hanna als Prototyp angeführt werden kann,86 ihre Hand auf die durch ein imaginäres Licht erstrahlende Buchseite, so als ob sie das mythisch illuminierte Wort Gottes umfassend, in all seinen Subtilitäten verinnerlichen wollte. Lesen als Akt der visuellen Wahrnehmung Gottes wird hier offensichtlich zum Stimulus, zur Aktivierung weiterer Formen der Sinneswahrnehmung, so wie schon in De Wittes Predigtdarstellung in der Wallace Collection die sich nach den Früchten auf den Außentafeln verzehrenden Augen im Schmecken der Früchte befriedigt wurden und der Verzehr dieser vergänglichen irdischen Speise die Verinnerlichung

83 Vgl. Frijhoff, Willem: Calvinism, Literacy, and Reading Culture in the Early Modern Northern Netherlands: Towards a Reassessment. In: Archiv für Reformationsgeschichte 95 (2004), 252–265. – Ders.: The Confessions and the Book in the Dutch Republic. In: Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft. Hg. v. Heinz Schilling und Stefan Ehrenpreis. Berlin 2007 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 38), 185–211. – Signori, Gabriela (Hg.): Die lesende Frau. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen 121). 84 Emanuel de Witte, Inneres der Oude Kerk in Amsterdam mit Predigt, um 1660, Öl auf Leinwand, 79,1 × 63,1 cm, London, National Gallery, NG6402. 85 Rembrandt Harmensz. van Rijn, Alte lesende Frau, wahrscheinlich die Prophetin Hannah (bekannt als „Rembrandts Mutter“), 1631, Öl auf Holz, 59,8 × 47,7 cm, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.Nr. A 3066. Vgl. Kat. Nr. 69. In: Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer. Ausst. Frankfurt 1993. Hg. v. Sabine Schulze. Stuttgart 1993, 276–279. – Nr. 37–38 und Nr. 121. In: Rembrandt’s Women. Ausst. Edinburgh / London 2001. Julia Lloyd Williams. München / London / New York 2001, 118–119, 212–213. 86 Lk 2, 37.

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Abb. 8: Emanuel de Witte, Inneres der Oude Kerk in Amsterdam mit Predigt. London, National Gallery.

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Abb. 9: Rembrandt Harmensz. van Rijn, Alte lesende Frau. Amsterdam, Rijksmuseum.

einer ewigen, himmlischen Speise in Aussicht stellte, die in Form des gehörten Wortes kulminierte.87 Der Schüler Rembrandts, Gerrit Dou, intendierte mit seiner nur wenig später gemalten Antwort auf eben dieses Werk seines Lehrers Ähnliches, allerdings mit ganz anderen Mitteln. In seiner Darstellung einer alten lesenden Frau (Abb. 10)88 ist die Textstelle des Buches eindeutig. Aufgeschlagen ist ein Lektionar mit dem Text zum Jahresfest der Kirchweihe,89 das für diesen Anlass die Geschichte des Zöllners Zachäus im 19. Kapitel des Lukasevangeliums vorsieht.90 Was zunächst

87 Vgl. Weststeijn, Thijs: ‘Painting’s enchanting Poison’: Artistic efficacy and the transfer of spirits. In: Spirits unseen. The Representation of Subtle Bodies in Early Modern European Culture. Ed. by Christine Göttler and Wolfgang Neuber. Leiden / Boston 2008 (Intersections, Yearbook of Early Modern Studies 9, 2007), 141–178. 88 Gerrit Dou, Alte lesende Frau, um 1640, Öl auf Holz, 71 × 55,5 cm, Rijksmuseum, Amsterdam. Vgl. Sluijter, Eric Jan: De lof der schilderkunst. Over schilderijn van Gerrit Dou (1613–1675) en een traktaat van Philips Angel uit 1642. Hilversum 1993, 63, Abb. 39. – Kat. Nr. 2. In: Gerrit Dou 1613– 1675. Master Painter in the Age of Rembrandt. Ronni Baer. Ausst. Washington / London / The Hague 2000–2001. Ed. by Arthur K. Wheelock, Jr. Washington 2000, 66–67. 89 Der Hinweis auf das Kirchweihfest ist gegeben durch den auf dem oberen Teil der aufgeschlagenen Buchseite zu lesenden Text: „Op den dach der kerck wijden“. Vgl. Rotermund, Hans Martin: Rembrandts Bibel. In: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 8 (1957), 123–150, bes. 134–138. 90 Lk 19, 1–10.

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Abb. 10: Gerrit Dou, Alte lesende Frau. Amsterdam, Rijksmuseum.

wie ein Genrebild einer alten Frau aussieht, die ein frommes Buch liest, ist letztlich ein komplexes Meditationsbild, in dem Buch, Herz und Haus als Metaphern der Innerlichkeit auftreten und ein komplexes Verweissystem darstellen.91 Auch die alte Frau wird so wie Zachäus, der Jesus bei sich aufgenommen hat, nur deswegen des Heils teilhaftig, weil sie die durch den Evangelisten vermittelte Botschaft lesend verinnerlicht, weil sie dem Gottessohn damit eine Herberge gibt, ihm in ihrem Herzen eine Wohnung bereitet – so, als ob sie nicht nur Lukas, sondern auch Paulus gelesen hätte, der die jungen Gemeindemitglieder in Korinth fragte, ob sie nicht gewusst hätten, dass sie Gottes Tempel seien und der Geist Gottes in ihnen wohne.92 Das kollektive Hören der Predigt und die katechetischen Unterweisungen durch einen Prädikanten im öffentlichen Kirchenraum sind somit unmittelbar auf die private Frömmigkeitspraxis in Form der Lektüre von Katechismen und erbaulichen

91 Von Aken, Henrik: The Sinner’s Contemplation. Protestant heart symbolism and the meditation on the Via poenitentiae: A protestant meditation on the Ordo salutis: ‘Rembrandt’s mother’ by Gerard Dou related to one aspect of Scandinavian mid-17th century use of the series of copper engravings by Anton Wierix, titled Cor Iesv amanti sacrvm. In: Images of Cult and Devotion. Function and Reception of Christian Images in Medieval and Post-Medieval Europe. Ed. by Søren Kaspersen. Copenhagen 2004, 283–304. 92 1 Kor 3, 16.

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Schriften im häuslichen Umfeld zu beziehen. Die Bilder, die das Lesen und Hören an diesen Orten darstellen, weisen diese rezeptiven Handlungen als komplementäre Handlungen aus. Da für das Verständnis des im privaten Umfeld Gelesenen die öffentliche Exegese in Form der Predigt unverzichtbar ist, ersetzen gemalte Predigtdarstellungen nicht die Predigt in der Kirche. Auch dienen sie nicht der Legitimation der privaten häuslichen Frömmigkeitsübung des Einzelnen, indem sie Hauskatechese, gemeinschaftliches Bibellesen, Beten und Psalmensingen dem Ort des offiziellen, öffentlichen und gemeinschaftlich vollzogenen Gottesdienstes in der Kirche nach- beziehungsweise unterordnen. Vielmehr wird man diese Bilder als Bilder betrachten müssen, die die häusliche meditative Frömmigkeitspraxis subtil initiiert, in erster Linie aber anspielungsreich kontextualisiert haben. Schließlich sind die im Kreise der Familie täglich durchgeführten religiösen Hausübungen, vor allem in Form der Meditation, gerade wegen ihrer Wiederholungen, ihrer Kontinuität und Effizienz immer wieder auf die Einmaligkeit der Predigt bezogen, ebenso aber auch von dieser unterschieden worden. So schreibt beispielsweise der irische Theologe und Vizekanzler des Trinity College in Dublin, James Usher (1581–1656), 1651 zunächst mit dem Blick vom Wohn- in den Kirchenraum: „Thus to meditate, one houre [...] is more worth than a thousand sermons“, und dann, nur drei Seiten später – wiederum mit einem Raum transzendierenden Blick, diesmal allerdings in umgekehrter Perspektive – nämlich vom Kirchen- in den Wohnraum: „every Sermon is but a preparation for meditation“.93

93 Usher, James: A Method for Meditation or A Manuall of Divine Duties, fit for every Christians Practice. London 1651, 43 und 49.

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Selbstdeutung als Frömmigkeitspraxis Cranachs gemalte Selbstzeugnisse Reformatorische Bibelauslegungen sind keine Lehrstücke über Gott, sondern Auslegungen der menschlichen Existenz. Sie sind immer selbstreferenziell, denn der Prediger erschließt den Text aus der Innenperspektive des existentiell Fragenden. Als solcher ist er – explizit oder implizit – immer Teil seiner Predigt. Als Fragender, Lehrer und Deuter lenkt er zugleich den Blick des Rezipienten. Die Leistung des Bibelauslegers besteht darin, die biblische Erzählung und Botschaft aus der Perspektive des eigenen existentiellen Fragens heraus zum Sprechen zu bringen und in seine Gegenwart einzubuchstabieren. Der Text und die Lebenswelt des Bibelauslegers werden ineinander verschränkt. Die historische Distanz wird aufgehoben und die eigene Person als Teil der Heilsgeschichte verstanden. Die so verstandene Reformatorische Bibelauslegung ist keine exklusive Aufgabe der Theologen. Vielmehr bildet das Priestertum aller Gläubigen die Grundlage dafür, in ihr die Aufgabe jedes Getauften zu sehen. Sie stellt sich dem Prediger genauso wie dem Maler, der ihr mit den spezifischen Möglichkeiten seines Berufs nachgeht. Sein Medium ist dabei nicht das Wort, sondern die Farbe. Lukas Cranach d. Ä. und vor allem Lukas Cranach d. J. waren Meister einer die Zeit- und Raumebenen der biblischen Vergangenheit und der Gegenwart verschränkenden Bildsprache. Und beide reflektierten dabei – gerade in den heilsgeschichtlichen Bildern – die Person des Malers und seine Tätigkeit immer mit: durch sprechende Signaturen, durch Rollen- oder Identifikationsporträts sowie durch in das Bildprogramm integrierte Hinweise auf die Tätigkeit des Malers. Die Selbstreferenzialität wiederum weist dem Bild selbst einen Ort und eine Funktion zu – als vom Künstler erdachtes und geschaffenes Werk. Dass das Kunstwerk zum Zeugnis des Künstlers über sich selbst und seine Tätigkeit wird, kennzeichnet nicht nur das Werk der beiden Cranachs, sondern ist ein epochenspezifisches Merkmal der Renaissancemalerei insgesamt;1 Victor Stoichita sprach vom „selbstbewussten Bild“ und von „Metamalerei“.2 Im Folgenden soll anhand einzelner Gemälde aus der Cranachwerkstatt danach gefragt werden, in welcher Weise sich der allgemein zu beobachtende Trend zur gesteigerten Selbstreferenzialität der Bilder mit dem spezifisch reformatorischen Anliegen einer individualisierten Frömmigkeit verbindet. Vier reformatorische Schlüsselwerke Cranachs d. Ä. und

1 Grundlegend hierzu: Winner, Matthias (Hg.): Der Künstler über sich in seinem Werk: internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana. Rom 1989; Horký, Mila: Der Künstler ist im Bild. Selbstdarstellung in der italienischen Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts. Berlin 2003. 2 Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München 1998. https://doi.org/10.1515/9783050051659-006

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seines Sohnes werden dazu näher in den Blick genommen – Werke, die besonders eng mit theologischen Themen und der Frömmigkeitspraxis der Reformation verbunden sind: Ein Holzschnitt aus der bebilderten Vollbibel von 1534; ein Gemälde von 1545, das vermutlich für die Schlosskapelle von Schloss Hartenfels in Torgau und damit für den ersten Kirchneubau des Protestantismus entstand; das Mittelbild des sogenannten Reformationsaltars aus der Mutterkirche der Reformation, der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg von 1547 sowie das Mittelbild des Weimarer Altars von 1555. Jedes dieser Werke steht für eine heilsgeschichtliche Rolle, die der Maler für sich und seine Tätigkeit wählt: Evangelist, Gehilfe des Propheten, Mundschenk und Prophet. Zwischen Vater und Sohn wird dabei nicht unterschieden, denn zum einen ist das kaum möglich, da der einheitliche Stil zu den Markenzeichen der Cranachwerkstatt zählt, und zum andern unterschieden bereits die Zeitgenossen nicht zwischen der Kunst und dem Stil des Vaters und des Sohnes.3

Der Maler als Evangelist Die Zuschreibung der vier Evangelien an die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes im zweiten Jahrhundert ging ihrer Bildwerdung in der Buchmalerei seit dem sechsten Jahrhundert voraus: Evangelistenbildnisse gehören zu den ersten Autorenporträts überhaupt.4 Unter ihnen kommt dem Porträt des Evangelisten Lukas eine Sonderrolle zu, denn Lukas wird nicht nur als Literat, sondern zugleich auch als Maler dargestellt. Die Figur eignet sich daher besonders gut, um die Rolle des Malers in Analogie zu der des Literaten zu bestimmen. Cranach versah schon das von Luther übersetzte Septembertestament von 1522 mit Evangelistenbildnissen. In der Bibelausgabe von 1534 ersetzte er das Bildnis des Evangelisten Lukas durch eine wenig beachtete, auf 1532 datierte Darstellung, die meines Erachtens ein grandioses Ego-Dokument Cranachs darstellt (Abb. 1). Der Evangelist Lukas war nicht nur Cranachs Namenspatron, sondern als Patron der Malerzunft auch darüber hinaus eine Identifikationsfigur für jeden Maler.

3 Das kommt besonders deutlich in der Leichenpredigt auf Lukas Cranach d. J. zum Ausdruck: „Was nun Vater und Son, beide Lucas Cranach selige, in irer kunst fürtreffliche gaben gehabt, haben alle verstendige aus iren wercken leichtlich zu ersehen und ist kein zweiffel, wird erst bei künfftiger Welt und der dankckbren posteritet mit mehrem rhum erkand und gepriesen werden“ (Georg Mylius, Christliche Predigt Bey der trawrigen Leich und Begrebnus des weiland Ehrnvesten und Fürnemen Herren LUCAS CRANACHS […]. Wittenberg: Matthes Welack 1586 (VD16 M 5275), C 2v). 4 Fastert, Sabine: Der Autor im Bild. Das Autorenporträt in gedruckten Enzyklopädien des 16. Jahrhunderts. In: Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik der Frühen Neuzeit. Hg. v. Frank Büttner, Markus Friedrich und Helmut Zedelmaier. Münster 2003 (Pluralität und Autorität 2), 301–323.

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Abb. 1: Cranachwerkstatt, Evangelist Lukas als Schreiber und Maler, Holzschnitt in der ersten deutschen Übersetzung der Vollbibel von Martin Luther, Wittenberg 1534, koloriertes Exemplar. Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek / CI I: 58 (c).

Mit dem Evangelisten wurde seit der Antike die Legende des Madonnenmalers verbunden, der aufgrund einer Vision ein authentisches Bildnis der Maria schuf.5 Spätestens Rogier van der Weydens Darstellung von 1435 machte das Bildthema berühmt (Abb. 2).6 Wie nach ihm häufig geschehen, stattete er Lukas als Vertreter der Malerzunft mit Porträtzügen aus, vermutlich mit denen des Stifters der Tafel. Mit dem Evangelistenbild für die erste komplette Wittenberger Bibelausgabe, die 1534 gedruckte Vollbibel, stellte sich auch Cranach in die Bildtradition Rogiers und vieler weiterer Maler, indem er Lukas als Maler und damit zugleich sich selbst in der Rolle des Evangelisten darstellte.7 In einem entscheidenden Punkt wich er

5 Die Quellen finden sich zusammengestellt bei Dobschütz, Ernst von: Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende. Leipzig 1899 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Neue Folge 3), Beilagen, 267–280. 6 Riviere, J.: Réflexions sur les „Saint Luc peignant la Vierge“ flamands; de Campin à Van Heemskerck. In: Jaarboeck van het Koniklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen (1987), 25–92. Der Evangelist wird bei ihm nicht als Maler an der Staffelei, sondern als Zeichner dargestellt. Rogier folgte in dieser Darstellungsweise ganz der Tradition der antiken Wertschätzung der Zeichnung, die am unmittelbarsten an das Urbild, hier an die geschaute Marienvision, herankommt. 7 Cranachs eigener Anteil an den Bibelillustrationen ist nicht genau auszumachen. Die meisten Holzschnitte sind unsigniert. Einige tragen die Signatur HB, vermutlich als Hinweis auf den Bild-

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Abb. 2: Rogier van der Weyden, Evangelist Lukas porträtiert die Madonna, 1435–1440. Boston, Museum of Fine Arts.

jedoch von der Tradition ab: Zwar malt auch sein Lukas eine Vision – im geöffneten Fenster wird sie auch für den Betrachter sichtbar. Es handelt sich dabei jedoch nicht wie bei Rogier um eine Marienvision, sondern um ein Kruzifix. An Stelle der außerbiblischen Wundergeschichte stellte Cranach eine Vision dar, die als bildhafte Abbreviatur den Bibeltext des Evangeliums verkörpert. Der Evangelist hat das aufgeschlagene Evangelienbuch vor sich. Er blickt vom Text auf und sieht im Fenster genau das, was er im Evangelium niedergeschrieben hat. Die Vision ist in einer für Cranachs Kreuzigungsdarstellungen insgesamt typischen Art und Weise dargestellt: Das Kreuz ist einerseits als visionäre Erscheinung gekennzeichnet, denn es erscheint da, wo es nur ein Visionär sehen kann, vor dem Fenster des Arbeitszimmers inmitten grüner Büsche. Es ist andererseits als Bestandteil der Natur auf derselben Wirklichkeitsebene dargestellt wie die Büsche und in

schnitzer. Auch bei dem Lukas-Evangelistenbild muss offenbleiben, ob Cranach selbst, einer seiner Söhne oder ein Mitarbeiter die Vorlage schuf. Vgl. zur Frage der „Eigenhändigkeit“ von Cranachs Holzschnitten: Koepplin, Dieter / Falk, Tilman: Lukas Cranach. Gemälde. Zeichnungen. Druckgraphik, Bd. 1, Basel / Stuttgart 1974, 335 f.

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keiner Weise als übernatürlich oder als Symbol gekennzeichnet. Die innere Vision und die Außenwelt vor dem Fenster gehen eine Symbiose ein. Im Blick des Evangelisten wird das Kreuz zum Teil der ihn umgebenden Welt und Natur. Der neben dem Fenster an der Wand hängende Spiegel verweist auf den Spiegelcharakter des Fensterbildes: Das Bild des Gekreuzigten ist ein Spiegel der Schrift, die aufgeschlagen vor Lukas auf der Buchstütze steht, und umgekehrt spiegelt die Schrift das Bild. Als Mittler oder Spiegel zwischen dem Text und dem Bild des Evangeliums fungiert der Blick bzw. das Auge des Evangelisten. Es liest den Text und entwirft dabei im Innern des Lesers ein Bild des Kreuzes oder umgekehrt: Es erblickt das Kreuz und entwirft den Text. Im Vorgang des Sehens wird die Umwandlung des Textes in ein Bild zu einem höchst natürlichen Vorgang. Luther vergleicht sie mit der Entstehung eines Spiegelbilds beim Blick auf eine Wasseroberfläche. So wie dabei ohne jedes Zutun ein Spiegelbild sichtbar werde, so entstehe in seinem Innern, wenn er vom Leiden und Tod Christi höre und dem nachsinne, auf ganz natürliche Weise ein Bild des Gekreuzigten: „Soll ichs [des Leidens Christi am Kreuz] aber hören odder gedencken, so ist myrs unmüglich, das ich nicht ynn meym hertzen sollt bilde davon machen, denn ich wolle odder wolle nicht, wenn ich Christum hore, so entwirfft sich ynn meym hertzen eyn mans bilde, das am creutze henget, gleich als sich meyn andlitz naturlich entwirfft yns wasser, wen ich dreyn sehe.“ 8 Die Kreuzesvision entsteht eigentlich als inneres Bild. Auf seinem Lukasbild lässt Cranach den Betrachter an dem visionären Blick des Evangelisten teilhaben, indem er ihn zum Zeugen der Vision macht. Lukas wird zum Exempel und seine Vision zum Allgemeingut. Der Evangelist schaut nicht ein exklusives Geheimnis, sondern dasselbe Bild, das jeder in seinem Innern sieht, der vom Evangelium Jesu Christi hört oder darüber nachsinnt. Cranach stellt mit seinem Bild ein inneres als äußeres Bild dar und nimmt ihm dabei zugleich die transzendente Spitze, indem er es in die natürliche Umgebung einbindet und malerisch nicht anders als die das Kreuz umgebende Natur behandelt. Cranachs Evangelist geht einem doppelten Beruf nach: dem des Schreibers und dem des Malers. Die Mal- und die Schreibutensilien hat er auf der Fensterbank, der Sitzbank und dem Tisch abgelegt, um aus dem Fenster zu blicken. Die Staffelei steht mit dem Rücken zum Betrachter – dieser kann das dort festgehaltene Bild nicht sehen. Auch von dem Evangelium sind nur Buchrücken und -einband zu sehen. Was Lukas gemalt und niedergeschrieben hat, wird nicht als Bild- oder Buchinhalt sichtbar, sondern als Fensterausblick; die Grenzen der Medialisierung der Botschaft im Buch oder Gemälde werden gesprengt und die durch das Buch und das Gemälde vermittelte Botschaft erscheint im Bildraum losgelöst von den Medien in einer diesen vorgeordneten Wirklichkeitsebene. Anders als bei Rogier ist Lukas bei Cranach kein Zeichner, sondern ein Maler, der mit Pinsel und Farben hantiert. Der Kolorist der Weimarer Ausgabe, aus der der

8 Luther, Martin: Wider die himmlischen Propheten. 1525, WA 18, 83.

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Holzschnitt stammt, hat dies durch eine überaus sorgfältige und kunstvolle Farbgebung zusätzlich hervorgehoben: Rot und Blau sind die Farben auf der Palette des Evangelisten, es sind zugleich die Farben, die noch in der Leichenpredigt auf Lukas Cranach d. J. als Farben des Erlöserbluts Christi und des Ewigkeit verheißenden Himmels gedeutet werden.9 Auf dem Holzschnitt sind sie von besonderer Strahlkraft und heben dadurch die in diesen Farben kolorierten Partien besonders hervor. Nicht zufällig handelt es sich dabei um die Kleidung des Evangelisten, das Evangelium, den Spiegel, das Kissen unter dem Fenster und um den Himmel über dem Kreuz. Es sind die Bildelemente, die erzählen, wie derjenige, der über das Evangelium nachsinnt, auf natürliche Weise wie in einem Spiegel das Bild des Gekreuzigten erblickt und so die Gegenwart des Transzendenten in der Welt wahrnimmt. Cranachs Evangelist ist nicht als Selbstbildnis gestaltet: Seine Barttracht mag an den Maler erinnern, das Gesicht ist jedoch stark typisiert und weist keine individualisierenden Porträtzüge auf. Aber der Rückgriff auf eine Bildtradition, die auf einer Legende beruht und damit dem von Luther gerade für die Bibelillustration eingeforderten Schriftprinzip widerspricht, weist darauf hin, dass die Malerrolle an dieser Stelle bewusst eingeführt wurde.10 Sie bildet auch innerhalb der Cranachschen Bibelillustration ein neues Element, auf das er in der entsprechenden Evangelistendarstellung im Septembertestament 1522 noch verzichtet hatte. Der Evangelist Matthäus ist bereits in Luthers Neuausgabe des Neuen Testaments von 1530 in einem an Luther erinnernden Typus dargestellt (Abb. 3). In der Vollbibel 1534 wird dieser an Cranachs Bildnis von Luther als Junker Jörg angelehnt (Abb. 4). Diesem wird nun in derselben Bibelausgabe von 1534 mit dem Evangelisten Lukas eine Malerfigur an die Seite gestellt, die an den nach ihm benannten Lukas Cranach und seine Rolle als Maler der Reformation erinnert (Abb. 1).11 Malerei und Autorschaft gehen eine Symbiose ein. Indem Cranach den Evangelisten als Malerfigur darstellt, legt er zugleich seine eigene Tätigkeit in Analogie zu der Luthers als Evangelistentätigkeit aus, d. h. als geistinspirierte Tätigkeit.

9 Mylius (wie Anm. 3), B2v: „Und ist hie die Rubrica des Rosenfarbenen bluts Christi, damit die glaubigen von sünden gereiniget und gewaschen werden, so starck und krefftig, das alle sünden, ob sie schon blutrot sind, hiemit bedecket und verdunckelt werden. […] Wenn aber diese Finsternis mit schöner Himelfarb bestrichen, der Artickel des glaubens von dem zukünfftigen ewigen leben ergrieffen und die fröliche Aufferstehung des fleisches mit glaubigem hertzen angesehen wird.“ 10 So Christoph Walther, der für den Bibeldrucker Hans Lufft arbeitete, nach Erscheinen der Vollbibel in einem Brief 1535: „Luther hat die Figuren in der Wittembergischen Biblia zum teil selber angegeben wie man sie hat sollen reissen oder malen Und hat befohlen, das man auffs einfeltigst den inhalt des Texts solt abmalen und reissen Und wollte nicht leiden, das man uberley und unuetz ding, das zum Text nicht dienet, solt dazu schmieren“, Walther, Christoph: Von vnterscheid der || Deudschen Biblien || vnd anderer Büchern des Ehrn=||wirdigen vnd seligen Herrn Doct. Marti=||ni ... Wittenberg: Hans Lufft 1563 (VD16 ZV 18738, B 2v und r, vgl. auch WA 6, 87). 11 Luther wird im Matthäus-Evangelistenbild 1530 nach dem Bildtypus von ‚Hieronymus im Gehäuse‘ dargestellt (Abb. 3), 1534 nach dem Typus ‚Hieronymus in der Landschaft‘ mit einer an die Wartburg erinnernden Burganlage im Hintergrund (Abb. 4).

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Abb. 3: Cranachwerkstatt, Luther als Evangelist Matthäus, Holzschnitt in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments von 1530, Exemplar im Lutherhaus Wittenberg (VD 16 B 4400).

Abb. 4: Cranachwerkstatt, Luther als Evangelist Matthäus, Holzschnitt in der ersten deutschen Übersetzung der Vollbibel von Martin Luther, Wittenberg 1534, koloriertes Exemplar. Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Binliothek / CI I: 58 (c).

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Abb. 5: Lukas Cranach, Elias und die Baalspriester mit Porträt Lukas Cranachs als Wasserträger, 1545. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister.

Mit seinem Lukasbild vollzog Cranach darüber hinaus eine konfessionelle Aneignung der auf einer Legende beruhenden Bildtradition: Durch den Austausch der Marienvision mit der Kreuzigung gab er der Darstellung eine spezifisch lutherische Pointe. Die Legende dient auf diese Weise lediglich ikonografisch als Vorlage. Cranachs Evangelist bezeugt im Bild dasselbe wie in der Schrift – solus Christus.

Der Maler als Gehilfe des Propheten Cranach schrieb die Rolle des Malers auch in alttestamentliche Historienbilder ein. Erstmals fassbar wird dies auf dem Dresdner Gemälde „Elias und die Baalspriester“ von 1545, das vermutlich aus der Torgauer Schlosskirche stammt (Abb. 5).12 Die biblische Erzählung vom Opferwettbewerb zwischen den Baalspriestern und dem Propheten Elias, den König Ahab angeordnet hatte, um die Macht der Götter auf die Probe zu stellen (1 Kön 18), dient hier als Folie für die politisch-religiöse Situation im Kurfürstentum Sachsen zur Entstehungszeit der Tafel: König Ahab ist als Kur-

12 Bei dem Gemälde handelt es sich vermutlich um das auf 1545 datierte, in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden befindliche, siehe zu diesem Marx, Harald: Geschichte im Spiegel der Kunst. Ein Blick auf die 2. Sächsische Landessausstellung und darüber hinaus. In: Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Ausst. Torgau 2004. Hg. v. dems. und Eckhard Kluth. Dresden 2004, 21–35, hier 27–32; sowie: Kat. Nr. 7. In: Cranach. Hg. v. Harald Marx und Ingrid Mössinger, mit einem Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, erarbeitet von Karin Kolb. Dresden 2005, 236–245, mit der älteren Lit.

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fürst gekleidet, der zwischen den beiden Altären steht, die den konkurrierenden Kultus der Kirchen seiner Zeit symbolisieren: den römischen und den Wittenberger Gottesdienst. Das Opfer des Elias wird erhört, der Gottesdienst der Protestanten erweist sich als der rechtmäßige. Elias, der in der Bildsprache der Zeit eine Identifikationsfigur für Luther war,13 wird bei den Opferhandlungen von einem Gehilfen unterstützt, der die Porträtzüge von Lukas Cranach d. Ä. trägt. In der Forschung wird das Gemälde Lukas Cranach d. J. zugeschrieben, der zu seiner Entstehungszeit möglicherweise die Werkstattleitung bereits von seinem Vater übernommen hatte. Mit dem in die Historie integrierten Porträt setzte der Sohn dem Vater ein Denkmal. Da er sich als Werkstattnachfolger in hohem Maße mit seinem berühmten Vater identifizierte, machte er damit aber zugleich auch eine Aussage über seine eigene Vorstellung vom Amt und der Aufgabe eines Malers im reformatorischen Geschehen seiner Zeit: Cranachs Rolle ist die des Kannenträgers ganz links im Vordergrund. Dieser bringt der biblischen Erzählung zufolge in vier Kannen das Wasser, mit dem das Opfertier auf dem Altar von Elias dreimal übergossen werden soll. Sein Medium, das Wasser, steht dabei sinnbildlich für das Medium des Malers, die Farbe: Wie der Kannenträger durch das Wasser die Allmacht Gottes offenbar macht, der selbst ein durchnässtes Brandopfer zu entzünden vermag, so der Maler durch seine Farben. Das Wasser, mit dem der Altar übergossen wird, ist zugleich ein Bild der Reinigung der Kirche. In der Torgauer Schlosskirche hing unmittelbar unter dem Bild eine Schrifttafel, auf der an die Einweihung des Neubaus erinnert wurde. Darin wird dessen Reinheit hervorgehoben, die darauf zurückgeführt wird, dass der Raum nie durch „papistische Greuel beschmutzt“ worden sei und ohne Salböl, Prozessionsfahnen und Weihrauch auskäme.14 In der Figur des Kannenträger und des Propheten Elias stehen sich diejenigen gegenüber, die mit den ihnen eigenen Medien Wort und Farbe derselben reformatorischen Aufgabe der Reinigung des Kultes und der

13 Luther wurde schon vor 1520 mit dem Dritten Elias identifiziert, der nach Johannes dem Täufer, dem Zweiten Elias, als endzeitlicher Vorläufer des wiederkommenden Christus galt (dieser wird bei Mal 5, 4 angekündigt und üblicherweise mit einem der Propheten identifiziert, die in Offb 11, 3–7 gegen den Antichrist kämpfen), distanzierte sich jedoch davon. Vgl. Volz, Hans: Die Lutherpredigten des Johannes Mathesius. Kritische Untersuchung zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der Reformation. Leipzig 1930, 63–68; Hofmann, Hans-Ulrich: Luther und die Johannes-Apokalypse. Dargestellt im Rahmen der Auslegungsgeschichte des letzten Buches der Bibel und im Zusammenhang der theologischen Entwicklung des Reformators. Tübingen 1982, Exkurs I, 656–61; Pohlig, Matthias: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Tübingen 2007, 103–105. 14 Den Text dieser nicht erhaltenen Tafel überliefert Tilemann Stella in seinem Reisetagebuch von 1560: „Diss haus auffs neue gebauet ist / Zu lob dem Herrn Jhesu Christ. Deßgleichen nie gewesen bisher / Das unbeschmeitzet funden wer / Vom babst und seiner greuel giesst, / Die er in allen hat gestifft. / Gott geben, daß es fort bleiebe rein, Nichtes heie dann Gottes wordt allein. / […] Kein ceram [Chrisam=Salböl], fahnen [Prozessionsfahnen] noch weihrauch, / Kein kertz noch weihwasser er [Luther] braucht. / Das gottlich wordt und sein gebet / Sampt der gleuben dartzu thet“, zitiert nach Erichsen, Johannes: Luther, Torgau und die Bilder. In: Sächsische Heimatblätter 1 (2004), 18–30, hier 18.

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Verkündigung des Evangeliums nachgehen. Während König Ahab und der Prophet Elias nur sinnbildlich auf Kurfürst Johann Friedrich und den Reformator Martin Luther verweisen, erscheint die Assistenzfigur des Malers im Porträt. Sie blickt aus dem Bild heraus und vermittelt auf diese Weise zwischen dem Zuschauer und dem Bildgeschehen. Mit Mila Horký ist festzuhalten, dass „der Blick als deiktische Geste eines der bekanntesten Mittel zur Betrachteransprache in der frühneuzeitlichen Malerei“ ist.15 Sie deutet den „Selbstbildnisblick“ der Maler aus dem Bild heraus in Analogie zur direkten Anrede des Lesers durch den Autor, die in der Literatur als Apostrophe bezeichnet wird, ein rhetorisches Mittel, mit dem der Leser aus der anonymen Menge der Leserschaft herausgegriffen und vereinzelt wird.16 Diese auf den einzelnen zielende individuelle Aneignung des Bildes im Vorgang des Betrachtens ist hier auf das Engste mit dem Vorgang der individuellen Aneignung der Heilsgeschichte durch den Gläubigen verschränkt und erhält so den Charakter eines Frömmigkeitsvollzugs. Der Blick bildet dabei eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen des Bildes (der „dargestellten Zeit“) und des Betrachtens (der „Wahrnehmenszeit“).17 Indem der Betrachter den Blick des Malers erwidert, wird er zu dessen Spiegelbild; er ist dann nicht nur derjenige, vor dessen Augen sich das Bild entfaltet, sondern zugleich derjenige, durch dessen Blick es entworfen wird und so entsteht.

Der Maler als Mundschenk Auf dem Altarretabel der Wittenberger Stadtkirche St. Marien von 1547 begegnet uns in der Ansicht mit geöffneten Flügeln auf dem Mittelbild, auf dem das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern dargestellt ist (Abb. 6), eine ähnliche Figurengruppe wie auf der Torgauer Eliastafel: Der Reformator erscheint hier nicht in der Rolle des Elias, sondern als Jünger. Ein höfisch gekleideter Mann, der von den Zeitgenossen vermutlich als Lukas Cranach d. J. (vielleicht auch als dessen Vater in jüngeren Jahren) identifiziert wurde,18 reicht ihm den Wein zum Abendmahl – hier nicht Wasser in Krügen, sondern Wein in einem Becher. Luther ist als Junker Jörg dargestellt: Man erkennt ihn an der Ähnlichkeit mit dem durch ein Gemälde und einen Holzschnitt von 1521/22 (?) popularisierten Por-

15 Horký (wie Anm. 1), 93. 16 Ebd., 95 f. 17 Horký (wie Anm. 1), 95–97. 18 Auf die Möglichkeit der Identifikation des Mundschenken mit Cranach wies schon Thulin, Oskar hin: Cranach-Altäre der Reformation. Berlin 1955, 15. Ihm folgte die Forschung weitgehend. Anders als auf dem Dessauer Abendmahlsbild, auf dem der Mundschenk einen Wappenring trägt, durch den er eindeutig als Maler zu identifizieren ist, bleibt die Deutung in Wittenberg jedoch ebenso wie auf dem Schneeberger Altar weniger eindeutig.

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Abb. 6: Lukas Cranach, Das letzte Abendmahl, Mitteltafel des sog. Reformationsaltars, 1547, Wittenberg, St. Marien.

trät Cranachs d. Ä.19 Das Bildnis vergegenwärtigt den Reformator nicht als überzeitliche Lehrautorität, sondern zeigt ihn in der Verkleidung und Rolle, in der er 1522 von der Wartburg nach Wittenberg zurückkehrte.20 Er wendet sich aus der Tischrun-

19 Es ist allerdings schwer zu beurteilen, ob diese Identifikation tatsächlich schon im 16. Jh. als so eindeutig empfunden wurde, wie sie einem durch die Deutungstradition der letzten Jahrhunderte erscheint (ohne Infragestellung der Identifikation zuletzt Koerner, Joseph Leo: The Reformation of the Image. London 2004, 373 f.). Zumindest wurde Luther auch sonst als Junker Jörg dargestellt, was für einen hohen Wiedererkennungswert des Typus spricht, z. B. 1537 in der Stadtkirche in Penig (Friedländer, Max / Rosenberg, Jakob: Die Gemälde von Lucas Cranach. Basel 1979, Nr.149). 20 Während seiner Schutzhaft auf der Wartburg ließ Luther sich die Tonsur zuwachsen, legte den Mönchshabit ab und wurde wie ein Hofjunker eingekleidet. Cranachs Holzschnitt von 1522, der ihn in dieser Gestalt zeigt, wurde vielfach, z. T. als Gemälde, kopiert (Koepplin / Falk [wie Anm. 7], Nr. 42, Friedländer / Rosenberg [wie Anm. 19], Nr. 125 f.). Zum tatsächlichen Verlauf der „Wittenberger Unruhen“, die zum Auslöser für Luthers Eingreifen wurden und zu Luthers tendenziöser Darstellung der Ereignisse, die unser Geschichtsbild bis heute prägt: Krentz, Natalie: Auf den Spuren der Erinnerung. Wie die „Wittenberger Bewegung“ zu einem Ereignis wurde. In: Zeitschrift für historische Forschung 36 (2009), 563–595.

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de heraus und erhält von einem Mundschenk den Weinbecher, der durch diese Darreichungsszene herausgehoben wird. Der innere Zirkel der Jünger wird aufgebrochen und ein Außenbezug hergestellt, in dem die Malerfigur eine entscheidende Funktion einnimmt. Die Darstellung eines zusätzlichen Mundschenken war keine Erfindung Cranachs. Aber sie war selten. Etwas häufiger wurde dargestellt, dass ein Jünger diesen Dienst übernimmt.21 Indem Cranach den Mundschenk als zusätzliche Person an den Kreis der Jünger herantreten lässt, hebt er in symmetrischer Entsprechung zur JesusJudas-Gruppe am linken Tischende eine Szene hervor, die einerseits von der gängigen Ikonografie abweicht und für die es andererseits keine unmittelbare Vorlage im biblischen Bericht gibt. Anders als auf der Dresdner Eliastafel lässt sich im Fall des Wittenberger Altars die Identität des Mundschenken mit dem Maler nicht durch Parallelbilder nachweisen, denn wir haben weder vom jüngeren Cranach noch vom älteren in jungen Jahren ein gesichertes Porträt. Dennoch liegt die Deutung als Malerfigur meines Erachtens nahe: Zum einen hatte Cranach Luther und sich selbst bereits in den oben erwähnten Evangelistenbildern der Vollbibel von 1534 als Matthäus und Lukas dargestellt (Abb. 1 und 4), und zwar Luther dabei ebenfalls im Typus des Junkers Jörg. Zum andern identifizierte sich Cranach d. J. auf einer späteren Abendmahlsdarstellung von 1565, dem Reformatorenabendmahl in der Johanniskirche in Dessau, durch einen Siegelring mit dem Cranachwappen wiederum mit dem Mundschenk (Abb. 7).22 Hinzu kommt, dass die Rolle des Mundschenken, der den Wein herbeibringt, der des unmissverständlich als Malerfigur gekennzeichneten Wasserträgers im Dresdner Eliasgemälde entspricht: Beide leisten einen Altardienst, mit Wasser und Wein bringen sie Getränke bzw. Flüssigkeiten herbei, die das Heilsgeschehen offenbar machen – das Wasser, indem es die Allmacht des Gottes Israel offenbart, der selbst ein durchnässtes Opfer entzündet, der Wein, indem er als Abendmahlswein die Gegenwart Christi offenbart. Möglicherweise nutzte Cranach für die Bilderfindung der Maler-MundschenkenFigur eine prominente Vorlage: Denn zu den seltenen Darstellungen eines Abendmahls mit einem zusätzlichen, auffällig hervorgehobenen Mundschenk gehört Al-

21 So etwa bei Hans Schäufelein auf der auf 1511 datierten Bildtafel mit dem Abendmahl in der Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin (Gemäldegalerie Berlin. Gesamtverzeichnis, Berlin 1996, Kat. Nr. 560, Abb. 264). 22 Zu dem Dessauer Bild: Koerner (wie Anm. 19), 377–401; Findeisen, Peter: Fürst Georg III. von Anhalt und einige Bilder seiner Zeit. In: Mitteilungen für Anhaltinische Landeskunde 7 (2008) Sonderband: 500 Jahre Georg III. Fürst und Christ in Anhalt. Hg. v. Achim Detmers und Ulla Jablonowski, 192–199; Slenczka, Ruth: Die gestaltende Wirkung von Abendmahlslehre und Abendmahlspraxis, 16. Jh. Basisartikel in: Europäische Geschichte Online (EGO; internationales Forschungs- und Publikationsprojekt der DFG am Institut für Europäische Geschichte Mainz, freigeschaltet 12/2010): http://www.ieg-ego.eu/de/threads/crossroads/sakrale-raeume/ruth-slenczkaabendmahlslehre-und-abendmahlspraxis-im-16-jahrhundert (abgerufen am: 22. 09. 2019), 40–43.

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Abb. 7: Lukas Cranach, Mundschenk mit Cranachs Wappen auf dem Siegelring im Abendmahl mit Reformatoren, 1565. Dessau, St. Marien.

brecht Dürers Holzschnitt vom letzten Abendmahl aus der großen Passion von 1510 (Abb. 8).23 Dort erscheint zusätzlich zu den Jüngern links ganz im Vordergrund wie ein dreizehnter Jünger eine bärtige Gestalt, die aus einem Krug Wein in einen Becher gießt. Diese Gestalt gehört bei Dürer nicht zu der Gruppe von Dienern, die Trank und Speise an den Tisch bringen, sondern wird durch ihre Alleinstellung ausgezeichnet.24 Die Schankszene spielt sich in räumlicher Trennung von der eigentlichen Abendmahlsszene im äußersten Vordergrund ab. Ein niedriger Tisch mit einem bauchigen Wasserkrug und einer kleinen Schale wird vom unteren Bildrand so abgeschnitten, dass sie fast auf der Bildkante aufzuliegen scheinen und zusammen mit der unmittelbar daneben befindlichen Signatur eine Einheit bilden. Die Nähe zur Signatur und der stilllebenhafte, wie ein Bild im Bild gestaltete Aufbau der Szene wirken sinnbildhaft. Nur der Mundschenk steht. Neben der gebeugt sitzenden Rückenfigur des Judas ist er als einziger in ganzer Gestalt zu sehen, während Jesus und die übrigen Jünger durch den Tisch und die sie umgebenden Personen überschnitten werden. Da sich der Mundschenk weiter als alle anderen im Vordergrund befindet und zudem nicht dem Tisch, sondern dem Betrachter zugewandt ist, richtet sich die Aufmerksamkeit des Betrachters zuallererst auf seine Gestalt und Tätigkeit: Er gießt aus einem hohen Deckelkrug Wein in einen Becher. Die Darstellung dieser Figur als Entréefigur in das Bildgeschehen lässt ihn zum Vermittler zwischen dem

23 Die Große Passion umfasst 12 Holzschnitte, die ca. 39 × 28 cm groß sind, und erschien 1511 zusammen mit einer lateinischen Dichtung des Benedictus Chelidonius als Buch, vgl. Strieder, Peter: Dürer. Augsburg 1996, Abb. 312, 266. 24 Darin unterscheidet sie sich von den wenigen Parallelen, etwa dem Abendmahl auf dem Schottenaltar des Meisters des Schottenaltars, um 1470, in Wien im Museum im Schottenstift.

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Abb. 8: Albrecht Dürer, Abendmahl, Holzschnitt aus der „Großen Passion“, 1511. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett.

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Betrachter und dem Bildgeschehen werden – darin entspricht sie dem Wasserträger der Torgauer Eliastafel. Er ist der „Dürer“, der „Türer“ oder Türöffner des Bildes. Die sprechende Malersignatur, in der das „D“ unter einem torartigen „A“ erscheint, befindet sich in unübersehbarer Größe in der Bildmitte, kontrastreich durch die helle Beleuchtung hervorgehoben.25 Der stilllebenhafte Schanktisch vermittelt zugleich zwischen der Signatur, dem Mundschenk und dem Betrachter. Der Maler übernimmt die Rolle des Mundschenken, der den Trank für das Mal richtet wie der Maler die Farbe für das Bild. Er ist zugleich derjenige, der dem Betrachter die Anschauung des Evangeliums durch seinen Holzschnitt vermittelt wie der Evangelist durch die Niederschrift des Evangeliums. Und da Lukas als derjenige Evangelist galt, der nicht nur Schreiber, sondern auch Maler war, ist der Mundschenk auch bei Dürer eine Evangelistenfigur. Er trägt nicht die Porträtzüge Dürers, sondern ist ebenso wie alle anderen Personen des Blattes stark typisiert. Sein Typus ist jedoch derjenige, der von allen Typen des Holzschnittes dem Dürertypus der Selbstporträts am nächsten kommt. Vermutlich kannte Cranach Dürers Folge der großen Passion von 1510 mit dem Abendmahlsholzschnitt, und vielleicht ließ er sich von ihm zu seiner ebenfalls typisierten, aber gerade durch die zeitgenössische höfische Kleidung stärker individualisierten Entréefigur des Maler-Mundschenken inspirieren. Cranachs Szene ist insgesamt stärker als bei Dürer als Hofszene gestaltet, was auf seinen Status als Hofmaler anspielt. Aber auch bei Cranach gehört der Mundschenk nicht zu einer Gruppe der Diener, sondern ist durch seine Alleinstellung und zudem durch ein kurzes Schwert hervorgehoben.26 Anders als bei Dürer wird nicht das Einschenken, sondern das Darreichen des Bechers thematisiert. Da Christus ebenfalls im Moment der Selbstdarreichung im Brot dargestellt ist, ist der Bezug zur Einsetzung des Abendmahles viel enger als bei Dürer.27 Die Übergabe des Weinbechers kann als Selbstdeutung des Künstlers und seiner Malerei interpretiert werden: Der Wein, den Cranach im Becher darreicht, ist der Abendmahlswein, der im Vollzug des Abendmahls mit dem Blut Christi identifiziert wird. In der Hand des Malers ist er zugleich ein Sinnbild für die Farbe. Auch wenn in der Malerei die Farbe – anders als der Wein im Abendmahl – das Blut Christi nur abzubilden vermag, kann sie doch als Bild der Vergegenwärtigung des Bluts dienen, die sich für den Gläubigen im Abendmahl vollzieht. Denn mittels der Farbe führt der Maler die leibhafte Gegenwart Christi, die in den Elementen des Abendmahls unsichtbar bleibt, als Bild sichtbar vor Augen. Das Geheimnis des Bildes, Abwesen-

25 Vgl. hierzu Winner, Matthias: „Hand weg von der Tafel!“ Die Maxime des Apelles im Bild. In: Künstler-Signaturen von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Nicole Hegener. Petersberg 2013, 264–283, hier 266. 26 Es könnte sich auch um einen Dolch handeln. 27 Bei Dürer verweist der Schanktisch auf die Hochzeit zu Kana, die hier (einer breiten Bildtradition folgend) mit dem letzten Abendmahl verschränkt wird.

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des so zu vergegenwärtigen, dass der Betrachter es für leibhaftig anwesend hält, fungiert als Bild für das Geheimnis des Glaubens, Christus in den Elementen des Abendmahls so zu vergegenwärtigen, dass sie dem Gläubigen zur Gewissheit wird. Mit der Funktion Cranachs als Mundschenk korrespondiert diejenige Luthers als Junker Jörg. Mit der Rolle des ‚Junker Jörg‘ ist der Aufenthalt auf der Wartburg verbunden, und damit die Zeit, die Luther im Rückblick „sein Patmos“ nannte und in der er wie der Seher Johannes auf der einsamen Insel seine Offenbarung niederschrieb: Die Übersetzung des Neuen Testaments, das 1522 als sogenanntes Septembertestament im Druck erschien.28 In ähnlicher Weise wie der Weinbecher ein Bild für die Farbe des Malers ist, so ist er auch ein Bild für das von Luther übersetzte Testament, das in den hier verbildlichten Einsetzungsworten aus dem Lukasevangelium (Lk 22, 20) zusammengefasst wird: „Dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ Auch im Matthäusevangelium sind die Einsetzungsworte überliefert.29 Wenn Cranach sich selbst und Luther den Kelch gemeinsam halten lässt, dann vermittelt er dadurch eine Analogie zwischen seiner Tätigkeit als Maler und der Luthers als Übersetzer. Mehr noch: Cranach beschreibt hier ein komplexes Rollenspiel, in dem er selbst zusammen mit Luther an die Stelle des Mundschenken und des Jüngers und zugleich an die der Evangelisten Lukas und Matthäus tritt. Mit dem Wein präsentieren diese die Gegenwart Christi im Neuen Testament, das Luther auf der Wartburg übersetzte und das Cranach auf dem Altarretabel im Medium des Bildes vergegenwärtigt. Der Pinsel des Malers legt in diesem Rollenspiel gewissermaßen dem Übersetzer und Liturgen Luther die Einsetzungsworte Christi im Abendmahl in den Mund. Die Identifikation des Blutes Christi mit der Farbe des Malers war keine Innovation Cranachs, wenn sie bei ihm auch besonders häufig anzutreffen ist.30 Der Wein und die rote Farbe werden bei Cranach zum Medium, in dem das Heilsgeschehen als gegenwärtiges Geschehen erfahrbar bzw. sichtbar wird. Der Maler-Mundschenk und der Übersetzer-Reformator stehen gleichermaßen im Dienst der Verkündigung des Neuen Testaments, des Bundes zwischen Gott und den Menschen „im Blut Christi“. Innerhalb des Bildprogramms des Wittenberger Altarretabels fällt das Abendmahlsbild aus der Reihe, denn es zeigt nicht wie die Flügel und die Predella die durch Luther veränderte Gottesdienstpraxis, sondern eine biblische Szene. Am Altar, dem Ort der Abendmahlsausteilung, verdoppelt Cranach durch sein Gemälde das Altarzeremoniell nicht, sondern bindet es zurück an dessen biblischen Ur-

28 WA.B II, 305, Nr. 396. 29 Mt 26, 27 f.: „Und er nahm den Kelch […], gab ihnen den und sprach: Trinket alle draus; das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ 30 Zur Identifikation von Blut und Farbe in der spätmittelalterlichen Tradition und bei Cranach: Schlie, Heike: Blut und Farbe: Sakramentale Dimensionen der frühneuzeitlichen Bild- und Kunsttheorie. In: Sakramentale Repräsentation. Substanz, Zeichen und Präsenz in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Stefanie Ertz, ders. und Daniel Weidner. München 2012, 51–80.

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sprung. Das Bild steht für diesen biblischen Ursprung; es ist eine Art Garant für die Schriftgemäßheit der im Gottesdienst vor ihm stattfindenden Abendmahlsfeier. Der Maler-Mundschenk bezeugt mit seinem Gemälde diese Schriftgemäßheit. Ähnlich wie im Torgauer Gemälde von Elias und den Baalspriestern identifiziert er sich nicht mit einer zentralen Figur des Geschehens, sondern übernimmt eine randständige Rolle, die im biblischen Text nicht eigens erwähnt wird. Innerhalb der Historie hat sie Gehilfenfunktion. Ihre eigentliche Funktion besteht jedoch in der Vermittlung zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter: Die Malerfigur tritt an das Geschehen heran, ist vom Bildrand überschnitten und befindet sich im äußersten Vordergrund des Bildes in ganzer Figur. Im Fall des Kannenträgers blickt sie aus dem Bild heraus, im Fall des Mundschenken ist der Blick auf den Weinbecher gerichtet und lenkt auch den Blick des Betrachters auf diesen. Denn der Mundschenk reicht ihn zwar dem Jünger, präsentiert ihn dabei jedoch zugleich gemeinsam mit dem Jünger dem Betrachter. Mehr noch als durch den Blick vermittelt er dabei durch seine Haltung zwischen dem Bildgeschehen und demjenigen, der vor dem Bild steht, denn sein rechtes Bein, das Standbein, ist dem Jünger zugewandt, der den Mundschenk seinerseits anschaut. Das linke Bein weist jedoch nach vorne, sodass sich die Szene zum Betrachterraum hin öffnet. Die Figur vermittelt dabei nicht nur durch ihre Haltung und den Blick, sondern auch, indem sie die Tätigkeit und Aufgabe des Kannenträgers bzw. des Mundschenken mit der des Malers verschränkt und dadurch auf die eigene Existenz hin auslegt. In der Eliastafel und im Wittenberger Abendmahlsbild geschieht also ein analoger Umwandlungsprozess: Wasser und Blut werden zum Bild für die Farbe des Malers. Und wie durch Wasser und Blut innerhalb des Bildgeschehens die Allmacht Gottes bzw. die Gegenwart Christi offenbart wird, so auch durch die Farbe des Malers im Medium des Gemäldes.

Der Maler als Prophet Auf dem von Lukas Cranach d. J. gemalten Retabel in der Stadtpfarrkirche von Weimar befinden sich auf dem Mittelbild drei Personen rechts unter dem Kreuz: Johannes der Täufer, Lukas Cranach d. Ä. und Martin Luther (Abb. 9).31 Alle drei waren keine Augenzeugen der historischen Kreuzigungsszene und fungieren hier dennoch als Zeugen. Ihr Zeugnis ist nicht unmittelbar, sondern wird durch ein prophetisches Zeichen vermittelt: das Lamm am Fuß des Kreuzes. Johannes, der letzte Prophet, deutet das Zeichen als Bild des Opfertodes Christi, indem er die neben ihm Stehenden gestisch auf den Zusammenhang hinweist. In der Rolle seiner Nachfolger, des

31 Zum Weimarer Altar mit der älteren Lit.: Böhlitz, Michael: Der Weimarer Cranachaltar im Kontext von Religion und Geschichte. In: Lucas Cranach 1553/2003. Wittenberger Tagungsbeiträge anlässlich des 450. Todesjahres Lucas Cranachs des Älteren. Hg. v. Andreas Tacke. Leipzig 2007, 277– 298.

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Abb. 9: Lukas Cranach, Cranach und Luther unter dem Kreuz, Mitteltafel des Hochaltarretabels von St. Peter und Paul in Weimar, 1555.

zweiten und dritten Johannes, wiederholen Cranach und Luther das Zeugnis des Johannes: Durch den Glauben, der in den zum Gebet zusammengelegten Händen des Malers und im Getroffensein durch das Erlöserblut Christi sichtbar wird, sowie durch die Schrift, die der Prediger in Händen hält.32 Dass ihr Zeugnis vollgültig und

32 Für den Leser lesbar aufgeschlagen finden sich Verse aus unterschiedlichen Büchern der Bibel: 1 Joh 1, 7; Hebr 4, 16; Joh 3, 14 f., die das Blut Christi, den Abendmahlsaltar als Gnadenstuhl und die Erhöhung des Kreuzes betreffen.

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wahr ist, obwohl es aus zweiter Hand stammt, wird in der Platzierung der Gruppe unter dem Kreuz sichtbar. Die drei Zeugen nehmen den Platz von Augenzeugen ein, konkret: den Platz des Evangelisten Johannes, der sein Evangelium auf Augenzeugenschaft gründet: „Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, dass er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubt“ (Joh 19, 35). Die Bildsprache ist nicht ungewöhnlich: Der Täufer erscheint häufig als Vorläufer des Evangelisten, der das Kreuzesgeschehen deutet.33 Und auch Luther und Cranach wurden, wie oben ausgeführt, gelegentlich als Evangelisten dargestellt.34 Sie fungieren dabei zugleich in Nachfolge der Evangelisten als Zeugen der Kreuzigung und als Nachfolger Johannes des Täufers als Propheten der Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten. Mit dem Täufer wurde Luther auch sonst identifiziert und immer wieder als „zweiter Johannes“ bezeichnet.35 Obwohl sie als Nachgeborene keine Augenzeugen der Kreuzigung sind, werden Cranach und Luther hier so dargestellt: Wie Johannes der Täufer stehen auch sie unmittelbar unter dem Kreuz. Ein weiteres Merkmal weist sie als Augenzeugen anderer Art aus: An der Oberfläche ihrer Augen spiegelt sich ein Fensterkreuz.36 Cranach nutzt dieses seit Jan van Eyck gebräuchliche Motiv, um die Zeugenschaft darzustellen. Der historische Abstand schmälert die Qualität des Zeugnisses dabei

33 So etwa auf dem Isenheimer Altar im Museum Unterlinden in Colmar. 34 Luther wird auch sonst als Evangelist dargestellt, z. B. im Bildprogramm der Decke der Stadtkirchen von Pirna (dort erfolgt die Zuordnung allerdings über die Anfangsbuchstaben der Namen – Luther ist als Lukas, Melanchthon als Markus dargestellt, vgl. Steche, Richard: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, 1. Heft, Amtshauptmannschaft Pirna. Dresden 1882, 63). 35 Zu Identifikationsporträts, in denen zeitgenössische Personen mit Johannes d. T. identifiziert werden, vgl. Polleroß, Johannes: Das sakrale Identifikationsporträt. Ein höfischer Bildtypus vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Worms 1988, 167–170. – Erkennungszeichen der Identifikation ist i. d. R. der Deutegestus. Luther wird z. B. auf dem Holzschnitt „Unterschied zwischen der waren Religion Christi und falschen Abgöttischen lehr des Antichristis in den fürnemsten stücken“ von 1547/48 als zweiter Johannes dargestellt: Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet er auf das Lamm mit der Kreuzfahne; ein Spruchband erläutert: „Sihe das ist das lamb Gottes etc.“ (Holzschnitt von zwei Stöcken, Berlin, SMB, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 707–115, vgl. dazu Reinitzer, Heimo: Tapetum Concordiae. Peter Heymans Bildteppich für Philipp I. von Pommern und die Tradition der von Mose getragenen Kanzeln. Berlin 2012, 41–44). – Im Matthäusevangelium bezeichnet Jesus Johannes den Täufer als zweiten Elias, der ihm vorangehe (Mt 11, 12–14). Als dritter Elias war Luther daher zugleich der zweite Johannes. 36 Für diesen Hinweis danke ich Heike Schlie; sie versteht das Fensterkreuz als Markierung der Zugehörigkeit Luthers und Cranachs zum Realraum und ihrer Zeugenschaft der medialen Sphäre. – Schon bei Jan van Eyck erscheint das Spiegelbild eines Fensterkreuzes als Bild der Passionsnachfolge (im Spiegel der Arnolfini-Hochzeit, unmittelbar über dem Porträt des Malers); bei Dürer wurde das Auge zu einem solchen Spiegel (zuerst beschrieben von Białostocki, Jan: The Eye and the Window. Realism and Symbolism of Light-Reflections in the Art of Albrecht Dürer and his Predecessors. In: Festschrift für Gert von der Osten. Köln 1970, 159–176; einen Überblick über die weitere Forschung bis 1998: Goldberg, Gisela / Heimberg, Bruno / Schawe, Martin: Albrecht Dürer: die Gemälde der Alten Pinakothek. Heidelberg 1998, 331, hier Anm. 60.

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nicht. Denn im Bild des Fensterkreuzes wird das Auge einerseits zur Membran zwischen Innen und Außen, zum Einfallstor des Lichts. Das Bild beschreibt den Vorgang des Sehens als Austausch zwischen Innen und Außen. Andererseits wird das Auge zum Spiegel, in dem das Fensterkreuz als Spiegelbild sichtbar wird. Und auch durch das Bild des Spiegels wird der Vorgang des Sehens als Austausch zwischen Innen und Außen gedeutet: Denn der Spiegel scheint zwar ein Fenster aus der Außenwelt wiederzugeben, dieses lässt sich jedoch weder innerbildlich in der Landschaft unter dem Kreuz, noch außerbildlich im Kirchenraum ausmachen. Das Fensterkreuz im Auge erweist sich vielmehr als Spiegelbild eines für den Betrachter unsichtbaren Fensters: Der Augenspiegel gibt ein inneres Bild wieder. Luther hatte ein sehr traditionelles Bildverständnis, nach dem sich Glaubenserkenntnis grundsätzlich in Bildern vollzieht.37 Die Paradoxe des Glaubens lassen sich diesem zufolge nicht anders als in Bildern begreifen. Die Aufgabe des Malers ist im Bezug auf diese Bilder dieselbe wie die des Predigers: Er führt sie so lebendig vor Augen wie irgend möglich, damit sie sich dem Betrachter oder Hörer fest im Innern einprägen und als Glaubensgewissheit lebendig bleiben. Wie das Weimarer Retabel zeigt, entsteht Glauben im Schauen. Tod und Teufel haben keine Augen – mit den leeren Augenhöhlen und den roten Stilaugen des Monsters, die Gift sprühen, statt Licht einzulassen, können sie das Heil nicht erkennen. Wer Augen hat, der wird jedoch innerbildlich und über die Bildgrenzen hinweg vielfältig auf das Heil hingewiesen: nicht nur durch den Zeigefinger Johannes des Täufers, durch den Blutstrahl, der Cranach trifft, und durch Luthers Hinweisen auf die Schrift, sondern auch durch Moses, der die Propheten auf die Gesetzestafeln und die Israeliten auf die eherne Schlange hinweist, und schließlich durch Christus, der den Blick des Betrachters sucht und mit seinem Stab auf seinen Sieg über Tod und Teufel hindeutet. Die innerbildlichen Gläubigen, die im Schauen das Heil finden, sind dem Betrachter Vorbilder: Luther und Cranach, in deren geöffneten Augen das Kreuz sichtbar wird; die Hirten, die vom Anblick der himmlischen Erscheinung ergriffen werden; die Israeliten, die auf die eherne Schlange blicken; der Sünder, der durch Tod und Teufel getrieben den rettungssuchenden Blick zum Kreuz wendet. Auf dem Weimarer Retabel geht es um das Schauen religiöser Bilder. Was dabei über die Bedeutung des Sehsinnes für das Erkennen und über die Rolle des Malers gesagt wird, gilt jedoch nicht nur für Kunst im religiösen Kontext, sondern weit darüber hinaus und ist von grundsätzlicher Bedeutung: Der Maler ist im Bild. Das Bild ist nicht nach vorne abgeschlossen, sondern öffnet sich. Die Grenzen zwischen „vor dem Bild“ und „im Bild“ werden relativiert, unterschiedliche Bildebenen greifen ineinander. Der Maler ist Zeuge dessen, was er darstellt, und dieser Zeugenstatus wird zum Bildgegenstand.

37 Eine gute Orientierung über Luthers Bildverständnis bietet: Litz, Gudrun: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten. Tübingen 2007, 21–26.

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Der Vorgang des Schauens und Erkennens ist im Bild. Der Betrachter erhält nicht nur ein Bild des Gekreuzigten, sondern zugleich ein Bild des Rezeptionsvorgangs dieses Bildes. Das Bild betrachten heißt, sich in das Erkennen der Heilsbotschaft ‚einzulesen‘. Die Macht des Bildes wird dabei sehr hoch angesetzt, denn es vermag, Sachverhalte evident zu machen, die übernatürlich sind: dass sich der Himmel über den Hirten öffnet, dass der Anblick einer ehernen Schlange die Israeliten vor dem Tod schützt, dass der von Tod und Teufel gejagte Sünder durch den Blick auf das Kreuz gerettet wird, dass Verstorbene sichtbar gegenwärtig sind. Ungleichzeitige Zeitebenen wie die des Täufers, des Gekreuzigten und Cranachs und Luthers werden vergleichzeitigt und in einem gemeinsamen Raum vergegenwärtigt. Dem Auge erschließt sich, was dem Verstand unnachvollziehbar bleibt. Der Maler ist in der Lage, Übernatürliches sinnhaft erfahrbar zu machen. Das Bild wird zwar mit allen Mitteln illusionistischer Kunst an die Betrachterwelt angebunden und durch Blicke aus dem Bild heraus sowie eine betrachterorientierte Gestik mit ihr verschränkt, seine Wirklichkeitsebene wird jedoch zugleich deutlich von derjenigen außerhalb unterschieden: durch die distanzschaffende Rahmung wie durch die nur im Bild mögliche Ineinssetzung verschiedener Zeiten und Räume. Michael Böhlitz deutete das Programm des Weimarer Retabels als Variante von Cranachs Bildformular ‚Gesetz und Evangelium‘: An die Stelle des namenlosen Sünders, des „Jedermann“, sei der Maler getreten, ein individualisierter Sünder.38 Johannes wie auch Luther, der zweite Johannes, wiesen ihn auf Christus hin. Diese Deutung ist sicherlich nicht falsch. Aber sie greift doch zu kurz: Denn Cranach ist hier nicht nur als Sünder dargestellt, der vom Blutstrahl getroffen wird, sondern auch als Maler, der den Betrachter im Medium der Farbe auf das Heilsgeschehen hinweist. In anderen Darstellungen hat Cranach auch die Malerfigur mit einem ausgestreckten Zeigefingers ausgestattet, so bereits 1531 im Gothaer Gastmahl des Holofernes.39 Auf dem Weimarer Altar differenziert er hingegen zwischen den Deutebzw. Deutungsaufgaben von Johannes dem Täufer, Luther und Cranach: Während der Täufer mit dem Finger auf das Bild des Lammes und der Kreuzigung deutet, deutet Luther – ebenfalls mit dem Finger – auf die Schriftverse, die den theologischen Gehalt des Bildes beschreiben und auf den Betrachter beziehen: „Das Blut Jesu Christi reinigt unns von allen sunnden […]“. Der Zeigegestus ist auf die Worte gerichtet und wird so zum Redegestus.40 Cranach hingegen deutet mit der Farbe 38 Böhlitz (wie Anm. 31), hier 280 f., 289 f.; ähnlich auch: Reinitzer, Heimo: Gesetz und Evangelium. Hamburg 2006, Bd. 1, 65–67. 39 Lukas Cranach d. Ä., Judith an der Tafel des Holofernes, datiert 1531, Stiftung Schloss Friedenstein, Gotha, 98,5 × 72,5 cm (Bildträger), Cranach Digital Archive (CDA) ID: DE_SMG_SG674. 40 Moshe Barasch spricht bereits im Hinblick auf die Körpersprache bei Giotto von der sprechenden Hand („The speaking hand“) und weist darauf hin, dass in der Malerei Sprechen grundsätzlich über den Redegestus der deutenden Hand und kaum über das eigentlich zuständige Organ, den Mund, dargestellt wird (Barasch, Moshe: Giotto and the Language of Gesture. Cambridge 1987, hier 15–39). Vgl. auch Horký (wie Anm. 1), 113–119.

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des Blutstrahls. Dieser verbindet das Bild des Kreuzes nicht wie im Bildentwurf ‚Gesetz und Evangelium‘ mit der Brust, dem Sitz des Herzens, in das sich Glaubensbilder einprägen, sondern mit seinem Kopf, dem Sitz des Sehsinnes. Es ist der Blick des Malers, der durch den Blutstrahl neu ausgerichtet wird und Glaubensbilder hervorbringt; Cranachs Reformator spricht durch seinen Zeigegestus Worte, seine Malerfigur sieht hingegen Bilder. Eine Abstufung zwischen dem Maler und dem Schriftausleger wird nicht vorgenommen. Sie stehen auf einer Stufe parallel und gleich groß nebeneinander. Johannes der Täufer ist beiden gleichermaßen vorangestellt. Durch das Spiegelbild des Fensterkreuzes im Auge werden die Tätigkeiten Cranachs und Luthers in gleicher Weise als Vorgang der Verinnerlichung des Glaubens im Schauen des Kreuzes charakterisiert.

Künstlerische Selbstdeutung als Frömmigkeitspraxis Die vorgestellten Bilder bilden Beispiele für heilsgeschichtliche Selbstverortungen des Künstlers im Bild. Der Maler reflektiert in ihnen seine Rolle und Tätigkeit aus der Perspektive dessen, der sich mit Themen und Fragen des Glaubens und der Bibel auseinandersetzt und diese dabei als Anfrage an seine eigene Tätigkeit und Existenz reflektiert. Insofern bezeugen die Bilder eine berufsspezifische, selbstbewusste Aneignung des Glaubens. Der Künstler erscheint nicht als Illustrator der Lehre Luthers, sondern als ein seiner selbst bewusster, darin von der Reformation mit ihrer Rede vom Priestertum aller Gläubigen geprägter Christ, der seine Glaubensfragen aus der Perspektive des Malers stellt und mittels seines künstlerischen Instrumentariums reflektiert. Obwohl wir keine schriftlichen Äußerungen Cranachs über seine reformatorischen Bildentwürfe besitzen, können wir uns in der Annahme, dass diese Bilder tatsächlich im Zusammenhang persönlicher Auseinandersetzungen mit der Bibel und dem Glauben entstanden, auf eine schriftliche Quelle stützen: auf die Leichenpredigt, die Georg Mylius anlässlich der Beerdigung von Lukas Cranach d. J. in der Wittenberger Stadtkirche hielt und die zuerst 1586 und dann noch mehrfach in Wittenberg gedruckt wurde.41 Sie bezieht sich zwar auf Cranach d. J., berichtet jedoch auch über den berühmten Vater und unterscheidet in den Passagen über die Kunst nicht zwischen Vater und Sohn. Mylius beschreibt in dieser Predigt den Zusammen-

41 Vgl. hierzu Slenczka, Ruth: Augentäuschung als Bild des Glaubens. Cranach der Jüngere und seine Kunst aus Sicht der Zeitgenossen. In: Lucas Cranach der Jüngere und die Reformation der Bilder. Hg. v. Elke A. Werner, Anne Eusterschulte und Gunnar Heydenreich. München 2015, 218–227.

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hang zwischen Cranachs Beschäftigung mit biblischen Texten und seiner künstlerischen Tätigkeit. Und er leitet die entsprechende Passage mit einer kurzen Erläuterung seines Vorgehens ein: Er werde darlegen, auf welche Weise „unser lieber verstorbener alte Herr und frommer Vater seliger sich in diesem Fall [d. h. beim Nachsinnen über den Bibelvers, der der Predigt zugrunde liegt, R. Sl.] wird viel malen getröstet und aus seiner zierlichen Mallkunst die schöneste gedancken wird geschöpffet und gefasset haben“ (B 1v).42 In dem auf dieses Zitat folgenden Abschnitt der Predigt entfaltet Mylius diese aus der „zierlichen Malkunst“ geschöpften „schönsten“ Gedanken, wobei er unter „Malkunst“ sowohl die gedankliche Arbeit (er nennt sie „inventio und ersinnung“) als auch die technische Umsetzung der Idee versteht. Mylius geht dabei ganz selbstverständlich davon aus, dass für Cranach sein Glaube und seine Malkunst miteinander verschränkt waren. Man könnte nun einwenden, dass Mylius sich das so vorgestellt haben mag, wir daraus aber nicht schließen können, dass Cranach selbst einen so engen Zusammenhang zwischen seinem Glauben und seinem Beruf sah. Der Einwand ist durchaus berechtigt – der Prediger kannte den Verstorbenen zwar und wird mit ihm auch über den Bibelvers gesprochen haben, den dieser sich für seine Beerdigung ausgewählt hatte (Joh 8, 51), aber ob Mylius hier tatsächlich Cranachs Gedanken oder doch nur seine eigenen wiedergibt, muss offenbleiben. Letztlich können wir hinter das literarische Künstlerbild, das Mylius von dem Maler entwirft, nicht zurück gelangen: In den Augen des Predigers war Cranach ein geistbegnadeter, frommer Künstler, dessen persönliche Frömmigkeit sich in seiner künstlerischen Tätigkeit äußerte, der in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Bibel Trost und Erkenntnis suchte und der in seiner Malkunst eine neue Glaubenssprache entwickelte. Diese zeitgenössische Perspektive des Predigers auf Cranach entspricht dem gemalten Selbstzeugnis des Künstlers. Denn im gemalten ‚Ich‘ verschränken sich künstlerische und heilsgeschichtliche Selbstverortung: Als Künstler ist der Maler Deuter der Heilsgeschichte. Diese Rolle reflektiert er im Bild des am Rand seines Kunstwerks stehenden auktorialen Erzählers, der durch seinen Blick aus dem Bild heraus zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter vermittelt und die Rolle eines Gehilfen oder Dieners einnimmt, der Wasser oder Wein herbeibringt – ein Bild für die Farbe, aus der das Kunstwerk gemacht ist. Der Künstler bleibt mit seiner Rolle jedoch nicht ein außerhalb des Bildraums agierender Erzähler, sondern wird selbst zum Teil der Bilderzählung: Er tritt zugleich als Deuter und als Gegenstand der Heilsgeschichte auf, indem er nicht nur die Perspektive dessen einnimmt, der den Betrachter mit seinen Bildern auf das Heilsgeschehen verweist, sondern zugleich die des Sünders, dem durch den Blick auf das Kreuz Rettung widerfährt. Sein Kunst-

42 Zitiert nach dem Erstdruck: Christliche Predigt Bey der trawrigen Leich und Begrebnus des weiland Ehrnvesten und Fürnemen Herren LUCAS CRANACHS […], Wittenberg: Matthes Welack 1586 (VD16 M 5275).

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werk wird zum Bild dieser Doppelrolle des Malers, der die Heilsgeschichte im Gemälde materialisiert und damit veräußerlicht und das Bild zugleich zum Medium der inneren Aneignung des Heils macht, das sich dem Gläubigen als inneres Bild einschreibt. Dem entspricht die Doppelrolle der Farbe, die zugleich Medium des Malers ist, mit dem er das Heilsgeschehen sichtbar macht, und sakramentales Medium – Blut Christi, Abendmahlswein, Taufwasser –, mit dem sich die gläubige Aneignung des Heils vollzieht. Cranachs Selbstbildnisse fügen sich in eine breite Bildtradition, die die Rolle des Künstlers als inspirierter Schöpfer, als rhetorisch versierter Erzähler und als Vermittler zwischen den Zeiten und Räumen entfaltet. In den hier vorgestellten reformatorischen Schlüsselwerken gewinnt sein Bild von der Rolle des Künstlers jedoch eine neuartige, konfessionsspezifische Zuspitzung: In der Künstlerfigur wird nicht allein derjenige porträtiert, der das Bild entwirft, sondern zugleich derjenige, auf den das Bild abzielt. Er bleibt nicht am Rand des Bildes, in der Rahmenhandlung, sondern rückt ins Zentrum, auf dem Weimarer Retabel ganz wörtlich, und wird als Maler des Gekreuzigten zugleich zum vom Kreuz ergriffenen Sünder.

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Die Transformation der mittelalterlichen ars moriendi zur reformatorischen Leichenpredigt Die Verarbeitung des Todes war ein zentrales Thema mittelalterlicher Kontingenzbewältigung. Arnold Angenendt hat deutlich gemacht, welch hervorgehobene Bedeutung für mittelalterliche Religiosität die Totenmesse besaß.1 In ihr konnte die Gemeinschaft zwischen den Lebenden und dem eben Gestorbenen noch einmal zelebriert und an der Schwelle des Todes etwas für das eigene Heil getan werden. Die Verarbeitung der extremsten Kontingenzerfahrung hatte so einen verallgemeinerbaren rituellen Rahmen. Zudem konnten Gebetsverbrüderungen die Solidarität zwischen Lebenden und Toten zum Ausdruck bringen.2 So gewann der Zusammenhang aus ecclesia militans, der irdischen Kirche, und ecclesia triumphans, der himmlischen Kirche, liturgischen Ausdruck, und dies in einem Rahmen öffentlicher Zeremonie. Eine solche individuelle Todesverarbeitung war allerdings in Phasen des massenhaften Sterbens, etwa während der Pestepidemien des späten Mittelalters, undenkbar. Giovanni Boccaccio lässt dies in erschütternder Weise erahnen: „Della minuta gente, e forse in gran parte della mezzana, era il ragguardamento di molto maggior miseria pieno: per ciò che essi, il piú o da speranza o da povertà ritenuti nelle lor case, nelle lor vicinanze standosi, a migliaia per giorno infermavano, e non essendo né serviti né atati d’alcuna cosa, quasi senza alcuna redenzione, tutti morivano. E assai n’erano che nella strada publica o di dí o di notte finivano, e molti, ancora che nella case finissero, prima col puzzo de‘ lor corpi corrotti che altramenti facevano a‘ vicini sentire sé esser morti: e di questi e degli altri che per tutto morivano, tutto pieno. Era il piú da‘ vicini una medesima maniera servata, mossi non meno da tema che la corruzione de‘ morti non gli offendesse, che da carità la quale avessero a’ trapassati. Essi, e per se medesimi e con l’aiuto d’alcuni portatori, quando aver ne potevano, traevano delle lor case li corpi de’ già passati, e quegli davanti alli loro usci ponevano, dove, la mattina spezialmente, n’avrebbe potuti veder senza numero chi fosse attorno andato: e quindi fatte venir bare, e tali fuorno che per difetto di quelle sopra alcuna tavola, ne ponieno. Né fu una bara sola qualla che due o tre ne portò insiememente, né avvenne pure una volta, ma se ne sarieno assai potute annoverare di quelle che la moglie e ‘l marito, di due o tre fratelli, o il padre e il figliuolo, o cosí fattamente ne contentenieno. E infinite volte avvenne che, andando due preti con una croce per alcuno, si misero tre o quatro

1 Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 682 f.; vgl. auch Josef Andreas Jungmann: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. Bd. 1, Freiburg 1962 (= Bonn 2003), 285–287. 2 Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900. Stuttgart u. a. ²1995, 338 f. https://doi.org/10.1515/9783050051659-007

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bare, da’ portatori portate, di dietro a quella: e, dove un morto credevano avere i preti a sepellire, n’avevano sei o otto e tal fiata piú. Né erano per ciò questi da alcuna lagrima o lume o campagnia onorati, anzi era la cosa pervenuta a tanto, che non altramenti si curava degli uomini che moriviano, che ora si curerebbe di capre.“ 3 Das kirchliche Ritual, so erscheint es in diesem Bericht, verkam unter dem Eindruck des Massensterbens zu einem Geschehen, das die intendierte Individualität der Sterbebegleitung allenfalls noch als äußere Fassade aufrechterhalten konnte, tatsächlich aber an dieser Aufgabe scheitern musste. Angesichts der zeitlichen Abstände wird man die Neureflexion des Todes im 15. Jahrhundert schwerlich unmittelbar aus diesen Pesterfahrungen ableiten können, aber es fällt doch auf, dass das Thema des Todes um 1400 mit ganz neuer Produktivität angegangen wurde und dabei auch das Thema von Individualität und Verallgemeinerbarkeit des Todes in den Vordergrund rückte. Das eine bemerkenswerte Medium ist der Totentanz.4 Die älteste Fassung, der lateinische Totentanz aus dem Heidelberger Manuskript Codex Palatinus Germanicus 314, ist wohl in das ausgehende vierzehnte Jahrhundert zu datieren.5 Von da an kam es zu einer reichen Verbreitung des Genres in den unter-

3 Boccaccio, Giovanni: Poesie nach der Pest. Hg. v. Kurt Flasch. Mainz 1992 (excerpta classia 10), 228–231, hier auch die Übersetzung: „Die armen Leute, aber wohl auch ein Großteil der Mittelschicht, boten ein noch elenderes Bild. Da sie die Armut oder auch die Hoffnung auf Überleben in ihren Häusern zurückhielt, blieben sie in ihrer Umgebung und erkrankten täglich zu Tausenden. Niemand pflegte sie, niemand versorgte sie, und da sie keinerlei Hilfe erfuhren, starben sie alle. Viele von ihnen endeten auf offener Straße, tags oder nachts. Andere starben zwar in den Häusern, aber die Nachbarn merkten erst, dass sie tot waren, wenn sie den Gestank der verwesenden Leichen rochen. Gestorben wurde überall, und alles war voll von Leichen. Die Nachbarn verhielten sich fast überall gleich, und dabei bewegte sie nicht so sehr die Liebe zu den Verstorbenen als vielmehr die Furcht, von den verwesenden Leichen angesteckt zu werden. Sie entfernten die Leichen aus ihren Häusern und legten sie vor die Haustür, entweder eigenhändig oder mit Hilfe von Trägern, wenn sie welche finden konnten. Wäre jemand, besonders am Morgen, in der Stadt umhergegangen, hätte er überall vor den Haustüren zahllose Tote liegen sehen. Man ließ Totenbahren kommen, aber oft fehlten auch sie, und man legte die Toten auf Bretter. Oft sah man auf einer Bahre gleich zwei oder drei Tote; oft lagen auf derselben Bahre eine Frau und ihr Mann, zwei oder drei Brüder, der Vater mit dem Sohn oder andere Paare. Unendlich oft kam es vor, wenn zwei Priester, ein Kreuz […] voraus, durch die Straße gingen, um einen Toten abzuholen, dass sich ihnen drei oder vier Träger mit ihren Bahren anschlossen; und während diese Priester glaubten, sie hätten nur einen Toten zu beerdigen, waren es nun sechs oder acht, manchmal noch mehr. Für diese Toten gab es keine Träne, keine Kerze, keinen Leichenzug, ja man kümmerte sich um die Sterbenden so wenig, wie man sich heute um tote Ziegen kümmert.“ 4 Vgl. zum Zusammenhang von ars moriendi und Totentanz Palmer, Nigel F.: Ars moriendi und Totentanz: Zur Verbildlichung des Todes im Spätmittelalter. Mit einer Bibliographie zur „Ars moriendi“. In: Arno Borst u. a. (Hg.): Tod im Mittelalter, Konstanz 1993, 313–334. 5 Leppin, Volker: Der lateinische Totentanz aus Cpg 314 als Ursprungstext der europäischen Totentanztradition. Eine alte These neu bedacht. In: Archiv für Kulturgeschichte 77 (1995), 323–343; vgl. ders.: Totentanz. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 33. Berlin / New York 2002, 686–688. Es handelt sich bei dieser These um eine Anknüpfung an Ergebnisse von Rosenfeld, Hellmut: Der

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schiedlichen Sprachen Europas. Sowohl im Druck6 konnte man sich mit seiner Hilfe meditativ mit der Todesthematik befassen, als auch durch Repräsentation an Kirchenmauern7 im öffentlichen Raum. Hier wie dort war die Botschaft eindeutig: Jeder Mensch, gleich welchen Standes, war dem Todesschicksal unterworfen. Der durchgängige Aufbau bestand darin, eben diese Gleichheit des Todes bei allen Unterschieden im Leben anhand der verschiedenen sozialen und biographischen Stellungen durchzuspielen. Auch das kulturgeschichtlich so wirksam gewordene Motiv von der jungen Frau und dem Tod,8 das den Gegensatz von Leben und Tod besonders krass auszudrücken vermochte, verdankte sich eben diesem Grundprinzip, so deutlich wie möglich vor Augen zu stellen, dass der Tod vor Unterschieden im Leben keinen Halt machte. Der Arzt repräsentierte, dass Bildungsunterschiede im Tod nicht mehr wirksam waren,9 Kaiser und Papst machten deutlich, dass selbst noch die höchsten Spitzen in Welt und Kirche demselben Schicksal unterlagen wie jeder andere Mensch. Stand hier das Erschrecken angesichts des Todes im Vordergrund, so zielt die ars moriendi dezidiert darauf, das Leben am Tod auszurichten, also den Menschen, die um die Unentrinnbarkeit des Todes wissen, eine Handhabe zu geben, sich hierauf vorzubereiten. Sie sind ein besonders intensiver Ausdruck dessen, was Berndt Hamm als Frömmigkeitstheologie bezeichnet hat.10 Theologische Reflexion dient hier der Bewältigung des Lebens, die im Raum der Universität erlernbare abstrakte Gelehrsamkeit wurde angesichts des einzelnen Lebens konkret. Freilich wurde sie in der Weise konkret, dass dem Individuum Muster von hoher Allgemeinheit an die Hand gegeben wurden. Parallel zu der Einschärfung der Allgemeinheit des Todes im Totentanz also wurde auch zur Bereitung auf das Sterben in eigenartiger Dialektik einerseits an die individuelle Lebensgestaltung appelliert, andererseits diese aber aufgrund höchst allgemeiner Vorstellungen und Vorschriften normiert. Der erste markante Vertreter dieser literarischen Gattung ist mit Jean Gerson nicht zufällig ein Autor, der auch sonst der Frömmigkeitstheologie zugeordnet wird:11 Um 1402/312 schrieb er, zunächst auf Französisch, seine „schulbildend“ mittelalterliche Totentanz. Entstehung – Entwicklung – Bedeutung. Köln ³1974, die jedoch durch problematische völkerpsychologische Argumentationen belastet waren. 6 Siehe etwa die Danse macabre und den oberdeutschen achtzeiligen Totentanz in: Kaiser, Gert (Hg.): Der tanzende Tod. Mittelalterliche Totentänze. Frankfurt am Main 1982, 70–107; 108–193. 7 Berühmte Beispiele waren Paris (dieser Totentanz wurde allerdings im 16. Jahrhundert zerstört), Lübeck oder Basel (siehe Leppin: Totentanz [wie Anm. 5], 687). 8 Man denke nur an das berühmte Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ von Franz Schubert. 9 Kaiser (wie Anm. 6), 132 f. 10 Ebd., 116 f., 134 f. 11 Siehe Grosse, Sven: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit. Tübingen 1994 (Beiträge zur historischen Theologie 85). 12 Rädle, Fidel: Johannes Gerson, De arte moriendi. Lateinisch ediert, kommentiert und deutsch übersetzt. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literatur-

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(Sven Grosse)13 gewordene „médicine de l’âme“ oder „La science de bien mourir“.14 Der Text atmet unmittelbar das Bewusstsein der Massenhaftigkeit und Indifferenz des Todes: „Mon amy ou amye, pense la grace que Dieu te faist. Nous sommes tous et toutes en sa main. N’est homme, roy ou prince ne aultre, qui ne doye passer par ce pas, car nous n’avons point de demain ne n’avons pas esté mis en ce monde pour y tousiours demourer mais pour acquerir le logeis et la gloire de paradis pardurablement par bien vivre, et pur eschever les horribles paines d’enfer.“ 15 Dieses Werk richtet sich allenfalls indirekt an die Laien.16 Eher handelt es sich um eine Art von Handbuch für Kleriker, aus dem diese lernen können, wie sie Sterbende begleiten sollen. Hierzu teilt Gerson den kleinen Traktat in vier Teile: „exhortacions, interrogacions, oroysons et observacions“. Die ersten drei Abschnitte gestalten eine Art idealer Kommunikation zwischen dem Priester und dem oder der Sterbenden – die Benennung beider genera – „mon amy ou amye“ zeigt an, wie wichtig es Gerson war, jede Situation bereits im Vorfeld normativ zu erfassen. In den exhortacions soll der Priester an die Gnade Gottes erinnern und die Gedanken von der Welt fortziehen und auf Gott hinlenken: „Mon amy ou amye, pense de tout a ton salut a ceste heure car par aventure jamais tu n’y pes recouvrer; et laisse toutes pensees aux choses de ce monde lesquelles tu laissez et qui ne te tieront pas du feu se tu y trebuches. Commande tout a Dieu qui est tout puissant, sage et bon pour tout gouverner sans toy; puis qu’il te veult prendre a soy, si pense du tout a luy et a toy et de toy, en priant seulement a ceulx qui demeurent qu’ils prient Dieu pour toy, etc.“ 17 Die Fragen, interrogacions, im zweiten Teil sollen dann den Sterbenden in Reinheit vor Gott treten lassen. In ihnen zeigt sich besonders deutlich die normative Überformung des gleichwohl im unmittelbaren Gespräch zwischen Priester und Gläubigem individualisierten Todes. Der Priester nämlich formt die Fragen so, dass der Sterbende nur noch zustimmen muss: dazu etwa, dass er im Glauben an Jesus Christus leben und sterben wolle, dass er seinen Nächsten vergebe und dass er für

wissenschaft. Hg. v. Nine Miedema und Rudolf Suntrup, FS Honemann, Berlin u. a. 2003, 721–738, 722. Eine weitere Übersetzung des lateinischen Textes findet sich in: Sieglohr, Bernhard: Die ARS MORIENDI des Johannes Gerson. Ein pastorales Handbuch des Mittelalters. In: erbe und auftrag 61 (1985) 209–218, 211–218. Angesichts der Ursprünglichkeit der französischen Fassung dieses deutlich für Kleriker geschriebenen Textes wird man die artes moriendi nicht durchgängig aufgrund ihrer Sprache auf ein Laien- bzw. Klerikerpublikum aufteilen können (so Hamm, Berndt: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung. Tübingen 2010, 119. 13 Grosse (wie Anm. 11), 219. 14 Jean Gerson: Oeuvres complètes, hg. v. Palémon Glorieux. Bd. 7: L’œuvre Française (292–339). Paris u. a. 1966, 404–407. Zu den Titeln siehe ebd., XVIII. 15 Ebd., 7,405. 16 Zur Bedeutung der Sorge um die Laien bei Gerson siehe Burger, Christoph: Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris. Tübingen 1986 (Beiträge zur historischen Theologie 70), 98–110. 17 Gerson (wie Anm. 14), 7, 405.

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alles, wofür er selbst nicht mehr Genüge leisten könne, Vergebung von Gott und seinen Nächsten erbitte. Die Gebete, oroisons, im dritten Teil nehmen den Sterbenden in die allgemeine Gebetssprache hinein. Auch sie sind selbstverständlich liturgisch vorgeformt, und der Sterbende wird mit einem einfachen „di“ aufgefordert, in die Anrufung Gottes, Mariens, der Engel und aller Heiligen einzustimmen. Etwas anders gelagert ist der vierte Teil, die observacions, und er ist in gewisser Hinsicht im Blick auf Allgemeinheit und Individualität der interessanteste Abschnitt. Denn in ihm geht es um Einzelfälle, die besondere Bedenken verlangen. Dies betrifft zum Teil die sakramentale Versorgung und den kirchenrechtlichen Status, aber auch Fragen der praktischen Durchführung des zuvor Dargelegten: „Item si le malade a perdu la parole mais qu’il y ait san entendement, on peult user de interrogacions et oroisons dessusdites, et que pa signes il responde, ou en seon cuer; il souffira a Dieu“.18 Die hinter solchen Spezialregelungen stehende Not der Seelsorger, die unsicher sind, wie sie mit Sterbenden umgehen sollen, die der Sprache nicht mehr mächtig sind, ist unmittelbar erkennbar – die Lösung weist zurück auf die allgemeine Norm und ermöglicht, auch in dieser speziellen Situation, eine Versorgung jedes einzelnen nach den für alle gültigen Richtlinien. In diesem Sinne bestätigen die Regelungen das Muster der spätmittelalterlichen ars moriendi,19 nach dem angesichts der Allgemeinheit des Todes das Individuum nicht aus den Augen zu verloren und dennoch in den allgemeinen Horizont gestellt wird. Dasselbe ist auch bei einem weiteren berühmten Sterbetraktat des späten Mittelalters erkennbar: Um 1480/81 verfasste der Straßburger Prediger Geiler von Kaysersberg seine Schrift „Wie man sich halten sol by eym sterbenden menschen“, mit der er sich ausdrücklich in die Tradition Gersons stellte.20 Tatsächlich bietet er hier weitgehend eine Adaption des Textes von Gerson, eingeteilt in die vier Stücke „Vermanen, Frogen, Beten, Bewaren“.21 Mit dieser Einordnung in die beginnende Artesmoriendi-Tradition greift Geilers Traktat auch jenen angesprochenen Eindruck einer sozialen Indifferenz des Todes auf, indem er die entsprechende Passage bei Gerson fast wörtlich widergibt: „Lieber frundt nym war das wir all under worffen sind der gewaltigen hand gottes und sinem willen . das wir alle wie wir genant sind keyser. kunig und fursten. rich und arm muessend bezalen den zinß des todes. wir sind in diese welt kommen in bilgers wise das wir dadurch gangen. und nit das wir do bliben und wonung setzen. sunder das wir hie wol und verdienstlich leben und

18 Gerson (wie Anm. 14), 7,407. 19 Vgl. zur Gattung: Falk, Franz: Die deutschen Sterbebüchlein. Von der ältesten Zeit des Buchdrucks bis zum Jahre 1520. Köln 1890; Rudolf, Rainer: Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens. Köln / Graz 1957 (Forschungen zur Volkskunde 39). 20 Johannes Geiler von Kaysersberg: Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Bauer. I/1: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften. Bd. 1. Berlin / New York 1989, 5. 21 Ebd., 1,6.

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got dienend entpflihen mogen die grusenliche pin der hellen und erlangen ewige selikeyt.“ 22 Wendet sich Geiler hier ganz in der Tradition der Textgattung an Kleriker,23 so hat er darüber hinaus auch eine Schrift verfasst, die unmittelbar auf die Rezeption durch Laien zielte: „Ein ABC. Wie man sich schicken sol zů einem kostlichen seligen Tod.”24 Der Text schillert zwischen Anweisungen für die unmittelbare Todesstunde und für das gesamte Leben. Unmittelbar auf die Todesstunde bezieht sich nur die erste Regel, die zur Vorbereitung auf den Tod eine ausführliche Beichte vorschreibt, die auch alle in der Jugend bei der Beichte eventuell verschwiegenen Sünden mit erfasst.25 Die übrige Schrift ermahnt angesichts des Todes unter anderem zu einer Art innerweltlicher Askese26 und empfiehlt dabei Distanz zu den weltlichen Geschäften in einer Freien Stadt wie Straßburg:27 „Kein gemeinschafft haben mit den gewaltigen. Enzüch dich so du magst von grossen herren / und denen die gewalt haben. das du nit mit inen in kuntschafft kommest / oder geheim werdest. Oder du würst mit inen in ire sünden verwicklet / und unmuͤ ssige geschefft verhasplet. Do durch du geirret würst dich zů schicken zů einem selgen end.“ 28 So stellt das „ABC“ Geilers eine Anweisung für eine christliche Lebensführung dar, die das Leben insgesamt als Vorbereitung auf den Tod begreift, und gibt eine Vorstellung von der letztlich in der das Leben insgesamt überschattenden Angst vor dem Sterben gegründeten normativen Regulierung des Alltags im späten Mittelalter. Noch deutlicher als bei der von Gerson erhaltenen Klerikerschrift wird dabei erkenn-

22 Ebd., 1,6. 23 Zur Verschiebung des Lesepublikums siehe Goez, Werner: Luthers „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben“ und die spätmittelalterliche ars moriendi. In: Luther Jahrbuch 48 (1981), 97–114, 106. 24 Geiler (wie Anm. 20), 1, 99–110. 25 Geiler (wie Anm. 20), 1, 101 f. 26 Siehe die vierte Regel, die ein „Dürr streng und schlecht leben (…) und einfalt aller ding“ anmahnt (Geiler [wie Anm. 20], 1, 102 f.) – die Rede von „innerweltlicher Askese“ im Blick auf den Protestantismus (siehe zu diesem Konzept Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 51980, 329 f.) gibt letztlich dem Sachverhalt soziologisch Ausdruck, dass die Reformation in gewisser Weise ein „neues Mönchtum“ (Moeller, Bernd: Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum. In: Ders. [Hg.], Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte 1996. Gütersloh 1998 [Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199], 76–91, anknüpfend an eine These von Johannes Schilling) darstellt. Zugleich ist zu bedenken, dass dieses „neue Mönchtum“ längst durch semireligiose Bewegungen (zum Begriff siehe Elm, Kaspar: Die Stellung der Frau im Ordenswesen, Semireligiosentum und Häresie zur Zeit der heiligen Elisabeth. In: Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige. Sigmaringen 1981, 7–28) vorbereitet war, zu dem etwa auch Beginen oder die Tertiaren der Mendikanten gehörten. 27 Siehe zur Einbindung Geilers in das soziale Gefüge Straßburgs Voltmer, Rita: Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg und Straßburg. Trier 2005 (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 4). 28 Geiler (wie Anm. 20), 1, 102.

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bar, dass ein solches Leben zwar individuelle Züge gewinnt, sich aber vornehmlich an einem allgemeinen Entwurf eines richtigen Lebens orientiert. Die Todeserinnerung wird dabei zum Anlass für ein Insistieren auf der Dringlichkeit christlicher Normen im Alltag. Auf diese Weise boten die artes moriendi, gleich welchen Autor man heranzieht, die Möglichkeit, das eigene Leben angesichts des hochgradig desintegrierenden Todes neu christlich zu integrieren. Diese Integrationsleistung verdankte sich eben jener eigentümlichen Verbindung von Allgemeinheit und Individualität, die sich darin äußerte, dass dem Einzelnen allgemeine, normierte Anweisungen zum Leben gegeben wurden. Auch im Wittenberger Milieu setzte man die Sitte, solche Artes-moriendi-Literatur zu verfassen, fort: 1515 erschien „Ein buchlein von der nachfolgung des willigen sterbens Christi“ von Johann von Staupitz.29 Diese ars moriendi ist ein eindrückliches Zeugnis des Christozentrismus, den Staupitz verkündete und an Luther weitergab. Nach ausführlichen Reflexionen über die Herkunft des Todes aus der Sünde des Menschen30 und über die Anfechtungen, in die der Mensch angesichts des Todes gerät, verweist Staupitz auf den Gekreuzigten: „Wider alle anfechtigung / die gnandt sein / ader gnandt mogen werden / haben wir habhafft bestendige gnugsame lere / von vnserm gote / ausz dem ersten wordte / Christi / am creutze / vatter sagte er vorgybe yne / sie wissen nicht / was sie thuen / O wie gar ein heylbar wordt / aller suessickeyt erfullet/“.31 Auch Luther war dieser Gedanke eines in Christus geborgenen Todes nah, denn er verwies, nachdem er offenbar durch Spalatin um eine Schrift zur Sterbensbereitung für Markus Schart, einen Rat Friedrichs des Weisen,32 gebeten worden war, auf den Traktat von Staupitz.33 Wenig später aber verfasste er selbst einen „Sermon von der Bereitung zum Sterben“,34 der erheblich zum „Berühmtwerden Luthers“ (Bernd Moeller)35 in diesen frühen Jahren der Reformation beitrug: Bis 1525 erschienen 22 Ausgaben36 – wie Werner Goez feststellt: ein echter „Bestseller“.37 Der Erfolg

29 Ein buchlein von | der nachfolgung des willigen ster| bens Christi / Geschriben durch den wolwirdigen va| ter Joannen von Staupitz / der heiligen | schrifft Doctorem der bruder einsid-| ler ordens sancti Augustini Vicarium. |, Leipzig: Melchior Lotter d. Ä. 1515 (VD 16 S 8697); vgl. auch die Edition in: Johann von Staupitzens sämmtliche Werke, hg. v. J. K. F. Knaake. Bd. 1: Deutsche Schriften. Potsdam 1867, 50–88. 30 Siehe das erste Kapitel über die Ursache des Todes ebd., A IIr+v. 31 Ebd., C Iv – C IIr. 32 Siehe Luther, Martin: Studienausgabe, hg. v. Hans-Ulrich Delius. Bd. 1. Berlin ³1987, 230. 33 WA.B 1, 381, 17 f. (Nr. 171). 34 WA 1, 685–697. 35 Moeller, Bernd: Das Berühmtwerden Luthers. In: Ders., Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hg. v. Johannes Schilling. Göttingen 2001, 15–41. 36 WA 2, 680–683; vgl. die Paraphrase von Brunner, Peter: Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben. Ausgelegt in einer textnahen Paraphrase mit einigen Erläuterungen. In: Zeitenwende 49 (1978), 214–228. 37 Goez (wie Anm. 23), 97.

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lag wohl darin, dass Luther die theologische Zentrierung, wie sie Staupitz durch den Christusbezug in der Gattung der artes moriendi vorgenommen hatte, aufgriff und rechtfertigungstheologisch weiterführte.38 Mit Staupitz verband ihn der Perspektivwechsel fort von der Fixierung auf die eigene Sündigkeit und die damit verbundenen Schrecken des Todes hin zu Jesus Christus:39 „Alßo mustu die sund nit ansehen yn denn sundern, noch yn deynem gewissen, noch yn denen, die yn sun-

38 Es ist vor diesem Hintergrund irritierend, dass Moeller, Bernd: Sterbekunst in der Reformation. Der ‚köstliche, gute, notwendige Sermon vom Sterben‘ des Augustiner-Eremiten Stefan Kastenbauer. In: Ders., Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, hg. v. Johannes Schilling. Göttingen 2001, 245–269, 265, meint, ausgerechnet an den Sterbetraktaten den reformatorischen „Umbruch“ festmachen zu können, weil die Tradition der artes moriendi „abrupt abriß“ (264). Mit den sehr diffizilen Veränderungen in der frühen Zeit der reformatorischen Bewegungen haben solche drastischen Beschreibungen wenig zu tun; deutlich differenzierter ist hier Hamm (wie Anm. 12), 135, der aber auch mit Luthers „Bereitung zum Sterben“ das „Ende der traditionellen Ars moriendi“ gekommen sieht – eher wird man hier von einer weiteren Transformation sprechen können, wie sie ders. letztlich auch ausdrückt, wenn er Luther in die „Tradition einer interiorisierenden Bildreligiosität“ stellt (ebd., 141 f.). 39 Auf die auffälligen Ähnlichkeiten mit Staupitz weisen auch Goez (wie Anm. 23), 108, und Preul, Reiner: Der Tod des ganzen Menschen. Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben. In: Drehsen, Volker u. a. (Hg.): Der ‚ganze Mensch‘. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. FS Dietrich Rössler. Berlin u. a. 1997, 111–130, 124 f., hin und führen zugleich auch die Differenzen auf (zu diesen siehe auch Hamm [wie Anm. 12], 146). Entgangen ist dieser enge Zusammenhang von Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben mit dem Traktat von Staupitz hingegen in ihrer grundlegenden Studie Reinis, Austra: Reforming the Art of Dying. The ars moriendi in the German Reformation (1519–1528). Aldershot 2007 (St. Andrews Studies in Reformation History) wegen ihres vergleichsweise knappen Blickes auf die spätmittelalterliche Entwicklung; an anderer Stelle verweist sie aber pauschal auf die spätmittelalterlichen Hintergründe (Dies.: Evangelische Anleitung zur Seelsorge am Sterbebett 1519–1528. In: Luther 73 [2002] 31–45, 35). Doch auch, wo diese betont interessieren, wird nicht immer auf Staupitz eingegangen (siehe den lehrreichen, an diesem Punkt aber zu kurz greifenden Beitrag von Wicks, Jared: Applied Theology at the Deathbed. Luther and the Late-Medieval Tradition of the „Ars moriendi“. In: Gregorianum 79 [1998] 345–368, und auch den Beitrag von Akerboom, Dick: „… only the Image of Christ in Us“. Continuity and Discontinuity between the Late Medieval ars moriendi and Luther’s Sermon von der Bereitung zum Sterben. In: Spirituality Renewed. Studies on Significant Representatives of the modern Devotion. Hg. v. Hein Blommestijn, Charles Caspers und Rijcklof Hofman, Löwen u. a. 2003, 209–272, der Luthers Verweis auf Staupitz als Anlass für die Frage nach der Eigenheit von Luthers Sterbetraktat benennt [247], aber einen Vergleich beider Texte nicht vornimmt). Auch Brecht, Martin: Luthers reformatorische Sermone. In Fides et pietas. FS Martin Brecht. Hg. v. Christian Peters und Jürgen Kampmann, Münster 2003 (Historia profana et ecclesiastica 8), 15–32, 28 f., hebt einseitig die reformatorischen Aspekte des Traktats hervor, ohne die in diesen liegende Kontinuität zu berücksichtigen. Schottroff, Luise: Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern, Göttingen 2012 (Refo500 Academic Studies 5), 33–39, macht auf den „Libellus auro praestantior“ von etwa 1518 (Text abgedruckt ebd., 99–107) als weiteren Vergleichstext aufmerksam; tatsächlich wird man auch dies in Rechnung zu stellen haben, aber der volkssprachliche Text von Staupitz liegt doch erheblich näher, zumal auch Schottroff (ebd., 42 f. Anm. 52 f.) hier auf Verbindungslinien hinweist und deutlich macht, dass die Frage direkter literarischer Abhängigkeit ohnehin falsch gestellt wäre (40).

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den endlich bliben und vordampt seyn, du ferest gewißlich hynach und wirst ubirwunden, sondern abkeren deyn gedancken unnd die sund nit dan yn der gnaden bild ansehen, und dasselb bild mit aller crafft yn dich bilden und vor augen haben. Der gnaden bild ist nit anders, dan Christus am Creutz und alle seyne lieben heyligen.“ 40 Luther greift hier aber auch sehr dezidiert typische Aspekte der spätmittelalterlichen ars moriendi auf. So wie Geiler eingeschärft hatte: „Under den obgeschribnen reglen die do dienen zů einem seligen end / ist die erst . Anfohen mit einer ganzten bycht“,41 heißt es beispielsweise auch bei Luther: „Solch zu richten und berytung auff diße fart steht darynne zum ersten, das mann sich mit lauterer beycht (ßonderlich der großisten stuck, und die zur zeyt ym gedechtniß muglichs vleyß erfunden werden) und der heyligen Christenlichen sacrament des heyligen waren leychnams Christi und der oͤlung vorsorge“.42 Luther konnte mit diesem Sermon also den Ansatz zu einer theologischen Zentrierung,43 den Staupitz vorbereitet hatte, fortführen und zugleich die Anliegen der an einzelnen Handlungsschritten orientierten spätmittelalterlichen artes moriendi integrieren. War so im Sterbetraktat eine nahtlose Anknüpfung an die spätmittelalterliche Entwicklung möglich, so fiel im religiösen Leben der von der Reformation erfassten Gebiete ein anderer Bereich der Todesvorsorge völlig weg: Angesichts der Kritik am Opfercharakter der Messe wurden auch die Totenmessen einer massiven Kritik unterzogen.44 Dies musste zu einer tiefgreifenden Veränderung der Praxis der Beerdigungskultur führen. Gewissermaßen der Paradefall hierfür wurde das Begräbnis Friedrichs des Weisen, das den Transformationsprozess eindrücklich belegt:45 Kurz nach dem Tod des Kurfürsten am 5. Mai 1525 in Lochau46 legte Spalatin Luther und Melanchthon einen Entwurf für den Trauergottesdienst vor und bat sie, diesen so zu kommentieren, dass „ein christliche Aenderung“ an den bisherigen Sitten vorgenommen werden könne.47 Offenkundig benutzte er ein Formular der bislang üblichen Riten, und Lu-

40 WA 2, 689, 24–29. 41 Geiler (wie Anm. 20), 1, 110. 42 WA 2, 686, 9–13. 43 Zum Begriff der normativen Zentrierung siehe Hamm, Berndt: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 7 (1992), 241–279. 44 WA 10 / 3, 195, 28–17. 45 Hierauf hat jüngst in einem eindrücklichen Aufsatz Krentz, Natalie: Reformation und Herrschaftsrepräsentation. Das Begräbnis Friedrichs des Weisen, Kurfürst von Sachsen (1525). In: Symbolik in Zeiten von Krise und gesellschaftlichem Umbruch. Vormoderne Ordnung im Wandel. Hg. v. Elizabeth Harding und Natalie Krentz, Münster 2011, 115–130, aufmerksam gemacht. 46 Vgl. den ausführlichen Bericht von Spalatin, abgedruckt bei Ludolphy, Ingetraut: Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463–1525. Göttingen 1984, 482–484. 47 Der Entwurf ist abgedruckt in WA.B 3, 487 f., das obige Zitat ebd. 487, 3.

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ther und Melanchthon versahen dieses mit lateinischen Anmerkungen, die die Änderung verzeichneten. Markant sind die Notizen, die die Messe betreffen: „Item, daß ein Bischof oder großer Prälat Meß halten, non placet. (…) Folgend auf das hohe Ambt, abermals zweierlei Messen etc., viererlei Opfergang, non placet, Item, daß gemein Opfergeld gesatzt wird, non placet. Item, daß in solchen Opfergängen etlich Hengst umb die Altar gezogen, videtur hoc saeculo ridiculum spetaculum, sunt barbara“.48 Binnen kurzer Zeit waren die alten Sitten lächerlich geworden. Was blieb, war vor allem das gepredigte Wort – das in der bisherigen Ordnung durchaus auch vorgesehen gewesen war: „daß man (…) auch des Abends eine Predig tut, und den Leichnam die Nacht unbegraben läßt, potest vesperi latina funebris haberi, quam habebit Philippus, (…) Item, die Häuptpredig unter dem Ambt placet“.49 Da auch der Bericht Spalatins über die Durchführung der Begräbnisfeierlichkeiten am 10. und 11. Mai 1525 erhalten ist,50 kann man nachvollziehen, wie diese Vorgaben durchgeführt wurden: Tatsächlich hielt Melanchthon am Mittwochabend, dem 10. Mai eine „fast [sehr] gute lateynische Rede in der Kirchen gegen den Leich von meinem Gnedigsten Herrn“.51 Über das Vorgesehene hinaus folgte dann gleich „eine ser Christliche und trostliche Predig“ Martin Luthers,52 und es war auch dieser, der am nächsten Tag die Hauptpredigt hielt.53 Nach der in humanistischem Ton die Leistungen Friedrichs preisenden Rede Melanchthons54 kam den beiden Predigten Luthers die Aufgabe der theologischen Deutung zu.55 Beiden lag gemeinsam der Text 1 Thess 4, 13–18 zugrunde, welcher die Hoffnung auf die Auferstehung gegen alle Zweifel bekräftigte. In der ersten Predigt stellte Luther einen direkten Bezug zu den zeitgenössischen Bauernunruhen her56 und betonte die besondere Strafwürdigkeit Deutschlands, das die Offenbarung des Evangeliums missachte.57 Der Kern der Predigt aber drückte aus, was schon Staupitz in seiner „Nachfolgung“ geschrieben und was Luther in seinem „Sermon

48 WA.B 3, 488, 22 f., 27–32. 49 WA.B 3, 488, 14 f., 17–19. 38. 50 M. Johann Erhard Kappens, | (…) Kleine | Nachlese | Einiger, groͤßten Theils noch ungedruckter, | Und sonderlich | zur Erlaͤuterung | Der | Reformations-Geschichte | nuͤ tzlicher Urkunden. | Anderer Theil, Leipzig: Johann Friedrich Brauns Erben 1727, 667–674. 51 Kappe (wie Anm. 60), 671. 52 Ebd., 671 f. 53 Ebd., 673. 54 CR 11, 90–98. 55 WA 17 / 1, 196–227. 56 WA 17 / 1, 199, 24–26; so der Druck in Luthers Gesammelten Werken von 1539, in dem ersten Wittenberger Druck fehlt diese aktuelle Anspielung (vgl. aber ebd., 200, 10 f.; siehe zur Überlieferungslage WA 17 / 1, XXXVf.). Da der Druck der Werkausgabe auch an anderen Stellen deutlich Predigtcharakter erkennen lässt, ist zu fragen, ob er nicht tatsächlich die ursprüngliche Redefassung besser erhalten hat als die frühe Drucküberlieferung. 57 WA 17 / 1, 200, 15 f.

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von der Bereitung zum Sterben“ aufgegriffen und weitergeführt hatte: Ganz auf der Linie des paulinischen Textes, der die Auferstehung der Christen in der Christi selbst begründete, erklärte er: „Dis ist der nutz und gebrauch seyner aufferstehung, das sie nicht unfruchtbar bleibe, sondern wircke ynn uns, das wyr von sunden frey werden und heylig, wenn wyr denn heylig sind, so sind wir auch gerecht durch seyne aufferstehung, derhalben so werden wyr auch leben“.58 Die zweite Predigt verwandte Luther dann auf die Ausmalung des Jüngsten Gerichts als „eyne troͤstliche predig“,59 endend in einem Appell an alle Versammelten: „Also habt yhr hie das stuͤ cklin, das S. Paulus gebeut, wenn wyr sterben, das wyr mit dem hertzen an dissem hangen, und die wyr auff dissen tag leben, werden ynn eynem hui verwandelt werden, das also die Christen mit lust und wunsch dissen tag sehen werden, die gottlosen aber werden erschrecken und niemand wird sie kuͤ nnen troͤsten.“ 60 Betrachtet man den liturgischen Gesamtzusammenhang, wie er uns durch die gute Überlieferungslage erkennbar ist, so wird eine Kadenz erkennbar, die von der Preisung des verstorbenen Individuums hin zur allgemeinen Aussage über Sterben und Jüngstes Gericht führt und dabei Gedanken der ars moriendi, wie Luther selbst sie vertreten hatte, aufgreift. Man wird nicht überbewerten dürfen, dass die dichte Überlieferungslage seines „Sermons“ mit dem Jahr 1525 endet, aber symbolisch ist es doch tatsächlich so, dass in dieses Jahr mit dem Präzedenzfall der Beerdigung Friedrichs des Weisen die neue Form der Todesverarbeitung fällt, die ihrerseits auch das Druckmedium eroberte. Noch im selben Jahr erschienen sechs Ausgaben von Luthers Predigten.61 Dies liegt selbstverständlich auch in der Bekanntheit des Verstorbenen begründet, aber schon die äußere Gestalt des Erstdrucks aus der Wittenberger Offizin Joseph Klugs macht deutlich, dass es weniger um die Kurfürstenmemoria als um die geistliche Erbauung des Lesers ging: Das Titelblatt zeigte nicht etwa ein Portrait oder auch nur Wappen des Verstorbenen, sondern die Titulatur wurde eingerahmt von Bildnissen der Apostel Petrus und Paulus, der vier Evangelisten und der vier Kirchenväter,62 also einem durchaus traditionellen, nachgerade altgläubig anmutenden Ensemble, das in jedem Falle den religiösen Charakter der Veröffentlichung hervorhob. Die Botschaft war damit deutlich und entsprach ja auch dem Inhalt der Predigten: Hier wurde etwas mitgeteilt, was von allgemeinem christlichen Belang war. Damit aber wird man sagen dürfen, dass die Leichenpredigten in dieser gedruckten

58 WA 17 / 1, 205, 13–16. 59 WA 17 / 1, 220, 8. 60 WA 17 / 1, 227, 14–18. 61 WA 17 / 1, XXXIVf. 62 Zwo predigt auff | die Epistel S. Pauli. 1. Thess. | 4. D. martini Luther ge-| than vber der leiche des Chůr| fursten Hertzog Friderichs | zu Sachsen. | Item eyne troͤstunge an | Chůrfursten von Sachsen seli|ger vnd Christlicher gdecht-| nis, Freytags nach Miseri-| cordia Domini, den letz| ten seynes lebens | hie auff er-| den. | Georgius Spalatinus, Wittenberg: Joseph Klug 1525 (VD 16 L 7577).

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Form eine Funktion erfüllten, die zuvor den artes moriendi zugekommen war: das allgemeine Schicksal des Sterbens in einer Weise zu verarbeiten, die sich das Individuum zueigen machen konnte. Die in den spätmittelalterlichen artes moriendi erkennbare Spannung zwischen Orientierung an Allgemeinheit und Individualität, die dort zugunsten einer Normierung des individuellen Alltags gelöst worden war, wurde nun auf andere Weise angegangen. Die Leichenpredigt ging von einem individuellen Fall aus und stellte diesen in das Licht der allgemeinen Trostbotschaft. Mit dem Anwachsen des Genus der Leichenpredigt in der Konfessionalisierungszeit 63 wurden die Möglichkeiten individueller Lebensführung vervielfältigt: Mannigfaltige Einzelschicksale wurden so geschildert, memoriert und theologisch gedeutet, und zugleich in einen allgemeinen, auch für nicht Betroffene nachvollziehbaren Rahmen eingeordnet. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die Leichenpredigt für den Jenaer Studenten Johann Balthasar Geymann (ca. 1573–1590): Mit gerade sechzehn Jahren war er, eben immatrikuliert, plötzlich gestorben. Dem Superintendenten und Professor der Theologischen Fakultät, Samuel Fischer, fiel die Aufgabe zu, dieses schon in sich erschreckende Schicksal zu deuten und den Eltern Trost zuzusprechen. Er löste dies, indem er in der Widmungsvorrede an Johann Christoph Geymann, den tief erschütterten Vater des Verstorbenen, die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung des frühen Todes des Sohnes deutlich machte und die eigene Schrift als Exempelliteratur charakterisierte.64 So wurde das Private allgemein – und das Allgemeine in seiner Privatheit erkennbar. Für den Entstehungskontext der Leichenpredigten und damit ihre sprachliche Form war freilich primär rahmen- und sinngebend die liturgische Funktion – im Regelfall wurden sie ja nicht gedruckt. Sie hatten ihren Ort im Leichenbegängnis und bei der individuellen Todesverarbeitung. Die Vorgänge in Wittenberg zeigen an, dass auch dies als Transformation vorgegebener Muster geschah, theologisch

63 Siehe hierzu Winkler, Eberhard: Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener. München 1967 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 34). – Lenz, Rudolf (Hg.): Studien zur deutschsprachigen Leichenpredigt der frühen Neuzeit. Marburg 1981 (Marburger Personalschriften-Forschungen 4). – Rudolf Lenz (Hg.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. 4 Bde. Stuttgart 1975–2004. 64 Leichpredigt | BEy dem Begreb=| nuss / des weiland Gestrengen / Edlen vnd | Erhnvesten D. Iohannis Balthasari Geymans /| Des auch | Gestrengen / Edlen / vnd Ehrnvesten / Herrn | Johann Christophori Geymans / zu Galsbach / vnnd | Traetteneck / auff Wahlen / der Roemischen Keyserlichen … | … maiestet / etc. Forneh=| men / vnnd des Ertzhertzogthumbs Osterreich / ob der | Enss / Landt Raths / Hertzliebsten Sons: | Welcher den 30. Septembris … | … in … | Jena / ent-| schlaffen / vnd den 1. Octobris / in die Pfarrkir=| chen daselbs gelegt ist /| Gethan durch | Samuelem Fischerum, der heiligen Schrifft Docto =| rem / Professorem, Pastorem vnd Superintendenten | daselbsten.|, Jena: Tobias Steinman 1590, Fiiiv; vgl. zu diesem Fall Volker Leppin, Medien lutherischer Memorialkultur. Eine exemplarische Studie zur Jenaer Stadtkirche. In: Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. v. Berndt Hamm, Volker Leppin und Gury Schneider-Ludorff, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58), 205–225.

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aber war leitend und entscheidend, dass die Zentralität der Messe in der liturgischen Verarbeitung des Todesfalls nun durch eine Zentralität des Wortes ersetzt wurde. Das Wort hatte den Vorzug, durch den Druck vom Moment gelöst in Dauer überzugehen – auf dieser Grundlage wurden dann die Leichenpredigten die ars moriendi des frühneuzeitlichen Luthertums.

Christine Sauer

Lutherische Erbauungsbücher für den persönlichen Gebrauch aus Nürnberg Im Gedenken an Helga Scheible (1935–2011)

1999 stellte Ulrich Merkl im Rahmen seiner Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Buchmalerei in Bayern erstmals eine Gruppe von ungefähr zehn Gebets- und Erbauungsbüchern aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts zusammen.1 Als gemeinsame Merkmale hielt er fest: luxuriöse Ausstattung durch die Benutzung von Pergament mit Buchmalereien in Deckfarben, häufige Verwendung von reformatorischen Drucken in deutscher Sprache als Vorlagen sowie eine sich aus Adel und Patriziat rekrutierende Auftraggeberschicht. Inhaltlich sollte durch den Rückgriff auf unterschiedliche gedruckte Texte eine Lücke gefüllt werden. In Luxusausgaben entstanden Gebets- und Erbauungsschriften, die dem neuen Glauben entsprachen und die damit als Parallelerscheinungen zu den ersten seit den 1520er Jahren im Druck erscheinenden lutherischen Gebetbüchern zu werten sind.2 Kennzeichnend für die gemalte Ausstattung waren der Verzicht auf Heiligenbilder oder eine antikatholische Bildpolemik, die bewusste Wahl von Darstellungen aus Altem und Neuem Testament sowie der Einzug von Dogmenbildern von Gesetz und Gnade seit den dreißiger Jahren. Als frühe Beispiele seien genannt: ein 1526 in Augsburg für eine unbekannte Auftraggeberin entstandenes Erbauungsbuch mit einer Abschrift der 1523 von Johannes Oekolampadius (1482–1531) ins Deutsche übertragenen Messliturgie3 oder Gebetbücher aus den Jahren 1527, 1533/34 und 1537, die Markgraf Albrecht von Brandenburg (1490–1568), Herzog in Preußen, für seine junge Gemahlin Dorothea zur Festigung im Glauben anfertigen ließ.4 Letzterer trug für das 1533/34 entstandene Bändchen selbst die Gebete aus Drucken verschiedener Autoren zusammen und ergänzte sie um von ihm verfasste Erbauungstexte. Die Buchmalereien

1 Merkl, Ulrich: Buchmalerei in Bayern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Spätblüte und Endzeit einer Gattung. Regensburg 1999, 117 f. 2 Fischer, Michael / Matthias, Markus: Gebetbuch. In: Enzyklopädie der frühen Neuzeit 4. Hg. v. Friedrich Jaeger. Stuttgart 2006, Sp. 216–222, bes. Sp. 219–222. 3 Zu dieser Handschrift in Privatbesitz s. Kat. Nr. 18 in Merkl (wie Anm. 1), 298 f. 4 Kat. Nr. 116v, 122, 126 in Merkl (wie Anm. 1), 462, 472–476, 483 f.

Anmerkung: Die ursprünglich 2011 abgeschlossene Ausarbeitung des Vortrags wird hier auf dem Stand einer Aktualisierung im Jahr 2015 zur Veröffentlichung gebracht. Zur Handschrift bis 2019 erschienene Literatur siehe Anm. 6. https://doi.org/10.1515/9783050051659-008

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führte eine auf die Anfertigung von Luxushandschriften spezialisierte Werkstatt in Nürnberg unter der Leitung des Nikolaus Glockendon († 1533/34) aus.5 Eine eigene Untersuchung ist diesen auf die jeweilige Gebrauchssituation individuell zugeschnittenen lutherischen Erbauungsbüchern noch nicht gewidmet worden. Aufgrund der unzulänglichen inhaltlichen Erschließung wurde ein in der Stadtbibliothek Nürnberg aufbewahrter, als Gebetbuch des Nürnberger Patriziers und Handelsherren Hans VI. Imhoff (1488–1526) bezeichneter Band bisher nicht mit dieser Gruppe in Verbindung gebracht.6 Nach einer 2008 erstmals vorgelegten Analyse des Inhalts kann die kleinformatige Pergamenthandschrift nun mit Sicherheit als ein früher Vertreter der eingangs beschriebenen Gattung benannt werden.7 Am Beispiel dieses Bändchens sollen im Folgenden das Zusammenspiel von Text und Ausstattung sowie der Zuschnitt auf einen explizit privaten Gebrauch zu Andacht und Erbauung in einer extremen Lebenssituation beleuchtet werden. Von Hans Imhoff, der am 6. Februar 1488 als ältester Sohn eines gleichnamigen Patriziers und erfolgreichen Handelsgesellschafters geboren wurde, haben sich nur wenige biographische Zeugnisse erhalten.8 Wie sein fast vier Jahre jüngerer, später zu großer Bedeutung gelangter Bruder Andreas (1491–1579) dürfte er zunächst Unterricht bei einem Schreib- und Rechenmeister erhalten und im Anschluss eine Lateinschule in Nürnberg besucht haben. Danach wurde er von 1501 bis 1507 zur Lehre nach Venedig geschickt, wo er 1506 von Albrecht Dürer einen für Willibald Pirckheimer bestimmten Ring zur Mitnahme nach Nürnberg erhielt.9 Nach Reisen ins Ausland heiratete Hans Imhoff am 23. Januar 1515 Felicitas Pirckheimer († 1530), die

5 Zu Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek (HAB), Cod. Guelf. 68.12 Aug. 8° s. Kat. Nr. 122 in Merkl (wie Anm. 1), 472–476 mit der älteren Literatur. Zur Illuministenfamilie Glockendon ebd. 62–103. 6 Stadtbibliothek Nürnberg (StBN), Cent. V, App. 76 behandelt Merkl (wie Anm. 1), 119 f. separat in einem Unterkapitel über die Eigenbeteiligung von Auftraggebern; außerdem ebd. 405–408 Kat. Nr. 76. Zur Handschrift vgl. den Anhang am Ende des vorliegenden Beitrags. – Zur Handschrift sind in der Zwischenzeit erschienen: Wagner, Daniela: Die Fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Spätmittelalterliche Bildkonzepte für das Seelenheil. Regensburg 2016, bes. 40–48, 260, 268; Sauer, Christine: Erste Sammlungen von Reformationsschriften in der Reichsstadt Nürnberg. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 86 (2017), 52–75, bes. 61–69; dies.: Das Gebetbuch des Hans Im Hof. In: Geisteswissenschaftliche Spaziergänge: Festschrift für Renate Prochno-Schinkel. Hg. v. Tanja Hinterholz und Romana Sammern. Regensburg 2019, 48–55. 7 Sauer, Christine: Kat. Nr. 50. In: Heilige und Hasen. Bücherschätze der Dürerzeit, bearbeitet von Thomas Eser und Anja Grebe. Nürnberg 2008 (Ausstellungskataloge des Germanischen Nationalmuseums), 140. 8 Zu den Imhoff s. Jahnel, Helga: Die Imhoff. Eine Nürnberger Patrizier- und Großkaufmannsfamilie. Eine Studie zur reichsstädtischen Wirtschaftspolitik und Kulturgeschichte an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (1351–1579). Phil. Diss. Masch. Schr. Würzburg 1950 (dort zu Andreas Imhoff und seiner Ausbildung 178–190) und Fleischmann, Peter: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Bd. 2. Nürnberg 2008 (Nürnberger Forschungen 31), 609–613. 9 Willibald Pirckheimers Briefwechsel Bd. 1. Hg. v. Emil Reicke. München 1940, Nr. 108 (S. 352 Z. 18–23) und Nr. 111 (S. 366 Z. 3–5).

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Lieblingstochter des Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer (1470–1530). Aus der Ehe gingen sechs zwischen 1516 und 1524 geborene Kinder hervor.10 Ebenfalls im Jahr 1515 trat er als Genannter in den Größeren Rat seiner Heimatstadt ein. Sowohl in der väterlichen Handelsgesellschaft als auch in der reichsstädtischen Politik übernahm Hans Imhoff keine bedeutenden Funktionen; Gründe dafür dürften unter anderem in schweren Erkrankungen an Fieber und Durchfall im Jahr 1517 zu suchen sein.11 Ende 1518 unterrichtete der wieder gesundete Hans Imhoff seinen Schwiegervater in zwei Briefen aus Venedig über den Stand von ihm aufgetragenen Besorgungen.12 Nach einer erneuten schweren Erkrankung, dieses Mal an der Wassersucht, verstarb der aufopferungsvoll von seiner Frau gepflegte Patrizier am 2. Juli 1526.13 Die Kontakte Hans Imhoffs zu den führenden intellektuellen Schichten in Nürnberg lassen sich nur indirekt belegen, etwa über die Erwähnungen in den Briefen Albrecht Dürers oder die Einheiratung in die Familie Pirckheimer. Eindeutigere Hinweise liefern aus seinem Besitz erhaltene Bücher, deren Inhalt eine tiefe, durch Krankheitserfahrungen wohl verstärkte Frömmigkeit widerspiegelt. Bis um 1524, als nach der Geburt des sechsten Kindes und dem Abschluss der letzten Handschrift die aktive Lebensphase des Patriziers endete und wahrscheinlich eine dem Tod vorausgehende Bettlägerigkeit einsetzte, rezipierte Hans Imhoff rege die aktuellen Auseinandersetzungen um den rechten christlichen Glauben. Ein erstes, oberflächlich betrachtet eher profan wirkendes Zeugnis bildet eine Handschrift in der British Library, die von Hans Imhoff geschrieben, auf der Eingangsseite in das Jahr 1517 datiert und durch ein von Albrecht Glockendon d. Ä. (1495–1545) gemaltes Allianzwappen der Familien Imhoff und Pirckheimer als Besitz des Schreibers ausgewiesen ist.14 Der Band enthält deutsche Fassungen von Texten antiker Autoren, die Willibald Pirckheimer seit 1513 aus dem Griechischen ins Latei-

10 Nürnberg, Archiv des Germanischen Nationalmuseums, Imhoff I, Schublade XV, Fasz. 44, Bl. 29r. 11 Willibald Pirckheimers Briefwechsel Bd. 3. Bearb. v. Helga Scheible und hg. v. Dieter Wuttke. München 1989, Nr. 448 (S. 114 Z. 3–9), 463 (S. 144 Z. 12) und 466 (S. 175 Z. 44 f.). 12 Scheible (wie Anm. 11), 429–431 und 437 f. mit Nr. 564 und 569. 13 Den Hinweis auf Stadtbibliothek Nürnberg, PP 292 verdanke ich Dr. Helga Scheible: „... hat er [Hans Kleberger, Felicitas Pirckheimers 2. Mann] gesehen den fleys, mue und arbeit, so gemeltes Hansen im Hoff hausfrau mit irem hauswirt, der an der wassersucht gelegen ist, gehabt hat ...“. Zu diesem eigenhändig von Willibald Pirckheimer entworfenen Konzept s. jetzt Weingärtner, Helge: Hans Kleeberger porträtiert von Dürer – von Pirckheimer gezeichnet. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 97 (2010), 125–194, bes. 137 f. 14 London, British Library, Arundel 503; zu dieser Handschrift zuletzt Kat. Nr. 72 in Merkl (wie Anm. 1), 400 f., und Paisey, David: Two new Dürers in London? In: Gutenberg-Jahrbuch 78 (2003), 31–42. Zum Inhalt s. Catalogue of manuscripts in the British Museum, New Series Bd. 1, London 1840, Nr. 503; Holzberg, Niklas: Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland. München 1981 (Humanistische Bibliothek, Reihe I: Abhandlungen 41), 233 f. Zur Wappenmalerei s. http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/record.asp?MSID=1835&CollID=20&NStart=503 (abgerufen am: 22. 09. 2019); zu Albrecht Glockendon Merkl (wie Anm. 1), 70–85.

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nische übersetzt hatte. Diese volkssprachigen Ausgaben hatte der Humanist auf Bitten aus seinem Freundes- und Familienkreis angefertigt. Sie waren nicht für den Druck bestimmt und kursierten nur in handschriftlichen Varianten im persönlichen Umfeld Pirckheimers.15 Alle Texte umkreisen das Thema einer sittlichen Lebensführung und wurden als Anleitungen für einen tugendhaften Lebenswandel in Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle verstanden. 1521 kopierte Hans Imhoff eine Auswahl dieser Schriften nochmals eigenhändig und ließ dieses Handschriftenfaszikel mit 20 verschiedenen Drucken aus den Jahren 1514 bis 1521 zusammen binden.16 Unter den durchweg deutschen Ausgaben finden sich Texte der Kirchenväter, darunter mehrere von Augustinus verfasste Werke, sowie der Mystik zuzurechnende Überlieferungen. Ferner enthält der Band neben einer Schrift Martin Luthers weitere Publikationen von diesem nahestehenden Autoren wie Johannes Oekolampadius, Wenzeslaus Link (1483–1547) oder Andreas Karlstadt (1486–1541). Gesonderte Erwähnung verdient der ebenfalls mit zwei Drucken vertretene Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler (1479–1534), von dem unter anderem dessen 1514 vorgelegte Übertragung von Leben und Sterben des Heiligen Hieronymus vertreten ist.17 Die aufgezählten Namen lassen erkennen, dass Hans Imhoff bis 1521 mit den unterschiedlichsten frömmigkeitstheologischen Strömungen in Berührung gekommen war: Zu mystischem Schrifttum sowie zum von Willibald Pirckheimer geprägten, humanistischen Streben nach einer Versittlichung des Lebenswandels unter Rückgriff auf die Moralisten unter den antiken Schriftstellern, kam ein Interesse an den Kirchenvätern Augustinus und Hieronymus sowie eine Annäherung an reformatorisches Gedankengut. Letztendlich vollzog er damit dieselbe innere Entwicklung wie einige seiner Zeitgenossen, allen voran der eben erwähnte Lazarus Spengler, der aber bereits 1519 zum Befürworter der Reformation geworden war.18 Der dritte und zeitlich letzte von Hans Imhoff geschriebene Band dokumentiert seine endgültige Abwendung von der katholischen Kirche und sein eindringliches Ringen um eine gottgefällige Lebensführung.19 Die kleinformatige Handschrift besteht aus 497 dünnen Pergamentblättern. Mit diesen Eigenschaften sowie mit der

15 Holzberg (wie Anm. 14), 168–262, bes. 232–245; allgemein zum Patrizierhumanismus in Nürnberg Hamm, Berndt: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube. Tübingen 2004 (Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe 25), 50–53. 16 Wolfenbüttel, HAB, 98.12 Theol. 4°; dazu Holzberg (wie Anm. 14), 234 f. Auflistung der Drucke in: Lazarus Spengler als Übersetzer. (Ps.-)Eusebius „De morte Hieronymi“ Nürnberg 1514. Hg. v. Erika Bauer. Heidelberg 1997 (Germanische Bibliothek Neue Folge, 3. Reihe: Untersuchungen 28), 59–61. 17 Dazu unten Anm. 23. 18 Hamm (wie Anm. 15), 50–72 sowie ebd. 91–113 zu Albrecht Dürer als weiterem Beispiel für diese zwischen 1500 und 1520 vollzogene Entwicklung. 19 StBN, Cent. V, App. 76; Beschreibung der Handschrift im Anhang, dort auch Literaturangaben.

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reichen gemalten Ausstattung erinnert der Band äußerlich tatsächlich an Gebetoder Stundenbücher, so dass die ehemalige Bezeichnung der Handschrift sich aus diesen materiellen Aspekten ableiten mag. Dabei ist der Rubrik auf der ersten Seite unmissverständlich der anders geartete Inhalt zu entnehmen: „Inn disem puch stat geschrieben vill nutzparlicher vnd guter leer vnd vnnterweysung, wie sich ein yder Cristen mennsch halten sol gegen got vnd seim negsten, auch in allen widerwertigkeyten vnd tods notten. Aus vil püchernn zamen zogen vnd gepracht nach dem pesten fleys zw eins iden cristlichenn mennschen seligkeyt dienstlich vnd nutz, Got dem dem [sic!] Almechtigen zw lob vnnd eer. Amen.“ Imhoff verrät in diesem kurzen Vorwort, dass er die Texte nicht nur abgeschrieben, sondern auch selbst ausgewählt und aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen habe. Einen der benutzten Drucke konnte Ulrich Merkl bestimmen, der deshalb die Handschrift neu als „Konvolut christlicher Texte und Gebete“ bezeichnete. Tatsächlich kopierte Hans Imhoff aber neun verschiedene Drucke, deren Identifikation nun zu der Erkenntnis führt, dass keineswegs eine beliebige Aneinanderreihung, sondern eine wohl durchdachte Komposition vorliegt. Hans Imhoff umreißt in der bereits zitierten Rubrik das Konzept selbst: Er will Anweisungen für eine christliche Lebensgestaltung geben, die auch in Zeiten der Anfechtung und als Vorbereitung zum Sterben Gültigkeit haben und zum Heil verhelfen sollen. Die Erscheinungsjahre der von Hans Imhoff benutzten Drucke rangieren zwischen 1514 und 1524, so dass das im Besitzvermerk auf dem letzten Blatt genannte Datum nur als terminus post quem verstanden werden kann: „Hans Imhoff ist diss buch, der es geschrieben hat im 1522 jar +“ (Abb. 10). Tatsächlich muss sich Imhoff über zwei Jahre bis 1524 mit dem Band beschäftigt haben, denn die einzigen beiden 1523 und 1524 datierten Drucke befinden sich am Ende der Handschrift und dürften im Verlauf der Arbeit noch hinzugenommen worden sein. Die abgeschriebenen Texte lassen sich in vier aufeinanderfolgenden Gruppen den einleitend genannten Themen zuordnen: Belehrung über ein tugendhaftes Leben, Trost in lebensbedrohlichen Situationen, in Todesnöten sowie bei geistlichen Anfechtungen. Wie von einer Klammer wird dieser Hauptteil an Anfang und Ende von je einem Werk umschlossen, dem Imhoff jeweils die Bedeutung zusprach, grundlegende Inhalte eines christlichen Lebens zusammenzufassen. An den Anfang stellte er Martin Luthers 1520 herausgebrachte Erbauungsschrift „Eine kurze Form der Zehn Gebote. Eine kurze Form des Glaubens. Eine kurze Form des Vater Unsers“, weil – so führte es der Reformator in der Vorrede selbst aus – in diesen drei Stücken „fur war alles was in der schrifft stett … auch alles was eym Christen nott ist zu wissen, grundlich … begriffen ist“. Eine ähnliche Funktion ordnete Hans Imhoff auch dem von ihm an den Schluss gesetzten Text zu. Es handelt sich dabei um ein Zitat aus der im Auftrag des Rats der Stadt Nürnberg neu geregelten „Armenordnung“. Als Lazarus Spengler diese Almosenordnung im Herbst 1522 für den Druck vorbereitete, redigierte er den Text vollständig und ergänzte ihn um ein von ihm verfasstes, von eindeutig reformatorischen Inhalten geprägtes Vorwort zum theolo-

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gischen Verständnis der sozialen Armenfürsorge, so dass die Neuordnung des Bettelwesens in dieser Fassung als eine der ersten reformatorischen Handlungen des Rats der Stadt Nürnberg gilt.20 Hans Imhoff schrieb nur diese theologische Begründung heraus und leitete sie folgendermaßen ein (Abb. 9): „beschluß vnd inhalt eins recht christglaubigen lebens, vnd was am mainsten diß puch in sich begreifft, das ist [hier geht die Einführung direkt in die Textabschrift über, C.S.] Glauben und lieben ... seind die zway hauptstuck eins rechten cristenlichen wesens, darinn alle anndere gepot Gottes beschloßen werden … Dann Christum zu lieben, dem allein zu uertrawen vnd dem negsten zuthun, wie ich glaub, das mir Cristus thun hat, das ist der einig recht weg, from vnd selig zw werden, vnd ist kein annder“.21 Nahtlos hatte Imhoff von seiner Überschrift in den Text des Lazarus Spengler übergeleitet, nicht ohne damit die Kernaussage des Ratsschreibers als Quintessenz auch seines Buchs zu bezeichnen: Glaube und Liebe sind die Grundlage eines christlichen Lebens. Unter Berufung auf je eine Schrift von Martin Luther und Lazarus Spengler entwickelte Hans Imhoff demnach einen Leitfaden für einen recht im Glauben gegründeten und damit auch die Zehn Gebote beachtenden Lebenswandel. Den Hauptteil beginnt Hans Imhoff mit einer dritten Kopie einiger der von Willibald Pirckheimer aus dem Griechischen ins Deutsche übertragenen Schriften. Sie bilden den Auftakt des Kapitels über eine tugendhafte Lebensführung, denn auf sie folgen Auszüge aus dem „Enchiridion oder Handbüchlein eines christlichen und ritterlichen Lebens“ von Erasmus von Rotterdam,22 das nach der ersten Übertragung in das Deutsche 1520 enorme Popularität gewann, sowie aus der von Lazarus Spengler 1514 übersetzten Beschreibung von Leben und Sterben des Heiligen Hieronymus23 (Abb. 5). In beiden Fällen interessierten Hans Imhoff vor allem die Ermah-

20 Edition in: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts Bd. 11,1: Bayern: Franken, bearb. v. Matthias Simon. Tübingen 1961, 23–32, bes. 23. Dazu Rüger, Willi: Mittelalterliches Almosenwesen. Die Almosenordnungen der Reichsstadt Nürnberg. Nürnberg 1932 (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 31), 36–47; Wischmeyer, Wolfgang: „Die Werck der Lieb sind Gezeugnis des Glaubens“. Die Nürnberger Armenordnung um 1522 im Zusammenhang städtischer Sozialgeschichte, Humanismus und „Ratsreformation“. In: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 45 (1998), 112–130; Lazarus Spengler Schriften Bd. 1: Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525. Hg. v. Berndt Hamm u. a. Gütersloh 1995 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 61), 280–297. 21 StBN, Cent. V, App. 76, fol. 492rv. 22 S. dazu Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften Bd. 1: Epistola ad Paulum Volzium, Enchiridion militis Christiani, übers. v. Werner Welzig. Darmstadt 21995 [Sonderausg. der 2., unveränd. Aufl. 1990], mit Einleitung VII–XXV. 23 Zum Text s. Bauer (wie Anm. 16) und Lazarus Spengler Schriften 1 (wie Anm. 20), 63–66 Nr. 4. Die von Hans Imhoff ausgezogenen Textstellen entsprechen H 5, 7–8, 10–20 in der Edition von E. Bauer. Zur Verehrung des Kirchenvaters in Nürnberg s. Hamm, Berndt: Hieronymus-Begeisterung und Augustinismus vor der Reformation. Beobachtungen zur Beziehung zwischen Humanismus und Frömmigkeitstheologie (am Beispiel Nürnbergs). In: Augustine, the Harvest and Theology (1300–1650). Essays dedicated to Heiko Augustinus Oberman in Honor of his Sixtieth Birthday. Ed. by Kenneth Hagen. Leiden 1990, 127–233, bes. 203–211.

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nungen zur Tugend und die Warnungen vor Lastern. Dem Kapitel Trostschriften in Bedrohung sind Lazarus Spenglers „Eine tröstliche christliche Anweisung und Arznei in allen Widerwärtigkeiten“ 24 und Andreas Karlstadts „Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit“ 25 zuzurechnen (Abb. 7). Beide entstanden in bedrohlichen Lebenssituationen: Karlstadt schrieb seine „Missive“ 1520 unmittelbar nach Veröffentlichung der von Papst Leo X. gegen ihn ausgestellten Bannandrohung, Lazarus Spengler verfasste die „Anweisung“ 1521 nach Ausfertigung der Bannbulle gegen Martin Luther, durch die er sich als offener Fürsprecher der Reformation gefährdet sah. Bei Karlstadt führte das Ereignis zur endgültigen Ablösung von der katholischen Kirche und zum Bekenntnis, für den neuen Glauben auch die Familie verlassen zu wollen, während Spengler nach dem Vorbild des Leidens Christi zur Ergebung in die Notwendigkeit der Anfechtungen aufrief und einen vierfachen Nutzen in den Gefährdungen sehen konnte. Den Abschnitt mit den artes moriendi leitet Martin Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ 26 ein (Abb. 8), auf den zwei vom Heiligen Hieronymus vor seinem Tod gehaltene Ansprachen als weitere Auszüge aus dessen von Lazarus Spengler übersetztem Leben folgen.27 Daran angehängt finden sich die Abschriften der bereits erwähnten, 1523 und 1524 gedruckten Traktate über Glaubensfestigkeit und geistliche Anfechtungen. Während der Verfasser von „Wider den Hauptschalk und Todfeind des Menschen Gewissen, wie man den stillen soll“ nicht bekannt ist, stammt die wohl zuerst in Nürnberg erschienene Flugschrift „Von zweierlei Menschen, wie sie sich in dem Glauben halten sollen und was er sei“ von Matthäus Hitzschold, der als Prior des Benediktinerklosters Bosau 1519 in Wittenberg studierte und sich vor allem unter dem Einfluss von Andreas Karlstadt vom alten Glauben abwandte, bevor sich 1525 seine Spuren verlieren.28 Von dem 1521 praktizierten Verfahren, ihn interessierende Schriften in einem Sammelband aneinanderzureihen, wich Hans Imhoff 1522/24 also deutlich ab. Er

24 Lazarus Spengler Schriften 1 (wie Anm. 20), 224–243 Nr. 13. 25 Bubenheimer, Ulrich: Gelassenheit und Ablösung. Eine psychohistorische Studie über Andreas Bodenstein von Karlstadt und seinen Konflikt mit Martin Luther. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 92 (1981) = 4. Folge 30, 250–266; Hasse, Hans-Peter: Karlstadt und Tauler. Untersuchungen zur Kreuzestheologie. Gütersloh 1993 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 58), 117– 120. 26 Goez, Werner: Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ und die spätmittelalterliche ars moriendi. In: Luther-Jahrbuch 48 (1981), 97–114; Mennecke-Haustein, Ute: Luthers Trostbriefe. Gütersloh 1989 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 56), 33–49; Hamm, Berndt: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung. Tübingen 2010, 115–163. – Bereits 1517/8 hatte Hans Imhoff das 1515 veröffentlichte „Büchlein von der Nachfolgung des willigen Sterbens Christi“ des Johann von Staupitz eigenhändig exzerpiert (StBN, PP 294). 27 Bauer (wie Anm. 16), H 5, 21–26, 28–30. 28 Oehmig, Stefan: Matthaeus Hisolidus. Ein mitteldeutscher Benediktiner zwischen Karlstadt und Luther im Spiegel seiner Flugschriften. In: Flugschriften der Reformationszeit. Colloquium im Erfurter Augustinerkloster 1999. Hg. v. Ulman Weiss. Tübingen 2001, 137–155.

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ordnete nicht nur die von ihm abgeschriebenen Texte vier Schwerpunkten zu, sondern griff darüber hinaus auch in die Texte ein. Mehrmals nutzte er nur Auszüge oder Exzerpte, teilweise stellte er innerhalb eines Werks auch Kapitel um. Luthers in zwanzig Abschnitten klar gegliederten „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ reduzierte er auf dreizehn Paragraphen und veränderte dabei auch deren Reihenfolge.29 Ihn interessierten die tröstlichen Abschnitte über die mit Christi Tod gegebenen Heilszusagen und über die Sakramente als sichtbare und deshalb gewisse Zeichen der göttlichen Gnade. Textpassagen aus Lazarus Spenglers Übertragung von „Leben und Tod des Heiligen Hieronymus“ ordnete er sowohl dem Stichwort ‚Anweisungen zu einem gottgefälligen Leben‘ als auch dem Abschnitt über die Sterbekunst zu. Schon in der aus seinem Besitz erhaltenen Vorlage, einem Druck in dem eingangs genannten, heute in Wolfenbüttel aufbewahrten Sammelband, notierte er in den Seitenrändern zu den beiden Ansprachen des Heiligen Hieronymus eine Verwendung, die sinngemäß den Rubriken in der Nürnberger Handschrift entspricht. Aus der marginalen Notiz „so man das heilig sacrament enpfahen wil vnd sunderlich in tods nötten“ wurde so die Überschrift: „Ein schon gebet eim sterbenden menschen auch sonst so man das hoch wirdig sacrament entpfecht“.30 Von Anfang an hatte Hans Imhoff eine Ausstattung der Handschrift mit Deckfarbenmalereien eingeplant (s. Beschreibung im Anhang). Neben ornamentalen Initialen, für die der Schreiber zu wesentlichen Sinneinschnitten die entsprechenden Aussparungen vorsah (Abb. 3, 5, 7, 9), sollten Miniaturen die Textanfänge markieren. Drei inhaltlich und formal deutlich voneinander abgesetzte Bildzyklen lassen sich dabei unterscheiden, die – von drei Ausnahmen abgesehen – eine Eigenschaft charakterisiert: Die Bilder illustrieren nicht die begleitenden Texte, sondern müssen als eigenständige Bilderzählungen weitgehend losgelöst von der Schrift gelesen werden; dennoch entstehen in der Kombination Aussagen, die sich mit den grundlegenden Gegenständen der in der Handschrift versammelten Texte decken. Diese Übereinstimmung lässt den Schluss zu, der Schreiber und Textbearbeiter sei auch für die Konzeption des Bildprogrammes verantwortlich gewesen.

29 Goez (wie Anm. 26), 109–113, Mennecke-Haustein (wie Anm. 26), 42–49. – Von den bei Martin Luther bis 20 durchnummerierten Abschnitten übernahm Hans Imhoff mit Auslassungen und in veränderter Reihenfolge die Kapitel 9–14, 4–5, 15–20 und versah sie mit einer neuen Zählung 1 bis 13; s. dazu auch unten bei Anm. 36. 30 Zu Wolfenbüttel, HAB, Cod. 98.12 Theol. 4° s. oben Anm. 16; die Marginalie befindet sich auf Bl. E3a und wird in StBN, Cent. V, App. 76 auf fol. 452v aufgegriffen; die andere Randbemerkung auf Bl. E1a („Dis sol man eim sterbenden menschen vor petten, oder es selbs thun“) kehrt abgewandelt wieder auf in Cent. V, App. 76, fol. 437r („Ein fast schon gebet vnd ermanung eim sterbenden menschen vor zu petten auch eins selbs, gezogen auß des heyligen sant Jeronimus testament so er selber gemacht vnd an seim endt gepet hat“); Zitat der Randbemerkungen bei Bauer (wie Anm. 16), 59. – Von Tugenden und Lastern handeln die Abschnitte H 10–20 in der Edition von E. Bauer, die Hans Imhoff mit entsprechenden Überschriften versah (z. B. fol. 338r „Hernach von der demutigkeit“, H 10–13).

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Die erste Bildfolge besteht aus neun Vollminiaturen (eine zehnte ist wahrscheinlich verlorengegangen), von denen acht mit den Randminiaturen auf den gegenüberliegenden Textseiten jeweils ein Paar bilden (Abb. 1–4, 6, 8, 10). Dazu kommen zu fünf weiteren Texten kleine, rund oder viereckig gerahmte Miniaturen, die in Außen- und Fußstegen auf den bloßen Pergamentgrund gesetzt wurden (Abb. 5, 7), sowie schließlich fünf von Randleisten allseitig umschlossene Textseiten (Abb. 9). Die Ausführung der Buchmalereien übernahm zunächst ein in den Niederlanden geschulter, unbekannter Buchmaler (Abb. 1, 3, 6; Randminiaturen von Abb. 2, 4), der zu dieser Zeit in Nürnberg geweilt haben muss und der ungefähr in der Mitte der Handschrift von Albrecht Glockendon d. Ä. abgelöst wurde (Abb. 2, 4, 5, 7–10). Dieses Mitglied der bekannten Nürnberger Illuministenfamilie war bereits an der 1517 entstandenen, heute in London aufbewahrten Handschrift des Hans Imhoff beteiligt gewesen.31 In Analogie zu den wie eine Klammer den Hauptteil umschließenden beiden Texten über Wesen und Grundlagen des christlichen Glaubens beginnt und schließt die Handschrift auf der ersten bzw. letzten Seite mit einer als programmatisch zu bezeichnenden Vollminiatur (Abb. 1, 10). Als Eingangsbild wählte Hans Imhoff den Gnadenstuhl als komprimierte Aussage zur Barmherzigkeit Gottes und zum durch den Opfertod seines Sohnes bewirkten Erlösungswerk. Gottvater hält seinen am Kreuz gestorbenen Sohn und verweist damit gleichzeitig auf das Angebot zur Eucharistiefeier. Mit dieser den Band eröffnenden Miniatur, die zusammen mit der Bordüre aus Streublüten auf Goldgrund vom niederländischen Buchmaler ausgeführt wurde, korrespondiert die Darstellung des Jüngsten Gerichts auf der Rückseite des die Handschrift abschließenden Blattes. Für diese mahnende Erinnerung an die letzte Station des göttlichen Heilsplans benutzte Albrecht Glockendon als Vorlage einen Holzschnitt aus der „Kleinen Passion“ Albrecht Dürers von 1511.32 Die dazwischen liegenden Miniaturen zeigen im Anschluss an die Geburt Christi die Passionsgeschichte in acht kleinen Szenen vom Letzten Abendmahl bis zur Annagelung an das Kreuz (Abb. 6) sowie in zwei Vollbildern die Kreuzigung (Abb. 8) und die Auferstehung. Nach der Anbetung des Kindes finden sich allerdings zwei abweichende Illustrationen in den christologischen Zyklus eingeschoben, die das „Enchiridion oder Handbüchlein eines christenlichen und ritterlichen Lebens“ des Erasmus von Rotterdam begleiten (Abb. 2, 4). Die beiden Miniaturen zeichnet der offensichtliche Bezug zum begleitenden Text aus: Sie haben den miles christianus zum Gegenstand, der sich zwischen den Einblasungen des Teufels und den Ausführungen eines Engels entscheiden muss bzw. sich anhand eines Regelwerks auf dem rechten Weg in der Nachfolge Christi, trotz Verspottung durch seine Mitmenschen, halten kann.

31 S. oben Anm. 14. 32 Daentler, Barbara: Die Buchmalerei Albrecht Glockendons und die Rahmengestaltung der Dürernachfolge. München 1984 (tuduv-Studien, Reihe Kunstgeschichte 12), 26–34 mit Anm. 37 und weiteren Nachweisen zu benutzten Vorlagen.

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Beide Darstellungen sind Kopien nach Holzschnittillustrationen zur in Basel gedruckten volkssprachigen Erstausgabe des „Enchiridion“ von 1520.33 Um flexibel auf die Verteilung von Textende und Textanfang in den Lagen reagieren zu können, befinden sich alle Miniaturen auf einem Einzelblatt mit leerer Rückseite. Dennoch war ihre Verteilung nicht frei disponibel, denn für die Randleisten der jeweils gegenüberliegenden Textseite wurden Rahmenformen, Bildthemen und einzelne Motive aufgegriffen, etwa indem sich die Jagdmotive zur Darstellung des miles christianus zwischen Engel und Teufel genauso wie das am rechten Seitenrand angeschnittene Haus über den Falz hinweg von der einen auf die folgende Seite fortsetzen (Abb. 2–3). Damit ein unmittelbarer Bezug zwischen Bild und Text – also zwischen den Darstellungen des christlichen Ritters und dem „Handbüchlein“ des Erasmus von Rotterdam – hergestellt werden konnte, bedurfte es allerdings eines gravierenden Eingriffs. Ursprünglich hatten sich an die Geburt Christi unmittelbar die mehrteiligen Bilder aus der Passion angeschlossen. Als nachträglich der Wunsch entstand, die Abschrift des „Enchiridions“ mit zwei gemalten Kopien nach den Holzschnittillustrationen der Druckausgabe zu versehen, erschwerten die bereits ausgeführten Randminiaturen zu den Textseiten ein Umhängen der ihnen gegenüber eingeschobenen Einzelblätter mit Vollbildern. Deshalb entschieden sich Maler und Auftraggeber für eine radikale Lösung: Aus den bereits fertigen Miniaturen wurden die Passionsszenen entlang der inneren Begrenzung der Rahmenleisten herausgeschnitten, so dass um die fehlende Mitte nur die Randminiaturen stehen blieben. Die nun losen Vollminiaturen wanderten in der Handschrift nach hinten und wurden auf Pergamentblätter mit neu vom niederländischen Maler gestalteten Randleisten, aber leeren Spiegeln aufgeklebt (Abb. 6). Auf die beiden zum „Handbüchlein“ bereits ausgeführten, jetzt mit einem Loch in der Mitte versehenen Einzelblätter wurden dagegen von hinten Pergamentblätter aufkaschiert; die nun zwischen den Randleisten erscheinende leere Bildfläche füllte dann Albrecht Glockendon mit den beiden Kopien nach den Holzschnitten, so dass diese beiden Einzelblätter heute eine Collage mit Anteilen des niederländischen und des Nürnberger Buchmalers bilden (Abb. 2, 4). Der brachiale Eingriff in zwei bereits vorhandene Bildseiten ist das erste Indiz für eine Revision des Bildprogramms noch während der Entstehung der Handschrift. Mit der Versetzung der ausgeschnittenen Spiegelbilder eröffnete sich auch die Gelegenheit zu einer Neugestaltung der Randleisten: Die in die Rahmen eingefügten Darstellungen erläutern von nun an in der Art theologischer Kommentare Aspekte der Darstellungen in der Seitenmitte, indem auf Präfigurationen aus dem Alten Testament, Symbole, Andachtsbilder oder die Narration ergänzende Szenen aus dem Neuen Testament zurückgegriffen wurde (Abb. 6, 8). Für die dann von Al-

33 Desiderius Erasmus: Enchiridion oder handbüchlin eins christenlichen und ritterlichen Lebens. Basel: Petri, 1520 (VD16 E 2787); dazu Merkl (wie Anm. 1), 407 mit Abb. 342.

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brecht Glockendon ausgeführten Miniaturen von Kreuzigung und Auferstehung ist dieses Schema beibehalten worden. Als eine weitere Konsequenz des überarbeiteten Bildprogramms ist eine zweite, sich unter den Passionszyklus mischende, aber formal deutlich von diesem unterschiedene, Bildfolge zu verstehen, die von Albrecht Glockendon ausgeführt wurde. Es handelt sich um fünf Texteingangsseiten mit unterschiedlich gerahmten, auf den bloßen Pergamentgrund gesetzten Randminiaturen: Je zwei Medaillons im Seitensteg nehmen einen Dekalogzyklus, je ein im Fußsteg angesiedeltes Rechteck die sechs Werke der Barmherzigkeit auf (Abb. 5, 7).34 Ebenfalls von Albrecht Glockendon stammt der letzte, Lazarus Spenglers Einleitung zur „Armenordnung“ von 1522 begleitende Bildzyklus. Jede der fünf Seiten, die dieser am Schluss der Handschrift stehende Text einnimmt, rahmen Randleisten mit den Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts, die ihren Beschluss in der Darstellung der bereits genannten Deesis auf der letzten Seite der Handschrift finden (Abb. 9–10).35 Außer den beiden Darstellungen des miles christianus ist nur für eine weitere von dem Nürnberger Illuministen Albrecht Glockendon ausgeführte Miniatur eine Abstimmung auf den begleitenden Text feststellbar. Die Verteilung der von ihm ausgeführten Bilder erfolgte mit Kalkül, sodass die Kreuzigung Christi vor Martin Luthers „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben“ zu stehen kam (Abb. 8). Gerade die Abschnitte der ars moriendi, in denen der Reformator dem Bild des Gekreuzigten eine entscheidende Bedeutung zumaß, hatte Hans Imhoff an den Anfang der von ihm redigierten Abschrift gerückt. Im Angesicht des Todes sollte der Sterbende, so schreibt Martin Luther, „deyn augen, deyns hertzen gedancken unnd alle deyne syn gewaltiglich keren“ von den schrecklichen Bildern der Sünde, des Todes und der Hölle, und stattdessen den Bildern zuwenden, die die Überwindung des Todes verheißen: „Der gnaden bild ist nit anders, dan Christus am Creutz und alle seyne heyligen“.36 Der Reformator erläutert: „Das ist gnade und barmhertzickeit, das Christus am Creutz deyne sund von dir nymmet, tregt sie fur dich und erwurget sie,

34 Zur Illustration der Zehn Gebote s. Schiller, Gertrud: Die Ikonographie der christlichen Kunst Bd. 4,1: Die Kirche. Gütersloh 1976, 123–134; und jetzt Thum, Veronika: ‚Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut‘. Der Dekalog in der Graphik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. München 2006 (Kunstwissenschaftliche Studien 136); zu den Werken der Barmherzigkeit s. Schmitt, Otto: Barmherzigkeit, Werke der. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte Bd. 1. Stuttgart 1937, Sp. 1457–1468. 35 Die lateinischen Inschriften stimmen mit keiner der Textausgaben bei Nölle, G.: Die Legende von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gerichte. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 6 (1879), 413–476 überein; identische Texte begleiten jedoch eine spätmittelalterliche Wandmalerei in Frankreich (Recueil des mémoires et documents de l’Académie de la Val d’Isère 9, Moutiers 1875, 230 f.); zu französischen Stundenbüchern als Bild- und Textquelle s. jetzt Wagner (wie Anm. 6), S. 40–48. 36 WA 2, 680–697, bes. 688–690 mit Abschnitt 9–14, Zitate auf 689 f. und in Cent. V, App. 76, fol. 414r- 416r, hier als Abschnitt 1–3 nummeriert. Zur Interpretation und zum Anschluss an mystisches Gedankengut s. Goez (wie Anm. 26) und Mennecke-Haustein (wie Anm. 26).

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und dasselb festiglich glauben und vor augen haben, nit drann zweyfellnn, das heyst das gnaden bild ansehen und ynn sich bilden. … Sich, yn dem bild ist ubirwunden deyn helle und deyn ungewiß vorsehung gewiß gemacht, dan szo du da mit alleyn dich bekummerst und das glaubst fur dich geschehn, szo wirstu yn dem selben glauben behalten gewißlich. Drumb las dirs nur nit auß den augen nhemen und suche dich nur in Christo und nit yn dir, szo wirstu dich ewiglich yn yhm finden.“ Die Miniatur in der Handschrift führt somit materiell das Gnadenbild vor Augen, das der Sterbende innerlich vor seinem geistigen Auge stets vergegenwärtigen und sich einprägen soll, um die Schrecken von Tod und Verdammnis zu überwinden. In Kombination mit den unmittelbar unter dem Gekreuzigten in der Randminiatur dargestellten Botschaftern mit der Weintraube verweist das Bild auch auf das Sakrament des heiligen Abendmahls in Gestalt von Brot und Wein, die laut dem „Sermon“ Martin Luthers „gar eyn großer trost seynt und gleich eyn sichtlich zeichen gotlicher meynung“ sind.37 Bei der Darstellung mit dem gekreuzigten Gottessohn handelt es sich somit nicht nur um eine Episode in einem narrativen Zyklus, sondern um ein Andachtsbild, dessen äußerliche Betrachtung zu einer Verinnerlichung anleiten sollte. Keine der Darstellungen ist für die Handschrift erfunden worden, kein Bildthema dient reformatorischer oder antikatholischer Propaganda. Beide Buchmaler griffen für die christologischen Szenen auf bewährte Bildschöpfungen zurück, die auch in einem Stundenbuch oder Brevier hätten Verwendung finden können. Ebenso in spätmittelalterlichen Traditionen verankert sind die drei Zyklen zu den Zehn Geboten, den Werken der Barmherzigkeit und den Fünfzehn Vorzeichen zum Jüngsten Gericht. Ruth Slenczka zeigte, dass in vorreformatorischer Zeit gerade diese drei nicht selten auch miteinander kombinierten Folgen in moralisch-didaktischer Absicht zur Belehrung der Laien benutzt wurden, insbesondere zur Vorbereitung auf die Beichte und als Aufforderungen zur Buße und Umkehr vor dem Jüngsten Gericht. Diese fanden in Form von in den Kirchen aufgehängten Bildtafeln, Flugschriften und Einblattdrucken große Verbreitung. Zu den Gestaltungsmerkmalen zählt eine leicht verständliche Bildsprache, etwa indem für Übertretungen und Befolgungen der Gebote Szenen aus dem Alltagsleben mit Figuren in zeitgenössischer Tracht gewählt wurden.38 Alle Darstellungen des Imhoffschen Dekalogzyklus lassen sich aus Einblattdrucken der Vorreformationszeit ableiten und teilen folglich die genannten charakteristischen Erscheinungsformen.39 Dennoch gelingt mit der Verschränkung dieser traditionellen Bildthemen eine Aussage, die dem in der Textaus-

37 WA 2, 692; die Abschnitte 4–5, 15–17 stellte Hans Imhoff als Kapitel 6–10 zusammen (Cent. V, App. 76, fol. 422v-433v. 38 Slenczka, Ruth: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen. Köln 1998 (Pictura et poesis 10), 25–63. 39 Thum (wie Anm. 34), 51–70 mit Abb. 14 und 18 zu einem 1495 datierbaren oberrheinischen Holzschnitt und einem Beichtzettel des Meisters MTR von 1519.

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wahl zum Ausdruck kommenden reformatorischen Glaubensbekenntnis des Hans Imhoff entspricht. Den Schlüssel zum Verständnis bieten die beiden als programmatisch erkannten Texte an Anfang und Ende der Handschrift. Hans Imhoff eröffnete die Abschriften mit den Erläuterungen Martin Luthers zu den Zehn Geboten, ihren Übertretungen und Erfüllungen. Die letzten Seiten reservierte er für die „Armenordnung“, in der die Werke der Barmherzigkeit und ihre rechtfertigende Wirkung vor dem Weltenrichter explizit abgehandelt werden. Im Anschluss an die oben zitierte Stelle aus der Einführung wird der Dienst am Nächsten als aus Glaube und Liebe erwachsende Frucht benannt: „Vnd diese werck der lieb sind die frucht, die auß einem rechten lebendigen glauben erwachsen, vnd haissen darumb gut, das sy auß einem warhafften vertrawen in Gott fließen vnd dem negsten zu nutz vnd gut raichen sollen. Es wirdet auch … ein yeder cristen mensch am jungsten tag solcher werck halben: nemlich ob er vmb Cristus willen seins nagsten durfftigen armen vnd notleydenden geliebt, sy gespeyst, getrenckt, becleidet, haimgesucht, beherbergt vnd in summa inen hilff und hanndtraich erzaigt habe, vnd nit, ob er vil messen gestifft, kirchen gepaut, walfart gethan vnd andere dergleichen von Cristo vngepottne werck geübt habe, rechenschafft geben müßen“.40 Die drei auf das Eröffnungsbild zur Gnade Gottes folgenden Bildzyklen sind auf das Schlussbild mit dem Jüngsten Gericht ausgerichtet. Eingewoben in die Vorstellung des göttlichen Heilplans von der Geburt bis zur Auferstehung des Gottessohnes, mit besonderer Betonung der Passion und vorausschauend auf die künftige, von Zeichen angekündigte Wiederkehr, sind zwei Darstellungen zum miles christianus, nach dessen Vorbild sich der Mensch bekehren, in Tugenden üben und für den rechten Weg, allen Widerständen zum Trotz, entscheiden soll. Jeder Gläubige muss selbst aktiv werden, um am Ende der Tage vor dem Richter Bestand haben zu können. Denn zum einen steht mit den Zehn Geboten eine umfassende Handreichung für eine gottgefällige Lebensorientierung zur Verfügung, zum anderen äußert sich der Glaube und Liebe entspringende Dienst am Nächsten und an der Gemeinschaft in Werken, die auch im Jüngsten Gericht Anerkennung finden werden. Darüber hinaus führt das Bild vom Gekreuzigten die Überwindung von Tod, Sünde und Verdammnis durch Gottes Erbarmen vor Augen. Hans Imhoff bediente sich somit der visuellen Medien, um essentielle Aussagen der von ihm ausgewählten Texte zu veranschaulichen sowie ein Memorieren und Verinnerlichen dieser Kernthemen über die Betrachtung der Bilder anzustoßen und zu erleichtern. Eine Erfindung neuer Bilder war dazu nicht notwendig, die Verschränkung der verschiedenen Bildzyklen im Buch sowie die Parallelisierung von Dekalogbildern und Darstellungen der Barmherzigen Werke auf der Buchseite reichten dazu aus. Bei der Herstellung und Benutzung der Handschrift vereinigte Hans Imhoff mehrere Rollen in seiner Person: Er war zugleich Auftraggeber, Redaktor und Bear-

40 StBN, Cent. V, App. 76, fol. 493v-494r; s. oben bei Anm. 21 und vgl. Simon (wie Anm. 20), 23.

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beiter der Texte, Schreiber, Autor des Bildprogramms, Leser und Betrachter. Als Laie stellte sich der Nürnberger Patrizier in mancher Hinsicht in monastische Traditionen. Über die Bedeutung des Schreibens in Klosterskriptorien informierte 1492 der Benediktiner Johannes Trithemius († 1516) umfassend in seinem Werk „De laude scriptorum“. Als Argument für die Nützlichkeit des Schreibens führte er an: „Indem der Mönch fromme Texte abschreibt, wird er allein schon durch das Schreiben allmählich in die Kenntnis der göttlichen Geheimnisse eingeführt und sein Geist wunderbar erleuchtet. Denn was wir niederschreiben, prägen wir dem Geist stärker ein, weil wir uns zum Lesen und Schreiben Zeit nehmen müssen“. Ferner empfahl er den Mönchen das Führen von Heften mit Lesefrüchten, um in Form solcher Florilegien oder Rapuarien die sie persönlich interessierenden Textstellen „stets zur Verfügung zu haben und um zu gegebener Zeit das passende Wort hervorholen zu können“. Auch über Buchschmuck äußerte sich Trithemius positiv. Dieser solle jedoch nicht Selbstzweck sein, sondern beim Anblick den Betrachter zum Lesen verführen.41 Im Schreiberlob werden somit Aspekte des Abschreibens umrissen, die auch für Hans Imhoff entscheidend gewesen sein mögen: Der physische Akt des Schreibens diente gleichzeitig der Memorierung bzw. der Verinnerlichung der geistigen Inhalte und damit der Erkenntniszunahme im Glauben. Das Erbauungsbuch kann als Florilegium der Hans Imhoff persönlich bedeutsamen Drucke verstanden werden, die er stets zum Nachlesen bereithalten wollte, und deren gemalte Ausstattung ihn bei der Lektüre nicht nur erfreuen, sondern ihm auch die Kernaussagen des Gelesenen vor Augen führen sollte. In allen diesen Funktionen scheint in der Familie Imhoff der Handschriftenbesitz bis weit in das Druckzeitalter hinein bewusst gepflegt worden zu sein. Der Bruder Andreas gab nicht nur mehrmals Handschriften in Auftrag; er schrieb auch die Bibel eigenhändig vollständig ab, um dieses Exemplar dann bei seinem Tod seinen beiden Söhnen zu hinterlassen.42 Er schließt damit auch den von Johannes Trithemius beschriebenen Aspekt der Memoria ein, indem die Schriften auch die Erinnerung an den Schreiber erhalten.43 In der äußeren Gestaltung und im privaten Gebrauch orientierte sich Hans Imhoff an Stundenbüchern und deren außerliturgischem, privatem Einsatz bei der Andacht. Das Erbauungsbuch, das er sich aus einer Auswahl von Texten und Bildern selbst anfertigte, stellt somit ein sehr persönliches Zeugnis des intensiven Ringens um eine gottgefällige Lebensführung und eine rechte Vorbereitung auf den Tod dar. Bezieht man dann noch die besonderen Umstände der Benutzung unmittelbar nach der Fertigstellung der Handschrift mit ein, so verdeutlichen diese vollends den in-

41 Trithemius, Johannes: De laude scriptorum – Zum Lobe der Schreiber. Eingel., hg. u. übers. v. Klaus Arnold. Würzburg 1973 (Mainfränkische Hefte 60), 61 zum Nutzen des Schreibens, 69 zum Buchschmuck, 75 zu Florilegien; zum Memorieren von Texten s. Carruthers, Mary: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Medieval Literature 10), 30–32, 111. 42 Jahnel (wie Anm. 8), 183; Merkl (wie Anm. 1), 234 Qu 14 zu einem Auftrag aus dem Jahr 1521. 43 Trithemius (wie Anm. 41), 97.

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tim-privaten Charakter: Der Blick in das Büchlein sollte dem schwer erkrankten, wahrscheinlich bettlägerigen Patrizier Halt in den letzten Lebensstunden geben und die tröstlichen Inhalte der darin enthaltenen Schriften vergegenwärtigen. Die Untersuchung von Hans Imhoffs zwischen 1522 und 1524 entstandenem Erbauungsbuch deckt somit Muster auf, die für weitere Forschungen zu gleichartigen Handschriften fruchtbar gemacht werden können. Diese waren in der Regel nicht nur bloße Konvolute von additiv aneinandergereihten Druckabschriften. Es konnte sich um wohldurchdachte Zusammenstellungen verschiedener Werke handeln, die in einer übergeordneten Gliederung, vorgenommenen Textauszügen und Textumformungen das planvolle Vorgehen ihrer Bearbeiter erkennen lassen. In den Fällen, in denen die Auftraggeber aus Adel und Patriziat nachweislich aktiv an der Auswahl von Texten und Bildern beteiligt waren oder sogar redaktionell in die Texte eingriffen, müssen solche Erbauungsbücher unbeachtet des ihnen zugrunde liegenden theologischen Schrifttums als schöpferische Leistungen anerkannt und als frühe Zeugnisse einer reformatorisch geprägten Laienfrömmigkeit bezeichnet werden. Das einzige Medium, das einen derart flexiblen Umgang mit vorgefundenen Texten und gleichzeitig deren luxuriöse Ausstattung erlaubte, war die Handschrift. Die Buchmalereien sind Teil des die Textauswahl leitenden Konzepts und müssen in enger Verbindung mit diesem interpretiert werden.

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Abbildungen

Abb. 1: Unbekannter niederländischer Buchmaler, Gnadenstuhl. Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. V, App. 76, fol. 1v.

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Abb. 2: Albrecht Glockendon, Miles christianus, Randminiaturen von einem unbekannten niederländischen Künstler. Wie Abb. 1, fol. 113v.

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Abb. 3: Textseite mit Randminiatur von einem unbekannten niederländischen Künstler. Wie Abb. 1, fol. 114r.

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Abb. 4: Albrecht Glockendon, Miles christianus, Randminiaturen von einem unbekannten niederländischen Künstler. Wie Abb. 1, fol. 175v.

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Abb. 5: Albrecht Glockendon, Zyklus zum Dekalog (erstes und zweites Gebot) und den Werken der Barmherzigkeit (Hungrige speisen, Durstige tränken). Wie Abb. 1, fol. 334r.

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Abb. 6: Unbekannter niederländischer Künstler, Passionsszenen mit Randminiatur. Wie Abb. 1, fol. 369v.

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Abb. 7: Albrecht Glockendon, Zyklus zum Dekalog (drittes und viertes Gebot) und den Werken der Barmherzigkeit (Nackte kleiden). Wie Abb. 1, fol. 396v.

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Abb. 8: Albrecht Glockendon, Kreuzigung mit Randminiaturen. Wie Abb. 1, fol. 413v.

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Abb. 9: Albrecht Glockendon, Zyklus zu den Fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Wie Abb. 1, fol. 492r.

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Abb. 10: Albrecht Glockendon, Jüngstes Gericht. Wie Abb. 1, fol. 494v.

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Anhang: Beschreibung des Erbauungsbuchs von Hans VI. Imhoff Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. V, App. 76: Lutherisches Erbauungsbuch, ehemals bezeichnet als Gebetbuch, von Hans VI. Imhoff Pergament • 497 Bl. • 15 × 12 cm • Nürnberg • 1522 – um 1524 Handschrift 1976 von Heinrich Maier restauriert; bei der Neubindung wurden zusätzliche Blätter zum Schutz der Buchmalereien vor Bereibungen eingehängt. Fehlerhafte Foliierung: I.1–104.104a.105–196.198–495; fol. I–II, 358, 495 leer. Lagen: (IV+1)9, 4 IV41, (IV+1)50, 7 IV105, (V+3)118, 4 IV150, III156, 2 IV172, (IV+1)183, 3 IV208, V218, 9 IV290, (V+1)301, III307, V317, III323, V333, III339, V349, IV357, V367, (III+1)374, V384, III390, V400, III406, (VII+1)421, III427, V437, III443, V453, III459, 4 IV491, 2 I495; die Einzelblätter sind in der Regel auf der Vorderseite unbeschriftet und tragen auf der Rückseite eine Miniatur (fol. 1, 49, 113, 175, 292, 369, 413, ein ehemals vorhandenes Blatt mit Miniatur fehlt vielleicht vor fol. 77), fol. 114–115 ist ein eingehängtes Doppelblatt. Schriftraum: 9 × 6,5 cm, 16 Z., Kurrent von einer Hand; Schreiber Hans VI. Imhoff (1488–1526): fol. 494v: „Hanns Imhoff ist diss buch, der es geschrieben hat im 1522 jar +“ (Abb. 10); fol. 2r Allianzwappen Hans VI. Imhoff und Felicitas Pirckheimer. Rubrizierung von derselben Hand. Ausstattung mit Buchmalereien in Deckfarben mit Blatt- und Pinselgold von zwei verschiedenen Illuminatoren: Hand A ein unbekannter niederländischer Buchmaler, Hand B Albrecht Glockendon d. Ä., fol. 175v mit Monogramm AG signiert. Hand A: 5 ornamentale Initialen (fol. 4r, 5v, 19v, 29v, 77r) und 4 ganzseitige Miniaturen mit Randminiaturen, 8 Randminiaturen zu Textseiten. Im Einzelnen: 1v Gnadenstuhl, Randminiaturen: fol. 1v und 2r Streublumen auf Goldgrund (Abb. 1) 49v Anbetung des Kindes, Randminiaturen: fol. 49v und 50r Streublumen auf Goldgrund 77r Miniatur auf dem ehemals davor eingehängten Einzelblatt verloren (?), Randminiatur: fol. 77r Tiere auf Feldzug, im Seitensteg Galgen, darüber Eule von Vögeln angegriffen 113v und 114r Randminiaturen: Tiere bei der Rückkehr von Jagd bzw. Menschen bei der Jagd (Abb. 2–3) 175v und 176r Randminiaturen: Kahnfahrten mit Musikanten (Abb. 4) 292v 4 Passionsszenen: Abendmahl, Gebet am Ölberg, Verrat Christi, Christus vor Pilatus; Randminiaturen: fol. 292v Mannalese, Durchzug durch das Rote Meer; fol. 293r der gefangene Habakuk wird von einem Engel zu Daniel gebracht 369v 4 Passionsszenen: Geißelung, Verspottung, Kreuztragung, Kreuzannagelung; Randminiaturen: fol. 369v Alchior wird entkleidet, Schande Noahs, fol. 370r Opferung Isaaks (Abb. 6) Hand B, Albrecht Glockendon: 28 ornamentale Initialen (fol. 114r, 176r, 185r, 188r, 192r, 202r, 210r, 214r, 217r, 223r, 230v, 237v, 266v, 282v, 293r, 306r, 314r, 318r, 321r, 334r, 370r, 396v, 414r, 437r, 452v, 468r, 478v, 492r; Abb. 3, 5, 7, 9); 5 ganzseitige

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Miniaturen mit Randminiaturen; 10 Randminiaturen zu Textseiten; 10 rund und 5 rechteckig gerahmte Randminiaturen zu 5 Textseiten. Im Einzelnen: 113v Ritter zwischen Engel und Teufel, Randminiaturen: von Hand A (Abb. 2) 175v Von Menschen verspotteter Ritter folgt Weg, signiert „AG“, Randminiaturen: von Hand A (Abb. 4) 413v Kreuzigung Christi, Randminiaturen: fol. 413v Erschaffung Evas, Kain und Abel, Opfer Isaaks, Moses und die Schlange, die beiden Kundschafter mit der Traube, Lamm Gottes, Melchisedechs Opfer, Jonas und der Wal, fol. 414r Leidenswerkzeuge und Deesis, in Bund- und Randsteg Heilige und Mutter, Petrus schlägt Malchus das Ohr ab, Kreuztragung, Beweinung, Grablegung (Abb. 8) 467v Auferstehung Christi mit Christus in der Vorhölle, Randminiaturen: fol. 467v Christus erscheint seiner Mutter, Christus als Gärtner vor Maria Magdalena, der ungläubige Thomas, Fischzug auf See Genezareth, fol. 468r Simson und der Löwe, Elisäus erweckt das Kind der Sunamiterin, Auffindung des Moses, Simson mit den Toren Gazahs 494v Jüngstes Gericht (Abb. 10) 334r, 396v, 437r, 452, 478v Zyklus zum Dekalog (je 2 Medaillons in den Seitenstegen) sowie zu den Werken der Barmherzigkeit (je ein Rechteck im Fußsteg) (Abb. 5, 7) 492r-494r Randminiaturen mit den 15 Vorzeichen des Jüngsten Gerichts (Abb. 9) Bei fol. 113, 175, 292, 369 wurde das Hauptbild herausgeschnitten und durch die beschriebenen Malereien auf einem eingeklebten Pergamentblatt ersetzt. Einband 1976 erneuert; Reste des durch schwarzen Lederverfall fast vollständig zerstörten, ehemals braunen und blindgeprägten Ledereinbandes liegen heute bei der Handschrift. Alte Holzplatten mit braunem Kunstleder überzogen. Ehemals je 5 Buckel und 4 Kantenbleche (auf Rückendeckel heute nur 2 Buckel erhalten), 2 Metallschließen. Punzierter Goldschnitt, durch Neubindung gestört. Spiegelblätter modern. 1522 von Hans Imhoff begonnen, nach Ausweis der Erscheinungsjahre der als Vorlagen verwendeten Drucke (s. unten) bis mindestens 1524 in Arbeit. Auf unbekannten Wegen spätestens im 19. Jahrhundert (Stempel auf fol. Ir, 1r und 495v) in die Stadtbibliothek Nürnberg gelangt. Holzberg (wie Anm. 14), 234 f., 239. – Daentler (wie Anm. 32), 251–255.– Merkl (wie Anm. 1), 405–408 Kat. Nr. 76. – Sauer (wie Anm. 7), 140 Kat. Nr. 50 mit weiterer Literatur; dieser Eintrag ist in Details durch die hier abgedruckte Beschreibung zu korrigieren. Abschriften von mehreren handschriftlichen oder gedruckten Vorlagen mit Nachweisen im VD 16 (Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts www.vd16.de): 2r-46r Martin Luther: „Eine kurze Form der Zehn Gebote. Eine kurze Form des Glaubens. Eine kurze Form des Vater Unsers“, 1520 (VD16 L 5373–5395)

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46v-47v „Gebet des Manasse“ (2 Chr 33,11–19) 48rv „Sant pernhart gebet vmb sechs bit von got den herren zu erbitten“ 50r-72v, 73r-76v, 77r-100v Neilos: „Sententiae morales“; Johannes von Damaskus: „Über die acht Geister der Schlechtigkeit“; Pseudo-Isokrates: „An Demonikos“, alle drei Texte in deutscher Übersetzung von Willibald Pirckheimer 101r-112v, 114r-174r, 176r-291v, 293r-333v Desiderius Erasmus: „Enchiridion oder Handbüchlein eines Christlichen und Ritterlichen Lebens“, 1520 (VD16 E 2787–2789) 334r-366r Eusebius von Cremona, Lazarus Spengler (Übersetzer): „Beschreibung... von dem Leben und Sterben desselben heiligsten Hieronymus“ ... Nürnberg: Hieronymus Höltzel, 1514, fol. A7a-D5a (VD16 E 4316) 367r-368v, 370r-396r Lazarus Spengler: „Eine tröstliche christliche Anweisung und Arznei in allen Widerwärtigkeiten“, Nürnberg: Friedrich Peypus, 1521 (VD16 S 8259) 396v-412v Andreas Karlstadt: „Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit“, 1520 (VD16 B 6170–6174) 414r-436v Martin Luther: „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben“, 1519, Auszug (VD16 L 6473–6498) 437r-452r Eusebius von Cremona, Lazarus Spengler (wie fol. 334v), fol. D5a-E3a 452v-466v Eusebius von Cremona, Lazarus Spengler (wie fol. 334v), fol. E3a-F3a 468r-478r „Wider den Hauptschalk und Todfeind des Menschen Gewissen, wie man den stillen soll“, 1524 (VD16 W 2461–2465) 478v-492r Matthäus Hitzschold: „Von zweierlei Menschen, wie sie sich in dem Glauben halten sollen und was er sei“, 1523 (VD16 H 3976–3980) 492r-494r „Eins Rats der Stat Nürmberg ordnung des grossen almusens Haußarmer leut“, Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1522, Einleitung (VD16 N 2019)

Ulrike Heinrichs

Zum-Verschwinden-Bringen, Alludieren, Distanzierung Strategien der Verinnerlichung und der Unterstützung des Gebets in Beispielen der deutschen und niederländischen Grafik des 15. und frühen 16. Jahrhunderts Im Musée imaginaire der frühneuzeitlichen Kunst, in dem sich das Material nach Bildmotiven geordnet präsentiert und die Auffächerung nach Gattungen oder Fächern wie der Landschaft, dem Interieur oder dem Stillleben einen Fluchtpunkt der Entwicklungsgeschichte bildet, stellen sich die Jahrzehnte vor der Reformation als ein Gärungsprozess dar, in dem das religiöse Sujet zunehmend unter Druck gerät. In der Chronologie der Ereignisse zeichnet sich ein Zusammenhang ab zwischen Schongauers in ihrer Zeit (um 1470) höchst ungewöhnlichen Bilderfindung der Flucht nach Ägypten in einer Waldumgebung (Abb. 1) 1 über Dürers Antwort darauf in der Holzschnittfolge zum Leben Mariens (ca. 1502–1510) mit der von hinten gesehenen Gottesmutter, in deren Schoß sich das Christuskind verbirgt (Abb. 2),2 bis zu Altdorfers Heiligem Georg im Kampf mit dem Drachen aus dem Jahr 1510, der unter dem Gewicht turmhoher Baumwipfel in edelsteinartig schimmerndem Grün erstarrt zu sein scheint (Abb. 3).3 Man meint, die Heiligenfigur, seit über tausend Jahren Hauptgegenstand der christlichen Kunst, aus dem Bild verschwinden zu sehen. Ein für grundlegend erachtetes Ordnungsmuster, das primär den antiken Konzepten des Götterbildes und des Herrscherporträts verpflichtet ist,4 die daher vielfach das Antlitz der dargestellten Heiligen fokussiert, bzw. die Figuren der Akteure der Bilder1 Zum Bildkonzept dieses Stichs, seiner christologisch-naturallegorisch bestimmten Ikonographie und seiner Strategie der Beteiligung des betenden Betrachters näher: Heinrichs-Schreiber, Ulrike: Vincennes und die höfische Skulptur. Berlin 1997, 214–230. Weitere Literatur siehe dort. 2 Ebd., 228. 3 Zum Bildverfahren der Tafel, für welches die Verwehrung des Ausblicks in die Ferne, die ungewöhnlichen Größenverhältnisse und die Auslassungen altbekannter Motive (Burg, Prinzessin, Schaf) konstitutiv sind, im Einzelnen: Bushart, Magdalena: Sehen und Erkennen. Albrecht Altdorfers religiöse Bilder. München / Berlin 2004, 338–341. 4 Als ein wichtiges Movens für die Fokussierung der christlichen Kunst auf Bilder des Angesichts wie auch anderer anthropomorpher Zeichen, zu denen insbesondere die Hand gehört, ist gewiss die Projektion von Funktionen und Merkmalen des Kaiserporträts wie auch der Bildformeln der Repräsentation der römischen Staatsmacht insgesamt auf die Christusdarstellung und die christliche Bilderzählung anzusehen. Die Auseinandersetzungen zwischen den Ikonoklasten und den Befürwortern der Bilder mochten diese Tendenz verfestigt haben, da sie das anthropomorphe Gottesbild den – fraglos erlaubten – Darstellungen der geheiligten Gegenstände des salomonischen Tempels gegenüberstellten. Vgl. Von Dobschütz, E.: Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende. Leipzig 1899; Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem https://doi.org/10.1515/9783050051659-009

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Abb. 1: Martin Schongauer, Flucht nach Ägypten, Kupferstich, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. Aus K.7.8.

zählung im Ganzen zeigt,5 scheint einem Umschichtungsprozess unterworfen zu sein. Es handelt sich hier nicht um eine punktuelle Beobachtung; die Vergleichsreihe lässt sich verlängern. So entwickeln Albrecht Altdorfer und der ihm nahestehende Passauer Maler Wolf Huber die Architekturdarstellung zum dominierenden Bildmotiv, wobei die Protagonisten der Historie wie in großer Entfernung gesehen sind, wenn Figürliches nicht überhaupt fehlt. Bis in jüngere Zeit neigt die Kunstgeschichte dazu, die Tendenz zur Unterdrückung des Figürlichen in der Kunst des frühen

Zeitalter der Kunst. München 62004 [¹1990]; Büchsel, Martin: Die Entstehung des Christusporträts. Mainz ²2004 [¹2003], 121 f., 145–158; Noll, Thomas: Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67 (2004), 297–328. 5 Gerade auch dort, wo eine zeichenhafte oder emblematische Darstellung dominiert, wird nicht selten durch die strukturelle Festlegung auf porträthafte Bildformeln ein impliziter Vergleich mit der anthropomorphen Gestalt provoziert, so im Mailänder Diptychon, das die Zeichen des Kreuzes und des Lammes innerhalb des Gefüges des fünfteiligen Diptychons an den Ort des Kaiserbildnisses setzt. Vgl. Kemp, Wolfgang: Christliche Kunst, ihre Anfänge, ihre Strukturen. München / Paris 1994, 43–45. Siehe auch Elbern, Victor H.: Liturgisches Gerät des Frühmittelalters als Symbolträger. In: Simboli e simpologia nell’alto medioevo. Hg. v. Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, Bd. I, Spoleto 1976, 349–386.

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Abb. 2: Albrecht Dürer, Flucht nach Ägypten, Holzschnitt, The G. Paul Getty Trust, Getty Research Institute.

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Abb. 3: Albrecht Altdorfer, Der Heilige Georg im Kampf mit dem Drachen, Temperamalerei auf Pergament und Lindenholz, Alte Pinakothek München, Inv. Nr. WAF 29.

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16. Jahrhunderts als Desakralisierung oder Ausdruck reformatorischer Bildkritik zu verstehen. Von einem verschleierten Ikonoklasmus ist die Rede oder von der Überlagerung des religiösen Bildgebrauchs durch profanes Sammlerinteresse.6 Demgegenüber belegen Thomas Noll und Magdalena Bushart die eminente Wichtigkeit der religiösen Thematiken der scheinbar antiikonisch ausgerichteten Bilder und machen Altdorfer als Protagonisten einer persönlich geprägten, dabei durchaus auf Repräsentation und Prestigegewinn hin ausgelegten Kunst der intensivierten Innerlichkeit verständlich. Altdorfer sei es darum gegangen, die traditionellen Motive durch Akkommodation mit literarischen Texten, konventionelleren Bildformularen oder durch den Dialog mit konkurrierenden zeitgenössischen Künstlern neu zu beleuchten und zu vertiefen.7 Das hier angesprochene Phänomen lässt sich weder regional eingrenzen noch auf ein spezifisches Bildmedium beschränken. Zu vergleichbaren Schlussfolgerungen kommt bereits Reindert L. Falkenburg in Bezug auf die ausgedehnten Landschaftsgründe in den sakralen Gemälden von Joachim Patinir.8 Diesem Phänomen in der Druckgrafik nachzugehen, wie in der vorliegenden Studie versucht, scheint in mehrfacher Hinsicht lohnend zu sein. In den Blickpunkt tritt ein bei aller Vielschichtigkeit hochspezifisches Aufgabenspektrum der Kunst. Auf Grund ihrer mate6 Für Wood geht es in der, wie er meint, „anti-ikonografischen“ Haltung der Werke Altdorfers ganz vordringlich darum, der autoritären Manifestation des persönlichen Stils des Künstlers Geltung zu verschaffen. In der Bevorzugung von Waldmotiven sieht er ein Kennzeichen national-typischer Mentalität. Wood, Christopher: Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape. London / Chicago 1993, 97, 165–170 und passim; Hensel, Thomas: Bildersturm und Landschaft. Ikonoklastische Impulse ‚autonomer‘ Landschaftsdarstellung in der Frühen Neuzeit. In: Wege zur Renaissance. Beobachtungen zu den Anfängen neuzeitlicher Kunstauffassung im Rheinland und den Nachbargebieten um 1500. Hg. v. Norbert Nußbaum, Claudia Eußkirchen und Stephan Hoppe, Köln 2003, 391– 423. Vgl.: Noll, Thomas: Rezension Wood 1993. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/96), 267–273. Die überwiegende Mehrzahl der älteren Forschungsbeiträge zu Altdorfer argumentiert vorwiegend formgeschichtlich und stilkritisch und enthält sich des Versuchs einer bildgeschichtlichen Einordnung. Siehe Mielke, Hans: Ausst. Kat. Albrecht Altdorfer. Zeichnungen, Deckfarbenmalerei, Druckgrafik. Kupferstichkabinett Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, 12. 2.− 17. 4. 1988, Berlin 1988. Zur Forschungsgeschichte ausführlich: Noll, Thomas: Albrecht Altdorfer in seiner Zeit. Religiöse und profane Themen in der Kunst um 1500. Berlin / München 2004, XI–XXV; Bushart (wie Anm. 3), 9. 7 Vgl.: Noll (wie Anm. 6, XXV, 96 f., 212 f., 342 f. Überzeugend konzediert Bushart den reflexiven Bildverfahren Altdorfers ein reformerisches Potential, verwahrt sich dabei aber gegen die Auffassung, dass der Bildersturm hierbei vorweggenommen worden sei. Bushart (wie Anm. 3), 9–23, 155–157, 336 f. und passim. Die Hermeneutik des selbstbewussten Umgangs Altdorfers mit Dürers Grafik wäre eine eigene Untersuchung wert. Das Verfahren der Umstülpung der Perspektive, etwa im „Samson“, der den Löwentöter aus Dürers Stich zitiert und in der Rückenansicht zeigt, rechnet sicherlich mit der Bekanntheit Dürers, zeugt dabei aber auch von einem bemerkenswerten Mangel an Respekt. Die konventionellen Züge des Vorbilds werden offengelegt, anstatt als originelles, bewunderungswürdiges Modell erscheint Dürers Bildformulierung als traditionskonformes Muster. 8 Falkenburg, Reindert L.: Landscape as an Image of the Pilgrimage of Life. Amsterdam 1988 (Oculi: Studies in the Arts of the Low Countries, Bd. II), 106–111.

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riellen Beschaffenheit diente die Grafik bevorzugt dem persönlichen Gebrauch. Die Gattung war demzufolge dazu prädestiniert – so eine These dieses Beitrags –, einen im privaten Lebensrahmen zu entfaltenden ‚Bildhaushalt‘, d. h. ein zu verschiedenen Zwecken wie etwa der Andacht, des Buchschmucks oder der Verarbeitung in weiteren Bildwerken und Kunstprojekten aufrufbares Reservoir von Bildern zu generieren. Weil die Nutzung graphischer Bilder nicht auf einzelne Individuen festgelegt war, sondern Bilder ausgestellt und vorgezeigt werden konnten, oder weil Graphiken, durch ihre Rolle als Schmuck und Illustration des Buches, durch ihre Auflagenstärke und ihren Anteil an einem freien Markt editorisches Handeln zum Ausdruck bringen konnten, wirkten sie zugleich ebenso an der Konstitution einer ‚Öffentlichkeit des Bildes‘ mit.9 Im Rahmen der Techniken des künstlerischen Kopierens, des Studiums und des Entwurfs bildete die Graphik zugleich eine Schnittstelle zwischen Malerei, Goldschmiedekunst, Textil, Skulptur und Architektur.10 Dabei entfaltete diese junge Gattung ihre spezifischen bildkünstlerischen Merkmale nicht erst nach und nach. Vielmehr profilierte sie sich schlagartig mit einem künstlerischen Spektrum, das jene Darstellungsmittel entwickelte, die die Kunstgeschichte als ‚malerisch‘ bezeichnet bzw. auf die Begriffe von gesteigertem Realismus oder Illusion im Sinne einer möglichst überzeugenden Reflexion des Sehbildes bezieht,11 zugleich aber die Reduktion auf ‚lineare‘ Bildwerte entfaltete und gezielte Auslassungen und neuartige Formen der Stilisierung umfasste. So präsentiert sich einer der ältesten Holzschnitte, der Buxheimer Christophorus von 1423, als ehrgeiziges Erzählbild mit mehreren Nebenfiguren und einer detailreichen ‚Weltlandschaft‘. Eine dynamische, spannungsvolle Kontur lenkt wirksam davon ab, dass die Gliederung der Formen weitaus karger ausfällt, als man dies von qualitativ vergleichbaren Werken der Malerei her kennt.12 Zahlreiche der ältesten Kupferstiche profilieren

9 Schmidt, Peter: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgrafik im 15. Jahrhundert. Köln / Weimar / Wien 2003 (Pictura et poesis. Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Literatur und Kunst. Hg. v. Ulrich Ernst, Joachim Gaus und Christel Meier 16), 12.14, 309–314. 10 Vgl.: Warnke, Martin: Geschichte der deutschen Kunst. 2. Bd.: Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 1400–1750. München 1999, 214–16; Hass, Angela: Two Devotional Manuals by Albrecht Dürer: The Small Passion and the Engraved Passion. Iconography, Context and Spirituality. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 62 (2000), 169–230; Nicolaisen, Jan: Einige Beobachtungen zur „Privatisierung“ des gedruckten Bildes im 15. Jahrhundert. Publikum und Gebrauch des Kupferstichs. In: Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Hg. v. Ulrich G. Großmann, Nürnberg 2000, 84–96; Noll (wie Anm. 4), 297–328; Heinrichs, Ulrike: Martin Schongauer, Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens. München / Berlin 2007, 31–49, 259 f., 268–274. 11 Vgl. Gombrich, Ernst: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung (Engl. Erst-Ausg. 1960). Übersetzung aus dem Englischen von Lisbeth Gombrich, Berlin 62002, 46 f. 12 Unter der plausiblen Grundannahme, dass der Zeichner und der Schneider des Holzschnitts nicht identisch sein müssen, konzediert die Kunstgeschichte dem Holzschnitt einen „Dualismus bei der Arbeit“. Wie für so viele arbeitsteilig erstellte Bildwerke des Mittelalters gilt aber auch in diesem Fall, dass keine formalen Brüche spürbar sind: Erfindung und Technik des Werks sind kaum zu

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Merkmale eines ausgeprägten Personalstils und werden daher gewiss zu Recht mit dem Prädikat des „Meisterwerks“ versehen. Mit ihrer ‚realistischen‘ Erscheinung ziehen sie mit führenden Beispielen der Malerei des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts gleich, so die Stiche des Meisters der Spielkarten, der den Dingen eine samtig glänzende Oberfläche zu geben vermochte, oder der Meister der Nürnberger Passion, dessen Verkündigung an Maria zu den ältesten Innenraumdarstellungen mit gerichtetem Licht gehört.13 Auf der anderen Seite explorieren die frühen Stecher die Suggestivkraft des blanken Papiers als Lichtgrund, perspektivischen Fluchtpunkt sowie hermeneutische Metapher für den jenseitigen Himmel und das unsichtbare Göttliche. Charakteristisch in diesem Sinne ist etwa der Stich zur Hl. Katharina vom Meister der Spielkarten, der den Moment der vorläufigen Errettung der Jungfrau vor der Hinrichtung darstellt (Abb. 4).14 Der Stecher hat die dicht zusammengedrängten Figuren mit energischer Hand spannungsvoll konturiert und geordnet, die überraschten Zeugen und Schergen in drastischer perspektivischer Verkürzung gegeben, die Protagonisten der Erzählung aber, die Heilige und den heidnischen Kaiser, frei gestellt und in den Vordergrund geschoben. Es hätte sich angeboten, das Eingreifen Gottes durch vom Himmel herabgehende Blitze darzustellen, wie in zahlreichen Bildbeispielen vorgegeben.15 Stattdessen spannt sich der leere Hintergrund trennen oder stehen miteinander im Einklang. Vgl. Friedländer, Max J.: Der Holzschnitt. Berlin / Leipzig ²1921, (Handbücher der Staatlichen Museen zu Berlin), 12–19. 13 Strasbourg, Archives départementales du Bas-Rhin. Vgl.: Lorentz, Philippe: Maître de la Passion de Nuremberg, Annonciation. In: Strasbourg 1400. Un foyer d’art dans l’europe gothique. Hg. v. Philippe Lorentz, Strasbourg 2008, 180, Kat. Nr. 37 (mit Abbildung). 14 Holger Jacob-Friesen erkannte hier zu Recht „eine der eindrucksvollsten Kompositionen aus der Frühgeschichte des Kupferstichs“. Die von Wolff vorgebrachten Zweifel bezüglich der Zuschreibung dieses Stichs an den Meister der Spielkarten sind sicherlich beiseitezulegen. Zwar wirkt das Bild dem Ausdruckscharakter nach kerniger als die Spielkartenfiguren; doch dürfte dieser Umstand mit der Andersartigkeit der Märtyrergeschichte zusammenhängen, auf deren Dramatik sich der Stecher so hervorragend einzustellen verstand. In jeglichen anderen Hinsichten ist die formalästhetische Übereinstimmung vollkommen. Hervorgehoben seien hier nur die hochplastische Wirkung der Figuren, die kräftigen Hände, das schimmernde Bildlicht, das aus der seidigen Textur der Dinge entwickelt ist, und das zum Blickfang ausgestaltete, schmückende Gewanddetail. Vgl.: Geisberg, Max: Das älteste gestochene deutsche Kartenspiel vom Meister der Spielkarten. Straßburg 1905 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 60); Geisberg, Max: Die Anfänge des Kupferstichs. Leipzig 1927 (Meister der Grafik 2); Von Buren, Anne H. / Edmunds, Sheila: Playing Cards and Manuscripts: Some Widely Disseminated Fifteenth-Century Model Sheets. In: The Art Bulletin 56 (1974), 12–30; Wolff, Martha Anne Wood: The Master of the Playing Card. An Early Engraver and his Relationship to Traditional Media. Phil. Diss., Yale 1979, VII und 21 f.; Anzelewsky, Fedja: Der Meister der Spielkarten. Der Meister E. S. und die Anfänge des Kupferstichs. In: Le beau Martin. Ausst. Kat., Colmar 1991, 113–123; Jakob-Friesen, Holger: Meister der Spielkarten (?), Das Martyrium der Heiligen Katharina. In: Große Landesausstellung Baden-Württemberg. Spätmittelalter am Oberrhein. Teil 1: Maler und Werkstätten 1450–1525. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Stuttgart 2001, 68, Kat. Nr. 10 (mit älterer Lit.). 15 Vgl.: Assion, P.: Katharina (Aikaterinê) von Alexandrien. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie. 7. Bde. Hg. v. Engelbert Kirschbaum, Rom / Freiburg u. a. 1968–1973, Bd. VII, Sp. 289–297, hier bes.: Sp. 294.

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Abb. 4: Meister der Spielkarten, Martyrium der Hl. Katharina, Kupferstich, Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 63624 D.

über dem berstenden Rad und den hilflos zu Boden stürzenden Menschen wie ein blanker Himmel, dessen allzu helles Licht den Urheber der Zerstörung der Foltermaschine verbirgt. Die Transposition der Licht- und Luftperspektive in den Kupferstich, die Jahrzehnte später Martin Schongauer realisierte, sorgte für die systematische Reduktion des Horizonts auf feinste skizzenhafte Chiffrierungen von Landschaft und Figürlichem. Auch die Entwicklung von profanen Bildthemen und die Etablierung des selbständigen Einzelbildes und eine gesteigerte Wertschätzung der „kleinen Form“ spielten eine Rolle bei der Entwicklung der neuartigen Darstellungsweisen, die es scheinbar darauf anlegen, das Konventionelle und vordergründig Repräsentative ikonischer und porträtartiger Darstellungen zu unterwandern. So wenden sich der junge Mann und die junge Frau in der in Leipzig aufbewahrten Silberstiftszeichnung des Meisters des Amsterdamer Kabinetts oder Meisters des mittelalterlichen Hausbuchs vom Betrachter ab und zeigen ihre jugendlichen Gesichter nur im verlorenen Profil (Abb. 5).16 In szenischen Erzählbildern oder Allegorien stellten sie keine Auffälligkeit dar, sie würden als Repoussoir-Motive oder als Illustrationen zeitgenössischer Modeattitüden bewertet werden. Als bildbeherr-

16 Leipzig, Museum der bildenden Künste, Grafische Sammlung, Inv. Nr. NI 30. Siehe Livelier than Life: The Master of the Amsterdam Cabinet or The Housebook Master, ca. 1470–1500. Compiled by J. P. Filedt Kok, introduction and appendices by K. G. Boom a. o. Rijksprentenkabinett / Rijksmuseum, Amsterdam 1985, 252, Kat. Nr. 122.

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Abb. 5: Meister des Amsterdamer Kabinetts, Jugendliches Paar, Silberstiftzeichnung. Leipzig, Museum der bildenden Künste, Graphische Sammlung, N I 30.

schende Figuren in der selbständigen Kunstform der Grafik eingesetzt, scheinen sie hingegen die grundlegendsten Merkmale abendländischer Bildkonventionen zu ironisieren. Die vorliegende Studie zielt auf die Charakteristik von Bildformen, die entwickelt wurden, um Prozesse der Verinnerlichung zu steigern und zu steuern.17 Der

17 Die theoretischen Prämissen dieser Phänomene, etwa die neuplatonisch geprägte negative Theologie spätantik-mittelalterlicher Tradition, die dogmatischen Parameter des Heiligen, des Jenseitigen oder der Eschatoi sowie die neueren Formen der Mystik sollen im Folgenden nicht vertieft werden. Jene lehrhaften Vorstellungen, die bildkünstlerischen Verfahren der Verinnerlichung von Bildern in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zugrunde liegen, die aristotelisch geprägte Seelenlehre bzw. das in der römisch-antiken Tradition der Mnemonik wurzelnde Konzept von der Interaktion zwischen Sinneswahrnehmung, Einbildungskraft oder Vorstellungsvermögen, Ableitung und Erinnerung, seien im Folgenden lediglich anhand von konkreten Referenzen in der formalen und ikonographischen Ausstattung der Werke aufgerufen. Die Bildverfahren Altdorfers etwa laufen – Bushart zufolge – auf einen Prozess der Diskursivierung des Bildgebrauchs hinaus, indem ältere Motive mit neuen Bildschöpfungen zur Reibung gebracht, Sehgewohnheiten gegen den Strich gebürstet und die Prinzipien und topischen Bildmetaphern aus mystischen oder philosophischen Denkschulen in Ansatz gebracht werden. So ermuntern die Bilder zum Einsatz der imaginatio, indem sie Leerstellen erzeugen oder durch eine ungewohnte Perspektive Erwartungshaltungen enttäuschen. Kritisches Potential entfalten die neuen Bildformulierungen insofern, als sie dem Betrachter eine Steigerung seiner geistigen Beteiligung gleichsam antrainieren und ihre spezifische künstlerische Verfasstheit

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Bereich der Druckgrafik wird besonders vertieft, wobei in zeitlicher Hinsicht weiter zurückgegangen und Entwicklungslinien bis auf die erste Hochblüte der Gattung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Dabei soll das Spektrum der kritischen Kategorien um eine Reihe von neuen Aspekten ergänzt werden. Im Fokus steht die Frage, wie diese Formphänomene der Vertiefung und Steuerung von Verinnerlichung sich zum Spektrum des mimetischen Handelns verhalten, an dessen Elle Wert oder Unwert des Kunstwerks üblicherweise bemessen werden – sei es ex negativo der Kritik an der Flüchtigkeit der Wiedergabe der äußeren Erscheinung der Dinge, sei es im Positiven der Eröffnung eines Prozesses der Hinführung zum Wesenhaften der Welt. Dem Thema der Tagung gemäß bleibt der Untersuchungsrahmen auf die Funktionsgeschichte der Kunst im religiösen Gebrauch beschränkt. Methodologisch liegt der Akzent auf der Interrelation der Formalausstattung der Bilder mit den historisch-anthropologischen Prämissen des religiösen Bildgebrauchs.18 Ein bislang noch wenig ausgewerteter Text, der im – etwa in die Jahre um 1480 zu datierenden – mittelalterlichen Hausbuch aus dem Besitz des Grafen zu Waldburg Wolfegg enthaltene Trakat über die Konstruktion eines künstlichen Gedächtnisses mit Hilfe von Bildern, bietet den Ausgangspunkt für eine neue Perspektive.

dabei ins Bewusstsein rücken. Bushart (wie Anm. 3). Siehe zu Forschungen oder Stellungnahmen zur Relevanz der Lehre von der Seele und der Sinneswahrnehmung für das Verständnis der Bildkunst des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit nördlich der Alpen auch Ringbom, Sixten: Icon to Narrative. The rise of the dramatic close-up in fifteenth-century devotional painting. Abo 1965 (Acta Academia Aboensis, Ser. A. Humaniora 13, Nr. 2), 17–19; Kolve, V. A.: Chaucer and the Imagery of the Narrative. The First Five Canterbury Tales. Stanford 1984, 20–58; Hamburger, Jeffrey F.: The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns: The Case of Heinrich Suso and the Dominicans. In: The Art Bulletin 71 (1989), 20–46; Richter Sherman, Claire: Imaging Aristotle. Verbal and Visual Representation in Fourteenth-Century France. Berkeley / Los Angeles / London 1995, 41; Belting, Hans / Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. München 1994; Heinrichs-Schreiber, Ulrike: Sehen als Anwendung von Wissen. Aussage und Wirkung der Bilder in Stephan Fridolins Schatzbehalter und bei Albrecht Dürer. In: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hg. v. Ludger Grenzmann, Klaus Grubmüller, Fidel Rädle und Martin Staehelin (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. Hg. v. d. Herzog August Bibliothek Bd. 16). Wiesbaden 2003, 49–104, passim; Heinrichs (wie Anm. 10), passim. Den im Folgenden ebenfalls berücksichtigten Konnex zwischen Bildkunst und Rhetorik erörtert ausführlich: Suckale, Robert: Die Erneuerung der Malkunst vor Dürer. 2 Bde. Petersberg 2009, Bd. I, 13–26, 430–433. 18 Die von Panofsky untersuchte und insbesondere auf den Kunstbegriff des Manierismus angelegte Frage, inwieweit der Künstler das Privileg der göttlichen Inspiration und des unmittelbaren Zugriffs auf das prototypisch Schöne im Inneren seiner Seele beansprucht, bleibt hier ausgeklammert. Innerhalb des hier behandelten Materials belegen nur die Werke und Schriften Dürers ein entsprechendes Selbstbewusstsein. Vgl. Panofsky, Erwin: Idea. A Concept in Art Theory. Transl. by Joseph J. Peake, Columbia 1968, 11–16, 119–123. – Den Anspruch auf eine höhere Form der Naturwahrheit konzediert die Forschung weiterhin auch Albrecht Altdorfer. Siehe Mielke (wie Anm. 7), 15; Wagner, Christoph / Jehle, Oliver (Hg.): Albrecht Altdorfer. Kunst als zweite Natur. Regensburg 2012, 15–17.

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Der anonyme Autor zitiert in einer recht freien Diktion Aristoteles‘ „Memoria et Reminiscentia“ sowie das im Mittelalter Cicero zugeschriebene Lehrbuch „Rhetorica ad Herennium“ und behauptet auch, Schriften des römischen Arztes Galen zu kennen. Die Kategorien und Motive des künstlichen Gedächtnisses, die imaginären Standorte (loci) in natürlichen oder gebauten Szenarien, in offenen oder geschlossenen Räumen, die Bilder oder Figuren (imagines), Abbilder (simulachra) und Eigenschaften (notae), die an verschiedenen Seiten und Gliedern eines imaginierten Hauses untergebracht werden sollen.19 Der anonyme Autor hat keineswegs nur Bilder bzw. bildhafte Imaginationen im Sinn, sondern auch Merkverse, und holt den Stoff an den Bildhaushalt seiner Zeit heran, indem er auf den Apostel Petrus mit dem Schlüssel (cum claui) und eine spektakuläre, unwahrscheinliche Handlung als Merkhilfe verweist.20 Manche der Bilderfindungen in den Planeten- und Genrebildern des Hausbuchs mögen ganz im Allgemeinen mit diesen Kategorien korrespondieren. Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang der Umgang des Autors mit der Kategorie der imitatio naturae als grundlegender Qualität der Kunst (ars) der Mnemonik: „Auf diese Weise vermag [kann, d. A.] die natürliche Erinnerung angeregt werden, was die Kunst nachahmen soll. Denn die Kunst ahmt die Natur nach, so gut sie es vermag. Jene einfache natürliche Erinnerung formt immer eine bestimmte Handlung des zu Behaltenden und dieses an einer bestimmten Stelle. Doch es gibt weder Anordnung noch Abfolge dieser Stellen und so bleibt die Vorstellung zerstreut, die hiermit durch die Kunst aufs Beste gefördert wird.“ 21 Imitatio naturae bedeutet im vorliegenden Fall die Nachahmung des natürlichen Vorgangs der Erinnerung, wobei der durch die imagines und loci erreichte Strukturierungseffekt die Überlegenheit des künstlichen gegenüber dem natürli-

19 Leng, Rainer: Der Auftakt zum Hausbuch: Mnemosyne. In: The Medieval Housebook / Das Mittelalterliche Hausbuch. Hg. v. Christoph Graf zu Waldburg Wolfegg. Bd. 2, München / New York o. D., 113–118. Zur Mnemonik der Rhetorica ad Herennium (III, 16–24): Hajdu, Helga: Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Amsterdam 1967, 22–25; Yates, Frances Amelia: The Art of Memory. Chicago 1966, 6–12. Zur geistesgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst und zur Erforschung dieser Thematik s. ferner: Berns, Jörg Jochen / Neuber, Wolfgang: Ars memorativa. Eine Forschungsbibliographie zu den Quellenschriften der Gedächtniskunst von den antiken Anfängen bis um 1700. In: Frühneuzeit-Info 3 (1992), 65–87; Berns, Jörg Jochen / Neuber, Wolfgang: Ars memorativa. Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Gedächtniskunst. Tübingen 1993; Lentes, Thomas: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. In: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Hg. v. Klaus Krüger und Alessandro Nova, Mainz 2001, 21–46. 20 Wenn der zu merkende Stoff mit einem Karren und einem Pferd zu tun habe, stelle man sich eine Figur vor, die das Pferd auf dem Kopf trägt und den Karren noch obenauf. Ebd., 13. 21 Vnde ars imitatur naturam, in quantum potest. Simplex ipsa naturalis memoria simper fingit certam operacionem reseruandorum et illam certo in loco; Sed locorum illorum non habetur ordo nec series ita diffusa noticia, cui hic extremum per artem datur subsidium. Zitat und Übersetzung: The Medieval Housebook / Das Mittelalterliche Hausbuch. Hg. v. Christoph Graf zu Waldburg Wolfegg. Bd. 2, München / New York o. D., 13–15.

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chen Gedächtnis gewährleistet. Diese Auffassung von Mimesis, die nicht „auf einer sinnlich gegebenen Ähnlichkeit“, sondern „auf einer intentionalen Konstruktion einer Entsprechung“ beruht,22 ist die in den philosophischen Diskursen des Mittelalters bedeutendere. Die hier angesprochene Form von Mimesis ist „Annäherung an ein Prinzip, nicht der sinnlose Versuch, ein Ding zu verdoppeln“.23 So scheint sie – durchaus in Übereinstimmung mit der von Platon initiierten Denktradition – von der Kritik am trugbildnerischen Charakter der Malerei unberührt zu bleiben. Sehr im Allgemeinen gesprochen und ohne einen direkten Zusammenhang zu präjudizieren, ist eine Analogie zu Leon Battista Albertis Traktat „De pictura“ und dessen Übertragung von inventio, compositio und memoria aus der Rhetorik auf die Malerei zu konstatieren.24 In beiden Fällen handelt es sich um gedankliche, literarisch vermittelte Konstruktionen, die bestimmten Zwecken dienen: Sie sollen den Leser oder Betrachter in seiner Wahrnehmung und seiner seelischen Disposition berühren, sie beanspruchen eine Qualität des Naturgemäßen und sollen – ein Akt der Nachahmung der Natur, nicht aber der vordergründigen Mimikry von Naturdingen – in Werken der bildenden Kunst nachgeschöpft bzw. adaptiert und entwickelt werden. Das besondere Interesse des mnemonischen Textes im Mittelalterlichen Hausbuch liegt darin, dass jene demiurgische Form von Mimesis, von Platon dezidiert nur an handfesten Gegenständen des täglichen Gebrauchs wie der Liege exemplifiziert,25 nun auch an einem gedanklich geprägten Konzept der Bildenden Kunst zu identifizieren ist. Ein zuverlässiges Kriterium der Abgrenzung des hier besprochenen Materials ist mit diesen Überlegungen nicht gewonnen. Ohnehin dürfte eine unkritische Auffassung von Mimesis als vordergründiger Naturalismus in der Kunstgeschichte wenig Anhänger finden. Dennoch verdient die Entdeckung hervorgehoben zu werden, dass Techné – als Nachahmung der göttlichen Idee in Bezug auf die Gesetzmäßigkeiten und Wirkungsweisen, nicht nur dem Augenschein nach – auch in grafisch oder malerisch erzeugten Bilder vorliegt, die der Hinwendung des Menschen zu Gott und der Seelenschulung als naturgemäßen Vorgängen und Prozessen entsprechen und die z u g l e i c h scheinhaft wirken können. Hier scheint ein Argument greifbar

22 Gebauer, Gunter / Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1992, 11. 23 Flasch, Kurt: Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst. In: Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus. Festgabe für Johannes Hirschberger. Hg. v. Kurt Flasch, Frankfurt a. M. 1965, 265–306, 270. 24 Alberti, Leon Battista: De statua. De pictura. Elementa picturae. / Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei. Hg., eingel., übers., und komm. v. Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin unter Mitarbeit v. Kristine Patz. Darmstadt 2000, 77 f., 265–275; Rudolf: Albertis Lehre über die Komposition als die Kunst in der Malerei. In: Archiv für Begriffsgeschichte (28) 1984, 123– 180, passim. 25 Golden, Leon: Platon’s Concept of Mimesis. In: The British Journal of Aesthetics 15 (1975), 118– 131.

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zu sein, um den Kunstbegriff in Bezug auf die lehrhaften und erbaulichen Funktionen von Bildern in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zu erweitern. In diesem Sinne schließen die im folgenden behandelten Bildwerke Platons Begriff der Techné mit ein, so meine These, und realisieren mimetisches Handeln auch gerade dort, wo sie zu ungewohnten Stilisierungen greifen oder Teile des altbekannten Bildinventars, z. B. Figürliches, zurückdrängen. Die folgende Darstellung gliedert sich nach drei, vorwiegend formalästhetisch und ikonografisch bestimmten, Gesichtspunkten: 1. Leerstellen und ‚Suchbilder‘; 2. Leere Räume, imaginäre Begegnungen; 3. Distanznahme, ‚umgekehrte Bedeutungsperspektive‘, hermeneutische Metaphern. Diese Optionen des autonomen grafischen Bildes der Jahrzehnte vor und nach 1500 schließen jeweils eine Vielzahl von bildhermeneutischen Strategien des Alludierens, Zum-Verschwinden-Bringens oder Verbergens ein, die im persönlich geprägten, dem Gebet im häuslichen Rahmen zugeordneten Bildgebrauch offenbar ihre besondere Berechtigung haben, und die in diachroner Perspektive – dies sei hier im Sinne einer Arbeitshypothese formuliert – aufeinander folgen und sich gegenseitig ergänzen. In Dürers Werk sowie teilweise auch bei seinen Zeitgenossen und Nachfolgern stehen sie schließlich in ihrer Gesamtheit zur Verfügung und bilden die Grundlage für eine immer radikalere hermeneutische Auswertung der künstlerischen Mittel der Grafik, bis hin zur Ausdeutung der grafisch erzeugten Linie als Metapher des Zum-Erscheinen-Kommens und Verschwindens der Dinge im Bild. Der Faden der Entwicklung ist in der Geschichte der Druckgrafik zurückzuverfolgen, da die Frage nach der ostentativ formulierten Grenze des Sichtbaren für die frühe Entwicklung dieser Gattung noch nicht explizit vertieft wurde. Neben Altdorfer bieten Werke Albrecht Dürers einen Fluchtpunkt an, da hier eine besondere Sensibilität für diese Problematik und ein spezifisches Reflexionsniveau zu erkennen sind, so dass sich Brücken zu textuell überlieferten Begriffen und Verfahren des kontemplativen Bildgebrauchs schlagen lassen. Besonders sprechend ist das Beispiel der wohl um 1500/1505 entstandenen Zeichnung im Musée des Beaux-Arts in Rennes (Abb. 6), die eine Ermahnung zur Zügelung der Gedanken bei der Messfeier gibt. Während zahlreiche Engel in liturgischen Gewändern anwesend sind, ist der Platz des Zelebranten vor dem Altar leer. An den Seiten des Psallierchors haben sich Geistliche zum Gebet versammelt. Anstatt vom Chorgestühl sind sie von einer Wolkenzone umhüllt, aus der Gedanken oder bildhafte Vorstellungen jedes Einzelnen in Gestalt von kleinformatigen Figuren hervorzuquellen scheinen. Die frommen Bilder sind in der Minderzahl. Mehrere Dämonen tragen den Geistlichen noch weitere Laster-Figuren zu. Die geistige Tätigkeit der Geistlichen wird aufgezeichnet – dies deuten der emsig ein Buch beschreibende Engel im Hintergrund und sein gehörnter Antipode an. Der Blick in dieses Bildgeschehen, das man als schematisch und plump-didaktisch bezeichnen müsste, wäre die Zeichnung nicht in allen Einzelheiten so vibrierend lebendig, geht über eine Gruppe von Engeln mit einer großen Schrifttafel, auf der kalligrafische Schnörkel großzügig verteilt sind und eine einzige

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Abb. 6: Albrecht Dürer, Ermahnung zur Zügelung der Gedanken bei der Meßfeier, Federzeichnung. Rennes, Musée des Beaux-Arts, Inv. Nr. 794.1.2533.

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lesbare Textzeile die Aufforderung formuliert: „Do schreibt hrein was ir wollt“. Den Schlüssel zu dieser Bildidee bietet ein Passus in Aristoteles’ Traktat „De anima“, der die Eigenschaften des Intellekts in einem bildhaften Vergleich verdeutlicht. Die intellektuale Seele sei wie eine „leere Schreibtafel, auf der noch nichts Wirkliches geschrieben steht“ und die dabei „keines der konkreten Objekte“ ist, „sondern [diese] nur der intelligiblen Form nach“ enthält.26 Mit Blick auf den paraliturgischen Kontext, der sich durch Dürers Zeichnung eröffnet „keines der konkreten Objekte“ ist, „sondern [diese] nur der intelligiblen Form nach“ enthält. – durch die Gegenüberstellung von frommen und lasterhaften Vorstellungen wird auf die Bedeutung des Bußsakraments für die Wirksamkeit der Eucharistie verwiesen – ist Thomas von Aquins Erörterung der Zusammenhänge zwischen der Sinneswahrnehmung und den Kräften der intellektualen Seele gemäß Aristoteles’ „De anima“ zu beachten. Während der Wille (zum Guten oder Schlechten) der Erkenntnis übergeordnet sei, und der Intellekt ohne die Sinneswahrnehmung zu keiner Erkenntnis gelangen könne, liege etwa in Bildern das Potenzial zur abstraktiven Umformung im Intellekt. Indessen ereignet sich Erkenntnis auch auf der Stufe des Intellekts nie im Sinne einer Wesenserfassung Gottes. Diese werde allein den Engeln sowie der erlösten Seele im Paradies zuteil. Im Zustand des sterblichen Lebens handele es sich lediglich um ein Hinstreben und Im-Werden-Begriffen-Sein. Wie die Schnörkel in der Tafel die Linie das verbindende Element der Bildmotive u n d der Schrift in dieser Zeichnung bilden, ohne doch im mindesten erkennbare Figuren oder Schriftzeichen auszuformen, so hat die intelligible Form des Göttlichen in der intellektualen Seele des sterblichen Menschen ihren Ort, ohne sich zur tatsächlichen Gotteserkenntnis zu konkretisieren.27 Dass auch die mäandernden Federstriche in Altdorfers Grafik, die den modernen Betrachter allemal mehr an Wolkenfiguren erinnern als an eine stereotype gotische Stilisierung, dem Beispiel Dürers gemäß unter dem Gesichtspunkt des Schnörkels als Metapher für die intelligible Form zu betrachten wären, sei hier lediglich im Sinne einer Arbeitshypothese angesprochen.

Das Kupferstichwerk des Meisters E. S.: ein wohl ausgestatteter ‚Bilderhaushalt‘ Wie bereits angedeutet, kann der Aspekt der selektiven Reduktion des zeichenhaften Motivbestandes und der perspektivischen Verkürzung nicht eingeführt werden

26 Aristoteles: Über die Seele. Gr. / dt., mit Einl., Übers. (nach W. Theiler) hg. v. Horst Seidl. Hamburg 1995 (Felix Meiner Philosophische Bibliothek, 476), 171. Siehe Heinrichs (wie Anm. 10), 47 f. 27 Thomas von Aquin: Summa theologiae, Bd. 11: Man. Latin text, English translation, Introduction, Notes, Appendices & Glossary Timothy Suttor, London 1970, S. 136 f., 160 f., 220–1225 (I a, q. 78,4, q. 79,4, q. 82, 2–13).

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ohne den Hinweis auf alternative Tendenzen in der frühen Druckgrafik. Gerade einer der produktivsten Stecher des 15. Jahrhunderts, der für die erste Hochblüte dieser Kunst repräsentative Meisters E. S., der etwa zwischen 1440/50 und 1467 am Oberrhein oder in der Nordschweiz tätig war,28 ist für diese Dimension der Bildgenerierung jedoch wenig offen gewesen. In großer Vielfalt begegnen in seinen Stichen Dinge und anekdotische Handlungen. Dabei scheint die Tiefenräumlichkeit des Sehbildes für den Meister E. S. eher eine unbequeme Bedingung der Erzeugung der bildnerischen Illusion darzustellen, die er zu überwinden sucht, indem er die Gegenstände sich spreizen und über die Bildfläche ausbreiten lässt. Die Figuren sind dem Betrachter meist zugewandt; häufig sieht man sich von mehr als einem Augenpaar unverwandt angestarrt.29 Auffällig disparat ist die Raumauffassung. In den meisten erzählenden Stichen ist das Terrain in mehreren bildparallel ausgerichteten Zonen weit in die Höhe gestaffelt und hinterfängt die Figuren wie ein kleinteilig gemusterter Teppich. Obwohl wahrscheinlich erst ab den 1450er Jahren aktiv, greift der Meister E. S. teils auf Motivkreise und Kompositionsmuster zurück, die bereits um 1420/30 entwickelt worden sind. Mit seinen flächigen Landschaftsgründen scheint er noch der Stilrichtung des vermutlich in Straßburg ansässigen Meisters des Frankfurter Paradiesgärtleins verpflichtet zu sein. Auf der anderen Seite wirken seine großen Einzelfiguren auffallend modern, etwa der Hl. Sebastian, der mit seinem Marterwerkzeug, dem Bündel Pfeile im Arm, als römischer Soldat auftritt; hier ist die Horizontlinie tief unter einen hohen Himmel gesetzt und überschneidet dabei die Gebäude der Stadt im Hintergrund, so dass der Blickwinkel geradezu als Froschperspektive empfunden wird und den Heiligen optisch vergrößert, zur Anbetung

28 Meister E. S.: Ein oberrheinischer Kupferstecher der Spätgotik. Staatliche Grafische Sammlung München / Kupferstichkabinett Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz 1986–1987. Hg. v. d. Staatlichen Grafischen Sammlung München, München 1986, 17 (ältere Lit. siehe dort); Anzelewsky (wie Anm. 14), 120; Höfler, Janez: Der Meister E. S. Ein Kapitel europäischer Kunst des 15. Jahrhunderts. Text- und Tafelband, Regensburg 2007. An den brillanten, sorgfältig ausgewählten Abbildungen in Höflers Tafelband lassen sich die herausragenden Qualitäten dieses Stechers besonders gut würdigen. 29 Siehe etwa die „Große Engelweihe von Einsiedeln“, datiert 1466 (Kat. Nr. 10. In: Spätmittelalter am Oberrhein. Große Landesausstellung Baden-Württemberg. Teil 1: Maler und Werkstätten 1450– 1525. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe-Stuttgart 2001, 68, 142, Nr. 60, ältere Lit. dort), oder die „Madonna mit der Rose“, die sich vor einem Altar in einer seltsam transparenten, an eine Hauskapelle erinnernden Architektur vor einer weiten Landschaft präsentiert. Letztere hat der Stecher im Hintergrund mit der Zahl 1461 bezeichnet. Er tat dies erst bei der Vorbereitung eines zweiten Zustands, während die Platte offenbar schon recht abgenutzt war. Der erste Zustand ist undatiert und lässt, wie Holm Bevers überzeugend argumentiert, auf Grund der stilistischen Ähnlichkeit mit Skulpturen aus den 1450er Jahren auf eine um einige Jahre frühere Entstehung schließen. Meister E. S.: Ein oberrheinischer Kupferstecher der Spätgotik. Staatliche Grafische Sammlung München / Kupferstichkabinett Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz 1986–1987. Hg. v. d. Staatlichen Grafischen Sammlung München, München 1986, 50 f. und 135; Höfler (wie Anm. 29), Bd. II, Abb. 78.

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ausstellt.30 Entscheidend für die perspektivische Prägnanz des Stichs ist eine Verwendung der Bildmittel, die von großem Zutrauen in die Suggestivkraft der grafischen Darstellung zeugt. Die Formen des Geländes sind auf wenige Linien reduziert, das blanke Papier bildet den Himmel, die Stadt erscheint wie tief unter den Horizont eingesunken. Auch in den erwähnten Erzählbildern mit ihren weitläufigen, als Weltlandschaften angelegten Hintergrundszenarien finden sich diese überschnittenen Gebäude und vereinfachten Bäume unter dem Horizont. Der Eklektizismus des Meisters E. S. mag sich durch disparate Eindrücke und Einflüsse erklären. Zugleich ist das vielschichtige und in Teilen anachronistische Stilbild jedoch auch als Symptom für die Verfasstheit der neuen Kunstgattung anzusehen. Ähnlich wie die Malerei und die Skulptur lieferte die Druckgrafik selbständige, marktfähige Bildwerke. Technisch und formal stand sie aber der Zeichnung als Medium des Entwurfs und des Motivtransfers am nächsten. Es ist daher naheliegend, dass der Kupferstich als Sammelbecken für ältere und neuere Beispiele aus den Musterreservoirs der Werkstätten fungierte und diese synthetisierte. Gerade die Auseinandersetzung mit den Konzepten des bildgestützten Gebets und des artifiziellen, visuell geprägten Gedächtnisses aber scheint bei der Entwicklung des Personalstils des Meisters E. S. eine besondere Rolle gespielt zu haben. Seinen erbaulichen Stichen ist eine aufzeigende Haltung eigen; dabei wird vom Betrachter eine rezeptive und imitierende, nicht eine imaginativ mitgestaltende Haltung erwartet. Das Bild jenes Betenden im Figurenalphabet, der sich von einem Engel den Kopf zurecht rücken läßt (Abb. 7),31 scheint diese Zielsetzung drastisch verdeutlichen zu wollen. Die der Offenbarung des Göttlichen inhärente Spannung von Präsenz und Absenz wird in den religiösen Stichen des Meisters E. S. nicht problematisiert, sondern vollzieht sich in einer permanenten Enthüllung. Die Heiligen sind vor den Vorhang getreten oder präsentieren sich in weit offenen Gehäusen, Fensternischen oder Toren.32 Die hier fassbare Topik der Raumbestimmung ist nur oberflächlich verwandt mit den von der kunstgeschichtlichen Erzählforschung untersuchten „Räumen der Maler“, die den Bildraum als Kraftfeld eines in Zeitstellen gegliederten Narrativs definieren,33 denn um die Entfaltung einer Handlung geht es gerade nicht. Selbst wenn das Bildpersonal in einer Bewegung begriffen ist wie in der Geburt Christi,

30 Vgl. Höfler (wie Anm. 29), Bd. I, 102. 31 Vgl. Meister E. S. (wie Anm. 29), 88, Kat. Nr. 113 u. 90–94, 196, Abb. 113; Wulst, Jürgen Alexander: Das Figurenalphabet des Meisters E. S. München 1999 (Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte der Universität München 73), 9 f., 89–93; Höfler (wie Anm. 29), Bd. II, Taf. 286. 32 Die klaffende, sich gleichsam nach vorne aus dem Bild ausstülpende Form des Raumgefüges ist ein beim Meister E. S. allenthalben anzutreffendes Muster. Die verschiedensten Szenarien sind diesem zugeordnet, etwa die Sacra Conversazione im Garten mit der Muttergottes auf der Rasenbank (L. 75) oder die thronende Gottesmutter unter dem Baldachin (L. 76). Vgl. Meister E. S. (wie Anm. 29), 130, Kat. Nr. 34 und 131, Kat. Nr. 36; Höfler (wie Anm. 29), Bd. II, Taf. 76. 33 Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, 12, 24, 146–151.

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Abb. 7: Meister E. S., Figurenalphabet – Der Buchstabe d, Kupferstich, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 356-1.

forciert die schematische Raumgliederung den Eindruck, die Figuren kämen gleichsam nicht vom Fleck. In die Gefache des Stallgebäudes und die Auffaltungen der Hügellandschaft gesetzt, bilden Ochse und Esel, die Hirten und die beiden Frauen ein übersichtlich gegliedertes Bildregister von sekundären Figuren, die der Heiligen Familie untergeordnet sind. Auch wenn der Stich eine gewisse Kenntnis des Weihnachtsbildes von Robert Campin im Musée des Beaux-Arts in Dijon erkennen lässt, so kann von einer stilistischen Abhängigkeit doch keine Rede sein.34 Während die Landschaft in Campins Gemälde trotz ihres Detailreichtums und ihrer Lichtfülle folienhaft wirkt und die Distanzen zwischen den Figuren unbestimmt bleiben, bringt der Stecher die Staffelung der Figurenformate ein, um Vorder-, Mittel-, und Hintergrund zu unterscheiden. Hinsichtlich der Auffassung der Tiefenillusion ist er von den älteren Vorbildern unabhängig und steht auf der Höhe seiner eigenen Schaf-

34 Ähnlich bereits: Hessig, Edith: Die Kunst des Meisters E. S. und die Plastik der Spätgotik. Berlin 1935, 3. – Vgl. auch Höfler (wie Anm. 29), Bd. I, 40–43, 54, Abb. 47 und Taf. 23. Höflers Annahme, dass die Verwandtschaft dieses Stichs mit dem etwa 1420/30 entstandenem Gemälde als Hinweis auf die frühe, etwa in die 1450er Jahre anzusetzende Werkphase des Meisters E. S. zu gelten habe, wäre zu überdenken.

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fenszeit. Dass die Figuren zugleich wie festgezurrt, ohne räumliche Bewegung erscheinen, ist eine gewollte Akzentuierung der Gesten des Anblickens und der Verehrung. Schauend durchmessen die Hirten und die Hebammen einen Bildraum, der sich ihnen nicht über Weg oder Steg eröffnet. Sie sind dadurch nachdrücklich auf ihre Rollen als Zeugen des Heilsgeschehens festgelegt und geben dem Benutzer des Blattes zugleich ein Spiegelbild der von ihm erwarteten kontemplierenden, auf Christus fokussierten Haltung. Für den Gebrauch dieser grafischen Blätter ist neben der grundlegenden Funktion der Heiligenbilder als Projektionen der Hoffnung des Gläubigen auf Vermittlung bei Gott das Konzept des exemplum pietatis leitend, unter der Maßgabe des Ideals der Imitatio Christi.35 Die Jungfrau Maria im Gebet (Abb. 8) mag als Fürbitterin für das Heil der Menschheit einstehen, sie ist aber auch als Beispiel für den Gebrauch der Utensilien der Liturgie im privaten oder familiären Raum zu verstehen. Ohne eine ursächliche Beziehung ableiten zu wollen, sei hinsichtlich der additiven und aufzeigenden Auffassung der dinglichen Motive auf die Ähnlichkeit mit den beiden, etwa in den 1470er Jahren in Nürnberg und Straßburg entstandenen illustrierten Gedichten oder Merkversen zum „Hausrat“ verwiesen, die als Ratgeber, Lehrmittel und Gedächtnisstütze für die Abkömmlinge der wohlhabenden Bevölkerungsschichten in Vorbereitung auf die Haushaltsführung fungierten. Die Möbel und Gerätschaften sind in Interieurs eingestellt, die sich wie Einblicke in die Kammern und Kellergewölbe eines großen Hauses geben.36 Ähnlich ist das ‚Gemach‘ der Maria ausgestattet „das typische wohlhabende Interieur eines Raumes der privaten Andacht“,37 wobei dieser Raum sich in auffällig großen Fenstern öffnet. Man wird nicht fehlgehen, für die eine wie die andere Variante der hier beobachteten Raumarrangements die erwähnte Gedächtniskunst und die mentalen Bilder von Gebäuden oder Gehäusen aufzurufen. Das sehende Erkennen, das die Stiche des Meisters E. S. erheischen, bezieht sich in erster Linie auf ein Klassifizieren und kombinatorisches Verknüpfen von Heiligenfiguren und gegenständlichen Motiven, die jenen attributiv zugeordnet sind.

35 Zur Inszenierung exemplarischer Frömmigkeit respektive Beispielen der Christusnachfolge Büttner, Frank O.: Imitatio pietatis: Motive der christlichen Ikonographie als Modell der Verähnlichung. Berlin 1983, 1–8; Schlie, Heike: Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch. Berlin 2002, 97–149. 36 Siehe Hampe, Theodor: Gedichte vom Hausrat aus dem XV. und XVI. Jahrhundert. Strasburg 1899, 5–17, 22–25. Die Drucke mit den Holzschnittillustrationen sind hier im Anhang als Faksimile reproduziert. Zur Gegenstandsdarstellung im sakralen Bild als ‚Aufhänger‘ für die imaginäre, quasisinnliche Teilhabe am Bildgeschehen oder als imaginativ vollzogener Dienst an Christus und den Heiligen, siehe Falkenburg, Reindert L.: The Fruit of Devotion. Mysticism and the imagery of love in Flemish paintings of the Virgin and Child, 1450–1550. Amsterdam 1994 (Oculi. Studies in the Arts of the Low Countries. Hg. v. Bert W. Meijer u. Rob Ruurs, Bd. V), passim; Lentes, Thomas: Die Gewänder der Heiligen – Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Gebet, Bild und Imagination. In: Hagiographie und Kunst. Hg. v. Gottfried Kerscher, Berlin 1993, 120–151, passim. 37 Nicolaisen (wie Anm. 10), 91.

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Abb. 8: Meister E. S., Die Jungfrau Maria im Gebet, Kupferstich, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 376-1.

Dabei scheint Naturbeobachtung für die Bildgenese gänzlich irrelevant zu sein – in Anbetracht der vielfältigen Berührungspunkte mit Werken des frühen Realismus in der Malerei und Skulptur ist dieser Aspekt bemerkenswert. Zugleich ist die Bildform fast ausnahmslos deiktisch bestimmt, möchte also auf spezifische Dinge der äußeren Welt verweisen, nicht etwa nur dekorativ in Erscheinung treten. Der Betrachter muss sich in die Bildsprache einsehen, um die stilisierten Motive als Requisiten einer hochartifiziellen, topisch konstruierten Fiktion wieder zu erkennen und einzuordnen. Insbesondere die Bildformulare der Einzelfigur und der Sacra Conversazione scheinen beim Meister E. S. jene gut belegte Ikonographie zum Themenkreis der sensitiven Seele, des Gedächtnisses und der Sinneswahrnehmung aufzugreifen, die die literarische Metapher vom beseelten Leib mit seinen Sinnesorganen als Haus

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mit Türen und Fenstern umsetzt.38 Eindeutige Beispiele dieses Typus finden sich in enzyklopädischen Handschriften, wobei das Gebäudemotiv hier stets weltlich bestimmt ist. So wird in der Allegorie der „Dame Gedächtnis“ in Richard de Fournivals „Li bestiaires d’amour“ eine wehrhafte Burg mit offenen Toren, darin je ein Ohr und ein Auge,39 und im Eingangsbild zum „liber XIX“ über das Sehen, Riechen und Schmecken in der französischen Übersetzung von Bartholomäus Anglicus‘ Wissenskompendium „De rerum proprietatibus“ ein prächtiges Haus mit den Werkstätten und Vorratskammern eines Malers und eines Pharmazeuten oder Alchemisten dargestellt.40 Es scheint naheliegend, die in analoger Weise auseinandergespreizten Gehäuse des Meisters E. S. als Adaptionen dieses Schemas zu verstehen, wobei die Butzenscheiben, Vorhänge oder Wandbehänge in den Fenstern die Metapher ex negativo des ostentativen Vorweisens der Sinnesorgane oder der wahrnehmbaren Gegenstände Anzeichen der Abkehr von weltlichen Dingen und der gesteigerten Konzentration auf die Heiligenfigur geben. Entsprechende Rollenvorbilder, Laien als Pilger und im Gebet vor dem Altar der Gottesmutter, stellt der mit der Jahreszahl 1466 bezeichnete Stich der Großen Madonna von Einsiedeln vor Augen.41 Die Übertragung des Bildschemas aus dem Feld des naturphilosophischen Wissens in den religiösen Bereich führt die Metapher auf ihre Wurzel zurück, denn sie lässt sich auf die Schrift „Moralia in Hiob“ Gregors des Großen und weitere Kirchenväter zurückführen, wobei der Konnex zwischen den Sinnen und der Seele auch als Differenzkriterium für den tugendhaften Christen gewertet wird. Ein mittelhochdeutscher Predigttext formuliert, dass die Augen der Kirchenväter gleichsam tu(o)be[n] venster seien, da sie nichts hindurch ließen, was den Menschen von Gott trennen könne.42 So ist das Werk des Meisters E. S. nicht nur reich an Handlungsanleitungen zum bildgestützten Gebet, was noch einer ausführlicheren Untersuchung bedürfte, sondern gespickt mit Hinweisen auf Schlüsselbegriffe der zeitgenössischen Diskurse um Wahrnehmung, Kontemplation und Erkenntnis, vorzugsweise gefasst in Gesten des Blicks und dinghaften Illustrationen von visuellen Metaphern der Sinneswahrnehmung und der vernunftmäßigen Erkenntnis. Punktuell scheint der Stecher auch über die Grenzen der sinnesmäßigen Erkenntnis belehren zu wollen; denn die leere Schreibtafel an der Wand neben dem Haupt der Maria, die die Augen geschlossen

38 Greg. Magn., Mor. XXI 2. Siehe Jacques-Paul Migne: Patrologiae cursus completes, Series Latina, 217 Bde. Paris 1878–1890, Bd. LXXVI, Sp. 189 f.; Schleusener-Eichholz, Gudrun: Das Auge im Mittelalter, 2 Bde. München 1985 (Münstersche Mittelalterschriften 35, I, II), Bd. II, 884 mit Anm. 190. 39 Paris, Bibl. Nat., Ms. fr. 1951, fol. 1 r. Siehe Richter Sherman (wie Anm. 18), 78, 79, Abb. 18. 40 Paris, Bibl. Nat., Ms. fr. 22532, fol. 217 v. Siehe Heinrichs (wie Anm. 10), 288 und Farbabb. 42. 41 Kat. Nr. 32. In: Meister E. S.: Ein oberrheinischer Kupferstecher der Spätgotik. Staatliche Grafische Sammlung München / Kupferstichkabinett Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz 1986–1987. Hg. v. d. Staatlichen Grafischen Sammlung München, München 1986, 44–46. 42 Schleusener-Eichholz (wie Anm. 39), 204 f.

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hat (Abb. 8), wird man auf den erwähnten Vergleich der intellektualen Seele mit der leeren Schreibtafel nach Aristoteles‘ Traktat „Über die Seele“ zu beziehen haben (vgl. Abb. 6). Für die Parallelsetzung der leeren Tafel des Intellekts mit der hohen Stirn der mit gesenkten Lidern in ihr eigenes Inneres schauenden Jungfrau mag die Vorstellung leitend sein, dass Maria auf Grund ihrer vollkommenen Reinheit, ähnlich wie die Engel, beständig im Zustand der wirklichen Einheit mit dem Vernunftmäßigen oder Göttlichen verharre.43 So lassen sich die künstlerisch adaptierten, suggestiv eingesetzten Topoi der Seelenlehre nicht erst in den Werken Dürers und seiner Zeitgenossen, sondern schon mehrere Jahrzehnte früher in der Druckgrafik identifizieren. Zumindest für den Meister E. S. gilt, dass dabei zugleich Qualitäten wie Fülle und Vielfalt des Gegenständlichen entwickelt werden. Mehrfach lassen sich Bezüge zu den Allegorien und Sammelbildern in illustrierten, didaktisch-enzyklopädischen Schriften nachweisen.

Leerstellen und Suchbilder – Martin Schongauer Auch das Werk Martin Schongauers (ca. 1445–1491), ab ca. 1469/70 entstanden, ist – neben süddeutschen Einflüssen – maßgeblich von der Wahrnehmung niederländischer Malerei und Skulptur geprägt und zielt dezidiert auf ‚malerische‘ Qualitäten und auf überzeugend wirkende, suggestiv ‚wahre‘ Adaptionen von Naturbeobachtung in das zunehmend virtuos gehandhabte Medium des Kupferstichs.44 Hierbei stellt sich Schongauers Umgang mit den Vorbildern als ausgesprochen analytisch dar. So lässt sich hier in der Verwendung von spezifischen Vorbildern und Materialien auch bereits eine Qualität des Diskursiven erkennen, wie sie Bushart u. a. an Werken Albrecht Altdorfers diagnostiziert hat. Bereits in den druckgrafischen Werken Schongauers kommt es zu einer gezielten Reduktion von Visibilität. Die diesbezüglichen Effekte sind von einer bezwingenden Wirksamkeit, wobei sie beim Betrachter für Überraschung sorgen und spezifische Fähigkeiten im Aufrufen und Kombinieren von erinnerten Bildern trainieren. Insofern diese Prozesse auf der Ebene der Bildkomposition eine subkutan wirkende syntaktische Logik voraussetzen, lassen diese gezielt erzeugten Leerstellen sich mit der rhetorische Figur der Auslassung, der detractio oder ellipsis, vergleichen.45 Demgemäß adaptiert Schongauer die illusionistischen Bilderfindungen der niederländischen Malerei und bearbeitet die

43 Thomas von Aquin: Summa Theologica, q. 79, 2. Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologica. Vollst., ungek. Dt.-lat. Ausgabe, Salzburg / Leipzig, Bd. VI, 150. 44 Nicolaisen, Jan: Martin Schongauer – ein Mitarbeiter der Werkstatt Hans Memlings? Zur Wanderschaft Schongauers und dem Einfluss der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts auf sein Werk. In: Pantheon 57 (1999), 33–46, passim. 45 Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik: eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 31990, §§ 690–691.

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‚ästhetische Grenze‘ des Bildes: Die Peripherie des Kupferstichs kann entweder durch eine detailreiche Gegenstandsdarstellung, wie in dem Stallgebäude der Geburt Christi (L. 5), quasi-tastbar nahe rücken oder, durch eine gezielte Reduktion des räumlichen Szenarios, auf einen Minimalabstand zum Betrachter gebracht werden, so in den beiden Halbfigurenbildern „Schmerzensmann zwischen Maria und Johannes“ und „Muttergottes mit dem Papagei“. Die radikale Reduktion der Fensternische, in der die heiligen Personen erscheinen, auf beleuchtete und verschattete Flächen wirkt hier wie das Aufziehen eines Bühnenvorhangs. Das hell wirkende Bildlicht, das wie aus dem Betrachterraum in den Bildraum fällt, unterstützt diesen inszenatorischen Effekt.46 Da die Figuren zugleich mit ausgeprägt plastischen Formen nach vorne treten, die haptische Qualität der Architektur aber unterdrückt wird, ist der Vordergrund wie eine Leerstelle oder ein klaffender Spalt zu erleben; der Einstieg in das Bild erfolgt nicht wie das gemessene Überschreiten einer Schwelle, sondern steht gleichsam unter dem Druck von jäh aus dem Bildraum nach vorne tretenden Erscheinungen. Von diesen neuartigen Formen der figuralen Inszenierung abgesehen, sind in Schongauers Bilderzählungen erstmals auch massive Eingriffe in die Ikonographie zu beobachten, indem ganze Figuren aus dem traditionellen Motivbestand herausgelöst und auf der Ebene der mentalen Verarbeitung, aus dem ‚Inventar’ des Bildgedächtnisses heraus, ergänzt werden. Dies kann eine Nebenfigur betreffen wie in der Großen Kreuztragung, wo das frontal gesehene, aus dem Bild gewendete Antlitz Christi an eine Vera Ikon erinnert, während die gesamte Bildsituation suggeriert, dass die Hl. Veronika aus dem Bild gewichen sei, um den Betrachter an die Stelle unmittelbar vor dem Erlöser treten zu lassen.47 Es kann aber auch tiefer in den Haushalt des Bildes eingegriffen werden wie im Stich des Todes Mariae (Abb. 9). Hier ist die Christusfigur, welche in der überwiegenden Anzahl der Beispiele dieses Bildthemas die Seele der Jungfrau entgegennimmt, nicht nur ausgelassen, die ellipsis wird als ein Verschwinden begreifbar, da in dem tiefen freien Raum am Fuß des Betts gleich mehrere Dinge erscheinen, die an Christus erinnern, so der für die Apostel merklich zu große Kreuzstab, der Bodenleuchter im Vordergrund und der Bettvorhang, der sich wie ein großer Mantel und in Andeutung einer beschützenden, einhüllenden Geste über Mariens Leichnam ausbreitet.48 Als erster Künstler hat Schongauer das Hell-Dunkel der Licht- und Schattenwerte in der Grafik der Auffassung vom sehend beteiligten Betrachter dienstbar gemacht, als erster überzeugende grafische Lösungen für die Aufgabe der Licht- und Luftperspektive gefunden. Der perspektivische Effekt der Auflösung des Hintergrun-

46 Siehe Heinrichs (wie Anm. 10), 231–237, 268–272. 47 Nicolaisen (wie Anm. 11), 91. 48 Vgl. Nicolaisen, Jan: Martin Schongauer: Die Entwicklung des Kupferstichs zur eigenständigen Kunstgattung, die Herausbildung der Plastizität als druckgrafische Kunstform und bildnerische Vorlage. Phil. Diss., Freiburg 1993, Microfiche-Ausg. 1995, 126; Heinrichs (wie Anm. 10), 318.

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Abb. 9: Martin Schongauer, Der Tod Mariens, Kupferstich, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 12-1885.

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des in minimale, skizzenhafte Umrissformen wird mitunter bereits als suggestiv wirkende Andeutung von Figuren und Szenen eingesetzt, so die drei Frauen im Hintergrund der Auferstehung Christi aus der Passionsfolge. Der Betrachter vermag diese undeutlichen Gestalten zu ergänzen dank der „[…]Gefilde und weiten Paläste des Gedächtnisses, wo die Schätze unzählbarer Bilder, welche die Sinne von allen möglichen Dingen aufgenommen haben, sich finden“, wie Augustinus in seinen Überlegungen zur Selbstbefragung und zur Gottsuche formuliert.49 Im Weihrauchfass, nach der Großen Kreuztragung der zweitgrößte Stich Schongauers, ist nicht nur das Objekt an sich in seiner ganzen feierlich inszenierten Köstlichkeit als Bildzeichen der Annäherung des Gläubigen an Gott relevant; selbst ein so beiläufig wirkendes illusionistisches Detail wie die Dunkelzone im Inneren des Gefäßes erweist sich als zeichenhaftes Element, ein Verweis auf die Unerreichbarkeit Gottes. Als weltweit einzige Sammlung bewahrt das Museum of Fine Arts in Boston ein vollständiges, mitsamt dem Plattenrand überliefertes Exemplar,50 welches belegt, dass Schongauer hier in der Tat auf die von ihm sonst regelmäßig eingesetzte rahmende Einfassungslinie verzichtete, wie um die Illusion eines unmittelbar mit den Händen zu greifenden Objekts zu erhöhen. Die beiden Reihen der Engel, die einfachen, in die Albe gekleideten Engel unten und die über und über gefiederten Seraphim oder Cherubim oben greifen Aspekte der Ikonographie der Engelshierarchie auf. Gemäß der Bildtradition würde diese freilich ein zentrales Gottesbild, eine Hl. Dreifaltigkeit, erfordern.51 Die Typik der Engelsscharen als Begleitmotiv einer Darstellung Gottes ist derart fest etabliert, dass der tiefe Schatten in der Mitte des Bildes unweigerlich den Gedanken an eine Verhüllung evoziert, gemäß den Prinzipien der „negativen Theologie“, wonach das Gottessymbol nicht affirmativ oder deskriptiv konstituiert sein soll, sondern auf die Unbegreiflichkeit Gottes zu verweisen hat.52

49 Augustinus: Confessiones, X, 8. Siehe Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Hg. v. Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987, 503. 50 Museum of Fine Arts, Boston, Kat. Nr. 32.531. Erwähnt in: Bartsch, Adam, Le peintre-graveur, 21 Bde., Wien 1803–1821, Bd. VI, Nr. 107; Lehrs, Max: Geschichte und kritischer Katalog des deutschen, niederländischen und französischen Kupferstichs des XV. Jahrhunderts. 10 Bde., Wien 1908– 1934, Bd. V, 360, Anm. 6. – Schmitt, Lothar: Ludwig Schongauer to Martin Schongauer (Hollstein’s german engravings, etchings and woodcuts 1400–1700, Bd. ILIX. Hg. v. Nicholas Stogdon), Rotterdam 1999, 217, Kat. Nr. 106 weiß nichts Genaues über dieses Exemplar. Zu Provenienz und Zustand des Bostoner „Rauchfasses“ ausführlich: Heinrichs (wie Anm. 10), 404. 51 Vgl. Heinrichs-Schreiber (wie Anm. 1), 408. 52 Einen Ausgangspunkt für die Deutung bieten die ursprünglich auf Griechisch verfassten, in mehreren lateinischen Übersetzungen weit verbreiteten und im späten Mittelalter vielfach auch in volkssprachlichen Texten verarbeiteten Schriften des Dionysius Pseudo-Areopagita. Mit Schongauers Bildidee scheint insbesondere das „göttliche Dunkel“ (caligo divina), eine zentrale Metapher der negativen Theologie, zu korrelieren. Grundlegend ist dies in dem Traktat „De mystica theologia“ erläutert, aber auch die für die Engelslehre und Engelsikonographie sowohl Byzanz‘ als auch des Westens hochbedeutende Schrift „Über die himmlische Hierarchie“ behandelt das „göttliche Dunkel“ ausführlich. Siehe Dionysius Pseudo-Areopagita: De mystica theologia, I, 3. Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l’Aréopage.

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Indem das Auge sich entlang der Fialen des Gefäßes aufwärts bewegt, stößt es in einer weiteren Schattenzone im Inneren des Rauchfasses auf winzig kleine, glänzend aufscheinende Weintrauben, ein Christus- und Eucharistiesymbol.53 Worauf es hier besonders hinzuweisen gilt: Wo die Strategie der selektiven Reduktion von Visibilität als Mittel der Dramatisierung in ein Verbergen und Zum-VerschwindenBringen umschlägt, geht es nicht nur darum, den Betrachter über seine sensitiven Seelenkräfte, also das Ableiten, Imaginieren und erinnernde Aufrufen alternativer Motive seines geistigen Bildhaushalts, mental zu beteiligen. Der hier stattfindende Umschichtungsprozess zielt weder auf ein Vakuum der Bilderfahrung noch entfernt er die Grafik vom Anspruch, eine mimetische Kunst zu sein. Vielmehr werden Seherlebnisse von großer Intensität dargeboten, die durch Rekurrieren auf taktile oder olfaktorische Erfahrungen auch eine synästhetische Dimension erreichen. Das darstellende Bild begibt sich damit keineswegs seiner Leistungsfähigkeit, vielmehr verweist es auf den größeren Rahmen des bildlich und gegenständlich gestalteten ‚Haushalts‘ des kirchlichen Lebens, wie um diesen virtuell in das häusliche respektive private Umfeld hinein zu holen. Auffallend häufig werden Bestandteile der Kirchenarchitektur oder Objekte der Liturgie bildfüllend inszeniert, die den Kontakt mit Gott gewährleisten sollen. Dies zeigt sich nicht nur im großen Rauchfass, sondern auch im Marientod, wo der inzensierende Apostel wie beiläufig an den Rand und in den Hintergrund der Szene gerückt ist, das Gerät in seinen Händen aber gerade auf Grund der ausschnitthaften Darstellung an Bedeutsamkeit gewinnt (Abb. 9).54

Leere Räume – imaginäre Begegnungen – Meister W Die Muster der hieratisch geordneten oder um die dramatis personae kreisenden Szenarien figurenreicher Bildräume bilden den common sense einer bereits weitge-

Hg. v. Chevalier, 2 Bde., Brüssel 1937–1950, Bd. I, 577; Ders., De caelesti hierarchia, II, 3; II, 5. Ebd., Bd. I, 577, 605; Heinrichs (wie Anm. 10), 411. Zum Werk (Pseudo-)Dionysius Areopagitas und seiner Überlieferung siehe Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire. Hg. v. Marcel Viller, Paris 1932 f., Bd. III, Paris 1957, Sp. 268–270; Berschin, Walter: GriechischLateinisches Mittelalter. Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues. Berlin / München 1980, 48–56, 144–155. Zu seiner Engellehre: Tavard, Georges: Die Engel. Freiburg / Basel / Wien 1968, (Handbuch der Dogmengeschichte 2), 48 f. 53 Spätmittelalter am Oberrhein. Große Landesausstellung Baden-Württemberg. Teil 1: Maler und Werkstätten 1450–1525. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Stuttgart 2001, 68. 54 Spätmittelalter am Oberrhein. Große Landesausstellung Baden-Württemberg. Teil 1: Maler und Werkstätten 1450–1525. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Stuttgart 2001, 68; Heinrichs (wie Anm. 10).

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hend dem privaten Bildgebrauch und der Arbeit für einen freien oder zumindest teilweise offenen Markt gewidmeten grafischen Produktion, so meine These, um im Sinne einer Steigerung und Ausleuchtung ihrer Verfahrensweisen und Botschaften dekonstruiert und umgestülpt zu werden. Wie weit dabei auch bereits die Vorstellung, dass der Bildraum als virtueller Handlungsraum der Kontemplation auszuloten sei, virulent sein konnte, zeigt sich nirgends deutlicher als am Werk des Monogrammisten W mit der schlüsselförmigen Hausmarke (tätig ca. 1465 bis 1485).55 Visuelle Vorstellungen anzustoßen, ohne diese von vornherein inhaltlich zu konkretisieren, scheint hier das Ziel eines ungewöhnlichen Bildverfahrens zu sein, das aus der grafischen Praxis der Herstellung von Mustern und Plänen entstanden ist. Ohne dass sich der Künstler bildreformerischer Tendenzen verdächtig machte, scheint jeglicher erzählerische oder allegorische Zielpunkt der Darstellung umgangen zu werden. In dem in der kunstgeschichtlichen Literatur als „Kircheninneres“ 56 oder „Architekturdarstellung“ bezeichneten Stich (Abb. 10) gibt der dem decorum nach als Sakralarchitektur ausgewiesene Bildraum dem Auge eine Anzahl von Wegen vor.57 Der imaginäre Gang über die breite Treppe und über das auffällig platzierte Monogramm hinweg auf den Umgangschor scheint sich als primärer Einstieg in den Bildraum anzubieten, aber auch über die schmale Treppe auf der rechten Seite, hinter die Maßwerkbalustrade und in die seitliche Apsis hinein, auf ein hell erleuchtetes und ein im Schatten liegendes Fenster zu, scheint ein Aufstieg zu führen. Daneben wird das Auge auch entlang der Pfeiler und Fialen in die hohen Gewölbe und darüber hinaus an den Stumpf eines komplizierten Bündelpfeilers geleitet. Der Raum ist nicht nur bar jeder figürlichen Darstellung, er besitzt auch keine Ausstattung, wie sie ein Kirchenbau erwarten lässt und wie sie vergleichbare Szenarien in erzählenden Bildern zu zeigen pflegen, weder Altäre noch irgendeinen Bildschmuck. Der Stich stellt keine gebaute oder konstruierbare Architektur dar und lässt sich auch schwerlich als Vorschlag für ein erzählerisch ausgestattetes Interieur denken.58 Spätestens durch den Formatsprung zwischen der Halle und dem sockel55 Lehrs, Max: Der Meister W ___, ein Kupferstecher der Zeit Karls des Kühnen. Dresden 1895; Boerner, Wolfgang: Der Meister W ___. Leipzig 1927; Lehrs (wie Anm. 51), Bd. VII, 23 f., Thieme / Becker, o. A., Meister W mit dem Zeichen ___, Bd. XXXVII, 452; Krohm, Hartmut: Der ‚Modellcharakter‘ der Kupferstiche mit dem Bischofsstab und dem Weihrauchfass. In: Actes du Colloque „le beau Martin“. Etudes et mises au point. Actes du colloque au Musée d’Unterlinden. Colmar 1994, 185–208, hier: 200; Franke, Birgit / Welzel, Barbara: Die Kunst der burgundischen Niederlande. Eine Einführung. Berlin 1997, 217 f.; Karl der Kühne (1433–1477): Kunst, Krieg und Hofkultur. Historisches Museum Bern, Bruggemuseum & Groeningemuseum Brügge. Hg. v. Susan Marti, Till-Holger Borchert und Gabriele Keck, Bern 2008, 222 f., Kat. Nr. 50–52. 56 Lehrs (wie Anm. 51), Bd. VII, 1927, Nr. 65. 57 Krohm (wie Anm. 56), 200. 58 Die Vorliebe für suggestiv gegen den Betrachter geöffnete, aus hybriden Architekturelementen gebildete Bildräume lässt sich in der Malerei Burgunds bis in die Zeit um 1400 zurückverfolgen. Als eine mögliche Referenz für das Motivrepertoire des Stechers W mit der schlüsselförmigen Hausmarke nannte Boerner die Verkündigung an Maria im Flügelretabel Melchior Broederlams aus der Kartause Champmol bei Dijon (Dijon, Musée des Beaux-Arts). Zugleich wies er auf strukturelle Unter-

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artigen Aufbau trennt sich die Bildidee von jeglichen konkreten Erfahrungen an gebauten Architekturen und gibt sich als Konstrukt der Phantasie zu erkennen. Selbst die eingangs erwähnten Kircheninterieurs Albrecht Altdorfers sind realistischer. Bei genauerem Hinsehen sind freilich eine Reihe von Übereinstimmungen mit den phantastischen Raumfluchten des Meisters W zu bemerken, die auf eine Analogie der Bestimmung und des Gebrauchs hindeuten. Auch bei Altdorfer führt eine Sichtachse in das Presbyterium; die labyrinthische Raumanordnung beschäftigt das Auge, und durch Betonen des Gegliederten, Gestuften und aufwärts Führenden der architektonischen Form wird dem Betrachter eine devote Haltung nahegelegt. Man wird daher nicht fehlgehen, im einen wie im anderen Fall auf eine Primärfunktion als Andachtsbild 59 zu schließen. In ihrer exquisiten künstlerischen Ausgestaltung und ihrer fesselnden Wirkung sind die gestochenen Architekturen des Meisters W am ehesten den gemalten Nischenarchitekturen und Skulpturenportalen in der zeitgenössischen Sakralmalerei verwandt. Eine vergleichbare Erfahrung von Nähe und exquisiter stofflicher Präsenz bietet etwa van der Weydens „Muttergottes in der Nische“ in der Fundación Colección Thyssen-Bornemisza in Madrid 60 auf Grund einer ähnlich virtuosen, miniaturhaften Darstellungsweise und einer ähnlich dramatischen Lichtregie. Die Gegenüberstellung mit dem kleinformatigen Marienbild zeigt zugleich nur einmal mehr, wie provokant und rätselhaft das Fehlen des Figürlichen in der bildhaften Darstellung der Sakralarchitektur wirkt. In Rogiers Täfelchen scheinen selbst die Schlagschatten der Figuren inhaltlich bedeutsam zu sein, indem sie die als Statuetten dargestellten Propheten („Schatten Christi“) mit Maria und dem Kind in eine Beziehung

schiede hin, ohne freilich die Zielsetzung und Funktionsweise der Stiche genauer fassen zu können: „Der Raum auf diesen Bildern [Broederlams, Anm. d. Verf.], ein festgefügter, realistischer Kirchenraum, ist ein unbedingtes Strukturelement des ganzen Bildes. (…) man kann sagen, der Raum auf diesen Bildern schafft erst das Bild. Die Räume des Meisters W aber haben eine solche Funktion nicht. Es sind keine realistisch gebauten Kirchenräume, die an sich Probleme bergen, wie die neue Kunst sie sucht und braucht, und sie sind auch nicht geeignet Strukturelemente der neuen Bildgestaltung zu sein. In ihrer Bildung sind sie ihrem Wesen nach ganz mittelalterliche, manierierte Zierräume, die mit dem neuen Geist, der die damalige Tafelmalerei erfüllte, ihrer Gesinnung nach nichts zu tun haben. Auch da, wo man sie in der Malerei noch suchen könnte, als Szene etwa für Anbetungsdarstellungen im Freien, wird man sie niemals finden. Der neue Geist des Realismus und Naturalismus schafft ganz andere Formen.“ Boerner (wie Anm. 56), 26. 59 Der Begriff ‚Andachtsbild‘ ist mittlerweile bis zur Unbrauchbarkeit allgemein geworden. Zur Abgrenzung einer dritten Funktion des christlichen Bildes neben dem Erzählbild und der Allegorie, wie ehedem von Erwin Panofsky vorgesehen, taugt er nicht mehr. Dennoch scheint er an dieser Stelle angebracht, um das selbständige religiöse Bild im privaten Bildgebrauch bzw. in der Adressierung des Einzelnen im Rahmen des kirchlichen Lebens zu bezeichnen und von Studien von Architekturen als solchen abzugrenzen. Vgl.: Panofsky, Erwin: Imago Pietatis. Ein Beitrag zur Typengeschichte des „Schmerzensmannes“ und der „Maria Mediatrix“. In: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60. Geburtstage. Hg. v. E. A. Seemann, Leipzig 1927, 261–308.; Noll (wie Anm. 4). 60 Entstanden wohl um 1433/35. Eisler, Collin: The Thyssen-Bornemisza Collection. Early Netherlandish Painting. Stuttgart 1989, 62–73, Kat. Nr. 4.

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Abb. 10: Meister W, Architekturdarstellung, Kupferstich, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 181-1881.

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setzen.61 Die Bilderfindungen des Meisters W bieten dagegen keine vergleichbare Auflösung in zeichenhaft-heilsgeschichtliche Zusammenhänge. Anders als in Schongauers Stichen, die mittels der Lichtführung auf erzählerische oder symbolhafte Inhalte verweisen, bleibt das Hell-Dunkel der artifiziellen Raumgebilde semantisch unbestimmt. Unter den mit dem Buchstaben W und der schlüsselförmigen Hausmarke gekennzeichneten Blättern, die ein in den frühen 1470er Jahren im Umfeld von Herzog Karl dem Kühnen tätige Stecher wohl unter Beteiligung von mehreren Mitarbeitern hergestellt hat, finden sich nicht weniger als 33 selbständige Darstellungen von Architekturen, Goldschmiedewerken und anderen Kunstobjekten. Weiterhin hat dieser Meister vier Ornamentstiche des Meisters E. S. überarbeitet, mit seinem Zeichen versehen und neu herausgegeben. Der Stil der Ranken und des ‚Bortenwerks‘ des Meisters E. S. hat den Meister W in der Formensprache seines Ornaments insgesamt beeinflusst, doch ist er deutlich auch dem Architekturornament des Flamboyant-Stils französischer und burgundisch-niederländischer Prägung verpflichtet. Es handelt sich um das bei weitem größte und zugleich künstlerisch reichste Corpus von sogenannten Musterstichen oder Modellen für die Bildproduktion aus dem ersten Jahrhundert der Druckgrafik.62 Einige der figürlichen Blätter aus der Werkstatt dieses Meisters, so die „Große Madonna mit Apfel im Gehäuse“ und die Apostelserie, von der sich nur vier Figuren erhalten haben,63 belegen zugleich, dass sich die Ornamentideen durchaus auch für eine auffällige Inszenierung der Heiligenfigur im selbständigen Bild einsetzen ließen, ähnlich wie in den ‚Häusern der frommen Seele‘ des Meisters E. S. Die Eigenart des Bildverfahrens des Meisters W zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit Martin Schongauers Bischofsstab (um 1480/85) (Abb. 11, 12), der seine bildhafte Qualität wesentlich aus der hochlebendigen Figurendarstellung, den Heiligen am Nodus und der Muttergottes mit dem nackten Christuskind und musizierenden Engeln in der Nische bezieht.64 Das Fehlen jeglicher Figuren oder dinglicher Bildzeichen an dem Stich des Meisters W ist beileibe nicht nur eine Beiläufigkeit, sondern wird als willentliche Auslassung einer Sache und zugleich als Spiel mit der Intelligenz und Bildkompetenz des Betrachters inszeniert. Ohne dem Stecher eine entsprechende theoretische Disposition zu unterstellen, ist auf die strukturelle Verwandtschaft mit der suspendierenden detractio, der gezielten Wortauslassung ge-

61 Siehe Stoichita, Victor I.: A Short History of Shadow. London 1997, 85. 62 Alle maßgeblichen Daten zum Zustand und zur Rezeption der Stiche (Verwendungen als Buchschmuck, Kopien und Zitationen) hat Max Lehrs bereits in seiner Monographie zu diesem Stecher zusammengestellt. Zusätzlich zu den dort verzeichneten 77 Stichen konnte Lehrs in seinem „kritischem Katalog“ vier weitere benennen. Lehrs (wie Anm. 51), passim; Lehrs (wie Anm. 51), Bd. VII, 23–26. 63 Lehrs (wie Anm. 51), Bd. VII, Nr. 5 („Große Madonna mit Apfel im Gehäuse“), Nr. 10–14 (aus einer Folge der Zwölf Apostel); Krohm (wie Anm. 56), 199, Abb. 14 („Jacobus minor“, L. 13). 64 Heinrichs (wie Anm. 10), 399–403.

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Abb. 11: Meister W, Bischofsstab, Kupferstich, Wien, Albertina, Inv. Nr. DG 1928/390.

mäß den Ausdrucksmöglichkeiten der Rhetorik, hinzuweisen.65 In beiden Stichen liegt der Augenpunkt auf dem Nodus, an Schongauers Bischofsstab ist die Muttergottes mit den Engeln in leichter Untersicht gegeben, beim Meister W aber ist der Übergang zu den von unten gesehenen Nischen und Baldachinen stark verkürzt. Gegenüber dem leeren Stellplatz in der Krümme blickt der Betrachter also steil in die Höhe. Im Vergleich zu den kompakten Arrangements der dekorativen Elemente an Schongauers Bischofsstab sind die Ornamente im Stich des Meisters W ihren unterschiedlichen Kategorien nach deutlicher auseinandergelegt: die züngelnden und sich zerfasernden Blattformen, die das blanke Papier als Negativform mit sprechen lassen, und die geschlossen und struktiv wirkende Architektur, die den Stellplatz einer nicht vorhandenen Figur darstellt. Der Abstand im Format zwischen dem Nodus und der Krümme ist hier deutlicher ausgeprägt. Während die Konsole und der Baldachin die Aufmerksamkeit durch köstlichen Detailreichtum fesseln und den Blick entlang der Mittelachse aufwärts ziehen, bilden die in zwei Ebenen angeordneten Maßwerkkränze im Inneren der Krümme eine vibrierende Gegenlichtzone, die wie ein blanker Spiegel die Vorstellung eines Bildes im Bild auf sich zieht, ein Gedanke, der mit Vehemenz ins Leere läuft und dabei unweigerlich den Eindruck eines Verschwindens erzeugt.

65 Vgl. Lausberg (wie Anm. 46), 346 f.

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Abb. 12: Martin Schongauer, Bischofsstab, Kupferstich, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 608-1.

An der grafischen Kunst des Meisters W hat Hartmut Krohm einen „Spielraum der Entfaltungsmöglichkeiten über den engeren Begriff von Statue und Tabernakelnische hinaus“ beobachtet. Vom älteren Forschungsstand ausgehend, der die nichtfigürlichen Blätter noch wesentlich als Ornamentmuster ansah, entwickelte er unter der Bezeichnung „Modellcharakter“ einen gegenüber den praktischen Zielsetzungen der Entwurfszeichnung erweiterten Begriff der Relation des gestochenen Bildes zum dargestellten Kunstgegenstand. Dieser Ansatz ist sicherlich berechtigt, vermag doch das Ornament in Abwesenheit der Heiligenfigur oder von allegorischen DingMotiven ein gesteigertes Ausdrucksspektrum zu entfalten.66 Trotz ihrer scheinbaren Selbständigkeit als grafische Bilder eigenen Rechts entsprechen die Stiche des Meisters W durchaus den zeichnerischen Architektur- oder Goldschmiedeentwürfen des späten Mittelalters, insofern diese häufig gerade nicht die pragmatischen Anforderungen einer technischen Zeichnung bedienen, sondern auf eine ausdrucksstarke illusionistische Vorstellung vom künftigen Werk abzielen. Gotische Architektur-

66 Krohm (wie Anm. 66), 119 f.

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Abb. 13: Meister W, Kleinarchitektur (Mittelschrein eines Flügelretabels), Kupferstich, beschnittenes Exemplar, Ashmolean Museum of Art and Archaeology University of Oxford, Inv. Nr. WA.OA 1441.

zeichnungen dienten nicht durchweg nur den pragmatischen Anforderungen an einen technischen Bauplan, sondern konnten ebenso auch fiktional angelegt sein. Den ästhetischen Strategien moderner Wettbewerbsentwürfe vergleichbar versuchten sie, dem in bautechnischen Fragen unerfahrenen Entscheidungsträger eine bildhafte Vorstellung des künftigen Bauwerks zu geben, um ihn für das Projekt einzunehmen.67 Dabei dekonstruieren die Stiche des Meisters W mit erstaunlicher, geradezu dogmatischer Zielsicherheit die Strukturelemente von komplexen sakralen Bildsystemen wie z. B. von Altarretabeln (Abb. 13). Register werden unterschieden, Achsen sowie symmetrische Entsprechungen und Spiegelungen werden ausgebildet, ein Rastersystem, das dazu gemacht ist, Bilder einander zuzuordnen und Beziehungen zu stiften. Die Prinzipien der Überhöhung und Zentrierung insbesondere verweisen auf den hieratischen Grundzug, der liturgische, bildgeschmückte Objekte in der Regel auszeichnet. Indessen ist nicht zu übersehen, dass sich die Motivik des Ornaments im Einzelnen dem Repertoire von stilisierten Pflanzenornamenten aus

67 Recht, Roland: Le dessin d'architecture: origine et fonctions. Paris 1995, 5–12; Klein, Bruno: Der Fassadenplan 5 für das Straßburger Münster und der Beginn des fiktiven Architekturentwurfs. In: Form und Stil. Festschrift für Günther Binding zum 65. Geburtstag. Hg. v. Stefanie Lieb, Darmstadt 2001, 166–174, hier: 172.

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dem frühen Kupferstich anschließt. Insbesondere den Ornamentstichen des Meisters E. S. ist der Meister W verpflichtet. Dass er sie kannte, ist nachweisbar, da er mehrere der zugehörigen Platten überarbeitet und mit seinem eigenen Monogramm versehen hat, um aus diesem Material eine Neuauflage herzustellen.68 Um die Pracht des gotischen Ornaments in seinen vielfältigen technischen Umsetzungen an Objekten aus Stein oder Metall vorzuführen, eignen sich die Stiche im Grunde nicht. So vermag das Konzept vom „Modellcharakter“ in Bezug auf die Vielfalt des gotischen Ornaments die Darstellungsabsichten des Meisters W zumindest nicht vollständig zu erklären. Für die Erzeugung einer kontemplativen Wahrnehmungsweise ist nicht zuletzt auch die virtuose Stichtechnik verantwortlich. Die Schraffur erzeugt nicht nur ein lebhaftes Hell-Dunkel, sondern scheint sich auch auf Bearbeitungen der Metallflächen wie Gravuren oder Punzierungen zu beziehen. Auf eine chiffrierte, zugleich aber auch hochsensualistische Weise wird an eine Vergoldung erinnert, wie sie die Gestalt niederländischer Schnitzretabel dominiert, so z. B. am Schrein des Brüsseler Passionsaltars aus der Stiftung von Claudio Villa und Gentina Solaro (um 1470/ 80),69 ohne dass man von einer Abbildung eines solchen Gegenstands im eigentlichen Sinne sprechen könnte.70 Der Abwechslungsreichtum der Strukturen fesselt den Blick und regt mit dazu an, die Räume gleichsam abzutasten, die sich gähnend öffnen, dabei den Illusionismus der gebauten Altarretabel bei weitem überzeichnen und den Betrachter in eine Situation des unmittelbaren Involviertseins einbinden. Insofern die Bilder dem Betrachter eine adorierende und kontemplierende Haltung nahelegen, dabei jedoch keinerlei Anhalt für ein spezifisches Thema bieten, erzeugen sie einen Erwartungsdruck, wobei Empfindungen von Mangel und von Fülle miteinander konkurrieren, bindet die Gegenstandsdarstellung in ihrer Raffinesse und ihrem Erlebnisreichtum die Aufmerksamkeit doch nicht weniger als figurenreiche erzählende Stiche. Diese ‚pseudo-ikonische‘ Darstellungsweise schafft einen Freiraum für Assoziationen, der semantisch offen ist und über dessen Festlegung die Interessen des Käufers entscheiden. Die Bilder tragen die Eigenschaft vor sich her, etwas darzustellen, was es nicht gibt, aber doch geben könnte. Dies kann auf den Plan zu einem Kunstauftrag bezogen werden, ohne dass die Entscheidung für ein bestimmtes Thema vorweggenommen wird, oder sie kann Raum geben für die innerliche Kontemplation frei auswählbarer Heiligenbilder. Semantische Offenheit zu erzielen mochte dem Stecher als vorteilhaft erscheinen, falls er, was zu vermuten ist, zumindest teilweise einen Verkauf auf dem freien Markt anvi-

68 Siehe Boerner (wie Anm. 68), 24 f. 69 Brüssel, Musée du Cinquantenaire. Vgl.: Jezler, Peter: Niederländische Altarretabel für italienische Bankiers. In: Ausst. Kat. Karl der Kühne (1433–1477): Kunst, Krieg und Hofkultur. Historisches Museum Bern, Bruggemuseum & Groeningemuseum Brügge. Hg. v. Susan Marti, Till-Holger Borchert und Gabriele Keck, Bern 2008, 238–241, Abb. 95. 70 Dies konzedierte schließlich auch Boerner auf Grund akribischer Vergleiche unter Hinzuziehung der seinerzeit bekannten niederländischen Schnitzretabel. Boerner (wie Anm. 67), 20–23.

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sierte. An große Auflagen wird man dabei freilich nicht denken dürfen. Von den 33 Ornamenten und Kunstobjekten ist annähernd die Hälfte als Unikum erhalten, die übrigen sind in zwei oder drei Exemplaren überliefert. Auffällig ist auch, dass die Qualität der Abzüge fast ausnahmslos vorzüglich ist. Drei der fünf von Lehrs als weniger hochwertig bezeichneten Abzüge stammen von einem Erstzustand der Platte, der überarbeitet und dabei verbessert wurde.71 Es handelt sich also nicht um Abzüge von der abgenutzten Platte, sondern um missratene Probedrucke. Dieser Befund ist möglicherweise kein Zufall; er könnte als Hinweis zu werten sein, dass der Stecher bewusst hinter den in der Forschung für den frühen Kupferstich vermuteten Durchschnitts- oder Maximalauflagen zurück blieb.72 Zur massiven Verbreitung des burgundisch-niederländischen Regionalstils werden die Stiche des Meisters W daher eher wenig beigetragen haben.73 Dass es dem Stecher um Bilder von exklusivem, virtuosen Charakter gegangen ist, nicht um ein Massenprodukt, ist weiterhin an zwei Kriterien festzumachen: Zum einen verwendete er in vielen Fällen wohl eine weichere Legierung als Kupfer, etwa Zinn,74 zum anderen stellte er gerne zwei oder mehr Zustände her, arbeitete sich also über mehrere Stufen an das Endprodukt heran. Nur bei einer Beschränkung der Stückzahl ließ sich gewährleisten, dass die bildhafte Qualität der Stiche nicht verlorenging. Hinzu kommt, dass nicht wenige der Stiche stilistische Abweichungen oder Brüche aufweisen. Der Meister, der das markante Monogramm vorgab, scheint mehrere Mitarbeiter beschäftigt zu haben. Insgesamt spricht die Befundlage für ein aufwändiges und recht wertvolles Produkt, das sich an anspruchsvolle Abnehmer richtete und mit anderen selbständigen Bildern mit geläufigeren religiösen oder allegorischen Themen in Konkurrenz treten sollte.

71 In ihrer Eigenschaft als studentische Hilfskraft am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin war Klara Groß mir bei der quantitativen Auswertung von Max Lehrs’ Beobachtungen im Katalog der Stiche des Meisters W behilflich. Dafür sei ihr an dieser Stelle herzlich gedankt. 72 Von Auflagen von bis zu mehreren Hundert Blatt ist die Rede, aber auch mehrere Tausend Exemplare werden für möglich gehalten. Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Monographie. Petersberg 2004, 32. 73 Vgl. Welzel, Barbara: Niederländische Kupferstiche des 15. Jahrhunderts. In: Die Kunst der burgundischen Niederlande. Eine Einführung. Hg. v. Birgit Franke und Barbara Welzel, Berlin 1997, 217 f. 74 Diese Beobachtungen betreffen den Baldachin L. 62 und die „gotischen Blätter“ L. 46 und 51. Lehrs (wie Anm. 56), 3. Die Verfasserin konnte an der Binnengliederung und in den Bodenkacheln im Berliner Exemplar der „Architekturdarstellung“ eine weiche, wie getupfte Form des Strichs erkennen, die wohl ebenfalls auf ein weicheres Material der Platte hinweist. Vergleichbare, an eine Radierung erinnernde Effekte wurden an den Stichen des Veit Stoß beobachtet und entsprechend bewertet. Koreny, Fritz: Die Kupferstiche des Veit Stoß. In: Veit Stoß. Die Vorträge des Nürnberger Symposiums. Schriftleitung Reiner Kahsnitz, München 1985, 141–168, hier: 143.

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Distanznahme, ‚umgekehrte Bedeutungsperspektive‘, hermeneutische Metaphern – Albrecht Altdorfer, Albrecht Dürer Die zunehmende Geschicklichkeit der Stecher in der Bewältigung vielfiguriger Darstellungen und die Eignung des Mediums für die Herstellung von Bildfolgen führten die Druckgrafik rasch an das Feld der Bilderzählung heran, wobei die Kindheit Christi, die Passionsgeschichte und typologische Verknüpfungen zwischen Altem und Neuem Testamten gemäß dem „Speculum Humanae Salvationis“ in den ersten Jahrzehnten dominierten. Auch Altdorfers Interieurs der Regensburger Synagoge bestätigen implizit die eminente Relevanz des Erzählens in der frühen Grafik (Abb. 14–15). Im Lichte des Vergleichs mit den pseudo-ikonischen Stichen des Meisters W mit der schlüsselförmigen Hausmarke besehen, können sie nicht mehr als nüchterne, neutrale Bauaufnahme bewertet werden.75 Die artifizielle Ausleuchtung des Fußbodens im Kontrast zu den dunklen Wänden akzentuiert die Leere des Raums, während das Verstellen der Mittelachse durch die Säulen und die Abgrenzung des unteren Bildrands durch eine disproportional hohe, offenbar nicht leicht zu überschreitende Schwelle wie eine abwehrende Geste empfunden werden kann. Die Abwesenheit der jüdischen Zelebranten wird ereignishaft als ein Verschwinden spürbar, wobei eine perfide Bildlogik kein Mittel auslässt, um die Gewaltsamkeit des Aktes mit dem Anspruch auf Wahrheit im Sinne eines göttlich inspirierten Vorgangs zu verknüpfen. Die Inschriftentafel teilt mit der scheinbaren Faktizität eines Jahrbuchs mit, dass die Regensburger Synagoge im Jahr 1519 „gemäß dem gerechten Ratschluss Gottes von Grund auf zerstört“ worden sei („ANNO DNI XIX IVDAICA RATISPONA SYNAGOGA IVSTO DEI IVDICIO FUNDIT(v)S EST EVERSA“), der im Stich ansichtige Sakralraum also der Vergangenheit angehöre.76 Die zweite Radierung Altdorfers zum Thema der zerstörten Synagoge scheint den Bildgedanken der zuerst besprochenen zu ergänzen. Unverkennbar verstärken sich die beiden Stiche gegenseitig in ihrem chronikalischen Autoritätsanspruch. Jüdische Besucher der Synagoge sind zwar nun anwesend; trotz der nahsichtigen Präsentation des Raumes sind die Figuren aber perspektivisch in die Ferne gerückt. In der Inschrift wird der Zerstörungsakt lakonisch festgestellt, dabei werden der im Bild gezeigte Bauteil und das Datum präzise benannt: „PORTICVS SINAGOGAE IVDAICAE RATISPONEN(sis) FRACTA 21 DIE FEB. ANN. 1519“ („Vorhalle der jüdischen Synagoge zu Regensburg, abgebrochen am 21. Febr. 1519“).77 Die Dramatik der Bildstrategie beruht auf den komplementären Markierungen der Distanzierung in der

75 Vgl. Hauffe, Friederike: Architektur als selbständiger Bildgegenstand bei Albrecht Altdorfer. Weimar 2007, 109 f., 114. 76 Zitiert nach: Mielke (wie Anm. 7), 224, Kat. Nr. 117. 77 Ebd., 223 f.

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Abb. 14: Albrecht Altdorfer, Innenraum der Synagoge von Regensburg, Radierung, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 330-4.

Dimension der Zeitlichkeit und der Usurpierung des Ortes, wobei das Gebäude bezwingend als nicht nur materiell verschwundener Raum beschrieben wird, indem der Anspruch auf Ersetzung durch einen sowohl imaginär als auch liturgisch bespielten locus reminiscentiae erhoben wird. Die Autorität des Chronisten nimmt der Stecher für sich selbst in Anspruch, indem er sein Monogramm als zweiten Fixpunkt im Bild mit der Inschriftentafel verknüpft. Die Variation des Monogramms, das im Portikus (noch) unauffällig in den Fußboden integriert ist, suggeriert dieselbe Abfolge wie die Stringenz der Bauaufnahme. Der Blick in die Vorhalle ist das Erste, der Blick in das Innere der Synagoge das Zweite. Der Gang der Figuren durch den Bildraum verläuft gegenläufig zur Leserichtung des lateinischen Textes und adaptiert zugleich die Leserichtung der hebräischen Schrift – letzterer Gedanke sei hier mit einiger Vorsicht formuliert. Im Spiegel der Abfolge der loci innerhalb des Bildpaares führt der Gang der Figuren ins Leere, und so scheint auch das einzige gestische Moment in Altdorfers Bilderzählung das Unausweichliche und Abgeschlossene des erinnerten Ereignisses manifest machen zu sollen. Das Monogramm des sich selbst als Mitglied der christlichen Gemeinde Regensburgs ausweisenden Künstlers ebenso wie das Sechspassfenster im Hintergrund, das den Stern Davids in ein gotisches Ornament überführt, entsprechen dem Prinzip der typologischen Bibelexegese, derzufolge König David und sein Haus Christus und seine Kirche ankündigen. Die Haltungen der Distanz und der

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Abb. 15: Albrecht Altdorfer, Vorhalle der Synagoge von Regensburg, Radierung, Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett, 75-1896.

Inbesitznahme werden hier gleichermaßen manifest und bestätigen einander im Horizont der heilsgeschichtlich bedingten Interdependenz von Altem und Neuem Bund. Obwohl die Maße der Radierungen leicht abweichen, wird man die Blätter daher als Pendants verstehen dürfen.78 Ähnlich wie bereits in Nürnberg rund 150 Jahre zuvor wurde auch die Synagoge in Regensburg durch eine Marienkirche ersetzt, nachdem die Juden auf einen Beschluss des Rates der Stadt vom 21. Februar 1519 hin vertrieben worden waren.79 Es verwundert deshalb nicht, dass Altdorfer, was von der Forschung bislang übersehen wurde, sich mit seiner Strategie der Retrospektive in Bezug auf synagoga auf die künstlerisch avancierteste mariologische Grafik seiner Zeit bezogen hat, nämlich die unter der Bezeichnung „Marienleben“ bekannte Holzschnittfolge Albrecht Dürers. Deren größerer, 17 Blätter umfassender Teil entstand etwa zwischen 1502 und 1505 und wurde auch bereits als Bildfolge vertrieben und rezipiert, bevor Dürer ge-

78 Die bilderzählerisch plausible Anordnung stellte bereits Mielke vor, jedoch ohne ausdrückliche Begründung. Mielke (wie Anm. 7), 224 f., Kat. Nr. 115–116. Ältere Literatur siehe dort. 79 Hubel, Achim: „Die schöne Maria“ von Regensburg. Wallfahrten – Gnadenbilder – Ikonographie. In: 850 Jahre Kollegiatsstift zu den Heiligen Johannes Baptist und Johannes Evangelist Regensburg. Hg. v. Paul Mai, München u. a. 1977, 199–237, hier: 199–201.

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gen 1510 ein Titelblatt sowie je ein Bild zum Tod und zur Himmelfahrt Mariens hinzufügte, das Werk mit zwölf elegischen Distichen des Benediktiners Benedikt Schwalber, genannt Chelidonius, versah und im Jahr 1511 als Buch herausgab.80 In Altdorfers Darstellung der Synagoge erinnern das kontrastreiche Bildlicht, die Präponderanz der Säulen und Pfeiler und der Blick unter die Bögen und Gewölbe an die Innenansichten des Tempels in Dürers Marienleben. Mit den im Gegenlicht hell aufscheinenden Fenstern im Hintergrund scheint Altdorfer das von Dürer mehrfach eingesetzte und mit Vertretern des Alten Bundes respektive den jüdischen Schriftgelehrten verknüpfte Motiv des mondähnlich verschatteten Oculus-Fensters (Abb. 16) evoziert und im Sinne einer Fortschreibung der Chronik von synagoga bis in die Gegenwart der Stadt Regensburg hinein variiert zu haben. Die Wirksamkeit der durch das Mittelalter tradierten topischen Bezeichnungen der Relation des Alten und des Neuen Testaments als Gegensatz von Schatten und Licht oder von Verbergen und Enthüllen ist zu offensichtlich, als dass dies hier ausführlich kommentiert werden müsste. Die Autorin hat an anderer Stelle auf die antithetische Bildrhetorik des Marienlebens hingewiesen, die den Gedanken entfaltet, dass im Unrecht, das Maria und ihren Eltern Anna und Joachim von ihrem eigenen Volk widerfahren sei, Christi Passion bereits ihren Anfang nähme.81 Dürer knüpft hier an einen didaktisch durchstrukturierten Stoff aus der zeitgenössischen Predigt- und Erbauungsliteratur an. Demgemäß wird die Ankunft des Gottessohnes antithetisch als ‚Kleinwerdung des Allmächtigen‘ charakterisiert und die Jungfrau Maria mit ihrer Familie als in ihrem eigenen Volk verkannte und verleumdete Person beschrieben. Zur Parteinahme für das Haus des Erlösers wird der Betrachter durch die düsteren, im Verfall begriffenen oder mit heidnischen Bildern besetzten Bauwerke aufgefordert, wie auch durch die

80 Aus der umfangreichen Bibliographie zu Dürers Marienleben wird im Folgenden nur eine Auswahl von einführenden Titeln und Studien zu Spezialfragen zitiert. Meder, Joseph: Dürer-Katalog. Ein Handbuch über Albrecht Dürers Stiche, Radierungen, Holzschnitte, deren Zustände, Ausgaben und Wasserzeichen. Wien 1932, Nr. 188–207, 165–182; Panofsky, Erwin: Albrecht Dürer, Life and Work. 2 Bde., Princeton ³1948 [¹1943], 95–105, 138 f., Bd. 2, Nr. 296–315; Albrecht Dürer, 1471–1971. Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 21. Mai bis 1. August 1971. Hg. v. Hans Mielke, München 1971, 329 f., Kat. Nr. 601; Die Großen Bücher von Albrecht Dürer. Mit einem Nachwort und Erläuterungen von Horst Appuhn. Dortmund 1979, (die bibliophilen Taschenbücher), 108; Anzelewsky, Fedja: Dürer. Werk und Wirkung. Erlangen 1980, 61 f., 150; Albrecht Dürer. Das druckgrafische Werk. Bd. II: Holzschnitte und Holzschnittfolgen. Bearb. v. Rainer Schoch, Matthias Mende, Annette Scherbaum u. a., München / Berlin / London / New York 2002, 176–178 (mit ausführlicher Bibliographie). Zu Methode und Form der Textbeigabe siehe ferner: Arwed, Arnulf: Dürers Buchprojekte von 1511: Andachtsbücher für Humanisten. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 31 (2004), 145–174, hier bes. 152–154; Scherbaum, Anna: Albrecht Dürers Marienleben. Form – Gehalt – Funktion und sozialhistorischer Ort. Wiesbaden 2004; Albrecht Dürer – Marienleben. Vorwort: Rainer Schoch, Einführung und Kommentar: Anna Scherbaum, Übersetzung aus dem Lateinischen: Claudia Wiener, München / Berlin 2009. 81 Heinrichs-Schreiber (wie Anm. 18), 41, 87 f.; Heinrichs (wie Anm. 10), 223 f.

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Abb. 16: Albrecht Dürer, Der zwölfjährige Jesus predigt im Tempel, Holzschnitt, The G. Paul Getty Trust, Getty Research Institute.

beißende Negativcharakteristik der Gesichter und Gebärden beim Volk und bei den Schriftgelehrten, die Indifferenz und Nichtachtung, Scheinheiligkeit und Feindseligkeit zum Ausdruck bringt. Zugleich fällt einigen wenigen Nebenfiguren, so den braven Hirten Joachims, die Rolle zu, die schuldhafte Verstrickung der Mehrheit des jüdischen Volkes kontrastiv zu betonen und dabei dem andächtigen Benutzer zugleich positive, nachahmenswerte Exempel vor Augen zu stellen.82 Als beispielgebend im Hinblick auf Altdorfers Haltung als Chronist der Ereignisse um die Regensburger Synagoge ist sicherlich Dürers Einsatz der perspectiva im Wortsinn der ‚Durchsicht‘ des Bildgeschehens in Bezug auf dessen Verortung im Spannungsfeld von geschichtlicher Distanz und sakramentaler Gegenwart anzusehen. Dabei ist der erwähnte Gedanke der ‚Kleinwerdung Christi‘ nachweisbar auch in dem durch Dürers Lehrer Wolgemut im Verbund mit Wilhelm Pleydenwurff opulent mit ganzseitigen Holzschnittillustrationen ausgestattete Erbauungsbuch „Schatzbehalter des Heils“ (1491), durch das eigentümliche, von Dürer offenbar eigens für seine Marienleben-Folge entwickelte Bildverfahren der ‚umgekehrten Bedeutungsperspektive‘

82 Eine vergleichbare antithetische Struktur identifiziert Heike Schlie in einigen Bildwerken der Zeit um 1500, so in Hieronymus Boschs Madrider Anbetung der Könige. Schlie (wie Anm. 39), 153– 157.

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eindringlich zur Anschauung gebracht. Die Gestalt Christi ist wie ein Suchbild inszeniert und wie durch ein umgekehrtes Fernglas gesehen, ob als hilfloser Säugling in den Händen des Hohepriesters oder als Zwölfjähriger unter den Schriftgelehrten. Weitere Strategien der Distanznahme, den Bildmitteln Altdorfers teilweise verwandt, wie die ostentative Inszenierung der Monogramm-Tafel als Bruchstelle im erzählerischen Kontinuum oder das überwiegend recht kleine Format der Figuren, identifizieren die Sicht des Betrachters als Retrospektive in Bezug auf eine historische Situation, die durch die Gläubigkeit einiger weniger Begnadeter und die ‚Blindheit‘ der Mehrheit gekennzeichnet ist. Auch Dürers Redaktion von Schongauers Stich der „Flucht nach Ägypten“ (Abb. 1, 2) kommentiert den zwiespältigen Status der Kirche des Alten Bundes in der Situation des Übergangs aus einer Warte der Retrospektive. Indem Dürer hier den Ochsen aus dem Stall der Geburt hinzunimmt und neben den Esel setzt, der Maria und das Kind trägt, ruft er mit Nachdruck die Klage Jesajas über das ungläubige jüdische Volk ins Gedächtnis (Jes 3, 1),83 während zugleich der Anblick der Heiligen Familie unter der Wolke die Situation der Flucht des Volkes Israel aus Ägypten unter Moses zu evozieren scheint. Ähnlich erinnert das in eine mächtige weiße Wolke gehüllte Gebirge in der „Heimsuchung“, der den Vers „Maria ging über den Berg“ (Lk 1, 39–56) auf eine höchst übertriebene und daher ins Auge fallende Art und Weise verbildlicht,84 an die Wolke, in der Gott auf dem Berg Sinai zu Mose sprach; die dunklen Fensteröffnungen und das verschlungene Rankenwerk mit dem nackten Kind über dem Löwen in der Beschneidung Christi verweisen auf die schattenhafte Ankündigung des Königs aus dem Hause Juda im Alten Testament.85 Indem sich die heiligen Personen der unmittelbaren Ansicht in der vertrauten Form entziehen, sind die Dogmen der Allmacht Christi und der Reinheit Mariens zugleich auch in ihrer wesensmäßigen Unbegreiflichkeit präsent: Nach außen verhüllt, werden sie von der Mehrheit der Menschen missachtet. Nicht von ungefähr zeigt die einzige bildbeherrschende Darstellung des Erlösers im Marienleben diesen im Augenblick des Abschieds von der Gottesmutter vor dem Beginn der eigentlichen Passion. Dass die Kreuzigung hier nur als Erinnerungsbild konstruiert wird, indem die Jungfrau und die drei Frauen durch ihre Posen das Motiv der Beweinung Christi evozieren, fügt sich in Dürers Strategie, die Bilderzählung gleichsam in den Filter einer mentalen Verarbeitung zu stellen. Mit dem nachfolgenden Bild des Todes Mariae rekurriert Dürer erneut auf Schongauer, wobei der Standort Christi am Fußende des Totenbetts (Abb. 17) noch deutlicher als Leerstelle markiert ist als in dem 40 Jahre älteren Kupferstich. Im Bild der Krönung Mariens durch

83 Ochse und Esel, in Lexikon der Christlichen Ikonographie. 8 Bde. Hg. v. Engelbert Kirschbaum, Rom / Freiburg u. a. 1968–1973, Bd. III, Sp. 339. Bei der Bildfindung hat Anna Scherbaum zufolge auch die Auseinandersetzung mit einem Stich des Meisters LCz eine Rolle gespielt, der die Figur des Hl. Josefs und die Tiere in ähnlicher Form zeigt. Siehe Scherbaum (wie Anm. 91), 160. 84 Vgl. Scherbaum (wie Anm. 91), 149 f. 85 Panofsky (wie Anm. 91), Bd. I, 103.

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Abb. 17: Albrecht Dürer, Der Tod Mariens, Holzschnitt, The G. Paul Getty Trust, Getty Research Institute.

die Heilige Dreifaltigkeit schließlich wird die gähnende Leere des Sarkophags als Beleg für den entschwundenen Leib der Jungfrau und als Argument für die leibliche Himmelfahrt dargestellt,86 die Versammlung der Apostel am Grab als historischer Moment der Zeugenschaft, die nahsichtig gegebene Krönung in den Wolken aber als Projektion eines aktuellen, theologisch beglaubigten mentalen Bildes, vergleichbar den frommen Motiven in den ‚Gedankenwolken‘ der Geistlichen in Dürers Federzeichnung in Rennes (Abb. 6). Wie das Titelbild (Abb. 18) die Metaphern der Entrückung und Parusie des Göttlichen – Wolke und Gestirn, Hell-Dunkel und Perspektive – erneut bündelt und mit der Frage des heilsgeschichtlich bestimmten Standorts der Begebenheit konfrontiert, ist bilderzählerisch plausibel und wirkt in seiner bildhermeneutischen Konsequenz doch überraschend. Die mit der Sonne bekleidete Jungfrau (Abb. 18) hat buchstäblich die Stelle des Schattens auf dem Mond eingenommen – dieser Bildgedanke, in den kreisrunden Dunkelfenstern im Tempel vorbereitet (Abb. 16), darf wohl als Anlass für die ungewöhnliche Kreiskomposition der Marienfigur angesehen werden. Der Blick in die Gesichter der Heiligen bleibt dem Betrachter aber erneut verwehrt. Zwar sind die Gebärden der Nährenden und des

86 Eine wichtige Quelle der literarischen Überlieferung der Entschlafungslegende und der Krönung Mariens ist die Legenda Aurea. Scherbaum (wie Anm. 90), 171.

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Abb. 18: Albrecht Dürer, Die Muttergottes auf der Mondsichel, Titelblatt zum Marienleben, Holzschnitt, The G. Paul Getty Trust, Getty Research Institute.

Säuglings als Attribute der caritas und der menschlichen Natur verständlich, doch lassen sich diese in Anbetracht der Distanziertheit der Gruppe eher als ein chiffrierter Verweis auf die Erlösung der Menschheit in ihrer Gesamtheit denn als Adressierung des einzelnen Betrachters vor dem Bild verstehen.87 Die Illusion einer persönlichen Ansprache zu erreichen, wie sie etwa Schongauers Stich der Muttergottes auf der Mondsichel darbieten zu wollen scheint,88 liegt Dürer bei seinem Titelblatt offenbar fern. Wie die Chancen und Grenzen der privaten Kontemplation mit einer hoch reflektierten, chronikalisch-exegetischen Positionsbestimmung der Bilderzählung in ein Verhältnis gesetzt werden, zeigt sich besonders eindringlich in der Darstellung der Geburt Mariens (Abb. 19). Wiederum erscheinen die Hauptfiguren wie aus großer Entfernung gesehen, nur die Gestalt des Engels mit dem Rauchfass frontal. Die Ansicht unter den angeschnittenen Bogen hindurch und die häusliche Ausstattung der Kammer erzeugen dennoch einen Eindruck von großer Intimität. In der Mittelachse, die mit Bedacht freigeräumt zu sein scheint, fällt der Blick auf sorgfältig

87 Vgl. ebd., 131. 88 Vgl. Heinrichs (wie Anm. 10), 268–272.

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Abb. 19: Albrecht Dürer, Geburt Mariens, Holzschnitt, The G. Paul Getty Trust, Getty Research Institute.

geschlossene Fensterläden. Dies lässt sich gewiss als erzählerisches Mittel werten, indem hier die Geburt Mariens in der Familie aus dem Haus David in ihrer zeitlichen Dimension wahrgenommen wird, zugleich als ein soziales Ereignis, das sich im huis-clos einer rein weiblichen Gesellschaft vollzieht. Die Bildmetapher von den Sinnesorganen als Tore und Fenster im „Haus“ des beseelten Körpers scheint als Inversion gewendet zu sein. Anstatt das Erkenntnispotenzial der Sinneswahrnehmung zu unterstreichen, zielt Dürers Holzschnitt auf den inneren Menschen in der Situation des Gebets, in der die äußere Welt ausgeschlossen werden soll. Dass das geschäftige Treiben der viel zu zahlreichen Helferinnen in der Wochenstube der andächtigen Betrachtung keinen Fokus bietet, die Situation aber durch den inzensierenden Engel zugleich als Liturgie aufgefasst wird, scheint die religiöse Funktion dieser virtuosen Bildkunst durchaus stützen zu wollen, zählt der Weihrauch doch neben dem Brennen von Kerzen, dem Vorlesen der Texte und den „schönen Bildern in den Tempeln“ zu den spiritualia, die den Geist des Gläubigen zu Gott erheben sollen.89 Dabei ist mit der Inzensation das „generelle Attribut des Priesters“

89 Gerson, Jean: Notulae super quedam verba Dionysii de coelesti hierarchia. In: Œuvres complètes de Jean Gerson. Hg. v. P. Glorieux, Bd. III, Tournai / Rom 1960–1973 (L’Œuvre magistrale), 207.

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und zugleich Zeichen des „den Engeln eingeborenen Lob Gottes“ 90 aufgerufen. Mit einiger Vorsicht darf Dürers Marienleben daher gewiss auch als Vorschlag für den Vollzug der bildgestützten Andacht als einer Form der privaten Liturgie91 verstanden werden. Nicht zuletzt mag der Künstler, der das Monogramm setzt, seine eigene Kunst als einen Akt tugendhafter Frömmigkeit in die Waagschale des soteriologischen Diskurses werfen wollen.92 Strategien der Reduktion von Sichtbarkeit in Bezug auf inhaltlich wichtige Figuren oder Dingsymbole, der virtuellen Substitution von Leerstellen im Bild durch mentale Bilder, des Zum-Verschwinden-Bringens und der Distanznahme sind dem druckgrafischen Bild als Subphänomene einer selbstbewusst ihr gesteigertes Potenzial der Naturnachahmung beanspruchenden Kunst inhärent. Diese Bildverfahren verselbständigen sich zunehmend und generieren eine besondere Form der Reflexion der Situation des kontemplativ mit dem Bild beschäftigten Betrachters. Durch Ausscheiden und Abgrenzen einer Spur des Unvollständigen, wie Ausgehöhlten und Fragmentarischen, die durch den inneren Menschen virtuell bearbeitet, aber nie vollständig ausgefüllt werden kann, scheint das grafische Bild eine privilegierte Rolle als Resonanzboden für das Gebet als eigentlicher, grundlegender Gottesweg zu beanspruchen. Kalkulierte Leerstellen im Bild bei Schongauer und die pseudoikonisch inszenierten, leeren Bildräume beim Meister W zeugen von einer erstaunlich zielgerichteten Analyse und Dekonstruktion bildnerischer Mittel und eröffnen Freiräume für die visuelle Erinnerung und den virtuellen Gebrauch von liturgischen Objekten. Die formale Verwandtschaft der Druckgrafik zum zeichnerischen Entwurf hat diese Gattung offenbar für eine experimentelle Haltung der Bildherstellung und dem Bildgebrauch gegenüber geöffnet. Bis hin zur Inszenierung der Verkennung und Verfolgung Mariens und Christi in Dürers Marienleben und der Aufbietung ei-

90 Wirth, Karl-August: Engel. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Hg. v. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Bd. V, Stuttgart 1967, Sp. 555–684, hier: Sp. 414. 91 Thomas Lentes konstatiert für die Religiosität des 15. Jahrhunderts: „Die Liturgie stand in vielem selbst für den privaten Bildkult Pate, und wer im späten Mittelalter vor einem Bild betete, suchte nicht die Vereinzelung, sondern eben gerade den Anschluss an liturgisches, kirchliches, ja amtlichsakrales Handeln.“ Lentes, Thomas: Soweit das Auge reicht. Sehrituale im Spätmittelalter. In: Das „Goldene Wunder“ in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter. Hg. v. Barbara Welzel, Thomas Lentes und Heike Schlie, Bielefeld 2003, 241–258, hier: 249. Freilich gilt auch umgekehrt, dass auch dem in der Welt stehenden Gläubigen anempfohlen werden konnte, eine Position der kontemplativen Konzentration und des Für-Sich-Seins zu suchen. Johannes Gerson als Vordenker einer dem gesamten Kirchenvolk zu eröffnenden Mystica Theologia empfiehlt dem Gläubigen, die ihm gemäße sollitude secrete an jeglichem Ort, auch auf dem Feld oder in der Stadt, zu suchen, indem er etwa das Gesicht zur Erde oder gegen den Himmel wendet. Gerson, Jean: La montaigne de contemplation. In: Œuvres complètes de Jean Gerson. Hg. v. P. Glorieux, Bd. 3, Tournai / Rom 1960–1973 (L’Œuvre magistrale), 33 f. 92 Zum Verständnis der Arbeit des Künstlers als gottgefälliges Werk und Ausdruck göttlicher Gnade äußerte sich Dürer im Jahr 1512 in dem unvollendeten Traktat „Speis der Malerknaben“. Siehe Tripps, Johannes: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Berlin 2000, 209.

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ner Vielzahl von Metaphern der Verhüllung, des Unsichtbaren und der im Gebet vertieften Verbindung zu Gott lädt sich das grafische Bild mit der Aura der schwierigen, tiefen und geheimnisvollen Aspekte der christlichen Verkündigung auf. Es erweitert dabei zunächst die Grenzen der bildlichen Reflexion, die auch ein Problembewusstsein für die faktische Unerreichbarkeit des göttlichen Wesens im sterblichen Leben einschließt.

Sabine Hiebsch

„Also, das das hertze anhebe“ Herz und Gebet in Luthers Einleitung zu Johannes 17 Der vorliegende Aufsatz1 entstand im Rahmen von Forschungen zum Thema „Das Herz als zentraler Begriff in der Glaubenserfahrung bei Martin Luther“. Angesichts des begrenzten Raums, den ein Artikel bieten kann, wird die Themenstellung nicht in der Form eines Querschnitts durch Luthers Œuvre präsentiert. Vielmehr wird anhand eines Textes als Fallstudie aufgezeigt, auf welche Weise ‚Herz‘ und ‚Gebet‘ für Luther zusammengehören: „Das Siebenzehend Capitel Johannis, von dem gebete Christi. Gepredigt und ausgelegt durch D. Mar. Luther“ (WA 28, 70–200). Dieser Text ist Luthers Einleitung zu seinen Predigten über Johannes 17: das hohepriesterliche Gebet Jesu. Luthers Predigten über Johannes 17 sind Teil einer Predigtreihe, der „Wochenpredigten“ über Johannes 16–20,2 die Luther in der Periode zwischen Juni 1528 und Juni 1529 in der Wittenberger Stadtpfarrkirche hielt. Er vertrat dort seinen Kollegen und Beichtvater Johannes Bugenhagen (1485–1558), der sich in Braunschweig und Hamburg aufhielt, um bei der Einsetzung einer evangelischen Ordnung und der weiteren Verbreitung der Reformation zu helfen.3 Ebenso wie in einer späteren Vertretungsperiode, 1530–32, übernahm Luther als „luckenbusser“ 4 (‚Lückenbüßer‘), wie er das selber nannte, u. a. die gemäß der Wittenberger Predigtordnung5 vorge-

1 Der Aufsatz ist eine gekürzte und überarbeitete Version eines Beitrags in Balke, Wim / Hiebsch, Sabine / Janse, Wim (Hg.): Verbum Dei manet in aeternum. Luther en Calvijn in hun Schriftverstaan. Kok 2008, 40–69. Das Buch bündelte Forschungsergebnisse der Internationalen Luther-Calvinstudiengruppe und erschien aus Anlass des 82. Geburtstags von Prof. Dr. Joop Boendermaker. Der Aufsatz wurde von der Autorin aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt. 2 Luther hielt seine erste „Wochenpredigt“ über Johannes am 6. Juni 1528 über Johannes 16, 1 ff. (WA 28, 43–44), seine letzte am 19. Juni 1529 über Johannes 20, 11–18 (WA 28, 448–464). Luther hatte Bugenhagen bereits zuvor, am 15. Februar 1528, einmal vertreten und an seiner Stelle über Johannes 14, 11 f. gepredigt (WA 28, 31; 485–487). 3 Außer in Norddeutschland war Bugenhagens Einsatz für die Reformation vor allem in DänemarkNorwegen von großem Einfluss. Der dänische König Christian III (1534–1559) versuchte, Bugenhagen permanent nach Dänemark zu holen. Bugenhagen schlug diese Einladung aus, aber unterrichtete ab 1537 eine Zeit lang täglich an der im selben Jahr wiedereröffneten Kopenhagener Universität. 1538 wurde er sogar Rektor. Siehe Gummelt, Volker: Johannes Bugenhagen. In: Das Reformatorenlexikon. Hg. v. Irene Dingel und Volker Leppin. Darmstadt 2014, 74–81. 4 WA 32, LXXV. 5 Nach seiner Rückkehr von der Wartburg im März 1522 arbeitete Luther zusammen mit Melanchthon (1497–1560) und anderen an der reformatorischen Neuordnung Wittenbergs. Diese umfasste Reformen der gottesdienstlichen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Die Predigtordnung gehörte ebenfalls dazu. https://doi.org/10.1515/9783050051659-010

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schriebenen Wochenpredigten, mittwochs über das Matthäusevangelium6 und samstags über das Johannesevangelium. Von diesen Predigten wurden während des Gottesdienstes Aufzeichnungen in der Form von Nachschriften gemacht, die anschließend zu einer Druckausgabe ausgearbeitet werden konnten. Viele Predigten Luthers, aber auch einige seiner Vorlesungen, sind auf diese Art und Weise bewahrt geblieben.7 Die Nachschreiber von Luthers Predigten über Johannes sind Caspar Cruciger (1504–1548) und Georg Rörer (1492–1557). Luther hatte seinen „lieben freund Magister Casper Creutziger“ 8 selber gebeten, seine Predigten über Johannes 17 drucken zu lassen, wie er im Vorwort des 1538 erschienenen Bandes erwähnt.9 Luther schätzte Cruciger nicht nur wegen seiner professionellen Zuverlässigkeit, sondern auch als persönlichen Freund. In einem Brief vom 5. Dezember 1535 an seinen Freund Nikolaus Gerbel 10 (1485–1560) in Straßburg schreibt Luther über Cruciger: „Wenn die Liebe mich nicht blind macht, dann wird dieser Mann ein zweiter Elisa sein, wenn ich ein Elias wäre. (…) Er ist ein friedlicher und bedächtiger Mensch, dem ich nach mir die Kirche anvertrauen will“.11 Cruciger hat die Predigten über Johannes 17 wahrscheinlich selber gehört und nachgeschrieben, weil er in der betreffenden Periode in Wittenberg war. Er hatte allerdings zusätzlich die Aufzeichnungen von Georg Rörer, dem zweiten Nachschreiber, zur Verfügung. Auch mit Georg Rörer verband Luther nicht nur ein intensives gemeinsames Arbeiten, sondern eine lebenslange Freundschaft. Rörer stand ihm seit 1525 in der Wittenberger Gemeinde zur Seite, erstellte Nachschriften und gab zahlreiche Schriften Luthers heraus.12 Er gilt als einer der zuverlässigsten Nachschreiber von Luthers

6 In der ersten Vertretungsperiode predigte Luther über Matthäus 11–15 (WA 28) und in der zweiten über Matthäus 5–7 (WA 32, 302–544). 7 Für eine nähere Erklärung des Phänomens ‚Nachschriften‘ und die damit verbundenen Fragestellungen für die Lutherforschung siehe Hiebsch, Sabine: Figura ecclesiae. Lea und Rachel in Martin Luthers Genesispredigten. Münster / Hamburg / London 2002, 16–25 und die dortigen Literaturangaben. 8 WA 28, 70, 13–14. 9 Cruciger kombinierte diese Predigten mit Luthers Predigten über Johannes 14–16, die dieser 1537 gehalten hatte, und 1538 konnte das Buch erscheinen. Luther war mit dem Ergebnis sehr zufrieden (WA 28, 34). 10 Nikolaus Gerbel (Dr. jur.) arbeitete ab 1515 als Rechtsberater und später als Domsekretär in Straßburg. Daneben engagierte er sich für die Ausgabe von klassischen, religiösen und theologischen Büchern. Luther und Gerbel waren bereits seit den Anfangsjahren der Reformation miteinander befreundet. Auch von der Wartburg aus stand Luther mit ihm in Kontakt. Gerbel war der Pate von Luthers ältestem Sohn. Über Gerbel war Luther gut informiert über die kirchliche und theologische Situation in Straßburg. Gerbel war außerdem auch mit Melanchthon, Bugenhagen und Bucer (1491–1551) bekannt. 11 WA.B 7, 329, 17–19: Est is vir, nisi me fallit amor, talis, qui Elisaeum referet, si ego Elias fuerim (…) homo pacis et quietus, cui ego post me ecclesiam commendabo. 12 1537 wurde Rörer von Kurfürst Johann Friedrich I (1532–1547) von seinem Dienst als Diakon beurlaubt, um sich fortan vollständig auf die Unterstützung von Luthers Tätigkeiten zu konzentrieren.

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Predigten und Vorlesungen, wie schon Gerhard Ebeling hervorhob: „Sein größter Dienst an der Reformation liegt ohne Zweifel in den Predigtnachschriften, (…) so daß wir größtenteils das wirkliche gesprochene Wort Luthers vor uns haben“.13

Luthers persönliche Umstände während seiner Vertretungsperiode für Bugenhagen Als Luther im Juni 1528 Bugenhagens Aufgaben als Pfarrer übernahm, hatte er ein Jahr hinter sich, in dem er acht Monate krank war.14 Anfang 1528 erholte er sich gesundheitlich. Seine Umgebung war darüber offensichtlich so erleichtert, dass Melanchthon es in einem Brief an Casper Aquila sogar ausdrücklich erwähnte.15 Im Laufe des Jahres 1528 fühlte Luther sich etwas besser, aber am Ende des Jahres und vor allem Anfang 1529 erkrankte er erneut für längere Zeit. An der Frequenz seiner Predigten über Johannes ist das abzulesen, denn Luther predigte an 34 Samstagnachmittagen über Johannes, 24 dieser Predigten wurden allerdings 1528 gehalten, in den ersten sechs Monaten seiner Vertretungsperiode. Im Laufe der hier relevanten 13 Monate litt Luther an einer ganzen Reihe von Krankheiten: Hämorrhoiden, ulcus cruris (eine offene Wunde an seinem Bein, die immer wieder aufging), die Menièresche Krankheit, Magenschmerzen, Verstopfung, Sommerdiarrhö, Unwohlsein in den Morgenstunden, starke Kopfschmerzen, Angina pectoris und Schwindelanfälle. Nichtsdestotrotz hatte er seine gesundheitlich schlechtesten Jahre noch vor sich.16 Für die ganze Periode, in der Luther Bugenha-

13 Ebeling, Gerhard: Evangelische Evangelienauslegung. Darmstadt ²1962, 19, zitiert in Hiebsch (wie Anm. 7), 19, Anmerkung 35. – Auch im Vorwort von WA 28 wird neben der Gründlichkeit Rörers vor allem dieser letzte Aspekt hervorgehoben und betont, dass wir in den Nachschriften Rörers „die ältesten mehr oder minder unmittelbaren Aufzeichnungen deutscher gesprochener Sprache anzuerkennen haben“, WA 28, VII. 14 Vergleiche die Übersicht in: Buchwald, Georg: Luther-Kalendarium. In: Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Jahrgang 47 (1929), Heft 2 (Nr. 147), 48–69. 15 Siehe Corpus Reformatorum Philippi Melanchthonis 4, 965–966. Caspar Aquila (1488–1560) studierte Theologie in Leipzig und ab 1513 in Wittenberg. Er war Feldprediger unter Reichsritter Franz von Sickingen (1481–1523) und ab 1516 Pfarrer in Jengen, wo er die Reformation einführte. Ab 1523 wohnte er in Wittenberg, predigte in der Stadtkirche und unterrichtete Hebräisch. Er gehörte zur Gruppe um Luther, die das Alte Testament übersetzte. Ab 1527 war er Pfarrer und später Superintendent in Saalfeld. Melanchthon und Aquila korrespondierten regelmäßig miteinander. 16 Hans-Joachim Neumann (1939), Professor für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der Charité in Berlin, ist neben seinen klinischen Tätigkeiten auf die Geschichte der Medizin spezialisiert. In diesem Rahmen hat er Luthers Krankheitsgeschichte detailliert untersucht und die verschiedenen Phasen in Luthers Krankheitsgeschichte biographisch zugeordnet. Siehe: Neumann, Hans-Joachim: Luthers Leiden. Die Krankheitsgeschichte des Reformators. Berlin 1995. Eine ausführlichere Interpretation von Luthers Krankheiten im Kontext des vorliegenden Artikels findet man in der ur-

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Sabine Hiebsch

gen vertrat, wird im Luther-Kalendarium nur für wenige Monate keine Krankheit erwähnt. Daraus lässt sich nicht ohne weiteres schlussfolgern, dass Luther in diesen Monaten keinerlei Beschwerden hatte, sondern lediglich, dass keine neue Krankheit hinzugekommen war und dass die Beschwerden der Krankheiten, die ihn chronisch plagten, so mild waren, dass er es in seinen Briefen nicht erwähnte und auch andere in seiner Umgebung nicht darauf hinwiesen. Es ist nicht nur wichtig zu wissen, dass Luther den größten Teil seines Lebens mit ernsten Krankheiten konfrontiert wurde, sondern auch, wie er damit umging. Die Betrachtungsweise von Krankheiten unterliegt historischen Veränderungen. Zu Luthers Zeiten wurde Krankheit oftmals als eine Strafe Gottes oder als das Werk des Teufels gesehen. Auch Luther sah seine vielen Krankheiten, die mit starken Schmerzen verbunden waren, als Anfechtung des Teufels und nicht in erster Linie als ein natürliches, irdisches Phänomen. So schreibt er am 31. 7. 1530 von der Coburg aus an Melanchthon: „Sorge Dich nicht um meine Gesundheit; sie ist zwar unsicher, aber weil ich fühle, dass es keine natürliche Krankheit ist, ertrage ich es mutiger und verachte die Faustschläge der Engel des Satans auf mein Fleisch. Kann ich nicht lesen, noch schreiben, kann ich doch denken, beten und so auch ihn ärgern; endlich schlafen, müßig sein, scherzen und singen. Ängstige [Dich] also nicht zu sehr“.17 Dieser Brief gibt nicht nur einen Eindruck von Luthers Betrachtungsweise seiner Krankheiten, sondern zeigt auch, wie offen er mit seinen Freunden und Kollegen darüber sprach und schrieb. Luther hatte die Unterstützung seiner Umgebung und konnte sich auf eine Gruppe von Menschen verlassen, mit denen er in aller Offenheit sein Leid teilen konnte. Neben der Tatsache, dass er seinen Kampf gegen seine Krankheiten als einen Kampf gegen den Teufel sah, für den er sich, gestärkt durch Gottes Wort, ganz und gar einsetzte, war diese Unterstützung vielleicht der wichtigste Grund dafür, dass Luther trotz all seiner Krankheiten so produktiv sein konnte. 1527, als er zum ersten Mal die Menièresche Krankheit bekam und acht Monate krank war, produzierte er dennoch 15 Schriften, 100 Briefe und 60 Predigten. Und 1530, im Jahr der zweiten von Neumann festgestellten Zäsur, verfasste Luther nicht weniger als 30 Schriften, 170 Briefe und 60 Predigten.18 In der hier relevanten Vertretungsperiode für Bugensprünglichen holländischen Version, Hiebsch, Sabine: „Also, das das hertze anhebe“: Hart en gebed in Luthers inleiding bij Johannes 17, in: Balke / Hiebsch / Janse (wie Anm. 1), 43–48. 17 WA.B 5, 516, 14–18; Nr. 1668, 31. 7. 1530 (De mea valetudine nihil cures; incerta quidem est, sed quia sentio, non naturae morbum esse, fortius fero, et contemno angeli Satanae colaphos istos carnis meae. Si legere et scribere non licet, at licet cogitare, orare, et etiam sic in eum debacchari; deinde dormire, otiari, lusitare et cantillare). Dieses Zitat findet sich auch bei Neumann (wie Anm. 16), 107. 18 Siehe Neumann (wie Anm. 16), 166. Neumann zitiert hier eine von Alfred Dieck zusammengestellte Übersicht von Luthers Schriften, Predigten und Briefen aus den schwierigsten Jahren seiner Krankheiten, die aufgenommen ist in Mülhaupt, Erwin: Luthers Kampf mit der Krankheit. In: Mitteilungen der Luthergesellschaft 29 (1958), 115–123.

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hagen war Luthers Pensum auch nicht gering: 1528 predigte er 182-mal und 1529 121mal. In dieser Periode entstanden auch einige wichtige Schriften: „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis“,19 „Vom Krieg wider die Türken“,20 „Eine Heerpredigt wider den Türken“,21 „Kleiner Katechismus“ 22 und „Großer Katechismus“.23 Es gibt verschiedene Gründe, die Krankheitsgeschichte Luthers im vorliegenden Aufsatz zu thematisieren. Noch häufig dominiert das Bild des Starken, Unverwüstlichen, der sein Leben lang eine enorme Produktivität zeigte. Er tat dies jedoch trotz all seiner Krankheiten, die ihm oft monatelang ein normales Leben nahezu unmöglich machten. Luther wollte schlichtweg nicht zulassen, dass der Teufel ihn durch diese Krankheiten zum Gefangenen machte. In dieser Hinsicht war er tatsächlich ein Mensch „zwischen Gott und Teufel“.24 Luthers Krankheitsgeschichte ist in der Forschung meistens unterbelichtet geblieben oder bei der Bewertung seines Lebens und seiner Theologie außer Betracht gelassen worden. Als Hintergrund ist Kenntnis seiner Krankheitsgeschichte jedoch wichtig. Sie ermöglicht ein deutlicheres Bild von Luthers ‚Sitz im Leben‘ und erinnert daran, dass Krankheiten ein Bestandteil der Anfechtungen waren, mit denen Luther sich immer wieder auseinandersetzen musste. Ein anderer Grund liegt in der Tatsache begründet, dass die geistige und körperliche Verfassung Luthers in der für diesen Artikel relevanten Periode von Juni 1528 bis Juni 1529 einen wichtigen Hintergrund für den hier zu besprechenden Text über das Gebet bildet, gerade auch, weil das Gebet in Luthers Kampf gegen die teuflischen Krankheiten eine zentrale Rolle spielte.

Luthers Einleitung zu seiner Predigt über Johannes 17 Luther beginnt seine Einleitung zu Johannes 17,25 dem hohepriesterlichen Gebet, mit der Feststellung, dass über die Werke Jesu viel geschrieben wurde: wie er gepredigt hat, welche Wunder er gewirkt hat, aber dass nur wenig darüber geschrieben wurde, wie er gebetet hat.26 Das Beten Jesu erklärt Luther hier als ein ‚Reden mit seinem 19 WA 26, 261–509. 20 WA 30 II, 107–148. 21 WA 30 II, (149) 160–197. 22 WA 30 I, (537) 243–425 (426–474). 23 WA 30 I, (475) 125–238 (426–474). 24 So der Titel der Lutherbiografie von Obermann, Heiko A.: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel. Berlin 1982. 25 Luther fing seine Erklärung von Johannes 17 am 8. 8. 1529 mit dieser Einleitung an. 26 Parallel hierzu konstatiert Luther ein Jahr später in seinem „Großen Katechismus“, dass die Gläubigen sich viel zu wenig mit dem Gebet beschäftigen: „denn ich wolt gerne, das man solchs widder ynn die leute brechte, das sie lerneten recht beten und nicht so rohe und kald hingehen,

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lieben Vater‘,27 und er sieht es als eines der Werke Jesu, die viel mehr Aufmerksamkeit verdienen. Das hohepriesterliche Gebet Jesu ist für Luther ein Gebet, das an Gott gerichtet und auch vor den Jüngern ausgesprochen ist. Er hat es ihnen „zur letze gelassen“.28 ‚Letze‘ bedeutet ‚Ende‘, ‚Abschied‘, ‚Fortgehen‘.29 Und die Kombination, die Luther hier benutzt, ‚zur letze lassen‘, besagt, dass man beim Abschied etwas als Andenken, als Abschiedsgeschenk, zum Gedächtnis hinterlässt. In Johannes 17 ist der Kontext das Gebet Jesu, aber Luther kann zum Beispiel auch das Abendmahl als etwas sehen, das Jesus ‚zur letze‘ hinterlässt. In „Vom Abendmahl Christi. Ein Bekenntnis“ schreibt Luther: „So nu die letze ym essen fur dem newen abendmal ordentlich steht und auch stehen sol, so mus warlich auch die letze ym trincken fur dem newen abendmal stehen, Denn es beyde eine letze ist und nicht von einander zu sondern“.30 Das Abendmahl in beiderlei Gestalt und das hohepriesterliche Gebet, worin Jesus ausdrückt, wie Gott und er selbst mit den Menschen, die an ihn glauben und die er zurücklassen muss, miteinander verbunden sind, sind beide Teil von Jesu Nachlass. Luther nennt das Gebet, das Jesus spricht, ein „hefftig hertzlich gebet, darinn er den abgrund seines hertzens beide gegen uns und seinem vater eröffnet und gantz eraus schüttet“.31 An dieser Stelle kommt das Herz zum ersten Mal in Luthers Auslegung von Johannes 17 vor. Wenn Menschen des 21. Jahrhunderts versuchen, das Wort ‚Herz‘ zu verstehen, ergibt sich das Problem, dass dieser Begriff in der heutigen Zeit ganz anders aufgefasst wird, als er bei Luther und in der Bibel gemeint ist. „Das ‚Herz‘ ist in der Bibel das vernünftige geistige Erkenntnisorgan des Menschen, das innerste, äußerem Zugriff entzogene und nur Gott einsichtige Zentrum seiner Persönlichkeit, Sitz von Verstand, Wille, Gedächtnis, Gefühl u. a.“ 32 Heutzutage sieht man dagegen meistens einen Gegensatz zwischen Verstand und Gefühl. Gefühl wird mit dem Herz und Verstand mit dem Kopf assoziiert. Davon ausgehend besteht die Gefahr, „biblische Ausrücke mit ‚Herz‘ zu sentimentalisieren oder zu poetisieren“ 33 oder, wie zum Beispiel Hans-Walter Wolff es tat,34 gerade die intellektuelle, rationale Seite des Begriffes Herz im biblischen Kontext einseitig zu betonen. Für moderne Theologen und Philo-

davon sie teglich ungeschickter werden zubeten, welchs auch der Teuffel haben will und mit allen krefften dazu hillft, denn er fuelet wol, was yhm fur leid und schaden thuet, wenn das gebete recht ym schwang gehet“, WA 30 I, 197, 10–15. 27 Siehe WA 28, 72, 22–23 („wenn er gebet und mit seinem lieben vater geredt hat“). 28 WA 28, 72, 26. 29 Grimm, Jakob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch (im folgenden DWB), 32 Bände, Leipzig 1854–1960, Bd. 12, 797–800. 30 WA 26, 461, 31–34. 31 WA 28, 72, 28–30. 32 Stolt, Birgit: „Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke (Ps 18,2)“. In: Caritas Dei. Beiträge zum Verständnis Luthers in der gegenwärtigen Ökumene. Festschrift für Tuomo Mannermaa zum 60. Geburtstag. Hg. v. Oswald Bayer, Robert W. Jenson und Simo Knuuttila. Helsinki 1997, 407. 33 Ebd. 34 Wolff, Hans Walter: Anthropologie des Alten Testaments. München 1973, 78.

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sophen scheint dies ein unlösbarer Konflikt zu sein. Aber es ist ein Konflikt, den Luther so nicht kannte und wahrscheinlich noch nicht einmal hätte nachvollziehen können. Seine Definition des Begriffes Herz stimmt mit der biblischen, genauer gesagt mit der alttestamentlichen Auffassung überein. Das hebräisch-deutsche Wörterbuch nennt für den Begriff Herz (lev) zwölf mögliche Übersetzungen: „Sitz der Lebenskraft, Sitz von Empfindungen und Regungen, Neigung, Entschlossenheit und Mut, Wille und Absicht, Sinn, Aufmerksamkeit, Beachtung, Verstand, Gewissen, Inneres, Mitte und Leben“.35 In keiner anderen Sprache außer im Hebräischen würde man all diese Begriffe jeweils wiederum mit demselben Wort, nämlich ‚Herz‘, übersetzen. Genau dieses breite und zugleich tiefe Bedeutungsspektrum hat das Herz auch bei Luther. Es ist der Mittelpunkt, das Zentrum des Menschen, der Ort der Wahrnehmung, zu der sowohl Gefühl als auch Verstand gehören. Für Luther gibt es in dieser Hinsicht keinen Dualismus. Es geht ihm um das gesamte menschliche Empfindungsvermögen. Nur Gott kann in das Herz des Menschen schauen, nur für ihn öffnet es sich vollständig. Das Herz ist für Luther der Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch und als solches das Glaubenszentrum des Menschen. Für Luther ist das Herz der zentrale Glaubensbegriff und der Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner theologischen Themen. Neben dieser theologisch-inhaltlichen Seite des Herzens gibt es auch eine rhetorische Seite. Für lange Zeit wurden der Bedeutung der Rhetorik bei Luther und Luthers Bedeutung für die Rhetorik keine wichtige Rolle zugemessen. Erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war auch Luthers Rhetorik Thema einiger Studien.36 Darin wird aufgezeigt, dass die Anhänger und Gegner unter Luthers Zeitgenossen in einer Hinsicht völlig einer Meinung waren, nämlich dass Luther die Kunst der Rhetorik perfekt beherrschte. Ein Zitat des Sprachwissenschaftlers Justus Georg Schottel skizziert sehr treffend, wie sehr Luther in der Rhetorik zu Hause war: Er habe „alle Lieblichkeit und Zier, Ungestüm und bewegenden Donner in die teutsche Sprache gepflanzet“.37 Hinter diesen Beschreibungen verbergen sich zwei termini technici der Rhetorik: die Affekte Ethos (έθος) und Pathos (πάθος). Quintilian38 erklärt diese Begriffe fol35 Köhler, Ludwig / Baumgartner, Walter (Hg.): Lexicon in Veteris Testamenti Libros. Leiden 1958, 468–470. 36 Siehe zum Beispiel Stolt, Birgit: Lieblichkeit und Zier, Ungestüm und Donner. Martin Luther im Spiegel seiner Sprache. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 86/3 (1989), 282–305; Stolt, Birgit: Martin Luthers Rhetorik des Herzen. Tübingen 2000; zur Mühlen, Karl-Heinz: Rhetorik in Predigten und Schriften Luthers. In: Lutherjahrbuch 57 (1990), 257–259; Pumplun, Cristina M.: „Inn deinem hertzen ein feuerlin“. Luthers gebeden vanuit retorisch perspectief. In: Luther-Bulletin 13 (2004), 63–84. Für weitere Literatur siehe Hiebsch, (wie Anm 7), 235, Anm. 134. 37 Schottel, Justus Georg: Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubtsprache (1663). Hg. v. Wolfgang Hecht, 2 Bd. Tübingen 1967, Bd. 1, 49; das Zitat steht auch bei Stolt, Birgit: Lieblichkeit und Zier (wie Anm. 36), 296, die den Titel ihres Artikels diesem Zitat von Schottel entlehnt. 38 Marcus Fabius Quintilianus, Institutio oratoria (Ausbildung des Redners). Zwölf Bücher, hg. und übersetzt v. Helmut Rahn, Darmstadt ²1988. Für eine Übersicht der hier besprochenen rhetori-

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gendermaßen: Ein Redner hat drei Aufgaben (officia) zu erfüllen. An erster Stelle steht das docere, die sachliche Unterrichtung. Das ist die grundlegende Aufgabe des Redners. An zweiter Stelle steht das delectare, das Fesseln und Betören der Zuhörer, wobei die sachliche Unterrichtung und korrekte Beweisführung allerdings nicht beeinträchtigt werden dürfen. An dritter Stelle geht es schließlich um das movere, die geistige Bewegung und Erregung. Der Redner muss dabei die Gefühle, die er erregen will, selbst auch empfinden. Erst beim movere zeigt sich die tatsächliche, große Beredsamkeit des Redners. Für die Ausführung dieser drei Aufgaben steht dem Redner der Affekt (affectus) des Ethos und Pathos zur Verfügung. Ethos ist die sanfte, freundliche Affektstufe, die erfreuen und unterhalten soll (delectare), Pathos dagegen ist die tragische, heftige Affektstufe, die mitreißen und rühren soll (movere). Beide sind Hilfsmittel für die Ausführung der sachlichen Unterrichtung (docere). Auf Luther bezogen bedeutet dies, dass Ethos mit ‚Lieblichkeit und Zier‘ und Pathos mit ‚Ungestüm und Donner‘ korrespondiert. Da Luther das Gefühl, wie bereits gesagt, nicht im modernen Sinne als sentimentale Gefühlsduselei auffasste, sondern dem Herzen als Glaubenszentrum des Menschen zuordnete, kann man sagen, dass seine Aufgabe als Prediger darin bestand, seine Zuhörerschaft zu unterrichten, indem er ihre Herzen berührte und bewegte. Und wie bei Quintilian erklärt, konnte Luther diese Aufgabe nur ausführen, weil sein eigenes Herz durch die biblische Botschaft, die er zu vermitteln versuchte, zuvor ebenfalls berührt und bewegt worden war. Affekt war dabei für Luther nie nur eine oberflächliche Schicht, die wie Kosmetik auf die Wörter gelegt wurde, sondern immer mit dem Inhalt seiner Botschaft verbunden. Theologie und Rhetorik gehen für Luther Hand in Hand. Der Affekt trägt dazu bei, den Glauben und das Verstehen der Zuhörerschaft zu fördern. Dieser Prozess muss jedoch notwendigerweise im Herzen des Menschen beginnen. Affekt, und dann vor allem Pathos, ist auch, was Luther einsetzt, um Jesu Gebet in Johannes 17 zu umschreiben. Es ist ein „hefftig hertzlich gebete“,39 wobei Jesus den „abgrund seines hertzens“ 40 für uns und für seinen Vater „eröffnet und gantz eraus schüttet“.41 Luther versucht, mit Hilfe des Affekts seine Zuhörerschaft zu erreichen, aber er will natürlich mit seinen Beschreibungen auch deutlich machen, dass Jesus selber ebenfalls mit Pathos das Herz seiner Jünger berühren und bewegen wollte. Das konnte Jesus nur, indem er sein eigenes Herz erst öffnete, sein Inneres sozusagen nach außen kehrte, um so die Herrlichkeit und Liebe zu zeigen, die er von seinem Vater empfangen hatte. Mit Jesus, der betet, und Luther, der über dieses Gebet predigt, versuchen zwei Redner, unser Herz zu berühren und zu bewe-

schen Begriffe und der entsprechenden Fundstellen bei Quintilian siehe Zundel, Eckart: Clavis Quintilianea. Quintilians ‚Institutio oratoria‘ (Ausbildung des Redners) aufgeschlüsselt nach rhetorischen Begriffen. Darmstadt 1989. 39 WA 28, 72, 28. 40 WA 28, 72, 28–29. 41 WA 28, 72, 29–30.

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gen. Dieses ‚Uns‘ ist für Luther von Anfang an wichtig und anwesend. Die ursprünglichen Zuhörer von Jesus, deren Herz er zu berühren und bewegen versuchte, stehen selbstverständlich Seite an Seite mit Luther und seinen Zeitgenossen. Luther will mit seiner Predigt ihre Herzen berühren und bewegen, aber nicht seiner eigenen Predigt zuliebe, sondern, um Gottes Wort im Gebet Jesu hören zu lassen. Und gewiss ist Luther ein Teil des ‚Uns‘. Er kann schließlich nur weitergeben, was ihn zuvor ebenfalls im Herzen berührt hat. Aber das Hören der Worte von Jesu Gebet ist nicht unproblematisch, sagt Luther, denn es sind Worte, „die jnn unsern oren, so sie on geist hören, lauten als lauter kinderteidingen, die weder krafft noch safft haben (..)“.42 „Kinderteidinge“ ist „kindisches Gerede“, das sicher nicht genügend Kraft hat, unser Herz zu erreichen und zu berühren, geschweige denn zu bewegen.43 Unsere menschliche Vernunft und Weisheit sind nicht beeindruckt von schlichten, einfältigen Worten wie jenen in Jesu Gebet, „so man nicht mit prächtigen hochtrabenden worten furgibt und auff mutzet“.44 „Aufmutzen“ im Sinne von ‚aufschmücken‘ ist ein ausdrucksstarkes Wort, dem im modernen Deutsch das Wort ‚aufmotzen‘ entspricht und im Umgangssprachlichen das aus dem Englischen entlehnte Wort ‚aufpimpen‘. Das Gebet muss aufgemotzt werden, ist was Luther hier sagen will. Prahlerische und hochtrabende Formulierungen sind nötig, um die Menschen so weit zu bekommen, dass sie ihre Augen und Ohren öffnen. Wenn wir jedoch ‚mit Geist‘ und aus dem Herzen heraus zuhören, können wir dagegen sehr wohl „gewar werden und fülen, was diese einfeltige wort fur uberschwengliche krafft und tröstlich ding haben und geben“.45 Das Trösten und Stärken der Gläubigen ist das Ziel und die Frucht des Gebets und deshalb kann Luther sagen: „Das ist aber die summa und ursache dieses Capitels: Auff eine gute predigt gehöret ein gut gebete. Das ist: wenn man das wort von sich geben hat, sol man anheben zu seufftzen und begeren, das es auch krafft habe und frucht schaffe“.46 Das ist auch genauso, wie Christus es getan hat, und darin sieht Luther ihn als Vorbild: Nachdem dieser seine Jünger unterrichtet und sie mit einer Predigt getröstet hatte, betete er auch für sie. Für Luther gehört das zu Jesu Amt als einziger Hohepriester, der alles tut, was dazu beiträgt, seine Jünger zu stärken, so dass sie sich in der Welt bewähren, wenn er sie alleine zurücklässt. Luther geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt, dass der Glaube ohne Gebet nicht bestehen kann: „Darumb habe ich allzeit gesagt, wie nötig ein Christlich gebete ist, das on dasselbige der glaube nicht bestehen noch bleiben kann“.47 Diejenigen, die

42 WA 28, 72, 30–31. 43 DWB, Bd. 11, 752. 44 WA 28, 72, 33–34. 45 WA 28, 73, 10–12. 46 WA 28, 73, 19–22. 47 WA 28, 73, 27–29. Siehe auch Ebeling, Gerhard: Beten als Wahrnehmen der Wirklichkeit des Menschen, wie Luther es lehrte und lebte. In: Lutherjahrbuch 55 (1999), 151–166.

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Gottes Wort predigen, hören und wissen und nicht zugleich auch beten,48 zeigen damit, dass sie noch dreist und anmaßend sind. Sie sind sehr selbstsicher, in dem Sinn, dass sie sich auf sich selber verlassen, als ob sie die Gnade Gottes nicht überall nötig hätten.49 Sie denken, alles, was sie begehren, bereits zu haben; sie sind also nicht mehr unterwegs. Und genau da liegt die Gefahr. Die Selbstsicherheit der Dreisten entpuppt sich sehr schnell als falsche Sicherheit, und darin sieht Luther auch das Werk des Teufels: „So ist der Teuffel hinder ihn, berucket und stortzet sie, das sie es nimer gewar werden“.50 Und eben weil Jesus sich der Gefahr des Teufels bewusst ist, lehrt er uns durch sein eigenes Beispiel, „neben der predigt des gebets nicht vergessen, auff das das wort nicht on frucht abgehe und gehandelt werde“.51 Die vielen guten Eigenschaften und die Kraft des Gebets sind so groß, dass wir als Menschen nicht imstande sind, dies in vollem Umfang zu begreifen. Wir können uns auf jeden Fall nicht auf Äußerlichkeiten verlassen. Es sind schließlich nicht, so wie es der menschlichen Erwartung entsprechen würde, die angeberischen, hochtrabenden Worte, die viel Effekt haben, sondern die schlichten, einfältigen Worte eines Gebetes, über die Luther sagt: „Denn so schlecht und einfelltig es klinget, so tieff, reich und weit ist es, das niemand ergründen kann“.52 Ein anderer Aspekt des Gebets, auf den Luther eingehen will, sind die äußerlichen Gebärden, die ein Gebet begleiten können. Er stellt fest, dass auch Jesus beim Beten äußerliche Gebärden kennt. Das sorgt dafür, „den tollen heiligen vor zukommen und das maul zustopffen, so dafur geben, solch eusserlich ding gelt nichts“.53 In Rörers Nachschrift wird noch deutlicher, wer die „tollen heiligen“ sind, gegen die sich diese Passage richtet. Er spricht von „contra Schwermeros“.54 Mit dem Wort ‚Schwärmer‘ deutet Luther seine Gegner an, die nicht (mehr) zur römischen Kirche gehörten. Häufig handelte es sich dabei um Menschen, die sich anfänglich zum Teil mit Luthers reformatorischem Denken verbunden gefühlt hatten, letztendlich den Begriff Reformation jedoch von ihrem jeweils eigenen Hintergrund aus auf eine Weise interpretierten, die nicht mehr mit Luther und seinem Kreis in Wittenberg übereinstimmte. Luther bekämpfte diese Schwärmer genauso

48 An dieser Stelle gibt es einen Unterschied zwischen den Nachschriften von Rörer und Cruciger. Rörer spricht von denjenigen, die predigen („Sepe praedicamus…“; WA 28, 73, 6) und Cruciger von denen, die das Wort von Gott „predigen hören und wissen“ (WA 28, 73, 29–30). Der ganze Aufbau und weitere Verlauf des Textes zeigen deutlich, dass es nicht Luthers Absicht gewesen sein kann, entweder nur von denen zu sprechen, die predigen, oder nur von denen, die die Predigt hören. Prediger und Zuhörer sind hier genauso eng miteinander verbunden wie Christus und seine Jünger in Johannes 17. 49 „Qui enim non orant, indicant se securos et praesumptuosos, quasi non indigent deo et eius gratia“ (WA 28, 73, 6–7). 50 WA 28, 74, 13–14. 51 WA 28, 74, 15–16. 52 WA 28, 74, 18–19. 53 WA 28, 74, 22–24. 54 WA 28, 74, 5–6.

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hart wie seine römischen Gegner. Das Wort ‚Schwärmer‘ kommt vom Verb ‚schwärmen‘, das ursprünglich dazu benutzt wurde, die diffus fliegenden Bewegungen von Bienen zu beschreiben.55 Erst im Laufe der Reformation entstand das Substantiv ‚Schwärmer‘ als Bezeichnung für jemanden, der eine abweichende Glaubenslehre hegte und verkündete.56 Grimms Wörterbuch nennt Luther als den ersten, der ‚Schwärmer‘ in diesem Sinne benutzte und stellt fest, dass es zu seinen Lieblingswörtern gehörte. Angesichts der Bedeutung des Wortes würde man erwarten, dass Luthers römische Gegner ihn auch als Schwärmer bezeichnet haben. Es ist jedoch spezifisch Luther, der andere als Schwärmer betitelt. Er benutzt auch oft „Irrgeister“, „Schwarmgeister“ und „Rottengeister“ als Synonyme.57 Luther widmet sich in einigen Schriften der Problematik der Schwärmer, warnt in aller Schärfe vor ihren Angriffen und versucht deutlich zu machen, dass der Erfolg der reformatorischen Bewegung durch sie in Gefahr sei.58 Die Menschen, die Luther als „Schwärmer“ bezeichnete, waren nicht Teil einer homogenen Gruppe, auch wenn einige von ihnen sich kannten.59 Sie hatten auch nicht in allem dieselbe, von Luther abweichende Meinung. Nur in einem Punkt gab es eine deutliche Übereinstimmung: die Betonung des Innerlichen auf Kosten des Äußerlichen und infolgedessen die Ablehnung von äußerlichen Zeichen. Das galt für die Bilder in der Kirche, für die Sakramente und auch für das Thema von Johannes 17, das Gebet. Genau aus diesem Grund wurden sie trotz all ihrer anderen Unterschiede von Luther mit dem Sammelbegriff Schwärmer beschrieben. Einige der ursprünglichen ‚Schwärmer‘ waren bereits tot, als Luther 1528 seine Predigt über Johannes 17 hielt. Aber sie hatten genug Nachfolger, in denen ihr Denken weiterlebte. Mit seiner deutlichen Stellungnahme gegen die Schwärmer in Bezug auf die äußerlichen Gebärden beim Gebet deutet Luther einen immer noch existierenden Konflikt an.

55 Siehe Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Berlin / New York 1989, 658–659. 56 DWB, Bd. 15, 2288–2290. Erst nach der Reformationszeit bekommt das Wort eine mehr säkulare und allgemeine Bedeutung und kann zum Beispiel ‚Irrgeist‘ oder ‚unruhiger Mensch‘ bedeuten. Ab dem 18. Jahrhundert wird ‚Schwärmer‘ für jemanden benutzt, der sich auf übertriebene Art und Weise für eine Sache oder einen Menschen begeistert. Jemand kann zum Beispiel für die Beatles schwärmen. 57 Lateinische Synonyme sind haereticus, sectarius, schismaticus, novator. 58 Siehe zum Beispiel: „Ein Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist [Thomas Müntzer]“, 1524 (WA 15, 210–221); „Eine Lektion wider die Rottengeister und wie sich weltliche Obrigkeit verhalten soll, 1 Tim. 1,18–2,2“. 4. März 1525 (WA 17 I, (XXV) 138–150); „Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament“, 1525 (WA 18, (37) 62–125; 134–214); „Dass diese Worte (Das ist mein Leib etc.) noch fest stehen wider die Schwärmer“, 1527 (WA 23, 64–283). 59 U. a. wurden Andreas von Karlstadt (Bodenstein; 1482 / 1486–1541), Thomas Müntzer (1490– 1525), Nikolaus Storch (?-1525), Hans Hut (1490–1527), Hans Denck (1495–1527) und Konrad Grebel (1498–1526) von Luther als „Schwärmer“ bezeichnet.

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Jesus, der in seinem hohepriesterlichen Gebet ebenfalls Gebärden benutzte, wird von Luther als wichtiges Vorbild angeführt: „Denn hie sihestu, das er nicht allein mündlich bittet, das die jünger hören, sondern auch die weise und geberde darzu brauchet, so man pflegt zu furen, als etliche knien, etliche auffs angesicht fallen, etliche stehen und gen himel sehen, welche dreierley weise alle jnn der schrifft angezeigt sind“.60 Luther nennt hier drei verschiedene Gebärden beim Beten, für die er auf einige biblische Fundstellen verweist. Aber direkt anschließend verdeutlicht er, dass der Kern des Gebets natürlich nicht in den Gebärden liegt. Nicht sie sind, worum es letztendlich geht: „Da ligt nu kein grosse macht an, ob man stehe, knie odder nidderfalle, denn es sind leibliche weise wider verworffen noch geboten als nötig (wie auch andere mehr: heubt und augen gen himel heben, die hende fallten, auff die brust schlagen), allein das man sie nicht verachte, weil sie die schrifft und Christus selbs gelobet“.61 Man darf die Gebärden des Gebets also nicht verachten, denn Christus benutzte sie zuweilen selber und einige werden in der Bibel erwähnt. Aber man kann selbstverständlich auch ohne Gebärden beten, denn sie sind nicht im strikten Sinne notwendig. Es gibt auch Situationen, in denen jemand gerne Gebärden benutzen würde, aber nicht dazu „imstande ist, wie zum Beispiel wenn jemand während der Ernte auf dem Acker arbeitet oder krank im Bett liegt und „alleine mit dem hertzen betet“.62 So jemand braucht sich nach Luthers Meinung sicherlich keine Sorgen zu machen, denn das Beten mit dem Herzen ist genau das Zentrum des Gebets. Luther verdeutlicht dies anschließend noch am Beispiel der Bräuche in der römischen Kirche: „Das ist aber war: wenn es ein lautter eusserlich geberde, gemurre odder geplerre ist, wie man bisher uber tag jnn der kirchen gestanden, die körner am rosenkrantz gezelet, bletter umbgeschlagen, jm Chor geheulet und gedönet hat, das heisset freilich nicht gebetet, Denn es ist gar on hertz und seele“.63 All diese äußerlichen Gebärden sind völlig nutzlos. Sie verdienen noch nicht einmal die Bezeichnung Gebet, denn sie sind ohne Herz und Seele: „Quae fit tantum externe et cor ist 100 meil da von“.64 Dieser Gedankengang zeigt sehr gut, dass Luther in einen doppelten Streit verwickelt war: Auf der einen Seite mit den Schwärmern, die jede äußerliche Gebärde ablehnten, weil es ihnen nur um die innerliche Befindlichkeit ging, und auf der anderen Seite mit der römischen Kirche, der es Luthers Meinung nach vornehmlich um die äußerlichen Gebärden ging, ohne dass das Herz einbezogen zu sein brauchte. Zur römischen Kirche sagt Luther, dass mechanische Gebärden völlig nutzlos seien. Es geht um herzliche Gebärden. Gebärden, die im Herzen

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WA 28, 74, 24–27. WA 28, 74, 32–34; 75, 16–17. WA 28, 75, 22. WA 28, 75, 23–27. WA 28, 75, 10–11.

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beginnen, sonst bleiben es „lautter eusserlich geberde“, ohne Herz und Seele. Den Schwärmern gegenüber macht Luther deutlich, dass es nicht verkehrt ist, wenn Menschen beim Beten Gebärden benutzen wollen. Solange sie auf die Bibel gegründet und auf das Herz gerichtet sind, „das man dadurch das hertz anzünde, lust und andacht zu bitten erwecke, so ist es seer nützlich und gut“.65 Es ist sicherlich nicht Luthers Ansatz, alle Gebärden beim Gebet abzuschaffen, aber er will schon, dass die Gebärden, die verwendet werden, nützlich sind. Nützlich bedeutet, dass sie ein biblisches Fundament haben, das Herz des Menschen in Feuer und Flamme versetzen und Lust und Andacht zum Gebet erwecken. Zur Illustration führt er ein Beispiel für eine nützliche Gebärde aus seiner eigenen Erfahrung an: das Singen und Lesen der Psalmen. Luther nennt es eine gute, alte christliche Tradition, den Psalter jeden Tag zu lesen und zu singen, „das man durch Gottes wort leiblich gehöret und gehandlet andacht schepffe zu ruffen und seufftzen“.66 Das Hören und Singen von Gottes Wort, hier in der Form der Psalmen, hat für Luther eine leibliche Dimension. Es hilft, das Herz zu bewegen, in Feuer und Flamme zu versetzen, so dass der Mensch „ruffen und seufftzen“ kann, was nichts anderes ist als eine Umschreibung für das Gebet. In seinen Klosterjahren hatte Luther die Psalmen in der Liturgie des Stundengebets tagtäglich gehört und gesungen, und noch immer erfährt er diese Texte als wichtige Stütze in seinen täglichen Glaubensanfechtungen. Er sagt, dass er nicht weiß, wie stark die anderen im Geist sind, „aber so heilig kann ich nicht werden, wenn ich noch so geleret und vol geists were, als etliche sich duncken lassen, noch widderferet mirs allezeit, wenn ich on dass wort bin, nicht daran dencke, noch damit umbgehe, so ist kein Christum daheim, ia auch keine lust und geist. Aber so bald ich ein psalmen odder spruch der schrifft fur mich neme, so leuchtets und brennets ins hertz, das ich ander mut und sinn gewinne“.67

65 WA 28, 75, 29–30. Ein Jahr später, 1529, kommt Luther in seiner Schrift „Eine Heerpredigt wider den Türken“ (WA 30 II, (149) 160–197) auf die Gebärden zurück. Er hatte erst festgestellt, dass Christen die Zehn Gebote, das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis gut kennen müssen, insbesondere den Artikel „Und an Jhesum Christ seinen einigen Son unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen geist, geborn von der iungfrawen Maria, gelitten hat unter Pontio Pilato, gecreutzigt, gestorben und begraben, Nidder gefaren zur hellen, Am dritten tag aufferstanden von den todten, aufgefaren gen hymel, sitzend zur rechten Gottes des allmechtigen Vaters, von dannen er komen wird zu richten die lebendigen und die todten&c“ (186, 3–8). Es ist dieser Artikel, der Christen von allen anderen Menschen unterscheidet. Anschließend gibt Luther den folgenden Rat: Wenn jemand in der Türkei ist und keine christliche Predigt hören und kein christliches Buch lesen kann, dann kann er Trost finden in den Zehn Geboten, im Vaterunser und im Glaubensbekenntnis. In Worten oder Gedanken kann er sich diese selber erzählen. Aber auch Gebärden können dann hilfreich sein: „(…) und wenn du auff diesen artickel koempst, so drucke mit dem daumen auff einen finger odder gib dir sonst etwa ein zeichen mit der hand odder fuss, auff das du diesen artickel dir wol einbildest und mercklich machest (…)“ (186, 21–24). 66 WA 28, 75, 32–33. 67 WA 28, 76, 15–21.

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„Mut und Sinn“ und zwei Reihen weiter „Sinn und Gedanken“ 68 werden in Rörers Nachschrift zur eben zitierten Textstelle mit „cogitationes“ wiedergegeben: „Sic mihi fit, quando ego sine verbis sum, non lego, non gedenck: nemo ist bey mir da heim, si lego psalmum, acquiro alias cogitationes“.69 Der Grund für die Mischung von Deutsch und Latein liegt darin, dass Rörer, so wie Luther und die meisten ihrer akademisch ausgebildeten Zeitgenossen, zweisprachig war. Diese spezifische Form der Zweisprachigkeit wird in der Sprachwissenschaft als Diglossie bezeichnet.70 Jede Sprache hatte einen eigenen Anwendungsbereich und diese Bereiche waren nicht nach Belieben austauschbar. Latein gehörte zum Bereich von Schule, Wissenschaft, Liturgie und Kirche, Deutsch dagegen zum täglichen Leben und zur Familie. Für eine größere Zugänglichkeit und Verbreitung von Gottes Wort hatte Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt und aus demselben Grund predigte er auch auf Deutsch. Schließlich beherrschte der Großteil seiner Zuhörerschaft kein Latein. Genau diese Gruppe wollte Luther jedoch erreichen und das ging nur auf Deutsch. Bei den Nachschreibern seiner Predigten spielte das jedoch keine Rolle. Während des Nachschreibens stand meistens noch nicht fest, ob die jeweiligen Predigten auch gedruckt würden. Den Nachschreibern ging es in erster Linie darum, die Predigten aufzuzeichnen und zu archivieren, so dass sie für eventuelle Drucke zur Verfügung standen. Sie schrieben die auf Deutsch gehaltenen Predigten häufig auf Latein auf, weil es zu einem großen Teil um Vokabular ging, das ihnen aus der Theologie an der Universität vertraut war. Rörer hatte hierfür sogar als einer der ersten ein Abkürzungssystem entwickelt, eine Art Vorläufer der modernen Stenografie. Wörter, die nicht zum theologisch vertrauten Vokabular gehörten oder aus der Alltagssprache kamen und Neologismen, die Luther sich sprachlich-innovativ ‚ausgedacht‘ hatte, wurden im durchlaufend lateinischen Text auf Deutsch aufgeschrieben. „Cogitationes“ steht in Rörers Nachschrift auf Latein, weil es ein ihm vertrauter theologischer terminus technicus war, für den Cruciger in seinem im Auftrag Luthers verfertigten durchlaufenden deutschen Text mehrere Wörter benötigt. Ohne Rörers Nachschrift hätte man wahrscheinlich viel mehr Mühe gehabt, um von ‚Mut und Sinn‘ und ‚Sinn und Gedanken‘ auf ‚cogitationes‘ rückzuschließen. Aber genau aus dem Nachschreiben der auf Deutsch gesprochenen Worte Luthers zeigt sich, dass ‚cogitationes‘ im Kontext von Johannes 17 für Luther eine andere Nuance hat als die klassische Bedeutung des Wortes. Ein Wörterbuch für klassisches Latein übersetzt ‚cogitationes‘ mit ‚Nachdenken, Erwägung, Idee‘, was im Wesentlichen damit übereinstimmt, wie Quintilian das Wort kennt, nämlich als ‚Denken, Erörterung, Erwägung‘.71 All diese Übersetzungen

68 WA 28, 76, 22–23. 69 WA 28, 76, 2–3. 70 Für mehr Informationen zu dieser Form von Diglossie und ihrer Bedeutung für die Erforschung von Luthertexten siehe Hiebsch (wie Anm. 7), 22–38, und die weiteren Literaturangaben dort. 71 Siehe Zundel (wie Anm. 38), 17.

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funktionieren über den Kopf, haben eine rationale Konnotation. Das Wörterbuch von Blaise-Patristic72 nennt als erste und grundlegende Übersetzung von ‚cogitationes‘ „vergebliche, nichtige Gedanken“ („vaines pensées“) und weiter „Sorge, Zweifel, Unruhe“. Auch hier geht es um rationale Bedeutungen, aber im Gegensatz zum klassischen Gebrauch hat ‚cogitationes‘ neben der rationalen auch eine vorwiegend pejorative Konnotation. Das wird bestätigt, wenn man sich anschaut, wie das Wort in der Bibel benutzt wird. Was die Vulgata mit ‚cogitationes‘ übersetzt, heißt im Griechischen des Neuen Testaments διαλογισμός (dialogismos). Die Konkordanz zum Griechischen Neuen Testament 73 nennt neun Fundstellen für διαλογισμός und erklärt außerdem, dass neben der ersten Bedeutung von ‚cogitatio‘ auch ‚haesitatio‘ (Zögern, Unentschlossenheit) und ‚disceptatio‘ (Untersuchung, Erörterung, Überlegung, Gedanke, Debatte und Streitfrage) gemeint sein können. In Matthäus 15, 19 bedeutet es ‚böse Gedanken‘; in Lukas 2, 35 ‚Gedanken‘; in Lukas 5, 22 ‚Gedanken‘ im Sinne von ‚disceptatio‘, in Lukas 24, 38 ‚Erwägungen‘ im Sinne von ‚haesitatio‘. In Römer 1,21 bedeutet es ‚Gedanken‘, die auf nichts hinauslaufen; in 1 Korinther 3, 20 sind die Überlegungen der Weisen gemeint, die fruchtlos sind; in Philipper 2, 14 geht es um ‚Bedenken‘ im Sinne von ‚haesitatio‘; in 1 Timotheus 2, 8 bedeutet es ‚Zweifel‘ und in Jakobus 2, 4 steht es für ‚böse Gedanken‘. Bei keiner dieser Stellen hat διαλογισμός eine deutlich positive Bedeutung; lediglich Lukas 2, 35 ist neutral formuliert. Das theologische Wörterbuch von Kittel schlussfolgert dann auch: „Es ist dem vielseitigeren Gebrauch der LXX gegenüber auffallend, daß das NT διαλογισμός nur im negativen Sinne kennt, als schlechter Gedanke und ängstlichbedenkliche Reflexion. Das zeigt, daß besonders im Gebiete des Denkens die Gebundenheit, das Durchdrungensein des Herzens mit sündigem Wesen tief empfunden wird“.74 Bei Römer 1, 21 kommt die Schlussfolgerung von Kittel vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck: „Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert“.75 Bei Luther dagegen zeigt sich, dass gerade das Herz eine entscheidende Rolle spielt bei der Konnotation von ‚cogitationes‘ beziehungsweise ‚Mut, Sinn und Gedanken‘. Luther sagt, dass ‚Mut, Sinn und Gedanken‘, wenn wir auf uns selber gestellt sind, tatsächlich unsicher, vergänglich und nicht unerschütterlich sind. Gottes Wort dagegen, zum Beispiel in der Form von gelesenen und gesungenen Psalmen, macht, dass es „leuchtet und brennet ins hertz, das ich ander mut und sinn gewin-

72 Blaise, Albert: Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens. Turnhout [1986]. 73 Schmoller, Alfred: Handkonkordanz zum Griechischen Neuen Testament (Text nach Nestle). Stuttgart 91951, 117. 74 Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. v. Gerhard Kittel, 11 Bände, Stuttgart / Berlin / Köln 1933–1979, Bd. 2, 97, 39–43. 75 Zitiert nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, revidierte Fassung von 1984.

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ne“.76 Das Herz eines Menschen muss für Luther nicht düster und unverständig bleiben, sondern kann dadurch, dass Gottes Wort in es hineinkommt, leuchten und brennen und dafür sorgen, dass der Mensch positive Gedanken hat und sich in seinem Glauben gestärkt und getröstet fühlt. Luther betont, wie wichtig und notwendig es ist, dass jeder Mensch dies täglich selber erfährt, weil wir geneigt sind, zu denken, dass wir diese positiven Gedanken aus uns selber heraus erreichen können und dazu nicht Gottes Wort von außen her nötig haben. Aber Intellekt lässt das Herz nicht brennen; denken, dass man ‚voll des Geistes‘ ist, wie die ‚Schwärmgeister‘ das tun, ebenso wenig. Der Mensch kann aus sich selbst heraus noch nicht einmal ernsthaft beten, ohne sofort wieder abgelenkt zu werden: „gehet es gewislich also, das wir ehe man sich umbsihet, wohl hundert meil von den ersten gedancken faren“ 77 Das ‚Wir‘ steht hier wiederum zielbewusst. Luther geht nämlich keineswegs davon aus, dass er dies besser könnte als seine Zuhörerschaft. Genau darin liegt auch der ermutigende und pastorale Charakter dieser Passage seiner Predigt, dass Luther offen seine eigenen Anfechtungen mit den Zuhörern teilt und deutlich macht, dass (s)eine akademische Ausbildung nicht bedeutet, dass man Gottes Wort, gelesen und / oder gesungen nicht mehr täglich nötig hätte. Luther fordert seine Zuhörer heraus, indem er sie fragt, wer von ihnen meine, einen Gedanken eine längere Zeit festhalten zu können, ohne sofort abgelenkt zu werden. Und wer wollte ehrlich erzählen, was ihm alles durch den Kopf geht, wenn er sich vornimmt, eine Stunde lang bei einem bestimmten Gedanken zu bleiben? Luther ist der erste, der gleich zugibt, dass er von sich selber weiß, dass ihm dann die verrücktesten Gedanken durch den Kopf gehen, egal wie viel Mühe er sich auch gibt, dies zu verhindern. Er sieht dies als Beweis dafür, dass das Herz des Menschen nicht von Natur aus brennend ist, sondern unbeständig und unruhig. Anschließend unterstreicht Luther seine eigene Erfahrung noch mit einem Beispiel, das er von Bernhard von Clairvaux (1090–1153) kannte. Auch der heilige Bernhard hatte versucht, sich zu konzentrieren und so lange wie möglich bei einem Gedanken zu bleiben, aber es war ihm nicht gelungen. Er beklagte sich bei einem Freund, dass er nicht ein einziges Vaterunser beten könne, ohne an allerlei andere Dinge zu denken. Der Freund fand das sehr seltsam und antwortete, dass er damit überhaupt kein Problem habe. Daraufhin wettete Bernhard mit ihm, dass auch er nicht ein einziges Vaterunser zu Ende beten könne, ohne zwischendurch an andere Dinge zu denken. Sollte es ihm allerdings doch gelingen, dann versprach er ihm einen Hengst. Der Freund war einverstanden und fing an: „Vater unser im Himmel…“. Aber noch bevor er den ersten Satz ausgesprochen hatte, überlegte er bereits, ob er zusammen mit dem Pferd auch einen Sattel und Zügel bekommen würde. Und so verlor er seine Wette mit Bernhard.78 „Summa kanstu ein Vater unser on 76 WA 28, 76, 20–21. In Rörers Nachschrift steht „acquiro alias cogitationes“ (WA 28, 76, 3). 77 WA 28, 76, 25–26. 78 WA 28, 77, 12–21. Luther konnte diese Geschichte von Bernhard zum Beispiel durch die „Legenda aurea“ kennen. Siehe Legenda aurea. Hg. v. Johann Georg Theodor Graesse. Dresden / Leipzig

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einige andere gedancken sprechen, so will ich dich fur ein meister halten; ich vermag es nicht“.79 Luthers Zuhörer, die dies ebenso wenig können, befinden sich also in guter Gesellschaft und brauchen sich sicherlich nicht zu schämen. Am Beispiel Bernhards will Luther deutlich machen, dass das Erfahren keine Nebensache, sondern ein zentrales Element des Glaubens ist. Dies berührt zwei Bausteine von Luthers Theologie. An erster Stelle geht es Luther um eine theologia practica und nicht um eine theologia speculativa. Diese beiden Begriffe verweisen auf eine Diskussion des (Spät)Mittelalters über die Frage, wie man Theologie als Wissenschaft aufzufassen habe, als praktische (theologia practica) oder als theoretische Wissenschaft (theologia speculativa). In der scholastischen Theologie, die an den Kathedralschulen und Universitäten gelehrt wurde, fasste man die Theologie als eine theoretische Wissenschaft auf, wobei die menschlichen Erfahrungen mit dem Glauben nicht als wesentlicher Bestandteil der Erlangung des Glaubens gesehen wurden. In den monastischen Traditionen, vor allem bei Augustinus und Bernhard, die von den Mönchen in den Klöstern studiert wurden, war Theologie hingegen eine praktische Wissenschaft. Gottes Wort stand im Zentrum und bekam den Raum, sich zu öffnen, so dass die Leser und Hörer ihre Erfahrungen von Leiden, Anfechtung und Trost daran erproben und prüfen konnten. Diese Traditionen beeinflussten Luthers Sichtweise der Theologie als eine theologia practica, insbesondere, wenn es um den Platz und die Bedeutung der menschlichen Erfahrung bei der Erlangung des Glaubens geht. Es ist dann auch sicherlich kein Zufall, dass Luther bei einer Predigt über das Gebet eine Geschichte von Bernhard zitiert. Daraus folgt für Luther: „Sola experientia facit theologum“.80 Auch dieser zweite Baustein von Luthers Theologie findet seine Anwendung auf seine Zuhörer in der Gemeinde, denn Theologe zu sein, beschränkt sich für Luther nicht auf diejenigen, die die Theologie als Beruf ausüben: „Ein wissenschaftlicher Theologe unterscheidet sich von anderen Christen, die als Christen immer schon begonnen haben, auch Theologen zu sein,81 nur dadurch – das ist sein besonderer Beruf – daß er vom christlichen Glauben in wissenschaftlichen Sätzen Rechenschaft geben können muß (…)“.82 So erklärt es sich, dass Luther sich in seiner Predigt neben seine Zuhörer stellt, um ihnen deutlich zu machen, dass er in Bezug auf die Erfahrung mit dem Gebet nicht über ihnen steht. Er mag zwar in seinem Studium mehr über die Bibel gelernt

1846, 534 f.; Tubach, Frederic: Index Exemplorum: A Handbook of Medieval Religious Tales, Helsinki 1969, Nr. 595. Über das Register in WA 63 konnte dieser Hinweis nicht gefunden werden. Theo Bell hat das WA-Namensregister, Bernhard von Clairvaux, WA 63, 93–98, um diese Stelle ergänzt, siehe auch ders.: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften. Mainz 1993, 307, Anm. 109. 79 WA 28, 77, 22–23. 80 WA.TR 1, 16, 13 (Nr. 46, 1531) (Allein die Erfahrung macht den Theologen). 81 Siehe WA 41, 11, 9–13 (Predigt zu Psalm 5; 1535): „Omnes dicimur Theologi, ut omnes Christiani“ (Wir heißen alle Theologen, wie wir auch alle Christen heißen). 82 Bayer, Oswald: Martin Luthers Theologie. Tübingen ²2004, 17.

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haben, aber auch er muss seine Anfechtungen alle selbst erfahren, so dass das Lernen mit dem Herzen geschehen kann. In der konkreten Situation von Johannes 17 bezieht Luther das Erfahren in erster Linie auf die Tatsache, dass der Mensch nicht mit eigener Willenskraft sein unruhiges Herz zur Ruhe bringen kann. In zweiter Linie kann gerade das Erfahren der eigenen Ohnmacht dazu führen, sich für das „eusserlich wort und weise“ zu öffnen, so dass man erfahren kann, dass beide, Wort und Gebärde, nützlich und nötig sind. Das ist nämlich, was das Herz zusammenhält, „das nicht zurstrewet werde, und sich mit den gedancken an die buchstaben heffte, wie man sich mit der faust an ein bawm odder wand halten mus, auff das wir nicht gleiten odder zu weit fladdern und jrre faren mit eigenen gedancken“.83 Hier zeichnet Luther voller Pathos das Bild eines Herzens, das erst durch das Wort in Feuer und Flamme versetzt und so zusammengehalten wird und das sich anschließend an diesem Wort festklammert, so wie ein Mensch sich an einem Baum oder einer Mauer festklammern kann, um nicht wegzurutschen. Wenn das Herz wegrutscht, dann verlieren wir uns in unseren eigenen Gedanken; wir werden buchstäblich verrückt von unseren Gedanken. Genau das ist nach Luthers Meinung mit den Schwärmern passiert, und deshalb nennt er sie auch zuweilen „tolle heilige“, ‚toll‘ in der Bedeutung von verrückt. Sie finden ihre eigenen Gedanken so wichtig und hochtrabend und merken noch nicht mal, dass sie ohne das Wort auf dem „holtzweg“ sind.84 ‚Auf dem Holzweg sein‘ ist ein Ausdruck für ‚sich täuschen, auf dem verkehrten Weg sein‘. ‚Holz‘ war im 16. Jahrhundert nicht nur die Bezeichnung für Holz als Material, sondern auch ein Synonym für Wald und Forst. Ein ‚Holzweg‘ war ein Weg, der aus wirtschaftlichen Gründen in einem Wald angelegt wurde, so dass zum Beispiel gefällte Bäume einfacher abtransportiert werden konnten. Es war ein Weg, der in allerlei Schnörkeln und Kurven durch den Wald führte und die verschiedenen Arbeitsplätze miteinander verband. Im Gegensatz zu langen, geraden Straßen, die Dörfer oder Städte miteinander verbanden, war ein Holzweg ein Weg ohne deutlichen Anfang und Ende.85 Neben dieser buchstäblichen Bedeutung bekam Holzweg eine bildliche Bedeutung in Sprichwörtern. Jemand, der auf dem Holzweg lief, hatte den falschen Weg gewählt und befand sich auf einem Irrweg. Auch Luther benutzt Holzweg in dieser sprichwörtlichen Bedeutung, oftmals, um den guten und den falschen Weg einander gegenüberzustellen. Er kann dann zum Beispiel sagen, dass die Welt den Holzweg wählt: „Die welt will doch der wege keinen recht, sonder jmerdar den holtzweg gehen“.86 In einer Predigt über Johannes 14, 6 (‚Ich bin der

83 WA 28, 77, 27–30. 84 WA 28, 77, 33. 85 Siehe DWB Bd. 10, 1784. In einer anderen Passage von Luthers Predigten über Johannes wird in einer Anmerkung darauf hingewiesen, dass ‚Holzweg‘ ein Weg ist, der plötzlich endet (WA 28, 168, 10). 86 WA 36, 447, 29–30 („Epistel S. Johannis von der Liebe“, 1532).

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Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich‘) sagt Luther: „Das Christus sey nicht allein anfenglich der weg, sondern der rechte gewisse weg, und allein endlich der weg bleibe, daran man sich jmer halten mus, und nicht verfüren lassen die holtzweg, so uns abweisen etwas anders zu suchen, neben Christo (…)“.87 In seiner Predigt über Johannes 17 sieht Luther die Schwärmer als genau solch eine gefährliche Verführung. Sie wollen die Menschen ebenfalls vom rechten Pfad abbringen, indem sie ihnen weismachen, dass sie das verbum externum nicht nötig haben. Für Luther ist diese Auffassung ein Holzweg, und darum warnt er seine Zuhörer: „Darumb sey gewarnet fur solchen fliegenden gedancken und hütte dich nur mit Gott zuhandlen ausser dem mündlichen wort und gebete“.88 Neben den Schwärmern kommt Luther am Ende seiner Einleitung auch noch einmal auf die römische Kirche zurück. Beide Gruppen formen zusammen den konkreten Referenzrahmen für Luthers Argumentation. Es sind diese beiden Fronten, gegen die Luther sich aus verschiedenen Gründen abgrenzt. Während er gegenüber den Schwärmern dagegen ankämpft, dass Gebärden beim Gebet grundsätzlich überflüssig und verkehrt sind, hält er gegenüber der römischen Kirche daran fest, dass der Fokus beim Gebet nicht auf den Gebärden liegen kann. Zu den „nonnae, pfaffen, munch“,89 die sich beim Gebet lediglich um die Äußerlichkeiten kümmern, sagt Luther: „Das heist Christus battologiam ein gewesch, unnutz geschwetz“.90 Das Wort ‚battologia‘ ist die latinisierte Form des griechischen βαττολογία, das ‚eitle, nutzlose Wiederholung und Geschwätz‘ bedeutet und als solches auch ein terminus technicus der klassischen Rhetorik ist.91 Die zentrale Fundstelle im Neuen Testament ist Matthäus 6, 7–8 und lautet in Luthers Übersetzung: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viel Worte machen“.92 ‚Viel Worte‘ ist im Griechischen πολυλογία. Luther benutzt meistens nicht das griechische Wort, sondern die lateinische Version ‚multiloquium‘ und diese kommt auch einige Mal in der Kombination mit ‚battologia‘ vor. In seiner Vorlesung über 1 Timotheus, die genau wie die Predigten über Johannes 17 1528 gehalten wurde, sagt Luther zum Beispiel: „Battologia stulti et multiloqium nihil valet“.93 Und in seiner Auslegung von Psalm 25 kommt er zur folgenden Schlussfolgerung über das Gebet: „Oratio enim non est battologia et multiloquium“.94 Aber 87 WA 45, 503, 18–21 („Reihenpredigten über Johannes 14–15“, 1533; Druckfassung 1538). 88 WA 28, 77, 33–35. 89 WA 28, 77, 9; 78, 1. 90 WA 28, 78, 2. 91 Für die etymologische Herkunft von ‚battologia‘ wird meistens auf die „Metamorphosen“ von Ovid (43 vor Chr. − 17 nach Chr.) hingewiesen, in denen ein Dichter mit dem Namen Battus auftritt, der viel zu lange Gedichte macht, bei denen Wörter und Zeilen oft wiederholt werden. 92 Lutherbibel, revidierte Fassung 1984. 93 WA 26, 86, 14–15 („Das eitle Geschwätz und die vielen Worte des Narren sind nichts wert“). 94 WA 31 I, 373, 36 („Denn das Gebet ist kein eitles Geschwätz und viele Worte“; „Auslegung der ersten 25 Psalmen“, Koburg 1530).

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das Beten der ‚nonnae, pfaffen, munch‘ ist sehr wohl ‚battologia‘, denn „das hertz gedenckt nicht an Gott“.95 Das römische Beten bleibt ganz an der Außenseite, so dass das Herz noch nicht mal erfährt, was der Mund sagt oder zu tun gedenkt. Das bringt Luther zu der Schlussfolgerung: „Heuchley ist quando fit sine corde“.96

Fazit Aus Luthers Einleitung zu seiner Predigt über Johannes 17 wird deutlich, dass das Herz für ihn der entscheidende Faktor dafür ist, wie ein Mensch betet. Das Herz befindet sich zwar an der Innenseite des Menschen, aber das ist für Luther nicht dasselbe wie die innerliche Befindlichkeit, die für die Schwärmer so wichtig ist, letztendlich sogar wichtiger als das verbum externum. Luther assoziiert das Herz nicht einseitig mit einem Gefühlswert, sondern versteht es auf alttestamentliche Weise als das Zentrum des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, wobei Verstand und Gefühl keine Gegensätze sind. Das Herz ist genau der Ort, wo der Mensch mit dem verbum externum in Berührung kommt. Gott hat seine Gebote in das Herz des Menschen gegeben, und dadurch ist das Herz der Ort par excellence für die Begegnung zwischen Gott und Mensch. Wenn das Herz des Menschen durch die Worte Gottes berührt und bewegt wird, so ist das Herz wiederum der richtige Ausgangspunkt für das Sprechen des Menschen in der Form des Gebets. Luthers Sichtweise unterscheidet sich hier diametral von der Auffassung der Schwärmer und von der traditionell katholischen Weise des Betens. Luther sieht beide als gefährliche Irrwege, vor denen er seine Zuhörer ausdrücklich warnt. Luther widerspricht der Auffassung der Schwärmer und erklärt, dass das Herz des Menschen sehr wohl von außen durch das Wort Gottes berührt werden muss. Das Wort ist imstande, das Herz ‚zusammenzuhalten‘, so dass es sich mit allem, was in ihm ist, am Wort festklammern kann. Aus eigener Kraft könnte es das jedoch nicht. Jesu Gebet in Johannes 17 wird von Gebärden begleitet, und Luther verdeutlicht in seiner Auslegung, wie die Gläubigen am besten mit solchen Gebärden umgehen können. Er ist auf der einen Seite der Meinung, dass die Gebärden, die in der katholischen Kirche, in der Messe und in den Klöstern gangbar sind, mechanische und rein äußerliche Gebärden sind und nicht mit dem Herzen des Menschen verbunden. Das macht sie für Luther zu Heuchelei. Auf der anderen Seite, so betont Luther wiederholt gegenüber den Schwärmern, können dieselben Gebärden, wenn sie zusammen mit dem Wort im Herzen des Menschen verankert sind, sehr wohl nützlich sein. Sie sind nicht wirklich notwendig, aber können dem Menschen beim Gebet helfen. Luther erzählt freimütig, wie er

95 WA 28, 78, 2–3. 96 WA 28, 78, 10 („Heuchelei ist, wenn es ohne Herz ist“).

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selbst noch täglich in allerlei Anfechtungen erfährt, dass ihm manche Gebärden, zum Beispiel das Lesen oder Singen der Psalmen, helfen. Zusammen mit dem Wort versetzen sie sein Herz aufs Neue in Feuer und Flamme und verändern so dessen Gedanken. Jeder Mensch muss dies selbst erleben und erfahren. Es lässt sich nicht aus Büchern lernen. Luther kommt schließlich zu dem Schluss, dass das Benutzen oder Nichtbenutzen der Gebärden beim Gebet nicht die zentrale Frage ist. Wenn das Gebet im Herzen des Menschen beginnt, ergibt sich der Rest danach von selber: „Sondern also, das das hertze anhebe, darnach mund und leib eusserlich, wort und geberde mitgehe. Summa: wenn es von hertzen geht mit lust und ernst zubitten, da ist alles löblich und gut, wie man sich dazu stellet“.97

97 WA 28, 78, 22–25.

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„Spectator ardens discere“ Die visuelle Poesie biblischer Meditation in Benito Arias Montano’s „Humanae salutis monumenta“ von 1571 Meditation lässt sich beschreiben als ein selbstgewähltes disziplinarisches Regime aus geistigen und körperlichen Übungen, die dem Übenden erlauben, sich ein Bild seiner selbst vor Augen zu rufen, dieses zu prüfen und es von dorther zu verbessern und umzugestalten.1 In der Praxis bestand Meditation oft aus inneren Übungen, die die sensitiven Fähigkeiten der Bewegung, der Emotion und des Fühlens (innerlich und äußerlich) und die intellektuellen Fähigkeiten der Vernunft, des Gedächtnisses und des Willens anregten, mit dem Ziel, die Seele zu läutern. Oft wurden Techniken der Visualisierung angewendet um die verbindende Funktion der Seele als vinculum mundi einzusetzen, ihre zentrale Position in der großen Kette des Seins zwischen Himmel und Erde, diesseitiger und spiritueller Erfahrung. Tatsächlich mag es richtig sein, zu behaupten, dass Meditation ein Prozess zur Befähigung der Seele sei, ihre eigenen Züge mit dem Ziel der Selbstverbesserung und Läuterung wahrzunehmen. Dabei gab es nicht nur einen Prozess, sondern viele. Und diese Prozesse waren verschiedenen Bestimmungen gewidmet: weltlichen ebenso wie geistlichen. Meditation besitzt einen ehrwürdigen Stammbaum, wie Pierre Hadot in mehreren Aufsätzen und Monographien über die stoische, epikuräische und neoplatonische Philosophie gezeigt hat. Als spirituelle Übung verstanden spielt sie eine zentrale Rolle in dem, was er das „Panorama stoisch-platonisch inspirierter philosophischer Therapeutik“ taufte.2 Unter anderen Quellen zitiert Hadot Philo von Alexandrias „Allegorische Interpretationen“, die Meditation (melete) als eine der wichtigsten therapeutischen Übungen beschreiben, sowie die Schrift „Über den Erben des Göttlichen“, die ergänzende Therapien wie Forschung (zetesis), gründliche Untersuchung (skepsis), Lesen (anagnosis), Hören (akroasis), Aufmerksamkeit (prosoche), Selbstbeherrschung (enkrateia) und „Gleichgültigkeit gegenüber gleichgültigen Dingen“ aufzählt.3 In den philosophischen Traditionen, die Hadot studiert hat, ist Meditation der gedankliche Prozess der prosoche, die die Aufmerksamkeit des

1 Siehe zu diesem Themenkreis auch Melion, Walter S. / Enenkel, Karl: Introduction. Types and Functions of Meditation in the Transition from Late Medieval to Early Modern Intellectual Culture. In: Meditatio – Refashioning the Self. Theory and Practice in Late Medieval and Early Modern Intellectual Culture. Hg. v. Dens. Leiden 2011 (Intersections. Studies in Early Modern Culture 17–2011), 1–23 – Für die Übersetzung des vorliegenden Aufsatzes aus dem Englischen in das Deutsche sind die Herausgeberinnen Patrick Mesenbrock sehr verbunden. 2 Hadot, Pierre: Philosophy as a Way of Life. Hg. v. Arnold I. Davidson, übers. v. Michael Chase. Oxford u. a. 1995, 84; siehe auch Ders.: Exercises spirituels et philosophie antique. Paris 1981. 3 Hadot: Philosophy (wie Anm. 2), 84. https://doi.org/10.1515/9783050051659-011

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Verstands für sich selbst sowie für Gott, und den göttlichen logos, erhöht: Beide Arten von Aufmerksamkeit müssen kultiviert werden, macht doch die Gegenwart des Geistes dem Bewusstsein erst die Gegenwart des göttlichen logos wahrnehmbar. Des Weiteren funktioniert Meditation durch Anwendung spiritueller Wachsamkeit: Sie erprobt die Stärke der moralischen Überzeugung des Meditierenden und prüft, ob und bis zu welchem Grad seine Gedanken und Handlungen mit seiner Philosophie, das heißt mit den grundlegenden Regeln des Lebens, die er vorgibt verinnerlicht zu haben, in Einklang stehen.4 Die spirituellen Übungen der antiken Philosophie waren maßgeblich für das einflussreichste meditative Programm des sechzehnten Jahrhunderts, Ignatius von Loyolas „Exercitia spiritualia“, wie Paul Rabbow in „Seelenführung“, seiner klassischen Studie stoischer und epikuräischer Methoden der Meditation, überzeugend dargelegt hat.5 Hadot erweitert diese Darstellung, indem er patristische Quellen anführt, die gleichermaßen entscheidend für Ignatius‘ Neuformulierung der spirituellen Übung als Instrument christlicher reformatio sind. Basil von Caesarea war derjenige Theologe, der prosoche als essentielle Komponente mönchischen Lebens installiert hat, in welcher meditative Hingebung die Wachsamkeit der Seele (nepsis) und deren Hinwendung zum Spirituellen entscheidend stärkt und so die Anstrengungen des Mönchs unterstützt, sein Herz in einen angemessenen Ort Gottes zu wandeln. Meditative Schemata wie Ignatius‘ „Exercitia spiritualia“ und ihre Nachfolger versuchen, den meditans (womit sowohl Laien als auch Kleriker gemeint sind) diskursiv einer doktrinären Norm anzupassen, auch wenn gleichzeitig das Recht verteidigt wird, Meditation als freiwilligen und privaten Prozess der Selbst-Anpassung an Christus anzusehen.6 Der gewaltige Erfolg von Ignatius‘ Übungen liegt in seiner Fähigkeit begründet, diese idealen Funktionen – öffentlich und privat, gemeinschaftlich und individuell – innerhalb eines in messbare Einheiten unterteilten performativen Rahmens zu versöhnen, der in Stufen von der Untersuchung des Gewissens zur Kontemplation göttlicher Liebe fortschreitet. Hier muss jedoch betont werden, dass es – auch nach Publikation und päpstlicher Ratifikation der „Exercitia spiritualia“ 1548 – viele Herangehensweisen zum meditativen Leben gab. Dies will

4 Ebd. 131 f. 5 Rabbow, Paul: Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1999, 55–90. 6 Aus der zahlreichen Literatur über die „Exercitia spiritualia“ siehe Fabre, Pierre-Antoine: Ignace de Loyola. Le lieu de l’image. Le problême de la composition de lieu dans les pratiques spirituelles et artistiques jésuites de la seconde moitié du XVIe siècle. Paris 1992; O’Malley, John W.: The First Jesuits. Cambridge (Mass.) / London 1993) 37–50, 127–133; Ders.: „Les Exercices spirituels sont-ils illustrables?“. In: Les Jésuites à l’âge baroque 1540–1640. Hg. v. Luce Giard und Louis Vaucelles. Grenoble 1996, 197–209; Ruhstorfer, Karlheinz: Das Prinzip ignatianischen Denkens. Zum geschichtlichen Ort der ‚Geistlichen Übungen‘ des Ignatius von Loyola. Freiburg / Basel / Wien 1998 (Freiburger Theologische Studien 161), 112–219; Palmer, Martin E.: On Giving the Spiritual Exercises. The Early Jesuit Manuscript Directories and the Official Directory of 1599. St. Louis 1996.

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ich im Folgenden durch Untersuchung eines der ersten biblisch-emblematischen Bücher, den „Humanae salutis monumenta“ (Monumente menschlicher Erlösung) von Benito Arias Montano (Abb. 1), darlegen, welches sprachliche und visuelle Werkzeuge bereitstellt, um die Heilsgeschichte zu meditieren, so wie sie sich in der Bibel offenbart.7 Die „Monumenta“ waren für Publikum sowohl klerikaler als auch nicht-klerikaler meditantes gestaltet worden, die bereit und gewillt dazu waren, ihre Fähigkeiten der nepsis und der prosoche durch intensive Beschäftigung mit Schlüsselmomenten der Bibelgeschichte zu kultivieren. Die meditativen Prozesse, wie sie von Arias Montano angelegt wurden, sind, wie wir sehen werden, sowohl poetisch als auch bildlich und sowohl emblematisch als auch exegetisch. 1571 von Christopher Plantin veröffentlicht, bestehen die „Humanae salutis monumenta“ aus einundsiebzig gravierten Szenen des alten und des neuen Testaments, die die Erlösungsgeschichte, in chronologischer Reihenfolge auf die folios recto gedruckt, vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht darstellen.8 Drei logisch aufeinander folgende und typographisch voneinander unterschiedene Texte begleiten die Illustrationen: An der Oberseite ein kurzes Motto, das das Thema vorgibt, gefolgt von einem Distichon, welches das Verhältnis des Mottos zum gedruckten Bild kommentiert; an der Unterseite eine Widmung, die das Bild einer heiligen Person oder einem heilsgeschichtlichen Thema widmet (Abb. 2). In einem Vorwort, das diesen Bild-Text-Apparat erläutert, bezeichnet Plantin diese drei Texttypen als „genus architectonicum“, weil sie einer bildlichen Konstruktion (das heißt, Komposition) beigefügt sind, die für ihre Bedeutung ausschlaggebend ist – ohne Bezug zum Text verlieren sie ihre Bedeutung.9 Dieses Gebäude wechselseitig reflexiver Texte und Bilder ist in seiner Struktur emblematisch. Darüber hinaus ist jedes folio recto

7 Arias Montano, Benito, Humanae salutis monumenta B.Ariae Montani studio constructa et decantata. Antwerpen: Christophorus Plantinus, 1571. 8 Über die „Humanae salutis monumenta“, entworfen von Pieter van der Borcht in Zusammenarbeit mit Montano, gestochen von Abraham de Bruyn, Pieter Huys sowie Johan und Hieronymus Wierix, veröffentlicht von Christopher Plantin siehe Voet, Leon: The Golden Compasses. The History of the House of Plantin-Moretus, 2 Bde. Amsterdam / New York 1969 / 1972), Bd. I, 69; Ders.: The Plantin Press. A Bibliography of the Work Printed and Published by Christophe Plantin at Antwerp and Leiden, 6 Bde. Amsterdam 1980–83, Bd. I, 182–88, Nrn.. 588–590; Hänsel, Sylvaine: Der spanische Humanist Benito Arias Montano (1527–1598) und die Kunst. Münster 1991, 68–89; Bowen, Karen L.: Illustrating Books with engravings: Plantin’s Working Practices Revealed. In: Print Quarterly 20 (2003), 3–34; Stroomberg, Harriet: The Wierix Family. Book Illustrations, 2 Teile. Ouderkerk aan den Ijssel 2006 (The New Hollstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 5), Bd. II, 23–44, Nr. 3, 3b, 188–195, Nr. 33; Mielke; Hans / Mielke, Ursula: Peeter van der Borcht, Book Illustrations, 6 Teile. Ouderkerk aan den Ijssel 2006 (The New Hollstein Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 15), Bd. III, 52–121; Bowen, Karen L. / Imhof, Dirck: Christopher Plantin and Engraved Book Illustrations in Sixteenth-Century Europe. Cambridge u. a. 2008, 107–112; Melion, Walter: The Meditative Art. Studies in Northern Devotional Print. 1550– 1625. Philadelphia 2009, 43–49. 9 Plantin, Christopher: Christophorus Plantinus Lectori S. In: Arias Montano (wie Anm. 7), unpaginiert – siehe zum genus architectonicum auch Melion 2009 (wie Anm. 8), 44–45.

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Abb. 1: Benito Arias Montano, Humanae salutis monumenta, Titelseite. Antwerpen: Christopher Plantin, 1571. Atlanta, Emory University, Manuscript, Archives, and Rare Book Library.

„Spectator ardens discere“

Abb. 3: Benito Arias Montano, Ode zum Sündenfall, in: Humanae salutis monumenta.

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Abb. 2: Abraham de Bruyn nach Pieter van der Borcht, Kupferstich zum Sündenfall, in: Humanae salutis monumenta.

Teil einer Doppelseite, die zur Linken von einer Horazischen Ode vervollständigt wird, dem sogenannten genus poëticum, die auf den folios verso gedruckt ist und die Grafik weiter erläutert (Abb. 3).10 Die Formulierung des Titels, „in tabulam“, die durch das gesamte Buch hindurch verwendet wird, deutet an, dass die Gedichte die bildlichen monumenta betreffen. Diese Gedichte, obwohl sie doktrinäre und homiletische Themen behandeln, von denen Arias Montano glaubte, dass ein rein bildlicher Rahmen für sie nicht ausreicht, verwenden ihrerseits auffallend oft Sprachbilder, die das visuelle Gedächtnis und die Vorstellungskraft des Lesers anregen. Die einundsiebzig monumenta umfassen somit sich wechselseitig ergänzende Bilder – textliche und piktorale –, die den Gläubigen leiten, der sie zur Meditation der Erlösungsgeschichte verwendet. Er beginnt in jedem Fall mit einem historischen Bild, das einen biblischen Text illustriert, dessen Bedeutung das angefügte genus architectonicum vorwegnimmt; das genus poëticum, bestehend aus der poetischen Ode, nimmt diese Bedeutung schließlich auf und vertieft sie, indem sie den Gläubigen in einen Prozess visueller Hermeneutik einbindet, der seine Fähigkeiten zur Interpretation der Heiligen Schrift und zur spirituellen Einsicht schult.

10 Plantin (wie Anm. 9) – siehe zum genus poëticum Melion (wie Anm. 8), 25.

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Der Verleger Plantin schreibt den Text und die Bilder des Buches Arias Montano zu, den er als talentierten Zeichner und inspirierten Poeten beschreibt.11 Abraham de Bruyn, Pieter Huys und die Gebrüder Wierix aus Antwerpen haben die Drucke nach Vorlagen von Peter van der Borcht gestochen, der mit der Übertragung von Arias Montanos‘ Ideen in Arbeitsskizzen beauftragt war. Im Vorwort zu den „Monumenta“, wie auch in Anmerkungen im Anhang, führt Plantin das Verhältnis zwischen Bildern und Texten im Buch weiter aus: Arias Montano, so erfahren wir, habe seine erhabene Gelehrsamkeit, seine klare Kenntnis der Lehre sowie seine Meisterschaft süßer und würdevoller poetischer Argumentation für die Schaffung einer Serie meditativer Bilder verwandt.12 Dieses Buch, so fährt Plantin fort, beinhalte zwei Arten moralischer Anweisungen: Die erste sei klar „architektonisch“, und bestehe aus piktoralen Bildern von Orten, Personen und Ereignissen. Diese Art werde durch die Worte von „Architekten“ in drei Modi erläutert: Erstens durch einen Untertext, der das Hauptargument der picturae beschreibe und eindeutige didaktische Anweisungen gebe; diese Textsorten würden „inscriptiones“ genannt. Der zweite Modus bestehe aus „dedicationes“, die entweder Kommentare zu Tugend und Laster seien und auf die Betrachtung der picturae Bezug nähmen oder auf die autoritative Bedeutung der dargestellten Person oder des dargestellten Ereignisses hinwiesen. Der letzte Modus sei durch beigefügte Monosticha, Disticha oder andere kurze Gedichte (Epigramme) vertreten und schlage eine bestimmte Art vor, in welcher der Betrachter die Bilder nutzen könne. Alle drei Texttypen sollten konzis und würdig sein, voller Bedeutung und antiker Anmutung – in deutlicher Unterscheidung von poetischen, oratorischen, komischen und historischen Stilen. Sie sollten ihre numerische (mathematische) Ordnung und ihre klaren Konturen, also ihre architektonische Ordnung, stets einhalten. Andernfalls wären sie oberflächlich, langweilig oder bedeutungslos. Nur Autoren, die in Architektur begabt wären, seien in der Lage, solche Texte zu verfassen.13 11 Plantin (wie Anm. 9), erstes Vorwort: „Ariae Montani publicae utilitatis studiosissimi ac de bonis literis et disciplinis optime meriti, Architecturae etiam peritissimi (cur enim nisi ingeniosissimo huic viro, tabularum, quas in hoc opere artificiose caelatas conspicis, admirabilem structuram acceptam referamus?) foecundissimum et quovis doctrinae genere refertissimum opus, id est, unam et septuaginta odas [...]“. 12 Plantin (wie Anm. 9), zweites Vorwort: „Simulac ea, quae a nobis nuper excusa sunt, Humanae salutis Monumenta, a Benedicto Aria Montano excelsi ingenii viro, non minus eleganti quam docto poëmate conscripta ad multorum doctissimorum et amplissimorum hominum manus pervenerunt, non potuerunt illi summam hominis doctrinam, rerum divinarum cognitionem clarissimam et gravissimum illud argumentum admirabili carminis suavitate et dignitate tractatum summopere non admirari. Eorum enim omnium, quae vel ab ipso Adamo ad Christi D. N. postremum usque iudicium, in sacris libris ad nostram salutem necessaria habentur, seriem et summam, tanta certitudine et facilitate complectitur, ut a nemine unquam tanto splendore ac doctrina, atque a praestantissimo hoc viro tractatam esse mihi suis verbis sint testati“. 13 Ebd.: „Duplex in hoc libro continetur monimentorum genus: unum est plane Architectonicum, constans picturis et imaginibus locorum, personarum ac rerum gestarum. Hoc architectorum orationibus illustratur, quarum triplex in universum ratio est: aut enim summum totius depictae rei argu-

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Die zweite Art der Anweisung ist poetisch, und besteht nicht aus piktoralen, sondern aus verbalen Bildern, die Dinge darstellen, die zur Betrachtung durch den Leser geeignet sind („non imaginibus [...], sed verbis rem omnem depingit, atque ea etiam spectanda legentium sensibus proponit et describit“) und dasjenige beschreiben, was mit piktoraler Kunstfertigkeit nicht darzustellen sei („quae nullo picturae artificio effingi possunt“).14 Diese Kategorie stellt Worte, Reden und Bewegungen des Körpers und der Seele sowie alle Formen intellektueller Aktivität dar. In den „Monumenta“, behauptet Plantin, beachten beide Gattungen die Regeln des decorum, indem beide die Heiligkeit und Würde von Glaube und Religion bewahrten und sich hierfür architektonischer Würde und poetischer Eleganz, gemeinsam mit einer Fülle an Bedeutungen, bedienten.15 Dass die einzelnen monumenta diesen Kriterien entsprächen, versichert Plantin, würde aus den Aussagen von Lesern deutlich, die die Wirkung des Buches bestätigten und behaupteten, dieses „Objekt des Vergnügens“ hätte in ihnen intensive Trauer angesichts der Leiden Christi ausgelöst.16 Plantin beschäftigt sich mit den genannten Kriterien in dieser Ausführlichkeit, weil das Buch so neuartig und sein Genre – die biblische Emblematik – nahezu ohne Vorbild war. Er stellt wiederholt klar, dass die „Monumenta“ der Meditation bedürften, wenn sie ihre vollen Wirkungen entfalten sollten. Von diesen sei die Wichtigste die Wiederverjüngung müder Geister („animis recreandis“), die von zu viel lernen und arbeiten erschöpft seien. Das Vergnügen, dass hier gefunden werden könne, gehe Hand in Hand mit einer thematischen Erhabenheit, die so angelegt sei, dass sie auch den scharfsinnigsten Leser herausfordere: „da gelehrte Männer anerkennen, dass [Arias Montanos‘] Behandlung seines heiligen Themas, obwohl gleichermaßen instruktiv wie vergnüglich, und nützlich für jede Art von Gelehrten, aufgrund seines erhabenen Gegenstands nicht einfach zu verstehen ist. Dieses fordert, wie man sagt, einen Leser, der „hochgebildet, fromm, überaus aufmerksam und verständig im Glauben und den heiligen Büchern ist“.17 mentum describitur, et ea doctrinae pars, quam didascalicam vocant, usurpatur; cuius generis orationes inscriptiones dicuntur. Quibus vel virtus vel vitium illius imaginis contemplatione annotatur aut personae vel rei gestae auctoritas indicatur, eaque per dedicationes exponi solet. Aut usus aliquis capiendus ex ipsius operis inspectione spectatori proponitur, idque plerunque disticho aut monosticho, vel alias brevi epigrammate expeditur. Totum autem hoc dicendi genus breve, grave, significantissimum atque antiquitatis plenum esse debet, neque cum poëtico, aut oratorio, aut comico, aut historico stylo convenire; sed suis numeris et diffinitionibus, hoc est, architectonicis constare; alias ieiunum et frigidum, languensque futurum. Id quod nemo plene assequi imitarive feliciter potest qui architecturae artis peritus non sit“. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd., erstes Vorwort. 17 Ebd.: „Videbant quippe homines sapientissimi, fore, ut sancti illius argumenti tractatio, eaque non solum utilis et iucunda, verum etiam omni literatorum generi plane necessaria, propter rerum quae in ea continentur, celsitudinem, non a quovis ita facile intelligeretur: Doctum enim (aiebant) pium, et valde attentum beneque in sacris libris et pietate exercitatum lectorem ea desiderat“.

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Die ‚architektonischen‘ Texte laden, wie wir gesehen haben, den Leser ein, das piktorale Bild zu betrachten und darüber nachzudenken, während die begleitenden Gedichte ihn dazu anregen, seine Sinne zur Meditation des verbalen Bildes zu verwenden („ea etiam spectanda legentium sensibus proponit“). Die Illustrationen andererseits geben selbst den mangelnd Gebildeten klare Anweisungen („imperitos etiam [...] luculenter edoceant“) und „bewegen den Geist“ („ipsumque animum moveant“). Insgesamt verkünden die „Monumenta“ also eine neue Art eines meditativen Programms: Unter dem Zeichen des otium fordern sie Augen, Geist und Herz ebenso wie sie diese beruhigen, und richten sie auf Texte und Bilder, die das Thema der Erlösung auf alten und neuen Wegen erkunden. Ein besseres Verständnis von der Funktionsweise dieses Programms können wir durch Betrachtung von Monument 49 erlangen, das sich mit der Speisung der Fünftausend in Matthäus 14, Markus 6, Lukas 9 und Johannes 6 beschäftigt (Abb. 4). Gestochen von Jan Wierix zeigt der Druck, wie Christus einen der fünf Laibe Brot weiht, die zusammen mit zwei Fischen an die im Hintergrund sitzende Menschenmenge verteilt werden sollen. Im Zierrahmen darunter deutet das von Löwe und Wolf bedrohte Lamm die Gnade Christi an, der sich der hirtenlosen Menschen annahm, sie lehrte und speiste (Mt 6, 34). Der Widmungstext, „gewidmet dem Beschützer menschlicher Schwäche“, vermittelt zwischen Bild und Rahmen und betont so die implizierte Analogie zwischen der doppelten Autorität („auctoritas“, um Plantins Begriff zu verwenden) von Christus als Lehrer, der ernährt, und als Hirte, der beschützt. Dies sind zwei Aspekte seiner messianischen Tätigkeit, die zusammen auf das monumentale Thema der Erlösung hinwirken. Die Inschrift im Titel, „sicherste Fürsorge“, destilliert die doktrinäre Argumentation des Bildes („totius depictae rei argumentum“, wiederum in Plantins Terminologie): Wie er in einer Anmerkung erklärt, macht dieses Diktum darauf aufmerksam, was Christus durch das dargestellte Wunder zeigt – nämlich, dass er denjenigen, die ihn zu ihrem Führer und Ratgeber machen, alles Notwendige verschafft.18 Das Distichon lädt den Betrachter dazu ein, die durch genaue Untersuchung des Bildes („ipsius operis inspectione“) erlangte moralische Wahrheit persönlich anzuwenden: „Gott um Besseres anflehend, wirst du nichts Weiteres wollen; Gemeineres verlangend, wirst du niemals genug haben“.19 An uns gewandt, besteht dieses Epigramm darauf, die Menschenmenge als Bildnis unserer selbst anzusehen: So wie sie Christus in der Hoffnung auf Heilung und Belehrung (Lk 9, 11) gefolgt sind, so dürfen auch wir ihn nur für essentielle Dinge ersuchen. Die drei ‘architektonischen‘ Texte halten sich so eng an das Bild und verankern die erkennbaren Bedeutungen im bewiesenen Wert des

18 Plantin, Christopher: Bened. Ariae Montani annotationes in odas: Argum. Tabul. XLIX. Providentia certissima. In: Arias Montano (wie Anm. 7), 21: „Ostendit Christus certissimam esse providentiam erga eos, qui se doctorem ac ducem sequuntur; quibus nihil unquam deerit eorum quae necessaria sint & commoda, tametsi superflua non suppeditentur”. 19 „Si potiora Deum poscas, nihil indigeas: si / Deteriora petas, nil satis esse puta.“

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Abb. 4: Jan Wierix nach Pieter van der Borcht, Kupferstich zur Speisung der Fünftausend, in: Humanae salutis monumenta.

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bereits Gesehenen: Wenn Christus als curator dargestellt wird, der segnet, als Vertreter der providentia certissima, der ernährt, dann sind wir Menschen dargestellt als Empfänger einer hinreichenden Menge göttlicher Dinge, der potiora, die unsere verbotenen Begierden beschwichtigen. Die „Ode tricolos tetrastrophos“, betitelt „Zum Bild von Christus, der die Vielen speist“ (Abb. 5), verschiebt die Aufmerksamkeit des Leser-Betrachters auf deutlicher innere Dinge – außerhalb des Bereichs des piktoralen Bildes.20 Die erste Strophe macht diese Verschiebung sofort deutlich, indem sie die Bedeutung dessen betont, was die Massen nicht gesehen haben: Ohne vorher Nahrung gezeigt bekommen zu haben („non ante viso munere ferculi“), aber dennoch jetzt satt gegessen, verstehen sie, wie wirksam die Fürsorge des Herrn ist („quantum agitet, valeatque cura“). Als Folge dieser früheren Beobachtung erkennen sie nun erstaunt das Ausmaß des Wunders, dessen Zeuge sie gerade wurden, denn die Fische und das Brot, die so mager waren, dass sie sogar vom kleinsten Kind getragen werden konnten, haben sich in den Händen Christi vervielfältigt, als er sie verteilte („crevisse Christ partientis, in manibus stupefacta cernit“). Wenn das Wunder jedoch erst aus seinen Effekten ableitbar ist, dann muss das Mysterium der Vermehrung der Nahrung die menschliche Fähigkeit zur Wahrnehmung gänzlich übersteigen, da dieses selbst den Aposteln entgeht, denen Christus das Aufsammeln der Reste aufträgt: „Ob er die Portionen selbst aufteilt, oder ob er ihre Substanz aus den Rohstoffen erschafft, können die Gesandten, die vom Tragen erschöpft sind, nicht wissen, als sie mit dem Aufladen fortfahren“.21 Den Überschuss abwägend, bewertend, wie wenig das Mahl gekostet hatte, staunen sie angesichts des aufgehäuften Restes des Wunders („compositum cumulum canistris“), erinnern sich an den süßen Geschmack des Essens und dessen lebensverbessernde Eigenschaften („nil melius propriusve vitae“). Und schließlich, angeregt zu beachten, dass sich Christus in einer Kategorie des Erfahrens bewegt, die sinnliche Wahrnehmung übersteigt, werden sie (und wir) dazu ermutigt, das Wunder allegorisch zu interpretieren, als ein Gleichnis des verbum Dei welches alleine wahre Nahrung anbietet: „Legt nicht der, der mit eifrigem Mund die Worte Christi trinkt, die törichten Dinge böser Begierde zur Seite, das Beiwerk, und die schwere Last der Habsucht?“ 22 In Kombination mit Verweisen auf die Grenzen der Wahrnehmungskraft („non ante viso munere or cognoscere haud queunt“) betonen die verbalen Bilder des Gedichts –„pondera piscium, crevisse Christi partientis, in minibus“, zum Beispiel, dass man die Sphäre des genus architectonicum verlassen und jene des genus poëticum betreten hat, wo Meditation von visibilia zu Meditation von invisibilia wird. Platins Glosse zur Ode unterstreicht diese Verände-

20 „In tabulam Christi turbas pascentis. Ode tricolos tetrastrophos XLIX.“ 21 „Cibos an ipsos dividat, an magis / Massae imparatam materiem creet, / Cognoscere haud queunt ministri, / Ferre onera, & renovare lassi.“ 22 „Quis non malarum stulta cupidinum / Deponit ardens & studia, & graves / Curas habendi, si benigni / Verba avido bibit ore Christi?“

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Abb. 5: Benito Arias Montano, Ode zur Speisung der Fünftausend, in: Humanae salutis monumenta.

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rung des Rahmens beider Gattungen: Dass eine so große Menschenmenge zu so kleinen Kosten genährt werden konnte, argumentiert er, zeige die Torheit von Männern, die unermüdlich arbeiten, um irdischen Besitz zu erlangen, wenn doch dasselbe viel süßer, gefälliger und reichlicher zu denjenigen kommt, die spirituelle Dinge von Christus suchen.23 Sein Punkt ist, dass die Ode als Wandler des piktoralen in ein allegorisches Bild dient, von körperlicher zu spiritueller Sicht. Der meditans, der den Übergang zwischen beiden Gattungen vollzieht, durchläuft die Weiterentwicklung von der Sicht zu Einsicht, von einem Wunder, dessen Wirkung gewusst und abgebildet werden kann, zu einem Mysterium, dessen Natur, obwohl tief empfunden, nur vorgestellt und vermutet werden kann. Hier wie auch an anderen Stellen in den „Monumenta“ geht der Übergang vom genus architectonicum zum genus poëticum in seiner Argumentation auf die „Glossa ordinaria“, ein Kompendium patristischer Glossen, zurück, welches für Arias Montano und andere katholische Kirchenmänner ein Prüfstein biblischer Interpretation war. Die „Glossa“ liest das Wunder der Speisung der Fünftausend als Allegorie auf den exegetischen Prozess selbst. Die Glosse zu Johannes 6, 9 beispielsweise argumentiert, dass Andreas‘ ungläubiger Ausspruch, „Was sind diese zwischen so Vielen?“, der von außen betrachtet die geringfügige Menge von fünf Laib Gerstenbrot und zwei Fischen zu beschreiben scheint, in Wirklichkeit eine vielsagende quaestio verbirgt, die uns dazu ermahnt, die spirituelle Bedeutung der Worte und Handlungen Christi zu erkennen. Wie Andreas, der Laibe und Fische sah, müssen wir sie als bedeutende Bilder ansehen: „Es wird gefragt: Der Buchstaben des Gesetzes [scil., fünf Laibe = fünf Bücher Mose], oder die körperlichen Sinne [scil., fünf Laibe = fünf Sinne], was nutzen [sie] für die Menge derer, die an Dich [scil., an Christus] glaubend nach einer spirituellen Nahrung streben sollen, die jeden wörtlichen und körperlichen Sinn übersteigt?“ 24 Die Glosse zu Johannes 6, 10 verstärkt dieses Argument. Jesus besteht darauf, dass die Vielen genährt werden müssen, wenn er Andreas und den anderen Jüngern bedeutet: „Lasset die Menschen sich setzen.“ Die Glosse zu dieser Passage betont, dass biblische Bilder, die im ersten Moment deskriptiv sind, auch als meditative Aufforderungen zur Kontemplation der in ihnen enthaltenen höheren Wahrnehmung dienen. Das Bild hier ist eines von Menschen,

23 Plantin, Christopher: Bened. Ariae Montani annotationes in odas: Odae XLIX. Argum. In: Arias Montano (wie Anm. 7), „Expositione miraculi in tanta hominum multitudine, tam exiguo sumptu pascenda, arguit humanam stultitiam, quae terrena multo labore quaerit, cum eadem copiosa magis, longeque suaviora, & iucundiora contingant iis qui spiritualia a Christo petunt“. 24 Eingesehen wurde die venezianische Ausgabe der „Glossa Ordinaria“, die auf die Basler Edition von 1508 zurückgeht: Biblia Sacra cum glossis. Interlineari, et ordinaria, Nicolai Lyrani Postilla, ac Moralitatibus, Bergensis Additionibus, et Thoringi Replicis, 7 Bd., Venedig: Società dell’Aquila [Giovanni Varisco and Comp.], 1588, Bd. 5, fol. 204r, Glos. ord. Iohannis Cap. VI, Sp. 1, B. – „Q[uaeritur]. Legis litera, vel corporei sensus quid p[ro]sunt ad multitudinem in te creditorum qui spiritualia alimenta sunt petituri, quae omnem literam, omenemque corporeum sensum superant?“ – erläuternde Einfügungen in den Klammern oben vom Autor.

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die sich setzen, sich erniedrigen, um sich ernähren zu können: „Der Meister der Wahrheit unterweist [seine] Zuhörer zuerst in der Einfachheit der Lettern („in simplicitate literae“) und in der Einfachheit visueller Schöpfung („in simplicitate visibilis creaturae“), so dass sie dadurch zu den Höhen der Kontemplation gehoben werden mögen („in altitudinem contemplationis“).“ 25 Der Übergang des piktoralen Registers des genus architectonicum zum poetischen Register des genus poëticum stellt eine emblematische Variation der exegetischen Bewegung vom Buchstäblichen und Sichtbaren zum Spirituellen und Kontemplativen dar, den die „Glossa Ordinaria“ durch Bezug auf Johannes 6, 9–10 rechtfertigt. Vier monumenta – die Nummern 18, 41, 45 und 47 – wandeln den meditativen Prozess selbst zum meditativen Gegenstand, welcher betrachtet, dann interpretiert und schließlich spirituell wahrgenommen werden soll. Ich werde im Folgenden lediglich zwei davon diskutieren. Monument 41 (Abb. 6) stellt die Flucht nach Ägypten dar (Mt 2, 13–15): Mit den Werkzeugen seines Handwerks geht Josef voran und hält die Zügel des Esels, auf dem die das Jesuskind stillende Maria reitet.26 Im Hintergrund markieren ein großer Gasthof und die ferne Aussicht auf eine Hafenstadt Stationen ihrer Wanderung und laden uns dazu ein, unser Blickfeld zu erweitern, um das Ausmaß ihrer Wanderung besser zu verstehen. Das Motto „göttliche Obhut“ oder „Schutz“ („Divina tutela“) bezieht sich sowohl auf Josefs als auch auf Jesu jeweilige Bestimmung als Wächter bzw. als Erlöser. Die Flucht nach Ägypten wird so als gottgewolltes Ereignis dargestellt: Josef rettet Christus, sodass dessen Mission, die Menschheit zu erlösen, beschirmt bleibt. Das Distichon stellt die Flucht nach Ägypten nun als Bild für die meditative Reise vor, die unternommen wird, um Selbsterkenntnis zu erlangen. Implizit ist diese Wendung eine Referenz auf Hebräer 11, 13–16, die uns, wie die Väter, mahnt, uns unseren Zustand als bloße Pilger in diesem Leben bewusst zu machen. Wie Arias Montano es ausdrückt: „Gott sieht vor, denjenigen zu beschützen, der aus seinem Heimatland verbannt ist und sich dennoch selbst kennt“.27 Die Widmung „Geheiligt den besten Führern, um ihrer selbst willen verbannt“ bezieht sich wiederum sowohl auf Josef als auch auf Christus: der erstere fliehend aus seinem Heimatland, der zweite durch das Mysterium der Inkarnation im Exil im menschlichen Körper.28 Die Ode (Abb. 7), betitelt „Über das Bild von Josef, wandernd nach Ägypten“, imaginiert einen glücklichen Zufall: Der Leser schlüpft in die Rolle eines Reisenden, der zufällig den Weg der Heiligen Familie kreuzt, und der, erstaunt von diesem Anblick, diese zuerst sich selbst beschreibt und dann nach ihrer Bedeutung

25 Ebd. 26 Zu diesem monumentum, gestochen von Johannes Wierix und möglicherweise entworfen von Pieter van der Borcht, siehe Stroomberg 2006 (wie Anm. 8), Bd. I, 26, Nr. 3.18. 27 Monumentum XLI. In: Arias Montano (wie Anm. 7): „Praesidium in mediis Deus invenit hostibus huic qui / Sese habet; a patria sit licet exul humo.“ 28 Monumentum XLI. In ebd.: „Principi opt. pro suis exulanti s.“

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Abb. 6: Abraham van Bruyn nach Pieter van der Borcht, Kupferstich zur Flucht nach Ägypten, in: Humanae salutis monumenta.

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Abb. 7: Benito Arias Montano, Ode zur Flucht nach Ägypten, in: Humanae salutis monumenta.

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fragt.29 Vom Dichter gelenkt meditieren wir über die doktrinäre Bedeutung dieses glücklichen Anblicks, um am Ende des Gedichts zu realisieren, dass Jesus die imago Dei ist, die in und durch dieses zufällige Ereignis das Bild unserer eigenen Erlösung sichtbar macht. Die Ode beginnt mit einer Ansprache an Josef: „Sage mir, Gast, wohin du die zarte Maid führst (denn ich nehme ihre jungfräuliche Anmut war), ein Flüchtling, der durch die harte Kälte [des Winters] eilt“.30 Der Dichter, der in unserer, der Betrachter, Rolle spricht, erblickt nun das Kind und bemerkt, dass es schöner ist, als menschliche Sprache auszudrücken vermag („Quod pueri decori nomen est?“). Die Gesichtszüge des Jungen fesseln seine Aufmerksamkeit und veranlassen ihn, die Göttlichkeit des Kindes zu erkennen: „Denn dass dein kleiner Junge als sterblicher Mensch geboren wurde, wird von Zügen, würdig eines Donnergottes, und der Majestät, die von seinen sanften Augen scheint, verneint“.31 Sein Blick weitet sich, um die Landschaft mit zu erfassen, die die Präsenz Gottes sichtbar werden lässt: „Dessen Stimme, einmal gehört, die Haine und stillen Wälder verehren und schätzen, und die den verblüfften Fluss [veranlasst], die sich überschlagenden Wellen zu einem süßen Rauschen zu verlangsamen“.32 All diese Anblicke, genau beobachtet und vermittelt – das „virgineum decor“ Marias, das „pueri decor“ außerhalb des sprachlichen Fassungsvermögens, des Kindes olympische „ora“ und die Macht, die „oculus in teneris“ offensichtlich ist und schließlich die Antwort der Natur auf solch außergewöhnliche decor und majestas – rufen bei Josef eine entsprechende Antwort hervor: „Du fragst nach Wahrheiten (vera rogas): Das Kind ist geboren vom ewigen Gott; es hat eine Jungfrau zur Mutter. Bestellt durch des himmlischen Boten Rat als Hüter über den einen wie die andere, sieh, geleite ich dieses heilige Unterpfand (pignus sacrum) weg von den blutbeschmierten Mauern, eile ich als Flüchtling weg zu weit entfernten Küsten, damit nicht eines wütenden Tyrannen eifersüchtige Macht uns verletzen kann“.33 Der Terminus ‚pignus‘ identifiziert den Säugling Christus als sichtbares Zeichen der erhofften menschlichen Erlösung. Durch ihn sollen, wie der Dichter abschließend feststellt, die durch unsere Ureltern Adam und Eva geschlagenen Wunden geheilt und die von der Gottheit großzügig versprochenen

29 Monumentum XLI: „In tabulam Iosephi in Aegyptum commigrantis. Ode dicolos distrophos. XLI.” 30 Monumentum XLI: „Dic mihi quo tenellam / Virginem (nam virgineum conspicio decorem) / Frigore saeviente, / Hospes incessu fugitivum properante ducis?“ 31 Monumentum XLI: „Namque tuum puellum/ Esse mortali genere progenitum refutant / Digna Deo tonante / Ora maiestasque oculis in teneris renidens.“ 32 Monumentum XLI: „Quam nemus & silentes / Auditam vocem venerantur, capiuntque sylvae / Attonitumque flumen / Sistit undas praecipites blandisono susurro.“ 33 Monumentum XLI: „Vera rogas; perennis / Est Dei natus puer; intactam habet is parentem / Virginem: ego huic ut illi / Traditus custos monitis aligeri ministry / Moenibus e cruentis / Pignus en sacrum abripio, ne violet ferocis / Invida vis tyranni, / Ad Phari abiunctas properando procul exul oras.“

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Gaben überbracht werden. Das Gedicht konfiguriert das piktorale Bild und den ursprünglichen Akt des Sehens um, um uns mehr zu sehen zu geben und eine Art Tausch vorzunehmen, in welchem spirituelle Wahrheiten als Belohnung für die enge Hinwendung zu Jesus locken, der die Erfüllung verheißener Versprechen versichert – eine Erfüllung, die sich nun wahrnehmbar ereignet. Jesus wird greifbar gemacht durch instrumentelle Bilder, piktorale und poetische, die uns dabei helfen, seine Präsenz affektiv zu verinnerlichen. In seinen Anmerkungen bestätigt Plantin diese Bedeutung von Monument 41. Er sieht es als Allegorie der Meditation über die Flucht nach Ägypten an, als spirituelle Übung, die von ora zu vera, von Sicht zu Einsicht, von Wahrnehmung zu Begreifen führt. Das Motto und Distichon, argumentiert Plantin, seien gestaltet, um uns auf einen doppelten Akt des Betrachtens aufmerksam zu machen: Das Ereignis, das wir beobachten, entstammt göttlicher Vorsehung, denn es geschieht unter den aufmerksamen Augen eines immer wachsamen, beschützenden Gottes („quos Deus suscipit servandos, quosque providentia tuetur sua“).34 Meditation der Flucht führt dazu, diese Entsprechung zwischen biblischem Ereignis als Objekt göttlicher Vision und den Bibeldruck als Objekt bildbasierter Reflektion des Themas göttlicher Vorsehung anzuerkennen. Die widmende Inschrift spielt demgegenüber auf die exegetische Funktion des meditativen Bildes an: Dass aus dem dargestellten Bild („ex figuratio“) die biblische Figur („figura“) sich erfüllen möge – „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“.35 Plantin zitiert Hosea 11, 1: „Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb, und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten“. Bei einer genauen Untersuchung der Widmung vor dem Hintergrund der Ode muss das Bild nach Plantin als Vervollständigung einer typologischen Analogie gelten: Das Bild der Flucht nach Ägypten ist der visuelle Antitypus, der in dem alttestamentlichen Typus präfiguriert ist, mit den gemeinsamen Themen der Flucht und Erlösung. Josefs Erklärung in der Mitte der Ode zu den bemerkenswerten Dingen, die der Dichter-Betrachter („vera rogas“) sieht, sein Beharren darauf, das göttlich mandatierte pignus zu betrachten, welches unsere Erlösung mit sich bringt („pignus en sacrum abripio“), stößt den Prozess exegetischen Betrachtens an, der wiederum eine typologische Reflektion des Verhältnisses zwischen Figur und Abbild anregt. Auf diese Art betrachtet ist Christus der princeps, der huldigende Hingebung empfängt („Principi optimo pro suis exulanti“): Er geht um unser willen ins Exil, damit sein Volk aus Ägypten – der Gefangenschaft der Sünde – zur Erlösung gerufen werden kann. Dass das ehrenvolle princeps sowohl Josef als auch Christus betrifft, suggeriert, dass die Flucht als typologische Entsprechung des Mysteriums der Erlösung durch die Inkarnation Christi dient: Wie Josef ins Exil flüchtet, um Jesus zu retten, so verlässt Jesus seinen himmlischen Vater („aethereo parenti“), um die aus der Gnade Gottes ausgestoßene Menschheit zu erretten.

34 Plantin, Christopher: Annotationes in odas Bened. Ariae Montani. In: Ebd., 18 f. 35 Ebd.: „Ut ex figurato figura adimpleretur, sicut scriptum est, Ex Aegypto vocavi filium meum.“

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Plantins Glosse zur Ode erläutert die Subjektposition, die wir als Betrachter, die mit Josef reisen, einnehmen, wobei unser Blick mit dem des poetischen Betrachters übereinstimmt: „Die Ode stellt einen bestimmten Reisenden dar, der auf dem Weg mit Josef über dessen Unterfangen mit der nobelsten Jungfrau und dem Kind, das größer als sterbliche Menschen ist, spricht“.36 Plantin lässt Josef die Wahrheiten, die er dem Betrachter offenbart, aufzählen: Wer der Sohn ist, was die Mutter ist und wer er selbst ist, wohin sie eilen, auf wessen Rat hin und warum. Er schließt, indem er betont, dass Josef uns lehrt, in Christus das lebende Zeichen göttlich bestimmter Erlösung zu erkennen: „Wahrlich zeigt er, dass er durch den Willen Gottes nach Ägypten zieht, um dort [dieses] Unterpfand allgemeiner Errettung („pignus publicae salutis“) zu bewahren, göttlich in der Zeit so eingesetzt, allen menschlichen Verlust reichlich wiederherzustellen.“ 37 Was das Kind für den Blick repräsentiert, und durch diese Repräsentation garantiert, ist, worüber uns das Bild letztendlich meditieren lässt – nämlich, dass Christus das lebende Bild ist, dass die Wiedergutmachung menschlichen Verlusts garantiert. Monument 45 (Abb. 8) illustriert die Versuchung Christi in der Wüste (Mt 4, 1– 11): Im Vordergrund des Bildes zeigt der Teufel auf einen Fels und drängt Christus, die Steine zu Brot zu machen. Im Hintergrund rechts stehen beide auf der Zinne des Tempels und der Teufel auferlegt Christus, sich in die Tiefe zu stürzen, während sie im Hintergrund links an einem Abgrund stehen, wo der Teufel die Herrschaft über alle Königreiche der Erde anbietet.38 Das Motto, „Nützlichkeit der [Heiligen] Schrift“ („Scripturarum utilitas“), bezieht sich auf die Exegese von Deuteronomium 8, 3; 6, 13 und 6, 16, mit welcher Christus gegen die Ausführungen des Teufels protestiert und dessen falsche Auslegung von Psalm 91, 11 richtig stellt: „Dass er dich seinen Engeln in Obhut gegeben hat, und sie dich in ihren Händen halten sollen, damit du deinen Fuß nicht an einem Steine stößt“. Dass Christus gebannt auf den Stein blickt, während er im Streit gestikuliert, deutet die enge Verbindung von Anblick und Exegese an, die, wie wir sehen werden, das meditative Hauptthema von Ode 45 ist (Abb. 9). Das Distichon rät dem Jünger, sich gegen Satan zu behaupten, indem er die Heilige Schrift in gleicher Art wie Christus verwendet („instructus verbis consiliisque Dei“), während die Widmung an „Christus als unbezwingbaren Führer“ gerichtet ist.39 Ode 45 beginnt mit einer farbenreich erzählten Passage, die einen merkwürdigen und wundersamen Anblick beschreibt, der der Meditation bedarf: „In Wäldern

36 Ebd.: „Inducit Ode viatorem quendam, qui cum Ioseph de itinere disserat, quod institutum videt cum virgine honestissima, & puero mortalem vicem superante.“ 37 Ebd.: „nimirum Dei consilio se petere Aegyptum, ut ibi asservet pignus publicae salutis, resarciturum omnem humanam iacturam abundantissime tempore a Deo constituto.“ 38 Zu diesem monumentum, entworfen von Pieter van der Borcht und gestochen von Hieronymus Wierix, siehe Stroomberg (wie Anm. 8), I, 26, Nr. 3.21. 39 Monumentum XLV: „Legitime certare queas, & viceris hostem / Instructus verbis consiliisque Dei. Christo Duci invictiss. s.“. In: Arias Montano (wie Anm. 7).

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Abb. 8: Jan Wierix nach Pieter van der Borcht, Kupferstich zur Versuchung Christi, in: Humanae salutis monumenta.

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Abb. 9: Benito Arias Montano, Ode zur Versuchung Christi, in: Humanae salutis monumenta.

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sah ich himmlische Heerscharen, die sich beeilten, ihre Dienste anzubieten, und blumengeschmückte Tische mit angenehmen Speisen zu decken. Solch ungewohnte Tätigkeit sehend, und stark zitternd und brennend darauf, die Ursache für [ihre] große Freude zu erfahren, und für wen dieses neue Mahl scheint, frage ich“.40 Diese Verse verstärken den kurzen Hinweis auf die dienenden Engel, die wir angehalten sind, uns in Matthäus 4, 11 vorzustellen („et ecce angeli accesserunt et ministrabant ei“). Sie führen das erweiterte Herz des Gedichts ein, welches Christi dreifachen Sieg als Exeget über die Listen des Teufels feiert. Seine wahre Kenntnis der heiligen Schrift sichert ihm einen „dreifachen Siegeskranz“, denn er vernichtet seinen Feind, indem er ihn unter der schweren „Last dreifachen Kampfes“ begräbt.41 Diese martialische Metapher bezieht sich auf die Folge der drei Passagen im Deuteronomium, die Jesus als direkte Ablehnung der drei Verlockungen des Teufels interpretiert. Bei der Weigerung, Steine zu Brot zu machen, zitiert er Deuteronomium 8, 3: „Das der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem das aus dem Mund des Herrn geht“, während er ablehnt, sich selbst von der Spitze des Tempels zu stürzen, führt er Deuteronomium 6, 16 an: „Ihr sollt den Herrn, euren Gott, nicht versuchen.“ Und schließlich widerspricht er dem Angebot weltlicher Herrschaft und verbannt den Teufel mit Referenz auf Deuteronomium 6, 13–14: „Du sollst dem Herrn, deinem Gott, dienen […] und nicht andern Göttern nachfolgen“. Arias Montano stellt Christus als siegreichen Exegeten und unvergleichlichen Meditator dar, der sich gänzlich in unaufhörlichem Gespräch mit Gott befindet: „Dessen Geist sich in angenehmer Unterhaltung mit dem Vater befindet und den weder großer Hunger noch harsche Wüsten voller schrecklicher Höhlen von Monstern, oder der Schrecken einer kalten Nacht ablenken könnten“.42 Für Arias Montano, so scheint es, ist das Bild des vom Teufel versuchten Christus beispielhaft dafür, dass exegetische Disputation ein Modus meditativer Praxis ist. Ferner impliziert die oben besprochene bildliche Betonung des Blickes Christi, dass Meditation, in dem Maße, in dem sie sowohl visuell als auch exegetisch ist, mit den Mitteln exegetischer Vision, oder alternativ mit visueller Exegese operieren kann. Umgekehrt wird die Versuchung durch den Teufel und dessen Akt des Zeigens dargestellt: Er fehlinterpretiert die Heilige Schrift, während er jeweils zu den Steinen, der Stadt und der Welt gestikuliert. Die Ode unterstreicht die Betonung von Sehen und Bildlichkeit als

40 „In tabulam tentationis. Ode dicolos tetrastrophos XLV.“, in Arias Montano (wie Anm. 7): „Sylvis in mediis agmina caelitum/ Cernebam famulas adproperantium/ Exercere vices laetaque floridis/ Mensis fercula ponere./ Dumque ipsi insoliti contremo muneris/ Spectator ardens discere, maximae/ Causam laetitiae, cuique decus novae/ Caenae praeniteat, rogo.“ 41 „In tabulam tentationis“, in „Humanae salutis monumenta“: „Quem nunc tergeminis gloria frondibus/ Victorem decorat sacrum./ [...] / Nunc victus triplicis pondere praelij/ Vertit terga gemens, armaque & omnibus/ Posthac discipulis expositas vias/ Vincendi dolet improbus.“ 42 „In tabulam tentationis“, in „Humanae salutis monumenta“: „Hunc nec longa fames, tesqua nec aspera / Monstrorum horrificis densa cubilibus, / Non horror gelidae noctis amabili/ Intentum alloquio ad patrem / Turbavit.“

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meditative Instrumente indem sie, wie wir gesehen haben, mit reichen, deskriptiven Bildern der Engelshelfer beginnt, die sich in Erwartung Christi versammeln. Dieses verbale Bild führt das piktorale Bild der Szene der drei Versuchungen weiter aus, die erzählerisch vorausgehen, und lädt uns dazu ein, dieses als meditative Vorlage anzusehen, die übernommen, neu angeeignet und belebt werden soll. Folglich ist meditative Vision das Thema von Monument 45, das uns dazu drängt, es Christus, dem höchsten meditans und Exegeten, gleichzutun, indem wir die Dinge, die er gezeigt hat, als exegetische Aufforderungen betrachten. Zusammen mit dem Monument 41 bietet die Versuchung Christi in der Wüste dem Leser-Betrachter eine Art biblische Begründung für den visuellen und textlichen Apparat, der in den „Humanae salutis monumenta“ veröffentlicht wird, und zeigt, wie Bilder und verschiedene Textarten in Arias Montanos genauer Lektüre der Bibel verankert sind. Beide monumenta sind reflexiv: In einem Aushandlungsprozess zwischen den bildlichen (oder besser ‚architektonischen‘) und poetischen Gattungen, zwischen visibilia und invisibilia, lernt der Leser-Betrachter aus erster Hand, wie meditative Bilder, visuelle und verbale, gestaltet werden, und reflektiert, geleitet von Arias Montano, über die Produktion ihrer Form, Funktion und Bedeutung.

Wim François

Carthusians, Modern Devotees and Vernacular Bible Readers in the Low Countries (1350–1550) During the years of 1350–1550, at least a part of the Low Countries’ population was in search of nourishment that would be able to feed their spiritual needs, while popular preaching and purely external devotional practices, with the clergy as their propagators, were considered exponents of a washed-out, spineless religiosity. In the essay at hand, we will show how the Order of the Carthusians, said to be “never reformed because never deformed,” in addition to the late medieval ‘Modern’ Devotion that was, at least partially, inspired by the Carthusians’ spirituality, saw the return to the Bible as a means of meeting the personal spiritual hunger of the people.1 We will consider how the milieu of Modern Devotion proved to be fertile soil for the development of northern biblical humanism, while the Lutheran Reformation continued to accelerate and intensify the interest in the vernacular Bible. Catholic Reform for its part, being partially inspired by a reaction against Protestantism, was also related to the said late medieval spiritual reform movements. As a consequence, the Bible was not only the subject of meditation in the intimacy of house or cell, but was also debated by groups of Christian dissenters or read in support of the authoritative predication in the ecclesiastical setting.

Carthusians, Modern Devotees and Vernacular Bible Reading in Late Medieval Low Countries On June 23, 1361, a Carthusian monk from the charterhouse of Herne, near Brussels, completed his Middle Dutch History Bible. The monk, who in current research is often identified with Petrus Naghel (†1395), had composed the History Bible at the request of Jan Taye, a well-to-do Brussels patrician from a family of cloth manufacturers who were also benefactors of the monastery. The History Bible of 1361 included, generally speaking, the historical accounts of the Old Testament, as well as a

1 Comp. Schreiner, Klaus: Laienbildung als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft. Religiöse Vorbehalte und soziale Widerstände gegen die Verbreitung von Wissen im späten Mittelalter und in der Reformation. In: Zeitschrift für Historische Forschung 11 (1984), 257–354, here 343–347. Note: * I wish to thank Ms. Jennifer Besselsen-Dunachie and Mr. Luke R. Murray for their invaluable assistance in translating this text. https://doi.org/10.1515/9783050051659-012

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Gospel harmony and a translation of the Acts of the Apostles, but excluded the Chronicles, the sapiential books and the Prophets. It was supplemented by some extra-biblical stories, such as the stories of King Cyrus of Persia, Alexander the Great and the Destruction of Jerusalem (borrowed from Flavius Josephus’s “De bello Judaico” and possibly an adaptation of Jacob van Maerlant’s “Rhyme Bible” from 1271). The Herne Bible translator based his translation primarily upon the Vulgate; other books were, however, rendered in an abbreviated form, following the example of the “Historia scholastica,” which the Paris master Peter Comestor had composed in the years 1169–1173. The Herne Bible translator also added several glosses and comments, which were likewise borrowed from Comestor’s “Historia scholastica.”2 In the prologues to the different parts of his History Bible,3 the translator emphasized that everybody had the right to draw some edification from the historical accounts of the Bible, as a kind of compensation for the clergy’s neglect of their pastoral duties (and their often inappropriate lifestyles). He responded to his “detractors” (“becnagers”), obviously members of the clergy who opposed the opening of the Scriptures and other vernacular spiritual literature to a secular public and were eager to safeguard their position as the sole expositors of God’s mysterious Word. One of the main arguments with which he confronted them was that Jesus and the Apostles had, in their time, preached in the vernacular. As a consequence there could be no absolute prohibition, making the Bible accessible to all.4

2 For an introduction to the Herne Bible and the History Bible at its heart, cf. Claassens, Geert H. M.: De Hernse Bijbel (ca. 1350-ca. 1400). In: De Bijbel in de Lage Landen: Elf eeuwen van vertalen. Ed. by Paul Gillaerts et al. Heerenveen 2015, 125–150; Kors, Mikel M.: De bijbel voor leken. Studies over Petrus Naghel en de Historiebijbel van 1361. Intr. by Geert H. M. Claassens. Leuven 2007 (Publicaties van de Stichting Encyclopédie Bénédictine). This book contains a collection of articles Mikel M. Kors has written during the previous years about the Herne Bible. A summary can also be found in Kors, Mikel M.: De Historiebijbel van 1361. Leken en bijbellectuur in de veertiende eeuw. In: Middelnederlandse bijbelvertalingen. Ed. by August den Hollander, Erik Kwakkel and Wybren Scheepsma. Hilversum 2007 (Middeleeuwse Studies en Bronnen 102), 49–58. For a summary of the latest state of the research, cf. Coun, Theo: Exit Petrus Naghel als Bijbelvertaler? In: Ons Geestelijk Erf 85 (2014), 3–38. 3 For the position of the Herne Bible translator with regard to vernacular Bible reading by lay people, as it has been expressed in the prologues to his Bible, cf. Kors: De bijbel voor leken (see n. 2), 155–160; Idem: Die Bibel für Laien. Neuansatz oder Sackgasse? Der Bibelübersetzer von 1360 und Gerhard Zerbolt von Zutphen. In: Kirchenreform von unten. Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Brüder vom gemeinsamen Leben. Ed. by Nikolaus Staubach. Frankfurt am Main 2004 (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 6), 243–276, here 252–259. 4 See the relevant passages in the prologue to the History Bible: Over Middelnederlandsche vertalingen van het Oude Testament – Bouwstoffen voor de geschiedenis der Nederlandsche bijbelvertaling. Ed. by Claudius Henricus Ebbinge Wubben. ’s-Gravenhage 1903, 73 l. 128–136; Het Oude Testament. Ed. by Cebus Cornelis de Bruin. Leiden 1977 (Corpus Sacrae Scripturae Neerlandicae Medii Aevi: Series maior. I. OT, 1), 3 l. 20–26. Cf. the prologue to Joshua: Over Middelnederlandsche vertalingen van het Oude Testament. Ed. by Ebbinge Wubben, 78 l. 48–51; Het Oude Testament. Ed. by de Bruin (CSSN: Series maior. I. OT, 1), 273 l. 34–274 l. 2. In the prologue to Cyrus: Over Middelne-

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After the achievement of the History Bible, and at the persistent request of Jan Taye, the Herne Bible translator subsequently translated the book of Job and the Psalms, in addition to the sapiential books of the Old Testament. Notwithstanding the prevailing reservations regarding the ability of lay people to grasp the deep senses concealed in the books of the Prophets, he later produced translations of Isaiah, Jeremiah and Ezekiel. By 1384–1385, and after a translation labor of a quarter of a century, the so-called Herne Bible was completed.5 For the sake of completion, it should be mentioned that the charterhouse of Herne, apart from having produced a Bible as a result of the care of one of its members, also played an important role in the copying, emendation and further distribution of existing biblical material (and spiritual literature in general). These had their origin in (the western part of) Flanders and through the efforts of the Carthusians in Herne found further distribution in other monasteries in Brabant. It has been demonstrated that copies of the so-called Southern-Dutch translation of the Gospels (circa 1200), the Southern-Dutch translation of the Apocalypse and the West-Flemish translation of the Psalter had left Herne’s scriptorium for other Brabantine monasteries, with the translation of the Psalms finding its way even further to the east and north.6 With regard to the Herne Bible, only three fragments from around 1400 have been preserved. There are serious indications that the three manuscripts were specifically handed down through a (semi-)monastic milieu and that this ‘monasticizing’ had already begun at the end of the fourteenth century, although initially the Herne Bible was destined for a public of upper-class lay readers. Furthermore, the oldest manuscripts refer to a circulation in the northern parts of the Low Countries, whereas the Herne Bible had its origin in Brabant, in the very southern part of the Dutch-language area. On the basis of the modest number of manuscripts preserved, it has rightly been questioned whether the Herne Bible and other comparable Middle Dutch editions had been that widely disseminated at around 1400, let alone in the circles of the literate lay people for which they were initially destined.7 In this regard it has been argued that in the second part of the fourteenth century, precisely

derlandsche vertalingen van het Oude Testament. Ed. by Ebbinge Wubben, 84 l. 16–19; cf. Fragmenten. Ed. by Cebus Cornelis de Bruin. Leiden 1984 (CSSN: Miscellanea 4), 5. 5 For a reconstruction of the different parts of the Herne Bible, cf. Claassens: De Hernse Bijbel (see n. 2), 128–132; Kors: De bijbel voor leken (see n. 2), 33–46, here 41 and 45, also 188; Idem: De Historiebijbel van 1361 (see n. 2), 50. 6 Desplenter, Youri: De West-Vlaamse vertaling van het psalter en haar Brabantse bewerkingen. In: De Bijbel in de Lage Landen. (see n. 2), 113–124, here 115; Kwakkel, Erik: Die Dietsche boeke die ons toebehoren. De kartuizers van Herne en de productie van Middelnederlandse handschriften in de regio Brussel (1350–1400). Leuven 2002 (Miscellanea Neerlandica 27). 7 A fragment of Job, 3 Kings and a bilingual (Latin-Brabantine) Psalter from ca. 1400 have been preserved. See Kors: De bijbel voor leken (see n. 2), 108–112, also 142 and 190; comp. Biemans, Jos A. A. M.: Middelnederlandse bijbelhandschriften. Codices Manuscripti Sacrae Scripturae Neerlandicae. Leiden 1984 (CSSN: catalogus), 84–85, nos. 61–63.

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the period when the Herne Bible (and other comparable editions) appeared, suspicion had been aroused among the authorities regarding spiritual literature and Bible translations in the vernacular. In the main prologue to his Herne Bible the translator had indeed alluded to such reluctance on the part of the clergy. This impression is confirmed by a decree that was issued in 1369 by the Emperor of the Holy Roman Empire, Charles IV of Luxemburg, prohibiting the reading by lay people of books with the Bible as their subject, and ordering the Inquisition to take action against the transgressors of the edict. The decree has possibly been prompted by the occurrence of heterodox Beguines and Beghards in Germany. The argumentation used by the Emperor to underpin his prohibition is a real topos that arises constantly in the pleas against Bible reading in the vernacular: lay people are insufficiently skilled to understand the Bible in a correct way, and are therefore susceptible to lapsing into errors or heresies.8 Whether Charles IV’s decree had any influence in the Low Countries remains a subject of debate,9 but the scarce spread of vernacular Bible translations in the period under discussion is confirmed through an analysis of late medieval catalogues of libraries and of lists of books that were owned by lay people (living in the world). This analysis shows that religious books in the vernacular were read, but that vernacular Bible translations represented only a small portion of what was read. Remarkably, we do have special evidence of several wellto-do citizens from Ghent – by far the largest town of the Low Countries, and belonging to the French Crown and not to the Holy Roman Empire – who owned a copy containing vernacular Bible texts in the second part of the fourteenth century.10 It was only from around 1400 that vernacular Bible manuscripts became available in increasingly larger numbers in the Low Countries. This additional impetus to Bible reading in the vernacular is generally considered to have its origins in the Devotio Moderna, as well as in the economic prosperity and increased literacy among the population. The early development of the Devotio Moderna was arguably influenced by the Carthusian spirituality, namely its opting for a life of uncompromising imitation of Christ (even seeking to be united with his suffering and death), as well as the value of ascetical manual labor and more specifically the copying of

8 For the text of the decree, see Corpus Documentorum Inquisitionis Haereticae Pravitatis Neerlandicae. Ed. by Paul Fredericq, 5 vols. Gent-Den Haag 1889–1903, here vol. 1, 214–217, no. 212. Comp. Lentner, Leopold: Volkssprache und Sakralsprache. Geschichte einer Lebensfrage bis zum Ende des Konzils von Trient. Wien 1964 (Wiener Beiträge zur Theologie 5), 167–180; Schreiner (see n. 1), 289; Idem: Volkstümliche Bibelmagie und volkssprachliche Bibellektüre. Theologische und soziale Probleme mittelalterlicher Laienfrömmigkeit. In: Volksreligion in hohen und späten Mittelalter. Ed. by Peter Dinzelbacher and Dieter R. Bauer. Paderborn 1990 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N.F. 13), 329–373, here 361. 9 See, for example, Folkerts, Suzan: Reading the Bible Lessons at Home: Holy Writ and Lay Readers in the Low Countries. In Church History and Religious Culture 93 (2013), 217–237, here 221–222. 10 Corpus Catalogorum Belgii: The Medieval Booklists of the Southern Low Countries. Ed. by Albert Derolez and Benjamin Victor, 4 vols. Brussels 1997–2001, here vol. 3, nos. 24.5, 25, 27.3 and 28.1.

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books, which were also esteemed to be a source of spiritual renewal. In both movements particular value was also attributed to vernacular spiritual literature, including (parts of) the Scriptures. In this sense the Bible translator and copyists at the charterhouse in Herne may be considered as early exponents, and even as pioneers, of spiritual reform movements such as the Devotio Moderna.11 The most important initiator of the Devotio Moderna, Geert Grote (1340–1384), after having put his house in Deventer at the disposal of poor devout women in 1374, spent about three years (circa 1375–1378) in the charterhouse of Monnikenhuizen, near Arnhem, where he chose the path of inner conversion and a true imitation of the Lord. The houses and the convents that were founded in his spirit, in their turn, integrated parts of the organizational structure and spirituality of the Carthusians and significantly contributed to the diffusion of Middle Dutch translations of the Scriptures among lay people who had joined them and who longed for spiritual nourishment. Geert Grote himself composed a Dutch book of hours, including the translation of nearly sixty Psalms, around 1384, in the same epoch as (and even making use of) the work of the Herne Bible translator.12 In milieus influenced by the Modern Devotion at least two complete translations of the Psalms saw their origin, which were a further elaboration of the so-called West-Flemish translation of the Psalter as it had become prevalent in Brabant (through the charterhouse of Herne?): the first Psalter of the Modern Devotion (circa 1400), which was found especially in communities in the Rhine-Meuse-area, and the second (circa 1400–1425), which was widely spread in Holland and Utrecht. To what degree both Psalters integrated the sixty Psalms earlier translated by the Geert Grote, and what the contribution of Johan Scutken († 1423), librarian at the monastery of the Augustinian Canons Regular of Windesheim and master of the lay brothers, was in the translation projects, remains un-

11 den Hollander, August: The Bible and the Modern Devotion. In: Erasmus' Edition of the Greek New Testament. Ed. by Kaspar von Greyerz, Silvana Seidel Menchi and Martin Wallraff. Tübingen 2016 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 91), 43–58; further de Bruin, Cebus Cornelis: De Moderne Devotie en de verspreiding van de volkstaalbijbel. In: Ons Geestelijk Erf 59 (1985), 344– 356, here 345–346 and 348; also Claassens: De Hernse Bijbel (see n. 2), 143–145; van Dijk, Rudolf: Iuxta modum cartusiensium. Kartäusische Einflüsse in der Spätmittelalterlichen Klosterlandschaft der Niederlande. In: The Carthusians in the Low Countries: Studies in Monastic History and Heritage. Ed. by Krijn Pansters. Leuven 2014 (Miscellanea Neerlandica 43 – Studia Cartusiana 4), 105– 127, passim; Lourdaux, Willem: Kartuizers – moderne devoten: een probleem van afhankelijkheid. In: Ons Geestelijk Erf 37 (1963), 402–418, here 402–404. 12 On Grote’s book of hours, see especially van Dijk, Rudolf T. M.: Het getijdenboek van Geert Grote. Terugblik en vooruitzicht. In: Ons Geestelijk Erf 64 (1990), 156–194; Gorissen, Friedrich: Das Stundenbuch im rheinischen Niederland. In: Studien zur klevischen Musik- und Liturgiegeschichte 75 (1968), 63–109; also van Dijk, Rudolf T. M.: Methodologische kanttekeningen bij het onderzoek van getijdenboeken. In: Boeken voor de eeuwigheid. Middelnederlands geestelijk proza. Ed. by Thom Mertens et al. Amsterdam 1993 (Nederlandse literatuur en cultuur in de middeleeuwen 8), 210–229 and 434–436.

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known.13 Scutken’s name appears again as the translator of a Dutch version of the Gospel readings of the mass, probably of the entire Gospels and even the entire New Testament, in addition to the passages taken from the Old Testament that were read during mass (circa 1390). Again there is a link with the book of hours that Geert Grote composed, since the New Testament excerpts it contains are very similar to the text of this so-called Northern-Dutch translation of the New Testament (or New Testament of the Modern Devotion, as the complete translation has been called).14 In the same period, just before 1400, another leading figure of the Devotio Moderna, the canonist and librarian of the house of the Brethren of the Common Life in Deventer, Gerard Zerbolt of Zutphen (1367–1398), wrote several tracts defending the reading of the vernacular Bible by laici spirituales, namely “De libris teutonicalibus” and “Circa Modum.”15 Zerbolt’s action was evidently successful, given the official approval of the way of life of the Brethren and Sisters of the Common Life in 1401 by Frederik of Blankenheim (bishop of Utrecht), one which included the reading of the Scriptures in the vernacular language.16 In short, unlike movements such as those initiated by John Wyclif and, in its wake, the Czech reformer John Hus, the Dutch Devotio Moderna remained within the Church and vernacular Bibles were eventually regarded as non-heretical.17

13 On the complex history of the Psalters of the Modern Devotion, see Desplenter, Youri: Psaltervertalingen van de Moderne Devotie (ca. 1380-ca. 1520). In: De Bijbel in de Lage Landen (cf. n. 2), 151–164; Desplenter, Youri: De geschiedenis van de Middelnederlandse psaltervertalingen herzien. De middeleeuwse overzettingen van het psalmboek uit het zuiden van het Nederlandse taalgebied (ca. 1300-ca. 1500). In: Ons Geestelijk Erf 83 (2012), 3–56. 14 On the Northern-Dutch translation of the New Testament, see Folkerts, Suzan: De NoordNederlandse vertaling van het Nieuwe Testament (eind veertiende eeuw). In: De Bijbel in de Lage Landen (see n. 2), 165–190; Corbellini, Sabrina: De Noordnederlandse vertaling van het Nieuwe Testament. In: Middelnederlandse Bijbelvertalingen (see. n. 2), 131–145; Deschamps, Jan: De verspreiding van Johan Scutkens vertaling van het Nieuwe Testament en de oudtestamentische perikopen. In: Dutch Review of Church History N.S. 56 (1975–1976), 159–179; Biemans (see n. 7), 152–158. 15 For a thorough introduction and edition of both treatises, see Gerhard Zerbolt von Zutphen: Was dürfen Laien lesen? De libris teutonicalibus/Een verclaringhe vanden duytschen boeken. Lateinisch und mittelniederländisch. Intr. and ed. by Staubach, Nikolaus and Suntrup, Rudolf. Münster 2019; also Honemann, Volker: Zu Interpretation und Überlieferung des Traktats De libris Teutonicalibus. In: Miscellanea Neerlandica. Opstellen voor Dr. Jan Deschamps ter gelegenheid van zijn zeventigste verjaardag. Ed. by Elly Cockx-Indestege and Frans Hendrickx, 3 vols. Leuven 1987 (Miscellanea Neerlandica 1–3), vol. 3, 113–124; Honemann, Volker: Der Laie als Leser. In: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. Ed. by Klaus Schreiner and Elisabeth Müller-Luckner. München 1992 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 20), 241–251. 16 Corpus Inquisitionis (see n. 8), vol. 2, 190–193, no. 119. 17 Another important defender of vernacular Bible reading, apart from Geert Grote himself, was Dirk van Herxen. See van Beek, Lydeke: Leken trekken tot Gods Woord. Dirc van Herxen (1381– 1457) en zijn Eerste Collatieboek. Hilversum 2009 (Middeleeuwse Studies en Bronnen 120).

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Among the major questions that arise in today’s research are: In which milieu were the aforementioned Bibles read? And for what purpose were they used? For an answer to these questions, contemporary researchers explicitly take the layout and paratextual elements of the manuscripts into consideration as a supplement to the more traditional text-oriented approach, as has recently been confirmed by Suzan Folkerts.18 Some eye-catching manuscripts containing the translations in question had been in the possession of devout lay people in the world, especially ladies belonging to the milieu of the wealthy bourgeois and patricians of Utrecht and Holland. Apart from a status symbol, these books provided the people in question with a counterweight to idle, worldly literature and thus with faithful spiritual guidance for their way to the afterlife. This is par excellence the case with the beautifully decorated books of hours and the so-called Utrecht Bibles, the latter of which are dated from the years 1430 to 1480 and consisted of the historical books borrowed from the Herne Bible (including the Gospel harmony and the Acts of the Apostles), supplemented with the New Testament Letters and the Apocalypse taken from the translation ascribed to Johan Scutken (Fig. 1).19 The majority of the manuscripts, however, found their way into the houses of semi-religious women in Holland and Utrecht, particularly the tertiaries belonging to the Third Order Regular of St. Francis, and, to a lesser degree, into the convents of regular sisters following the rule of St. Augustine. Most biblical manuscripts date from the years 1460 to 1470 and stem from the northern part of the Low Countries.20 Among them, several copies of the Herne Bible circulated in the monasteries of the tertiaries of St. Francis, albeit with a far more sober layout than the Utrecht Bibles. It is remarkable that a translation that was made for a lay man in the world, seems to have been primarily owned by women living in semi-religious communities. In the rare cases where private ownership is attested, the holders are indeed predominantly male. Given the design of most of these manuscripts, these texts were to be read as a continuous narrative, so that the reader became familiar with biblical history and, through that, might be morally edified.21 18 Folkerts (see n. 9), 218, 226–228. 19 Achten, Gerard: Das christliche Gebetbuch im Mittelalter: Andachts- und Stundenbücher in Handschrift und Frühdruck. Berlin ²1987 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz – Ausstellungskataloge 13); Defoer, Henri L. M. / Korteweg, Anna Sophia / Wüstefeld, Wilhelmina C. M.: Die goldene Zeit der holländischen Buchmalerei. Intr. by James H. Marrow. Stuttgart-Zürich 1990, 129– 145; Biemans (cf. n. 7), 250–290, nos. 250–279 (with regard to the Utrecht Bibles); Warnar, Geert: Het verlossende woord. De Utrechtse bijbels (ca. 1430–1480) in context. In: Ons Geestelijk Erf 83 (2012), 264–284. 20 On medieval book manuscripts and indications with regard to previous ownership, see Biemans (see n. 7), passim; Stooker, Karl / Verbeij, Theo: Collecties op orde. Middelnederlandse handschriften uit kloosters en semi-religieuze gemeenschappen in de Nederanden, 2 vols. Leuven 1997 (Miscellanea Neerlandica 15–16), passim. 21 Folkerts (see n. 9), 226–227; Claassens: De Hernse Bijbel (see n. 2), 143; Idem: Ter inleiding: een veertiende-eeuwse vertaler in Herne. In: Kors: De Bijbel voor leken (see n. 2), ix–xvii, here xiv; Kors: De Bijbel voor leken (see n. 2), 166; Biemans (see n. 7), 56–86, nos. 36–64.

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Fig. 1: Utrecht Bible. Brussels, Royal Library, Ms 9020-23, f. 17. The manuscript (ca. 1431) possibly belonged to a patrician, but came rapidly into the possession of Philip the Good, Duke of Burgundy.

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In the same period, hundreds of manuscripts containing Geert Grote’s book of hours, in addition to the Psalters of the Modern Devotion (in total about 80–90 manuscripts are known to be preserved), found their way to the religious communities. Youri Desplenter showed that the first Psalter of the Modern Devotion seems to have been spread in the Rhine-Meuse-area, among regular sisters following the rule of St. Augustine, whereas the far more numerous manuscripts of the second Psalter of the Modern Devotion found their way to the communities of the tertiaries of St. Francis in Holland and Utrecht.22 Also the readers of the New Testament of the Devotio Moderna – of which around 160 manuscripts can be retraced – are to be found among regular sisters of St. Augustine and, even more outspokenly, tertiaries of St. Francis.23 Most of the vernacular manuscripts concerned contain tables and include signs that allowed the reader(s) to prepare or to follow the Epistle and Gospel readings at mass or the recitation of the Psalms during office, which was always performed in Latin. Some manuscripts even contained the Psalms or only the Gospel and Epistle readings of mass in the liturgical order (and not in the canonical order). Folkerts has moreover pointed to the roughly fifty manuscripts that contain the Passion story alone:24 this fits within late medieval spirituality in general (and Modern Devotion in particular) which promoted a meditation upon and imitation of Christ’s suffering and death on the cross through works of penance (Fig. 2). Although the evidence of the extant manuscripts leads us to conclude that vernacular Bible reading was mainly a practice of (semi-)religious women, it should be kept in mind that multiple contacts existed between late medieval religious houses and lay people living in the world and that these were not entirely separate milieus. It is known, for example, that the Brethren of the Common Life, especially in the cities in the northern part of the Low Countries, used vernacular Epistle and Gospel books for their collations, namely spiritual admonitions which they addressed to young people on Sundays and feast days, generally after vespers. Young people of school age were often joined by adult (married) citizens for such collations.25 Folkerts has also brought attention to the manifold testimonies about lay people who

22 Desplenter, Youri: Psaltervertalingen van de Moderne Devotie (see n. 13), 151–157; comp. Biemans (see n. 7), 100–151, nos. 74–127. 23 Folkerts (see n. 14), 172–175; Corbellini (see n. 14), 140–141; Biemans (see n. 7), 152–249, nos. 128–249. 24 Folkerts (see n. 9), 232–234. 25 Mertens, Thom: Collatio und Codex im Bereich der Devotio moderna. In: Der Codex im Gebrauch. Akten des Internationalen Kolloquiums 11.−13. Juni 1992. Ed. by Christel Meier et al. München 1996 (Münstersche Mittelalter-Schriften 70), 163–182; also: Van Engen, John H.: Sisters and Brothers of the Common Life: The Devotio Moderna and the World of the Later Middle Ages. Philadelphia 2008 (The Middle Ages Series), 144–154, esp. 151–152, and 281–288, esp. 284–285; Post, Regnerus Richardus: The Modern Devotion. Confrontation with Reformation and Humanism. Leiden 1968 (Studies in Medieval and Reformation Thought 3), 236–237 and 246–258; Hyma, Albert: The Christian Renaissance. A History of the “Devotio Moderna”. Hamden ²1965 [11924], 117–118.

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Fig. 2: History Bible of 1361, translation by Petrus Naghel. Brussels, Royal Library, Ms II 2409, f. 326r. The manuscript (ca. 1491) belonged to the library of the Sion Convent of the tertiaries of St. Francis in Lier (Brabant). It is uncertain whether the manuscript has been written in the convent.

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themselves owned manuscripts containing the text of the Bible, before donating or bequeathing them to religious sisters (consanguine or spiritual family) in monasteries. Inversely, lay people bought or borrowed manuscripts that were present in convents.26 Such testimonies are to be found in archival materials, generally in wills and inventories of libraries (or estate recordings in general) of deceased persons.27 Records found in archives testify of still other “networks of readers,” as, for example, in late medieval churches where a vernacular Bible copy was exposed to be read and studied by literate lay people. The most famous example is a Bible in two parts (the Old and the New Testament) copied by Willem Heerman, a canon in Leiden, and donated in 1462 to the town church of St. Peter. The Bible had to be placed in the choir of the church so that all honorable men were able to read and study it, on condition that they did not disturb the offices in the church.28 To what degree Bibles were read in the context of urban confraternities in the Low Countries still remains to be studied. The aforementioned testimonies lead us to conclude there was a diversity of networks of readers consisting of both (semi-)religious and lay people reading the Bible in the vernacular, in convents, private houses and even in the sacred space of the church. We must, moreover, keep in mind that the chances that manuscripts such as that in the church of St. Peter in Leiden, or those preserved in private settings, would have survived until the present day are far more limited in comparison with the chance of survival of skillfully written and illustrated Bibles preserved in relatively stable institutions such as semi-religious houses and convents. Such observations have brought researchers of the Groningen research project “Holy Writ and Lay Readers” to formulate some provisos with regard to the ‘Modern Devotion Paradigm.’ This spiritual reform movement recognizably gave an impetus to Bible translation and Bible reading in the vernacular, but lay people, especially those living in an urban context, “bought and read Bibles anyway,” argues Folkerts; therefore, the tendency to study the origins and dissemination of Middle Dutch Bible translations within the sole framework of Modern Devotion, should be critically assessed.29 Sabrina Corbellini, the distinguished leader of the Groningen research project, was even more outspoken in her assessment: “It may be true that a great amount of religious texts and manuscripts were produced and used in convents of this movement [the Modern Devotion], but over the past decades researchers have tended to study every religious text and manuscript from the perspective of the Modern Devotion. This tendency blurs the sight on other existing user circles, such

26 Folkerts (see n. 9), 229. 27 Corpus Catalogorum Belgii (see n. 10). 28 Regionaal Archief Leiden, Archief der secretarie van de stad Leiden (1253) 1290–1575 door J. C. Overvoorde en J. W. Verburgt (Leiden 1937), inventory no. 395. Also Kist, Nicolaas Christiaan: De Nederduitsche bijbel ten jare 1462 openlijk en tot algemeen stichtelijk gebruik geplaatst in de Pieters-kerk te Leiden. In: Nieuw Archief voor Kerkelijke Geschiedenis 2 (1854), 239–246, here 244–245. 29 Folkerts (see n. 9), 224; Warnar (see n. 19), 273–274.

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as lay people of the middle class, families, confraternities and guilds. This is in particular true for Bible translations, which are not purely monastic texts.” And even: “lay people were the main agents in the circulation of Bible translations. As the enormous number of manuscripts and printed copies prove, they were particularly successful in reaching their goals, whether adherents of the Modern Devotion had a role in this or not.”30 Although a few other Middle Dutch Bible translations saw the light of day in the period concerned, the aforementioned versions proved to be the most influential in the late Middle Ages. It comes as no surprise that they were also the first to be printed: In 1477 an edition of the Old Testament, without the Psalms, was printed in Delft by Jacob Jacobszoon van der Meer and Mauricius Yemantszoon van Middelborch.31 The text was an updated version of the Herne Bible. The reviser of the text was undoubtedly a theologically skilled man from Delft or the neighborhood. It has even been argued that he was a Carthusian monk from the monastery of St. Bartholomew’s Valley in Jerusalem, near Delft.32 The monastery had been founded some years earlier, in 1470, and had been populated by monks coming from Ghent and Herne (which would make the link with the Herne Bible clear). The prologue of the Delft Bible was a slightly abbreviated version of the prologue of the Herne Bible. Specifically, it includes the passage where the translator responds to the negative attitude of several clergy with regard to vernacular Bible reading by lay people, vehemently defending the right “to open the mysteryful Scriptures for the common people.”33 Indeed, Bible reading in the vernacular continued to have both its supporters and adversaries in 1477. On the basis of the extant copies it has been argued that the Delft Bible in particular found its way among a broad and mixed group of readers, both religious and lay, but remarkably among the milieus of well-to-do bourgeois families in Holland and Utrecht (not to the

30 Corbellini, Sabrina et al.: Challenging the Paradigms: Holy Writ and Lay Readers in Late Medieval Europe. In: Church History and Religious Culture 93 (2013), 171–188, here 182. 31 For a general introduction to the Delft Bible, see van Duijn, Mart: De Delftse Bijbel. Een sociale geschiedenis 1477 – circa 1550. Zutphen 2017, with earlier summaries in, among others: van Duijn, Mart: De Delftse Bijbel (1477). In: De Bijbel in de Lage Landen (see n. 2), 177–190; van Duijn, Mart: Targeting the Masses: The Delft Bible (1477) as Printed Product. In: “Wading Lambs and Swimming Elephants”. The Bible for the Laity and Theologians in the Medieval and Early Modern Era. Ed. by Wim François and August den Hollander. Leuven 2012 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 257), 1–19; cf. De Bundel, Katty: Ezekiel in Middle Dutch: On the Authorship of the Ezekiel-translation in the Delft Bible (1477) and Migsch, Herbert: Das Jeremiabuch in der Delfter Bibel (1477). Eine nach der Gutenbergbibel revidierte Mittelniederländische Übersetzung des Bijbelvertaler van 1360. In: Infant Milk or Hardy Nourishment. The Bible for Lay People and Theologians in the Early Modern Period. Ed. by Wim François and August den Hollander. Leuven 2009 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 221), 3–18 and 19–49. 32 van Duijn: De Delftse Bijbel. Een sociale geschiedenis (see n. 31), 71. Migsch (see n. 31), 33–39. 33 van Duijn: De Delftse Bijbel. Een sociale geschiedenis (see n. 31), 77–79, here 78.

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Fig. 3: Delft Bible, printed by Jacob Jacobszoon van der Meer en Mauricius Yemantszoon van Middelborch (Delft 1477), [f. 2rA:] opening of the book Genesis. Amsterdam, VU University, Library, XC.05037.

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exclusion of the ladies of these milieus).34 Less spectacular, but far more influential, were the manifold editions containing the Epistle and Gospel readings of the mass, in addition to those including the Psalms, which were printed in the towns of Holland and Utrecht. These editions were based on the translation of the Devotio Moderna ascribed to Johan Scutken (Fig. 3).35 In 1478–1479 the so-called Cologne Bible was published.36 This prestigious project had been realized under the guidance of the financier Johann Helman and his later son in law, the printer Heinrich Quentel. Both editors were assisted by a group of Carthusians of the charterhouse of St. Barbara in the town, giving once again testimony to the interest that existed within the Order for spreading copies of the vernacular Bible in order to meet the spiritual hunger among the non-Latin speaking populace. The Cologne Bible included the text of the Old Testament, in addition to the Psalms and the New Testament. The editors made use of previous translations of a different origin: large parts of its texts are based on the Delft Bible, published scarcely a year before.37 The Bible was even published in two slightly different textual variants, a Middle Low German and a West Low German. The latter also found a market in the eastern part of the Low Countries and may, in a certain sense, be considered as the very first complete Bible in Dutch. The rich illustrations contained in this edition provide the basis for an impressive pictorial Bible tradition.

Biblical Humanism, Reformation and Vernacular Bible Reading in the Early Modern Era The second part of this essay takes the year 1522 as its point of departure, since it proved to be a turning point in the history of the Dutch Bible.38 In that particular 34 van Duijn: De Delftse Bijbel. Een sociale geschiedenis (see n. 31), 145–151; Idem: Targeting the Masses (see n. 31), 14–18. 35 Folkerts: De Noord-Nederlandse vertaling van het Nieuwe Testament (see n. 14), 175; Eadem: Reading the Bible Lessons at Home (see n. 9), 235–236; den Hollander, August: Early Printed Bibles in the Low Countries. In: Infant Milk or Hardy Nourishment (see n. 31), 51–61. 36 For an introduction to the Cologne Bible, see van der Woude, Sape: De Keulse Bijbel 1478/ 1479 in het licht der historie. Inleiding bij de heruitgave A.D. 1979. Introduction to De Keulse Bijbel. Die Kölner Bibel 1478/1479. Köln 1478–79 [anast. Amsterdam-Alphen aan de Rijn 1979]. 37 de Bruin, Cebus Cornelis: De relatie tussen de Delftse Bijbel en de Keulse Bijbel (1479). In: Studies voor Damsteegt. Aangeboden door bevriende vakgenoten ter gelegenheid van zijn afscheid als hoogleraar aan de Rijksuniversiteit te Leiden op 16 januari 1981. Ed. by G. R. W. Dibbets et al. Leiden 1981 (Publikaties van de Vakgroep Nederlandse Taal- en Letterkunde 10), 19–32. 38 For Bible editions in the sixteenth century, see François, Wim: Naar een ‘confessionalisering’ van bijbelvertalingen in de zestiende eeuw – Inleiding. In: De Bijbel in de Lage Landen (see n. 2), 204–219 and subsequent chapters of the same work; den Hollander, August: De Nederlandse bijbelvertalingen. Dutch Translations of the Bible 1522–1545. Nieuwkoop 1997 (Bibliotheca Bibliographica Neerlandica 33). For a German-language summary, see also François, Wim: Die volks-

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year the Amsterdam printer Doen Pietersoen brought an edition of the Gospel of Matthew onto the market that was not based on an existing late medieval translation, offering instead a new version. Johan Pelt, guardian of the Franciscans in Amsterdam and later evangelical preacher in Bremen, had based his translation upon the Vulgate, but had it emended using Erasmus’s “Novum Testamentum” (1519). The text of the glosses seems to be inspired by Erasmus’s “Annotationes” as well as by Nicolas of Lyra’s expositions, both of whom amply drew from the “Glossa ordinaria.”39 It is undeniable that Erasmus, who had been educated in religious houses from the sphere of the Devotio Moderna and entered the monastery of the Augustinian Canons Regular in Stein, near Gouda, also had imbibed the movement’s scriptural devotion. The project to put vernacular Bibles at the disposal of lay readers had the humanist’s full-hearted support.40 Doen Pietersoen’s modest edition of the Gospel of Matthew, however, was quickly followed in 1523 by a translation of Luther’s German New Testament. The Dutch text of Gospels, Acts and Revelation was first published in an edition by Adriaen van Berghen in Antwerp, also in 1523 (whereas most New Testament Letters were reproduced according to the text of Johan Scutken).41 A Lutheran translation of the Letters followed later that year in Amsterdam in an edition by Doen Pietersoen, who also included the text published earlier that year by Van Berghen.42 During the succeeding five years, several versions or sections of the Bible, most of them based upon Luther’s translation and some also upon Erasmus’s “Novum Testamentum,” were brought onto the market. Interesting examples of these are the Dutch translation of Erasmus’s New Testament, published in Delft in 1524 by the printer Cornelis Henricsz. Letternijder,43 and the Dutch Bible in six pocket editions

sprachliche Bibel in den Niederlanden des 16. Jahrhunderts. Zwischen Antwerpener Buchdruckern und Löwener Buchzensoren. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 120 (2009), 187–214. See also www.bibliasacra.com, a digital bibliography containing detailed information on Bibles printed in the Netherlands and Belgium (1477–1600). 39 Bijl, Simon Willem: Erasmus in het Nederlands tot 1617, Nieuwkoop 1978 (Bibliotheca Bibliographica Neerlandica 10), 12–30; de Bruin, Cebus Cornelis: De Statenbijbel en zijn voorgangers: Nederlandse bijbelvertalingen vanaf de Reformatie tot 1637. Rev. by Frits G. M. Broeyer. HaarlemBrussel 1993, 67–72; den Hollander (see n. 38), 39–40, 212 and 261–263; Templin, J. Alton: PreReformation Religious Dissent in The Netherlands, 1518–1530. Lanham MD 2006, 137–154. 40 See Cottier, Jean-François / François, Wim / Vanautgaerden, Alexandre: Erasmus: De bijbel voor boer, smid en steenkapper. Anderlecht-Turnhout 2011 (Notulae Erasmianae 6). 41 de Bruin (see n. 39), 76–80; den Hollander (see n. 38), 46–47, 213–214 and 264–267. 42 de Bruin (see n. 39), 79, 84; den Hollander (see n. 38), 40, 214–215 and 274–279. 43 François, Wim: Erasmus’ Revision of the New Testament and its Influence on Dutch Bible Translations. The Dossier Revisited. In: The Bible Translator 67 (2016), 69–100; den Hollander, August: Erasmus in het Nederlands – De edities van het Nieuwe Testament door Cornelis Lettersnijder (1524) en Michiel Hillen van Hoochstraten (1527 en later). In: De Bijbel in de Lage Landen (see n. 2), 220–225, here 220–223; de Bruin (see n. 39), 105–109; Bijl (see n. 39), 32–49; den Hollander (see n. 38), 56–58, 218 and 289–291.

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based on Luther’s translations – in as far as the latter had already appeared – and published in the course of the years 1525–1526 by the Antwerp printers Hans (I) and Christoffel van Ruremund.44 Some of the Dutch versions in question were also provided with Reformation-minded glosses, prefaces and summaries heading the chapters; this was, for example, the case with the Lutheran New Testament edited by Albert Pafraet in Deventer (1525).45 Also interesting is the Bible edition that Merten de Keyser printed for Govaert van der Haeghen in Antwerp (1525) and offering a mixed text, containing materials borrowed from both Luther and Erasmus.46 The center of Bible production moved during these years from the towns of Holland to Antwerp, the principal trading port and expanding economic heart of the Low Countries.47 Apart from making it possible and easier for lay people to follow the (Latin) readings of the official Church liturgy, these Bible editions were also brought along to secret conventicles, where they were read, discussed and often interpreted in a Reformation-minded way. Bible reading in the vernacular, which was at the end of the Middle Ages already found among spiritually interested laity, both inside and outside the convent, was now fully extended to the urban elites, including craftsmen, schoolmasters and rhetoricians.48 And although the Protestant paradigm, that the Bible had no place in the life of lay people before the Reformation, must be thoroughly revised,49 it is true that biblical humanism and the advent of the Reformation served as an extra impetus to the production and reading of Bibles in the vulgar tongue.

44 François, Wim: The Antwerp Printers Christoffel and Hans (i) van Ruremund, Their Dutch and English Bibles, and the Intervention of the Authorities in the 1520/30. In: Archiv für Reformationsgeschichte 101 (2010), 7–28, here 20–22; also Jory, Colin H.: The First Printed Dutch Bible: Reassigning the Honour. In: Quaerendo 44 (2014), 137–178. 45 de Bruin (see n. 39), 85–91; den Hollander (see n. 38), 77, 222–223 and 304–306. 46 François: Erasmus' Revision (see n. 43), 80–84 and 87; de Bruin (see n. 39), 109–111; Bijl (see n. 39), 45–48; den Hollander (see n. 38), 62–63, 220–221 and 301–303. 47 Arblaster, Paul: “Totius Mundi Emporium”. Antwerp as a Centre for Vernacular Bible Translations 1523–1545. In: The Low Countries as a Crossroads of Religious Beliefs. Ed. by Arie-Jan Gelderblom, Jan L. de Jong and Marc Van Vaeck. Leiden-Boston 2004 (Intersections: Yearbook for Early Modern Studies 3), 9–31. 48 On the individual reading culture and the discussions that took place in the conventicles, see Heijting, Willem: “Ziet daer staedt ghescreven ende ’t es zo.” Het boek en de overdracht van ideeën bij de eerste Nederlandse evangelisch gezinden. In: Mensen van de Nieuwe Tijd. Een liber amicorum voor A. Th. Van Deursen. Ed. by Marijke Bruggeman et al. Amsterdam 1996, 14–28; also: Duke, Alastair: Reformation and Revolt in the Low Countries. London-Ronceverte WV 1990, 38–39 and 115–117. 49 Gow, Andrew Colin: Challenging the Protestant Paradigm: Bible Reading in Lay and Urban Contexts of the Later Middle Ages. In: Scripture and Pluralism. Reading the Bible in the Religiously Plural Worlds of the Middle Ages and the Renaissance. Ed. by Thomas Heffernan and Thomas E. Burman. Leiden 2006 (Studies in the History of Christian Thought 123), 161–191; Gow, Andrew Colin: The Contested History of a Book: The German Bible of the Later Middle Ages and Reformation in Legend, Ideology and Scholarship. In: The Journal of Hebrew Scriptures 9 (2009), 2–37.

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A milestone in the history of Bible translation in the Low Countries was the publication in 1526 of the first complete illustrated Dutch folio Bible of the early modern era, by the Antwerp printer-publisher Jacob van Liesvelt.50 The New Testament was in any case very much influenced by the Luther translation, but it lacked the Reformation-minded glosses, prefaces and summaries heading the chapters. However, not only Dutch Bibles, but also new English and French editions, and even Danish, Spanish and Italian versions, left the presses of the Antwerp printers; we will not here enter into detail on these versions.51 For the sake of completeness, we have to stress that parallel to these new developments the aforementioned Epistles and Gospels, in addition to the Psalter in the translation of Johan Scutken and the Devotio Moderna, continued to be printed.51a

The Catholic Church and the Dutch Bible It goes without saying that the ecclesiastical and civil authorities in the Low Countries were challenged to take a stand with regard to the new ideas that had begun circulating in general, and vernacular Bibles in particular.52 For matters concerning the right doctrine, an appeal was made to the masters of the Louvain Faculty of Theology, established in 1432. Jacobus Latomus (circa 1475–1544), one of the leading figures of the theological Faculty and a formidable adversary of Erasmus and Luther, devoted some brief passages in his works to vernacular Bible reading. This was the case with his “Apologia pro Dialogo,” written in 1525 but only posthumously published in 1550, in addition to his “Libellus de fide et operibus et de votis atque

50 On Liesvelt’s Bibles, see Hoff, Renske Annelize: Framing Biblical Reading Practices: The Impact of the Paratext of Jacob van Liesvelt’s Bibles (1522–1545). In: The Journal of Early Modern Christianity 6 (2019), 223–250; den Hollander, August: De Liesveltbijbel van 1526 en later: naar een protestantse bijbel. In: De Bijbel in de Lage Landen (see n. 2), 226–236, here 226–230; de Bruin (see n. 39), 94–96; den Hollander (see n. 38), 25–26, 33, 224 and 326–329. 51 Agten, Els / François, Wim / Latré, Guido: Franse, Spaanse en Engelse bijbelvertalingen in de zestiende eeuwse Lage Landen. In: De Bijbel in de Lage Landen(see n. 2), 342–388; a short summary and further literature is also in François: Die volkssprachliche Bibel (see n. 38), 197–199. 51a Folkerts, Suzan: Middle Dutch Epistles and Gospels: The Transfer of a Medieval Bestseller into Printed Editions during the Early Reformation. In: Vernacular Bible and Religious Reform in the Middle Ages and Early Modern Era. Ed. by Wim François and August den Hollander. Leuven 2017 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 287), 53–73. 52 On Bible editions and Bible censorship, see den Hollander, August: Verboden bijbels. Bijbelcensuur in de Nederlanden in de eerste helft van de zestiende eeuw. Amsterdam 2003 (Oratiereeks); François, Wim: Die “Ketzerplakate” Kaiser Karls in den Niederlanden und ihre Bedeutung für Bibelübersetzungen in den Volkssprache. Der “Proto-Index” von 1529 als vorläufiger Endpunkt. In: Dutch Review of Church History 84 (2004), 198–247; Idem: Vernacular Bible Reading and Censorship in Early Sixteenth Century: The Position of the Louvain Theologians. In: Lay Bibles in Europe (see n. 15), 69–96.

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institutis monasticis” from 1530. In the latter text, Latomus stressed that ordinary people first had to be made familiar with the Twelve Articles of the Creed, the Lord’s Prayer, the Ten Commandments, the traditional observances associated with Church membership (for example, weekly mass) and exemplary stories taken from the lives of Jesus, Mary and the saints. It was much safer and more efficient to catechize common people on the basis of a compendium summarizing the faith, the prayer and the commandments, than to grant them permission to read the Scriptures individually and then interpret them literally (“ad verbum”). After all, there was a risk that these people would start discussing the faith and the sacraments, pass their own judgment and reject those elements that they could not or did not understand (an allusion to what happened in the secret conventicles). Still, Latomus’s rejection of individual Bible reading was neither fundamental nor unconditional. On the contrary, he seemed to consider it very useful for people to read the Scriptures, so long as they did so in a humble and modest way (“humiliter et modeste”). With this he undoubtedly also meant that those laymen who still read the Bible had to submit themselves to the Church’s traditional scriptural interpretation and not interpret it according to their own individual judgment.53 Louvain theologians, however, were not mere theological theorists. From the early origins of religious dissent, the political and ecclesiastical authorities in the Low Countries involved them in the censoring of all kinds of books in which the ‘new’ doctrine was proclaimed. The contents and the number of Bibles had also to be carefully monitored, since the authorities believed that it was the Reformation that was responsible for the prevalence of idiosyncratic Scripture readings.54 Beginning in 1525–1526, the authorities pursued for the next two decades a rather constant course in their Bible policy. The anti-heretical edicts they issued did not completely forbid all vernacular Bible translations, or even those that were based on Erasmus’s or Luther’s Bible. At the same time, a strict ban was invoked on Dutch and French translations of the Bible that contained Reformation-minded glosses, prefaces or summaries above the chapters. It was also forbidden to read the Scriptures in the vernacular in clandestine conventicles, to interpret them simply according to one’s own insight and even to discuss how to interpret them. Apart from this repressive censorship, a preventive censorship was also put into operation, requiring the prior permission of the authorities for the publication of any vernacular translation. In this sense the Louvain theologian and book censor Nicolas Coppin assigned an imperial privilege to the Antwerp printer Willem Vor-

53 Latomus, Jacobus: Pro dialogo de tribus linguis apologia. In: Opera, quae praecipue adversus horum temporum haereses eruditissime, ac singulari iudicio conscripsit… Ed. by Jacobus Latomus jr. and Ruard Tapper. Leuven 1550, f. 170v d – 171r b; Latomus, Jacobus: De fide et operibus. In: Opera omnia. Ed. by Latomus jr. and Tapper, f. 134v c – 135r a. A summary of the content is available in: François: Vernacular Bible Reading and Censorship (see n. 52), 71–75. 54 den Hollander (see n. 52), 6–10; François: “Ketzerplakate” Kaiser Karls (see n. 52); Idem: Vernacular Bible Reading and Censorship (see n. 52), 79–89.

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sterman in 1528, allowing him to print an authorized Dutch Bible translation. This edition ought to have been an orthodox revision of Van Liesvelt’s aforementioned 1526 Luther translation. It has been emphasized, however, that Vorsterman’s first edition of 1528 still contained some similarities to Luther’s translations, which was especially problematic as regards the New Testament. Willem Vorsterman therefore took care to remove the similarities to the Luther Bible as far as possible from his subsequent Bible editions, starting with that from 1529, and to ensure that they conformed more accurately to the text of the Vulgate (at least with regard to the New Testament).55 More specifically, he adopted the text of his colleague Michiel Hillen van Hoochstraten’s 1527 New Testament, which had, in turn, sought to conform the text of Lettersnijder’s Dutch translation of Erasmus’s “Novum Testamentum” with that of the Vulgate.56 Although the Vorsterman edition acquired the status of semi-official Bible translation for the Low Countries, several other versions also continued to boast a ‘cum gratia et privilegio’ on their title page. An important group of editions was based on the New Testament of Christoffel van Ruremund from 1526 and provided a Reformation-minded text without provocative paratextual elements.57 Finally, the Bibles edited by Jacob van Liesvelt could boast a ‘cum gratia et privilegio’, even though their paratextual elements did display an increasingly Reformation-minded character.58 Antwerp in particular, the city where the majority of Bible editions were printed, was quite liberal with regard to its Bible policy. The city council did not want to restrict the economically important printing industry and, moreover, desired to safeguard its image as an ‘open’ port for as long as possible. Charles V’s central administration, for its part, undoubtedly realized that the health of the Antwerp capital

55 On Vorsterman’s Bibles see, among others, Vermeulen, Louis: “Die alder beste maniere van ouer te setten": Een andere visie op het gebruik van bronnen in het Oude Testament van de Vorstermanbijbel. In: Trajecta 27 (2018), 57–126. François, Wim: The Compositors’ Neglect or the True Story Behind the Prohibition of Vorsterman’s Dutch Bibles. In: Ephemerides Theologicae Lovanienses 91 (2015), 239–256; Idem: De Vorstermanbijbel van 1528 en later: naar een katholieke bijbel. In: De Bijbel in de Lage Landen (see n. 2), 237–265; den Hollander (see n. 38), 1–2, 90–92, 226 and 350–357. 56 François: Erasmus’ Revision (see n. 43), 84–87; den Hollander: Erasmus in het Nederlands (see n. 43), 223–225; de Bruin (see n. 39), 108; Bijl (see n. 39), 48–49; den Hollander (see n. 38), 81, 225–226 and 336–338. For the pedigree of the concerned Michiel Hillen van Hoochstraten/Vorsterman-editions, see ibid., 202; comp. 163. 57 For this group of editions, see den Hollander (see n. 38), 201. 58 den Hollander: De Liesveltbijbel (see n. 50); de Bruin: De Statenbijbel en zijn voorgangers. Rev. by Broeyer (see n. 39), 96–98; den Hollander: De Nederlandse bijbelvertalingen (see n. 38), 34, 229–230; François, Wim: Jacob van Liesvelt as a Martyr for the Evangelical Belief? In: More than a Memory. The Discourse of Martyrdom and the Construction of Christian Identity in the History of Christianity. Ed. by Johan Leemans and Jürgen Mettepenningen. Leuven 2005 (Annua Nuntia Lovaniensia 51), 341–369, here 346–351. For this group of editions, see den Hollander: De Nederlandse bijbelvertalingen (see n. 38), 203; comp. 163.

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markets was of vital importance for the fiscal income of the State.59 The book censors, on their part, seem not to have examined the Bible editions closely. In any case, Antwerp printers were given the leeway to continue producing their Bible translations, which were eagerly purchased by many diverse groups: Catholics, humanist-minded people, people with Lutheran sympathies and other religious dissenters. In passing, reference must also be made to Willem van Branteghem († 1553), Carthusian of the charterhouse of Kiel, near Antwerp, who produced several books for meditation based on biblical materials.60 He firstly edited the “Pomarium mysticum” and its French version “Le Vergier spirituel” (both printed by Willem Vorsterman in 1535), in Dutch “Een gheestelijc boomgaert” (Vorsterman, 1536). This booklet offered 92 full-page woodcuts, the first part of which presented mainly New Testament scenes (with a predilection for Passion scenes),61 while the second part focused on the Twelve Articles of the Creed, the Ten Commandments and the Lord’s Prayer, in addition to images of Mary, the Apostles and the saints, as well as the last things. Most images were also accompanied by a prayer. In 1535 the Antwerp printer Symon Cock published the “Enchiridion, compluscula eorum quae in veteris testamenmenti [sic] sacris Bibliis traduntur, picturis expressa continens,” in addition to a Dutch and a French version. The “Enchiridion” mainly offered copies of Old Testament pictures,62 which were accompanied by a relevant Bible text, as well as a prayer in which Van Branteghem included typological interpretations. Our Carthusian further composed a “Iesu Christi vita, iuxta quatuor Evangelistarum narrationes,” a Gospel harmony printed in 1537 by Matthias Crom and published by Adriaen Kempe van Bouckhout, likewise in Antwerp. Kempe van Bouckhout and Crom published concurrently a Dutch edition of the “Iesu Christi vita,” entitled “Dat leven ons Heeren Christi Jesu”; they also issued a French translation, “La vie de nostre

59 de Nave, Francine: Antwerpen, dissident drukkerscentrum in de 16de eeuw: algemene synthese. In: Antwerpen, dissident drukkerscentrum. De rol van de Antwerpse drukkers in de godsdienststrijd in Engeland (16de eeuw). Ed. by Dirk Imhof, Gilbert Tournoy and Francine de Nave. Antwerpen 1994 (Publikaties van het museum Plantin-Moretus en het Stedelijk prentenkabinet 31), 13–22, here 14; Johnston, Andrew G. / Gilmont, Jean-François: L’imprimerie et la Réforme à Anvers. In: La Réforme et le livre. L’Europe de l’imprimé (1517–v.1570). Ed. by Jean-François Gilmont. Paris 1990 (Cerf Histoire), 191–216, here 191–192; Blockmans, Willem Pieter: De vorming van een politieke unie (14de – 16de eeuw). In: Geschiedenis van de Nederlanden. Ed. by J. C. H. Blom and Emiel Lamberts. Amsterdam 1994, 65–160, here 133–135. 60 On Willem van Branteghem and his Bible-based meditation books, see among others, Melion, Walter S.: From Mystical Garden to Gospel Harmony: Willem van Branteghem on the Soul’s Conformation to Christ. In: Ut pictura meditatio: The Meditative Image in Northern Art, 1500–1700. Ed. by Walter S. Melion, Agnes Guiderdoni-Bruslé and Ralph Dekoninck. Turnhout 2012 (Proteus 4), 107–155. See there for further literature. 61 The woodcuts were based on earlier prints by Albrecht Dürer, Hans Sebald Beham and other German masters. 62 The copies were made after Hans Sebald Beham’s “Biblische Historien.”

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Fig. 4: Willem van Branteghem, Een gheestelijc boomgaert, printed by Willem Vorsterman (Antwerp 1536), f. C1r. Leuven, KU Leuven Libraries, Maurits Sabbe Library, P 22.09 BRAN Ghee.

Seigneur Jesu Christ,” in 1539. The Gospel harmony was illustrated by 186 oblong woodcuts made by Lieven de Witte of Ghent, and was followed by the Epistle and Gospel readings of Sundays and feast days, as well as the principal saints’ days, which in their turn were often followed by a short prayer of supplication. Van Branteghem’s meditation books stood in a tradition of personal Bible-based meditations that were very typical of the late medieval spiritual renewal movements, of which his Order was one of the inspirers and which the Catholic authorities were certainly only able to approve: spiritually nourished through Word and Image, man should strive to imitate Jesus’s Life and Passion – prefigured in the Old Testament – a spiritual journey that always had to be undertaken in conformity with the official liturgy of the Church, where the scriptural texts were read and explained (Fig. 4). While Van Branteghem strove for a renewal of religious life through aligning with the outstanding practices of Bible-based meditation that the Middle Ages had brought about, Reformation-minded people kept gathering in secret conventicles, where they read and interpreted the Scriptures according to the new doctrine. In 1543 a small but active group of Protestants was discovered in the city of Louvain, and house searches led to the confiscation of many of vernacular Bibles and dissi-

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dent writings. The theologian-inquisitors, upset by the presence of ‘heretics’ in their backyard, reacted by intensifying repression of forbidden literature and its printers.63 One of the most famous victims of this policy was Jacob van Liesvelt, who was beheaded in Antwerp in 1545 for having printed books without having obtained the required permission from the official authorities. We must, however, take into account that a direct correlation between Van Liesvelt’s execution and his famous 1542 Bible with its Reformation-minded glosses has never been proved (although this belief established itself in Netherlandish Protestant circles for centuries).64 It has been said that, as a consequence of the Louvain heresy trials in 1543, the theologians started drafting a list containing dangerous and hence prohibited books. On May 9, 1546, they issued, by order of the imperial government, their Index of prohibited books.65 According to the preface given by the dean, the theologians opposed those Bible editions that did not sufficiently represent the text of the Vulgate; that included Reformation-minded prologues, marginal glosses, summaries and other paratextual elements; or that failed to give either the name of the printer and/or the place and/or date of publication.66 On the basis of these criteria, a total of 42 Dutch (and close on ten French) Bible editions were banned. It is, however, clear that the imperial authorities and the Louvain theological Faculty did not only want to forbid the ‘unreliable’ Bible translations in a negative way (particularly since the Council of Trent, for the time being, had not made any pronouncement on the legitimacy of vernacular Bibles and had left the judgment to the local – ecclesiastical and civil – authorities).67 For, immediately after the publication of the Index, the imperial authorities and the Faculty of Theology entered

63 [De Enzinas, Francisco:] Mémoires de Francisco de Enzinas. Texte latin inédit avec la traduction française du XVIe siècle en regard. 1543–1545. Ed. by Ch.-Al. Campan, 2 vols. Bruxelles 1862 (Collection de mémoires relatifs à l’histoire de Belgique 13); also [De Enzinas, Francisco:] Les memorables de Francisco de Enzinas. Traduit pour la première fois depuis le 16e siècle du texte original latin. Ed. by Jean de Savignac. Bruxelles 1963; Savine, Albert: La Chasse aux Luthériens des Pays-Bas. Souvenirs de Francisco de Enzinas. Paris 1910 (Collection historique illustrée), 7–36. Studies on the Louvain heresy trials can be found in Van Uytven, Robert: Bijdrage tot de sociale geschiedenis van de Protestanten te Leuven in de eerste helft der XVIe eeuw. In: Mededelingen van de Geschied- en Oudheidkundige Kring voor Leuven en omgeving 3 (1963), 3–38; de Bruin, Cebus Cornelis: Beschouwingen rondom het Leuvense ketterproces van 1543. In: Rondom het Woord 9 (1967), 249– 259. 64 François: Jacob van Liesvelt as a Martyr (see n. 58), 351–355. 65 De Bujanda, Jesús Martínez et al.: Index de l’Université de Louvain, 1546, 1550, 1558. Sherbrooke-Genève 1986 (Index des livres interdits 2). 66 See, among others, De Bujanda (see n. 65), 405 [= Catalogus… librorum reprobatorum. Leuven 1546, f. 19v – 20r]. For the Bible editions that were included in the Index, see den Hollander (see n. 52), 11–21. 67 François, Wim: The Catholic Church and the Vernacular Bible in the Low Countries. A Paradigm Shift in the 1550s? In: Discovering the Riches of the Word: Religious Reading in Late Medieval and Early Modern Europe. Ed. by Sabrina Corbellini, Margriet Hoogvliet and Bart Ramakers. Leiden 2015 (Intersections 38), 234–281.

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into an agreement with the Louvain printer Bartholomew van Grave, with the intention of the publication of new Catholic Bible translations, both in Dutch and in French, that met the criteria the dean of the Louvain Faculty of Theology had stipulated in the preface to the Louvain Index. In 1548 Van Grave published the official Dutch Louvain Bible, which was, in a certain sense, the successor to Willem Vorsterman’s Dutch Bibles.68 The translation work was carried out by Nicolaus van Winghe (circa 1495–1552), an Augustinian canon regular from the congregation of Windesheim, living in the monastery of St. Martin’s Valley in Louvain. It was precisely in the mother house of Windesheim, founded in the spirit of the Devotio Moderna, that Johan Scutken had translated parts of the Bible into Dutch some 150 years earlier. In the introductory material, Van Winghe demonstrates his adherence to the terms to which the Louvain theologians considered vernacular Bible reading to be subjected. Although there were no principal theological objections against the practice of vernacular lay reading, given the confused times, caution was recommended. Such a practice should only be tolerated on condition that lay believers submit themselves meekly to the traditional scriptural interpretation of the Church. Specifically: lay people had the right to read the Bible at home if inspired by the sole aim of preparing themselves to be better able to understand the sermons given in church by the priests and preachers.69 This was a classical argument that had been borrowed from the Church father John Chrysostom and is found in nearly every apology for vernacular Bible reading since the late Middle Ages.70 Interesting for our topic is that Van Winghe, for his translation of the Old Testament, used the text of the

68 For the Dutch Louvain Bible, see François, Wim: De Leuvense Bijbel (1548) en de katholieke bijbelvertalingen van de tweede helft van de zestiende eeuw. In: De Bijbel in de Lage Landen (see n. 2), 266–303, here 276–294; Van Herreweghen, Pacificus: De Leuvense bijbelvertaler Nicolaus van Winghe. Zijn leven en zijn werk. In: Ons Geestelijk Erf 23 (1949), 5–38, 150–167, 268–314 and 357–395; de Bruin: De Statenbijbel en zijn voorgangers. Rev. by Broeyer (see n. 39), 141–147; Gilmont, Jean-François: La concurrence entre deux Bibles flamandes. In: Idem, Le livre & ses secrèts. Genève-Louvain-la-Neuve 2003 (Cahiers d’humanisme et renaissance 65. UCL. Bibliothèque de la Faculté de philosophie et lettres. Temps et espaces 2), 151–162, here 152–155. 69 See, among others, Van Winghe, Nicolaus: Den goetwillighen Leser Saluyt. In: Den gheheelen Bybel […]. Transl. by Nicolaus Van Winghe. Leuven 1548, f. pi 3r-v. For a detailed discussion of the prefaces to Van Winghe’s Bible, see François, Wim: Het voorwoord bij de “Leuvense bijbel” van Nicholaus van Winghe (1548). Over Schrift, Traditie en volkstalige Bijbellezing. In: Ons Geestelijk Erf 79 (2005–2008), 7–50. 70 Van Winghe obviously refers to John Chrysostom: De Lazaro concio 3.1–3. Ed. by Bernard de Montfaucon and Jacques-Paul Migne. Paris 1859 (PG 48), c. 991–996. The topic of Bible reading as a preparation for the sermon in church is even more clearly to be found in John Chrysostom: In Joannem Homil. 11.14.1. Ed. by Bernard de Montfaucon and Jacques-Paul Migne. Paris 1859 (PG 59), c. 77–78. For other passages in Chrysostom’s works containing encouragements to lay people to read Scripture, see Harnack, Adolf: Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament. Vol. 5: Über den privaten Gebrauch der heiligen Schriften in der alten Kirche. Leipzig 1912, 68–69, 82–83, 87, 90 and 110.

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Delft Bible of 1477 as his basis, which was itself largely based upon the Herne Bible composed in the years 1359–1385. For the Psalter and the New Testament, he mainly used Vorsterman’s Bible, in its catholicized versions, whereas also the familiarsounding Dutch Bible language is recognizable as it took shape through the manifold editions of the Epistle and Gospel readings of mass with their text borrowed from the Northern-Dutch translation of the New Testament. Interpretative paratextual elements were completely absent from the Louvain Bible, since authoritative explanation of Scriptures should only be given during the church services by competent priests and preachers (Fig. 5). The circle of our story is complete. As a response to the Protestants’ reading their Bibles in (semi-)clandestine conventicles, the Catholic authorities in the Low Countries (both ecclesiastical and civil) unfolded a biblical program that drew from the vernacular biblical heritage of the late Middle Ages. The Louvain Bible of 1548, which may be considered a product of Catholic reform (the so-called Counter-Reformation), is also demonstrably the outcome of the combined vernacular spiritual heritage of late medieval Carthusians and Modern Devotees. Hence, the laity’s engaging in the reading of and meditation on the Scriptures (and other spiritual literature), with a view to the nourishment of the inner spiritual life, remained characteristic of Netherlandish Catholicism until deep into the sixteenth century. From this perspective, the thesis which considers the turn towards a more interiorized biblical spirituality as the contribution of the Protestant Reformation to the renewal of Christianity should be nuanced.71 Both early modern Netherlandish Protestants and Catholics – albeit to differing degrees – drew from the spiritual renewal movement at the end of the Middle Ages that promoted a more interiorized Christianity based upon the reading of the sources of the faith, especially the Scriptures. In both groups a large number of Bible editions saw their origin. But whereas the Protestants invoked the Bible as the norm to take their distance from traditional tenets and forms of belief, the Catholics continued to emphasize the link between its reading and the official liturgy of the Church, an option that was also reflected in the editions’ composition and arrangement of the material. It was only in the last quarter of the sixteenth century that the production of Catholic vernacular Bible editions came to a standstill in the Low Countries, which coincides with the substitution of a more traditional Catholicism, with roots in the late Middle Ages, by a more militant counter-reformational one.72

71 See also: Sluhovsky, Moshe: Discernment of Difference, the Introspective Subject, and the Birth of Modernity. In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 36 (2006), 169–199. 72 See: François (see n. 67), 265–275.

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Fig. 5: Louvain Bible, translation by Nicolaus van Winghe, printed by Bartholomew van Grave (Leuven 1548), f. A1r. Leuven, KU Leuven Libraries, Maurits Sabbe Library, P 22.055.1/F°/Bijb 1548.

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Catechisms and Their Images Catechesis is an ancient practice. In the early fifth century, Augustine offered priests advice on how to catechize. In the thirteenth century, Thomas Aquinas listed what Christians, ideally, should know: the Ten Commandments and the Primary Command of Love; the Confession and the Sacraments; the Lord’s Prayer; the Ave Maria; and the Apostles’ Creed.1 But in the medieval Church, catechizing was largely an aural practice. Priests may have themselves taught from texts, but they read those texts aloud.2 In the sixteenth century, evangelicals and Catholics alike took up catechesis to build communities of believers. Within the communities where they preached, they took up the practice Augustine had outlined: face-to-face, largely aural instruction, usually of boys. But they also turned to an ancient form, the codex, which had not traditionally been used in catechesis, but which recent technological improvements had made available in unprecedented numbers and, also unprecedented, in identical texts.3 The printed codex changed catechesis. Even as some, such as John Calvin, instructed the readers of catechisms to follow a particular schedule – to anchor their reading to a temporal structure of weeks and days – all, in Martin Luther’s words, that a Christian ‘needed to know’ was to be found between title page and coda, all at once. ‘Catechism’ was the name given to an astonishing range of printed texts in the sixteenth century. Physically, catechisms range in size from the tiny 24th to folio, from four pages to over 600. They were published in the languages of Europe and, over time, of the peoples of North America. Some, such as Luther’s or Johannes Meckhart’s catechisms, were published repeatedly, in pirated as well as authorized editions, proliferating the same organization of doctrine, if not identical texts. The word did not name a consistent genre, not in the organization of the text, not in the relationship of text and reader. Some catechisms structured what a Christian needed to know in questions and answers, which were to be repeated until

1 Läpple, Alfred: Kleine Geschichte der Katechese. München 1981, 81–82. See now Wandel, Lee Palmer: Reading Catechisms, Teaching Religion. Leiden/Boston 2015 (Brill’s Studies in Intellectual History / Studies on Art, Art History, and Intellectual History 250/11). 2 “Der Katechismus in Buchform, der die Grundzüge der christlichen Lehre in Hauptstücke zusammenfasst und mit Erläuterungen für die Glaubensunterweisung den Laien darbietet, kommt nach einzelnen Vorformen erst in der Reformationszeit auf, Schiller, Gertrud: Ikonographie der christlichen Kunst. Vol. 4, 1: Die Kirche. Gütersloh 1976, 117. 3 Catechisms have never been accurately catalogued: with the exception of the Jesuit bibliography project, which did indeed organize Canisius’s many different catechisms under a single rubric, the many different titles have meant that all the texts designed to function catechetically are not listed together. https://doi.org/10.1515/9783050051659-013

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their answers came automatically to the questions. Some were sermons, to be read aloud, presumably from some kind of support – a table, a pulpit, a lectern – given the size and weight of their folios. Many, such as Luther’s “German Catechism,”4 were broken into chapters, facilitating the kind of regular instruction he requested: an hour after a meal or before bed at night. Most authors sought to shape who read their catechisms and how. In the preface to his catechism, Luther asked fathers to read it aloud to their households: wife, children and servants. Title pages or prefaces were addressed to different readers – priests, evangelical pastors, school boys, fathers, and one was even addressed to a noblewoman – as authors sought to determine which among many kinds of readers read this particular text. Most sought to shape the relationship between object and person, to place different persons in different relationships to the page: reader or readers in the plural, who might or might not be different from listeners. Michael Helding, Archbishop of Mainz, first published his catechism in a large and heavy format, the folio, better suited to a lectern or table, impossible to fit in a hand.5 Andreas Osiander named his catechism “Children’s Sermon.”6 Some readers were asked to read aloud: to children, to households, to congregations. Some readers were asked to read with a teacher, who presumably held a second copy of the same catechism in his hands – to answer aloud the questions that another was asking aloud, with both sets of words printed on the page. Many authors stipulated the context of reading, whether classroom or home, and the dynamics, usually with one (such as the author of the catechism) accorded particular authority in the process of catechizing. The best known of the authors (for example, Peter Canisius, Luther and Calvin) did not intend their catechisms to self-sufficient. As codices, however, catechisms could never be controlled in the ways medieval catechesis had worked. As an object, they could travel. Smaller objects could be hidden, read clandestinely. Thus, the authors of catechisms and their printers did more than stipulate in the preface the intended praxis and reader(s). They explicitly drew upon the spatial structure of the codex to organize catechesis, to structure a process, from beginning to end. Unlike books of hours or prayers, catechisms were not designed for devotional practices anchored to the liturgical calendar – they led their readers through a sequence organized spatially, front to back, top to bottom.

4 Luther, Martin: Deudsch Catechismus: Mit einer newen vorrhede, und vermanunge zu der Beicht. Wittenberg: Rhau, 1529. 5 CATECHISMVS / Christliche Underweißung / und gegruendter Bericht / nach warer Catho=/ lischer lehr uber die fuernemste stuecke unsers / heiligen Christen Glaubens. Mainz: Fransicsus Behem bey Sanct Victor, 1561. 6 Catechismus oder / Kinder predig, printed with KirchenOrdnung In / meiner gnedigen herrn der Marg=/grauen zu Brandenburg Und eins / Erbern Rats der Stat Nürmberg / Oberkeyt vnd gepieten / Wie / man sich bayde mit der / Leer vnd Ceremo=/nien halten / solle. Nürnberg: Johann Petreium, 1533.

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Fig. 1: Peter Canisius, Institutiones. Antwerp: Bellerum, 1575, p. 1ter Canisius, Institutiones. Antwerp: Bellerum, 1575, p. 1.

Catechisms were used in a variety of different ways. We cannot posit a single reader sitting with a text and holding that text a certain distance from the eyes – though certainly many catechisms were used in precisely that physical arrangement. Some catechisms may well have been used standing; some might have been passed back and forth between two voices designated in the text. Some might have rested on a pulpit or table, far more removed from the eyes of catechumens. Nor are the instructions in prefaces a reliable guide. Catechisms proclaimed that they taught all that each Christian ‘needed to know.’ They were exactly that: text written and published to reach out and into unseen readerships – to strengthen the faith of members of a Church, to convert the uncertain and the disappointed from one Church to another, and to build a solid foundation of shared doctrine specific to each Church, that could be passed, correctly and articulately, generation to generation. They were at the very front of the battle for souls (Fig. 1). The codex invited new modes of visualization. If medieval catechesis had taken place largely within the space of one’s parish church, catechetical codices traveled to places over which Churches had less direct control.7 Many codices served as a 7 Throughout, “Church,” capitalized, refers to a group of persons, usually who all professed the same Confession, while “church,” lowercase, refers to a building.

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Fig. 2: John Calvin, Catechismus. Basel: Robert Winter, 1538, p. 1.

locus, a site which at once represented and participated in their Churches’ visual cultures, linking the person viewing the page, in complex ways, to that Church’s conceptualization of eye, mind, revelation and Incarnation. In keeping with Calvin’s wariness of human-made images in spaces of worship, the pages of Reformed catechisms have no pictorial representations (Fig. 2). But they are visual, as the attention to the type of font and spatial organization intimates. They offer their readers images of the Word. As we know more fully with regard to the “Institutes,” Calvin attended to the actual structure of codices. He drew upon the spatial structuring of book, chapter, section and paragraph, to organize the doctrine he wished to teach. That spatial organization at once invokes God’s ordering of both the world, to which Calvin directs faithful Christian eyes in Book I of the “Institutes,” and the pages of the Word of God, God’s other selfdisclosure. As Calvin wrote to his reader at the beginning of the French edition of the “Institutes,” reading was a complex cognitive activity: one followed a path in order to acquire the skills necessary to see what God had revealed.8 The pages of his cate-

8 Ioannis Calvini Opera Quae Supersunt Omnia. Vol. III. Ed. by William Baum et al. Braunschweig 1865, 7–8.

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chism reflect a wariness of the illusion of readily accessible knowledge. In their very density, they slow the reader, and dissuade the less literate to enter the text. In their marginalia, they connect the page to Scripture, at once authorizing the statements on the page and sending the reader to the authoritative text of God’s self-revelation. Luther’s catechisms present a very different visuality.9 Unlike Calvin, who wished his catechism to be taught by a pastor to a group, each week for roughly a year, Luther invited fathers of households to read and study the catechism daily,10 to make of catechism a lifelong praxis. For Luther, in contrast to Calvin, catechesis could be domestic: inside the home. That sense of reading the catechism, as well as reading the Bible, at night, before the hearth, contrasts with a catechism written for a Church in exile. It also speaks to Luther’s own sense of the domesticity as well as the interiority of piety. For Luther, the catechism was ’God’s Word.’ He also connected visually catechism and Bible.11 As with his German translation of the Bible, Luther chose Fraktur – the antithesis of Italianate fonts: his text belonged visually to the Empire, the North – the words the same shape, the pages the same spacing and the same texture of black on paper. In this catechism, published by Georg Rau in Wittenberg, Luther also embedded woodcuts from the German Bible into the page of the catechism. Woodcuts rendering instances of the biblical narrative were published with the German Bible. Many encapsulated multiple moments in the biblical narrative, here Ex 31, 18–32, 6 (Fig. 3).12 The biblically literate knew the moment when God handed Moses the two tablets containing the Ten Commandments. This page opens Luther’s explication of the first of those commandments, which, in the Lutheran Church, encompassed the prohibition against making idols – “du sollt mich allein fur deinen Gott halten,” as Luther translated it.13 This image leads the eye to the biblical narrative of Exodus, where those who had a Bible could read the full narrative of God’s speaking to Moses and his commands, and then return to Luther’s explication of the Commandment. The woodcut places on a single plane both Moses’s reception of the tablets and that which follows in the textual linearity of the narrative, the idolatry of the golden calf – whose goldenness can only be known by reference to the biblical text. Even as the woodcut

9 D. Martin Luthers Werke 30. Weimar 1910, (WA 30), comprises Luther’s catechetical sermons as well as the texts and critical apparatus of multiple versions of his two catechisms. 10 See ibid., 125–127. 11 Grüneisen, Ernst: Grundlegendes für die Bilder in Luthers Katechismen. In: Luthers Jahrbuch 30. 1938 (reprint Amsterdam 1967), 1–44. 12 Schmidt, Ph.: Die Illustration der Lutherbibel 1522–1700. Ein Stück abendländische Kultur- und Kirchengeschichte. Basel 1962. For a close study of the visual complexity of biblical illustration, see Melion, Walter: Bible Illustration in the Sixteenth-Century Low Countries. In Scripture for the Eyes: Bible Illustration in Netherlandish Prints of the Sixteenth Century. Ed. By James Clifton and Walter Melion. Museum of Biblical Art, 2009, 14–106. 13 Luther, Deudsch Catechismus (see n. 4), 14v.

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Fig. 3: Martin Luther, Deudsch Catechismus. Wittenberg: Georg Rau, 1531, pp. IXv–X.

is itself within a text explicitly intended for novices, its content opens to a biblically informed eye. At the same time, the woodcut draws upon visual codes available on the walls of churches. Moses is marked by horns. He receives the two tablets from a cloud. He looks upward. The faces of those dancing around the column do not look up – their orientation is not God, but the animal atop the column or themselves, depending on the face. Hats mark Jews, courtiers and musicians; dress is largely courtly. None dancing around the column models Christian humility or obedience. None in gesture or orientation manifests the conduct God commanded first. One can glimpse the multi-layered differences between the visual cultures of biblical images by turning to the Archbishop of Mainz’s catechism (Fig. 4). If the people around the column in the Lutheran image are dancing, some in pairs, seemingly in a single direction, here the bodies express a range of gestures of idolatry, from the kneeling devotion in the front to standing inclination on each side to the abandon of figures in the back. The two tablets – those written commands – are not to be seen. The rendering of the First Commandment also differs from Luther’s. The first line reads differently – “Du solt kein andere Goetter haben neben mir” – and the text encompasses the prohibition of the making or praying to images. Thus it glosses the image as a prohibition against honoring images – a problem that the Council of Trent addressed some twenty years later.

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Fig. 4: Michael Helding, Catechismus. Mainz: Fransicsus Behem bey Sanct Victor, 1561, p. LXV.

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Less clear is the intended viewership for these images. They appear at the beginning of each sermon, visually marking its opening. There is no direction at the beginning of the folio on how the images are to function. The woodcuts’ visual density, the closeness of line, would have made them difficult to discern if the sermons were read from a pulpit. The images might invite a more intimate mode, such as Zwingli instituted in Zurich, in which he taught boys in the choir of the Great Minster. Perhaps the publisher intended the sermons to invite the eyes of others – in German, these sermons would not be restricted to the Latin literate. The 600 folio pages argue against portability, but the catechisms may have been used in churches by canons, deacons, the staffs of churches. For them, the images would have allusions to painted and sculpted images within the space of their lives: the walls of apses, chapels, cloisters. Both Luther and Helding chose Old Testament images to illustrate the Ten Commandments. Each visually linked the opening chapter on the Ten Commandments to that moment in the narrative when God gives Moses the Commandments. They link the lesson visually to one of the great dramatic moments of the Pentateuch. Moses, summoned to Mount Sinai, leaves the Israelites behind. They become fearful, and Aaron tells them to bring all their jewelry to him, from which he casts “an image of a calf.” They build an altar before it (missing in both woodcuts) and make sacrifices to it (also missing). While the woodcut from Helding’s catechism emphasizes the wanton celebration of the golden calf, the woodcut from Luther’s depicts Moses receiving the tablets. Of all authors of catechisms, Peter Canisius engaged most fully the potentialities of the codex – to organize, to place, to spatialize in particular ways, and to engage eye and mind (Fig. 5).14 The Jesuit bibliography distinguished five discrete forms among Canisius’s catechisms: a “Summa doctrinae christianae,” a “Catechismus parvus,” which was often published with the “Institutiones Christianae pietatis,” a “Catechismus minor” (published in German) and a catechism in verse, to be sung.15 Canisius deployed ever-evolving systems of organization. He adopted differ-

14 Petrus Canisius – Reformer der Kirche. Festschrift zum 400. Todestags des zweiten Apostels Deutschlands. Ed. by Julius Oswald SJ and Peter Rummel. Augsburg 1996 (Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte e.V. 30) – Oswald, Julius, S.J.: Petrus Canisius und die Reform der Kirche im sechzehnten Jahrhundert. In: Jesuitica: Forschungen zur frühen Geschichte des Jesuitenordens in Bayern bis zur Aufhebung 1773. Ed. by Julius Oswald, S.J. and Rita Haub. Munich 2001, 77–94; Hoffmann, Siegfried: Der Glaub ist ein Liecht der Seelen, ein Thür des Lebens, ein Grundtvest der Seligkeit: Zum Charakterbild des Petrus Canisius. In: Rom in Bayern: Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten. Munich 1997, 41–47; Immenkötter, Herbert: Was der Papst, der gesandt hat, anzielt: Petrus Canisius in Ingolstadt, München, Augsburg und Dillingen. In: Rom in Bayern, 49–54; Stettberger, Herbert: Petrus Canisius (1521–1597) – Biographie. In: Petrus Canisius. Der Große Katechismus. Trans. and commentary by Hubert Filser and Stephan Leimgruber. Regensburg 2003, 15–23. 15 Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. New edition by Carlos Sommervogel, S. J.: Bibliographie. Vol. II. Brussels 1891: cols. 618–658.

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Fig. 5: Canisius, Institutiones Christianae Pietatis seu Parvus Catechismus Catholicorum. Antwerp: Ioannem Bellerum, 1575, pp. 2–3.

ent forms to present tenets that he held to be important, to reach different readerships that the title pages designate: for congregations (the catechism in verse); for the laity and children (the “Catechismus minor”); and for youths (the “Catechismus parvus” and the “Institutiones”). For him, what Christians needed to know was inseparable from the question, “which Christians?”: Adults or children? Lutherans or loyal Catholics? Latinate or marginally literate? For Canisius, ‘text’ was not a fixed category, nor, let me suggest, did a boundary exist for him between words and images. His approach to catechesis did not parse the codex in that way. Most catechisms divided the Lord’s Prayer into seven discrete lessons; the Apostles’ Creed, usually into twelve; and the Ten Commandments, nine – the ninth and tenth taught together. Canisius did not do this, but subsumed these texts under chapters named for the theological virtues.16 He opened his catechisms with “Faith,” in which he taught the Apostles’ Creed; “Hope,” in which he taught the Lord’s Prayer; and finally “Love,” in which he taught the Ten Commandments. His catechisms brought those

16 Filser, Hubert: Die literarische Gattung “Katechismus” vor Petrus Canisius. In: Petrus Canisius. Der Große Katechismus (see n. 14), 25–33. For a modern edition of the text of Canisius’s Summa doctrinae, see ibid. Parts II and III.

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texts within the conceptual framework of medieval Christianity – its integration of theology, devotional practices and visual culture. One of the most visually complex of Canisius’s catechisms, the “Institutiones Christianae Pietatis seu Parvus Catechismus Catholicorum” (hereafter “Institutiones”), was published by Jean Bellerus of Antwerp, in duodecimo format – a size for boys’ hands. A brief word at the beginning of the entire codex affirmed that boys were its intended holders and readers, viewers and speakers. This text was directed to the future, for school boys. The Latin is not difficult, nor are the pages dense in text. These pages, too, reveal a sensitivity to the spatial organization of knowledge. They, too, suggest that knowledge of doctrine can be organized into books, chapters, sections, paragraphs and sentences. They, too, make visible the ordering of knowledge. Here, especially, the type of font visualizes the organization of knowledge: italics for the questions that the teacher asked, italics for subsections and capital roman for chapters. Questions are centered in their lines, like the text of a performance. Reflecting Canisius’s attention to the rich potentialities of the codex, the images in this catechism are of many different kinds. The one, of “Spes,” is an emblem (Fig. 6).17 The female figure of the theological virtue Hope sits on a shore, a ship tossed in the distance, the anchor in her hands. The text defines hope and then explains where it is to be found: the Lord’s Prayer is the anchor. The image that opens the text of the catechism (see Fig. 1) is polemical: Ecclesia, wearing the papal tiara, sits between Peter and a Menorah, the textual reference to Zechariah II, with its prophecy that God “will again choose Jerusalem.” In her right hand, the globe of the world, in her left, the dove, and resting upon the tiara is the Holy Spirit. The words that come at the end of the Apostles’ Creed arc over her head: one holy Catholic Church – who is, as the line behind her tells the reader of the page, the sponsa Christi. The pages of Canisius’s catechism offer distinctive kinds of images and allow us to explore the different ways Canisius embedded images in the text. Unlike Luther or Helding, Canisius did not preface sections with images; they are embedded within the sequence of the verbal and oral ‚catechism‘. The relationship of image to text, as these two examples show, is not constant from one image to the next. Some, such as the image of Hope, follow immediately upon a question, giving the word a figure. Some follow immediately upon a question (Fig. 5), but prefigure the answer: Faith, Charity and Hope are seated in one image, the catechumen’s answer naming the figures. The image on the right in Figure 5 intimates the ways in which Canisius

17 On Jesuit emblems, see, foremost, The Jesuit Series. Ed. by Peter M. Daly and G. Richard Dimler, S. J., [Corpus librorum emblematum]. Montreal/Kingston 1997 f. For a discussion of the problems of definition, see Dimler, G. Richard, S.J.: Jesuit Emblems: Implications for the Index Emblematicus. In: The European Emblem. Towards an Index Emblematicus. Ed. by Peter M. Daly. Waterloo 1980, 109–120.

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Fig. 6: Canisius, Institutiones (s. Fig. 5), pp. 20–21.

embedded what we might call polemical emblems – iconic images that at once draw upon familiar figures and situate them in complex dynamics. Fides, here appearing as a discrete figure for the first time, sits atop a symbol of the other great threat to Catholicism: Mohammad, whom we can know only by his label, because he bears no signals of Muslim dress or belief. Fides holds a church topped by three crosses in her right hand – where Ecclesia had held the globe but two pages earlier – and in her left, a codex. That codex is a striking presence in this image. Evangelicals had asserted the preeminent authority of Scripture. The claim had been enormously successful, both polemically and in conversions: thousands of European Christians were turning to God’s Word to determine what was true in Christian practice and doctrine. Ten years before the catechism was published, the Council of Trent had authorized one canon and one text, the Latin Vulgate, and restricted access to it as well as asserting its authority over Christian life. Here is no more than an icon of a book: the lines are simply lines, not words, not sentences. The lines are neither Latin nor German, neither Jerome’s translation nor Luther’s – nor, for that matter, Erasmus’s “Novum Instrumentum.” Indeed, it does not stipulate that this is Holy Writ or, as evangelicals had it, the Word of God – though in that city at that time the association would have been immediate and powerful. Here, Fides holds the codex, that figure that the catechumen would, in the process of catechesis, come to associate with the Apostles’ Creed: “Credo in Spiritum Sanctum, sanctam ecclesiam catholicam, sanc-

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Fig. 7: Canisius, Institutiones (s. Fig. 5), pp. 22–23.

torum communionem, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem, et vitam aeternam. Amen.” Fides holds a church in her right hand, a codex in her left. Ecclesia is figured, in the structure of the church in Fides’s right hand, in the female form, which unites Ecclesia – who opens the entire catechism – with Fides, Spes and Caritas. Fides, visually affiliated with Ecclesia, holds the codex. Canisius also embedded in his catechism woodcuts of biblical narratives – here Christ in the garden at Gethsemane (Fig. 7). These woodcuts exist in a different relationship, both to the text of the catechism and to the biblical text, than those of Luther’s or Helding’s catechisms. In Canisius’s catechism, they do not serve to introduce a section. This one appears within the lesson on the Lord’s Prayer, within a single question: the meaning of the third petition or prayer, “Fiat voluntas tua.” The Garden of Gethsemane was a beloved late medieval image. The Cathedral in Strasbourg had a famous, life-size three-dimensional representation of the moment; many churches have smaller plastic and graphic ones. That moment, between the Last Supper and Jesus’s arrest, had acquired its own narrative density: his apostles asleep, Jesus deep in prayer, petitioning God. The sculptural images typically depict prayer. Graphic and painted images often place a chalice in the upper corner, where Christ is directing his prayer. This woodcut renders the dramatic contrast, between the reclining and sleeping apostles, and Jesus, whose body makes visible the intensity of his prayer. It renders

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the imminence of the crucifixion: an angel holds up not a chalice (the symbol of blood shed for all humankind’s salvation) but a cross – a very different symbol in the sixteenth century. Calvin wrote to Huguenots in France of life “under the cross.” Osiander preached of taking up the cross. Few symbols reverberated more intensely in sixteenth-century Europe. “Fiat voluntas tua,” “Thy will be done.” Coupled with the image, the particular petition of the Lord’s Prayer acquires resonances. It echoes the ideal of obedience at the very heart of the Jesuit order and, according to his biographers, of Canisius’s spiritual character.18 The entire catechism reflects the Jesuit acute sensitivity to the senses: size, spatial organization, orality and densely signifying images. Here, the relationship of word and image points toward the practices of the “Spiritual Exercises,” specifically those moments in Christ’s life that Ignatius directed the exercitant to contemplate.19 Images such as this one invite Ignatius’s notion of ‘Incarnation,’ in which the devout Christian not only sees oneself as the suffering Christ, but enters into the experience of a moment in Christ’s life: “The fourth point is to consider what Christ our Lord suffers in His humanity or wills to suffer, according to the passage that is being contemplated. Here I will begin with serious effort to strive to grieve, to be sad, and lament.”20 Christ before the cross is embedded in that moment of the Lord’s Prayer – the single most beloved prayer, taught to be said every day – when the catechumen repeats aloud, “Fiat voluntas tua.” Canisius’s catechism engages with Incarnation on many levels. The materiality of the Word rendered there on the page: the beauty of the type of font; the spaces – breath – between words. The deep interdependence between text and image for discerning more fully the meaning of each. These tiny codices, held in the hands of boys, as they were led through the text by their teacher – that tactile connection, the spoken word, the seen and then enacted image, the performed text. Should a boy carry the catechism away, that catechism still embodied far more than doctrine or texts to be memorized. It taught the eye to listen and the ear to see. It taught a particular way of conceptualizing word and image, a way of seeing in the smallest of images instantiations of the great mystery, the Incarnation. It posited a way of seeing oneself ‘as’ the suffering Christ. It prepared its readers for the Spiritual Exercises – in its praxis and in its particular fusion of self, page and image, it gave a way of being Christian in the world. Catechisms did more than teach doctrine. In the modes of visualization, in the choice to include various kinds of image, in the choice of image, they informed the

18 Petrus Canisius – Reformer der Kirche (see n. 14); Hoffmann (see n. 14); Immenkötter (see n. 14). 19 On the relationship of Canisius’s catechism to Jesuit education more generally, see Haub, Rita: Das Erziehungskonzept der Jesuiten und der Stellenwert des Katechismus. In: Petrus Canisius. Der Große Katechismus, 35–47. 20 First Day of the Third Week of the Spiritual Exercises, see, The Spiritual Exercises of St. Ignatius. Transl. by Anthony Mottola. New York 1964, 91 f.

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eyes of their readers. Calvin chose to include no woodcuts or engravings in his catechism, but to deploy the visualities of the printed page – type of font, spacing, arrangement of text – to make visible God’s ordering of the world to which his “Institutes” directed its readers. Woodcuts of biblical scenes linked Luther’s “Deudsch Catechismus” to the Bible materially and visually, their visualization of the biblical narrative at once providing the gloss on the catechism and a means of locating the specific biblical reference within the text of the Bible. The woodcuts that accompanied Canisius’s catechism in the “Institutiones” placed before the readers’ eyes examples of a multitude of relationships between word and image, in that small form instantiating something of the complex relationships between revelation and the visible world.

Birgit Ulrike Münch

Neuer Wein in alten Schläuchen? Luthers Betbüchlein und die Martyrologien des Ludwig Rabus als Substitut der altgläubigen Heiligenlegenden zur privaten Frömmigkeitsübung Das 1612 erschienene „Paradiesgärtlein aller Christlichen Tugenden“ Johann Arndts, eines nachreformatorischen Theologen und Wegbereiters des Pietismus, kann – lapidar formuliert – als einer der wichtigsten Bestseller der vormodernen protestantischen Erbauungsliteratur bezeichnet werden. Im Anhang dieses Betbüchleins finden sich „wunderbare Geschichten“, die unterschiedliche Wunderwirkungen des Buches beschreiben. So habe im Dreißigjährigen Krieg, genauer am 3. Januar 1624, der auf der Seite der Spanier kämpfende Leutnant Zacharias, der „gantz eifrig papistisch gewesen“, in der Wetterau mit seinen Soldaten Quartier bezogen, und ihnen explizit verboten, eine evangelisch-lutherische Predigt zu hören.1 Eines Tages jedoch ging der Trompeter des Leutnants „in des Pfarrers Stuben und sieht dort des sel. Herrn Johann Arndts paradiß-Gärtlein Anno 1621 in schwarz Leder gebunden im Fenster liegen, welches er eine Weile darinnen zu lesen mit sich ins Wirthshaus genommen.“ 2 Dies wurde vom Leutnant entdeckt, der das „Paradiesgärtlein“ sofort in den lodernden Ofen der Wirtshausküche warf. Als die Wirtin zwei Stunden später dem Leutnant zwei Hühner braten und die alten Kohlen aus dem Ofen schaufeln wollte, fand sie das Buch, dessen Leder, Papier, Gold und Bänder „gantz gut [sehr gut, tadellos, Anm. d. Verf.]“ und unversehrt waren.3 Sie habe ausgerufen: „Nun lieben Kinder, wie Gott die drey Männer im Feuer Ofen des Nebucad Nezars, also hat er auch dieses Büchlein allhier im Feuer wunderlich erhalten“, und so habe sie beschlossen, „dieses Büchlein Zeit Ihres Lebens zum beharrlichen Andencken solcher Wunder-Geschicht zu behalten / und um der schönen geistreichen Gebete willen zum täglichen Hand-Büchlein zu gebrauchen.“ 4 1 Arndt, Johann: Paradis-Gärtlein voller christlicher Tugenden. Sambt beygefügten dreyen nützlichen Registern. Nürnberg 1657, fol. B II r [eingesehenes Exemplar: München, BSB, Signatur: Asc. 5538; die Paginierung dieses Abschnitts ist fehlerhaft: B III und B IV sind vertauscht]. – Zu Leben und Werk Johann Arndts vgl. Schneider, Hans: Der Braunschweiger Pfarrer Johann Arndt. Sein Leben vor dem Hintergrund der deutschen Kirchengeschichte 1555–1621. In: Frömmigkeit oder Theologie? Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“. Hg. v. Hans Otte. Göttingen 2007 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40), 13–26. 2 Arndt (wie Anm. 1), fol. B II rv. 3 Arndt (wie Anm. 1), fol. B IV rv. 4 Arndt (wie Anm. 1), fol. B III r. Anmerkung: Die ursprünglich 2011 abgeschlossene Ausarbeitung des Vortrags wird hier auf dem Stand einer Aktualisierung im Jahr 2015 zur Veröffentlichung gebracht. https://doi.org/10.1515/9783050051659-014

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Arndts Gebetbuch zur privaten Frömmigkeit berichtet somit paradoxerweise über seine eigene mirakulöse Wirkmächtigkeit und empfiehlt sich damit letzten Endes quasi zu einer Reliquie für den Hausgebrauch. Insbesondere dieser letztgenannte Aspekt erscheint im Zusammenhang eines ideallutherisch geerdeten Denkens als immerhin bemerkenswert. Auch der Titel des Werkes – „Paradiesgärtlein“ – knüpft explizit an vorreformatorische Erbauungsliteratur an,5 da es ein Nebentitel der „Hortulus-animae“-, „Wurz“- und „Seelengärtlein“-Tradition ist, hier meist im mariologischen Zusammenhang auftaucht und quasi eine Unterkategorie der Hortusconclusus-Ikonographie bildet.6 Man könnte nun einwenden, es handele sich bei dem 1555 geborenen Melanchthon-Anhänger Johann Arndt eben nicht um den Vater der Reformation, sondern eher um einen problematischen Schüler desselben, und darüber hinaus vor allem beim „Paradiesgärtlein“ um einen Nachdruck des Werkes aus dem frühen 18. Jahrhundert. Ich möchte jedoch im Folgenden darlegen, dass sich auch bei Luther sowie im lutherischen Schrifttum und Bilderrepertoire bereits in den Anfangsjahren der Reformation ähnliche echte oder eher vermeintliche Paradoxien – zumindest jedoch bemerkenswerte Beobachtungen – finden lassen, die das große Themenfeld ‚Heiligensubstitut und Märtyrerkult‘ in der protestantischen Frömmigkeit betreffen. Während die kirchengeschichtliche und die historische Forschung – zu nennen wären hier die vielfältigen Studien Thomas Kauffmanns7 oder Volker Leppins,8 etwa auch zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers Werk9 – gerade für die ersten Jahrzehnte der Glaubensspaltung zahlreiche Kontinuitäten aus dem Spätmittelalter herausgearbeitet hat, wird in der Kunstgeschichte oftmals noch eine scharfe Trennung vermeintlich altgläubiger, protestantischer oder jesuitischer Kunst vorgenommen.10 Zugunsten der pointierten Herausarbeitung der Spezifika eines jeden Arte5 Koepp, Wilhelm: Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum. Berlin 1912; Illg, Thomas: Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum. Göttingen 2011. 6 Der Titel subsummiert eine Reihe kleinformatiger und reich illustrierter lateinischer und volkssprachlicher Gebetbücher, die im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts insbesondere im deutschen Sprachraum hergestellt wurden und Verbreitung fanden. Diese Gebetsanthologien richteten sich, je nach verwendeter Sprache, an Geistliche bzw. an Laien. Die volkssprachlichen Drucke erschienen unter den Titeln „Seelengärtlein“ (editio princeps Straßburg 1501 und 35 weitere Auflagen bis 1523) und „Wurzgarten“ (Straßburg 1501, lediglich eine weitere Auflage 1503), vgl. Ochsenbein, Peter: Hortulus animae. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. v. Kurt Ruh u. a. Berlin / New York 1983, Bd. 4, Sp. 147–154 [im Folgenden 2VL]; WA 10 / 2, 334 f. Bis 1523 lassen sich in Deutschland über 100 Drucke nachweisen. 7 Kaufmann, Thomas: „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer“ Religion in Spätmittelalter und Reformation. Göttingen 2008 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 97). 8 Leppin, Volker: Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang. Darmstadt 2009. 9 Leppin, Volker: Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese. In: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), 7–25. 10 Zu diesem Phänomen: Münch, Birgit Ulrike: Geteiltes Leid. Die Passion Christi in Bildern und Texten der Konfessionalisierung. Druckgraphik von der Reformation bis zu den jesuitischen Groß-

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fakts wird oftmals die Kontinuität unterschlagen, die sich in der programmatischen Adaptation von Titeln einerseits oder von inhaltlichen Konzepten andererseits ausdrücken kann. Dies sei anhand zweier Beispiele näher erläutert. Es ist ein Allgemeinplatz der Forschung, dass sich durch die Veränderung der didaktischen Anforderungen, die die neu formierte Konfession mit sich brachte, ein neues Laienverständnis, die ‚Hinwendung an den gemeinen Mann‘, zwangsläufig auch auf die protestantische Erbauungsliteratur auswirken musste.11 Zu definieren, welche Personengruppen unter dem Begriff ‚gemeiner Mann‘ zu fassen sind, ist nicht unbedingt einfach, die Quellen sprechen von Bauern, von Bürgern landsässiger Städte oder dem reichsstädtischen Bürger, der nicht über Ämter verfügt.12 Bereits 1522 ließ Luther ein solch neu ausgerichtetes Buch veröffentlichen, das berühmte „Betbüchlein“. Das von ihm selbst verfasste Vorwort ist sehr aussagekräftig bezüglich Intention und Funktion des Werks. Auch führt Luther explizit Negativbeispiele an, vor deren Gebrauch er warnt.13 Schon im ersten Satz seines Vorwortes

projekten um 1600. Regensburg 2009, 14–23; Weber am Bach, Sibylle: Hans Baldung Grien: Marienbilder der Reformation, Regensburg 2009; Münch, Birgit Ulrike: Towards a Transconfessional Dialogue on Pre-Modern Theological Texts and Images: Some Adnotationes on Nadal, Lipsius and Rubens. In: The Authority of the Word: Reflecting on Image and Text in Northern Europe, 1400– 1700. Ed. by Celeste Brusati, Karl Enenkel and Walter Melion. Leiden / Boston 2012 (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture 20–2011), 505–532. 11 Duggan, Lawrence G.: Was art really the ‘book of the illiterate’? In: Word and Image 5 (1989), 227–251; Münch (wie Anm. 10), 82–86. 12 Hamm, Joachim: Bilder der Macht und die Macht der Bilder. Der deutsche Bauernkrieg in zeitgenössischen und volkssprachlichen Dichtungen. In: Dulce bellum inexpertis. Bilder des Krieges in der deutschen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. v. Horst Brunner u. a. Wiesbaden 2002 (Imagines Medii Aevi 11), 110–134, hier 110 f. 13 „Unter andern viel schedlichen leren und buechlin / damit die Christen verfuret und betrogen / und unzeliche mißglauben auff komen sind / acht ich nicht fur die wenigsten / die bettbuechlin / darynnen so mancherley jamer von beichten und sunde zelen / so unchristlich narrheit ynn den gebetlin zu Gott und seinen heiligen / den einfeltigen eingetrieben ist / und dennoch mit ablas und rotten tittel hoch auffgeblassen / dazu koestliche namen darauff geschrieben / Eins heisst Hortulus anime / das ander der Paradisus anime / und so fortan / das sie wol wirdig weren einer starcken guter reformation / odder gar vertilget weren / Welchs urteil ich auch felle uber die Passional oder legenden bůecher / darynnen auch viel zusatzs der teuffel eingeworffen hat. Nu aber ich die zeit nicht habe / und mir solche reformation alleine zu viel ist / will ichs auff di mal bey dieser ermanung lassen bleiben / bis das Gott zeit und gnade gibt. Und ynn des zum anfang / diese einfeltige Christliche form und spiegel die sunde zu erkennen und zu beten fur halten / nach den zehen geboten / und dem Vater unser / Und bin des gewis / das ein Christlich mensch uberflüssig gebetet hat / wenn er das Vater unser recht betet / wie offt er will / und welchs stück er will / Denn es ligt nicht an vielen worten ein gut gebet / wie Christus sagt Matth. vi. sondern an viel und offt hertzlich seufftzen zu Gott welchs solt wol on unterlas sein. Bitte hiemit / yederman wolle sich der Brigitischen gebet und aller ander / die mit ablas odder zusagung ausgemalet sind / entwehnen / und widderumb auff dis gemeine eingeltige Christliche gebet gewehnen / welches /der art ist / yhe mehr und lenger man es treibt / yhe suesser und luestiger es wird. Dazu heisse uns der meister solches gebets / unser lieber Herr Jhesus Christus gebenedeiet yn ewigkeit. Amen.

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spricht er von den zeitgenössischen Erbauungsbüchern. Durch „viel schedlichen leren und buechlin“ seien die Christen „verfuret und betrogen“ worden. Besonders schädlich seien die „betbuechlin“ wegen des Zwanges zur Beichte und des „sunde zelen“. Diese Gebetbücher sind nach Luthers Ansicht unchristlich und würden dennoch durch Ablass „hoch auffgeblasen“, nicht zuletzt durch Buchtitel, die dem Leser falsche Versprechungen machten. Im Folgenden spricht er explizit verschiedene Buchtypen an, die er als schädlich einstuft: zum einen den bereits erwähnten und seit 1498 überaus beliebten „Hortulus animae“, der reich illustriert sowohl auf Latein als auch in der Volkssprache erschien.14 Als weiteres Werk, das zu meiden sei, nennt er den spätmittelalterlichen Tugendtraktat des „Paradisus animae“. Darüber hinaus seien die Ausgaben des „Passional“ und der „legenden bůecher“ gefährlich, da auch hier der „Teufel viel zusatzs […] eingeworffen“ habe. Der Gläubige solle zudem das Vaterunser als allgemeingültiges, christliches Gebet wählen und nicht dem „Brigitischen gebet“ folgen. Mit diesem Passus spricht Luther die „Revelationes der Hl. Birgitta von Schweden“ an, die fast alle in lateinischer Übersetzung durch Birgittas Beichtväter gesammelt worden waren, primär im Zuge ihrer Kanonisation im Jahr 1391.15 Die große Beliebtheit der Heiligen beweist neben zahlreichen weiteren Inkunabeln die möglicherweise von Albrecht Dürer mit Holzschnitten versehene Ausgabe von 1500.16 Die visuellen Ausschmückungen der frühen Buchdrucke der Reformation, zu denen neben dem „Betbüchlein“, das ab 1529 durch das „Passional“ ergänzt worden war (Abb. 1), vor allem auch die Katechismen und Postillen zählten, sind noch immer ein Desiderat der Forschung geblieben, sicher auch bedingt durch die sehr heterogene Qualität der Holzschnitte. Dennoch erstaunt der Umstand, dass die Bilder bislang nicht adäquat erforscht worden sind, da sie in solch großer Zahl und in diversen Ausgaben und Auflagen gedruckt worden sind und gerade die private Frömmigkeit des neuen Glaubens maßgeblich beeinflusst haben müssen. Die Größe

Das ist nicht on sonderliche ordenung Gottes geschehe[n] das fur den gemeinen Christen mensche[n] / der die schrifft nicht lesen mag / verordenet ist / zu lesen und wissen / die zehen gebot / den glawben und Vater unser / ynn welchen dreien stücken / fur war alles was ynn der schrifft stehet und ymer gepredigt werden mag / auch alles was einem Christen not zu wissen / gründlich und uberflüssig [„eingängig“, „sehr flüssig“, Anm. d. Verf.] begriffen ist / und mit solcher kürtze und leichte verfasset / das niemand klagen noch sich entschueldigen kan / es sey zu viel odder zu schwer zu halten / was yhm not ist zur seligkeit / Denn drey ding sind not einem menschen wissen / das er selig werden müge“ (Luther, Martin: Ein Betbüchlein mit Kalender und Passional. Faksimile der Ausgabe Wittenberg 1529. Kassel 1982, fol. CIVv–CVr). 14 Oldenbourg, Maria Consuelo: Hortulus animae, 1494–1523. Bibliographie und Illustration. Hamburg 1973. 15 Montag, Ulrich: Birgitta von Schweden. In: 2VL, Bd. 1, Sp. 867–869; Morris, Bridget / Searby, Denis: The Revelations of St. Birgitta of Sweden. Oxford 2008. 16 Revelationes Sanctae Birgittae. Nürnberg, bei Anton Koberger, 1500.

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Abb. 1: Martin Luther: Ein betbüchlein […] mit eym Calender und Passional, Titelblatt, Wittenberg (Hans Lufft) 1529.

und der Umfang des Bilderrepertoires wird selbst bei Betrachtung allein jener Werke deutlich, die zu Luthers Lebzeiten gedruckt worden sind.17 Das „Betbüchlein mit Passional“ gibt somit einen wichtigen Hinweis darauf, welche Bilder dem Leser bei der Hausandacht und der Katechese Unterstützung boten. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang allerdings der Umstand, dass die spezifische Auswahl der Illustrationen selbstverständlich nicht durch Luther persönlich geschehen konnte. Vielmehr war sich dieser der Diskrepanz zwischen Text und Bild im Falle einiger Ausgaben durchaus bewusst, rechtfertigte sie aber mit einem lakonischen Hinweis auf seine vielfältigen Aufgaben: „Dan ich furwar die zeyt nit hab, das ich müge sehen, was der Drucker für bild, buchstaben, tindten odder papyr nimmt.“ 18 Dies beweist zweierlei: Einerseits, dass es Lu-

17 Diese Illustrationen sind online verfügbar im 2006 freigeschalteten „Lutherkatalog“ der HerzogAugust-Bibliothek Wolfenbüttel, siehe: http://www.hab.de/de/home/wissenschaft/forschungsprofil-und-projekte/luther-katalog.html (abgerufen am: 22. 09. 2019). 18 Luther, Martin: Verklärung etlicher Artikel in dem Sermon von dem heiligen Sakrament (1520). In: WA 6, 82. – Coelen, Peter van der: Bilder aus der Schrift. Studien zur alttestamentlichen Druckgrafik des 16. und 17. Jahrhunderts. Bern u. a. 2001 (Vestigia Bibliae 23), 47, interpretierte diesen

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Abb. 2: Martin Luther: Ein betbüchlein […] mit eym Calender und Passional, Schautafel mit dem Sonntagsbuchstaben, Wittenberg (Hans Lufft) 1529, fol. B vii v.

ther nach eigener Aussage zwar zeitlich und logistisch nicht möglich gewesen ist, alle Publikationen und die dort zu findenden Abbildungen durchzugehen. Es zeigt andererseits aber auch, dass er sich dieses Problems durchaus bewusst und ihm die Richtigkeit der Illustrierung seiner Werke keinesfalls gleichgültig war. Das „Betbüchlein“ erschien erstmals 1522 bei Johann Grunenberg in Wittenberg und erfuhr zahlreiche erweiterte Ausgaben.19 Jene von 1529 wies, wie bereits erwähnt, als Anhang ein „Passional“ auf und wurde bei Hans Lufft in Wittenberg gedruckt. Nach Auswertung der Lutherbibliographie von Benzing und Claus20 enthalten 29 Ausgaben des „Betbüchleins“ das „Passional“ im Anhang. Das „Betbüchlein“ beginnt mit einem immerwährenden Kalender, der in ähnlicher Form bereits in spätmittelalterlichen Gebetbüchern zu finden ist und dem Gläubigen die Tage und Festtage der einzelnen Monate auflistet. Hierauf folgt der Cisioianus-Merkspruch zur Ermittlung der Wochentage. Um den Sonntagsbuchstaben zu finden, ist eine runde Schautafel abgedruckt (Abb. 2). Kalender, Merksprü-

Satz im Gegensatz zur Verfasserin als Ausdruck einer gleichgültigen Haltung gegenüber dem gemalten oder gedruckten Bild. 19 Luther (wie Anm. 13), 3. 20 Benzing, Joseph / Claus, Helmut: Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod. 2 Bde. Baden-Baden 1989–1994 (Bibliotheca bibliographica aureliana 10 / 143).

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che und Gebrauchscharakter zeichnen das Werk als ein kompaktes und auf praktische Benutzung gerichtetes Büchlein aus, das den Betrachter an Althergebrachtes erinnern soll, aber eben durch verschiedene Änderungen nicht dem spätmittelalterlichen Gebetbuch entspricht. Der oben skizzierten Vorrede zum „Betbüchlein“ folgen die „Kurze Form der Zehn Gebote“,21 die „Kurze Form des Glaubens“,22 der „Sermon vom Gebet“,23 die „Kurze Form des Vaterunser“,24 die „Auslegung des Ave“,25 etliche verdeutschte Psalmen in der Übersetzung von 1522,26 und schließlich verschiedene Sermones. An diese Abschnitte schließt sich das „Passional“ an. Wichtigstes Charakteristikum des „Betbüchleins“ ist jedoch, dass es den Titel im Grunde zu Unrecht trägt, denn Luthers Werk fehlen vorformulierte Gebetstexte, was der Titel nach spätmittelalterlichem Verständnis jedoch eigentlich suggeriert; vielmehr ist der Schwerpunkt eindeutig auf das Vaterunser gelegt.27 Die Exegese des Ave erwuchs womöglich aus der Notwendigkeit, die zuvor äußerst beliebten Mariengebete zu ersetzen. Und auch das „Passional“ war wohl ein solches Substitut. Das Jahr 1529, von Hoberg als „Bilderjahr der Reformation“ bezeichnet, brachte erstmals Luthers Gesangbuch mit Textillustrationen als frühestes illustriertes Gesangbuch überhaupt hervor.28 Bemerkenswerterweise erschien im gleichen Jahr das ursprünglich nur mit wenigen Visualisierungen ausgestattete „Betbüchlein“ nun zusammen mit dem „Passional“, was eine Erweiterung des Bildcorpus auf jetzt 52 Illustrationen aus dem Alten und Neuen Testament bedeutete. Im Vorwort des „Passional“ erläutert Luther seine Gründe, das „Betbüchlein“ mit einem solch umfangreichen Holzschnittzyklus versehen zu haben: den „kinder[n] und einfeltigen“ würde es durch „bildnis und gleichnis“ leichter fallen, den Bibeltext zu verinnerlichen, als durch „blosse wort odder lere.“ 29 Der angesprochene Rezipientenkreis „kinder und einfeltige“ veranlasste weite Teile der Forschung, das Werk als erstes gedrucktes Kinderbuch überhaupt zu bezeichnen, was unter anderem anhand der Eintragungen und Kritzeleien in erhalte-

21 Luther, Martin: Kurze Form der Zehn Gebote (1520). In: WA 7, 205; WA 10/2, 377–388; Luther, Martin: Vorrede zur kurzen Form der Zehn Gebote (1520). In: WA 7, 204 f.; WA 10/2, 376 f. 22 Luther, Martin: Kurze Form des Glaubens (1520). In: WA 7, 214–220; WA 10/2, 388–395. 23 Luther, Martin: Sermon vom Gebet (1519). In: WA 2, 175–177; zu Änderungen in der Abfolge in den jeweiligen „Betbüchlein“-Ausgaben vgl. WA 10/2, 485. 24 WA 7, 220–229; WA 10/2, 395–407. 25 WA 10/2, 407–409; WA 17/2, 408–410. 26 WA 10/2, 410–425. 27 Luther (wie Anm. 13), 10 f.: „An die Stelle der mittelalterlichen Gebetsformeln trat bei Luther im Sermon vom Gebet und in der Auslegung des Vaterunser die Anleitung zum Gebet im Geist des Vaterunser.“ 28 Hoberg, Martin: Die Gesangbuchillustration des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Problem Reformation und Kunst. Straßburg 1933 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 296), 12–19, hier 13. 29 Luther (wie Anm. 13), fol. V4r-V5r.

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nen Exemplaren verifizierbar sei. Der Begriff ‚Kind‘ ist jedoch im frühen 16. Jahrhundert weitaus weniger spezifisch konnotiert und bezeichnet durchaus auch junge Verheiratete, Handwerksgesellen oder einfach Ungebildete – von Luther oft in dieser Bedeutung benutzt. Meiner Ansicht nach spricht er ‚große und kleine Kinder‘, daher Kinder und Illiterate, also des Latein nicht mächtige Gläubige in gleicher Weise an. Um die biblische Lehre dem Gläubigen noch einprägsamer zu machen, habe Luther, so das Vorwort weiter, neben den Evangelien „etliche mehr geschicht“ aus der Bibel, also alttestamentliche Passagen, hinzugefügt. Der die Bilder beschreibende Text ist eine stark gekürzte Fassung des jeweiligen Bibeltextes. Es sei kein Schaden, wenn man alle „furnemliche geschichte der gantzen Biblia […] yn ein buechlin malen ließe und dieses Buch dann eine leyen Bibel nennen würde.“ Aber nicht nur als Buchillustration sind die biblischen Historien von großem Nutzen: „Auch ynn Stuben und ynn kammern“ seien sie in Verbindung mit den „Spruechen“ nützlich. Im letzten Drittel des Vorwortes wendet sich Luther explizit gegen die Bilderstürmer, da ihm nichts daran liege, die Bilder zu verdammen und zu verachten. Stets habe er sich gegen „Misbrauch vnd falsche zuversicht an bilden“ gewehrt, wo er aber keinen falschen Bildergebrauch sehe, solle man das Bild zu „nützlichem und seligem brauch“ bringen. Ausführender Künstler aller fünfzig Holzschnitte der ersten Auflage war der Meister der Jakobsleiter, wie sich anhand stilistischer Vergleiche plausibel machen lässt.30 Von den fünfzig Illustrationen des „Passional“ widmen sich elf Holzschnitte zu Beginn alttestamentlichen Historien bis zu Moses und der Ehernen Schlange. Acht Szenen widmen sich der Kindheit Jesu von der Verkündigung bis zu Christus unter den Schriftgelehrten, während das öffentliche Leben und die Wunderwirkungen sechs weitere Holzschnitte beanspruchen. Fünfzehn Passionsszenen und neun Bilder zum Leben nach dem Tod schließen sich an. Die Illustrationen sind jeweils auf der verso-Seite abgebildet, während sich auf der recto-Seite kurze Bibelzitate zu der entsprechenden Illustration finden, die unterschiedlich lang sind und am Ende in fast allen Fällen das zitierte Evangelium angeben. Als stilistisch vorbildhaft für die 5,2 × 6,8 cm großen Holzschnitte des „Passional“ benannte die Forschung die „Kleine Holzschnittpassion“ Albrecht Dürers, was gerade im Holzschnitt der Kreuzabnahme deutlich wird (Abb. 3). Bei Gegenüberstellung der beiden Zyklen fällt auf, dass sich zwar Übereinstimmungen bezüglich einiger weniger Holzschnitte der Passion finden lassen, als eindeutig stilistisch abhängig zu bezeichnen ist jedoch lediglich die Kreuzabnahme. So sind bei Dürer etwa die Szenen von dem „Kaste Noe“ bis zur Ehernen Schlange komplett ausgespart.

30 Zimmermann, Hildegard: Beiträge zur Bibelillustration des 16. Jahrhunderts. Illustrationen und Illustratoren des ersten Luther-Testamentes und der Oktav-Ausgaben des Neuen Testamentes in Mittel-, Nord- und Westdeutschland. Straßburg 1924 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 226), 30–36, schrieb die Holzschnitte erstmals dem Meister der Jakobsleiter zu.

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Abb. 3: Meister der Jakobsleiter, Holzschnitt der Kreuzabnahme, in: Martin Luther: Ein betbüchlein (wie Abb. 2), fol. B iv v.

Wenig überzeugend erscheint aus diesem Grund auch die These der Forschung, Luther habe mit dem in seiner Einleitung angesprochenen „alte[n] Passional büchlin“ Dürers „Kleine Passion“ gemeint.31 Die „Kleine Passion“, zu diesem Zeitpunkt noch keine zehn Jahre alt, war mit neulateinischen Versen des Benedictus Chelidonius versehen. Sie war somit nach humanistischen Kriterien ein hochgeachtetes Buchprojekt neuen Typs. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Luther dieses Werk als „altes büchlin“ titulierte. Ebenso erscheint es wenig plausibel, dass Luther sich bei der Namensgebung auf Passionszyklen bezog, wenn – bei Betrachtung der Themen – von 52 nur 17 Szenen der Passion gewidmet sind. Im Vorwort zum „Betbüchlein“ von 1522 sprach Luther selbst von „Passional oder legenden bucher“,32 wobei das konjunktionale ‚oder‘ hier als ‚und‘ verstanden werden muss. Luther hatte den Titel im Jahr 1521 für eine weitere Publikation gewählt, für seine polemische Flugschrift, das „Passional Christi und Antichristi“.33 Dem Leiden Jesu werden die Leiden, an denen das Papsttum erkrankte und letztlich zugrunde gehe – wie etwa Kriegsführung, Geldanhäufung, Verdammnis – gegenübergestellt.

31 Coelen (wie Anm. 18), 37. 32 Coelen (wie Anm. 18), 33, zitiert diese Passage, hält aber dennoch an seiner These fest, dass das Passional als Passionstraktat zu verstehen sei. 33 Kunz, Armin: Papstspott und Gotteswort. Cranachs Buchgraphik im ersten Jahrzehnt der Reformation. In: Druckgraphiken Lucas Cranachs d. Ä. Im Dienst von Macht und Glauben. Hg. v. Jutta Strehle und Armin Kunz. Wittenberg 1998, 157–256; Münch (wie Anm. 10), 211–215.

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Bezüglich Titel- und Textrelation der polemischen Schrift vermutet die Forschung, dass die Titelwahl von Beginn an als problematisch aufgefasst wurde.34 Und bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass bereits bei frühen Ausgaben des „Passional Christi et Antichristi“ in Latein und Volkssprache der Titel rasch in „Antithesis“ oder „Parallela“ abgeändert wurde.35 Es ist anzunehmen, dass dies nicht ohne Grund geschah: Wie Severin Rüttgers ausführt, ist der Begriff Passional eben nicht auf die Passion Christi bezogen, sondern auf das Leiden der Heiligen, die in der Regel Martyrien durchlebten.36 Ein Passional bezeichnet nach hoch- und spätmittelalterlichem Verständnis wörtlich übersetzt ein Leidens- oder Märtyrerbuch und beschreibt recht unspezifisch ein vornehmlich illustriertes Kompendium mit Legenden.37 Den Titel „Passional“ trägt jedoch auch ein bestimmter Text: hierbei handelt es sich um ein von einem Anonymus Ende des 13. Jahrhunderts im Umkreis des Deutschen Ordens verfasstes dreiteiliges Buch.38 Der dritte Teil wurde im Verlaufe des späteren Mittelalters aus der ursprünglichen Versform in Prosa umgesetzt und erschien zahlreich in gedruckter Form, nun entweder unter dem Titel „Passional“ oder „Der Heiligen Leben“.39 Unter diesem Begriff wird somit die meistverbreitete deutschsprachige spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Legendensammlung überhaupt verstanden. Was ist aber der Grund dafür, dass Luther diesen Begriff wählte? Möglicherweise war es sein Ziel, einen alten Begriff – den Titel eines äußerst beliebten spätmittelalterlichen Buches – zu verwenden und mit einem neuen, dem reformatorischen Ideengut entsprechenden Inhalt zu füllen. Da es sich gerade im Falle des Passional offenkundig um ein Werk mit großem pädagogischen Anspruch handelte, ist es schwer vorstellbar, dass Luther just bei diesem Werk versehentlich einen zweideutigen, leicht missverständlichen Titel gewählt haben sollte. Viel naheliegender wäre es, dass Luther bewusst diesen Titel auswählte, um das mittelalterliche „Passional“, und hiermit vor allem die nach seinem Verständnis schlechten Einfluss ausübende Heiligenanbetung, umzukodieren und damit neu zu besetzen – analog jener Praxis, nach der er im „Betbüchlein“ verfahren war. Auf Seiten der katholischen Passionale

34 Groll, Karin: Das Passional Christi und Antichristi von Lucas Cranach d. Ä. Frankfurt / M. 1990 (Europäische Hochschulschriften 28/118), 41. 35 So etwa die bei Rhau-Grunenberg gedruckte „Antithesis figurata Vitae Christi et Antichristi“, Wittenberg 1521. 36 Rüttgers, Severin: Das Leben der Heiligen. Frankfurt / M. 1986, 309. 37 Vgl. Kunze, Konrad: Passional. In: Lexikon des Mittelalters. Hg. v. Robert Auty u. a. München 1993, Bd. 6, Sp. 1769; Richert, Hans-Georg: Passional. In: 2VL, Bd. 7, Sp. 332–340, hier Sp. 334. 38 Das alte Passional. Hg. v. Karl A. Hahn. Frankfurt / M. 1845; Das Passional. Eine LegendenSammlung des dreizehnten Jahrhunderts. Hg. v. Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg u. a. 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 32). Vgl. dazu auch Groll (wie Anm. 34), 40. 39 Als Beispiel genannt sei hier Mainz, Universitätsbibliothek, Ms. I, 49, fol. 5r: „des passionals daz do heizet Lumbardica historia“.

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oder der Heiligen Leben wird die letzte Frühdruck-Ausgabe im Jahr 1521 in Straßburg vollendet. Dies bedeutet, dass nach dem Erscheinen des „Passionals Christi et Antichristi“ kein altgläubiges Passional mehr auf den Buchmarkt kam. Der Begriff Passional – so legt es die Vermutung nahe – stand somit ab diesem Zeitpunkt für die katholischen Heiligen- und Märtyrerbücher nicht mehr zur Verfügung, sondern beschrieb nun vor allem Bücher primär lutherischer Provenienz. Zumindest war der Titel jedoch nicht mehr spezifisch genug. Der Begriff Passional wurde meines Erachtens von Seiten der Wittenberger Reformatoren aufgrund seiner Bekanntheit bei weiten Teilen der laikal-christlichen Leserschaft bewusst ‚okkupiert‘ und in ihrem theologischen Sinne umkodiert. Möglicherweise kann man, mehr noch als Luther selbst, Philipp Melanchthon diese gelehrte ‚Umtopfung‘ zutrauen. Dieser war es schließlich auch, der das „Passional Christi et Antichristi“ – möglicherweise gemeinsam mit Lucas Cranach d. Ä. und weiteren Autoren – konzipierte. Der alte Begriff Passional wurde mit neuem, dem reformatorischen Ideengut entsprechenden Inhalt gefüllt: neuer Wein in alten Schläuchen. Verfolgt man diesen Gedankengang weiter, so ist zu hinterfragen, ob sich neben der Umwidmung eines Titels zeitgleich in anderen Publikationen eine inhaltliche Spiegelung oder ein inhaltlicher Ersatz für die altgläubigen Heiligen und Märtyrer finden lässt, und wie sich dies in Verbindung zur privaten Frömmigkeit, oder korrekter zu den verschiedenen Graden oder Sphären von Privatfrömmigkeit, verhält, die in der Vormoderne völlig anderen Determinanten unterlagen. Bei Analyse des protestantischen Heiligen- und Märtyrerbewusstseins lässt sich der Anfang bei der Person Luthers selbst finden. So parallelisiert – um nur ein Beispiel zu nennen – Albrecht Dürer in seinem berühmten Tagebucheintrag auf der Niederländischen Reise von 1521 den Leidensweg Christi mit jenem Luthers, nachdem er das schreckliche Gerücht vom vermeintlichen Mord der Altgläubigen an dem Reformator gehört hatte:40 „Aber, Herr, du wihlt, ehe du richtest, wie dein sohn Jesus Christus von den priestern sterben must und vom todt erstehn und darnach geng himmel fahren, das es auch also gleichförmig ergeht deinen nachfolger Martino Luther, den der pabst mitt sein geldt verrätherlich wieder gott umb sein leben bringt, den wirstu erquicken.“ 41 Als polemisierende Gerichtsdeutung des Wormser Prozesses kann hingegen eine von Schilling in den Sommer 1521 datierte Flugschrift bezeichnet werden, die den Titel „Passio Doctoris Martini Lutheri“ trägt und eine Kontrafaktur des Martyriums Luthers anhand seines Schicksals auf dem Wormser Reichstag bietet, indem

40 Schuster, Peter Klaus: Bild gegen Wort. Dürer und Luther. In: Pirckheimer-Jahrbuch 1 (1986), 59–70, hier 70: „Mit der Forderung nach solcher Selbstverantwortung sind Dürers ‚Vier Apostel‘ Bekenntnisbilder eines Humanisten. Sie verzichten keineswegs auf Worte, vielmehr unterstreichen sie durch Inschriften ihren Lehrcharakter. Was Dürers Bilder nach unserer Deutung jedoch ganz wesentlich von Luthers Wort unterscheidet, ist eben ihr Glaube an die Bildbarkeit des Menschen.“ 41 Albrecht Dürer. Schriftlicher Nachlass. 2 Bde. Hg. v. Hans Rupprich. Berlin 1856, Bd. 1, 171.

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alle Rollen der biblischen Akteure des ‚ersten Martyriums‘ mit zeitgenössischen Personen besetzt wurden, Christus mit Luther, Petrus mit Friedrich dem Weisen, Pilatus mit Erzbischof Richard von Greiffenklau und die Rolle des Hohepriesters Kaiphas mit Albrecht von Brandenburg.42 Die Märtyreridee und der hieraus erwachsende Märtyrerkult sind Phänomene, die im 16. Jahrhundert, bedingt durch die Konfessionalisierung, zwangsläufig zu neuer Größe und völlig neuen Formen der Ausprägung avancierten. Gleichzeitig muss das protestantische Märtyrerbild – gemessen an seiner Rezeption und der weitverbreiteten Textlichkeit und Bildlichkeit auch im kulturellen Archiv der privaten Frömmigkeit – einen zumindest nicht unerheblichen Platz eingenommen haben: Denn erst mit der Glaubensspaltung gibt es einerseits neue und konkrete, aus dem Christentum selbst erwachsene Feinde des Glaubens und andererseits wieder eine erhöhte Gefahr, den Märtyrertod zu sterben:43 Am 1. Juli 1523, somit zwei Jahre nach Dürers Lutherklage, gab es sodann auch die ersten protestantischen Märtyrer. Die beiden ehemaligen Antwerpener Augustiner-Eremiten Heinrich Voes und Johann van den Esschen wurden öffentlich verbrannt.44 Die Medien publizierten das Ereignis mit nur geringer Zeitverzögerung in Flugschrift und Einblattdruck, während die erste, knapp gehaltene Darstellung allein sechzehn Auflagen zählte.45 Es ist anzunehmen, dass das mediale Aufsehen, das der Tod dieser beiden ersten Märtyrer des Protestantismus erregte, Martin Luther in seiner Überzeugung unterstützte. Ansonsten hätte er wohl kaum den beiden Mönchen sein erstes geistliches Lied gewidmet.46 Vor allem aber verfasste er selbst zwei Flugschriften zu diesem Ereignis, in denen er das Martyrium der „zwey edle kleynod Christi, Hinricus und Johannes“ lobt und erläutert, dass ihr ungerechtes Sterben nicht umsonst gewesen sei.47

42 Passio Doctoris Martini Lutheri. Bibliographie, Texte und Untersuchungen. Hg. v. Johannes Schilling. Gütersloh 1989 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 57), 11–19; Münch (wie Anm. 10), 205–208. 43 Burschel, Peter: Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit. München 2004. – Zuvor schon Gregory, Brad Stephan: Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe. Cambridge 22001 (Harvard Historical Studies 134); sowie Sherman, John E.: The Nature of Martyrdom. A Dogmatic and Moral Analysis according to the Teaching of St. Thomas Aquinas. Paterson 1942; Münch (wie Anm. 10), 217–227. 44 Knolle, Theodor: Die ersten Blutzeugen der Reformation. In: Luther. Mitteilungen der LutherGesellschaft 5 (1923), 1–12; Monter, William: Heresy Executions in Reformation Europe, 1520–1565. In: Tolerance and Intolerance in the European Reformation. Hg. v. Ole Peter Grell und Robert W. Scribner. Cambridge 1996, 48–64. 45 Bibliotheca Reformatoria Neerlandica. Hg. v. Samuel Cramer und Frederik Pijper. Den Haag 1911, Bd. 8, 13–19. Hebenstreit-Wilfert, Hildegard: Märtyrerflugschriften der Reformationszeit. In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Hg. v. Hans-Joachim Köhler. Stuttgart 1981, 397–446, hier 432–436. 46 Luther, Martin: Eyn newes lied wir heben an. In: Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Hg. v. Markus Jenny. Wien 1985 (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers / Texte und Untersuchungen 4), 217–222. 47 WA 12, 77 f.

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Neben den zeitgenössisch ‚aktuellen‘ wurden in protestantischen Texten und Bildern aber auch die Hinrichtungen vor- oder frühreformatorischer Märtyrer wie die des Jan Hus oder des Hieronymus von Prag durch das Medium der Druckgraphik als Teil des allgemeinen Gedächtnisses und für die reformatorische Idee instrumentalisiert.48 Das erste Martyrologium des 16. Jahrhunderts wurde von Ludwig Rabus, einem Schüler Luthers, im Jahre 1552 veröffentlicht.49 Es beinhaltet 128 Viten der bekanntesten Märtyrer aus der Bibel und der Frühzeit des Christentums und erfuhr bereits im Jahr seiner lateinischen Erstveröffentlichung unter dem Titel „Der Heiligen auß erwählten Gottes Zeügen, Bekennern unnd Martyrern“ eine in Straßburg gedruckte deutsche Übersetzung50 sowie in den folgenden fünf Jahren weitere Auflagen.51 Rabus (1524–1592) studierte in Straßburg, Tübingen und Wittenberg, wo er 1543 magistriert wurde. 1553 folgte die theologische Doktorwürde in Tübingen.52 In der Einleitung zu seinem ersten Band erklärt er, warum es so wichtig sei, die Patriarchen und Könige des Alten Testaments ebenso wie die Taten Christi und seiner Jünger und anderer Männer und Frauen im Neuen Testament zu kennen. Diese „Historien“ sollen alle Gläubige „ergötzen, trösten, underweisen und Lehren“.53 Bereits auf fol. 4r nimmt Rabus eine strikte Trennung zwischen der altgläubigen und der protestantischen Märtyrerverehrung vor: „Es ist aber leider solche gewohnheyt, wie andere gute ding mehr / durch falsche verfürische lehr / inn einen grossen verderblichen mißbrauch kommen / Dann ihre Legenden / wie man sie nennet / sein mitungeschickten Fabeln / und greifflichen Lügen / den meisten theyl sonderlich inn der Teütschen sprach also verfelschet vn[d] verderbet / das man ihnen nicht

48 Burschel (wie Anm. 43), 20; Hoyer, Siegfried: Jan Hus und der Hussitismus in den Flugschriften des ersten Jahrzehnts der Reformation. In: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Hg. v. Hans-Joachim Köhler. Stuttgart 1981, 291–307; Neu Watkins, Renee: The Death of Jerome of Prague. Divergent Views. In: Speculum 42 (1967), 104–129. 49 Pohlig, Matthias: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation 37); Burschel (wie Anm. 43), 51; Kolb, Robert: For all Saints. Changing Perceptions of Martyrdom and Sainthood in the Lutheran Reformation. Macon 1987, 41–46; Pijper, Frederik: Martelaarsboeken. Den Haag 1924; Dedeke, Gerhard: Die protestantischen Märtyrerbücher von Ludwig Rabus, Jean Crespin und Adriaen van Haemstede und ihr gegenseitiges Verhältnis. Halle / S. 1922, 2 f. 50 Rabus, Ludwig: Tomus I. de S. De confessoribus, veterisque ecclesiae martyribus. Ex sacris literis, uetustissimorumque Ecclesiae patrum scriptis, ad senescentis, ad flictaeque hodiernae Exxlesiae consolationem. Straßburg, bei Balthasar Beck, 1552 (eingesehenes Exemplar: Freiburg, Universitätsbibliothek, M 2077, I). 51 Bibliotheca Palatina. Druckschriften – Stampati Palatini – Printed Books. 4 Bde. Hg. v. Leonhard Boyle und Elmar Mittler. München o.J., Bd. 4, Nr. 499. 52 Röhrich, Reinhold: Mittheilungen aus der Geschichte der evangelischen Kirche des Elsaßes. Straßburg 1855, III, 152 und 172–176; Kolb (wie Anm. 49), 42–58. 53 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 1, fol. 2r.

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Abb. 4: Geburt Eva, Sündenfall und Brudermord, Holzschnitt in: Ludwig Rabus: Historien der Heyligen, Bd. 1, Straßburg 1552, fol. 1 r.

nachfolgen kan.“ 54 Die altgläubigen Heiligen würden den Menschen „fürgepildet als Mittler vnd Fürsprecher zwischen Gott vnd dem Menschen / die durch ihr verdienst vnd fürbit / den armen Sündern gnad müssen erwerben“, doch dies sei allein dem Allmächtigen und Christus möglich, wie Rabus warnt.55 Man habe darüber hinaus mit den Heiligen und ihren Bildern vielfältig Abgötterei getrieben.56 Der erste Band des umfangreichen Kompendiums listet die Bekenner und Märtyrer alphabetisch auf und beginnt mit dem ersten Märtyrer der Heilsgeschichte überhaupt, mit Abel. Die zugehörige Illustration zeigt drei Szenen vereint, links im Hintergrund die Erschaffung Evas, im Bildvordergrund den Sündenfall mit menschköpfiger Schlange und im Hintergrund rechts den Brudermord (Abb. 4). Wie auch im Falle der anderen Viten ist Rabus darum bemüht, die Textgrundlage zu benennen, neben den biblischen Historien ist dies etwa Eusebius’ „Kirchengeschichte“, wozu er stets das jeweilige Kapitel angibt.57 Es hat den Anschein, als sei dem Autor der korrekte Nachweis seiner Quellen sehr wichtig.

54 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 1, fol. 4r. 55 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 1, fol. 4r. 56 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 1, fol. 4r. 57 Etwa Rabus (wie Anm. 50), Bd. 1, B 1r: „Von disem schreibt Eusebius im v. und vi. Cap. Seiner Kirchen Histori“. Auf fol. B2r findet sich der Hinweis, man fände zu Alexander neben Eusebius auch Informationen im „Catalogo des H. Hieronymus“.

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Abb. 5: Martyrium des Alexander, Holzschnitt in: Historien der Heyligen (wie Abb. 4), fol. ci r.

Rabus’ Werk ist reich illustriert, so dass fast jeder Bekenner und Märtyrer ein eigenes Bild erhält. Die Holzschnitte sind qualitativ heterogen, so dass naheliegt, dass sie nicht direkt für das Martyrologium geschaffen wurden, sondern zumindest teilweise bereits für andere Buchprojekte entstanden waren. Auch thematisch variieren sie stark: Neben Autorenbildnissen finden sich Simultanszenen, die den Heiligen während seines Erdenlebens zeigen, wohingegen eine dritte Gruppe das Martyrium selbst zeigt, wie etwa die Enthauptung oder das Verbrennen der Heiligen. Einige Holzschnitte tauchen auch mehrfach bei unterschiedlichen Heiligen auf; so wird beispielsweise das Zerreißen durch wilde Tiere, das sowohl Alexander als auch Ignatius erleiden müssen, mit dem gleichen Holzschnitt illustriert (Abb. 5), ebenso wie Appolonia und Potamiena als weibliche Opfer öffentlicher Verbrennungen die gleiche Illustration erhalten (Abb. 6). Neben rechteckigen Formaten finden sich auch Rundbilder im Text, so wie etwa alle ‚Familiengeschichten‘ von Märtyrern – zum Beispiel im Fall des Arztes Liberacus „mit sampt seiner haußfrawen“ – mit dem gleichen Holzschnitt ausgestattet sind (Abb. 7). Das schmerzliche Abschiednehmen der Kinder von ihren Eltern, das in allen Viten dieses Typs erläutert wird, zeigt sich im Holzschnitt durch die Kinder, die ihre Arme um den weiten Rock der Mutter geschlungen haben. Doch auch wenn die Illustrationen nicht für jeden ein-

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Abb. 6: Martyrium der Jungfrau Potamiena, in: Historien der Heyligen (wie Abb. 4), fol. ccxii r.

Abb. 7: Der Arzt Liberatius und seine Frau werden von ihren Kindern getrennt, Holzschnitt in: Historien der Heyligen (wie Abb. 4), fol. cii v.

zelnen Heiligen neu geschaffen worden sind und sich wiederholen, so passen sie dennoch stets zu der jeweiligen Historie und unterstützen die Phantasie des Lesers beim Lesen der Viten.

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Der vierte Band des Werkes, der 1556 in Straßburg erschien, ist größtenteils Martin Luther selbst gewidmet. In der Einleitung der Biographie Luthers betont Rabus, dass er es für nötig befände, wider alle evangelische „Maulchristen“ – somit all jene, die nur dem äußeren Bekenntnis nach Protestanten seien, nicht jedoch dem Herzen nach – sein Martyrologium zu verfassen. Rabus ist sich somit im Klaren darüber, dass sein Werk kontrovers diskutiert wird. Martin Luther sei als einer der „besondern hohen Zeügen vund theüren Bekenners des gekreüzigten Christi“ anzusehen, weshalb der Leser seiner besonders zu gedenken habe.58 Das Werk schildert das Leben Luthers äußert umfangreich, beginnt mit Luthers Eltern und schließt mit seiner Bestattung in der Wittenberger Schlosskirche. Der entsprechende Holzschnitt zeigt die Sargträger, die den Leichnam direkt vor der Kanzel niedergestellt haben, während von beiden Seiten Gläubige, Männer auf der linken, Frauen auf der rechten Seite, dem Ereignis beiwohnen (Abb. 8). Wie dieser letzte Abschnitt in der Vita Luthers verdeutlicht, werden die einzelnen Abschnitte mit unterschiedlichsten Motiven illustriert. So finden sich Halbfigurenbildnisse des Reformators59 und auch zahlreiche Versammlungsszenen der einzelnen Vorladungen Luthers.60 Das Wittenberger Treffen der Reformanhänger aus dem Oberland – gemeint sind hier wohl die oberrheinischen Prediger – etwa zeigt sieben Personen halbkreisförmig diskutierend um einen Tisch versammelt (Abb. 9). Die einzelnen Vitenabschnitte werden unterbrochen durch Predigttexte, die meist mit dem Bild des auf der Kanzel predigenden Reformators eingeleitet werden (Abb. 10). Dieses immer wiederkehrende Bild der Predigt führt den Leser aus der Vitenerzählung heraus und in die neue Textgattung ein. Als Einleitung jedes Predigtteils werden der Ort und das Jahr genannt, an und in dem Luther die entsprechende Predigt gehalten habe.61 Rabus wendet sich des Öfteren zusätzlich direkt an den Leser und bittet um Nachsicht dafür, dass er nicht alle Ereignisse der Vita schildern könne, sondern gezwungen gewesen sei, eine sinnvolle Auswahl zu treffen, und er tröstliche Worte Luthers zur persönlichen Andacht der Leser bieten wollte.62 Ebenso wie die Flugschriften waren diese Martyrologien durchgehend illustriert und erwiesen sich offenkundig als für eine „Marktlücke“ 63 geschaffen, da noch in den Jahren 1571 und 1572 eine Folioausgabe in zwei Bänden herausgegeben wurde.64 Weitere Martyrologien im deutsch- und englischsprachigen Raum folgten, so 58 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 4, fol. XIr. 59 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 4, fol. IIr. 60 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 4, fol. X: Luther vor den päpstlichen Legaten in einer Stube mit Kamin. 61 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 4, fol. BbIVr. 62 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 4, fol. CCXIIIIr. 63 Burschel (wie Anm. 43), 53. 64 „Historien der Martyrer / Erste Theil. Darinn das Erste vnd Ander Bůch / von den Heyligen / Auerwoelten Gottes Zeügen / Bekennern und Martyrern […] Historien der Martyrer / Ander Theil. Darinn das Dritte / Vierdte / vnd Fünffte Bůch / von den Heyligen / Außerwehlten Gottes Zeügen / Bekennern vnd Martyrern.“ Straßburg, bei Josias Rihel (eingesehenes Exemplar: München, Bayerische Staatsbibliothek, 2° V.ss.c.105–2).

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Abb. 8: Martin Luthers Begräbnis, Holzschnitt in: Ludwig Rabus: Historien der Heyligen, Bd. 4, Straßburg 1556, fol. ccxxxiii r.

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Abb. 9: Zusammenkunft der oberländischen Prediger in Wittenberg, Holzschnitt in: Historien der Heyligen (wie Abb. 8), fol. xliii r.

Abb. 10: Der Prediger auf der Kanzel, Holzschnitt in: Historien der Heyligen (wie Abb. 8), fol. cxcvi r.

vor allem die „Acts and Monuments“ des englischen Protestanten John Foxe aus dem Jahr 1563, mit Märtyrern von 1000 n. Chr. bis zur Gegenwart.65 In der Einleitung von Rabus’ „Historien der Heyligen“ wird neben der Nachfolge Christi („auff daz die Eynfeltigen durch jr Exempel gebessert […] / wie sie dem Herren Christo nachgefolget seind“) als weiteres Charakteristikum der protestantischen

65 Weitere Sammlungen im deutschsprachigen Raum: „Commentarii“ Johannes Sleidans von 1555 (Straßburg, bei Wendelin Rihel), der „Catalogus testium veritatis“ des Matthias Flacius Illyricus von 1556 (Basel, bei Johannes Oporinus) und die „Martyrum Historia“ Heinrich Pantaleons von 1563. Ausführlich dazu mit Literaturhinweisen Burschel (wie Anm. 43), 54 f.

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Märtyrerverehrung der Rückbezug auf das frühe Christentum „die Vralte vnnd lang hergebrachte Gewonheyt / in der H. Christlichen Kirchen“ 66 deutlich. Bereits kurz nach der Reformation waren sowohl die Flugschriften als auch die diversen Quartformat-Ausgaben der „Historiae“ des Rabus und anderer protestantischer Autoren allesamt illustriert. Sie bilden meines Erachtens sowohl im sinnstiftenden Kollektiv als auch in der Auseinandersetzung mit dem Tod des Glaubens wegen einen noch weiter zu erarbeitenden Bereich der privaten Frömmigkeit,67 der zwischen den in der Frühen Neuzeit noch nicht eindeutig voneinander zu scheidenden Polen Privatheit und Öffentlichkeit oszilliert. Während sich auf protestantischer Seite der Märtyrerkult rasch mit Hilfe vielfältiger druckgraphischer Medien verbreitete, findet sich auf katholischer Seite mit zeitlicher Verzögerung neben Flugschriften und Martyrologien eine topologische Konzentration auf Rom. Bei den Protestanten handelt es sich im Gegensatz dazu um einen nicht näher archäologisch verortbaren Rückbezug auf die frühchristlichen Märtyrer.68 Luther ist sehr daran gelegen, die Historien der Martyrien möglichst objektiv wiederzugeben, „auff das nicht yemand sagen könne, wir hetten luegen teydinge [Lügengeschichten] an tag geben“.69 Wie die beiden Beispiele des „Passional“ und Rabus’ Martyrologium gezeigt haben, handelt es sich jeweils um spezifische Neukonstruktionen protestantischer Geschichte, also im Sinne Assmanns um Einschreibungen ins kulturelle Gedächtnis,70 die entweder über die Umkodierung von Buchtiteln oder über die Umbesetzung von Inhalten erreicht werden. Sowohl Luthers „Passional“ als auch die Rabus’schen Märtyrerviten zielten dabei auf die neu zu besetzenden ‚Leerstellen‘ privater Frömmigkeit der Reformation ab. Wie Rabus es an vielen Stellen in seinen Vorreden formuliert, dienen die Werke dazu, den Protestanten im Glauben zu kräftigen, da jeder Mensch von Natur aus schwach sei. Die Exempel werden als „lebendige Predigten“ bezeichnet, die unterweisen und zur Buße verhelfen sollen, sie sollen „ergötzen,

66 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 1, fol. Iiijrv: „Vnd eben auß disem grundt ist die Vralte vnnd lang hergebrachte Gewonheyt / in der H. Christlichen Kirchen entstanden / das man die Historien etlicher Fürnemer Bekenner vnd Martyrer Christi / deren Glaub vnd Bekantnuß gewiss vnd vngezweyfelt war / Jaerlichen dem volck / auff eygne vnd darzů bestimpte tag / fürgetragen / vnd von jrem Glauben / Gedult / Bekantnuß / vnd beständigkeyt / gepredigt hat / auff dz die Eynfeltigen durch jr Exempel gebessert / jnen lerneten nachfolgen / wie sie dem Herren Christo nachgefolget seind.“ 67 Vgl. Kuczyński, Arnold: Thesaurus libellorum historiam Reformationis illustrantium. Verzeichniß einer Sammlung von nahezu 3000 Flugschriften Luthers und seiner Zeitgenossen. Leipzig 1870, 968 f. 68 Münch, Birgit Ulrike: Neue Märtyrer – alte Heilige. Das Martyrium im konfessionellen Diskurs. Zur theologischen Strategie einer bildkünstlerischen Leerstelle. In: Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung. Hg. v. Andreas Tacke. Regensburg 2008, 116–143. 69 WA 23, 474. 70 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003, 179–190.

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trösten, underweisen und lehren“.71 Wie schon das „Passional“ erweist sich somit auch das protestantische Martyrologium als ein Hybrid aus unterschiedlichen, bereits längere Zeit zuvor etablierten Buchtypen. Während das „Betbüchlein“ keine festgelegten Gebetstexte beinhaltet, was jedoch der Titel primär verspricht, sind innerhalb der Märtyrerviten Predigttexte aufgenommen, die den biographischen Abriss unterbrechen und den Taten der Bekenner auch ihre Worte einschreiben. Die reiche Illustrierung der Bücher zur protestantischen Privatfrömmigkeit zeugt nicht zuletzt von der Relevanz, die ihr bei der Unterweisung des Gläubigen zugetraut wurde. In diesem Sinn wählte man in der Tat – und mit Erfolg – auf protestantischer Seite völlig neue Inhalte, die man jedoch mit bereits Vertrautem und Bekanntem ummantelte – und dieser ‚neue Wein in alten Schläuchen‘ scheint den Gläubigen, dies belegen nicht zuletzt die zahlreichen Auflagen der vielfältigen Publikationen, gemundet zu haben.

71 Rabus (wie Anm. 50), Bd. 1, fol. 4r.

Christoph Brachmann

Der Nachlass der Herzogin und Nonne Philippa von Geldern Eine persönliche Sammlung von Gegenständen zum devotionalen Gebrauch Besucht man heute in Nancy das Musée lorrain, das in den Überresten der im 16. Jahrhundert errichteten Residenz der lothringischen Herzöge untergebracht ist, so findet man in der zugehörigen Hofkirche als eines der wichtigsten Ausstellungsstücke ein Werk Ligier Richiers: des bedeutenden, im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts v. a. für die Herzöge von Lothringen tätigen Bildhauers. Es handelt sich um eine beeindruckende, in Kalkstein ausgeführte Grabfigur einer betagten Frau in geistlichem Gewand grau-schwarzer Färbung (Abb. 1).1 Dieses und die über ihren Unterkörper verlaufende, von Kordeln durchsetzte Schnur gibt sie als Klarissin zu erkennen: lang ausgestreckt, den Kopf mit den ergreifend ausgearbeiteten, möglicherweise einer Totenmaske folgenden Gesichtszügen auf einem Kissen lagernd und die Hände – für ein französisches Monument recht ungewöhnlich – über ihrem Bauch zusammengeführt. Unten wird die Figur von einer weiteren, maßstäblich kleineren Nonne abgeschlossen: einer knienden Pleurante, die zu ihren Füßen eine Krone hält.2 Sinnig ist damit die Doppelnatur der Präsentierten thematisiert: Philip1 Die wohl berechtigte Zuschreibung an Richier basiert auf stilistischen Aspekten. Eine Quelle dazu gibt es nicht. Gemäß den Ergebnissen der jüngsten Restaurierung von 2013 kam eine bemerkenswerte Materialvielfalt zur Anwendung: Das Gesicht, die Hände und die Krone sind in weißem, der Schleier in grauem und das restliche Gewand in graublauem Kalkstein ausgeführt. 2 Diese Gestaltung mag grundsätzliche Anregung gefunden haben in älteren Marientod-Darstellungen, wie z. B. eine ebensolche französische um 1400 im Museum Mayer van den Bergh zeigt. de Coo, Joz: Museum Mayer van den Bergh, Catalogus 2, Antwerpen 1969, 144. Zu vermuten ist, dass es sich hier um einen Auftrag ihres drittgeborenen Sohnes handelt, Kardinal Jean de Lorraine (1498–1550), der zu diesem Zeitpunkt als einziger noch aus ihrer unmittelbaren Familie lebte und schon zuvor als maßgeblicher Stifter in Verbindung mit dem Herzogshaus in Erscheinung getreten war: so u. a. in Zusammenhang mit den Glasfenstern im Chorobergaden der Metzer Kathedrale. Abgewickelt wurde der in den herzoglichen Rechnungsbüchern aufscheinende Vorgang über Nicolas Thuilier, den Abt des Prämonstratenserklosters Ste-Marie-aux-Bois. 1547 und 1548 erhielt er 500 bzw. 80 francs lorrains „pour la sépulture de la Royne de Sicille au pont“ und „pour employer a faire la sepulture de la Royne de sisille“. Archives départementales de Meurthe-et-Moselle, Chambre des Comtes de Lorraine, B 1082, fol. 94 und 1084, fol. 89, nach: Paulette Choné, in: Ligier Richier et la sculpture lorraine du XVIe siècle, Nancy 1985, 68 f. Anmerkung: Das Manuskript des vorliegenden Aufsatzes wurde 2013 eingereicht. Spätere Publikationen konnten nur noch partiell berücksichtigt werden. Zu Philippa von Geldern siehe jüngst die ihre Person umfassend und nicht nur ihre Zeit als Nonne beleuchtende Biographie von Ghislain Tranié (Philippe de Gueldre (1467–1547) „Royne de Sicile“ et „povre ver de terre“, Paris 2018). https://doi.org/10.1515/9783050051659-015

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Abb. 1: Ligier Richier, Gisant der Philippa von Geldern; Zustand vor der jüngsten Restaurierung. Nancy, Musée lorrain.

pa von Geldern (ca. 1465–26. 2. 1547),3 von 1485 bis zum Ableben ihres Mannes, René II., im Jahre 1508 Herzogin von Lothringen bzw. – gemäß dem Anspruch der Herzöge – Königin von Jerusalem,4 die dann 1519 im Alter von 54 Jahren bei den Klarissen in das nördlich von Nancy gelegene Kloster von Pont-à-Mousson eintrat. Philippa verblieb bis zu ihrem Tod im Jahre 1547 in diesem Kloster, aus dem auch der Gisant stammt, dessen Gebäude 1792 peu à peu zerstört worden sind.5 Mit ihrer in Glaubensfragen erzkonservativen Haltung sollte Philippa gerade in Zeiten der Reformation innerhalb des Herzogtums Lothringen insofern von Bedeutung werden, als sie ihre beiden Söhne Herzog Antoine le Bon und Kardinal Jean de Lorraine anhielt, konsequent gegen derartige häretische Bewegungen vorzugehen.6 Betrachtet man den blutigen lothringischen Feldzug 1525 gegen die Lutheraner bis weit in das Elsass hinein, erfolgte dies tatsächlich mit ausgesuchter Gnadenlosigkeit.7 Angesichts einer derartig strikt altgläubigen konfessionellen Haltung kann es nur wenig verwundern, dass es sich bei dem von Philippa gewählten Orden nicht um ‚konventionelle‘ Klarissen handelte, sondern um sogenannte Colettinen: eine 3 Sie war die Tochter Adolphs von Cleve und Catherines de Bourbon. Benannt ist sie nach ihrem Patenonkel, dem burgundischen Herzog Philipp den Guten (1419–1467). 4 Vgl. zu ihrer Person u. a. die schon früh einsetzenden Publikationen: Merigot, Christophe: La Vie de la Serenissime Philippe de Gueldres, (Royne de Hierusalem ...). Pont-à-Mousson 1627 (Nancy, Bibliothèque Stanislas, Cote: 3578), erweiterte Auflage 1698 (21698). – Bereits 1585, also nur wenige Jahrzehnte nach dem Tod der Herzogin, erschien eine erste gedruckte Vita, vgl. Guillaume, PierreEtienne: Notice sur plusieurs éditions de la vie de Philippe de Gheldres, et sur divers objets qui ont appartenue à cette princesse. In: Bulletin de la Société d’Archéologique lorraine 3 (1852), 373–411, hier 378. Siehe auch: Bertrand-Didelon, Geneviève: Philippe de Gueldre, princesse et moniale. In: Etudes franciscaines 51, 1939, 5–414; Wessel, J.: Philippa von Geldern, Königin und Klarisse. Geldern 1951; Ausst.-Kat.: Ecriture et enluminure en Lorraine au moyen âge. Exhibition Nancy 1984. Red. par Simone Collin-Roset. Nancy 1984, 200, 205–211. 5 Vgl. Henry, Jean-François: Philippe de Gueldre. Reine, Duchesse, et Pauvre Dame. Nancy 1947, 134 f., Anm. 23. 6 Merigot: La vie, 1627 (wie Anm. 4), 319. 7 Brachmann, Christoph: Zeugnisse öffentlicher und privater Positionierung im Glaubensstreit: Die ‚Victoire contre les Lutheriens‘ von 1526 und das Stundenbuch von Herzog Antoine le Bon von 1533. In: Kunst und Konfession. Hg. v. Andreas Tacke. Regensburg 2008, 241–266.

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radikale, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts von der hl. Colette de Corbie (1381–1447) initiierte Reformbewegung.8 Maßgeblich von den Herzögen von Burgund und deren Umfeld gefördert, schlossen sich im 15. und 16. Jahrhundert neben Philippa von Geldern zahlreiche weitere Fürstinnen diesem Orden an, gerade in höherem Alter und bei eingetretener Witwenschaft, so z. B. auch Philippas Schwägerin Marguerite de Lorraine (1463–1521).9 Das besondere Interesse Herzog Renés und Philippas an dieser Reformerin manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass sie 1494 eine Bittschrift an Papst Alexander VI. zugunsten einer Seligsprechung Colettes schickten, ebenso wie sie auf vielfältige Weise Klarissenkonvente in ihrem Herzogtum förderten.10 Zweifellos war Colette de Corbie auch der Ausgangspunkt mancher Besonderheiten in Philippas devotionalen Praktiken. Diese besaßen allerdings durchaus ausgesprochen individuelle und fast noch kompromisslosere Züge als jene der Ordensgründerin. Dass Philippa mehr als nur ein einfaches Ordensmitglied war, zeigt ihre herausragende Stellung innerhalb desselben, trug sie doch mit ihrem Wirken maßgeblich zum Fortbestand und zur Festigung des Ordens bei, was ihr sogar den Titel einer „seconde mère Colette“ einbrachte.11 Schon bei ihrem Klostereintritt 1519 war der Bruch mit allem weltlichen Pomp und Anspruch angemessen inszeniert, nicht zuletzt in Philippas gerne angeführter, wohl eher topischer Bemerkung, ihr bisheriges weltliches Wappen habe seine Bedeutung verloren, da ihr neues nun das Kreuz und die Passion Christi, d. h. die Arma Christi seien.12 Nicht nur den Orden hatte Philippa bewusst gewählt, sondern zweifellos auch das konkrete Kloster. Pont-à-Mousson war nämlich noch eine persönliche Gründung der hl. Colette von 1425, die vom damaligen lothringischen Herzog Karl II. und seiner Gattin Margarethe entscheidende finanzielle Unterstützung erhalten hatte.13 Bereits letztere scheint erwogen zu haben, den Lebensabend in dem Kloster zu verbringen, was aber ihr Tod vor Vollendung des Gebäudekomplexes verhinderte. Abgeschlossen wurde das Vorhaben dann erst unter ihrer Tochter Isabelle de Lorraine und deren

8 Vgl. zu ihr: Lopez, Elisabeth: Culture et sainteté. Colette de Corbie (1381–1447). Saint-Etienne 1994; dies.: L’observance franciscaine et la politique religieuse des ducs de Bourgogne. In: Annales de Bourgogne 72 (2000), 57–103; ebenso: O. A.: La Règle de l’Ordre de Sainte Claire, avec les Status de la Réforme de Sainte Colette, quelques lettres de cette Glorieuse Réformatrices, ses Sentiments sur la Sainte Règle etc., Brügge 1892. 9 Zu ihr u. a. Guerin, Chr. R.: La bienheureuse Marguerite de Lorraine duchesse d’Alençon, religieuse clarisse. Paris 1921. – Zahlreiche weitere Beispiele für – nicht nur – in den Klarissenorden eingetretene, verwitwete Fürstinnen u. a. bei: Henry (wie Anm. 5), 66 f. 10 Henry (wie Anm. 5), 52 f.; vgl. auch Renés II. generelles Interesse an franziskanischen Reformbewegungen, wie es u. a. auch in seiner Gründung eines Observantenkonvents im Kontext der Residenz in Nancy 1482 ablesbar wird, Brachmann, Christoph: Memoria – Fama – Historia. Schlachtengedenken und Identitätsstiftung am lothringischen Hof (1477–1525) nach dem Sieg über Karl den Kühnen. Berlin 2006, 107–109. 11 Vgl. u. a. Henry (wie Anm. 5), 81–85, bes. 84. 12 Merigot: La vie, 21698 (wie Anm. 4), 110. 13 Lopez (wie Anm. 8), 351; Henry (wie Anm. 5), 72 f.

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Mann, König René d’Anjou, als im Jahre 1447 dreizehn aus Besançon kommende Nonnen in das Kloster einzogen.14 Angesichts von Philippas überliefertem, bemerkenswert asketischem Nonnenleben dürfte die aufwendige Inszenierung der Toten mit dem Gisant in der Colettinerkirche kaum ihren Vorstellungen entsprochen haben. In der Tat wollte sie dem Testament zufolge ohne weiteren Schmuck auf dem Klosterfriedhof am Fuß eines plastisch ausgearbeiteten Steinkruzifixes begraben werden, das zunächst auch zur Ausführung kam. Es sollte gleichsam das bis heute erhaltene gemalte ersetzen, das Philippa der Überlieferung nach zu Lebzeiten zum Gebet gedient hatte: interessanterweise kein zeitgenössisches Bildwerk, sondern ein deutlich aus dem Umkreis oder der Nachfolge Rogier van der Weydens, wohl aus dem späteren 15. Jahrhundert stammendes, auf Leinwand ausgeführtes Kruzifix (Abb. 2).15 Wollte Philippa also eigenen Angaben zufolge im Garten des Konvents beigesetzt werden – in einem schlichten Grab, das sie immerhin als Königin von Jerusalem zu erkennen gab16 – so waren es ihre Angehörigen, v. a. wohl ihr letzter damals noch lebender Sohn, der Kardinal von Lothringen Jean de Lorraine, die ihren ursprünglichen Wunsch missachteten und sie 1547 in weit aufwendigerer Form beisetzten: „du coste de sa chapelle“, wie es in einer Quelle heißt, d. h. an der Seite ‚ihrer‘ Kapelle in der heute nicht mehr existierenden Colettinenkirche von Pont-àMousson.17 Gemeint ist jenes Bauwerk, das Philippa ab 1529 in der Kirche als Zeichen ihrer besonderen Marienverehrung und gemäß den Gepflogenheiten der Franziskaner und v. a. ihres Reformordens, der Colettinen, zu Ehren der Immaculata Conceptio, also des ‚Hochfests der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria‘, hatte errichten lassen.18 Die besondere Bedeutung, die das Fest für Philippa besaß, scheint dabei nicht nur in der Kapellenstiftung auf, sondern-

14 Guillaume, Pierre-Etienne: Vie de Philippe de Gueldres. Nancy 1853, 121; Marot, Pierre: Le tombeau de la duchesse de Lorraine Philippe de Gueldre à l’église des Clarisses de Pont-à-Mousson. In: Bulletin de la Société de l’histoire de l’art français 6 (1976), 13–22, hier 14. 15 Ob es immer schon ausgeschnitten war, muss offenbleiben; das erscheint allerdings einigermaßen ungewöhnlich. Beauté et pauvreté: l’art chez les clarisses de France. Exhibition Centre Culturel du Panthéon Paris 1994. Hg. v. Jacques Charles-Gaffiot. Paris 1994, 94. 16 Die Inschriften des heute in Nancy im Musée lorrain ausgestellten Kreuzsockels der zunächst realisierten Anlage lauten: „Cy gist ung ver tout en pourriture / Rendant à mort le tribut de nature / Soeur Phelippe de Gueldre fust Royne du passé / Terre soulat pour toute couverture / C’est la maison de toute créature / Soeurs ditez luy ung requiescat in pace.“ Und auf der anderen Seite: „O Rédempteur benoist crucifié / A qui mon Coeur jamais n’a deffié / Mais espéré, à ta croix je m’accorde / Comme à celle qui a vivifié / Le genre humain du jour moult rude / Mon âme priant à ta misericorde.“ Cardinet (?), Claude: La vie de la vénérable servante de dieu, Madame Philippe de Gueldres. Pont-à-Mousson 1671, 101; Germain, Léon: Découverte de l’épitaphe et d’une partie du premier monument funéraire de Philippe de Gueldres, duchesse de Lorraine, à Vilcey-sur-Trey. In: Journal de la Société d’Archéologie lorraine 39 (1890), 140–144, hier 143. 17 Marot (wie Anm. 14). 18 Henry (wie Anm. 5), 96.

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Abb. 2: Kruzifix aus dem Besitz Philippas von Geldern. Vandœuvre-lès-Nancy, Privatbesitz.

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auch in dem Umstand, dass es der 8. Dezember, also der Tag des Festes, war, an dem sie 1519 in das Kloster eintrat.19 Die von Philippa gestiftete Kapelle stellte den Beschreibungen nach keinen separaten, an die Kirche angefügten Baukörper dar, sondern war eine gitterartige, von 18 Bronzebalustern oder -säulen gebildete Abschrankung im Kirchenraum,20 die sich u. a. noch anhand eines Plans von 1748 und historischer Angaben rekonstruieren lässt:21 Öffentlich zugänglich, lag sie im östlichen, nicht von den Nonnen genutzten Teil der knapp 25 m langen Kirche. Ihr Gisant fand sich in die Wand eingelassen direkt gegenüber dem Eingang des Gebäudes vor besagter Altarstelle (Abb. 3). Um sie der Verehrung sowohl der Weltlichen als auch der Nonnen zugänglich zu machen, wurde die Gruft mit ihrem eigentlichen, von den Angehörigen veranlassten Grabmal und Gisant den Beschreibungen nach halb in der Kirche und halb in der Klausur angelegt. In letzterer war dabei an der Kirchenwand ein Fresko mit den Arma Christi angebracht:22 nach Philippas Eintritt in das Kloster bekanntermaßen das neue Wappen der Herzogin.23 Aber auch in der von ihr gestifteten Kapelle wurde deren besondere Verehrung der Passion und des Kreuzes Christi Rechnung getragen: In sehr prominenter Weise, hatte Philippa doch vom französischen König Franz I. – einem entfernten Verwandten, mit dem sie in Glaubensfragen in regem Austausch stand 24 – entsprechende Teile aus dem Reliquienbestand der Pariser SteChapelle erhalten, die in einem mit französischen fleurs de lys geschmückten Reliquiar in Philippas Kapelle Aufstellung fanden.25 In den Zusammenhang herausgehobener Passionsfrömmigkeit gehört auch der heute noch in Pont-à-Mousson erhaltene Passionsaltar, der mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls in dieser Kapelle aufgestellt war (Abb. 4): ein 1543 von der Herzogin gestiftetes reiches Werk Antwerpener Provenienz. Dank der heute nicht mehr erhaltenen Predella, auf der neben dem hl. Franziskus und der hl. Klara u. a. die Darstellungen von Philippa, ihrem verstorbenen Mann René II. sowie ihrem Sohn, Kardinal Jean, zu sehen waren, steht dabei die Verbindung zur ehemaligen Herzogin außer Zweifel.26 Ligier Richiers eindrucksvoller Gisant sollte allerdings nicht nur der angemessenen Präsentation Philippas dienen. In entscheidendem Maße dürfte er auch in Zusammenhang mit der schon zu Lebzeiten einsetzenden Verehrung ihrer Persönlich-

19 Merigot: La vie, 21698 (wie Anm. 4), 79; Henry (wie Anm. 5), 28. 20 Henry (wie Anm. 5), 96. 21 Vgl. v. a. Marot (wie Anm. 14). 22 Darin offensichtlich ähnlich dem Grabmal ihrer Schwägerin Marguerite in Argentan. Henry (wie Anm. 5), 130, 134 (Anm. 23); Guillaume (wie Anm. 14), 264; Marot (wie Anm. 14). 23 Henry (wie Anm. 5), 87. 24 Henry (wie Anm. 5), 100. 25 Baltazar: La vie de la tresillustre et tres-religieuse princesse Philippe de Gueldre. Nancy 1721, 85 f.; Henry (wie Anm. 5), 96. 26 Volkelt, Peter: Lothringen, Ardennen, Ostchampagne: Kunstdenkmäler und Museen. Stuttgart 1983, 341; Magnin, Jean / Meyer, Daniel: Le retable de Philippe de Gueldre. Nancy 2008.

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Abb. 3: Pont-à-Mousson: Rekonstruktion des ehemaligen Colettinenklosters mit der von Philippa von Geldern 1535 zu Ehren der ‚Unbefleckten Empfängnis‘ gestifteten Kapelle.

keit stehen, die man auf diese Weise noch zu steigern suchte. In der Tat war sie 1547 nicht zuletzt dank ihrer ungewöhnlich asketischen Lebensweise, die selbst noch die strikte Regel der Colettinischen Reform übertraf, im Ruch der Heiligkeit gestorben. Ebenso sollten sich – ganz einer potentiellen Heiligen würdig – bald nach ihrem Tod in mannigfaltiger Weise Wunder an ihrem Grab ereignen:27 ein Grund mehr für Philippas Mitschwestern, bereits 1585 eine erste Vita der Verstorbenen zu verfassen

27 Vgl. dazu Henry (wie Anm. 5), 139–147.

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Abb. 4: Von Philippa von Geldern 1543 gestifteter Altar aus der zerstörten Coletinnenkirche, Antwerpen. Pont-à-Mousson, St-Laurent.

und drucken zu lassen, auf die aufbauend bis in das 18. Jahrhundert hinein zahlreiche Neuauflagen folgten (Abb. 5).28 Im Zusammenhang des vorliegenden Bandes ist all dies insofern von Bedeutung, als die persönlichen Gegenstände – und hier gerade jene, die Philippa für ihre persönliche Frömmigkeitsübungen gebraucht hatte – gleichsam wie Reliquien behandelt und nach Philippas Tod konserviert wurden.29 Trotz mancher Verluste nach der Französischen Revolution lässt sich anhand der genauen Vitenbeschreibung und der überlieferten, nachweislich aus ihrem Besitz stammenden Gegenstände vieles noch erstaunlich gut rekonstruieren. So etwa hinsichtlich ihrer Bibliothek, von der hier zumindest einige Titel geistlicher Erbauungsliteratur genannt seien, wie etwa die gedruckte Ausgabe des „Livre de la discipline d’amour divine“ von 1519, „Le dialogue de consolation entre lame et raison“ von 1537, oder schließlich auch überraschenderweise „Le livre de vraye et parfaicte oraison“, die 1528 veröffentlichte französische Adaption von Martin Luthers Betbüchlein (1522). Zu Philippas Besitz gehörten natürlich auch diverse Handschriften.30 Neben den Dialogen Gregors des Großen und selbstverständlichen Werken wie einem Missale ist ein um 1515, also noch vor dem Klostereintritt, entstandenes Passionar zu nennen, das gut in das Bild von Philippas ausgeprägter Passionsfrömmigkeit passt. Darin werden

28 Guillaume, Pierre-Etienne: Notice sur plusieurs éditions de la vie de Philippe de Gheldres. In: Bulletin de la Société d’Archéologique lorraine 3, 1852, 373–411; Henry (wie Anm. 5), 166 f., vgl. dazu auch Anm. 4. 29 Eine Auswahl der noch erhaltenen Objekte in jüngerer Zeit zusammengefasst in: Beauté et pauvreté (wie Anm. 15), 90–94. 30 Darunter auch die beiden wichtigsten für ihren Mann, René II., 1492–3 angefertigen Handschriften eines Diurnales und eines Breviers, Les manuscrits à peintures en France, 1440–1520, ed. par François Avril et Nicole Reynaud, Paris 1993, 378–383. Guillaume (wie Anm. 14), 321–350.

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Abb. 5: Titelblatt der Vita Philippas von Geldern, 1627, nach einem Gemälde des 16. Jahrhunderts.

die relevanten Texte der vier Evangelien jeweils mit einer entsprechenden Miniatur eingeleitet (Abb. 6), die jeweils auf den sogenannten Meister des Songe du Pastourel zurückgeht: einen für das lothringische Herzogshaus auch in anderem Zusammenhang tätigen Künstler.31 Hinsichtlich Philippas Frömmigkeitspraktiken noch aussagekräftiger ist jedoch die „Vita Christi“ Ludolfs von Sachsen – eine gerade im 16. Jahrhundert beliebte geistige Erbauungsliteratur. Mit ihr folgte Philippa Moden der Zeit. Bemerkenswert ist gleichwohl, welche Bedeutung sie dem Werk beimaß, das ja weniger eine Darstellung des Lebens Christi ist als vielmehr eine Abfolge frommer Meditationen und Inspirationen, mit der die Gläubigen das Wirken Christi gleichsam ‚miterleben‘ sollten. Den 1487 von Guillaume Lemenand ins Französische übertragenen Text besaß sie nämlich nicht in der sonst zumeist üblichen gedruckten Form. Vielmehr hatte sie ihn um 1506, wiederum noch vor ihrem Klostereintritt, von einem Pariser Miniaturisten in eine opulente zweibändige Handschrift übersetzen lassen (Abb. 7). In dieser unterstreicht ein großes, die gesamte lothringische Herzogsfamilie präsentierendes Einleitungsbild, welch hohen Stellenwert das Werk

31 Vgl. in diesem Zusammenhang: Avril / Reynaud (wie Anm. 30), 387; Brachmann (wie Anm. 10), 321–329.

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Abb. 6: Meister des Songe du Pastourel (?), Passionar Philippas von Geldern, um 1515, Vandœuvre-lès-Nancy, Privatbesitz.

für Philippa tatsächlich besaß.32 Die von Ludolfs „Vita Christi“ angeleitete Sichtweise, den Gläubigen durch unmittelbares Nacherleben zur Gemeinschaft mit Christus und letztlich zum Heil zu führen, sollte auch Philippas Klosterleben in Pont-à-Mousson zwischen 1519 und 1547 maßgeblich prägen. Zwar entsprach auch dies ganz franziskanischen bzw. colettinischen Gepflogenheiten. Doch steht außer Zweifel, dass Philippa es war, die in diesem Zusammenhang vieles überhaupt erst in den schon über 75 Jahre bestehenden Konvent einführte. Auskunft darüber gibt bereits ein nach 1547 erfolgter Eintrag in der benannten Vita-Christi-Handschrift, in dem eine Mitschwester nicht nur festhält, dass die Verstorbene die Handschrift dem Kloster überlassen habe, sondern auch, dass auf sie die Sitte zurückgehe, jeweils am Freitag nach Komplet gemeinsam die Passion Christi zu rezitieren. Auch habe Philippa veranlasst, dass zur Erinnerung an dieselbe täglich der Hymnus „O crux ave

32 Ludolphe de Saxe, Vie du Christ, traduction de Guillaume Lemenand, 1506. Lyon, Bibliothèque municipale, Ms 5125, 360 × 245 mm; Avril / Reynaud (wie Anm. 30), 278; Blum, André / Lauer, Philippe: La miniature française aux XVe et XVIe siècles. Paris 1930, 91 u. Abb. 73; Plummer, John / Clark, Gregory: The Last Flowering. French Painting Manuscripts, 1420–1530. New York 1982, Nr. 91.

Der Nachlass der Herzogin und Nonne Philippa von Geldern

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Abb. 7: Vita Christi Ludolf von Sachsens, 1506. Lyon, Bibliothèque municipale Ms 5125.

spes unica“ („O Kreuz, sei gegrüßt, einzige Hoffnung in dieser Leidenszeit“) gesprochen werde.33 Auf Philippas Initiative hin erfasste das Thema der Passion geradezu flächendeckend die gesamte Klosteranlage. Dazu gehörte bereits, alle Räume – vom Kapitelsaal über das Dormitorium bis hin zur Nähstube der Nonnen – mit Kruzifixen auszustatten.34 Spezifischer war im Vergleich dazu die Maßnahme, ebenfalls über den gesamten Komplex – in ihrer Qualität nicht näher bezeichnete – „images“, also ‚Bildwerke‘ zur Erinnerung an die Passion Christi zu verteilen,35 wodurch diese unentwegt den Nonnen vergegenwärtigt wurde.36 Ergänzung fanden diese durch an den Türen zum Kloster, zu ihrem eigenen Zimmer, zum Kreuzgang und schließlich zum sog. chambre des corrections angebrachte Anrufungen Jesu Christi, in denen er gebeten wurde, die Nonnen bei der Einhaltung ihrer Pflichten, ihrer Glaubenstreue und bei der Befolgung der Ordensregel zu unterstützen.37

33 34 35 36 37 an

Guillaume (wie Anm. 14), 347. Ebd., 196. Henry (wie Anm. 5), 90. Ebd. Guillaume (wie Anm. 14), 196 f. – Das Verteilen von Passionsszenen im Kloster erinnert z. B. die in Dominkanerklöstern seit dem 13. Jahrhundert übliche Praxis, die einzelnen Zellen mit

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Eine weitere mit den Passionsbildern verbundene Aufgabe war zweifellos, den Nonnen auf diese Weise eine Pilgerfahrt im Geiste zu ermöglichen, die ja nicht zuletzt durch Werke wie Felix Fabris „Die Sionpilger“ – einer ausformulierten Anleitung für Menschen, die nicht real an einer Pilgerreise teilnehmen konnten38 – seit dem 15. Jahrhundert besondere Förderung erfuhr. In recht plastischer Weise scheinen eine derartige virtuelle Reise zwei weitere Stiftungen Philippas begleitet zu haben: die von ihr um 1530 im Klostergarten eingerichteten Kapellen Mont Calvaire bzw. Mont d’Olivet, in denen sich der Überlieferung nach lebensechte figürliche Darstellungen befanden.39 Immer wieder ist versucht worden, in den Kirchen und Museen von Pont-à-Mousson oder Nancy erhaltene Skulpturen auf diese Kapellen zu beziehen.40 Waren es hinsichtlich des Kalvarienbergs verschiedene Kruzifixe der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, so diskutierte man für die Ölbergkapelle den eindrucksvollen kreuztragenden Christus, der sich heute in der Pfarrkirche St-Laurent in Pont-à-Mousson findet.41 Es ist nicht auszuschließen, dass auch diese Figur tatsächlich aus dem Colettinenkloster stammt, doch erscheint es naheliegender, dass in einer Ölbergkapelle keine Kreuztragung,42 sondern vielmehr eine ebensolche Szene wiedergegeben war. Zu überlegen wäre, ob es sich nicht sogar konkret um jene beeindruckende Gruppe aus dem Umkreis Ligier Richiers handelt, die heute im Museum in Nancy ausgestellt ist (Abb. 8).43 In anrührender Weise ist Jesus hier in seiner ganz menschlichen Natur gezeigt, in Zweifel bzw. Verzweiflung angesichts seines nahenden Martyriums, kollabiert er doch – ikonographisch höchst ungewöhnlich – ohnmächtig zwischen den ihn auffangenden, besorgten Jüngern. Fraglos lässt sich diese letztlich neuartige, so nicht in den Bibeltexten vorgegebene Passionsszene gut in die für Philippa und ihren Umkreis beschriebene religiöse Vorstellungswelt einfügen. Dass sie möglicherweise tatsächlich direkt mit ihr in Verbindung steht, zeigt eine kleine, fünfblättrige Handschrift (Abb. 9), um 1519 wieder-

Bildern zu schmücken. So war etwa in einem Kloster in Limoges in jeder Zelle eine Kreuzigung zu finden, in San Marco in Florenz in gleicher Weise ein jeweils anderes Passionsbild. Vgl. u. a.: Lentes, Thomas: Vita Perfecta zwischen Vita Communis und Vita Privata: eine Skizze zur klösterlichen Einzelzelle. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hg. v. Gert Melville. Köln 1998, 125–164, hier 147 f. 38 Dazu jüngst: Rudy, Kathryn: Virtual Pilgrimages in the Convent. Imagining Jerusalem in the Late Middle Ages. Turnhout 2011, bes. 171 ff., 185, 209–218, 234–238. 39 Merigot: La vie, 1627 (wie Anm. 4), 299 f. 40 Vgl. u. a.: Van Hees, Horst: Die lothringische Skulptur des 16. Jahrhunderts. Saarbrücken 1973. 41 Van Hees (wie Anm. 40), 183–185. 42 In den aufeinander aufbauenden Publikationen des 17. und 18. Jahrhunderts zu Philippa ist allerdings tatsächlich von einer Kreuztragung die Rede. Ergänzt wurde sie von einer in Johannes’ Armen ohnmächtig niedersinkenden Gottesmutter, die beide vor einem gemalten Grab und einer Stadtansicht Jerusalems Darstellung gefunden haben sollen. Bibliothèque nationale de France Fr 14521 (Cy commence aulcuns petis point, de sœur Claude Mauljean, religieuse clarisse du Pont-àMousson), ff. 12v-13; Henry (wie Anm. 5), 92 f. 43 Van Hees (wie Anm. 40), 185–187.

Der Nachlass der Herzogin und Nonne Philippa von Geldern

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Abb. 8: Ölbergszene, um 1530 (?). Nancy, Musée lorrain.

Abb. 9: Meister des Songe du Pastourel (?), Miniatur auf der Professurkunde von Marguerite de Lorraine, der Schwägerin Philippas von Geldern, Ohnmacht Christi am Ölberg, um 1519, Privatbesitz.

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um vom schon für Philippas Passionar benannten Meister des Songe du Pastourel ausgeführt.44 Den Quellen nach handelt es sich um ein Geschenk Philippas an ihre Schwägerin Marguerite de Lorraine, in dem nicht nur deren Profess-Urkunde, sondern auch diverse Passionsdarstellungen wiedergegeben waren.45 Tatsächlich unternahm Philippa – möglicherweise unter Einbeziehung der anderen über das Kloster verteilten Passionsdarstellungen – täglich eine Art kleine Pilgerfahrt zu ihren beiden Kapellen, bei der sie sich – obwohl realiter in Lothringen – das Leiden Christi im Heiligen Land möglichst authentisch zu imaginieren versuchte. Dazu warf sie sich der Überlieferung nach vor dem Kruzifix der Kalvarienkapelle mit ausgebreiteter, das Kreuz nachahmender Armhaltung nieder, um auf diese Weise die von Jesus Christus erlittenen Schmerzen zu kommemorieren.46 Man mag sich bei diesen beiden Kapellen in Pont-à-Mousson an die seit Ende des 15. Jahrhunderts wiederum mit Franziskanern verbundenen Sacri Monti in Italien erinnert fühlen, bei denen ebenfalls in Kapellen das Leben bzw. die Passion Christi figurenreich nachgestellt wurden, wenn auch nicht in klösterlicher Abgeschlossenheit, sondern öffentlich zugänglich.47 Ebenso eignet sich ein Verweis auf die gerade seit William Weys Berichten über seine Jerusalemfahrten der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verstärkt auftretenden Kreuzwege nur eingeschränkt für die Erklärung des in Pont-à-Mousson greifbaren Phänomens:48 Die hier verwendeten Bilder waren alles andere als einheitlich, sondern von sehr unterschiedlicher Qualität, und wiesen lediglich in den beiden Skulpturengruppen der Kapellen einen gestalterischen Höhepunkt auf. Auch sollte man trotz aller franziskanischen Bezüge nicht verkennen, dass die beschriebenen Phänomene von Philippas Mitschwestern nicht als allgemein üblich angesehen wurden bzw. – laut deren Ausführungen in der Vita – überhaupt erst mit dem Klostereintritt der Herzogin einsetzten. Dies gilt auch für die Art der Auseinandersetzung mit der Passion Christi, die unter Philippa neue Dimensionen erreichte, gerade in der Karwoche, in der sie Tag und Nacht in kaum mehr zu steigernder Intensität die Passion Christi verinnerlichte. Sie in die Nähe großer Ordensheiliger wie dem hl. Franziskus oder der hl. Katharina von Siena rückend, soll Philippas Leiden in den letzten Lebensjahren jeweils freitags derart intensiv und geradezu christusgleich gewesen sein, dass sie diesen Tag auf ihrem

44 Reynaud, Nicole: La Galerie des Cerfs du Palais ducal de Nancy. In: Revue de l’Art 61 (1983), 7– 28; Avril / Reynaud (wie Anm. 30), 387; Brachmann (wie Anm. 10), 321–329. 45 Beauté et Pauvreté (wie Anm. 15), 97. 46 Merigot: La vie, 1627 (wie Anm. 4), 299 f.; ders.: La vie, 21698 (wie Anm. 4), 178 f. 47 Dazu u. a.: Vaccaro, Peter / Riccardi, Francesca: Sacri Monti. Devozione, arte e cultura della Controriforma, Mailand 1992; Kubler, George: Sacred Mountains in Europe and America. In: Christianity and the Renaissance: Image and Religious Imagination in the Quattrocento. Hg. v. Timothy G. Verdon und John Henderson. Syracuse 1990, 413–441; Nova, Alessandro: „Popular“ Art in Renaissance Italy: Early Response to the Holy Mountain at Varallo. In: Reframing the Renaissance. Hg. v. Claire Farago. New Haven / London 1995, 113–126. 48 Vgl. Davey, Francis (Hg. und Übers.): The Itineraries of William Wey. Oxford 2010.

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Lager mit dem Kruzifix auf der Brust verbringen musste.49 Insofern verwundert es wenig, dass sie der Legende nach in Kreuzeshaltung, d. h. mit überkreuzten Füßen und ausgestreckten Armen, verstarb.50 Einige ungewöhnlich Phänomene, wie etwa die bemerkenswerte Ölbergszene, scheinen aber auch direkt auf Philippa zurückzugehen. Als wichtigstes Beispiel ist hier der quellenmäßig für sie gesicherte Jardin spirituel de la bénite passion de JésusChrist zu nennen: ein aus emblematischen Blumen und Pflanzen gebildeter Garten, den Philippa auf zwei heute nicht mehr erhaltenen Tafeln einmal als Bildwerk und einmal als gereimten erklärenden Text im Nonnenchor der Kirche aufstellen ließ.51 Auf den ersten Blick mag er an die damals so beliebten ‚Beschlossenen Gärten‘ erinnern, wie sie auch im Besitz von Philippa vergleichbaren Fürstinnen der Zeit wie etwa Margarete von Österreich zu finden waren.52 Bei genauer Betrachtung haben diese jedoch eine etwas anders gelagerte Intention,53 auch wenn ihre Konzeption sicherlich jeweils auf der seit dem Spätmittelalter üblichen Vorstellung einer mystischen Beziehung zwischen Gott und der menschlichen Seele basierte. Eine Passage des Hohen Liedes (4, 12) nutzend, wird auf sie gerne das Bild eines Gartens bezogen. Dort heißt es: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell.“ Eingerahmt wird dieser von Philippa komponierte Hortus conclusus, den es sauber zu halten gelte, von einer Hecke. Gebildet ist letztere aus dem mannigfach wiederholten Wort souci, also Sorge, sei es doch die Unvollkommenheit und die große Schuld des Gläubigen gegenüber seinem Schöpfer, die sein Eintreten in den Garten verhindere. Solches ermögliche nur die Gnade Gottes, die auch den einzigen Zugang zum Garten und – wie sie erkennt – zur Erlangung ewigen Heils darstelle. Nach Eintritt findet man eine Wiese mit Stiefmütterchen vor, im Französischen bezeichnenderweise pensées, also ‚Gedanken‘ heißend, die in unterschiedlichsten Zuständen in Erscheinung treten. So gibt es solche, die gerahmt von Tränen gerade beginnen, sich zu öffnen: einsetzende Reue einer Seele versinnbildlichend. Diese reflektiert die eigenen Vergehen gegenüber ihrem Schöpfer, der sie und die Seelen aller anderen Menschen seinerseits so geliebt habe, dass er sogar die Qualen und Schmerzen der Passion und den Tod am Kreuz auf sich genommen habe. Es gibt aber auch geöffnete, teilweise taubedeckte, teilweise flam-

49 Henry (wie Anm. 5), 112 f. 50 Henry (wie Anm. 5), 120. 51 Guillaume (wie Anm. 14), 201–212. 52 Vgl.: Le Jardin clos de l’âme. L’imaginaire des religieuses dans les Pays-Bas du Sud depuis le 13e siècle. Exhibition Brüssel 1994. Ed. par Paul Vandenbroeck. Gent 1994; Krone und Schleier – Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern. Ausst. Bonn 2005. Hg. v. Robert Suckale und Jeffrey Hamburger. München 2005, 429 f. 53 Das Bild des Hortus Conclusus taucht in lothringischem Kontext noch einmal in gänzlich anderer Form auf: eine im Stundenbuch Herzog Antoines zu findende Miniatur eines das wahre Kreuz Christi rahmenden Gartens, der sinnigerweise aus den Einzelbestandteilen des lothringischen Wappens gebildet wird. Marot, Pierre: Le symbolisme de la croix de Lorraine. Paris 1948, 21 f.

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mengerahmte Blumen, wobei letztere die Inbrunst des von der Liebe Gottes erfassten Gedankens symbolisieren. Andere Gedanken verbleiben dagegen gänzlich ungerahmt. Sie verkörpern die Seelen, die weder Demut, noch Liebe Gottes, noch Reue kennen und nicht wissen, wie das Heil erreicht werden kann. Schwarze und tote Stiefmütterchen stehen schließlich für die in der Sünde verlorenen Seelen, wobei erstere als halbgeschlossene Faust wiedergegeben ist, die im Begriff ist, die Blumen zu zerquetschen und auszureißen. Doch antwortet ihr jeweils eine – das Mitleid Gottes darstellende – offene Hand, die die Seele zur Um- und Rückkehr einlädt und sich zugleich anschickt, die Blume zu schützen und zu verteidigen. Zwischen die Stiefmütterchen bzw. Gedanken eingestreut finden sich diverse Unkräuter. An jedem von ihnen ist bereits eine Hand angelegt – „Liebe Gottes“ genannt –, um sie auszureißen. In der Mitte des Gartens erhebt sich schließlich das Kreuz des Erlösers. Am Fuße desselben trifft man auf ein flammengerahmtes Stiefmütterchen, das seine Nahrung aus den Wunden Jesu Christi zu erhalten scheint.54 Gerahmt wird die Szenerie um das Kreuz in Philippas Passionsgarten wiederum von Stiefmütterchen, die noch nicht vollständig aufblühen konnten, da ihnen bisher die schmerzensreichen Tränen versagt waren, die sie eigentlich bewässern sollten. So sind es wiederum die kostbaren Wundmale des Gekreuzigten, aus denen kleine Blutströme entrinnen und auf benannte Blumen fallen und sie sogleich zum Erblühen bringen werden.55 Wie sehr die Passion Christi Philippa im wahrsten Sinne des Wortes am Herzen lag, zeigt schließlich ein Objekt, das sicherlich zu den interessantesten ihres Nachlasses gehört. Die Rede ist von einem im Museum in Nancy erhaltenen Einzelblatt von 28 × 22 cm Größe (Abb. 10). Von ihrem Namenspatron Philipp empfohlen, ist Philippa betend niedergekniet in der linken unteren Ecke des Blattes zu finden. Das vor ihr befindliche rechteckige, von einer Krone überfangene und mit einer Kordel gerahmte Wappen gibt sie als ehemals verheiratete Herzogin von Lothringen und nun den Klarissen beigetretene Nonne zu erkennen. Auf der gegenüberliegenden Seite antwortet ihr eine weitere Klarissin, die anhand ihrer weltlichen und geistlichen Insignien als Florence de Happlaincourt zu identifizieren ist. Sie stand dem Konvent im nordwestfranzösischen Péronne vor, wo bis zur Zerstörung im 1. Weltkrieg in den Archiven eine Doublette des Blattes existierte.56 Diese auf den ersten Blick erstaunliche Verbindung mag sich aus der herausgehobenen Stellung Philippas innerhalb ihres Ordens erklären, die ihr realiter die Aufsicht aller Colettinenkonvente im gesamten nördlichen Frankreich und Belgien übertrug. Einmal mehr liegt der Fokus auf der Passion Christi. Das Blatt ist aus zwei identisch gestalteten Hälften komponiert, bei denen jeweils drei Reihen mit vier Rundmedaillons im untersten, auf Augenhöhe der Nonnen befindlichen Register auf vier

54 55 56 In:

Henry (wie Anm. 5), 91 f. Henry (wie Anm. 5), 92. Marot, Pierre: Une récente acquisition du Musée lorraine: Une ‚image‘ de Philippe de Gueldres. Revue Historique de la Lorraine 79 (1935), 45–57.

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Abb. 10: Linke Hälfte eines Doppelblatts mit dem Leben Christi und den Darstellungen der Nonne Philippa von Geldern und Florence d’Happlaincourt, Äbtissin des Coletinnenkonvents Péronne um 1530, Nancy, Musée lorrain.

rundbogig überfangenen Feldern ruhen, in denen sich Passionsszenen konzentrieren. Die Rundmedaillons entspringen einer Art Lebensbaum, der sich unten angedeutet findet und oben in stilisiertem Rankenwerk weiterentwickelt. Zu lesen sind die Bilder jeweils von links oben nach rechts unten. Am bemerkenswertesten ist dabei sicherlich die Darstellung in der Mitte des unteren Bildrandes, gleichsam das geistliche zwischen den weltlichen Wappen der beiden Nonnen: ein von einem goldenen Strahlenkranz gerahmtes Herz, in das ebenfalls in goldenen Lettern der Name Jesu Christi,

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also IHS, eingeschrieben ist. Geht die Kombination von Strahlenkranz und Name Christi bekanntlich auf Berhardin von Siena zurück,57 so ist eine Verbindung mit einem Herzen, zumindest für die Zeit, eher ungewöhnlich, ja, rätselhaft: Ist damit das Herz der zu beiden Seiten niedergeknieten Nonnen gemeint? Symbolisiert es die Liebe der Gläubigen, das reuige Herz der Betenden, wie das etwa in der bereits angeführten Miniatur des 1533 entstandenen Stundenbuchs von Herzog Antoine der Fall ist?58 Oder sollte es sich um eine sehr frühe Herz-Jesu-Darstellung handeln, mit der Signatur Jesu Christi auf seinem eigenen Herzen? Bei einer wahrscheinlichen Entstehung des Blattes um 1530 ist das nicht unmöglich, empfiehlt doch z. B. der Kartäuser Johannes Justus von Landsberg (ca. 1490–1539) in seiner 1533 erschienenen Schrift „Pharetra divini amoris (I, 5)“ tatsächlich bereits diesen Kult, wenn er meint: „Habet ein Bild dieses verehrungswürdigen Herzens, stellt es an einem Ort auf, wo Ihr es oft sehen könnt.“ 59 In eine ähnliche Richtung gehen Überlegungen der 1524 verstorbenen Mystikerin Battista Varano, die mit ihren Schriften eine der maßgeblichen Wegbereiterinnen der neuzeitlichen Herz-Jesu-Verehrung – im Sinne des Herzen Jesu als Symbol des liebenden und leidenden Heilands – war. Mit beiden Persönlichkeiten nicht erklärt ist allerdings die auf dem Blatt in Nancy zu findende Kombination von Herz und Name Jesu Christi. Insofern wird die Deutung des Blattes wohl letztlich in eine andere Richtung gehen müssen, wie sie bereits auf einem Kupferstich des Meisters E. S. von 1467 (Abb. 11) zu finden ist. Umgeben von den Arma Christi ist dort der Jesusknabe inmitten eines geöffneten Herzen gezeigt, dessen Spruchband die Darstellung mit den Worten kommentiert: „Wer IHS in sinem herczen treit, dem ist alle zit die ewig froid bereit.“ An den Gläubigen richtet sich also die Aufforderung, Christus selbst im Herzen zu tragen, sich im Angesicht der Passionswerkzeuge sein Leiden ins Gedächtnis zu rufen, um ein Mitleiden zu bewirken. Dies ist eine Vorstellung, die in einigen (Proto-)Heiligen-Viten der Zeit durchaus recht unmittelbaren Niederschlag fand: Wenn z. B. in einer Vision der Kreuz tragende Jesus Christus der hl. Klara von Montefalco (1268–1338; Kult ab 1450 zugelassen) erklärt, dass er in ihr endlich die Person gefunden habe, der er sein Kreuz anvertrauen könne, und es ihr daraufhin tatsächlich in ihr Herz einpflanzt.60 Nicht nur, dass die Heilige den Rest ihres Lebens unmittelbar die Schmerzen Christi nachempfinden sollte: Nein, durch ein Wunder sollen in ihr Herz sogar ganz konkret Leidenswerkzeuge Christi, genauer gesagt das Kreuz und die Geißel, eingeprägt gewesen sein.61 Philippa zeitlich und auch in anderer Hinsicht näherstehend, mag das Beispiel der seligen Katharina von Racconigi

57 Lexikon der christlichen Ikonographie (LCI) 5, 1974, 389. 58 Brachmann (wie Anm. 10), 249–251. 59 Halvorson, Jon Derek: Religio and Reformation: Johannes Justus Lansperger, O. Cart. (1489/ 90–1539), and the Sixteenth-Century Religious Question. Chicago 2008, 117–122. 60 Vgl. Fresko in der Cappella di Santa Croce in ihrem Kloster in Montefalco, 1333. 61 Nessi, Sylvestro (Hg.): La Spiritualità di S. Chiara da Montefalco. Montefalco 1986, Abb. 10; Goodich, Michael: Miracles and Wonders. The Development of the Concept of Miracle, 1150–1350. Aldershot 2007, 55 f.; LCI 7, 1974, 318.

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Abb. 11: Meister E. S., Holzschnitt mit der Darstellung des Jesuskindes im Herzen, 1467.

(gest. 1537) genannt sein, die sich in ähnlicher Weise wie S. Chiara in der Leidensnachfolge Christi übte und der Legende nach daraufhin an ihrem Leib die Zeichen der Wundmale Christi trug.62 Der über ein Jahrtausend ältere, ähnlich gelagerte Fall des hl. Ignatius von Antiochien belegt dabei die recht weite Verbreitung des Bildes und dass es des Öfteren bei Heiligenviten Anwendung fand.63 Auch das Herz mit dem Namen Christi auf dem Blatt Philippas von Geldern wird wohl in derartiger Weise zu interpretieren sein, wobei – mit Blick auf die Datierung des Blattes um 1530 – die Besonderheit der Verdichtung beider Elemente zu einem wahren Emblem bleibt. Wirft man einen abschließenden Blick auf die erhaltenen oder durch die schriftliche Überlieferung gesicherten Gegenstände oder Artefakte, die Philippa von Geldern während ihrer Zeit als Nonne im Colettinenkloster von Pont-à-Mousson zum devotionalen Gebrauch besaß oder stiftete, so fällt zunächst auf, wie sehr sie letztlich immer noch den Traditionen und Vorstellungen spätmittelalterlicher Frauenmystik folgte und in ihrer festgefügten Glaubenswelt Neuerungen lediglich in Nuancen zuließ. Leitbild waren weiterhin die Vorstellungen der ein Jahrhundert älteren

62 Madey, Johannes: Katharina von Racconigi. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 3. Herberg 1992, 1223. – Vgl. auch Heinrich Seuse, der sich über seinem Herzen die Buchstaben IHS in die Brust einschnitt. 63 LCI 6, 1974, 578.

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Ordensreformatorin und Gründerin des Konventes in Pont-à-Mousson, der hl. Colette de Corbie. Wie diese versuchte auch Philippa den ursprünglichen Rigorismus des heiligen Franziskus und der heiligen Klara zu erneuern. Nicht umsonst wurde sie in ihrem Orden immer wieder als zweite Colette bezeichnet. Folgte sie dieser insbesondere in ihrer ausgeprägten Passionsfrömmigkeit, die sich – wie aufgezeigt – aus einer ganzen Reihe weiterer Quellen speiste und ein intensives und authentisches Nacherleben und Verinnerlichen des Leidens Christi zum Inhalt hatte, so kommt es hier durchaus zu eigenständigen Akzentsetzungen. Dazu ist nur noch einmal das ikonographisch ungewöhnliche Bild der Ohnmacht Christi am Ölberg anzuführen, das mit ihr in Verbindung gebracht werden kann. Obwohl sich Philippa selbst immer wieder als einfache Nonne stilisierte, die tatsächlich lebenslang erfolgreich das – angesichts ihrer realen Bedeutung berechtigte – Ansinnen der Mitschwestern abwehrte, die Leitung des Konvents zu übernehmen, war es zweifellos sie, die ihn ganz nach ihren individuellen Vorstellungen formte, es gleichsam zu ihrem Privatkloster, zu ihrem Heim machte. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, wie auf ein Individuum, d. h. auf Philippa, selbst abgestellte Glaubensformen zum Modell für einen ganzen Konvent erhoben und damit allgemein zugänglich, öffentlich gemacht werden, ja, letztlich – über die weite Verbreitung der gedruckten Vita Philippas von Geldern – geradezu Vorbildcharakter erhalten konnten.

Grażyna Jurkowlaniec

Church Authority and Individual Devotion The Cult of the Maria Regina of Santa Maria in Trastevere, Rome, until the Late Sixteenth Century The basilica of Santa Maria in Trastevere is considered to have been built on the site of the ancient titulus Calixti or titulus Iuli, Callixtus I (pope 217–222) and Julius I (pope 337–352) being two founders recorded in the “Liber Pontificalis.”1 Presumably in the mid-seventh century, the basilica was rededicated to the Virgin as one of the first churches in Rome.2 This event is occasionally related to an image of Mary mentioned in the Salzburg Itinerary, presumably written in the mid-seventh century, which records “The Basilica called Santa Maria Trastevere; an image of St. Mary which was made by itself is there” (“Basilica quae appellatur sca. Maria transtiberis, ibi est imago scae. Marie quae per se facta est”).3 A few scholars regard this image as identical with the one that is still housed in the basilica and since the sixteenth century venerated as the Madonna della Clemenza, and thus they date this image to the sixth century,4 while others believe the existing panel was painted only in the early eighth century,5 and yet others regard it as “a problematic work.”6 1 Le Liber pontificalis, ed. by Louis Duchesne, vol. 1, Paris 1886, pp. 141 and 205. The titulus Iuli should not be confused with the basilica Iuli, see: Geertman, Herman: Le biografie del Liber Pontificalis dal 311 al 535. Testo e commentario. In: Mededelingen van het Nederlands Instituut te Rome 60–61 (2001–2002), 310 (= Atti del colloquio internationale Il Liber Pontificalis e la storia materiale, Roma 21–22 febbraio 2002, ed. by Herman Geertman, [2003]). 2 Russo, Eugenio: L’affresco di Turtura nel cimitero di Commodilla, l’icona di S. Maria in Trastevere e le più antiche feste della Madonna a Roma. In: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 88 (1979), 35–85 (esp. 57–59). 3 De locis sanctis martyrum quae sunt foris civitatis Romae. In: Itineraria et alia geographica, Turnhout 1965 (Corpus Christianorum, Series Latina, 175), 313–322 (here: 321); English transl. after Barber, Charles: Early Representations of the Mother of God. In: Mother of God; Representations of the Virgin in Byzantine Art, ed. by Maria Vassilaki. Milan 2000, 253–261 (here: note 21). 4 Andaloro, Maria: La datazione della tavola di S. Maria in Trastevere. In: Rivista dell’Istituto Nazionale d’Archeologia e Storia dell’Arte, N.S. 19/20 (1972/1973), 139–215; eadem: Le icone a Roma in età preiconoclasta. In: Roma fra oriente e occidente, Settimane di Studio del Centro Italiano di studi sull’alto medioevo, 19–24 aprile 2001. Spoleto 2002, vol. 2, 719–753 (here: 753). 5 Bertelli, Carlo: La Madonna di Santa Maria in Trastevere. Storia-iconografia-stile di un dipinto romano dell’ottavo secolo. Rome 1961; Nordhagen, Per Jonas: Icons designed for the display of sumptuous votive gifts. In: Dumbarton Oaks Papers, 41 (1987), 453–460. 6 Barber (see n. 3); Wolf, Gerhard: Alexifarmaka. Aspetti del culto e della teoria delle immagini a Roma tra Bisanzio e Terra Santa nell’alto medioevo. In: Roma fra oriente e occidente (see n. 4), Note: The contribution was accepted for publication in 2011 and updated in 2013 and reflects the state of knowledge current at that time. https://doi.org/10.1515/9783050051659-016

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The icon depicts Mary and Child flanked by two angels and adored by a kneeling pope. This figure, now scarcely visible, was heavily repainted in the early modern times, as was the crown of Mary. Also the golden, jeweled pontifical cross held by the Virgin might not be original, as it was painted in tempera over the encaustic background (Figs. 1 and 2). Several features of the image seem to exclude any trace of intimacy: the monumental dimensions of the panel; the frontal, hieratical, threeaxial composition based on the iconography of Roman emperors or empresses (occasionally depicted together with their children); and the imperial garb of Mary, her crown with perpendulia – known from a number of portraits of Roman and, particularly, Byzantine empresses – and her throne decorated with gems.7 My contention is that this official message of the Maria Regina preserved in the basilica of Santa Maria in Trastevere has repeatedly been combined with private devotion. I would like in particular to demonstrate how Church officials might have responded to this image during the course of three periods: firstly, in the eighth and ninth centuries, secondly during and after the schism of the 1130s and, lastly, from the aftermath of the Council of Trent in the late sixteenth century.

Maria Regina The iconography of Maria Regina is first testified in Rome in the early or mid-sixth century by a fragment of fresco on the “palimpsest wall” in the church of Santa Maria Antiqua.8 Subsequently, this formula became quite popular in the early eighth century when, at the latest, the Trastevere panel came into being, as well as a number of paintings regarded as patterned after it.9 The medieval images of Maria Regina have tended to be interpreted by scholars as conveying a double sense: one

755–787 (here: 763 and 786); idem, Icons and sites. Cult images of the Virgin in mediaeval Rome. In: Images of the Mother of God, ed. by Maria Vassilaki, Aldershot 2005, 23–50 (here: 37). Both Barber and Wolf also relate the image to the rededication of the basilica of Santa Maria in Trastevere. 7 Steigerwald, Gerhard: Das Königtum Mariens in Literatur und Kunst der ersten sechs Jahrhunderte, Diss. Freiburg i. Br, 1965, 65–71. 8 Recent contributions: Osborne, John: Images of the Mother of God in Early Medieval Rome. In: Icon and word: power of images in Byzantium, ed. by Antony Eastmond and Liz James. Aldershot 2003, 139; Andaloro, Maria: La parete palinsesto. In: Santa Maria Antiqua al Foro Romano. Cento anni dopo, atti del Colloquio Internazionale Roma, 5–6 maggio 2000, ed. by John Osborne, J. Rasmus Brandt and Giuseppe Morganti. Rome 2005, 97–111; Osborne, John: The Cult of Maria Regina in Early Medieval Rome. In: Acta ad archaeologiam et artium historiam pertinentia, N.S. 21 (2008), 95–106 (= Mater Christi, ed. by Siri Sande and Lasse Hodne. Rome 2009). 9 Recently: Nilgen, Ursula: Eine neu aufgefundene Maria Regina in Santa Susanna, Rom. Ein römisches Thema mit Variationen. In: Bedeutung in den Bildern. Festschrift für Jörg Traeger zum 60. Geburtstag, ed. by Karl Möseneder and Gosbert Schüssler. Regensburg 2002, 231–245.

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Fig. 1: Maria Regina (after restoration). Rome, Santa Maria in Trastevere.

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Fig. 2: Maria Regina (before restoration). Rome, Santa Maria in Trastevere.

doctrinal, concerning Mary as Queen, and the other political, relating to the status of Mary as the personification of ecclesia, thus representing the authority of the Church and of the popes.10 Particularly, the earliest examples are considered to express the pope’s claims for independence from Byzantine emperors. Thus the pope kneeling in front of Mary on the Trastevere panel would acknowledge her as the only ruler he must obey. Yet one has to note that the very motif of the kneeling pope distinguishes the image of Santa Maria in Trastevere from other images of Maria Regina in Rome. The identity of the pope, often regarded as John VII (705–707), remains unclear given the disputable dating of the panel. Without going into detail about that, one may rather try to explain the relationship between the pope and Mary. Scholars, as a rule, particularly those who are experienced in late medieval art, recognize kneeling persons represented in images as founders or donors. However,

10 Nilgen, Ursula: Maria Regina – Ein politischen Kultbildtypus? In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 19 (1981), 3–33; Stroll, Mary: Symbols as Power. The Papacy following the Investiture Contest. Leiden 1991, 132–149 and 162–179; eadem: Maria Regina. Papal Symbol. In: Queen and Queenship in Medieval Europe, ed. by Anne J. Duggan. Woodbridge 1997, 173–188; Noble, Thomas F. X.: Topography, Celebration and Power. The Making of a Papal Rome in the Eighth and Ninth Centuries. In: Topographies of Power in the Early Middle Ages, ed. by Mayke de Jong and Frans Theuws. Leiden 2001, 45–91 (here 61–67).

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Fig. 3: Dedication scene. Rome, Santa Maria Antiqua, Theodotus Chapel.

in early medieval art, founders are usually presented in a standing position and they always hold an attribute of their donation. A good example is the dedication scene in the chapel of St. Quiricus and St. Julitta, founded by Theodotus in Santa Maria Antiqua in Rome (Fig. 3).11 The central axis of the symmetrical, frontal composition is occupied by Maria Regina. She is flanked by Saints Peter and Paul, Quiricus and Julitta. On the extreme left Pope Zachary (741–752) is presented and on the extreme right Theodotus keeps a model of the chapel in his hands. Both are represented as standing and distinguished from the saints only by square nimbi – thus characterized as living persons. Apart from this official dedication scene, there are two further depictions of Theodotus in the chapel of St. Quiricus and St. Julitta: one within a family votive image and the other – much more interesting for us – an individual votive portrait, in which Theodotus is kneeling and holding two lamps in his hands (Fig. 4). True, he is still the founder of the chapel and its decoration, but here it is not his act of donation that is being commemorated, but rather his devoutness. Likewise, in the Trastevere panel the pope is kneeling. However, his hands are empty – and this detail supports the supposition that, in this case also, it is not his merits as founder that are being commemorated. The pope is bending and almost touches with his fingers the foot of the Virgin. This gesture refers to an imperial ceremonial that was taken over by early-Christian iconography.12 A number of sarcophagi feature figures of the deceased, which are usually represented as pairs, but occasionally also as single persons, prostrating or kneeling before Christ and touching his feet.13 Hence, the gesture of the pope on the Trastevere panel, rather than emphasizing his deeds as a donor, may be seen to denote a humble request.

11 Belting, Hans: Eine Privatkapelle im frühmittelalterlichen Rom. In: Dumbarton Oaks Papers 41 (1987), 55–69. 12 Brilliant, Richard: Gesture and rank in Roman art: the use of gestures to denote status in Roman sculpture and coinage. New Haven 1963. The very custom had already been noted by Seneca, De beneficiis, II, 12; see: Altman, Marion: Ruler Cult in Seneca, In: Classical Philology 33 (1938), 198. See also Charlesworth, Martin Percival: Some Observations on Ruler Cult Especially in Rome. In: The Harvard Theological Review 28 (1935), 18–19. 13 A number of examples can be found in: Wilpert, Giuseppe: I sarcofagi cristiani antichi. Rome 1929–1936.

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Fig. 4: Theodotus. Rome, Santa Maria Antiqua, Theodotus Chapel.

Such an interpretation of the pope’s gesture fits well with the queenly role associated with Mary. Christian theologians based the idea of the dignity of Mary as Queen on two premises: she originated from the royal tribe of David and she was the mother of Christ the King.14 As a consequence, the main prerogative of Mary the Queen was to intercede between the faithful and her kingly Son. Also the kneeling pope is begging her for intercession; likewise the persons on Christ’s feet ornamenting the early-Christian sarcophagi were asking him for salvation. Thus, in the panel of Santa Maria in Trastevere the doctrinal and political message of Maria Regina was combined with the specific intentions of the supplicant. Admittedly, they might have been combined with a gift, but this was neither clearly depicted nor described (as this is the case in the inscription in the porch of Santa Maria in Cosmedin).15 Art historians often relate individual devotion to religious practices that spread only in the late Middle Ages and involved icons in relatively small scale. However, as Per Jonas Nordhagen has observed, many of the wall paintings in Santa Maria

14 Barré, Henri: La royauté de Marie pendant les neuf premiers siècles. In: Recherches de sciences religieuses 29 (1939), 152–162 and 303–312; Steigerwald (see n. 7). 15 “Praeclara virgo caelestis regina superexaltata et gloriosa domina mea Dei genitrix Maria de tua tibi offero dona ego humillimus servulus tuus Eustathius inmeritus dux […] item et ego Georgius gloriosissimus offero […] una cum germano mio Davit” – Gray, Nicolette: The paleography of Latin inscriptions in the eighth, ninth, and tenth centuries in Italy. In: Papers of the British School at Rome 16 (1948), 55; Noble (see n. 10), 62; Osborne (see n. 8), 97; however, here there is no image preserved.

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Antiqua were venerated.16 Thanks to Eric Palazzo and Jean-Marie Sansterre, we know of a variety of individual religious attitudes concerning monumental paintings in the Early Middle Ages.17 For instance, a titulus attributed to Raban Maur invites the person who enters into a chapel in Fulda to kneel down and venerate the image of Christ shining with colors18 and Purchart de Reichenau records in the “Gesta Witigowonis” that monks fell to their knees in front of and kissed a wall painting representing Mary and Child.19 As Eric Palazzo has demonstrated, both devotional functions of monumental paintings and individual, private liturgical practices are particularly well documented in the Carolingian era. It is then that we can find further examples of the iconography of Maria Regina adored by a kneeling person who touches the Virgin’s foot. In the Benedictine church of San Vincenzo al Volturno, one out of two depictions of Maria Regina features a prostrated monk simultaneously placing Mary’s right foot in his hand,20 and in the apse of Rome’s Santa Maria in Domnica, Pope Paschal I was presented as kneeling and touching the foot of an enthroned Mary surrounded by choirs of angels (Fig. 5).21 It is worth comparing this composition with other sets of mosaics commissioned by Paschal I in Rome. In the churches of Santa Prassede and Santa Cecilia in Trastevere (Fig. 6), he was presented unambiguously as the founder: standing on the extreme left and differentiated from the saints by a square nimbus and, above all, by a model of the building kept in his hands. Thus, it proves obvious that, in Santa Prassede and Santa Cecilia, Paschal laid emphasis on his

16 Nordhagen (see n. 5), 454. 17 Palazzo, Eric: Les pratiques liturgiques et dévotionelles et le décor monument al dans les églises du Moyen Âge. In: L’emplacemente et la fonction des images dans la peinture murale du Moyen Âge. Saint Savin 1993, 45–56 (here 52–56); Sansterre, Jean-Marie: Entre deux mondes? La vénération des images à Rome et en Italie d’après les textes des VIe–XIe siècles. In: Roma fra Oriente e Occidente (cf. n. 4), 993–1050; idem: La vénération des images a Ravenne dans le haut moyen age. Notes sur une forme de dévotion peu connue. In: Revue Mabillon N.S. 7 (1996), 5–21; idem: Le moine ciseleur, la Vierge Marie et son image. Un récit d’Ekkehart IV de Saint-Gal. In: Revue Benedictine 106 (1996), fasc 1–2, 185–191. 18 Monumenta Germaniae Historica [= MGH], Poetae Latini aevi Carolini, vol. 2. Berlin 1884, 222. 19 MGH, Poetae Latini medii aevi, vol. V,1,2. Leipzig 1937, 273. 20 Toesca, Pietro: Reliquie d’arte della badia di S. Vincenzo al Volturno. In: Bullettino dell’Istituto storico italiano 25 (1904), 1–84 (here 19). See also: Speciale, Lucina: La decorazione pittorica degli edifici monastici a San Vincenzo al Volturno tra IX e XI secolo. Problemi di restauro e di storia dell'arte. In: Kronos 10 (2006), 75–97 (= Scritti per Gino Rizzo, ed. by Lucio Galante. [Galatina] 2006). 21 Thunø, Erik: Image and relic. Mediating the sacred in early medieval Rome. Rome 2002, 37–38; idem: Materializing the Invisible in Early Medieval Art: The Mosaic of Santa Maria in Domnica in Rome. In: Seeing the Invisible in Late Antiquity and the Early Middle Ages. Papers from “Verbal and pictorial imaging: representing and accessing experience of the invisible 400–1000” (Utrecht, 11–13 December 2003), ed. by Giselle de Nie; Karl F. Morrison and Marco Mostert. Turnhout 2005, 265–279.

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Fig. 5: Mosaic in the apse. Rome, Santa Maria in Domnica.

Fig. 6: Mosaic in the apse. Rome, Santa Cecilia in Trastevere.

merits as a founder, whereas in Santa Maria in Domnica he sought, rather, to underscore his piety and individual devotion to Mary. In the Trastevere panel, as well as in the fresco in Volturno and in the mosaic in Santa Maria in Domnica, there is no visual contact between Mary and the kneeling persons. They establish, however, a more direct and most tangible contact with her, while retaining visual contact with the beholder. Thus, the supplicant becomes

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a model of a devout attitude toward Mary, but also toward her image, as described in written sources quoted above.

Queen, Mother and Bride The iconography of Maria Regina was revived again in Rome in the twelfth century. A critical moment was 1130 when, following the death of Honorius II, the conclave occurred – or rather, two separate conclaves – in which two popes were elected: Innocent II and Anaclet II. Initially, the latter won the battle for Rome, but, as Mary Stroll has put it, “ultimately lost the war for recognition of the church.”22 After Anaclet’s death in 1138, Innocent triumphantly returned to Rome, accompanied, among others, by his faithful ally, Bernard of Clairvaux. Two artistic undertakings of interest for our argument were executed in this period. One was the decoration of the chapel of St. Nicholas in the Lateran Palace – the Papal seat at that time.23 The chapel, begun by Callixtus II to celebrate the conclusion of the Investiture Controversy at Worms (1122) and completed by Anaclet II around the year of 1134, is now destroyed and its decoration is known only from early modern drawings and prints (Fig. 7). The apse featured an enthroned Mary and Child flanked by two standing popes – Silvester and, originally, Anaclet I – with a further two popes kneeling and clasping Mary’s feet. Originally, they were identified by inscriptions as Callixtus II and Anaclet II. The central part of the apse is almost a copy of the image of Santa Maria in Trastevere, the only relevant difference being that there are two kneeling popes, not one. Anaclet’s interest in the Trastevere panel becomes quite understandable, if it is borne in mind that, prior to the fatal conclave of 1130, he had been the titular cardinal of Santa Maria in Trastevere. Gerhard Ladner has proposed that the iconographical program of the apse of St. Nicholas chapel represents an apotheosis of the victorious papacy in the context of the Investiture Controversy.24 As a matter of fact, Anaclet, as cardinal, was a champion of the conservative faction of church officials who viewed the emperor as the greatest threat to ecclesiastical reform, while the more progressive faction wanted to resolve the conflict with the Reich. The conservative cardinals still looked to Rome for inspiration – and Anaclet chose the image that was, indeed, Roman par excellence, whereas their younger, northern colleagues

22 Stroll: Symbols (see n. 10), XVII. 23 Croisier, Jérôme: La perduta decorazione dell’oratorio di San Nicola al patriarchio lateranense. In: Maria Andaloro, Maria/Romano, Serena: La pittura medievale a Roma 312–1431. Corpus e atlante, Corpus, vol. IV: Romano, Serena: Riforma e tradizione, Rome 2006, no 49 (290–293). 24 Ladner, Gerhart: I mosaici e gli affreschi ecclesiastico-politici nell’antico palazzo Lateranense. In: Rivista di archeologia cristiana 12 (1935), 270.

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Fig. 7: Seventeenth-century drawing of the fresco in the apse of St. Nicholas chapel in the Lateran palace.

sought spiritual guidance from the newer religious houses flourishing primarily in France. However, even if one accepts that Maria Regina might have revived in the twelfth century as a political image, one has to state that it also remained an image referring to individual devotion. It appears that Anaclet’s individual victory over Innocent was not alluded to at all by the Lateran fresco. On the contrary, as has been noted by Mary Stroll, it underscored his humility, presenting him as kneeling at Mary’s feet.25 In this way, he demonstrated his own reverence, both to the Virgin herself and to the image of Maria Regina, and thus followed the model provided by the pope represented in the panel preserved in his titular basilica in Trastevere. After having regained control over Rome in 1138, Innocent II consistently erased the name of his opponent from the Lateran apse. Not only did he rename Anaclet II on the fresco as Anastasius IIII and replace the name of Anaclet II in the inscription with the name of Callixtus II, but he also changed the name of Pope Anaclet I into Anastasius. Innocent did not confine himself to the policy of damnatio memoriae of his antagonist, but also conducted a clever policy of re-appropriation which involved, above all, Anaclet’s former titular basilica of Santa Maria in Trastevere. Innocent II undertook the restoration of the basilica and commissioned a mosaic in the apse in which the image of Mary appears (Fig. 8), to a degree patterned after the panel representing the Maria Regina: depicted frontally and dressed in imperial garb.26 However, this was not the only model for the mosaic in which the queenly Virgin was incorporated into a complex iconographic program. 25 Stroll: Symbols (see n. 10), 144. 26 Kitzinger, Ernst: A Virgin's face. Antiquarianism in twelfth-century art. In: The Art Bulletin 62 (1980), 6–19 (here 13–19). Recently on the mosaic: Tiberia, Vitaliano: Mosaici del XII secolo e di

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Fig. 8: Mosaic in the apse. Rome, Santa Maria in Trastevere.

The mosaic in the apse of Santa Maria in Trastevere is renowned as one of the earliest representations of the Triumph of Mary in Christian iconography, being at the same time in many respects unusual. The very technique of mosaic, quite rare in Rome at that time, may be regarded as a mark of traditionalism. The composition combines two main principles, both being deeply rooted in the early medieval art of Rome, but functioning separately until the mid-twelfth century. The first principle consists of presenting the figure of Christ on the central axis of the apse, flanked by standing figures of saints and the founder (usually on the extreme left), with a sort of ‘predella’ of twelve sheep approaching the Lamb. One may quote again the mosaics of Santa Prassede or Santa Cecilia in Trastevere founded by Paschal I (Fig. 6), but the earliest preserved example of this composition is the sixth-century mosaic in the apse of the church Santi Cosma e Damiano. This scheme was still used in the twelfth century – for instance, in the non-existent apse decor of San Lorenzo in Lucina (1130–1138).27 Exceptionally, Christ alone was replaced by Mary, as in the apse of the chapel of San Venanzio in the Lateran baptistery. This leads us to the other principle, less common in the art of Rome, according to which the enthroned

Pietro Cavallini in Santa Maria in Trastevere. Restauri e nuove ipotesi. Todi 1996, 41–105; Kinney, Dale: The Apse Mosaic of Santa Maria in Trastevere. In: Reading Medieval Images. The Art Historian and the Object, ed. by Elizabeth Sears and Thelma K. Thomas. Ann Arbor 2002, 19–26. 27 Romano, Serena: La perduta decorazione del catino absidale di San Lorenzo in Lucina. In: Andaloro/Romano (see n. 23), no 50, 294–295.

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Virgin appears in the center of the apse. An example can be found in the church of Santa Maria in Domnica, where the choir wall features two additional figures of prophets who point towards the apse (Fig. 5). In the choir of Santa Maria in Trastevere, these two ideas were combined in the synthronoi Christ and Mary, flanked by seven figures, of which one, placed at the extreme left, was the founder, with twelve sheep approaching the Lamb in the ’predella’ and Isaiah and Jeremiah on the choir wall.28 With early medieval apse mosaics, it is usually the case that the founder was distinguished from saints by means of a square nimbus or lack of one, while in Santa Maria in Trastevere, the only difference between the holy martyrs and Innocent II is that they hold books in their hands, while he is exhibiting a model of the building. Apparently, he neither expresses his hope for redemption, nor requests of Mary to intercede on his behalf, but rather implies his unshakeable certainty of being redeemed. If Anaclet II in the Lateran chapel of St. Nicholas underscored his humility, Innocent in the apse of Santa Maria in Trastevere undoubtedly demonstrated his triumph. This was, however, presented as not only his personal victory over the antipope, but also as that of the entire Church. In the Trastevere apse, there is no kneeling person to touch the foot of Mary or Christ. Nonetheless, the very motif of direct, tangible contact is still present, because Christ embraces Mary. Such a gesture can be found in apse mosaics in Rome (for instance, in those founded by Paschal I – in Santa Prassede, Paul embraces a saintly Virgin, and in Santa Cecilia it is Paschal himself who is embraced by a Virgin Saint) but it is somewhat unusual in the representations of the Triumph of the Virgin, even if the symbols of love are recurrent motifs in this iconography. In the mosaic of Santa Maria in Trastevere, the gesture of embracing was additionally highlighted by the inscription from the Canticle of canticles on the scroll kept by Mary (“His left hand is under my head, and his right hand shall embrace me,” Cant. 2,6). Christ, in turn, addresses to Mary words written in his opened codex, which identify her as a queenly Bride: “Come, my chosen one, and I will place in you my throne.” This suggests a dialog between Mary and Christ; however, there is no visual contact between them. Mary gazes at the beholder and points at Christ with her left hand. This gesture is known from the representations of Mary named Madonna Avvocata and refers to her intercession, which was considered, as has been mentioned above, her main prerogative as the Queen. Passages from the Canticle and, particularly, the verse written on Christ’s codex were used in the liturgy of the feast of Assumption of Mary.29 Thus, the Bride was

28 Relationships among mosaics in SS. Cosma e Damiano, S. Prassede, S. Cecilia etc. have been already noted by Matthiae, Guglielmo: Mosaici medioevali delle chiese di Roma. Rome 1967, esp. 307–310. 29 The role played by apse mosaics in the competition between the basilicas of Santa Maria Maggiore and Santa Maria in Trastevere and the role of images during the Assumption procession celebrated in Rome are separate issues that cannot be discussed here. See: Matthiae (see n. 28), 307;

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unambiguously identified with Mary. Likewise in the exegesis of the Canticle, which flourished in the twelfth century, the Bride was usually interpreted as a symbol of the Church, but also as the Old Testament type of Mary. Bernard of Clairvaux – one of the most prominent commentators on the Song of Songs, and a faithful adherent of Innocent II in the 1130s – in his sermons written around 1137 added yet another layer to the interpretation of the Bride, describing her as the model for a Christian soul.30 In this specific historic situation, the representation of the Groom embracing his Bride could have additionally become the image of Christ reconciled with the Church after the schism of Anaclet II. The Church as the Bride of Christ was often contrasted with the rejected Bride: the Synagogue. Anaclet II – Pietro Pierleoni – descended from an eleventh-century Jewish convert, a fact often recalled by his opponents, such as Bernard of Clairvaux.31 Further claims against Anaclet concerned his doubtful morals in terms of sexual promiscuity, whereas the legitimate Bride was definitely a virgin and Bernard of Clairvaux elaborated upon this motif, including in his sermons, where he emphasized the value of celibacy.32 Both the theological and political message, it must be acknowledged, are thus present in the apse mosaic of Santa Maria in Trastevere, alluding to the panel of Maria Regina. All the same, Mary was shown as the Queen interceding on behalf of the faithful, and concurrently as a model for the Christian souls who are invited to such an intimate relationship with Christ, as represented in the mosaic.

Madonna della Clemenza The cult of the image of Santa Maria in Trastevere has been directly recorded since the mid-sixteenth century, when the image became famous as the Madonna della

Kitzinger (see n. 26), 11–19; Tronzo, William: Apse decoration, the liturgy and the perception of art in medieval Rome. S. Maria in Trastevere and S. Maria Maggiore. In: Italian Church Decoration of the Middle Ages and Early Renaissance. Functions, Forms and Regional Traditions. Ten Contributions to a Colloquium Held at the Villa Spelman, Florence, ed. by William Tronzo. Bologna 1989, 167–193 (esp. 184); Wolf, Gerhard: Salus Populi Romani. Die Geschichte römischer Kultbilder im Mittelalter. Weinheim 1990; Parlato, Enrico: Le icone in processione. In: Arte e iconografa a Roma da Costantino a Cola di Rienzo. Milano 2000, 69–92; Pace, Valentino: Traduzione e rivalità. Aspetti dell’arte romana alle soglie del primo giubileo. In: Acta ad archaeologiam et artium historiam pertinentia 16 [N.S. 2] (2002), 63–90 (esp. 79). 30 Bernardus Claraevalensis: Sermones in Cantica canticorum. In: Patrologiae cursus completus, series Latina, ed. by Jean-Paul Migne [= PL], vol. 184, Paris 1854, cols 785 ff, esp. Sermo 85, cols 1185–1187 – Cf. Honorius Augustodunensis: Expositio in Cantica Canticorum. In: PL, vol 172, cols 347 ff; idem: Sigillum Sanctae Mariae. In: ibidem, cols 501 ff. 31 Stroll: Symbols (see n. 10), p. 125. 32 Hodne, Lasse: The Bride and Groom of the “Canticum novum”. In: Acta ad archaeologiam et artium historiam pertinentia, N.S. 21 (2008), 139–151; Aronberg Lavin, Marilyn: Maria-Ecclesia and the Meaning of Marriage on the Late 13th Century. In: ibidem, 153–170 (esp. 160–161).

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Clemenza. The very name of the Virgin “de Clementia” was first mentioned by a canon of the basilica, Tomasz Treter, in a handwritten and illuminated parchment of 1579, where he described the history of Santa Maria in Trastevere.33 This title expresses the hope for the intercession of Mary while alluding to her imperial appearance, since clemency is an imperial virtue par excellence. It also fits well with the iconography of the enthroned Virgin with the kneeling pope at her feet, the ancient theme of clementia imperatoris being related to the scenes of emperors receiving the homage.34 In 1593, the panel was ceremonially transferred to a chapel erected in 1584– 1589 by Marco Sittico Altemps, the titular cardinal of the basilica Santa Maria in Trastevere from 1580 onwards. The inscription in the frieze declares that the chapel was built with the specific intent of honoring the Madonna della Clemenza (Fig. 9).35 It comes, therefore, as no surprise that the glory of Mary plays an important role in the iconographical program of the decoration of the Cappella Altemps. The vault displays a Marian cycle, which stresses her share in the history of Redemption and is crowned with a scene of the Assumption in the central medallion. The other important theme of the decoration of the chapel is the Council of Trent, depicted in the two large frescoes on the side walls: the third stage of the Council sessions and the Confirmation of the Council acts. The wall paintings in the Cappella Altemps are attributed to Pasquale Cati, but the iconographical program was shaped by Tomasz Treter, who eagerly involved himself in Cardinal Altemps’ activities in the basilica.36 However, the Cappella Altemps was built not only to house the Madonna della Clemenza, but was also supposed to be a sepulchral family chapel. As early as 1588, Fra Santi mentioned that Altemps had built the chapel next to the choir where he wanted the image of the glorious Virgin to be transferred and also built the burial place for himself and for his family.37 As a matter of fact, first the Cardinal’s son, Roberto († 1586), and subsequently Marco Sittico Altemps († 1595) himself were bur-

33 Manuscript in Archivio Storico del Vicariato di Roma, Arciconfraternità del SS. Sacramento in S. Maria in Trastevere; fragments quoted in: Weißenberger, Johanna: Römische Mariengnadenbilder 1473–1590: Neue Altäre für alte Bilder. Zur Vorgeschichte der barocken Inszenierungen, Diss. Heidelberg 2007, 175. 34 Brilliant (see n. 12), 192 f. 35 The presence of the icon in the chapel was recorded by Panciroli who also mentioned the image known as the Madonna della Clemenza – Panciroli, Ottavio: I tesori nascosti nell'alma città di Roma. Rome 1600, 590. 36 The thesis on Treter’s contribution was proposed by Bertelli, Carlo: Di un cardinale dell’impero e di un canonico polacco in Santa Maria in Trastevere. In: Paragone 327 (1977), 89–107 (here 104) and elaborated upon by Chrzanowski, Tadeusz: Działalność artystyczna Tomasza Tretera, Warsaw 1984; Weißenberger (cf. n. 33), 178–181; Jurkowlaniec, Grażyna: Cult and patronage. The Madonna della Clemenza, the Altemps and a Polish canon in Rome. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 72 (2009), 69–98. 37 Fra Santi: Stationi delle chiese di Roma. Rome 1588, fol. 43v.

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Fig. 9: Rome, Santa Maria in Trastevere, Cappella Altemps, altarpiece with the image of Maria Regina.

ied in the chapel. The former was commemorated by a tombstone placed outside the chapel, but juxtaposed with and patterned after Hosius’s tombstone, erected on the opposite side of the choir.38 The latter was commemorated by a simple gravestone in the floor, just at the entrance to the chapel, and this was probably the only trace of humility shown by the founder. Otherwise, his alleged virtues and merits were marked in various ways. Above the entrance is the Altemps coat of arms, with a cardinal’s hat, and, surmounting it, a Medici coat of arms with a tiara, supported by putti (Altemps being a maternal nephew of Giovanni Angelo de’ Medici, the future Pope Pius IV). Inside, the cardinal’s coat of arms is also featured at all the corners of the entablature and the aforesaid inscription in the frieze comprises his name. Most important of all, on the west wall, above the image of the Madonna della Clemenza displayed in the altar is a likeness of Pope Pius IV together with Cardinal Altemps and bearing the inscription

38 Bertelli (see n. 36); Jurkowlaniec, Grażyna: A Surprising Pair. The Tombstones of Cardinal Hosius and Cardinal Altemps’ Son, Roberto, in the Basilica of Santa Maria in Trastevere in Rome. In: Ikonotheka 19 (2006), 221–236 (= Artem quaevis alit terra. Studia professori Piotr Skubiszewski anno aetatis suae septuagesimo quinto oblata, ed. by Grażyna Jurkowlaniec. Warsaw 2006).

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APERVIT ET CLAVSIT – a reference to the role played by Pius IV during the last stage of the Council of Trent (depicted on the side walls of the chapel) but at the same time a clear allusion to the supposed Altemps’ importance. Thus, the Cappella Altemps in Santa Maria in Trastevere glorified both the venerated image of the Virgin and its founder. Displaying the image in a private chapel, rather than in the main altar of the church is, in itself, meaningful. In the 1560s, Altemps’ uncle, Pius IV, had the image of the Madonna di Aracoeli (believed to have been painted by St. Luke) transferred from a chapel to the main altar of the church of Santa Maria in Aracoeli, Rome, where it replaced the Madonna di Foligno by Raphael.39 Altemps, in turn, chose to “appropriate” the image and display it in his own chapel in Santa Maria in Trastevere. This was not the only endeavor testifying to the interest in the Madonna della Clemenza shown by the Cardinal and other representatives of the Altemps family. Marco Sittico established a Roman branch of the Altemps family when his son Roberto was born in 1560. Soon the Cardinal started erecting a palace in Rome that was supposed to be a seat of his house. The decoration of the studiolo, an interior directly adjoining the Cardinal’s bedroom in the Palazzo Altemps, is almost contemporary to the decoration of the Cappella Altemps.40 The central part of the vault of the studiolo features an imprecise copy of the Madonna della Clemenza (Fig. 10). The view is still consistently frontal, but the figures of angels have been omitted. The depiction of the Virgin and Child is surrounded by the scenes of Annunciation, Visitation, Nativity and Adoration of the Magi, while the corners contain the coats of arms of Pope Pius IV, Cardinal Altemps, his father (Wolfgang Hohenems) and son (Roberto Altemps – the duke of Gallese). We are dealing here, therefore, with a slightly abbreviated and transformed program from the chapel in Santa Maria in Trastevere: the motif of the Council of Trent has been abandoned (a decision quite understandable in a private space) and the family heraldic program has been expanded. Eventually, in 1603, the Cardinal’s grandson, Giovanni Angelo Altemps, had constructed in the palace the chapel of St. Anicetus to house a copy of the Madonna della Clemenza in the altar. Thus, the Madonna della Clemenza, in spite of its various features, became a quasi family devotional image. In the late sixteenth and early seventeenth centuries, guides to Rome and diaries of pilgrims referred to the Madonna della Clemenza, but it did not enjoy as great a popularity as other medieval images in Rome. Subsequently, both the Traste-

39 Ferino Pagden, Sylvia: From Cult Images to the Cult of Images. The Case of Raphael’s Altarpieces. In: The Altarpiece in the Renaissance, ed. by Peter Humfrey and Martin Kemp. Cambridge 1990, 177–178. 40 Scoppola, Francesco: Memoria della casa. Architettura: dalla composizione al restauro. In: Palazzo Altemps. Indagini per il restauro della fabbrica Riario, Soderini, Altemps, ed. by Francesco Scoppola. Rome 1987, 41; Petraroia, Pietro: “Per dar piacere a la speculazione”. Dipinti sacri e profani nella dimora di Girolamo Riario, di Francesco Soderini e degli Altemps. In: ibidem, 223– 225.

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Fig. 10: Rome, Palazzo Altemps, studiolo of the Cardinal, vault.

vere image and its copy in the chapel of the Palazzo Altemps were officially distinguished with golden crowns by the Chapter of St. Peter’s in 1659 and 1673, respectively,41 and thus, only in the late seventeenth century, their status as miraculous images came to be publicly confirmed.

41 Sindone, Raffaele: Elenco istorico, e Cronologico delle miracolose Immagini di Maria Vergine coronate con Corone d’Oro dal R(everendissi)mo Capitolo di S. Pietro in Vaticano… (1756), manuscript in Rome, Biblioteca Apostolica Vaticana, Archivio del Capitolo di San Pietro, Madonne Coronate, vol. 27, fol. 64–65 and 219.

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Zweifaches Bekenntnis Ein konfessioneller Bilddiskurs in einem Görlitzer Bürgerhaus des 16. Jahrhunderts Etwa gleichzeitig zu der in diesem Band dokumentierten Tagung wurden bei Restaurierungsarbeiten in einem Görlitzer Bürgerhaus, dem sogenannten Schwibbogen, großflächige Wandmalereien des 16. Jahrhunderts gefunden. Nach ihrer vollständigen Freilegung zeigte sich ein außergewöhnliches Bildprogramm, das als ein zweifaches Bekenntnis des einstigen Auftraggebers zur lutherischen Konfession und zur Landesherrschaft der katholischen Habsburger verstanden werden kann. Im halböffentlichen Raum eines bürgerlichen Wohnhauses entfaltet es sich als vielschichtiger Bilddiskurs über Fragen der selbstbestimmten Konfessionswahl, des rechtmäßigen Glaubens, aber auch der irdischen und himmlischen Gerechtigkeit. Beispielhaft führt es die Möglichkeiten einer konfessionellen Codierung der häuslichen Sphäre während der Reformationszeit vor Augen. Der folgende Text stellt Überlegungen zum ausführenden Künstler, zur Motivation des Auftraggebers und der den Gemälden zugrunde liegenden Programmatik an.1

Die Wandmalereien und ihr Standort Das Haus Obermarkt 34, an dessen Westseite der sogenannte Schwibbogen angefügt ist, liegt an exponierter Stelle in der Görlitzer Altstadt (Abb. 1). Unmittelbar vor dem Haus verlief über Jahrhunderte die wichtige Fernhandelsstraße Via regia, die vom kleinpolnischen Krakau bis ins Rhein-Main-Gebiet führte und bedeutende Städte miteinander verband.2 Westlich grenzt das Gebäude an den Chor der ehemaligen Franziskanerkirche. Der Görlitzer Bürger und Kaufmann Hieronymus Schneider (seit 1562 Schnitter) erwarb das Haus, dessen Baugeschichte vermutlich bis in das

1 Für wertvolle Anregungen aus gemeinsamen Gesprächen über die Wandgemälde im Görlitzer Schwibbogen danke ich ganz herzlich Prof. Dr. Angelica Dülberg, Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. 2 Zur Via regia vgl.: Via regia. 800 Jahre Bewegung und Begegnung. Katalog der 3. Sächsischen Landesausstellung in Görlitz. Hg. v. Roland Enke, Bettina Probst. Dresden 2011 – Menschen unterwegs. Die Via regia und ihre Akteure. Essayband zur 3. Sächsischen Landesausstellung. Hg. v. Winfried Müller, Swen Steinberg. Dresden 2011 – Eine Übersicht zu Görlitz in der Frühen Neuzeit bietet: Wenzel, Kai: Görlitz. In: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Adam, Sigrid Westphal. Berlin u. a. 2012, 595–639. https://doi.org/10.1515/9783050051659-017

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Abb. 1: Der Görlitzer Schwibbogen (rot markiert) in seiner Lage am Obermarkt (oben) und neben der Franziskanerkirche (links); Ausschnitt aus Johann Georg Mentzel nach Daniel Petzold, Görlitz aus der Vogelperspektive, 1714, Kupferstich. Kulturhistorisches Museum Görlitz.

13. Jahrhundert zurückreicht, im Jahr 1529.3 Bereits um 1500 hatte es eine großzügige Erweiterung erfahren, bei der nach Süden ein saalartiger Raum sowie vermutlich ein feuerfestes Gewölbe zur Aufbewahrung von wertvollen Gegenständen und Dokumenten angefügt worden waren.4 Wie der Görlitzer Konsul Paul Schneider in seinem Tagebuch berichtet, ließ dann Hieronymus Schneider 1533 „das gewelbe von seym hause an der Monche kyrche und kor“ errichten.5 Gemeint ist damit der auf der Westseite an das Haupthaus angefügte Schwibbogen, dessen Eigenname von der tunnelartigen Durchfahrt herrührt, über der sich das Gebäude erhebt. Sie überspannt eine kurze Gasse, durch die einst die Zufahrt zum städtischen Marstall verlief. Nur durch diese aufwendige bauliche Lösung war es Schneider überhaupt mög-

3 Das Haus war ein neunbieriger Brauhof (verbunden mit dem Recht, neunmal im Jahr Bier zu brauen) und gehörte damit zu den hochwertigen Immobilien der Stadt. Zu den Görlitzer Brauhöfen und den mit ihnen verbundenen Vorrechten vgl. Lindenau, Katja: Brauen und herrschen. Die Görlitzer Braubürger als städtische Elite in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Leipzig 2007 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 22) – Die Angaben zur Baugeschichte des Hauses basieren auf den bauarchäologischen Untersuchungen, die im Rahmen der jüngsten Sanierung von Dr. Hartmut Olbrich vorgenommen wurden. Das Protokoll (Olbrich, Hartmut: Das Haus Obermarkt 34 in Görlitz. Mschr. Görlitz 2011), befindet sich im Archiv der Unteren Denkmalschutzbehörde Görlitz, Hausakte Obermarkt 34. 4 Solche gewölbten, meist gut gesicherten Räume in Nachbarschaft der Festsäle werden in Görlitz umgangssprachlich als Schatzkammern bezeichnet. Die bekannteste ist die mit Wandmalereien aus der Zeit um 1500 ausgestattete im Haus Untermarkt 5; vgl dazu: Dülberg, Angelica: Die illusionistischen Wandmalereien in der sogenannten „Schatzkammer“ des Hans Frenzel. In: Die Kunst im Markgraftum Oberlausitz während der Jagiellonenherrschaft. Hg. v. Tomasz Torbus. Ostfildern 2003 (Studia Jagellonica Lipsiensia 3), 149–162 – siehe auch Uricher, Christoph: Görlitzer Hallenhäuser. Untersuchungen zur Entwicklung eines Haustyps. Karlsruhe 2003, 235. 5 Schulze, Ewald: Diarium des Görlitzer Consul Paul Schneider. In: Neues Lausitzisches Magazin 71 (1895), 1–69, hier 30.

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lich, die Erweiterung seines Hauses durchzuführen. Denn das Grundstück weist im Vergleich zu den weitaus tieferen Nachbargrundstücken eine nachteilige Lage auf, da es auf drei Seiten von aufeinanderzulaufenden Straßen eingeschlossen ist. Die Überbauung der angrenzenden Gasse als einzige Option für eine Erweiterung macht den Schwibbogen zu einem interessanten Beispiel für die zunehmende Verdichtung städtischen Raumes an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, als das patrizische Bauen durch Impulse aus dem höfischen Bereich sowie aus der bürgerlichen Kultur Italiens, Frankreichs und der Niederlande eine neue Intensität erfuhr.6 Die für Görlitz einzigartige Situation einer überbauten Gasse wurde Schneider wohl nur zugestanden, da er über beste Verbindungen zum Görlitzer Rat verfügte. Auf seiner Nordseite erhielt der Schwibbogen eine Schaufassade in Formen der Frührenaissance. Sie ist im ersten Obergeschoss mit einer Pilastergliederung verziert, die Ähnlichkeiten aufweist zur Gestaltung des Görlitzer Schönhofs (nach 1526), der zeitweise Schneiders Bruder Onophrius gehörte sowie zu den Fensterrahmungen des Hauses Peterstraße 8 (1528), das wiederum im Besitz von Hieronymus zweitem Bruder, Franz Schneider, war.7 Einer Zeichnung des ausgehenden 18. Jahrhunderts nach zu urteilen (Abb. 2), die das Gebäude vor späteren Umbauten zeigt, besaß das zweite Obergeschoss eine Putzgliederung, die die Formen des darunter liegenden Fassadenbereichs vereinfacht wieder aufgriff. Bekrönt wurde das Gebäude von Schaugiebeln, wie sie für die Görlitzer Profanarchitektur der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts typisch sind.8 In dieser Gestaltung präsentierte sich der Schwibbogen von außen als ein kostbares, primär für repräsentative Zwecke errichtetes Gebäude. Nach einem Brandschaden im Jahr 1817 erfuhr der Bau bis 1819 eine eingreifende Umgestaltung, wobei die Giebel zugunsten eines dritten Stockwerks abgebrochen wurden. Im ersten Obergeschoss blieb die ursprüngliche Raumstruktur glücklicherweise erhalten. Hier liegen zwei Räume nebeneinander, die vermutlich vom (nicht mehr vorhandenen) Saal im Haupthaus aus zugänglich waren. In ihrer Struk-

6 Dazu als Überblick: Fouquet, Gerhard: Große Städte – kleine Häuser. Wohnen und Lebensformen der Menschen im ausgehenden Mittelalter (circa 1470–1600). In: Geschichte des Wohnens. Bd. 2, 500–1800. Hausen, Wohnen, Residieren. Hg. v. Ulf Dirlmeier. Stuttgart 1998, 347–501, hier 409–417. 7 Zum Schönhof: Iseler, Maritta: Bauwesen und Architektur der Stadt Görlitz. Repräsentationsformen an der Schwelle zur Frühen Neuzeit. Bernstadt a.d.E. 2014 (Beihefte zum Neuen Lausitzischen Magazin 13), 156–197; zum Haus Peterstraße 8 Ebd., 198–217. 8 Kulturhistorisches Museum Görlitz, Johann Gottfried Schultz, Zeichnungen, Bd. 3, Bl. 3 – Weitere Ansichten, wie eine Zeichnung in der Chronik von Christian Gabriel Funcke (Ratsarchiv Görlitz [weiter RA Görlitz], Chronik des Christian Gabriel Funcke, Bl. 361) legen nahe, dass es sich um Rundbogengiebel handelte, wie sie in Böhmen, Sachsen und Schlesien seit den 1520er Jahren verbreitet waren. Die Zeichnung von Nathe zeigt, dass sie wohl während des 17. Jahrhunderts im Zuge einer Neugestaltung des Giebels auf dem Haupthaus verändert wurden.

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Abb. 2: Christoph Nathe, Nordseite des Görlitzer Schwibbogens, um 1800, Pinsel in Wasserfarben. Kulturhistorisches Museum Görlitz.

tur ergeben sie einen eigenen Wohnbereich, wie er sich als sogenanntes StubenAppartement zunächst in der höfischen Baukultur des ausgehenden Mittelalters etabliert hatte. Die aus beheizbarer Stube und anschließender Kammer bestehende Wohneinheit gilt als eine wesentliche, aus Frankreich übernommene Neuerung im Raumprogramm des mitteldeutschen Schlossbaus der Spätgotik und frühen Renaissance.9 In Frankreich hatte sich das Stuben-Appartement als Vorform des später dreiteiligen Appartements um die Mitte des 15. Jahrhunderts herausgebildet und blieb der Unterbringung hochstehender Personen vorbehalten.10 Auch für die Räume im Schwibbogen kann eine solche Funktion angenommen werden, dienten die großen Görlitzer Bürgerhäuser doch stets als Wohnquartiere für hohen Besuch, z. B. während der Aufenthalte der böhmischen Landesherren in der Neißestadt.11 So gab es im Görlitzer Schönhof einen Raum, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als „des Königs Kammer“ bezeichnet wurde.12 Die im Schwibbogen geschaffenen

9 Hoppe, Stephan: Die funktionale und räumliche Struktur des frühen Schlossbaus in Mitteldeutschland. 1470–1570. Köln 1996, 40–77. 10 Albrecht, Uwe: Der Adelssitz im Mittelalter. München-Berlin 1995, 79–84, 108–118; Hoppe (wie Anm. 9), 365–377. 11 Zu den Aufenthalten der böhmischen Landesherren und anderer hoher Besucher in Görlitz um die Mitte des 16. Jahrhunderts siehe Jecht, Richard: Fürstliche Besuche in Görlitz. Görlitz 1893, 43– 50. 12 Jecht, Richard: Geschichte der Stadt Görlitz. Bd. 1,2. Topographie der Stadt Görlitz. Görlitz 1927– 1934, 352. Die Frage, ob es in Görlitzer Bürgerhäusern Wohnräume gab, die für den Aufenthalt

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Abb. 3: Paul Riese (?), Malereien im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens (Süd- und Westwand), um 1555/60.

Wohnräume mit der nach Süden ausgerichteten Kammer waren für die Unterbringung fürstlicher Besucher bzw. Angehöriger des mitreisenden Hofes und anderer illustrer Gäste bestens geeignet, worin vermutlich auch die Funktion dieses Anbaus zu sehen sein wird. In dieser Kammer wurden die hier interessierenden Wandmalereien aufgefunden (Abb. 3). Sie erstrecken sich über drei Wände des Raumes und waren vermutlich noch bis zur Umgestaltung des Schwibbogens im frühen 19. Jahrhundert sichtbar. Der Einbau einer neuen, tiefer ansetzenden Geschossdecke führte damals zur partiellen Zerstörung der oberen Gemäldepartien, während die restlichen Flächen mit einer Kalktünche abgedeckt wurden. Die Ost- und Westwand des Raumes sind jeweils durch zwei Bogennischen gegliedert, von denen allerdings immer nur eine mit Malereien ausgestattet wurde, während die anderen vermutlich hölzerne Einbauten besaßen. Die Malereien an der Ostwand sind in zwei Zonen aufgebaut (Abb. 4): den oberen Teil der Wandfläche nimmt eine großformatige Darstellung mit verschiedenen Szenen aus der alttestamentarischen Abrahamserzählung ein. Das Zentrum der Komposition bildet die Fi-

hochrangiger Gäste vorbehalten waren, ist in Zukunft noch näher zu untersuchen, auch im Vergleich mit ähnlichen Raumprogrammen in Bürgerhäusern der freien Reichsstädte, deren Kultur und Repräsentationsformen stets den Maßstab für das Bürgertum der königlich böhmischen Stadt Görlitz bildeten.

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Abb. 4: Paul Riese (?), Malereien auf der Ostwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens, um 1555/60; oben: Szenen aus der Abrahamslegende, unten: Bildnisse von Friedrich dem Weisen, Karl V., Isabella von Portugal, Ferdinand I. und Anna von Böhmen und Ungarn.

gur Isaaks, der von seinem Vater zum Opferplatz geführt wird und ein Holzbündel auf seinem Rücken trägt (Abb. 5). Umgeben ist die Szene von kleineren Darstellungen, die – eingebettet in einen verbindenden Landschaftsraum – weitere Episoden der Abrahamslegende schildern, wie die durch den Deckeneinbau des 19. Jahrhunderts teilweise verdeckte Opferung Isaaks, Hagar und Ismael in der Wüste sowie Rebekka und Elieser am Brunnen. Unterhalb findet sich als zweite Zone ein Porträtzyklus weltlicher Herrscher des 16. Jahrhunderts. Zu sehen sind der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise (Abb. 6), Kaiser Karl V. (Abb. 7) mit seiner Gemahlin Isabella von Portugal sowie Kaiser Ferdinand I. (Abb. 8) mit seiner Gemahlin Anna von Böhmen und Ungarn.13 Eingebunden in eine illusionistische Arkatur erscheinen die einzelnen Figuren hinter Brüstungen, über die jeweils Teppiche gelegt sind. Nach dem gleichen Schema wie auf der Ostwand sind auch die Malereien auf der Westwand in zwei Zonen aufgebaut (Abb. 9). Den oberen Teil bedeckt hier die Darstellung von Gesetz und Gnade. Der Komposition des heute in der Gemäldesammlung von Schloss Friedenstein zu Gotha befindlichen Prototyps dieses Bildthemas folgend,14 wird der Landschaftsraum durch einen mittig platzierten Baum in

13 Inschriften mit den Namen der dargestellten Herrscher sind nicht vorhanden bzw. haben sich nicht erhalten. 14 Zum Gothaer Typus siehe: Fleck, Miriam Verena: Ein tröstlich Gemelde. Die Glaubensallegorie „Gesetz und Gnade“ in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Korb 2010 (Studien

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Abb. 5: Paul Riese (?), Abraham führt Isaak zum Opferplatz, Detail der Malereien auf der Ostwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens, um 1555/60.

zwei Hälften geteilt. Die linke Seite repräsentiert das Gesetz bzw. das Alte Testament. Neben dem Baum steht hier Moses, der den Sünder zu seiner Seite auf die göttlichen Gesetze hinweist. Vor ihnen wird ein anderer Sünder durch Tod und Teufel in die Hölle getrieben. Im Bildhintergrund ist der Sündenfall dargestellt, während die Darstellung des ursprünglich über der Szenerie schwebenden Weltenrichters durch den Deckeneinbau des 19. Jahrhunderts zerstört wurde. Die rechte Bildhälfte thematisiert die Gnade bzw. das Neue Testament und zeigt an zentraler Stelle erneut den Sünder, der nunmehr von Johannes dem Täufer durch den allegorischen Landschaftsraum geleitet wird. Beide stehen vor dem Gekreuzigten, hinter dem Maria kniend auf dem Berg Zion das aus den Wolken herabschwebende Christuskind als Zeichen der göttlichen Gnade empfängt. Darunter ist der aus dem Grab auferstehende Christus wiedergegeben (Abb. 10). Die Figur des zum Himmel auffahrenden Heilands wurde ebenfalls durch die neuzeitliche Deckenkonstruktion zerstört. Nur noch fragmentarisch erkennbar ist auch die Szene der Errichtung der Ehernen Schlange, die dem Gekreuzigten gegenübergestellt war. Unterhalb der Darstellung von Gesetz und Gnade findet sich erneut eine illusionistische Arkatur, in

zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit), 17 f. – Reinitzer, Heimo: Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte. Bd. 1. Hamburg 2006, 46–51.

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Abb. 6: Paul Riese (?), Bildnis Kurfürst Friedrichs des Weisen, Detail der Malereien auf der Ostwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens, um 1555/60.

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Abb. 7: Paul Riese (?), Bildnis Kaiser Karls V. (Detail der Malereien auf der Ostwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens), um 1555/60.

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Abb. 8: Paul Riese (?), Bildnis König Ferdinands I., Detail der Malereien auf der Ostwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens, um 1555/60.

die Bildnisse eingefügt wurden. Allerdings handelt es sich hier nicht um zeitgenössische Persönlichkeiten, sondern um fünf antike Frauenfiguren mit allegorischem Gehalt: Admete, Artemisia, Lukretia, Thisbe und Hyppo (Abb. 11). Auffällig ist das Fehlen von Beschriftungen in sämtlichen Darstellungen.15 Nicht nur für die stets von Texten begleitete Allegorie von Gesetz und Gnade, sondern auch für die Abrahamslegende, die Herrscherbildnisse und die Darstellungen der antiken Frauengestalten wären sie naheliegend. Es ist möglich, dass kürzere Inschriften einst direkt in den einzelnen Bildern angebracht waren, jedoch durch das spätere Übertünchen mit Kalkfarbe verloren gingen. Das gilt auch für feinere Teile der Malerei, wie z. B. den die göttliche Gnade symbolisierenden Blutstrahl, der aus der Seitenwunde des Gekreuzigten auf den vor ihm stehenden Sünder schoss. Bei beiden Wänden fällt eine zwischen den Bildzonen liegende, streifenförmige Fläche auf, deren Putz unbemalt geblieben ist. Vielleicht waren an diesen Stellen ursprünglich hölzerne Tafeln angebracht, die erklärende Texte enthielten. In dieser anzuneh-

15 Lediglich ein heute leeres Täfelchen unter der Figur der Lukretia deutet auf eine ehemals dort vorhandene Beschriftung hin, wobei es sich dabei auch – da es das einzige derartige Täfelchen bleibt – um eine Datierung oder Signatur gehandelt haben könnte.

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Abb. 9: Paul Riese (?), Malereien auf der Westwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens, um 1555/60; oben: Gesetz und Gnade, unten: fünf Frauenfiguren der Antike.

Abb. 10: Paul Riese (?), Detail der Gesetz-und-Gnade-Darstellung auf der Westwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens, um 1555/60.

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Abb. 11: Paul Riese (?), Detail der Darstellung der fünf antiken Frauen auf der Westwand im ersten Obergeschoss des Görlitzer Schwibbogens, um 1555/60.

menden Erscheinung hätten die Wandgemälde nicht nur durch ihre instruktiven Kompositionen, sondern auch durch beigefügte Erläuterungen eine didaktische Wirkung entfaltet.

Maler und Auftraggeber Der Eigentümer und Bauherr des Schwibbogens, Hieronymus Schneider, entstammte einem alteingesessenen Görlitzer Geschlecht und war als Fernhandelskaufmann mit familiären Verbindungen nach Nürnberg tätig.16 Kaiser Karl V. hatte 1536 das Wappen der Schneiders gebessert.17 Ferdinand I. erhob die Familie schließlich 1562 in den Adelsstand, worauf der Name in Schnitter geändert wurde.18 Hieronymus’

16 Fritsch, Paul: Alte Görlitzer Geschlechter und die Wappen derselben […]. Görlitz 1891, 46 f. – Wie aus dem ersten Testament des Hieronymus Schneider (RA Görlitz: Liber resignationum 1555– 1561, Bl. 118r–121v) hervorgeht, hatte er aus erster Ehe einen gleichnamigen Sohn, der in Nürnberg lebte. Dessen Tochter Barbara Schnitter heiratete später in die angesehene Nürnberger Tucher-Familie ein. 17 Fritsch (wie Anm. 16), 46 – vgl. zur Geschichte der Familie auch Wentscher, Erich: Die Entfaltung der Schnitter in Görlitz und Zittau. In: Der Herold 10 (1983), 229–258. 18 Fritsch (wie Anm. 16), 46.

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Brüder gehörten dem Görlitzer Rat an und übten zeitweise das Bürgermeisteramt aus. Das sicherte ihm, obwohl er selbst nie in der Stadtregierung aktiv war, eine große Nähe zur lokalen Macht. Aus seinem Testament, das Hieronymus wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1562 aufsetzen ließ, ist zu erfahren, dass er über einen umfangreichen Bargeldbestand und Besitz an Handelswaren sowie über Bergwerksanteile und Grundbesitz verfügte, zu dem das vor den Toren der Stadt gelegene Gut Posottendorf (heute poln. Lasowice) gehörte.19 Insgesamt zeichnet das Dokument das Bild eines wohlhabenden Kaufmanns, der in der Lage war, das Innere seines Hauses kostbar auszustatten.20 Die stilistische Nähe der Wandmalereien zu Arbeiten Lucas Cranach d. Ä. und seiner Werkstatt, die bereits während ihrer Freilegung auffiel, äußert sich nicht nur in der Übernahme des Bildthemas „Gesetz und Gnade“, das durch den Wittenberger Maler seine Ausformulierung erhalten hatte, sondern auch in zahlreichen gestalterischen Details der Figuren. Daher liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem ausführenden Künstler um ein Mitglied der Cranach’schen Werkstatt gehandelt haben könnte – eine Hypothese, die sich durch Schriftquellen plausibel untermauern lässt.21 Zu den zahlreichen Gesellen der Cranach-Werkstatt gehörte der Maler Paul Rys, der erstmals 1537/38 bei den Ausmalungen im Johann-Friedrich-Bau des Torgauer Schlosses erwähnt wird. Hier war er an den Arbeiten in der sogenannten Spiegelstube über dem Großen Wendelstein beteiligt.22 Angesichts der Variantionsbreite für die Schreibweise des Namens Rys in der Frühen Neuzeit, spricht einiges dafür, dass jener Paul Rys identisch ist mit dem ab 1553 in Görlitzer Quellen erscheinenden Maler Paul Riese.23 Ein weiteres Indiz dafür ist der Umstand, dass Riese just zu jener

19 RA Görlitz: Liber resignationum 1561–1568, fol. 61v–64r – Boetticher, Walter von: Geschichte des Oberlausitzischen Adels und seiner Güter. Bd. 3. Görlitz 1919, 618. 20 Alleinerbin des Brauhofes mit dem zugehörigen Schwibbogenhaus wurde seine zweite Ehefrau, die darin mit den noch unmündigen Kindern wohnte. Die Erben verkauften 1565 zunächst das Landgut Possottendorf und 1572 schließlich auch den Brauhof: RA Görlitz: Liber resignationum 1565, Bl. 204 und 1572, Bl. 132. 21 Erichsen, Johannes: „Gesetz und Gnade“. Versuch einer Bilanz. In: Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation. Aufsatzband. Hg. v. Dirk Syndram. Dresden 2015, 97–114 kommt zu dem Schluss, dass das Gothaer Schema der Gesetz-und-Gnade-Allegorie außerhalb der Cranach-Werkstatt kaum rezipiert wurde. 22 Noll-Minor, Mechthild: Die Spiegelstube im Großen Wendelstein des Schlosses Hartenfels zu Torgau. In: Sächsische Heimatblätter 42 (1996), 209–217, hier 210 – Schade, Werner: Die Malerfamilie Cranach. Dresden 1974, 46 datiert die Ausmalungen erst auf 1540 und gibt den Namen entgegen der Schreibweise in den Quellen mit Rüss an. Neben Paul Rys war noch ein Maler Hans Rentz als zweiter Geselle sowie ein Knabe Bartel als Gehilfe an den Ausmalungen in der Spiegelstube beteiligt. 23 In den Görlitzer Quellen wird der Name abwechselnd Ries, Rys, Ryse oder Riese geschrieben. Ein ähnlich gelagerter Fall ist der im 16. Jahrhundert im sächsischen Annaberg ansässige bekannte Rechenmeister Adam Ries, für dessen Nachnamen schon zu Lebzeiten divergierende Schreibweisen existierten: Ries, Rieß, Riese, Ryße; siehe dazu: Gebhardt, Reiner/Rom, Anne: Ein Leben auf Re-

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Zeit erstmals in der Neißestadt erscheint, als die Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. durch die Ereignisse der Schlacht bei Mühlberg ihre Tätigkeit nahezu einstellen musste und 1550 in die Hände seines Sohnes, Lucas Cranach d. J., überging.24 Es kann also angenommen werden, dass Riese sich in diesen Krisenjahren einen neuen Arbeitsort suchte, wo er sich eine eigene Werkstatt aufbauen konnte. Im Februar 1553 erhielt „Paul Rise moler“ das Görlitzer Bürgerrecht.25 Vermutlich hatte er sich zuvor bereits einige Zeit in der Neißestadt aufgehalten, um die für die Erlangung des Bürgerrechts notwendigen Bedingungen erfüllen zu können.26 In den 1550er Jahren scheint er der einzige dauerhaft ansässige Maler in Görlitz gewesen zu sein und behielt diese Stellung auch für mindestens zwei Jahrzehnte. Seine Etablierung ist anhand der Schriftquellen gut zu verfolgen: Zu Beginn des Jahres 1555 erwarb er das Haus, in dem er seit 1553 wohnte und das im Görlitzer Handwerkerviertel lag.27 Bereits vier Jahre später konnte er noch ein benachbartes Haus hinzukaufen.28 Dass er ein begabter Künstler gewesen ist, dafür sprechen die bedeutenden Aufträge, die Riese von Seiten des Görlitzer Rates erhielt. So erscheint er erstmals 1560 in den Ratsrechnungen, als er am verzierten Zifferblatt der Rathausuhr arbeitete.29 Zwischen 1564 und 1565 führte er gemeinsam mit dem Kunsttischler Franz Marquirt (Marquart) den finanziell einträglichen Auftrag der Neuausstattung der Ratsstube aus.30 Leider sind die von Riese dort geschaffenen Malereien nicht erhalten, jedoch zeugen die qualitätvollen Holzarbeiten Marquirts, vor allem das Portal im Kleinen Ratssaal, vom hohen Anspruch der Stadtregierung. Ebenfalls im Auftrag des Rates

chenwegen. In: Rom, Anne (Red.): Schatzkammer der Rechenkunst. Historische Rechenbücher im Adam-Ries-Museum Annaberg-Buchholz. Dößel 2008, 14–27, hier 19. Ob für Raul Riese verwandtschaftliche Beziehungen zu einer bereits seit dem 14. Jahrhundert in Görlitz ansässigen Familie Riese bestehen, er mithin aus der Neißestadt stammte, lässt sich an dieser Stelle nicht nachweisen. 24 Schade (wie Anm. 20), 80 f. 25 Wentscher, Erich: Die Görlitzer Bürgerrechtslisten 1379–1600. Görlitz 1928 (Codex diplomaticus Lusatiae superioris V), 139 – siehe auch: Wernicke, Ewald: Maler und Bildschnitzer des Mittelalters in Görlitz. In: Neues Lausitzisches Magazin 52 (1876), 62–77, hier 75. 26 Zum Görlitzer Bürgerrecht in der Frühen Neuzeit siehe: Wenzel, Cornelia: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Stadt Görlitz im 17. Jahrhundert. Görlitz 1993 (Schriftenreihe des Ratsarchivs der Stadt Görlitz 17), 44–47. 27 RA Görlitz: Liber resignationum 1555–1561, Bl. 2v: „Paul Riesen der moler“ kauft ein Haus von Caspar Gehler und seinen in Breslau ansässigen Brüdern Zacharias und Tobias Gehler im Zippel gelegen neben Gregor Neumann. 28 RA Görlitz: Liber resignationum 1555–1561, Bl. 228r: „Paul Riesen der moler“ kauft von Hans Möller ein Haus im Zippel zwischen Gregor Neumanns Häusern gelegen, welches Caspar Gehler mit Vollmacht seiner Brüder zuvor an Hans Möller verkauft hatte. 29 RA Görlitz: Ausgaben Wochenregister 1559–1560, unpag. „Sabato post die Petri et Pauli Ao. 1560 dem Maler vor der Spheren zumach hernach geben 12 Taler“. 30 RA Görlitz: Einnahme und Schuldbuch 1563/64, Bl. 23v – RA Görlitz: Einnahme und Schuldbuch 1564, Bl. 7v – Franz Marquirt arbeitete noch bis 1569 an der Ausstattung der Ratsstube, des Prätoriums und der Handelsstube im Görlitzer Rathaus, vermutlich unter weiterer Beteiligung Paul Rieses.

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vergoldete Paul Riese 1566 die Figuren des unmittelbar vor dem Görlitzer Rathaus auf dem Untermarkt aufgestellten neuen Brunnens. Sie zeigten acht Tugendallegorien und waren Arbeiten des Dresdener Bildhauers Christoph Walter II.31 1570 erscheint Riese wieder in den Ratsrechnungen, als er mit der Erneuerung eines Wappenzyklus‘ in der Ratskanzlei beauftragt wurde, sowie zwei Jahre später noch einmal mit nicht näher bezeichneten Arbeiten.32 Darüber hinaus war er 1569 mit der farbigen Fassung des Taufbeckens in der Hauptkirche St. Peter und Paul betraut.33 Die häufigen Aufträge des Görlitzer Rates sprechen dafür, dass Paul Riese nicht nur sein Handwerk verstand, sondern ein Meister seines Faches war. Nimmt man ihn als Autor der Wandmalereien im Schwibbogen an, dann erscheint deren Datierung in die zweite Hälfte der 1550er Jahre plausibel, als Riese noch am Anfang seiner Görlitzer Tätigkeit stand und bevor Hieronymus Schneider 1562 verstarb. Dagegen spricht auch nicht, dass für den überwiegenden Teil der Darstellungen ältere Druckgrafiken als Vorlagen dienten.34 So folgt das Bild von „Gesetz und Gnade“ einem Holzschnitt, der um 1530 bis 1535 datiert wird, den Riese jedoch an zahlreichen Stellen variierte und vor allem bei den einzelnen Figuren weitaus lebhaftere Gestaltungslösungen fand.35 Die gleiche Druckgrafik gab auch die Anregung für die dem Görlitzer Wandgemälde kompositorisch sehr nahestehende Darstellung des Themas auf dem Epitaph des 1547 verstorbenen Breslauer Reformators Johann Hess.36 Die Bildnisse der fünf antiken Frauen basieren auf einem Holzschnitt von Erhard Schön aus dem Jahr 1531,37 von dem auch die architektonische Gliederung übernommen wurde, in die sowohl die Frauenfiguren als auch die Herrscherdarstel-

31 RA Görlitz: Einnahme und Schuldbuch 1564, Bl. 28v – RA Görlitz: Christian Schäffer: Annalium Gorlicensium. Bd. 5, 1550–1599, unpag [Anno 1565] – vgl. zu Tugendbrunnen im öffentlichen Raum protestantischer Städte: Kern, Margit: Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna, Regensburg und Ulm. Berlin 2002 (Berliner Schriften zur Kunst 16), 45–71, 335– 344 – Hentschel, Walter: Dresdner Bildhauer des 16. und 17. Jahrhunderts. Weimar 1966, 129, der nur eine chronikalische Nachricht zu diesen Brunnenfiguren kannte, schrieb sie Hans Walther zu, was an dieser Stelle anhand des Eintrags in den Ratsrechnungen korrigiert werden kann. Bei einem in den 1990er Jahren im Zuge von Restaurierungsarbeiten am Haus Langenstraße 1 (Zum Flyns) gefundenen Torso einer vollrund aus Sandstein gearbeiteten und ehemals farbig gefassten weiblichen Figur könnte es sich um das Fragment einer der Skulpturen des Untermarktbrunnens handeln. Der Torso wird gegenwärtig im Depot der Unteren Denkmalschutzbehörde Görlitz aufbewahrt. 32 RA Görlitz: Ratsrechnungen Ausgaben Wochenregister 1570, unpag. – RA Görlitz: Ratsrechnungen Ausgaben Wochenregister 1572, unpag. 33 Zobel, Alfred: Beiträge zur Geschichte der Peterskirche in Görlitz in den Jahren 1498–1624. Teil 1. In: Neues Lausitzisches Magazin 108 (1932), 1–86, hier 73. 34 Eine detailliertere Untersuchung zu den druckgrafischen Vorlagen sowie zur Ikonographie der Wandgemälde im Schwibbogen bereitet Prof. Dr. Angelica Dülberg (Dresden) vor. 35 Fleck (wie Anm. 14), 478 f. 36 Fleck (wie Anm. 14), 348 f. – Enke/Probst (wie Anm. 2), 297 (Kat.-Nr. 5.15). 37 Strauss, Walter L.: The Illustrated Bartsch. Bd. 13, German Masters of the Sixteenth Century. New York 1984, 291 (Nr. 152) – Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts 1400– 1700. Bd. 47. Hg. v. Rainer Schoch. Rotterdam 2000, 154 (Nr. 102).

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lungen auf der gegenüberliegenden Wand eingefügt sind. Auch letzteren liegen grafische Vorlagen zugrunde. So folgt das Bildnis Friedrichs des Weisen einem Holzschnitt Lucas Cranachs d. Ä. von etwa 1525,38 die Bildnisse von Karl V. und seiner Gemahlin basieren auf Druckgrafiken von Christoph Amberger aus den frühen 1530er Jahren,39 die Porträts Ferdinands I. und seiner Gattin hingegen erneut auf einem Holzschnitt Erhard Schöns.40 Schließlich könnte auch die Darstellung der Ausführung Isaaks zum Opferplatz von einer Bibelillustration Erhard Schöns aus dem Jahr 1519 angeregt sein.41 Die Datierung dieser vorbildhaften Druckgrafiken würde auch einen Entstehungszeitpunkt der Wandmalereien in den 1530er Jahren und damit unmittelbar nach Errichtung des Schwibbogens erlauben. Allerdings ist die Verwendung grafischer Vorlagen, die bereits zwei bis drei Jahrzehnte alt waren, in der frühneuzeitlichen Malerei Mitteleuropas keine Seltenheit. Außerdem lässt sich die Frage nach der Motivation des Bildprogramms am ehesten mit Ereignissen der späten 1540er Jahre und ihren Auswirkungen in Verbindung bringen, worauf im Folgenden näher eingegangen wird.

Die Idee des Bildzyklus’ Wie oben bereits angedeutet, lässt sich die Funktion des Raumes, den Hieronymus Schneider mit Wandmalereien ausstatten ließ, allgemein als ein repräsentatives Interieur für festliche Anlässe bzw. hochrangige Gäste charakterisieren. Innerhalb des differenzierten Raumangebots des Bürgerhauses, das öffentliche Bereiche (Brauhofausschank, Verkaufsräume) und halböffentliche Räume (Wohnung des Hausherrn, Mietwohnräume, Gästezimmer, Fest- und Repräsentationsräume) umfasste, kann er als ein Bereich angesehen werden, zu dem ein über den Kreis der Familie hinausreichendes Publikum durchaus Zugang hatte. Nimmt man das Stuben-Appartement im Schwibbogen als Herberge für ranghohe Gäste an, dann ist es sogar wahrscheinlich, dass die Wandmalereien als konfessionspolitische Äußerung des Hausherrn vor allem an diesen Kreis gerichtet waren. Leider ist über den Bildungshorizont Hieronymus Schneiders nichts Näheres in Erfahrung zu bringen. Hinsichtlich der diversen, miteinander interagierenden Be-

38 Hollstein’s Engravings, Etchings and Woodcuts ca. 1400–1700. Bd. 6. Hg. v. Karel G. Boon, Robert W. Scheller. Amsterdam 1954, 104 (Nr. 129) – In Frage käme auch ein Holzschnitt von Erhard Schön aus dem Jahr 1524: Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts. Bd. 48. Hg. v. Rainer Schoch. Rotterdam 2000, 71 (Nr. 164). 39 Hollstein, Friedrich Wilhelm Heinrich: German Engravings, Etchings and Woodcuts ca. 1400– 1700. Bd. 2. Amsterdam 1954, 3 (Nr. 2 und 3). 40 Strauss (wie Anm. 37), 476 (Nr. 259); Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts. Bd. 48. Hg. v. Rainer Schoch. Rotterdam 2000, 58 (Nr. 157). 41 Strauss (wie Anm. 37), 16 (Nr. 1301e).

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deutungsebenen der Wandmalereien in seinem Haus kann aber angenommen werden, dass ein Theologe an der Konzeption des Bildprogramms beteiligt war. Dafür kommt der Geistliche Wolfgang Sustelius in Frage, der zunächst von 1530 bis 1536 und erneut von 1545 bis zu seinem Tod im Pestjahr 1553 als Pfarrer in Görlitz tätig war. Seine Sammlung von Schriften Martin Luthers, Philipp Melanchthons und Johannes Bugenhagens bildete den Grundstock der Bibliothek der Hauptpfarrkirche St. Peter und Paul und spiegelt seine Auseinandersetzung mit aktuellen theologischen Fragen „vor allem nach der Rechtfertigung allein aus Gnaden und ihren Voraussetzungen und Folgen“ wider.42 Sustelius gehörte zu den Schlüsselfiguren der lutherischen Reformation in Görlitz, seitdem diese Mitte der 1520er Jahre hier Fuß zu fassen begann. Die Ratsmitglieder standen den Reformideen zwar überwiegend offen gegenüber, verteidigten als Patronatsherren des städtischen Kirchenwesens aber zunächst noch die althergebrachten Verpflichtungen der unter ihrer Aufsicht stehenden Geistlichen. Es brauchte etwa zwei Jahrzehnte, bevor sich das neue Glaubensverständnis unter Sustelius schließlich etablieren konnte. Nicht unwichtig dürften dabei dessen freundschaftliche Verbindungen zu Ratsmitgliedern, vor allem zu Franz Schneider, dem Bruder Hieronymus Schneiders, gewesen sein. Die Jahre, in denen die Malereien im Schwibbogen vermutlich entstanden, waren geprägt von den Auswirkungen der Strafmaßnahmen des sogenannten Pönfalls, die König Ferdinand I. gegen die im Bündnis vereinten Sechsstädte der Oberlausitz 1547 verhängt hatte. Die Ursachen für das rigorose Vorgehen des Landesherrn gegen die immediaten Kommunen reichten bis in die 1520er Jahre zurück, als sie Ferdinands Aufforderungen, den althergebrachten Glauben beizubehalten, nicht nachgekommen waren. Stattdessen hatten sie ihren eigenen konfessionspolitischen Weg beschritten, darin sicherlich bestärkt von der Haltung anderer königlicher Städte in Böhmen, Mähren und Schlesien. Anhaltende Klagen der Oberlausitzer Landstände über die Städte, dass diese sich mit Einführung des lutherischen Glaubens kirchliche Vorrechte und Besitztümer unerlaubterweise angeeignet hätte, belasteten das Verhältnis zum Landesherrn weiter. Da Ferdinand jedoch auf die Gunst seiner Oberlausitzer Städte als potente Steuerzahler angewiesen war, griff er zunächst nur zurückhaltend in die Konflikte ein. Der Krieg gegen die im Schmalkaldischen Bund vereinten protestantischen Territorialfürsten eröffnete ihm dann jedoch die Möglichkeit, auch gegen die eigenständig agierenden Oberlausitzer Stadtregierungen vorzugehen.43 Denn die Sechsstädte, die mitsamt des Markgraftums zur Böhmischen Krone gehörten, befanden sich in einer schwierigen Situation: Zum einen be-

42 Zobel, Alfred: Magister Wolfgang Sustelius. Morgens- oder Frueprediger in Görlitz. In: Oberlausitzer Beiträge. Festschrift für Richard Jecht. Hg. v. Friedrich Pietsch. Görlitz 1938, 97–115, hier 113. 43 Dieser Vorgang findet seine Parallele in den Strafmaßnahmen, die Ferdinand I. 1547 gegen die protestantischen Stände in Böhmen und hier auch insbesondere gegen die königlichen Städte, die sich zum Protestantismus bekannten, durchsetzte.

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kannten sie sich zu den Ideen der lutherischen Reformation, zum anderen waren sie als Untertanen des Katholiken Ferdinand I. zur Unterstützung des Kriegszuges der Habsburger gegen den Schmalkaldischen Bund aufgerufen. Als sich der Konflikt zuspitzte, erhielten auch die Oberlausitzer Städte von ihrem König die Aufforderung, Truppen zur Unterstützung der kaiserlichen und königlichen Armeen zu stellen. Dieser Forderung kamen sie nur zögernd nach und schickten verspätet ein Kontingent Fußknechte zum angeordneten Sammelpunkt. Vor der entscheidenden Schlacht bei Mühlberg Ende April 1547 entließen die Städte, wie sie später behaupteten aufgrund eines Kommunikationsfehlers, ihre Söldner verfrüht, so dass diese am eigentlichen Kampfgeschehen nicht teilnahmen.44 Außerdem widersetzten sie sich Ferdinands Aufforderung, die gesamte militärische Kraft des Landes in Bautzen zu versammeln und die anderen Kommunen zu verlassen. Einer solchen Selbstaufgabe konnten und wollten die Ratsherren von Görlitz, Kamenz, Löbau, Lauban (heute poln. Lubań) und Zittau selbst im Notfall nicht nachkommen und verweigerten ihrem Landesherrn in diesem Punkt den Gehorsam.45 Ferdinand I. wertete das Verhalten der sechs Oberlausitzer Städte als „vngehorsamblich, widerspenstig vnd vndtreulich“.46 Er entzog den Kommunen alle ihre über Jahrhunderte erworbenen Rechte und Privilegien sowie alles Eigentum an Grund und Boden, Waffen und Wertgegenständen und stellte sie quasi unter landesherrliche Zwangsverwaltung.47 In Görlitz wurde diese Herabsetzung von einer nahezu frei agierenden zu einer vollkommen von den Entscheidungen des Königs und seiner Prager Beamten abhängigen Kommune als göttliches Strafgericht empfunden.48 Etwa zwei Jahrzehnte versuchte die Stadtregierung daraufhin, ihre alten Vorrechte wiederzuerlangen, was einiges diplomatisches Geschick und Wohlverhalten verlangte. In diese Phase ordnen sich die Malereien im Schwibbogen mit ihrer Strategie eines zweifachen Bekenntnisses ein. Zwischen den beiden Wänden, auf denen die Szenen aus der Abrahamslegende und darunter die Herrscherfiguren sowie die Darstellung von Gesetz und Gnade zusammen mit den antiken Frauenfiguren zu sehen

44 Einen Überblick über den Pönfall der Sechsstädte und seine Auswirkungen geben die Beiträge in: Herrmann, Matthias (Red.): 1547–1997. Pönfall der Oberlausitzer Sechsstädte. Kamenz 1997 (Kamenzer Beiträge 2) –Herrmann, Matthias: Der Pönfall der oberlausitzischen Sechsstädte und seine überregionale Einordnung. In: Welt – Macht – Geist. Das Haus Habsburg und die Oberlausitz. Ausstellungskatalog Städtische Museen Zittau. Hg. v. Joachim Bahlcke, Volker Dudeck. Görlitz-Zittau 2002, 97–110 – Darüber hinaus wertvoll sind zwei ältere Einzelstudien: Baumgärtel, Hermann: Geschichte des Pönfalls der Sechsstädte. Bautzen 1898 – Pietsch, Friedrich: Görlitz im Pönfall. In: Neues Lausitzisches Magazin 111 (1935), 51–141. 45 Pietsch (wie Anm. 44), 88 f. 46 Pietsch (wie Anm. 44), 96. 47 Lemper, Ernst-Heinz: Die vom Pönfall ausgelöste Krise der Oberlausitzer Sechsstädte und ihre Überwindung. In: Herrmann, 1547–1997 (wie Anm. 44), 101–122. 48 Pietsch (wie Anm. 44), 52.

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sind, entwickelt sich ein vielschichtiger Diskurs. In ihm verschränken sich die Aussagen der einzelnen Bilder miteinander zu einer Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit der lutherischen Reformationsidee, ihrer theologischen und politischen Forderungen, über die Frage von himmlischer und irdischer Gerechtigkeit aber auch über die Loyalität gegenüber den bestehenden weltlichen Machtverhältnissen.

Gesetz und Gnade – Glaube und Treue Am stärksten trägt die Darstellung von Gesetz und Gnade programmatischen Charakter, die Schneider sicherlich nicht zufällig an jener Wand des Raumes anbringen ließ, hinter der die Franziskanerkirche angrenzt. Seit den 1530er Jahren hatte sich das Bildthema in seiner Ausformulierung durch Lucas Cranach d. Ä. in ganz Mitteleuropa verbreitet und dabei die Funktion eines Bekenntnisses zu den Ideen der lutherischen Reformation erhalten. Während es in den Medien der Tafelmalerei, der Druckgrafik oder als Verzierung auf Objekten der angewandten Kunst häufig vorkommt, ist es als monumentales Wandgemälde eher selten überliefert. Nach bisherigem Forschungsstand ist neben dem Görlitzer Bild lediglich ein Wandgemälde im ostböhmischen Schloss Pardubitz bekannt, das Vojtěch von Pernstein, Landeshauptmann des Königreichs Böhmen, in Auftrag gab und das auf 1532 datiert wird, wobei mit größeren Verlusten weiterer Wandmalereien dieses Themas zu rechnen ist.49 Als Lehrbild, dessen Wurzeln in der spätmittelalterlichen Bildpraxis liegen, sollte die Komposition den Gläubigen den Weg von der Sünde zur Erlösung nach dem Verständnis Martin Luthers offenbaren. Die linke Seite führt mit dem Sündenfall und weiteren Szenen die Verfehlungen des Menschen gegen die göttlichen Gebote vor Augen. Dem gegenüber zeigt die rechte Bildhälfte mit den Schlüsselszenen der Kreuzigung und Auferstehung Christi den Weg der Erlösung auf, der einzig im Heiland zu finden sei. Mit der Anbringung dieses ein theologisches Konzept visualisierenden Gemäldes in seinem Haus bekannte sich Hieronymus Schneider eindeutig zum lutherischen Glauben als nach seinem Verständnis einzig rechtmäßigem Weg zur Erlösung. Bemerkenswert ist, dass er unterhalb der Darstellung von Gesetz und Gnade die Reihe der fünf antiken Frauen Admete, Artemisia, Lukretia, Thisbe und Hyppo

49 Im Unterschied zum Görlitzer Bild folgt das Pardubitzer jedoch dem sogenannten Prager Kompositionstypus. Hruby, Vladimír/Royt, Jan: Nástěnná malba s námětem Zákon a Milost na zámku v Pardubicích [Das Wandgemälde mit dem Thema „Gesetz und Gnade“ im Schloss von Pardubitz]. In: Umění 40 (1992), 450–453 – Hrubý, Vladimír: Pozdní gotika a raná renesance v Pardubicích v letech 1491–1548. Malířství a sochařství [Spätgotik und Frührenaissance in Pardubitz in den Jahren 1491–1548. Malerei und Bildhauerei]. Pardubice 2003, 68–74. Einen Überblick über weitere, später datierte Beispiele von Wandgemälden mit dem Gesetz-und-Gnade-Thema finden sich bei Fleck (wie Anm. 14), 542–547.

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anbringen ließ. Obwohl Martin Luther die griechisch-römische Mythologie als heidnisch verdammt hatte, entfaltete sich im protestantischen Bürgertum doch eine intensive Rezeption antiker Tugendvorbilder.50 Wie bereits erwähnt, basiert dieser Teil der Wandmalereien auf einem Holzschnitt Erhard Schöns, der zu jeder der Dargestellten eine von Hans Sachs verfasste, erläuternde Beischrift liefert. Ihnen wohnt der verbindende Gedanke von Glauben und Treue inne, der sich auf verschiedene Weise äußern und sogar – wie etwa bei Lukretia und Thisbe – im Opfertod ihren höchsten Ausdruck finden kann. Für Schneider dürften die fünf Frauen einerseits Vorbilder für einen standhaften Glauben gewesen sein und in dieser Bedeutung als eine aus der antiken Mythologie schöpfende Verstärkung des Bekenntnisses zur lutherischen Glaubensauffassung zu verstehen sein. In der Gegenüberstellung mit den in eine identische Architektur eingesetzten Bildnissen der weltlichen Landesherren, deren Untertan der Görlitzer Kaufmann war, scheint andererseits aber auch das Motiv der Herrschertreue als Bürgertugend auf.

Himmlische und irdische Gerechtigkeit Betrachtet man die Wand, auf der die Herrscher und die Szenen der Abrahamslegende wiedergegeben werden, zunächst für sich, dann ergibt sich ein ebenso vielschichtiger Bedeutungshorizont. Die Legende des Erzvaters Abraham ist traditionell als Sinnbild für den unbedingten Glauben an das Wirken Gottes zu verstehen. Gleichzeitig gilt die Erzählung als eine Präfiguration der Passion Christi – eine Perspektive, die das Wandgemälde besonders betont, indem es nicht die häufiger dargestellte Szene der durch Gott unterbrochenen Opferung in den Mittelpunkt rückt, sondern die nicht durch die Heilige Schrift belegte Erzählung von der Ausführung Isaaks zum Opferplatz. Er trägt ein Bündel Holz auf seinem Rücken, was als unmittelbarer Verweis auf den Kreuzweg Christi gedeutet werden kann. Für Hieronymus Schneider könnte dieses Motiv auch aufgrund der intensiven Passionsfrömmigkeit, die in Görlitz seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert gepflegt wurde, bedeutsam gewesen sein. Sie fand ihren Höhepunkt in der Errichtung des Heiligen Grabes, einem bis heute alljährlichen Ziel der lutherischen Kreuzwegprozession am Karfreitag.51 Die unterhalb der Abrahamslegende platzierte Reihe der Herrscherbildnisse wiederum besitzt eine inhärente Logik: der Leserichtung von links nach rechts entsprechend, erscheint an erster Stelle der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der durch seinen Widerstand gegen die Verurteilung Martin Luthers auf dem Wormser Reichstag von 1521 bereits den Zeitgenossen als Schutzherr der Reformation

50 Kern (wie Anm. 31), 13–36. 51 Zum Görlitzer Heiligen Grab vgl. Meinert, Till: Die Heilig-Grab-Anlage in Görlitz. Architektur und Geschichte eines spätmittelalterlichen Bauensembles. Rust 2004 – Lausitzer Jerusalem. 500 Jahre Heiliges Grab zu Görlitz. Hg. v. Ines Anders, Marius Winzeler. Görlitz-Zittau 2005 (Schriftenreihe der Städtischen Sammlungen für Geschichte und Kultur N.F. 38).

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galt.52 Mit Karl V. erscheint darauf folgend jener Kaiser im Porträt, dem die lutherischen Reichsstände auf dem Augsburger Reichstag von 1530 ihr gemeinsames Glaubensbekenntnis vorlegten.53 Das Bildnis Ferdinands I. hingegen verweist auf jenen Herrscher, mit dem die protestantischen Reichsfürsten 1555 den Augsburger Religionsfrieden aushandelten, der die konfessionspolitischen Konflikte zunächst befriedete.54 Damit repräsentieren die einzelnen Potentaten die verschiedenen zeitlichen Abschnitte des von Schneider erlebten Reformationsgeschehens. Doch ist die Porträtreihe nicht nur als zeitgeschichtlicher Rückblick zu verstehen. Durch die Kombination mit den Szenen aus der Abrahamslegende ergibt sich eine spannungsreiche Auseinandersetzung um die Wirkmächtigkeit von irdischer und himmlischer Macht und Gerechtigkeit.55 Die kalkulierte Kombination beider Sphären auf einer Wand gab Hieronymus Schneider die Möglichkeit, sich loyal gegenüber Kaiser und König zu zeigen. Andererseits verweist aber der zweizonige Aufbau darauf, dass Schneider die himmlische Sphäre über die weltlichen Mächte gestellt sah und letztlich die Gerechtigkeit Gottes jener, die man auf Erden erfahren konnte, übergeordnet sei.

Ehrerbietung und Rechtfertigung Entwickeln sich zwischen den einzelnen Motiven der beiden Wände bereits spannungsreiche Verbindungen, so steigert sich dieser Bilddiskurs noch, betrachtet man die Gesamtheit des Ausstattungsprogramms. Denn das Bekenntnis zum lutherischen Glauben, dass auf der Westwand formuliert und durch antike Tugendexempel der Glaubenstreue noch verstärkt wird, steht in visueller Konfrontation zu den Herrscherbildnissen auf der gegenüberliegenden Wand. Vor allem die beiden Habsburger Karl V. und Ferdinand I. erscheinen in dieser Hinsicht nicht nur als historische Figuren des Reformationsprozesses, sondern als Kaiser und König, deren Untertan Hieronymus Schneider war. Die gegenseitige Bezugnahme der Darstellungen ist daher von zweifacher Natur: zum einen konnte Schneider seinen lutherischen Glau-

52 Zu seiner Person jüngst: Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen (1463–1525). Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung vom 4. bis 6. Juli 2014 auf Schloss Hartenfels in Torgau. Hg. v. Dirk Syndram, Yvonne Fritz, Doreen Zerbe. Dresden 2014. 53 Zu Karl V. vgl. Seibt, Ferdinand: Karl V. Der Kaiser und die Reformation. Berlin 1990 – Kaiser Karl V. (1500–1558). Macht und Ohnmacht Europas. Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien und Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn. Hg. v. Wilfried Seipel. Milano-Bonn-Wien 2000. 54 Zu Ferdinand I. vgl. Kohler, Alfred: Ferdinand I. 1503–1564. Fürst, König und Kaiser. München 2003. 55 Zur Kontrastierung von himmlischer und irdischer Gerechtigkeit in der Bildkultur des Reformationszeitalters vgl. Kern (wie Anm. 31), 126–137 – Kern, Margit: „So schneyt nymer das schwerte mein“. Iustitia divina und Iustitita humana im Zeitalter der Reformation. In: Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes. Hg. v. Frank Büttner, Gabriele Wimböck. Münster 2004, 43–71.

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ben, der konträr zu den Glaubensvorstellungen des böhmischen Königs und des deutschen Kaisers stand, den Potentaten mit den Mitteln der Malerei selbstbewusst entgegenhalten. Angesichts der schweren Strafen, mit der die Stadt Görlitz und die übrigen Oberlausitzer Kommunen durch Ferdinand I. 1547 belegt worden waren und deren Wurzeln nicht zuletzt in der Einführung der lutherischen Reformation lagen, wirkt die Gegenüberstellung von Gesetz und Gnade mit den Habsburger Herrschern regelrecht als eine Geste der Rechtfertigung aus der die Unerschütterlichkeit des Glaubens Hieronymus Schneiders spricht, der auf Friedrich den Weisen und seine unbeugsame Haltung verweist. Doch erschöpft sich die Bedeutungsachse zwischen der Gesetz-und-GnadeThematik und den Herrscherbildnissen nicht allein in dieser Geste der Selbstbehauptung. Ihre Platzierung muss gleichermaßen als Zeichen der Ehrerbietung verstanden werden bzw. als ein Bekenntnis zur Habsburger Landesherrschaft.56 Durch ihre ikonischen Stellvertreter waren die beiden Potentaten symbolisch in den herausgehobenen Räumen des Schwibbogens gegenwärtig, so wie sie auch durch Bildnisse im Görlitzer Rathaus oder an anderen öffentlichen Orten der Sechsstädte repräsentiert wurden.57 Insbesondere Karl V. wussten sich Hieronymus Schneider und seine Verwandten verpflichtet, hatte er doch 1536 der Familie ein eigenes Wappen verliehen. In den Jahren nach dem Pönfall war ein ehrerbietiges Verhalten gegenüber Ferdinand I., der den Stolz der Kommune gebrochen hatte, geboten, strebte Görlitz doch dahin, seine einstigen Privilegien und Besitztümer möglichst zurückzuerhalten. Der Besuch von Ferdinands Sohn, Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, anlässlich eines Jagdvergnügens in der Görlitzer Heide bot 1554 die Gelegenheit, sich als königstreue Kommune zu zeigen – ein Verhalten, dass seine Wirkung nicht verfehlte, wurde den Görlitzern danach doch tatsächlich ein Teil der eingezogenen Vorrechte vom König zurückgegeben.58 Dieses Taktieren, wie es im vielschichtigen Programm der Wandmalereien des Schwibbogens erkennbar wird und letztlich prägend war für die städtische Kultur der Oberlausitz in den Jahren nach dem Pönfall, zeitig-

56 Ähnliche Bekenntnisse in zwei Richtungen lassen sich auch bei anderen zeitgleichen Ausstattungsprogrammen in der Oberlausitz beobachten, wie z. B. jenem an der Kanzel der Kamenzer Hauptpfarrkirche. Sie entstand in den 1560er Jahren als Zeichen der Durchsetzung der lutherischen Reformation durch den Kamenzer Rat und wurde gleichzeitig mit den Herrschaftszeichen der Habsburger Landesherrschaft ausgestattet. Wenzel, Kai: Spuren der Veränderung. Die Interieurs der Oberlausitzer Stadtkirchen im Zeitalter der Reformation, in: Die Stadtpfarrkirchen Sachsens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Ulrike Siewert. Dresden 2013 (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 27), 179–208, hier 186–190. 57 Zu Herrscherbildnissen im öffentlichen Raum der Oberlausitzer Sechsstädte: Wenzel, Kai: Das Bild des abwesenden Königs. Landesherrliche Porträts in den Städten der Oberlausitz. In: Korunní země v dějinách českého státu III. Rezidence a správní sídla v zemích české koruny ve 14.−17. století [Die Kronländer in der Geschichte des böhmischen Staates III. Residenzen und Verwaltungssitze in den Ländern der Böhmischen Krone während des 14.–17. Jahrhunderts]. Hg. v. Lenka Bobková, Jana Konvičná, Praha 2007, 61–90. 58 Jecht (wie Anm. 11), 47 f.

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te für Hieronymus Schneider und seine Familie einen ganz persönlichen Erfolg, als Ferdinand I. sie 1562 in den Adelsstand erhob.

Resümee In ihren wechselseitigen Bezügen sind die Wandmalereien im Görlitzer Schwibbogen prägnante Beispiele für die Autorität von Bildern im konfessionellen Diskurs.59 Sie entstanden wahrscheinlich, nachdem sich die konfessionelle und politische Situation in Görlitz und der Oberlausitz nach der Schlacht von Mühlberg im sogenannten Pönfall der Sechsstädte dramatisch zugespitzt hatte. Damit können sie als unmittelbares Zeugnis dieser krisenhaften Jahre, die letztlich zu einer Stärkung des Protestantismus in der Neißestadt führten, verstanden werden. Die daraus resultierende Intensivierung der lutherischen Frömmigkeit äußerte sich nicht zuletzt in der Umgestaltung des Görlitzer Heiligen Grabes zu einem einzigartigen Erlebnisort der Passion Christi in reformatorischem Sinn, die in den 1560er Jahren ihren Ausgang nahm.60 Gleichzeitig entstand in dieser Zeit das neue Görlitzer Ratsgymnasium als dezidiert lutherische Bildungsstätte, deren erster Rektor Petrus Vincentius von der Wittenberger Universität in die Neißestadt geholt wurde.61 Auch andere Görlitzer Hausbesitzer gaben ihrem Glaubensverständnis zu dieser Zeit deutlichen Ausdruck, wie der Waidhändler Hans Heinze, der zwischen 1570 und 1572 sein Wohnhaus in der Neißstraße mit typologisch angeordneten Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, die gleichermaßen die Dichotomie von Gesetz und Gnade vor Augen führen, verzieren ließ.62 Zusammen mit den Gemälden im Schwibbogen sind sie Zeugnisse für die Bedeutung der Stadt Görlitz als einem Zentrum der lutherischen Konfessionskultur in der Frühen Neuzeit.

59 Zur Autorität des Bildes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit vgl. die Beiträge in: Büttner/ Wimböck (wie Anm. 55). 60 Wenzel, Kai: Die Bautzener Taucherkirche und das Görlitzer Heilige Grab. Räumliche Reorganisationen zweier Orte spätmittelalterlicher Frömmigkeit im konfessionellen Zeitalter. In: Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa. Hg. v. Evelin Wetter. Stuttgart 2008 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 33), 167–192. 61 Zur Geschichte des Görlitzer Gymnasiums vgl: Anders, Ines/Franke, Matthias (Bearb.): Denkfabrik 1600. Das Gymnasium Augustum und das Görlitzer Geistesleben. Görlitz-Zittau 2015. 62 Diese Bildfriese gaben dem Gebäude den Eigennamen „Biblisches Haus“. Zu seiner Geschichte vgl. Bednarek, Andreas/Nitzsche, Frank-Ernest: Biblisches Haus. Stuttgart 2004 – Uricher (wie Anm. 4), 181–222 – Das Haus war in seinem Inneren einst vermutlich ebenfalls mit Wandmalereien zu biblischen Themen, zumindest aber mit entsprechenden Inschriften ausgestattet, worauf das in einem Raum des zweiten Obergeschosses erhaltene Fragment einer Inschrift nach Hiob, Vers 10 hindeutet.

Abbildungsnachweis Hamm Abb. 1: Reproduktion nach: Maier-Lörcher, Barbara: Ulmer Kunst in aller Welt. Plastische Bildwerke des 15. und 16. Jahrhunderts. Ulm 1996, 82 Abb. 2: Reproduktion nach: Faksimile-Ausgabe: „ludwig ze vlm“: Die deutsche Übersetzung der Ars moriendi des Meisters Ludwig von Ulm um 1469. Hg. v. Ernst Weil. München / Pasing 1922 Abb. 3: Reproduktion nach: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Ausst. Washington / Nürnberg 2005 / 2006. Hg. v. Peter Parshall u. a. Nürnberg 2005, 243 Abb. 4: Reproduktion nach: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Ausst. Washington / Nürnberg 2005 / 2006. Hg. v. Peter Parshall u. a. Nürnberg 2005, 249 Abb. 5: Reproduktion nach: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Ausst. Washington / Nürnberg 2005 / 2006. Hg. v. Peter Parshall u. a. Nürnberg 2005, 241 Abb. 6: Reproduktion nach: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Ausst. Washington / Nürnberg 2005 / 2006. Hg. v. Peter Parshall u. a. Nürnberg 2005, 235 Abb. 7: Reproduktion nach: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille. Ausst. Bern / Strasbourg 2000. Hg. v. Cécile Dupeux, Peter Jezler u. a. Zürich 2000, 222

Wegmann Abb. 1: Reproduktion nach: HAUPT, Walter: Ein Gespräch zwischen einem Christen und Juden auch seinem Wirte samt seinem Hausknecht, den Eckstein Christum betreffend (1524). In: Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation. Hg. von Otto Clemen, Bd. 1, Heft 10. Halle 1907, 375–422, hier Abb. 387 Abb. 2: Reproduktion nach: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers. Ausst. Nürnberg 1983. Hg. von Gerhard Bott. Frankfurt/M. 1983, Kat. Nr. 309, 245 f.

Deiters Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

1–7, 10: Großgründlach, Hallersches Archiv, Pfinzing-Archiv, Foto: Markus Hilbich 8: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Foto: Georg Janßen 9: Köln, Rheinisches Bildarchiv 11, 12, 14–18: Stiftung Stadtmuseum Berlin, Foto: Markus Hilbich 13: Reproduktion nach: Roth, Michael: Matthias Grünewald. Die Zeichnungen. Ostfildern 2008, S. 28

Gormans Abb. 1: Reproduktion nach: Eikemeier, Peter: Das Familienbildnis des Emanuel de Witte in der Alten Pinakothek. In: Pantheon 32, 3 (1974), 255–261, hier 257 Abb. 2: Reproduktion nach: Niederländische Malerei. Die Sammlung Kremer, Ausst. Köln-KasselHaarlem 2008–2009, bearb. v. Peter van der Ploeg u. a. München 2008, 223 https://doi.org/10.1515/9783050051659-018

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Abbildungsnachweis

Abb. 3: Reproduktion nach: Henkel, Arthur, Schöne, Albrecht (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart-Weimar 1996, 269 Abb. 4: Reproduktion nach: Liedtke, Walter A.: Architectural Painting in Delft. Gerard Houckgeest, Hendrick van Vliet, Emanuel de Witte, Doornspijk 1982 (Aetas Aurae, Monographs on Dutch & Flemish Painting 3), Taf. II Abb. 5: Reproduktion nach: Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Ausst. Berlin-Emden 1999. Hg. v. Ansgar Reiss u. Sabine Witt, Dresden 2009, 178 Abb. 6: Reproduktion nach: Vier eeuwen dominessland, Ausst. Utrecht 1997. N. H. Koers, Zoetermeer 1997, 86 Abb. 7: Reproduktion nach: Liedtke, Walter A.: Architectural Painting in Delft. Gerard Houckgeest, Hendrick van Vliet, Emanuel de Witte, Doornspijk 1982 (Aetas Aurae, Monographs on Dutch & Flemish Painting 3), Ill. 39 Abb. 8: Reproduktion nach: Liedtke, Walter A.: Architectural Painting in Delft. Gerard Houckgeest, Hendrick van Vliet, Emanuel de Witte, Doornspijk 1982 (Aetas Aurae, Monographs on Dutch & Flemish Painting 3), Taf. X Abb. 9: Reproduktion nach: Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer, Ausst. Frankfurt 1993. Hg. v. Sabine Schulze, Stuttgart 1993, 277 Abb. 10: Reproduktion nach Gerrit Dou 1613–1675. Master Painter in the Age of Rembrandt. Ausst. Washington 2000. Hg. v. Arthur K. Wheelock, Jr., Washington 2000, 67

Slenczka Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

1, 4 (und Cover): Klassik Stiftung Weimar, Anna-Amalia-Bibliothek/CII:58 (c) 2: gemeinfrei 3, 8: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 5: Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 6: Evangelische Kirchengemeinde St. Marien, Wittenberg 7: Evangelische Kirchengemeinde St. Marien, Dessau 9: Evangelische Kirchengemeinde St. Peter und Paul, Weimar

Sauer Abb. 1–9: Stadtbibliothek Nürnberg

Heinrichs Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

1, 4: Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett 2, 16–19: The G. Paul Getty Trust, Getty Research Institute 3: Alte Pinakothek München 5: Leipzig, Museum der bildenden Künste, Grafische Sammlung 6: Rennes, Musée des Beaux-Arts 7–10, 12, 14 f.: Berlin, SM-PK, Kupferstichkabinett 11: Albertina, Wien. 13: Ashmolean Museum of Art and Archaeology University of Oxford

Melion Abb. 1–9: Atlanta, Emory University, Manuscript, Archives, and Rare Book Library

Abbildungsnachweis

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François Abb. 1 f.: Brussels, Royal Library Abb. 3: VU University Amsterdam, University Library Abb. 4 f.: K. U. Leuven, Maurits Sabbe Library

Wandel Abb. 1–7: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg

Münch Abb. 1–3: Privatarchiv (Münch) Abb. 4–10: Bayerische Staatsbibliothek München (Digitale Bibliothek)

Brachmann Abb. 1: gemeinfrei Abb. 2: Reproduktion nach Beauté et pauvreté: l’art chez les clarisses de France. Exhibition Centre Culturel du Panthéon Paris 1994. Hg. v. Jacques Charles-Gaffiot. Paris 1994 Abb. 3: Andreas Brachmann Abb. 4: Pont-à-Mousson, St-Laurent Abb. 5: Nancy, Bibliothèque municipale Abb. 6: Reproduktion nach Beauté et pauvreté: l’art chez les clarisses de France. Exhibition Centre Culturel du Panthéon Paris 1994. Hg. v. Jacques Charles-Gaffiot. Paris 1994 Abb. 7: Lyon Bibliothèque municipale Abb. 8, 10: Nancy, Musée historique lorrain Abb. 9: Reproduktion nach Beauté et pauvreté: l’art chez les clarisses de France. Exhibition Centre Culturel du Panthéon Paris 1994. Hg. v. Jacques Charles-Gaffiot. Paris 1994 Abb. 11: gemeinfrei

Jurkowlaniec Abb. 1, 9, 10: Foto: Grażyna Jurkowlaniec Abb. 2–4: Reproduktion nach: Wilpert, Joseph: Die römischen Mosaiken und Malereien der kirchlichen Bauten vom IV. bis XIII. Jahrhundert. Freiburg i. Br. 1916, vol. 4: Tafeln, Malereien, p. 274 Abb. 5: Foto: Marie-Lan Nguyen (Jastrow), Wikimedia Commons (Public Domain) Abb. 6: Foto: Mari27454, Wikimedia Commons (Creative Commons-BY-SA) Abb. 7: Reproduktion nach: Mariott, Wharton Booth: Vestiarium christianum. The Origin and Gradual Development of the Dress of Holy Ministry in the Church. London 1868 Abb. 8: Luca Volpi, Wikimedia Commons (Creative Commons-BY)

Wenzel Abb. 1, 2, 4–10: Foto: Kai Wenzel Abb. 3: Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Wolfgang Junius