Hörbarer Sinn: Philosophische Zugänge zu Grundbegriffen der Musik 9783495813386, 9783495489062


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Inhalt
Einleitung
1. Zur Lage der Diskussion
2. Mögliche Ausgangspunkte einer Musikphilosophie
3. Zum Aufbau
Musik erkennen – Die Form der Musik
a. Innermusikalischer Sinn, Form und Formalismus: Zur Einleitung
b. Die Eigenform der Musik
b.1. Erster Grundsatz der musikalischen Eigenform
b.2. Zweiter Grundsatz der musikalischen Eigenform – Musikalische Bewegung im musikalischen Raum
b.3. Musikalische Zeit: Vorläufiges zum Begriff des Rhythmus
b.4. Primäre und sekundäre Dimensionen der musikalischen Eigenform
c. Die Grundgestalt des formalistischen Arguments
c.1. Das formalistische Argument in der ›analytischen‹ Ästhetik
c.2. Peter Kivys Bestimmung des Formbegriffs durch die Abgrenzung gegen »Narrativismus« und »Persona-Theorie«
c.3. Sinn und Wert der Form der Musik im Formalismus
c.4. Die Lücke in Kivys Abgrenzung des Formbegriffs
d. Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes
d.1. Das Muster der psychologistischen Argumentation
d.2. Kritik am Psychologismus und konstruktivistische Folgerungen
e. Die musikalische Eigenform im musikalischen Text
e.1. Wichtige Formalismen in der Geschichte der Musikanalyse und Musiktheorie
e.2. Ihre Grundannahmen zum Wesen der Musik und seinem Verhältnis zum musikalischen Schaffen
e.3. Die konstruktivistische Aporie
Musik erfahren – Der Stoff und der Leib der Musik
f. Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform
f.1. Das Dasein der Musik in der Welt der Dinge und Tätigkeiten: Einwände gegen das »akusmatische« Hören
f.2. Die Ontologie des Musikwerks zwischen Text und Klang: Der ›analytische‹ Ansatz
f.3. Bernard Sèves Verschiebung des ontologischen Problems: Klang als Ereignis und Aktion – Wirklichkeit statt Richtigkeit
g. Rhythmus
g.1. Die Konstitution der musikalischen Zeit und die Bedingungen ihrer Wahrnehmung – Der elementare Begriff des Nachvollzuges
g.2. Rhythmus als Zahl
g.3. Rhythmus als gezählte Bewegung – Takt
g.4. Rhythmus als Bewegung jenseits der Zahl
g.5. Die Erfahrung der Bewegung als Problem
h. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges
h.1. Die ästhesiologische Differenz des Klanges
h.2. Die ästhesiologische Differenz des Hörens von Klängen
h.3. Übergang zu Haltung, Verhalten und Ausdruck
i. Affektive Wirkungen und Emotionen
i.1. Jenefer Robinson über physiologische Wirkungen, »affective appraisals« und Stimmungen
i.2. Emotion im alltäglichen Verstande: Peter Kivys Analyse zum affektiven Wert der Musik
j. Ausdruck als Erkenntnisgegenstand
j.1. Die Grundbestimmung des Ausdrucksbegriffs und die Grenzen seiner primären Bedeutung
j.2. Ausdruck als wahrnehmbare Erscheinung: Stephen Davies’ Theorie
j.3. Jerrold Levinson: Subjektive Bedingungen der Wahrnehmung von Ausdruckseigenschaften
k. Ausdruck und thematischer Sinn
k.1. Folgerungen aus Plessners ästhesiologischer Untersuchung: Grundsätzliche Unterschiede zu objektivistischen Theorien
k.2. Der Sinn des Verhaltens
k.3. Arten des Verhaltens und seiner Sinngehalte: Übersicht
k.4. Der Unterschied zwischen Ausdruck und Kundgabe
k.5. Der Unterschied zwischen Thema und Schema und ihre jeweiligen Verhältnisse zu Raum und Zeit
k.6. Die Eigenständigkeit des thematischen Sinnes und seine Stelle in Haltung und Verhalten
k.7. Musik und thematischer Sinn
k.8. Der Überschuß des thematischen Sinnes in der Musik über das Ausdrucksverhalten hinaus
k.9. Vertretbarkeit und Deutbarkeit
Musik denken und deuten
l. Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik
l.1. Zur Repräsentation thematischen Sinnes
l.2. Der Schematismus der musikalischen Eigenform und sein Verhältnis zum Nachvollzug thematischen Sinnes
l.3. Das symbolische Moment in der Musik
l.4. Das Verhältnis der drei Ausgangsmomente und das Problem des Status sprachlicher und schematischer Repräsentation
m. »Musik als Botschaft«: Der Sinn der Musik in den Schranken der Symbolik
n. Wege der schematischen Repräsentation – Verstehen durch Analyse und musiktheoretisches Sprechen
n.1. Der Versuch der immanenten Repräsentation innermusikalischer Beziehungen
n.2. Die Spannung zwischen Schema und Schematisiertem
n.3. Musiktheoretische Begriffe: Ursprünglich schematische Kategorien und sekundäre Schematisierungen
n.4. Exkurs: Die Metapher im Rahmen schematischen Aussagens
n.5. Thematische Zeit und ihre Schematisierung
n.6. Wandelbares schematisches Verstehen: Die Zeit als Substanz des schematischen Zusammenhangs der Musik
n.7. Einheit als Schema und als Problem
n.8. Der Bezug zwischen dem Schema und dem Schematisierten: Zusammenfassung, Folgerungen und Anschlußfragen
o. Das kognitionswissenschaftlich orientierte Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum
o.1. Erster Schritt: Mentale Modelle auf Grundlage der Motorik
o.2. Zweiter Schritt: Exemplifikation, die Emergenz von Begriffen aus mentalen Modellen und eine weitere Metapherntheorie
o.3. Die Erfahrung des Nachvollzugs in der naturalistischen Perspektive
p. Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von Alexander Becker und Matthias Vogel
p.1. Nachvollzug als Grundlage von Erfahrung
p.2. Die Kontingenz der Erfahrung ihrem Gegenstand gegenüber – Versuche ihrer Bewältigung
p.3. Das Subjekt des Nachvollzugs: In der Praxis und über der Praxis
q. Das Subjekt
q.1. Das Subjekt und sein Verschwinden in den Systemen seiner Vollzüge
q.2. Das Subjekt in den Systemen seiner Vollzüge und der Begriff der hermeneutischen Gestaltung
q.3. Unergründliches aussprechen: Noch eine Metapherntheorie
r. Material, Gedanke und Werk
r.1. Der Begriff des musikalischen Materials: Seine materialen Momente
r.2. Der Begriff des Materials als objektivistischer Begriff und als Reflexionsbegriff
r.3. Der musikalische Gedanke und der Formbegriff
r.4. Die musikalische Eigenform: Neuorientierung über ihre systematische Stelle
r.5. Gedanke und Ausdruck: Ein Dilemma
r.6. Arbeit am Material als Arbeit am Tonsystem
r.7. Arbeit am Material, vermittelt durch den Begriff der Repräsentation
r.8. Arbeit am Material als problematischer Umgang mit Unverfügbarem
r.9. Aneignung
Danksagung
Zitierte Literatur
Personenregister
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Hörbarer Sinn: Philosophische Zugänge zu Grundbegriffen der Musik
 9783495813386, 9783495489062

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musik M philosophie

Thomas Dworschak

Hörbarer Sinn Philosophische Zugänge zu Grundbegriffen der Musik

VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

musik M philosophie Band 9

Herausgegeben von: Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main) Lydia Goehr (Columbia, New York) Frank Hentschel (Köln) Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt)

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Dorschel (Graz) Bärbel Frischmann (Erfurt) Georg Mohr (Bremen) Albrecht Riethmüller (Berlin) Günter Zöller (München)

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Thomas Dworschak

Hörbarer Sinn Philosophische Zugänge zu Grundbegriffen der Musik

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Thomas Dworschak Audible Sense Philosophical Approaches to Fundamental Concepts of Music What does it mean to understand music? What does it mean to assume that music has a sense? And how are these questions linked to the idea that this sense shows itself in the medium of sound? Philosophical and musicological discourses have gone down different paths over the past decades in order to shed light on these fundamental questions. This book offers a systematic and critical overview of these paths; an overview that highlights and combines the strengths and limitations of the different directions – from formalism to theories of expression, emotion and understanding and to semiotic and hermeneutic approaches.

The author: Thomas Dworschak studied Indology, Cultural Studies and Philosophy in Leipzig and Pisa. He completed his PhD in Philosophy at Leipzig University. He has been working as Research Assistant at the Institute for Education and Philosophy at the German Sport University in Cologne since 2014.

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Thomas Dworschak Hörbarer Sinn Philosophische Zugänge zu Grundbegriffen der Musik Was heißt es, Musik zu verstehen? Was heißt es, anzunehmen, Musik habe einen Sinn? Und wie hängen diese Fragen damit zusammen, dass dieser Sinn im Medium des Klanges erscheint? Philosophische und analytische Auseinandersetzungen mit Musik haben in den letzten Jahrzehnten verschiedene Wege eingeschlagen, um diese Grundprobleme zu erhellen. Hier wird ein systematischer und kritischer Überblick über diese Wege geboten, der die Stärken und Grenzen der verschiedenen Richtungen – vom Formalismus über Ausdrucks-, Emotions- und Nachvollzugstheorien bis hin zu semiotischen und hermeneutischen Ansätzen – aufzeigt und zusammenführt.

Der Autor: Thomas Dworschak studierte Indologie, Kulturwissenschaften und Philosophie in Leipzig und Pisa. 2015 promovierte er in Philosophie an der Universität Leipzig. Seit 2014 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik und Philosophie der Deutschen Sporthochschule Köln tätig.

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI Books Gmbh, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48906-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81338-6

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1.

Zur Lage der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

2.

Mögliche Ausgangspunkte einer Musikphilosophie . . .

23

3.

Zum Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Musik erkennen – Die Form der Musik a.

Innermusikalischer Sinn, Form und Formalismus: Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Die Eigenform der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

. . . . .

40

b.2. Zweiter Grundsatz der musikalischen Eigenform – Musikalische Bewegung im musikalischen Raum . . . . . . .

42

b.3. Musikalische Zeit: Vorläufiges zum Begriff des Rhythmus

51

b.4. Primäre und sekundäre Dimensionen der musikalischen Eigenform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

c.

Die Grundgestalt des formalistischen Arguments . . . . .

61

c.1. Das formalistische Argument in der ›analytischen‹ Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

c.2. Peter Kivys Bestimmung des Formbegriffs durch die Abgrenzung gegen »Narrativismus« und »Persona-Theorie«

68

b.

b.1. Erster Grundsatz der musikalischen Eigenform

. . c.4. Die Lücke in Kivys Abgrenzung des Formbegriffs . . . . c.3. Sinn und Wert der Form der Musik im Formalismus

d.

72 74

Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

d.1. Das Muster der psychologistischen Argumentation . . .

83 7

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Inhalt

d.2. Kritik am Psychologismus und konstruktivistische Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

e.

Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

. . . .

92

e.1. Wichtige Formalismen in der Geschichte der Musikanalyse und Musiktheorie . . . . . . . . . . . . . . . .

97

e.2. Ihre Grundannahmen zum Wesen der Musik und seinem Verhältnis zum musikalischen Schaffen . . . . . . . . .

111

e.3. Die konstruktivistische Aporie . . . . . . . . . . . . . .

116

Musik erfahren – Der Stoff und der Leib der Musik f.

Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

. . . . . . . 123

f.1. Das Dasein der Musik in der Welt der Dinge und Tätigkeiten: Einwände gegen das »akusmatische« Hören . . .

123

f.2. Die Ontologie des Musikwerks zwischen Text und Klang: Der ›analytische‹ Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

f.3. Bernard Sèves Verschiebung des ontologischen Problems: Klang als Ereignis und Aktion – Wirklichkeit statt Richtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

g.

Rhythmus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

g.1. Die Konstitution der musikalischen Zeit und die Bedingungen ihrer Wahrnehmung – Der elementare Begriff des Nachvollzuges . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . g.3. Rhythmus als gezählte Bewegung – Takt . g.4. Rhythmus als Bewegung jenseits der Zahl . g.5. Die Erfahrung der Bewegung als Problem .

. . . .

140

Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges . . . . . . .

159

g.2. Rhythmus als Zahl

h.

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

136 143 147 156

. . . . . . . 162 h.2. Die ästhesiologische Differenz des Hörens von Klängen . 169 h.3. Übergang zu Haltung, Verhalten und Ausdruck . . . . . 177 h.1. Die ästhesiologische Differenz des Klanges

8 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Inhalt

i.

Affektive Wirkungen und Emotionen . . . . . . . . . . .

180

i.1. Jenefer Robinson über physiologische Wirkungen, »affective appraisals« und Stimmungen . . . . . . . . .

180

i.2. Emotion im alltäglichen Verstande: Peter Kivys Analyse zum affektiven Wert der Musik . . . . . . . . . . . . .

188

j.

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand . . . . . . . . . . . .

197

j.1. Die Grundbestimmung des Ausdrucksbegriffs und die Grenzen seiner primären Bedeutung . . . . . . . . . . .

199

j.2. Ausdruck als wahrnehmbare Erscheinung: Stephen Davies’ Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

j.3. Jerrold Levinson: Subjektive Bedingungen der Wahrnehmung von Ausdruckseigenschaften . . . . . . . . .

207

k.

Ausdruck und thematischer Sinn . . . . . . . . . . . . .

215

k.1. Folgerungen aus Plessners ästhesiologischer Untersuchung: Grundsätzliche Unterschiede zu objektivistischen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

k.2. Der Sinn des Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

k.3. Arten des Verhaltens und seiner Sinngehalte: Übersicht .

223

k.4. Der Unterschied zwischen Ausdruck und Kundgabe . . .

225

k.5. Der Unterschied zwischen Thema und Schema und ihre jeweiligen Verhältnisse zu Raum und Zeit . . . . . . . .

231

k.6. Die Eigenständigkeit des thematischen Sinnes und seine Stelle in Haltung und Verhalten . . . . . . . . . . . . .

235

k.7. Musik und thematischer Sinn . . . . . . . . . . . . . .

241

k.8. Der Überschuß des thematischen Sinnes in der Musik über das Ausdrucksverhalten hinaus . . . . . . . . . . .

247

k.9. Vertretbarkeit und Deutbarkeit

. . . . . . . . . . . . . 248

Musik denken und deuten l.

Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

l.1. Zur Repräsentation thematischen Sinnes

259

. . . . . . . . 260 9

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Inhalt

l.2. Der Schematismus der musikalischen Eigenform und sein Verhältnis zum Nachvollzug thematischen Sinnes . . . .

266

l.3. Das symbolische Moment in der Musik . . . . . . . . .

274

l.4. Das Verhältnis der drei Ausgangsmomente und das Problem des Status sprachlicher und schematischer Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

m.

»Musik als Botschaft«: Der Sinn der Musik in den Schranken der Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Wege der schematischen Repräsentation – Verstehen durch Analyse und musiktheoretisches Sprechen

290

n.1. Der Versuch der immanenten Repräsentation innermusikalischer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . .

290

n.2. Die Spannung zwischen Schema und Schematisiertem . .

298

n.3. Musiktheoretische Begriffe: Ursprünglich schematische Kategorien und sekundäre Schematisierungen . . . . . .

300

n.4. Exkurs: Die Metapher im Rahmen schematischen Aussagens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

n.5. Thematische Zeit und ihre Schematisierung . . . . . . .

309

n.6. Wandelbares schematisches Verstehen: Die Zeit als Substanz des schematischen Zusammenhangs der Musik . .

313

n.7. Einheit als Schema und als Problem . . . . . . . . . . .

317

n.8. Der Bezug zwischen dem Schema und dem Schematisierten: Zusammenfassung, Folgerungen und Anschlußfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

n.

o.

Das kognitionswissenschaftlich orientierte Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum . . . . . . . . . . . . .

325

o.1. Erster Schritt: Mentale Modelle auf Grundlage der Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

326

o.2. Zweiter Schritt: Exemplifikation, die Emergenz von Begriffen aus mentalen Modellen und eine weitere Metapherntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

330

o.3. Die Erfahrung des Nachvollzugs in der naturalistischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

10 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Inhalt

p.

Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von Alexander Becker und Matthias Vogel . . . . . . . . . . .

338

p.1. Nachvollzug als Grundlage von Erfahrung . . . . . . . .

338

p.2. Die Kontingenz der Erfahrung ihrem Gegenstand gegenüber – Versuche ihrer Bewältigung . . . . . . . .

343

p.3. Das Subjekt des Nachvollzugs: In der Praxis und über der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

346

q.

Das Subjekt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

q.1. Das Subjekt und sein Verschwinden in den Systemen seiner Vollzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

q.2. Das Subjekt in den Systemen seiner Vollzüge und der Begriff der hermeneutischen Gestaltung . . . . . . . . .

355

q.3. Unergründliches aussprechen: Noch eine Metapherntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

360

r.

Material, Gedanke und Werk . . . . . . . . . . . . . . .

364

r.1. Der Begriff des musikalischen Materials: Seine materialen Momente . . . . . . . . . . . . . . .

366

r.2. Der Begriff des Materials als objektivistischer Begriff und als Reflexionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

r.3. Der musikalische Gedanke und der Formbegriff . . . . .

375

r.4. Die musikalische Eigenform: Neuorientierung über ihre systematische Stelle . . . . . . . . . . . . . . . . .

380

r.5. Gedanke und Ausdruck: Ein Dilemma . . . . . . . . . .

384

r.6. Arbeit am Material als Arbeit am Tonsystem

. . . . . . 388

r.7. Arbeit am Material, vermittelt durch den Begriff der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

r.8. Arbeit am Material als problematischer Umgang mit Unverfügbarem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

r.9. Aneignung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

413

Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 11 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

Über Musik zu schreiben, zu sprechen oder nachzudenken ist eine Unternehmung, der man nicht nur in der Philosophie seit einigen Jahren wieder vermehrt und vertieft nachgeht, sondern die auch die Kultur der Musik in all ihren Varianten selbstverständlich begleitet. Es ist aber eine Unternehmung, die auf diese Weise durchaus mißverständlich benannt ist. Oft meint man, wir schrieben oder sprächen über etwas, das sich unserem Hören darbietet, wobei das Hören etwas Einfaches sei, nämlich das Wahrnehmen von etwas. Dieses Etwas sei die Musik. Und sie sei ganz einfach etwas, das wir beschreiben und erklären: zum Beispiel, indem wir erklären, wie sie gemacht ist oder was sie bedeutet. Das kann man tun. Die Unternehmung, über Musik zu schreiben, zu sprechen oder nachzudenken kann aber weiter gefaßt werden. Dies geschieht dann, wenn man bemerkt, daß das Hören gar nicht so einfach ist, und ebensowenig der Gegenstand des Hörens. Man kann auf eine Weise hören, und man kann Musik auf eine Weise zu hören geben, daß da nicht etwas ist, das einfach zu beschreiben und zu entschlüsseln wäre, sondern etwas, das selbst gedacht worden ist und auf eine Weise gehört werden will, die auf dieses Denken eingeht. Jene Unternehmung bedeutet dann, darüber zu schreiben und nachzudenken, wie über Musik geschrieben und nachgedacht worden ist: Dieses letztere Schreiben, Sprechen und Nachdenken ist ein Teil der Musik selbst geworden; vielleicht hat es sich in ihr verborgen. Wenn dies der Fall ist, kann man es nicht mehr unternehmen, die Musik einfach zu beschreiben und zu erklären, und die Aufgabe ist nun, zu verstehen, was jenes Denken und sein Verstehen sowie das nicht-einfache Hören sein können. Dieses Buch begleitet kritisch beide Varianten des Unternehmens, über Musik zu schreiben, zu sprechen und nachzudenken. Sie zeigt, was man jeweils tut, wenn man der einen oder der anderen Variante folgt und dadurch versucht, Musik und den Umgang mit ihr zu verstehen. 13 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

1.

Zur Lage der Diskussion

Grundsätzliche, philosophisch zu nennende Fragen zur Musik werden in jüngerer Zeit an zahlreichen, häufig recht zerstreuten Stellen erörtert. Ein Überblick über die aktuelle Diskussion läßt erkennen, daß sie im wesentlichen in vier Feldern stattfindet: in der »philosophy of music« genannten Schule; in methodologischen Grundsatzüberlegungen in der Musikwissenschaft; in der Avantgarde der Komposition in Zusammenarbeit mit interessierten Musikwissenschaftlern und Philosophen; sowie in einer zunehmenden Anzahl von Arbeiten in deutscher Sprache, die aber stark individuelle Ansätze verfolgen und sich oft nicht intensiv aufeinander beziehen. Es sind diese Felder der aktuellen Diskussion, von denen ich ausgehe. »Aktuell« bezeichnet ungefähr die Jahre seit 2000 als Schwerpunkt, mit beträchtlichen Rückgriffen bis in die 1970er Jahre und einem arbeitsökonomisch nötigen Endpunkt im Januar 2014. Dies geht eingestandenermaßen auf Kosten der geschichtlichen Dimension. Es wäre verlockend, beispielsweise auf die oft nicht umfangreichen, aber eindringlichen und originellen Textstücke Kants oder Hegels zur Musik einzugehen, die heute noch nach Auslegung verlangen. Damit wäre das Buch aber weiter angeschwollen, denn es wäre nicht damit getan, einige Kantische oder Hegelsche Gedanken einfach einzuwerfen, sondern man hätte mit Recht fordern können, an diese Gedanken ein Gespinst exegetischer Bemühungen zu knüpfen. Gerade das Denken Kants und Hegels über ästhetische Gegenstände durchwebt diese Arbeit darum nur unterschwellig, übt seinen Einfluß aber an vielen Stellen aus. Um die Umständlichkeit einer ausführlichen Explikation dieser Denker zu vermeiden, habe ich mich weitgehend von der aktuellen Debatte leiten lassen und ältere Autoren nur dann herangezogen, wenn es geraten schien, auf die Vorfahren jener Debatten ausdrücklich einzugehen. Hanslick, Schönberg und Adorno sind hier besonders zu nennen. Eine große Ausnahme von der Beschränkung auf die jüngere Diskussion ist schließlich die Auslegung eines durchaus ›klassischen‹, in der Musikphilosophie aber ganz und gar nicht beachteten Philosophen, nämlich Helmuth Plessners. Die »philosophy of music« hat sich in der englischsprachigen Philosophie über die letzten Jahrzehnte als sehr kohärente Diskussion etabliert. Dieser Prozeß ist seit ungefähr 1980, dem Erscheinungsjahr von Peter Kivys The Corded Shell, besonders rege und erfreut sich bis 14 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zur Lage der Diskussion

heute anhaltender Beteiligung. Ich möchte an dieser Stelle darauf verzichten, Namen aufzulisten oder die »philosophy of music« intern zu differenzieren, um nur die wichtigsten Charakteristika dieser Diskussion zu skizzieren. Die »philosophy of music« entdeckt die Musik als Gegenstand, auf den etablierte Fragestellungen und Methoden der ›analytischen‹ 1 Philosophie anzuwenden seien. Unter diesen Fragestellungen bilden sich bald einige als kanonisch heraus, die besonderes Kopfzerbrechen bereiten. Zu ihnen zählt die Frage nach dem ontologischen Status des Musikwerks, die vor allem als Frage nach seinen Identitätsbedingungen gestellt wird, aber darum schwierig ist, weil ein Musikwerk auf den ersten Blick weder mit den Noten identifiziert werden kann – Musik ist schließlich etwas zum Hören – noch mit der klingenden Verwirklichung – denn derer kann es viele und auch voneinander abweichende geben. Mit dieser Frage beschäftige ich mich aber nur am Rande (Kap. f.). Wichtiger ist ein anderer Fragenkomplex, der es mit Ausdruck, Bedeutung, Verstehen und emotionalen Reaktionen zu tun hat, und es zeichnet die »philosophy of music« gegen die anderen Diskussionsfelder aus, daß in ihr dieser Fragenkomplex sehr direkt angegangen und in den Mittelpunkt gestellt wird. Typisch ist allerdings die generelle Voraussetzung, philosophische Einsichten in die Musik müßten erarbeitet werden, indem man der Musik mit einem kanonischen, weil auch anderswo gebrauchten und geprüften Werkzeugkasten zu Leibe rückt. Wie dieser Fragenkomplex in der »philosophy of music« untersucht wird, bespreche ich vertieft in Kap. c., i. und j.; hier schließe ich einige vorbereitende Beschreibungen an. Im Werkzeugkasten steckt eine Ding-Eigenschafts-Ontologie. Musik liegt vor uns bzw. läuft vor uns ab und zeigt uns diverse Eigenschaften: physikalische, strukturelle, expressive oder vielleicht symbolisch-bedeutungshafte Eigenschaften. Der Job des Philosophen ist es, genauer aufzulisten, was das für Eigenschaften sein können, Das Wort »analytisch« hat hier zwei Verwendungen. Eine betrifft musikwissenschaftliche (Werk-)Analyse. Eine zweite dient zur Bezeichnung des größten Teils der gegenwärtigen englischsprachigen Philosophie. Ihn nenne ich ›analytisch‹ in einfachen Anführungszeichen, um anzudeuten, daß die sich so benennende Philosophie gerade in der Ästhetik häufig eben keine zureichende Analyse ihrer Gegenstände leistet, sondern auf unhinterfragte und in diesem Sinne unanalysierte, aus sogenannten Intuitionen oder den empirischen Wissenschaften bezogene Begriffe zurückgreift, unter die sie beispielsweise die Musik zu bringen versucht.

1

15 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

wie sie in die Musik kommen und wie sie sich unserer Erfahrung zeigen. Ins Schema einer solchen Ontologie steckt man zumeist auch beispielsweise interpretierende Umgänge, die vom Sinn der Musik auf semiotische, narrativistische und andere Weisen reden; aber da sich die dabei zutage geförderten Gehalte nicht unserer ›unmittelbaren‹ Erfahrung, sondern vielmehr der Arbeit an unserer Erfahrung und am Werk zeigen, sagt die »philosophy of music«, das Vorliegen dieser Gehalte sei zweifelhaft. Das bedeutet, daß Grundbegriffe wie Bedeutung und Ausdruck im Rahmen dieser Ontologie verstanden werden: Sie müssen Eigenschaften sein. Was sie sind, können wir von anderswoher erfahren, nämlich aus Theorien der Sprache und des Seelenlebens. Diese Theorien sind die Werkzeugmacher. Man fragt also beispielsweise die Psychologie, was Ausdruck sei, und wird auf Begriffe der Emotion verwiesen. Der Musik ist dann nicht erlaubt, ihre eigenen Forderungen an Bedeutungs- oder Ausdrucksbegriffe zu stellen, sondern sie hat sich den anderswo bewährten Begriffen zu fügen. Ferner enthält der Werkzeugkasten eine Art von Epistemologie, die dazu dient, Behauptungen hinsichtlich der Form, der Bedeutung, des Ausdrucks usw. der Musik zu prüfen. Ihr zufolge sind solche Behauptungen seriös, wenn eine Mehrheit von kompetenten Hörern ihnen zustimmen kann; sonst könnte es ja sein, jene Behauptungen seien schlichtweg zusammenphantasiert. Was einigermaßen unkontrovers geäußert wird, soll von einem musikalischen Verstehen zeugen; daß hierbei ein Verstehen vorliegt, erscheint der Analyse unproblematisch. Verstehen ist für sie ein vorliegender Tatbestand. Da die meisten »philosophers of music« gründlich musikalisch sozialisiert sind, erlauben sie sich den Rückgriff auf die eigene Kompetenz, um Phänomenbeschreibungen zu beurteilen. Sie gehen also vom Tatbestand ihres eigenen Verständnisses aus. Kommt diese Kompetenz an ihre Grenze, verweist man Fragen der Wahrnehmung und des Verstehens von Musik gern an empirische Forschungen, bevorzugt der Psychologie und der Kognitionswissenschaften, da diese imstande sein sollen, uns zu sagen, was ›eigentlich‹ abläuft, wenn wir die Formen, Gestalten oder den Ausdruck der Musik erfahren. Es ist bemerkenswert, daß Reflexionen aus anderen Feldern der Philosophie und der Geisteswissenschaften selten ernsthaft in Betracht gezogen werden. Mit ihnen scheint man nicht hantieren zu können wie mit den anderen Geräten im Werkzeugkasten. Allerdings treten in jüngster Zeit Überlegungen auf, die darauf hindeuten, daß man ihn für über16 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zur Lage der Diskussion

holungsbedürftig hält, etwa bei David Davies, Andy Hamilton, Andrew Kania oder Derek Matravers. In groben Zügen kann man das Interesse der »philosophy of music« so charakterisieren, daß sie die alltägliche Erfahrung des Musikhörens auseinanderlegen und auch verteidigen möchte, nämlich sowohl gegen einen Strukturalismus der musikalischen Analyse – und am Ende gegen die Zumutungen konstruktiv gedachter Neuer Musik – als auch gegen postmoderne Ideologiekritiken. Darum steht die Musik des vertrauten Konzertlebens, nämlich die klassisch-romantische Tradition, im Mittelpunkt der »philosophy of music«; Überlegungen zu älterer Musik, zu Jazz oder zu Rock gibt es zwar, aber sie sind Randphänomene und unterliegen ohnehin generell der gleichen Werkzeugbenutzung, so daß von ihnen keine verändernden Impulse ausgehen. Das zweite Feld philosophisch interessanten Nachdenkens über Musik finden wir in der Musikwissenschaft, und zwar vorwiegend in den USA, wo Bemühungen um die Grundlagen von Musiktheorie und -analyse sich in stärkstem Maße erhalten und fortentwickelt haben. Das Nachdenken, das ich hier anspreche, entzündet sich daran, daß es einerseits ein Spektrum etablierter Methoden der Analyse gibt, unter denen neo-riemannische Harmonietheorien, Schenkersche Lehren vom organisch-hierarchischen Aufbau eines Werkes und computationale, statistische Vorgehensweisen wie Fortes pitchclass set theory besonders bedeutend sind, und andererseits der Schwerpunkt dieser Methoden auf technischen und strukturellen Aspekten die Frage offenläßt, was an der Musik man eigentlich durch ihre Anwendung verstanden hat. Von dieser Frage geleitet wandern besonders von den 1970er bis in die 1990er Jahre unterschiedliche Paradigmen in die Musikwissenschaft ein, die es mit Sinn und Bedeutung der Musik unter den unterschiedlichsten Aspekten zu tun haben: verschiedene semiotische Ansätze, Theorien über musikalische Symbolwerte (»topics«), metapherntheoretische und auch literaturwissenschaftlich inspirierte Überlegungen, aufführungs- und rezeptionsgeschichtliche Forschungen, postmodern-ideologiekritische Attacken usw. Im Gegensatz zur »philosophy of music« geht man hier nicht von einem Verstehen von Musik aus, das selbst kein Problem ist, einfach als Phänomen in der Welt anzutreffen sei und sich nur dem philosophischen Werkzeugkasten als Problem entgegenstellt. Stattdessen steht der Vorgang des Verstehens selbst in Frage. Dies fordert 17 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

methodologische Grundsatzüberlegungen heraus, die die Spannung zwischen Techniken der Strukturanalyse und jenen zuletzt genannten, im weitesten Sinne kulturwissenschaftlichen Paradigmen ernst nehmen, indem sie den Status der Methoden, Paradigmen und der verstehenden Vollzüge und entsprechend die Verfaßtheit der zu verstehenden Musik reflektieren. Zentral für diese Reflexion ist das Verhältnis der systematischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung zum ›unmittelbaren‹ Erlebnis des musikalischen Hörens (hierzu zusammenfassend Kap. n.). Diese Überlegungen bilden ein weitgespanntes Diskussionsnetz, dessen einzelne Positionen viel heterogener sind als etwa die Beiträge zur »philosophy of music«. Ich kann sie darum nur punktuell aufgreifen. Bemerkt sei, daß die Behandlung der Musik im Fach Philosophie nur gewinnen kann, wenn sie dieses zweite Feld des Nachdenkens viel stärker in den Blick nimmt, als es bisher der Fall ist. Drittens ist die Avantgarde der Komposition zu nennen. Sie ist dann ein Feld grundsätzlicher ästhetischer und philosophischer Diskussion, wenn das Musikschaffen eines bestimmten Künstlers oder einer Schule den bisherigen Konventionen widerspricht und den Anspruch der Fortschrittlichkeit oder Neuheit erhebt, so daß es dem Publikum nicht mehr unmittelbar einleuchtet. Der Rechtfertigungsund Erklärungsdruck, der hieraus entsteht, schlägt sich in Äußerungen nieder, die die Künstler selbst oder ihnen nahestehende Intellektuelle verfassen. Reflexionen dieser Art begleiten die Geschichte der Kunstmusik. Sie wenden sich seit dem frühen 19. Jahrhundert verstärkt ästhetischen Grundproblemen zu und verknüpfen sich vor allem seit Arnold Schönberg mit betont technischen und analytischen Ausführungen. Theoretische Schriften dieser Art sollen das Publikum sowohl im Nachvollzug der Form bzw. Struktur der Musik als auch in Bezug auf den Sinn dieser Strukturen anleiten. Sie gehören, und sei es in der Kurzform der Programmhefterläuterung, als eine solche Anleitung zum Musikleben, sobald die nicht mehr an die traditionelle Tonalität gebundene sogenannte Neue Musik nicht nur revolutionär oder Schockmoment sein soll, sondern verstanden und vermittelt werden will. Der dieses Feld auszeichnende Standpunkt ist derjenige des Musiker selbst, während wir es zuvor mit dem Standpunkt eines scheinbar selbstverständlich »kompetenten« Hörers und demjenigen der wissenschaftlichen Durchdringung der Musik zu tun hatten. Er ist also der Standpunkt, für den die Musik erst noch zu machen oder 18 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zur Lage der Diskussion

frisch gemacht ist: der Standpunkt der Reflexion auf die Intentionen des Musikers, auf die möglichen Techniken der Komposition, auf das zu verarbeitende Material und seine Sinngehalte. Er ist häufig ein Standpunkt der Suche nach Orientierung und führt darum nicht selten zu Überlegungen, die – nun in Bezug auf das jeweils aktuelle Musikschaffen – zu Grundbegriffen führen: Sprache, Sinn, Verstehen, Technik, Material, Denken, Ausdruck, Wahrnehmung, Wirkung und andere. So fragt sich der Komponist und Musiker: Was kann ich bewirken? Was will ich bewirken? Welche Wirkung will ich vermeiden? Will ich mich überhaupt um »Wirkung« kümmern? Was will ich zeigen, was verbergen? Was berechne und konstruiere ich, was lasse ich mir ›einfallen‹ ? – um nur einige Überlegungen auf Kurzfragen herunterzubrechen. Der Umgang mit diesen Grundbegriffen ist teils ganz persönlich, teils gebraucht er Begriffe aus vielerlei philosophischen und anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Debatten. An dieser Stelle überschneidet sich das im engeren Sinne praktisch und auf das eigene Schaffen hin orientierte Denken vor allem mit dem zweiten und dem vierten hier anzusprechenden Feld, denn die Frage, wie die Musik zu machen ist, führt – außer man möchte naiv voraussetzungslos arbeiten – zu Überlegungen, wie Musik bereits gemacht ist und wie sie verstanden worden ist. Zu den Foren, in denen Reflexionen dieser Art aktuell einen Platz für ausführliche Überlegungen finden, zählen – um einige besonders aktive Beispiele zu nennen – die Zeitschrift Musik & Ästhetik, die edition neue zeitschrift für musik, die Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt oder die an der Kunstuniversität Graz situierte Schriftenreihe Musik.theorien der Gegenwart. Der vierte Bereich ist die jüngste deutschsprachige Musikphilosophie, in der nicht besonders viele, aber sehr eigenständige Beiträge zu zählen sind, deren Umfang den eines üblichen Artikels oder Sammelbandtextes deutlich überschreitet. In den meisten Fällen wird also nicht, wie in der »philosophy of music«, eine etablierte Debatte mit ihren kanonischen Fragen weitergesponnen, sondern ein jeweils eigenes Gedankennetz geknüpft. An dieser Stelle möchte ich nur ganz kurz einige Texte charakterisieren. Alexander Becker und Matthias Vogel kann man – neben Albrecht Wellmer – das Verdienst zuschreiben, daß sie mit ihrem Sammelband Musikalischer Sinn (2007) und ihren beiden eigenen Langbeiträgen zu diesem Band die Initialzündung für die Debatte 19 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

hierzulande geleistet haben. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, was es heißt, Musik hörend zu erfahren und zu verstehen, und sie beantworten sie auf der Grundlage des Gedankens, daß Musikhören auf irgendeine Weise auf das Musikmachen – etwa auf das Nachsingen – verweist, mit einem Begriff des Nachvollzuges. Damit verweist die Philosophie der Musik auf die Grundfrage, was es überhaupt heißt, etwas praktisch oder tätig, und eben nicht primär sprachbegrifflich, zu erfahren und zu verstehen. Diese Grundfrage ist auch für die vorliegende Arbeit zentral. Während Becker und Vogel von einem alltäglichen Umgang mit Musik ausgehen – beginnend mit Kinderliedern bis hin zum klassischen Konzertbetrieb – und von den Avantgarden nur am Rande handeln, bilden diese den wichtigsten Ausgangspunkt von Albrecht Wellmers Nachdenken über Musik, das im Versuch über Musik und Sprache (2009) gebündelt erscheint. Wellmer stellt sich die Frage sowohl nach dem Sprachcharakter der Musik – ihrem Vermögen, uns etwas mitzuteilen – als auch nach dem Sprechen über Musik, das diese Mitteilung auffängt und weiterträgt. Daß es Wellmer nicht um Musik überhaupt, sondern um Musik im Stande des Kunstwerkes geht, stellt mannigfache Anforderungen an das Mitteilungsvermögen der Musik wie auch an das Sprechen über sie, denn die im strengen Sinne künstlerische ›Sprache‹ der Musik soll weder trivial und klischeehaft noch rein technisch und damit am Ende ›sprachfremd‹ noch einfach sinnverweigernd durch Bezug auf den Klang in seiner bloßen Stofflichkeit sein. Entsprechend beschreibt das Sprechen über Musik weder allein, wie das Werk gemacht ist, noch das, was der Hörer erlebt, noch darf es auf stereotype Ausdrucks- und Inhaltsdeutungen hinauslaufen. An diesen Spannungsfeldern arbeitet Wellmer, wobei eine kritische Deutung verschiedener Strömungen der Neuen Musik nicht das geringste Ergebnis ist. – Der Versuch über Musik und Sprache ist ein in sich sehr heterogenes Werk. Seine Kernargumente sind ferner denen nicht unähnlich, die ich hier verfolge, gebrauchen aber eine andere Terminologie: Grob gesagt setze ich »Sinn«, wo Wellmer von »Sprache« schreibt. Um also den Verlauf meines eigenen Argumentes nicht mit der Diskussion eines teils parallelen Gedankenganges zu belasten, habe ich keine geschlossene Detaildiskussion zu Wellmers Musikphilosophie verfaßt, sondern nur punktuell zu ihr Stellung genommen. Zu den Arbeiten, die ich hier rezipiere, zählen einige Aufsätze Christian Grünys (sein Buch Die Kunst des Übergangs erschien zu 20 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zur Lage der Diskussion

einem Zeitpunkt, an dem ich davon abgesehen habe, weitere Neuerscheinungen einzuarbeiten). Grüny arbeitet an einigen grundlegenden Grenz-, Schwellen- oder Übergangsphänomenen, die insbesondere durch die Musik des 20. Jahrhunderts ohrenfällig geworden sind: Grenzen und Übergänge zwischen Klang und Geräusch, zwischen Klang und Stille, zwischen der Erwartung eines Ereignisses, dessen Gegenwart und Vergangensein und der Integration dieses Ereignisses in sich stetig wandelnde Netze von Zusammenhängen. Ein phänomenologisches Interesse an den Randbereichen von Erfahrungen greift auch hier besonders stark auf künstlerische Arbeiten zurück, die mit jenen Grenz- und Schwellenphänomenen umgehen. Die kurze Liste wichtiger neuer deutschsprachiger Arbeiten möchte ich mit Gunnar Hindrichs’ Die Autonomie des Klangs (2014) abschließen. Wie Wellmer betrachtet Hindrichs die Musik vom Standpunkt des Kunstbegriffs aus. Erst dieser erlaube es, über die phänomenologische Untersuchung oder die Analyse kognitiver und praktischer Vermögen hinaus nach dem Sinn und nach dem Wesen der untersuchten Phänomene und Erfahrungen zu fragen. Ihre Grundbegriffe sucht Hindrichs zu entwickeln: Klang, Raum und Zeit; der Begriff des Sinnes, der die Gestaltungen von Klang, Raum und Zeit integriert; der Begriff des Gedankens, der jene integrierten, sinnvollen Gestaltungen auf ihre ästhetische Gültigkeit hin zu durchleuchten erlaubt; und der Begriff des Materials und der Arbeit an ihm, der die Notwendigkeit der geschichtliche Dimension der Musik und ihres Sinnes begründet. In dieser reichhaltigen systematischen Darlegung greift Hindrichs auf eine große Bandbreite musikgeschichtlicher charakteristischer Erscheinungen wie auch philosophischer und musiktheoretischer Thesen zurück, so daß es vergeblich erscheint, sie vollständig diskutieren zu wollen. Insbesondere die Ausführungen zu Klang, Raum und Zeit lasse ich hier beiseite, während eine Diskussion der maßstabssetzenden Überlegungen zu Material, Arbeit am Material, Gedanke und Sinn im abschließenden Kapitel dieses Buches wenigstens angerissen wird. Die zuletzt genannten Arbeiten lassen die Bandbreite philosophischer Fragenkomplexe erkennen, die eine Musikphilosophie berücksichtigen kann und sollte. Es muß ihr allgemein um das Wahrnehmen, Denken und Schaffen in einem Feld kultureller Praktiken gehen, um das Verstehen und Deuten, um die Sprache und andere Formen der Mitteilung, um das Subjekt selbst, das all diese Tätigkeiten trägt. 21 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

Angesichts dieser heterogenen Felder kann man sich unterschiedliche Aufgaben stellen. Man könnte eine handbuchartige Darstellung in Angriff nehmen, die die vertretenen Positionen möglichst vollständig referiert, systematisiert und historisch kontextualisiert. Das vorliegende Buch ist von einem solch umfassenden Anspruch weit entfernt. Die Breite der Diskussion ist eher stichprobenhaft vertreten. Dafür untersuche ich, welche Voraussetzungen in einzelnen Vorgehensweisen und einzelnen Thesen zur Musik und zur musikalischen Erfahrung wirksam sind, wie sie sich zueinander verhalten und wie sie, oft unausgesprochen, den Gegenstand Musik und den Menschen fassen, der diesen Gegenstand erfährt. Dieses Buch untersucht also die Musik ausgehend von ihrem Sinn und von den verschiedenen Möglichkeiten, diesen Sinn zu explizieren. Möchte man sagen, was Musik ist – eine klingende Tapete? tönend bewegte Form? Ausdruck von Subjektivität? –, so muß man sagen, wie Musik wahrgenommen und gedacht und wie über sie gesprochen wird, und wer der Mensch ist, der so wahrnimmt, denkt und spricht. Gern hätte ich es an vielen Stellen vermieden, pauschal von »Musik« ohne weitere Qualifikation zu sprechen, aber ausdrückliche Differenzierungen hätten die Arbeit weiter in die Länge gezogen, so daß ich sie nur vereinzelt vornehme. In der Übersicht über die Felder der musikphilosophischen Diskussion ist deutlich geworden, daß ein ungefähr vom 18. bis ins 20. und 21. Jahrhundert reichender Abschnitt der europäischen Kunstmusik und innerhalb dieses Abschnitts wiederum ein Kanon von Meistern und Meisterwerken das vorherrschende Thema ist. Da ich Diskussionen diskutiere und weniger die Musik selbst, schleppe ich diese Thematik mit, und einige Abschnitte – zum Beispiel Kap. n., in dem es um einige Grundthemen musikalischer Formanalyse geht – sind freilich nur auf Musik anwendbar, in der die dort diskutierten formalen Strategien auch kompositorisch gebraucht worden sind. Umgekehrt kann man mit etlichen Einsichten und Thesen, die in der von mir zitierten Literatur an bestimmten Beispielen erklärt werden – was beispielsweise in Kap. f. und g. über den Klangbegriff in Bezug auf Wagner, Vokalpolyphonie des 15. Jahrhunderts oder die spektralistische Komposition steht – über Musik nachdenken, die man sonst in der Musikphilosophie, -theorie und -ästhetik vermißt: über Rock und Pop und die Rolle der in ihnen unverzichtbaren elektronischen Klangmanipulation, oder in anderer Hinsicht über die Stelle von Modellbildungen verschiedener Art in der frei improvisierten Musik. Solche Detailstudien 22 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Mögliche Ausgangspunkte einer Musikphilosophie

habe ich ausgelassen, um mich zumeist an grundsätzliche Erläuterungen zu halten.

2.

Mögliche Ausgangspunkte einer Musikphilosophie

Wie in vielen Themenbereichen der Philosophie geht es auch mit der Musik so, daß der Anfang ihrer Darlegung nicht auf der Hand liegt. Zum Anfang taugen verschiedene Gesichtspunkte. Ich möchte kurz vier Möglichkeiten ansprechen, die in jüngerer und älterer Zeit gewählt worden sind. Seit sich die Ästhetik als allgemeine Kunstphilosophie – im Gegensatz zur Ästhetik als einer Lehre von der Sinnlichkeit – herausgebildet hat, ist es üblich, die Musik als Teilgebiet des Feldes der Kunst abzuhandeln. Begriffe und Probleme, die die Künste allgemein betreffen, werden somit auch zur Erkundung der Musik beansprucht. Unbemerkt bleibt dabei häufig, daß jene Begriffe und Probleme eben nicht aus der Kunst allgemein bezogen werden, sondern aus spezifischen Kunstformen, unter denen die Dichtung, die Malerei und die Skulptur vorrangig sind; und man kann den Vorwurf denken, daß der Kunstbegriff selbst nach prototypischen Künsten modelliert ist. Hier ist nun nicht der Ort für eine umfassende Studie über die Stelle der Musik in großen ästhetischen Theorien und Systemen. Zu bemerken ist aber ein Grundzug solcher Theorien, der ungefähr von Hegels Zeit an bestimmend ist, bis sich seit den 1960er Jahren rezeptionsästhetische Ansätze ausbreiten, die jenen Grundzug umgehen oder bestreiten. Er besteht darin, Kunst allgemein von Begriffen des Inhaltes, der Bedeutung, des Gehaltes oder der Darstellung her zu denken. Diesen Grundzug hielt man für nützlich, um Kunst von anderen Bereichen abzugrenzen, die ebenfalls der ästhetische Grundbegriff der Schönheit kennzeichnet, etwa den Schmuck oder die schöne Natur. Begreift man Kunst vorrangig von einem Begriff des Inhaltes her, stellt sich die Aufgabe, sein Gegenstück zu explizieren, nämlich den Begriff der Form, die der Künstler einem sinnlichen Stoff gibt, um jenen Inhalt anschaulich werden zu lassen, darzustellen oder auszudrücken. Geht man diese Aufgabe an, indem man mit Dichtung, Malerei und Skulptur anfängt, fällt es auf den ersten Blick leicht, davon zu sprechen, daß Inhalte hier Handlungen, Situationen, Begebenheiten usw. sind, in denen Menschen wenigstens passiv, aber eher aktiv vorkommen. Es fällt leicht, davon zu sprechen, daß es in 23 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

einem Kunstwerk um etwas geht, von dem man wesentliche Züge benennend und begrifflich aussprechen kann, und daß dieser Inhalt in einer bestimmten Gestaltung dargestellt wird – in epischer Prosa, in lakonischem Kurzgeschichtenton, in einer Ballade, in antikisierenden Metren, um hier nur Beispiele sprachlicher Formung zu nennen –, durch die besondere Aspekte des Gehaltes hervorgehoben werden. Es ist aber auf jeden Fall der Inhalt, der die Auswahl der zu schnitzenden, zu schreibenden oder zu zeichnenden anschaulichen Gestaltungen bestimmt. Denkt man Form und Inhalt auf diese Weise und richtet man ein System der Ästhetik danach aus, so ist es nicht einfach, Musik in es zu integrieren. Es ist nämlich leicht zu bemerken, daß die sinnlichen Formen der Musik selbstgenügsam sein können – nicht durch einen Inhalt im obigen Sinn bestimmt und auch nicht als Darstellung oder Äußerung solcher Inhalte erscheinend. (Näheres zu dieser Intuition führe ich in den ersten drei Kapiteln aus.) Kunstphilosophische Gesamttheorien gebrauchen angesichts dieses Gedankens, der Musik fundamental von abbildenden oder sprachlich verfaßten Kunstgattungen unterscheidet, vor allem zwei Argumente: Sie rücken die Musik in eine Grauzone zwischen ›eigentlicher‹ Kunst und Dekoration oder reiner, eher verstandesmäßiger als sinnlicher Konstruktion; und sie behaupten, daß nicht die ›reine‹ Musik die Kunstmusik sei, sondern ›begleitende‹ Musik, die in Verbindung mit beispielsweise szenisch dargestellten Handlungen oder gesungenen Texten nicht ihren Eigensinn in den Vordergrund stellt, sondern dazu dient, anderweitig bestimmte Inhalte zu ›begleiten‹. Dieses zweite Argument ist vor allem von Hegel her bekannt. (Eine kurze Kritik an Versionen des zweiten Argumentes findet sich hier in Kap. l.3. und m.) Auf alle Fälle führt der skizzierte Anfang der Musikphilosophie bei einem System der inhaltsästhetisch bestimmten Kunstphilosophie dazu, daß man die Musik von einem Begriff – eben dem des Inhaltes – aus untersuchen möchte, von dem es überhaupt nicht selbstverständlich ist, daß und wie er auf die Musik paßt. Es gibt einen anderen, späteren Ansatz, der ebenfalls den Rahmen einer allgemeinen Kunstphilosophie aufspannt, aber diesen Rahmen weniger von Sprach- und Bildkünsten als nun von der Musik ausgehend bestimmt. Man mag Hanslick als einen Inspirator solcher Ästhetik sehen; bei Adorno und neuestens bei Gunnar Hindrichs findet sie sich stärker ausgeprägt. Sie ist, grob umrissen, eine Ästhetik der Autonomie, und ihr Grundgedanke ist, daß das Wesen eines 24 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Mögliche Ausgangspunkte einer Musikphilosophie

Kunstwerkes nicht von einem Inhalt abhängen darf, der unabhängig von diesem Werk gedacht werden könnte, und erst recht nicht vom sinnlichen Reiz der Stoffe, die zum Werk verarbeitet worden sind, sondern in einer geistigen Bestimmung liegt, die Inhalt wie auch Form und Stoff transformiert und nicht mehr auf diese beiden zurückführbar ist. Jeder Inhalt, jede Form und jeder Stoff wird damit kunsttauglich, und, wichtiger noch, es ist gar nicht nötig, einen bestimmten Inhalt des Kunstwerks aussagen zu können. Das Kunstwerk bedeutet uns vielmehr Unendliches, Unaussprechliches, Unerschöpfliches, denn sein Wesen ist autonom und nicht zurückführbar auf das außerhalb der Kunst Sagbare. Dies ist ein Grundzug vieler Autonomieästhetiken, der auch bei Adorno oder Hindrichs wichtig ist. 2 Daß er wesentlich von der Musik inspiriert ist, kann man darum behaupten, weil diese im späten 18. Jahrhundert durch ihre Etablierung als »absolute« Musik den Anstoß für einen Diskurs gab, der sie nicht als begleitend, als Element einer Praxis begreifen wollte, sondern als erhebende Bewegung zum Absoluten hin, und der diese Bewegung zugleich dadurch ermöglicht sah, daß der Musik keine begrifflichen Inhalte gegeben sein müssen. Inhaltlichkeit im Sinne der ersten kunstphilosophischen Position erscheint dieser Ästhetik als Schranke, und die Musik erscheint als Vorbild einer Kunst, die aus ihrem Wesen heraus sich dieser Schranke entledigen und die Autonomie ihrer (klingenden) Form genießen kann. Indem diese Position ein autonomes Wesen der Musik und dann der Kunst überhaupt expliziert, beginnt sie in besonderem Maße als Ontologie der Musik: Sie fragt, was die Musik sei, und sieht dabei erst einmal von der Frage ab, was sie bedeute. Diese Position hat sich für diese Arbeit als tragfähigste und fruchtbarste Grundlage für eine Musikphilosophie herausgestellt. Ich verwende darum viel Raum dafür, ihre Grundlagen einerseits plausibel zu machen, andererseits aber ihre Schwachstellen anzuzeigen.

Bei Hanslick ist er es weniger; aber es ist bemerkenswert, daß die erste Auflage von Vom Musikalisch-Schönen mit dem später gestrichenen Passus schließt: »[Dem Hörer] wirkt die Musik nicht blos und absolut durch ihre eigenste Schönheit, sondern zugleich als tönendes Abbild der großen Bewegungen im Weltall. Durch tiefe und geheime Naturbeziehungen steigert sich die Bedeutung der Töne hoch über sie selbst hinaus und läßt uns in dem Werke menschlichen Talents immer zugleich das Unendliche fühlen. […] so findet der Mensch wieder in der Musik das ganze Universum. –« (Hanslick 1854, S. 104)

2

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Einleitung

Ein dritter Anfangspunkt für eine Musikphilosophie besteht darin, sie nicht so sehr als Kunst, sondern schlicht als eine Praxis anzusehen, die auf mannigfache Weise mit dem individuellen wie auch mit dem sozialen Leben verflochten und aus dieser Verflechtung heraus zu bestimmen ist. Musik tritt hier als Symbol, als Mitteilung, als Mittel der Gestaltung eines Lebensstils und dergleichen in Erscheinung. Dies ist eine kulturwissenschaftliche Perspektive, die durchaus von ihrer Spannung zu der autonomieästhetischen Sicht lebt und Rückgriffe auf empirisch sichtbare Verankerungen der Musik und auf Disziplinen sucht, die diese Verankerungen betrachten: auf die Teilgebiete der Musikgeschichte, auf die Soziologie, Ethnologie, Psychologie. Die Schwierigkeit dieser Perspektive ähnelt grundsätzlich derjenigen der inhaltsästhetischen Position: Die Musik tritt ins Blickfeld als etwas Faktisches, das eine bestimmte Rolle spielt, die prinzipiell auch etwas anderes einnehmen könnte. Die Musik, so würde der Einwand lauten, wird als alles mögliche untersucht, nur nicht als sie selbst; dies ist aber, so wäre zu antworten, schlicht eine Frage des jeweils gewählten Untersuchungsinteresses. Unabhängig von diesem Interesse lädt die kulturwissenschaftliche Perspektive dazu ein, grundsätzlich zu überlegen, welche besonderen Grundlagen die Musik für jene besonderen Rollen mitbringt, die die kulturwissenschaftliche Untersuchung darstellt. Dies wäre eine grundsätzliche Überlegung über den Bezug zwischen der Musik – insbesondere ihrem Erklingen – und menschlichem Verhalten und Verstehen, die eine nicht nur erhellende, sondern auch notwendige Gegenbewegung (im Sinne eines Entgegen und Aufeinander-Zu) zum ontologischen und autonomieästhetischen Gedanken bildet, wie ich in dieser Arbeit zu zeigen hoffe. In einem geschichtlich bedeutenden Ansatz, Musik zu bestimmen, finden wir einen Anfang zu einer solchen Überlegung. Es ist der Ansatz, Musik als »Kunst der Empfindung« zu denken. Dies kann auf zwei Weisen geschehen: einerseits tendenziell inhaltsästhetisch, indem Musik die Kunst ist, die Empfindungen – und eben nicht so sehr Handlungen – darstellt und zum Inhalt hat; zum anderen wirkungsästhetisch, indem sie die Kunst ist, Empfindungen zu bewirken. Dieser Ansatz, der in Hegels Musikphilosophie zugleich eine seiner reflektiertesten Formulierungen wie auch seine kritische Verabschiedung erlebt, knüpft die seit der Antike beschworene und erfahrene ›Macht der Töne‹ der Musik an einen affektiven und leiblichen Aspekt menschlichen Erlebens. Diese Verknüpfung soll nicht akzi26 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Mögliche Ausgangspunkte einer Musikphilosophie

dentell oder konventionell, sondern im Wesen des Klanges und der Klangverbindungen begründet sein. Viele Versionen der sogenannten Gefühls- oder Empfindungsästhetik sind jedoch zu den Akten gelegt worden, zumeist deshalb, weil sie vorbestimmte, aber unzureichende Begriffe der Empfindung oder des Gefühls voraussetzen und darauf eine Theorie der Abbildung oder der Erregung bestimmter Emotionen aufbauen. Hanslicks berühmtes Büchlein ist die bekannteste unter den scharfen Auseinandersetzungen mit solchen Ästhetiken. Will man auf ihren Grundgedanken zurückgreifen, so ist es nötig, die Grundbegriffe des Gefühls, der Wirkung, des Ausdrucks u. dgl. genauer zu durchdenken, und zwar gerade im Hinblick auf ihre allgemeine Stelle im menschlichen Verstehen, Verhalten und nicht zuletzt im Wahrnehmen. Man muß fragen, was die Empfindung des (musikalischen) Klanges mit leiblicher Affiziertheit und mit den Vermögen des Verstehens zu tun hat, anders gesagt: wie die Rezeptivität der Wahrnehmung mit der Aktivität des leiblichen Verhaltens und der verstehenden Vermögen zusammenhängt. Kurz gefaßt geht es um den »Sinn der Sinne«. Diese Fragestellung nenne ich mit Plessner »ästhesiologisch« und lege sie hier ab Kap. h. dar. Ein vierter Anfangspunkt für die Ästhetik, von dem aus man auch die Musik bedenkt, ist die sogenannte ästhetische Erfahrung. Dieser Ansatz stellt sich den ersten beiden der oben genannten entgegen, insofern sie sich auf das Werk konzentrieren und nicht auf die Rezeption und ihre Erlebnisse. Gerade die Intuition, die Musik sei in besonderem Maße eine »Kunst der Empfindung«, lädt dazu ein, ihr Erleben in den Mittelpunkt zu rücken und dabei Aspekte zu untersuchen, die dem begrifflichen Verstehen gegenüber eigenständig sind. Häufig betont man dabei den autonomen, zweckfreien Status und Wert dieser Erfahrung. Problematisch für die Musikphilosophie ist aber auch hier oft die mangelnde Spezifik der zentralen Begriffe, und dies ist generell einer der Kritikpunkte an erfahrungszentrierten Ansätzen im Bereich der Kunstphilosophie. Zum einen ist nicht jede relevante Erfahrung eines Kunstwerkes bzw. der Musik eine ästhetische Erfahrung in dem Sinne, den die Theorie abzugrenzen sucht. Zum anderen besteht die Gefahr, ästhetische Erfahrung mit Begriffen abzugrenzen, die dem erfahrenen Gegenstand gegenüber fast gleichgültig sind, vor allem dann, wenn man es vorzieht, diese Erfahrung mehr durch ihre affektive als durch ihre kognitive Komponente zu bestimmen. Dann werden Phänomene wie Präsenz, Stimmung oder Atmosphäre herangezogen, mit denen es leicht geschieht, daß man an 27 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

der Verfaßtheit des ästhetischen Gegenstandes in seinem eigenen Recht vorbeigeht. Auch hier ist es lohnend, mit einer Fragestellung heranzugehen, die mit der ästhesiologischen eng verbunden ist, und die Erfahrung der Musik im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Nachvollzuges ihres Sinnes zu betrachten. Die manchmal vorgebrachte Behauptung, ästhetische Erfahrung habe die Besonderheit, gar nichts mit Sinn zu tun zu haben, kann dann genauer beurteilt werden, wenn die Begriffe des Sinnes und der Erfahrung gründlicher bestimmt sind. Die vorgebliche Abwesenheit von Sinn, so die These, die ich in Kap. q. und r. ausführe, produziert keine Erfahrung, die irgendwo außerhalb unserer Verstehensvollzüge stünde, sondern sie ist als »unergründliches« Moment von Sinn selbst immer auch auf diese bezogen. Angesichts dieser verschiedenen möglichen Ansätze habe ich als Anfang gesetzt, die (ontologische) Spezifik der Musik und ihres Verstehens darzulegen, um von dort aus zu sehen, wann und wieso es notwendig wird, die von den anderen Ansätzen in den Mittelpunkt gestellten Momente mit einzubinden und dem Besonderen der Musik entsprechend zu präzisieren. Das bedeutet, daß die Aufgabe, die Spezifik des Gegenstandes Musik zu bestimmen, ins Leere läuft, wenn man nicht bespricht, wie dieser spezifische Gegenstand wirkt und was er bedeutet; und dies wiederum erfordert es, zu bestimmen, auf welche Vermögen, Verhaltensmöglichkeiten und Praxisformen diese Wirkungen und Bedeutungen treffen. Schließlich ist Musik von Menschen und für Menschen gemacht.

3.

Zum Aufbau

Der Aufbau und die Vorgehensweise dieses Buches sind grundsätzlich dialektisch. Das bedeutet, daß Grundbegriffe, Grundsätze und konfligierende Positionen, die in seinem Verlauf erscheinen, weder einfach widerlegt noch an einem bestimmten Punkt als vollendet, bestätigt und ›definiert‹ ausgegeben werden. Vielmehr versuche ich, ihren Ort in dem komplexen Ganzen der Momente des musikalischen Sinnes und Verstehens herauszufinden, so daß sie sich gegenseitig erhellen. Anders gesagt: Es gibt keinen archimedischen Punkt, auf den man sich stellen und von dem aus ›die‹ Musik schlechthin besser oder schlechter besprochen werden könnte, sondern die hier besprochenen Positionen sind in der Tat Standpunkte oder Blickwinkel, von 28 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zum Aufbau

denen aus jeweils Verschiedenes an der Musik deutlich wird – um den Preis, anderes zu verdecken. So gesehen geht es mir vor allem darum, Begrenzungen und Bedingtheiten einzelner Standpunkte möglichst klar darzulegen. Sofern es um das Ganze geht, ist es in mancher Hinsicht willkürlich, womit man den Anfang macht. Ich habe als Anfang eine einfache Position gewählt, die ich so einleuchtend wie möglich zu machen suche. Dies ist ein sogenannter »Formalismus«, der besonders geeignet ist, Musik und ihren Sinn von anderen Formen des Sinnes zu unterscheiden. Das, was am Formalismus einfach-richtig ist, kann anschließend als Grundlage gelten, um andere Themen wie etwa den Klang oder das Gefühlshafte und Leibliche in Bezug auf die Musik anzusprechen; zugleich wird es durch die Erweiterung um diese Themen korrigiert und angereichert, so daß das Komplex-Richtige der anfänglichen formalistischen Grundsätze expliziert und in ein Verhältnis zu Einsichten gesetzt werden kann, die ihm scheinbar widersprechen. Alternativ wäre es beispielsweise auch möglich, mit einer einfachen »Gefühlsästhetik« zu beginnen, ihre Wahrheit herauszustellen und sie anschließend durch »formalistische« Einsichten zu korrigieren. Am Ende dürfte dabei ein recht ähnliches Bild des Ganzen dastehen. Drei Zwischentitel haben den Zweck, in dem teilweise kleinteiligen Durchgang besonders markante Perspektivwechsel anzuzeigen. Zu Ende von Kap. e. führt die Diskussion des Formalismus bzw. dessen, was der Musik spezifisch ist, entweder auf Lücken oder auf eine Aporie, die dadurch bedingt sind, daß bis dahin für selbstverständlich gehalten wurde, wir wüßten, was es heißt, Klänge zu hören. Dies ist aber nicht der Fall gewesen. Dementsprechend verschiebt sich die Perspektive auf die Frage nach der Wahrnehmung, der Erfahrung oder des Erlebnisses der Musik, und zwar auch unter Aspekten, die die Musik notwendig mit ausmachen, aber nicht für sie spezifisch sind. Die ›Stofflichkeit‹ des Klanges und die leibliche, oft als affektiv behandelte Seite musikalischer Erfahrung treten in den Vordergrund. Um sie möglichst genau in ihrem Stellenwert für das musikalische Verstehen analysieren zu können, lege ich Helmuth Plessners bislang stark vernachlässigte Thesen zur Musik aus, da sie einige fundamentale Einsichten enthalten, mit deren Hilfe die Schwächen anderer, gängigerer Überlegungen zur Emotionalität musikalischen Erlebens und zum Ausdrucksgehalt der Musik überwunden werden können. Sie führen das, was musikalische Erfahrung mit weiteren Formen 29 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Einleitung

von Erfahrungen verbindet, mit der Differenz der musikalischen Erfahrung und des Hörens von Klängen von anderen Formen des Erfahrens, Verstehens und Wahrnehmens zusammen. In der Folge der Interpretation Plessners ist das musikalische Verstehen wesentlich ein Verstehen im Vollzug, von dem kein Ergebnis abgezogen werden kann, das vor unserer Reflexion gewissermaßen stillhält. Ein Wechsel zu einer dritten Perspektive richtet sich auf den Zusammenhang zwischen dieser elementaren, vollzugshaften Erfahrung der Musik und der Tatsache, daß es eine große Menge von Praktiken musikalischen Verstehens gibt, die mit begrifflichen und sprachlichen Festlegungen operieren. Er richtet sich auf die Vergegenständlichung und die Repräsentation musikalischen Verstehens, denn nicht zuletzt an diese – und eben nicht an das Erklingen allein – knüpfen sich jene Praktiken. »Repräsentation« wähle ich als Titelwort, das jene Praktiken zusammenhält. Unter ihm treten drei Momente in ein Verhältnis: das zuvor besprochene Moment des leiblichen Nachvollzuges, das »formalistische« Moment, das die Strukturierung der Musik in Tonhöhen und Tondauern in den Mittelpunkt stellt, und das Moment symbolischen Sinnes, das der Musik aufgrund ihrer Entstehung in Praxisbezügen zukommt. Immer wieder bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Medien der Repräsentation der Musik und ihres Sinnes. Eine wichtige Rolle spielt die Notenschrift, nicht zuletzt als Ausgangspunkt musikalischer Analyse (Kap. l.2. und n.). Sehr wichtig ist es ferner, daß man sich über die Rolle des Sprechens über Musik klar wird. Dieses Thema durchzieht die Diskussionen von Kap. k. an. Essentiell ist dabei die Unterscheidung zwischen einer benennenden und einer erschließenden Funktion der Sprache. Um die letztere zu verstehen, ist es besonders hilfreich, den Begriff der Metapher zu besprechen; ihm widmen sich die exkurshaften Abschnitte n.4., o.2. und q.3. Geht es darum, den Begriff musikalischen Sinnes zu erschließen, so ist schließlich nicht zu vergessen, daß Musik nicht einfach da ist, sondern von Menschen gemacht und (aus-)gedacht wurde. Die Frage nach diesem Machen und Denken führt am Ende die Diskussionen dieses Buches zusammen. Man kann es so bestimmen, daß es seinen Kern in einer handwerksmäßigen, über weite Strecken durch konventionelle, je kulturspezifische Regeln bestimmten Technik hat. Interessanter ist es aber, dasjenige am musikalischen Sinn zu untersuchen, was aus dem Überkommenen und Regelhaften herausbricht. Diese an Adorno anknüpfende Untersuchung weist darauf hin, daß musika30 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zum Aufbau

lisches Machen und Denken nicht nur eine Technik ist, die mit einem vorliegenden Klangmaterial arbeitet, sondern ein Prozeß der Deutung und der Aneignung (oder Zurückweisung oder Dekonstruktion) von Sinnmomenten, die dieses Material aufgrund der Geschichte seiner Gemachtheit in sich sammelt.

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Musik erkennen – Die Form der Musik

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a. Innermusikalischer Sinn, Form und Formalismus: Zur Einleitung

Ausgangspunkt dieser Untersuchung sei die Behauptung, daß der Sinn der Musik innermusikalisch sei und daß Musik zu verstehen dementsprechend heiße, Zusammenhänge innerhalb der Musik zu erkennen, im einfachsten Fall etwa einer Melodie zu folgen. Musik zu verstehen heißt nach dieser Behauptung nicht, in der Musik eine Bedeutung zu finden, die auf etwas außerhalb ihrer verweist: Weder gehört es zum Sinn der Musik, daß sie Gedanken mitteilt, die unabhängig von ihr zu fassen wären, zum Beispiel, daß sie Aufschlüsse über die Weltanschauung oder die Gefühle ihres Schöpfers gäbe, noch, daß sie beliebige Ereignisse darstellt. Antonio Vivaldis beliebte Quattro stagioni verstehen wir nach der in Frage stehenden Behauptung auf eine Weise, die für die Musik hinreichend ist, auch dann, wenn uns die Sommergewitter, feiernden Bauern oder Kaminfeuer, von denen die beigelegten Sonette sprechen, nicht in den Sinn kommen. Was ist nun das Innermusikalische, das den Sinn der Musik bildet? – Allen Positionen, die in den folgenden Kapiteln in Frage stehen, ist gemeinsam, daß sie sagen: Es ist die Form der Musik, oder die musikalischen Formen. Der Begriff der Form hat nun eine große Spannweite. Die zu betrachtenden Thesen sehen Form teilweise als etwas an, das durch die Wahrnehmung erfaßt wird. Das heißt erstens, daß Form in einem gewissen Sinn materiell ist, und zweitens, daß sie unseren Sinnen unmittelbar zugänglich ist. 1 Teilweise sehen sie Form als etwas GeGegen Mißverständnisse sind zwei Anmerkungen vonnöten: (1) Was die Materialität von Musik ist, ist ein besonderes Problem. Der Einfachheit halber denke man sich vorläufig eine Analogie zu sichtbaren materialen Eigenschaften wie Farben und flächigen oder räumlichen Gestalten. Diese Beschreibung differenziere ich nach und nach. – (2) Unmittelbarkeit kann vermittelt sein; etwas unmittelbar zu erkennen oder wahrzunehmen muß nicht nach Art eines angeborenen Reflexes konzipiert, sondern kann erlernt sein. Wer einmal gelernt hat, mit Zahlen umzugehen, erkennt in diesem Sinne unmittelbar, daß 3 + 6 = 9; und wer sich genug mit Zierpflanzen beschäftigt

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Innermusikalischer Sinn, Form und Formalismus: Zur Einleitung

dachtes an, als ein konstruktives Gerüst, als ein System von Regeln der Komposition. Form in diesem Sinne ist häufig kein Gegenstand der Wahrnehmung, sondern erschließt sich nur der Reflexion oder der Analyse. Formen, die der Wahrnehmung unmittelbar zugänglich sind – Klanggestalten könnte man sie nennen –, und Formen im Sinne der Organisation der Klanggestalten zu Stücken oder Werken müssen nicht zugleich, oder wenigstens nicht im gleichen Maße, in einem Stück Musik vorliegen. Eine Reihung reizvoller Klanggestalten kann im größeren Maßstab desorganisiert und ›formlos‹ wirken; andererseits kann ein Stück streng konstruiert sein, ohne daß seine konstruktive Form sich der Wahrnehmung zeigt, so daß seine sinnliche Seite chaotisch und verwirrend erscheint. So wie eben gesagt, handelt es sich um theoretische Extremfälle. Praktisch wird man die jeweilige ›Formlosigkeit‹ selbst als formalen Aspekt verstehen, indem man Maßstäbe der Wohlgeformtheit anlegt. Dann muß man sagen, daß der eine oder der andere Aspekt der Form schlecht verwirklicht ist, statt zu sagen, er sei gar nicht da. Wir sind somit darauf verwiesen, daß der Formbegriff häufig normativ gebraucht wird. Die verschiedenen normativen Ansprüche, die aus verschieden gefaßten Formbegriffen abgeleitet sind, werde ich in ihren jeweiligen theoretischen Zusammenhängen diskutieren. In beiden Fällen sind die Formen, die den Sinn der Musik ausmachen, keine Formen von etwas außerhalb der Musik. Sie sind nichts Weltliches, das die Musik abbildet, nachbildet oder imitiert, sondern für sich verständlich. Wenn gesagt wird, daß das Wesen, der Sinn und schließlich der Wert der Musik in solchen Formen besteht, und entsprechend, daß musikalisches Verstehen wesentlich heißt, diese Formen zu erfassen, dann kann diese Grundposition Formalismus heißen. Abgesehen davon, daß ich dieses Wort als Kurzformel für eine durchaus heterogene Gruppe von Positionen verwende und es also mit Vorsicht gelesen werden muß, gibt es Anlässe, zu klären, was mit diesem Wort nicht gesagt werden soll. Zuallererst drängt sich ein Geruch von Polemik auf, zum Beihat, erkennt in diesem Sinne unmittelbar Hortensien und Kapuzinerkresse. »Unmittelbar« heißt dann soviel wie: ohne zu überlegen. Dieser eher populäre Begriff der Unmittelbarkeit bildet in den nächsten Kapiteln häufig den Hintergrund von Theorien des Wahrnehmens, Erkennens und Verstehens.

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Innermusikalischer Sinn, Form und Formalismus: Zur Einleitung

spiel deshalb, weil das Stichwort »Formalismus« als Kampfbegriff stalinistischer Kulturpolitik bekannt ist. Aber auch in kunstphilosophischen Diskussionen wird dieses Wort selten wertneutral gebraucht, sondern zumeist dazu, eine Theorie als mangelhaft zu kennzeichnen, ungefähr in dem Sinne, daß sie nur auf ›Formalitäten‹ Rücksicht nehme, nicht aber auf das, worauf es wirklich ankäme, nämlich auf Inhalte oder dergleichen. Diesen polemischen Anklang beabsichtige ich nicht. Daß man ihn oft mithört, mag dafür verantwortlich sein, daß es wenige Autoren gibt, die sich selbst als Formalisten bezeichnen. In der aktuellen musikphilosophischen Debatte sind dies vor allem Kivy und Zangwill. Die Position, die ich als Formalismus umrissen habe, ist in ihrer Allgemeinheit jedoch eine weithin geteilte Annahme. »Formalismus« ist also zumeist eine Fremd- und keine Selbstbeschreibung ästhetischer und philosophischer Grundannahmen. Treffen wir das Wort »Formalismus« in der wissenschaftlichen Literatur an, so ist in den meisten Fällen davon auszugehen, daß es sich um eine mehr oder weniger diffuse Position handelt, die der jeweilige Autor ablehnt. Treffen wir hingegen eine positiv ausgearbeitete formalistische Theorie an, so wird diese sich meist nicht Formalismus nennen. Im folgenden werden zahlreiche Autoren diskutiert, die die Bezeichnung »Formalist« von sich weisen würden. Bei differenzierter Betrachtung ist es jedoch kaum möglich, ohne gewisse allgemeine formalistische Annahmen Musikphilosophie zu treiben. Der Grund dafür ist, daß die beiden Aspekte des Formbegriffs – der wahrnehmbare und der konstruktiv-kompositorische Aspekt – nicht frei in der Luft hängen, sondern in einem dritten Formbegriff wurzeln. Sie sind Ausgestaltungen von etwas, das hier die Eigenform der Musik heißen wird; man könnte auch von ihrem Wesen im Sinne ihres eidos sprechen. Wenn die Wichtigkeit der wahrnehmbaren und der konstruktiv-kompositorischen Formen in der musikalischen Eigenform – dem, was der Musik eigentümlich und wesentlich ist – gründet, so können wir Carl Dahlhaus’ terminologischen Vorschlag verstehen: »Die Ästhetik, der von ihren Feinden das Etikett ›Formalismus‹ aufgeklebt wurde, die also verdächtig ist, die Musik zu einem leeren, nichtssagenden Spiel herabzusetzen, wäre, wenn man ihr gerecht zu werden versucht, eher als Ästhetik des ›spezifisch Musikalischen‹ zu charakterisieren.« 2 2

Dahlhaus 1967, S. 84; die Rede ist von Hanslicks Ästhetik.

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Innermusikalischer Sinn, Form und Formalismus: Zur Einleitung

Nichts anderes als Untersuchungen dessen, was für »spezifisch musikalisch« gehalten wird, stecken hinter den hier besprochenen Formalismen. Damit sind sie, wie sich zeigen wird, entweder selbst ontologische Untersuchungen, oder es verbirgt sich eine unausgesprochene Ontologie hinter ihnen: sie wollen sagen, was Musik ist, oder sie setzen eine bestimmte Ansicht darüber voraus, was Musik ist. Mit den (Wesens-)Bestimmungen der Musik geht einher, daß man fragt, wie der so bestimmte Gegenstand erfahren und verstanden werden kann. Die Ontologie fordert also bestimmte epistemologische und phänomenologische Ansichten heraus – und schließlich auch produktionsästhetische, indem es darum geht, zu sagen, nach welchen Bestimmungen Musik gemacht werden kann. Die Eigenform der Musik ist in grundsätzlich formalistischen Theorien vorausgesetzt, die verschiedenen Disziplinen entstammen: der Kognitionspsychologie, der Ästhetik, der musikalischen Analyse und der Komposition. Aber da sie eben meist nur vorausgesetzt ist, möchte ich zuvor zeigen, daß es gewichtige Elemente für ihre Begründung gibt. Insofern sie für die zu besprechenden Theorien relevant sind, trage ich sie im folgenden kompakt zusammen. Im Lauf der Zeit werden sich einige lose Enden und offene Fragen ergeben, die darauf hinweisen, inwiefern der formalistische Ansatz unvollständig ist. Von Kap. f. an wird es um Folgerungen aus diesen offenen Fragen und Problemen gehen. Sowohl das, was man unter »Form«, als auch das, was man unter »Wahrnehmung« versteht, wird sich dann nach und nach wandeln müssen.

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b. Die Eigenform der Musik

Eine entscheidende Intuition läßt sich folgendermaßen formulieren: Das, was uns an der Musik anspricht, kann pure klangliche Form sein. Daß sie uns anspricht, heißt nicht nur, daß sie uns reizvoll vorkommt wie eine weiche Decke oder ein Bad im lieblich temperierten See. Es heißt darüber hinaus, daß wir diese Form auf eine Weise auffassen, die implizit Maßstäbe der Wohlgeformtheit oder Regelmäßigkeit anlegt: Ohne je auf formale und reflektierte Weise etwas über Musik gelernt zu haben, sind die allermeisten Menschen spontan in der Lage, in den musikalischen Stilen, mit denen sie vertraut sind, falsche Töne und andere elementare Unregelmäßigkeiten zu identifizieren. Anders gesagt: Die allermeisten Menschen haben Erwartungen hinsichtlich der Gestalten, zu denen Töne sich ordnen können, und sie bemerken, wann der Verlauf der Musik diesen Erwartungen folgt oder eben nicht und also seltsam, unregelmäßig, ›falsch‹ zu sein scheint. Daß sehr ähnliche Prozesse für das Sprachverstehen wichtig sind – Erwartungen hinsichtlich des regelgemäßen, grammatischen Verlaufs einer sprachlichen Äußerung zu haben und zu erkennen, daß in einem Satz etwas fehlt, etwas zuviel ist u. dgl. –, regt dazu an, die analogen Prozesse der musikalischen Wahrnehmung als Verstehen einer Syntax zu bezeichnen. Häufen sich die Unregelmäßigkeiten und die ›Fehler‹ in der Musik oder ist die Struktur der Musik sehr komplex, neigen wir als naive Hörer dazu, zu sagen, wir verstünden die Musik nicht, ähnlich wie wir es von grammatisch ganz entstellten oder extrem hypotaktisch gebauten Sätzen sagen würden. Diese Intuition zum Verstehen musikalischer Abläufe betrifft ihre wahrnehmbare Form, und von ihr aus kann man versuchen, ihre empirischen (beispielsweise neurologischen oder evolutionären) Hintergründe zu klären. Hier soll es jedoch vielmehr um die Suche nach ihren ontologischen und epistemologischen Grundlagen gehen, das heißt um die Frage, was Musik zu Musik macht. Dies ist die Frage nach der Form der Musik im Sinne ihrer Eigenform. Um erste Bauoder Grenzsteine für ihre Bestimmung zu finden, sind zwei Wege 39 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Eigenform der Musik

hilfreich, die über Versuche führen, spezifische Differenzen der Musik auszumachen: erstens der Weg über den Unterschied zwischen der Musik und den Funktionen, die die anderen Arten der schönen Künste begründet haben, und zweitens der Weg über den Unterschied zwischen akustischen Ereignissen, die wir als Musik hören, und solchen, die wir als Geräusche hören. Beide Wege führen auf die Grundsätze, die den formalistischen Ansichten zugrundeliegen. Ich nenne sie zunächst, um dann auszuführen, was als ihre Begründung gelten kann.

b.1. Erster Grundsatz der musikalischen Eigenform Der erste Grundsatz, der der berichteten Intuition zugrundeliegt, lautet: Die Formen (in) der Musik sind nicht die Formen von etwas, das unabhängig außerhalb der Musik vorkommt und in der Musik dargestellt, imitiert oder bezeichnet wäre. Ihre Formen sind hinreichend in den Dimensionen der Tonhöhe, der Tondauer, der Dynamik und der Klangfarbe und ihren Beziehungen untereinander bestimmt. Wie sich diese Dimensionen zueinander verhalten, werde ich im weiteren Verlauf umreißen. Aus diesem Grundsatz folgt, daß wir Musik als solche überhaupt nur hören, wenn wir sie zuallererst als ein Spiel musikalischer Formen auffassen. Das Verständnis von Sprach- und Bildkünsten fordert dagegen, daß wir den Weltbezug der Zeichen- und Abbildungsfunktion kennen: Um ein Bild als solches zu verstehen, müssen wir verstehen, daß es ein Bild von etwas ist, und um die Sprache als solche zu verstehen, müssen wir verstehen, daß in ihr von etwas die Rede ist. Doch um Musik zu verstehen, müssen und dürfen wir auf einer grundlegenden Ebene nicht annehmen, daß sie ›Musik von etwas‹ sei. Diesen unterschiedlichen Verhältnissen, die bei Abbildungen, Sprache und Musik jeweils zwischen den wahrnehmbaren Formen und ihren eventuellen Inhalten bestehen, entspricht auch der unreflektierte Umgang mit ihnen: Am Bild ist unmittelbar klar, daß wir es mit einer Darstellung zu tun haben, und um es bloß als Kombination von Formen und Farben zu sehen, ist eine abstrahierende Anstrengung nötig; ebenso fassen wir Sprache unmittelbar als bedeutend auf, nicht als bloße Lautfolge. Im Fall der Musik jedoch muß man eine Darstellung erst hören wollen oder anderweitig darauf hingewiesen werden, daß Darstellung beabsichtigt ist; was uns unmittelbar begeg40 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Erster Grundsatz der musikalischen Eigenform

net, ist nur die Bewegung der Klänge. In dieser Hinsicht muß musikalisches Verstehen formalistisch und ohne Bezug auf so etwas wie Ausdruck oder Bedeutung gefaßt werden, während der verstehende Umgang mit den anderen Künsten auf den Zusammenhang zwischen Form, Medium und Inhalt verweist. In der Musik fällt die Beziehung auf einen Inhalt fort. Sie ist aus dem Blickwinkel des Vergleichs mit anderen referentiellen Funktionen inhaltslos, und zwar wesentlich: Musik ist ohne Bezug auf das Außermusikalische nicht nur möglich, sondern sie ist als Musik nur dann möglich, wenn sie in ihrem Ursprung keinen solchen Bezug hat. Was ist denn mit den Stücken »Der Schwan«, »Der Dichter spricht«, »Straight No Chaser«? Sind sie unmögliche Musik? Nein, aber der Bezug auf Außermusikalisches, den die Titel suggerieren, ist der Musik nachgeordnet. Es gibt nichts am Schwan, an der Rede des Dichters oder an dem Drink, das in irgendeiner Weise dazu beiträgt, die entsprechend betitelte Musik zu Musik zu machen. Sie tragen nichts zur Eigenform der Musik bei, sondern lenken bestenfalls die Formung einer auf den Kategorien dieser Eigenform beruhenden Struktur, so daß die Ausarbeitung der musikalischen Formen auf irgendeine Weise auf die im Titel angegebenen Dinge beziehbar ist. »Der dichterische Text eines Liedes, die dramatische Handlung einer Opernszene liefern nur den Anlaß und den allgemeinen Rahmen für eine musikalische Struktur, deren Sinngehalt letzlich musikimmanent, d. h. durch syntaktische Bezüge und pragmatische Verwendungsweisen, definiert wird. Der Text, der musikalisch vermittelt wird, ist dann Orientierung für eine bestimmte Verstehensweise und die begriffliche Deutung des innermusikalischen Sinnes.« (Gruhn 1989, S. 90)

Die eben artikulierte Grenze darf nicht mißverstanden werden. Sie verläuft nicht zwischen der Musik und anderen historisch etablierten Kunstgattungen. Stattdessen verläuft sie zwischen bestimmten Funktionen, die die einzelnen Gattungen in ihrer Entwicklung teilweise hinter sich gelassen haben, so wie die Malerei die Darstellungsfunktion. Sinn und Verstehen in der Musik haben auf dem Boden dieses Gedankens nichts mit referentiellen Funktionen zu tun. Sinn und Verstehen bedeuten hier etwas Anderes, aber nicht Unvertrautes: Sinn bedeutet, daß etwas eine Regel hat und ihr folgt, und Verstehen heißt die (wenn auch implizite) Kenntnis der Regel und die Erkenntnis eines Gegenstandes nach seiner Regel. Der Maßstab, nach dem 41 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Eigenform der Musik

Musik sinnvoll ist, sind Regelmäßigkeiten der musikalischen Form, und die entsprechende Fähigkeit, Musik zu verstehen, besteht darin, ihre Entsprechung mit solchen Regelmäßigkeiten aufzufassen. Diese Fähigkeit zeigt sich darin, Elemente der Musik zu identifizieren und reproduzieren zu können. Sie zeigt sich im Falle des in einer bestimmten Tonsprache geübten Hörers auch auf der Ebene größerer musikalischer Abschnitte, auf der festgestellt wird, welche Abläufe – Fortführungen, Verarbeitungen und Wiederaufnahmen von Themen; die Abfolge von Thema und Soli im Jazz; Songstrukturen aus Refrain, Strophe, Bridge – üblich und erwartbar sind. Auf dieser Ebene verstehen wir im Einzelfall, daß die Musik einen üblichen oder einen überraschenden Verlauf nimmt: »Ganz allgemein müssen Hörer dem Gang der Musik so folgen, daß deren Verlauf Sinn ergibt. Dazu ist es erforderlich, daß Hörer in der Lage sind, zu jedem gegebenen Zeitpunkt vorherzusagen, wie sich die Musik entwickeln wird. Erforderlich ist zudem, daß sie dabei oft richtig liegen, und dort[,] wo sie irren, zwischen überraschenden, aber angemessenen Fortsetzungen und Aufführungs- oder Kompositionsfehlern unterscheiden […] können.« (Davies 2007, S. 30 f.)

Dieser Begriff des Verstehens als Kenntnis der Regelmäßigkeit ist es, der auch die mögliche Verwendung von »richtig« und »falsch« in der Musik anleitet. Während die Behauptung, in einer Abbildung erschiene eine Farbe oder eine Form »falsch«, sich auf das Abgebildete beruft – »Pferde sind nicht blau!« 1 – ist die Wahrnehmung, daß ein Ton »falsch« erscheint, nur aus den musikalischen Regelmäßigkeiten heraus zu begründen.

b.2. Zweiter Grundsatz der musikalischen Eigenform – Musikalische Bewegung im musikalischen Raum Neben der Tatsache, daß wir Klänge zu Formen geordnet hören, die nicht die Formen von etwas sind, das sie repräsentieren oder imitieren, ist eine zweite Abgrenzung aufschlußreich. Es ist die Abgren-

Freilich sind die Beziehung der Abbildungsfunktion auf ihren Gegenstand und der Maßstab, nach dem eine Abbildung als richtig oder falsch erscheint, selbst flexibel, aber daß es diese Beziehung überhaupt gibt, steht nicht in Frage, solang eine Abbildung vorliegt. Anders ist es bei Ornamenten, die ein eigenes Thema sind.

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Zweiter Grundsatz der musikalischen Eigenform

zung zwischen dem nichtmusikalischen akustischen Ereignis und dem musikalischen Klang oder Ton. »Nichtmusikalisches akustisches Ereignis« ist ein sperriger Ausdruck. Statt seiner ist häufig von »Geräusch« als Gegensatz zu Klängen oder Tönen die Rede. Jedoch möchte ich hier vorerst den Eindruck vermeiden, daß die psychoakustische Unterscheidung zwischen Klängen bzw. Tönen und Geräuschen, die man hinsichtlich der Regelmäßigkeit der Schallschwingungen treffen kann 2 , mit der Unterscheidung zusammenfällt, die ich im Sinn habe, denn grundsätzlich kann ein Geräusch im psychoakustischen Sinn in einen musikalischen Kontext treten und zum Klang werden 3 ; auf der anderen Seite kann musikalischer Klang ›unmusikalisch‹ aufgefaßt werden: dann ist er bloßes akustisches Ereignis, etwa störender Lärm, oder er ist mit einer nichtmusikalischen Funktion versehen, beispielsweise als Signal. Die Abgrenzung wird besonders deutlich, wenn wir zwei zusammenhängende Begriffe als Vergleichsaspekte benutzen: Bewegung und Raum. Der Grundsatz für die Unterscheidung zwischen Musik und nichtmusikalischen akustischen Ereignissen lautet aus dieser Perspektive: Musikalische Klänge bewegen sich – als eigenständige Entitäten – im musikalischen Raum, während die Bewegung und der Ort nichtmusikalischer akustischer Ereignisse 4 von der Bewegung und dem Ort ihrer Quellen abhängen (vgl. Herrmann-Sinai 2009, S. 895 f.). Parallel zu der Formulierung am Anfang des vorhergehenden Abschnittes heißt das: Die Form des musikalischen Raumes und der musikalischen Bewegung ist nicht von der Form, dem Ort und der

Vgl. Hesse 1995, Sp. 1105 f.: »Die meisten in der Natur auftretenden Schallschwingungen laufen mehr oder weniger unregelmäßig ab, unser Ohr nimmt sie als Geräusche wahr. Ist die Schwingung dagegen periodisch […], so hören wir einen Ton oder einen aus mehreren Tönen bestehenden Mehrklang.« 3 Besonders in der Musik der letzten Jahrzehnte wird das Klangwerden zum Thema; dies ist jedoch ein eigens zu behandelndes Thema, das die hier vorzustellende Abgrenzung modifiziert und zugleich von ihr lebt, so daß es darum geht, den Moment zu erfassen, in dem Musik wird und sich dem Außermusikalischen ›entreißt‹. Gerade dieser ›gefährliche‹ Moment ist interessant. Vgl. hierzu Kap. f., g.4.–5. und r.2.–4. 4 Daß akustische Ereignisse einen Ort haben, ist selbst Gegenstand einer Debatte, die ich hier nicht wiedergebe; s. O’Callaghan 2007, Kap. 3. Ich folge O’Callaghans These: »Hearing […] consciously furnishes information about the locations of objects and events in the environment by or in consciously presenting sounds themselves as located in the surrounding environment.« (ebd., S. 32) 2

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Die Eigenform der Musik

Bewegung der materiellen Ursachen der Musik abhängig. Einige Beispiele mögen diesen Grundsatz klarer machen. Wir stehen beim Festumzug und der Bandwagon zieht vorbei. Beide soeben voneinander unterschiedenen Arten der Bewegung sind gegenwärtig: die Bewegung der Musik in sich und die Bewegung der Musik durch den physikalischen Raum. Hält der Wagen an, ändert sich nichts an der ersten Art der Bewegung, während die zweite aufhört. Fährt der Wagen, während die Band einen einzigen Ton unverändert aushält, herrscht Stillstand in einem musikalischen Raum, während wir zugleich hören, wie der musikalisch stehende Ton an uns vorbeitransportiert wird. Aus den genannten Grundsätzen folgt auch eine Diskrepanz hinsichtlich der Entscheidung, wann ein Klang oder ein akustisches Ereignis ein einziges Ereignis ist, das lediglich seine Qualitäten ändert, und wann es von einem anderen Klang oder einem anderen Ereignis abgelöst wird. Eine Posaune spielt den Ton cis, eine zweite Posaune stimmt in den gleichen Ton ein, und die erste Posaune hört auf. Oder: eine Posaune spielt die Töne cis und h, glissando miteinander verbunden. In musikalischer Rede würde man vom ersten Fall sagen, daß ein Ton von einem Instrument zum anderen weitergereicht wird, aber daß er dabei derselbe Ton bleibt, während im zweiten Fall eine Tonfolge vorliegt. In nichtmusikalischer Rede (vgl. O’Callaghan 2007, S. 62 f.) ist es möglich, zu sagen, daß im ersten Fall zwei akustische Ereignisse stattfinden, da zwei getrennte Dinge die Klänge hervorbringen, und daß es im zweiten Fall nur einen Klang gibt, der seine Qualität verändert. Die nichtmusikalische Rede lautet: »Die Posaune klingt am Ende anders als am Anfang« und ist auf der gleichen Ebene wie: »Der Motor klingt tiefer, wenn er langsamer läuft.« In nichtmusikalischer Rede wird der Klang nach seiner Quelle individuiert, in der musikalischen Rede nach musikalisch relevanten Maßen wie der Tonhöhe. »Pitch-streaming phenomena« sind ein klassisches Experiment der Musikpsychologie. Dabei werden die Töne zweier simultaner, paralleler Tonleitern oder anderer einfacher musikalischer Gestalten auf im Raum getrennte Instrumente oder auf zwei Kopfhörer verteilt:

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Zweiter Grundsatz der musikalischen Eigenform

links

rechts

Ÿ

0Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ  1Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ 

Das Gehör tendiert stark dazu, die Verteilung der Töne im physikalischen Raum zu ignorieren und die Töne stattdessen nach ihrer Tonhöhennachbarschaft zu gruppieren:

Ÿ  1 Ÿ 0 ŸŸ ŸŸ ŸŸ ŸŸ 1 Ÿ Ÿ Ÿ Ÿ Solche Fälle zeigen, daß die Alltagsfunktion des Gehörs, Geräusche als Informationen über den Ort und die Bewegung von Geräuschquellen im physikalischen Raum – zum Beispiel des Straßenverkehrs – zu interpretieren, auf erstaunliche Weise zugunsten musikalischer Gestaltbildung unterdrückt wird. 5 Alltägliche Redeweisen deuten auf den Unterschied zwischen diesen beiden Hörweisen und ihren Gegenständen hin. Im Fall von Geräuschen oder Klängen außerhalb musikalischer Kontexte sagen wir: »Ich höre Schritte«, »ich höre ein Fahrrad übers Pflaster rollen«, »ich höre einen Baumläufer pfeifen«. Wir sagen also, daß wir Gegenstände oder Ereignisse, an denen jene Gegenstände beteiligt sind, hören. Das akustische Ereignis selbst erscheint als bloßer Hinweis auf einen Sachverhalt oder als akustisches Akzidens einer Substanz. Der musikalische Klang hingegen erscheint selbst als Substanz. Wenn wir davon reden wollen, daß wir Musik hören, ist es weniger aussagekräftig, zu sagen: »Ich höre eine Blaskapelle«, als etwas zu sagen wie: »Ich höre eine Polka«, »ich höre, daß der Mittelteil in Moll beginnt«, »ich höre, wie die Melodie aufwärts springt«. Daß wir die Instrumente und Musiker als Klangquellen hören, wäre die weniger interessan5

Genaueres zu diesem Beispiel bei Nussbaum 2007, S. 74–76.

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Die Eigenform der Musik

te Aussage über die Musik. Wir sprechen vielmehr davon, Klänge und ihre Beziehungen selbst zu hören. In dieser »musikalischen« Redeweise »wird also nicht das Klingen als Akzidens einer Substanz ausgesagt, sondern der Klang selbst« – ausgedrückt in musikalischen Begriffen wie »Polka«, »Mittelteil«, »Melodie«, »Stimme« – »steht in diesem Aussagetyp an Subjektstelle – von ihm wird etwas ausgesagt.« 6 Zu beachten ist freilich, daß nicht von vornherein deutlich ist, was genau die Substanz oder das Ereignis sind, denen wir die Bewegung zuschreiben. Sie sind nicht ein einzelner Ton: im Tonschritt c-d bewegt sich nicht das c zum d, sondern die Melodie bewegt sich von c nach d. Was aber ist die Melodie als ›Substanz‹, und von welcher Art ist diese Bewegung? Heißt Bewegung nicht, daß ein Gegenstand seinen Ort verändert und dabei derselbe bleibt? Im Falle der Melodie sind aber in dem einen Moment der Bewegung ganz andere Töne vorhanden als in einem anderen Moment, und die Melodie selbst scheint es nicht außerhalb ihrer Bewegung als ruhenden, zeitlosen Gegenstand zu geben. Ich werde – wenn auch nur aus dem Grund, daß ich nicht wüßte, wie wir anders sprechen sollten – die Rede von musikalischer Bewegung und musikalischem Raum an dieser Stelle weiter gebrauchen, ohne auf diese Sorgen Rücksicht zu nehmen. Es ist aber klar, daß die musikalischen und die alltagsweltlichen Redeweisen von Raum, Bewegung und sich im Raum bewegenden Gegenständen an dieser Stelle schlecht zusammenpassen und vorerst nur abstrakt negativ zueinander stehen. Die positive Beziehung zwischen ihnen muß eine ausführlichere Untersuchung klären, die das Wesen des Klanges in einen engeren Zusammenhang mit der Erfahrung des Klanges bringt (Kap. f.–h.). Die aufgezeigte Differenz in der Wahrnehmung und der Beschreibung der Ontologie des jeweils Wahrgenommenen betrifft zugleich das Verständnis und den Sinn von hörbaren Ereignissen im musikalischen Raum einerseits und im nicht-musikalischen Raum andererseits. Im letzteren Fall verweisen Klänge und Geräusche auf Weltliches, indem sie ihre Entstehung verraten: In ihnen werden die Dinge, Stoffe und Kräfte offenbar, die an einem klangproduzierenden Ereignis beteiligt waren. Derartige Verweisungen sind der Sinn von Geräuschen. Aber genau aus diesem Verweisungszusammenhang löst sich die musikalische Bewegung im musikalischen Raum heraus. 6

Herrmann-Sinai 2009, S. 896; nach Scruton 1997, S. 6 f.

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Zweiter Grundsatz der musikalischen Eigenform

Wie ist diese Herauslösung möglich? Eine elementare Antwort auf diese Frage greift nun doch auf eine Bestimmung zurück, die ich zu Beginn dieses Abschnittes in den Hintergrund gestellt hatte, nämlich auf die psychoakustische (d. h. nicht physikalisch-akustische), auf der Periodizität oder Aperiodizität der Schallschwingungen beruhende Unterscheidung zwischen Ton und Geräusch. Diese elementare Antwort hat Christian Grüny ausgeführt. Er spricht von der »musikalischen Differenz«, wenn er die Unterscheidung zwischen Musik und »Geräuschen […] als Indikatoren von Veränderungen der Dinge der Welt« meint (Grüny 2009, S. 911), und bemerkt, daß der Ton als Fundament der musikalischen Differenz gelten kann. 7 Musikalische Bewegung in einem musikalischen Raum, die kategorial von Bewegungen im physikalischen Raum unterschieden sind, gibt es also für unser Ohr vorrangig als Bewegung in Tönen, die von Geräuschen dadurch unterschieden sind, daß sie eine hörbare Tonhöhe haben. Überall dort, wo man sich mit den fundamentalen Phänomenen befaßt, die die musikalische Bewegung und der musikalische Raum sind, scheint es vorausgesetzt zu sein, daß musikalische Bewegung im vollen Sinne eine Bewegung in Tonhöhen sein muß – die Frage der rhythmischen Bewegung behandle ich im nächsten Abschnitt und genauer in Kap. g. – und daß die möglichen Ordnungen des musikalischen Raumes nur als Tonhöhenordnungen verwirklicht werden können. Diese ausgezeichnete Stellung der Tonhöhe ist ein merkwürdiger Sachverhalt. Ich werde versuchen, zu skizzieren, in welche eigentümlichen, die musikalische Bewegung (mit-)konstituierenden Ordnungen nur Tonhöhen treten können. 8 In diesem Zusammenhang ist es instruktiv, Grünys Erläuterungen weiter zu verfolgen. Er führt aus, daß der Ton Grüny differenziert: Es gibt »Musik, die über das traditionelle Tonrepertoire hinausgeht oder gar ganz ohne Töne auskommt. Auch wenn damit die Hoffnung zerstreut ist, eine echte musikalische Universalie vor sich zu haben, bleibt der Ton doch eine basale Erscheinung so vieler unterschiedlicher Musikformen und hat eine derart zwingende musikalische Gestalt, dass er als eine sehr spezifische und markante Figur der Differenz einen nahe liegenden Ausgangspunkt bilden kann« (ebd., S. 913). Mir geht es an dieser Stelle nicht um die starke These, daß der Ton das einzige Fundament der Musik ist, sondern um den Gedanken, daß der Ton für die ›unmittelbare‹ Wahrnehmung das eindeutigste, stärkste Fundament dafür ist, daß wir etwas als Musik identifizieren. 8 Wieso nur Tonhöhen Elemente dieser Ordnungen sein können und nicht etwa gleichartige Ordnungen sich für Lichtwellen konstituieren, ist eine Frage, die noch offen bleiben muß; Hinweise zu ihrer Beantwortung trage ich in Kap. h. zusammen. 7

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Die Eigenform der Musik

»sich durch einen sehr starken Identitätseindruck auszeichnet, der mit seiner Konzentration und seiner deutlichen Abgrenzung nach außen zusammenhängt. Er emanzipiert sich mühelos vom Indexcharakter, den das Hörbare sonst trägt, und wird nicht als spezifisches Geräusch eines Instruments oder einer Stimme gehört, sondern eben als Ton« (ebd., S. 914),

der als solcher eine Differenz zu allem anderen herstellt, das hörbar ist. Diese Differenz ist das Fundament der musikalischen Differenz. Grüny nimmt an, daß auch ein nur zufällig produzierter einzelner Ton unser Hören zu einem unmittelbaren »Umspringen« (ebd., S. 916) veranlaßt, nämlich dazu, den Ton nicht als Verweis auf eine Klangquelle in ihrer materiellen Realität aufzufassen, sondern als Eröffnung eines musikalischen Raumes und musikalischer Erwartungen, die auf weitere Töne zielen, die mit dem eben erklungenen in eine musikalische Beziehung treten. Der Ton ist somit ein »die musikalische Differenz sozusagen automatisch erzeugendes Element« (ebd., S. 920). Es ist eine sinnvolle Modifikation dieses Ansatzes, die ihn aber nicht wesentlich verändert, wenn man sagt: Nicht der einzelne Ton bringt die musikalische Differenz hervor, sondern das Verhältnis von mindestens zwei Tönen. Dieses Verhältnis ist unweigerlich als harmonisches oder melodisches Verhältnis hörbar und die Keimzelle weiterer harmonischer oder melodischer Entwicklungen. Nach dieser Ansicht ist der einzelne Ton zwar frei vom »Indexcharaker« des Geräuschs, aber musikalisch gleichgültig, denn ihm fehlt noch eine Ordnung, die ihn als Element eines musikalischen Raumes erscheinen läßt. Diese Ordnung eröffnet ein zweiter Ton, der sich zu dem ersten in ein Verhältnis setzt; in diesem Verhältnis beginnt sich der musikalische Raum aufzuspannen. Dies erschwert die Integration des Nicht-Tons – des Geräuschs – in musikalische Kontexte. Musik, die das Geräusch einbezieht, reflektiert nach Grüny die musikalische Differenz und den Prozeß der Differenzierung selbst: Wir hören etwas, das kein Ton und noch nicht Musik ist, hören aber auch, daß es sich auf der Schwelle zur Einordnung in die Musik befindet: Wir hören, wie etwas zu Musik wird. Vergleichbares gilt umgekehrt für Musik, wenn sie als Element einer akustischen Umgebung, Lärm, Geräusch gilt. Der Grundsatz der musikalischen Eigenform und die zu Anfang dieses Abschnitts genannten Beispiele wären nun so zu präzisieren, daß Musik, die als Wirkung einer Klangquelle im physikalischen Raum aufgefaßt wird – Musik, die man hört, der man aber nicht zuhört –, Musik auf der 48 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zweiter Grundsatz der musikalischen Eigenform

Schwelle zur Nicht-Musik ist. Die grundsätzliche Möglichkeit der Unterscheidung zwischen musikalischem und physikalischem Raum wird jedoch durch diese Präzisierung nicht aufgelöst. Indem der Ton gegen eine Geräuschumgebung abgegrenzt, für sich stehend und substantiell erscheint, reduziert er den Charakter des Verweises auf seinen Erzeugungszusammenhang. Mit Grüny kann dies als Versuch einer Begründung gelten, warum nach ihrer Tonhöhe bestimmte Töne für eine Ordnung eigener Art offen sind, deren Ordnungsdimension ich als musikalischen Raum bezeichnet haben. Ich schildere nun kurz seine wesentlichen Züge, wie wir sie kennen. Diese Schilderung dient hauptsächlich der Illustration und erhebt keinen ästhetisch normativen Anspruch, denn es gibt Musik, die so gemacht ist, daß sie uns dazu bringen soll, diese Züge zu ignorieren und Musik ganz anders zu hören. Ein erster Zug ist die Gliederung des Bereichs der Tonhöhen in eine begrenzte Zahl von Kategorien. Diese Kategorien sind die Töne eines Tonsystems, und der Übergang zwischen Tönen ist nicht gleitend – wenn doch, erscheint die Gleitbewegung nur als ein unbestimmtes Dazwischen, dessen Grenze bestimmte Töne sind –, sondern schrittweise. Diese Tonschritte sind Intervalle, deren Größen fixiert sind. So kommt die erste Begrenzung der Tonkategorien zustande. Die zweite Begrenzung ergibt sich daraus, daß die Tonschritte auf- und abwärts nicht zu immer neuen Tönen, sondern zu einem mit dem Ausgangston identischen Ton führen, der zum Ausgangston im Tonhöhenverhältnis 2:1 steht. In der westlichen Musik heißt dieser Ton Oktave. Diese beiden Prinzipien – kategorial fixierte Intervallgrößen und Oktavgleichheit – erscheinen in allen entwickelten Tonsystemen. Töne, die akustisch nicht genau mit diesen kategorialen Schritten übereinstimmen, hören wir den Tonkategorien entsprechend zurecht und verstehen sie als Varianten der kategorialen Töne: Wird der Tonschritt c-d zu groß intoniert, hören wir ein zu hohes d; wird er viel zu groß, hören wir eine Terz c-es; aber wir hören keinen eigenen Ton zwischen d und es. 9 Die kategorialen Töne und Intervalle Dies gilt nicht mehr für avancierte Kompositionstechniken, in denen die Arbeit mit Achteltönen der Standard sind. Hier sind wir angehalten, neue Tonkategorien zu bilden. An dieser Stelle kann ich nicht näher auf diese Entwicklung eingehen. Zu betonen ist jedoch: Keinem ernstzunehmendem Komponisten gerät der besondere Rang der traditionellen tonalen Ordnung mit ihren Intervallkategorien aus dem Blick, so daß er annehmen würde, ein Achteltonsystem ließe sich spontan auf die gleiche einleuchtende Weise hören. Claus-Steffen Mahnkopf (2004, S. 41) beispielsweise sagt

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Die Eigenform der Musik

umfassen also eine gewisse Bandbreite von physikalisch feststellbaren Frequenzverhältnissen und sind nicht auf eine eindeutige Frequenz fixiert. Ein zweiter Zug ist, daß die solcherart begrenzten Töne nicht gleichgültig nebeneinander stehen. Sie stehen in charakteristischen Verhältnissen zueinander. Solche Verhältnisse liegen tonalen Ordnungen zugrunde, in denen jeder Ton einen eigentümlichen Charakter oder eine Funktion trägt, die seine Beziehung zu anderen Tönen bestimmt. – Die Annahme ist populär, daß tonale Ordnung grundsätzlich die okzidentale Dur-Moll-Tonalität der letzten Jahrhunderte bedeute. Solch eine Einschränkung ist hier nicht gemeint. Tonale Ordnungen sind kultur- und epochenspezifisch, auch wenn der Versuch, das uns vertraute Modell zu naturalisieren, immer wieder unternommen wird. Daraus, daß Töne eine Funktion in einem System haben, folgt als dritter Zug die Möglichkeit, daß Bewegungen im musikalischen Raum gerichtet sind, nämlich zu Ruhepunkten hin und von ihnen weg. Es ist also möglich, an einer musikalischen Bewegung zu hören, ob sie zum Ende kommt oder ob sie abbricht oder offengelassen wird. 10 Ich male diese Züge des musikalischen Raumes nicht weiter aus; es soll genügen, wenn man sich vorstellen kann, wie wir Bewegungen in ihm wahrnehmen: als steigend und fallend, als zielgerichtet oder abschweifend, wie zum Beispiel die fortstrebenden Modulationen in den Durchführungsteilen vieler Haydnscher Symphonien. Und es soll genügen, wenn man bemerkt, daß dies eine Bewegung in der Ordnung der Tonhöhen ist, die keine weiteren Ordnungskategorien erfordert, um durch ihre »dynamischen Innenspannungen derart reiche Gestaltungsmöglichkeiten [zu eröffnen], die auf andere Weise nur schwer erreichbar sind.« (Grüny 2009, S. 926) Warum sollte diese Ordnung als »Raum« bezeichnet werden? Einen Teil der Antwort gibt Gunnar Hindrichs, indem er mit Leibniz sagt, Raum sei, was eine »Ordnung des Beisammenseins« sei (2007, S. 55). Er ist als diejenige Ordnung zu verstehen, die es uns erlaubt,

hierzu, die Fähigkeit, wie selbstverständlich solche mikrotonalen Ordnungen zu erfassen, sei eine Utopie – wenn auch eine, die für das zeitgenössiche Komponieren unabdingbar sei. 10 Vgl. Hindrichs 2007, S. 57–62, bzw. 2014, S. 163–169, für eine gedankenreiche Differenzierung der horizontalen Richtung des musikalischen Raums.

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Musikalische Zeit: Vorläufiges zum Begriff des Rhythmus

Klänge in Beziehungen zueinander zu setzen. Wenn wir einen Ton a hören und später einen Ton b und dies als Halbtonschritt oder als die Beziehung Leitton-Tonika hören, haben wir sie, so Hindrichs, bereits aus dem bloßen zeitlichen Ablauf herausgehoben und ›zusammengedacht‹. Wir haben die Zeit aufgehoben und sie in eine als Raum zu benennende Ordnung integriert (ebd., S. 54). Ein anderer Teil der Antwort verweist auf ein in den folgenden Kapiteln wiederholt anzusprechendes Defizit: Wir wissen nicht genau, was es heißt, Klänge zu hören. Erst eine genauere Untersuchung des Hörens und seiner Gegenstände läßt uns besser verstehen, was »musikalischer Raum« heißt und was er mit anderen Räumen zu tun hat. An dieser Stelle genügt es, einzusehen, daß Tonhöhen eine wesentliche Grundlage für die Möglichkeit sind, daß es eine eigene Form und eine interne Ordnungsweise der Musik gibt.

b.3. Musikalische Zeit: Vorläufiges zum Begriff des Rhythmus Neben der Tonhöhe wird mit Recht ein zweites Konstituens der musikalischen Eigenform behauptet. Es ist die Zeit (in) der Musik. Daß die musikalische Ordnung noch vor jeder Differenzierung zwischen Geräusch und Ton als eine Zeitordnung zu verstehen ist, behaupten beispielsweise Carl Dahlhaus und Andreas Luckner. Diesem Gedanken liegt eine einfache Intuition zugrunde 11 : Wir sprechen von Musik auch dann, wenn wir keinerlei Tonhöhenordnung vor uns haben, sondern beispielsweise nur Händeklatschen, Stampfen oder eine Darbietung auf dem Schlagzeug. Und wir sprechen von Musik in diesem Fall viel eher als im gegenteiligen, nämlich, wenn wir nur einen Ton oder Akkord vor uns hätten, der sich über die Zeit nicht verändert. Um diese Intuition zu erklären, kann man sagen, daß sowohl Geräusche als auch Töne für das unreflektierte Hören erst zu Musik werden, wenn sie einer eigentümlichen zeitlichen Ordnung unterstehen, die man in einem weiten Sinne Rhythmus nennt. Es ist geradezu tautologisch, daß musikalische Bewegung einen Zeitablauf voraussetzt und durch ihn mitkonstituiert wird. Interessanter ist, daß auch die Auffassung eines musikalischen Raumes vom Zeitverlauf der Klänge und damit von ihrer Bewegung abhängig ist. Dahlhaus schreibt, 11

Vgl. Dahlhaus 1967, S. 119, und Luckner 2007, S. 35.

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Die Eigenform der Musik

»daß der Abstands- und Raumcharakter der Intervalle im Zusammenklang schwach ausgeprägt oder sogar aufgehoben ist, sei es, weil er durch die Konsonanz- oder Dissonanzfärbung verdeckt und zurückgedrängt wird […]. Erst in der Sukzession ist der Eindruck einer Distanz zwischen den Tönen – einer Vertikale als Dimension des Tonraums – deutlich.« (Dahlhaus 1967, S. 120)

Er begründet diese Erklärung damit, »daß die Vorstellung eines Tonraums eine Abstraktion vom Phänomen der musikalischen Bewegung darstellt […], deren fundierendes Moment […] das rhythmische ist« (ebd.). Wir haben also keine Erfahrung eines musikalischen Raumes, wenn nicht bereits eine Folge von Klängen gegeben ist – Klänge, die weniger Inhalte dieses Raumes als vielmehr seine Konstituenten sind. Das heißt aber: In der Eigenform der Musik ist die Form der Bewegung der primäre Begriff. Bewegung ist es, die den Raum der Musik erst möglich macht. Für die physikalische und alltagsweltliche Auffassung der Bewegung gilt das Gegenteil. Sie ist nicht primär, sondern hat Einzeldinge und einen von diesen Dingen unabhängigen Koordinatenraum zur Voraussetzung. An dieser Stelle kann ich noch keine Folgerungen aus dieser Qualifizierung ziehen und sie auch nicht umfassender begründen; das wird im Rahmen einer genaueren Überlegung zu der Frage geschehen, warum ausgerechnet Klänge einer solchen zeitlichen Ordnung bedürfen und fähig sind und wie diese sich von dem Verhältnis beispielsweise sichtbarer Eigenschaften und Ereignisse zu zeitlichen Ordnungen unterscheidet (Kap. f.–h.). Wie verhält es sich nun mit der ontologischen Abgrenzung der musikalischen Eigenform auf der Grundlage ihrer Zeitlichkeit? Im Falle der Klänge wird diese Abgrenzung der Ordnung der Klänge von der Ordnung nichtmusikalischer akustischer Ereignisse dadurch provoziert, daß Klänge eine bestimmte Tonhöhe haben. Deren Ordnung erfassen wir als musikalischen Raum, der vom physikalischen Raum kategorial verschieden ist und nicht auf Dinge und Ereignisse in diesem verweist. Gibt es nun eine entsprechende Abgrenzung der musikalischen Zeit von der nichtmusikalischen Zeit? Ein Prinzip dieser Abgrenzung ist es, auf eine zeitliche Abfolge als solche zu achten und sie als solche als Träger eines (musikalischen) Sinnes aufzufassen. Andernfalls geraten die Zeitverhältnisse selbst gar nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Stattdessen betrachten wir Bewegungen in anderen Hinsichten, beispielsweise auf ihre Kausalität oder ihre Zweckmäßigkeit in einem Bewegungsoder Handlungszusammenhang hin. Jemand rührt eine Zeitlang in 52 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Musikalische Zeit: Vorläufiges zum Begriff des Rhythmus

einer Pfanne, legt kurz den Rührlöffel beiseite, um Brühe zu holen und sie dazuzugießen, und fährt fort zu rühren. Es kommt uns nicht in den Sinn, die Dauer des Rührens, der Unterbrechung oder des Dazugießens in ihren rein zeitlich gemessenen Verhältnissen zueinander zu erfahren. Wir verstehen die Zeitdauern dieser Tätigkeiten, indem wir wissen, daß sie von bestimmten Zwecken abhängen: man rührt so lange, bis Zwiebeln und Kraut so weich sind, wie sie sein sollen; man legt den Löffel so lange weg, wie man braucht, um die Brühe herzuholen; man gießt so lange, bis genügend Brühe in der Pfanne ist. Unter Umständen hat man nicht genügend Brühe vorbereitet; womöglich dreht man den Herd ab, geht aus dem Haus und besorgt neue Brühwürfel, so daß die Unterbrechung des Rührens zum Rühren selbst in ein unerwartet großes Zeitverhältnis gerät. Dieses veränderte Zeitverhältnis ändert aber nichts am Ganzen der Kochhandlung und am zweckmäßigen Verhältnis seiner Teile zueinander, denn es sind der Endzweck und seine Teilzwecke, die die Zeit bestimmen. Auch zwischen den Verhältnissen, die Musik und Sprache jeweils zur Zeit haben, ist eine Grenze zu ziehen. Sprache und ihre Bedeutung sind, wie Andreas Luckner ausführt, »hyperchron«: gleichgültig, wie viel Zeit für eine sprachliche Äußerung verwendet wird, und gleichgültig, wie die Teile der Rede über die Zeit verteilt sind oder ob wir sie sogar, wie im geübten Lesen, im Augenblick erfassen – die Bedeutung der Rede wird nicht beeinflußt, denn sie ist selbst ›überzeitlich‹ und wird im Akt der Rede lediglich in die verlaufende Zeit gehoben. Was sich durch die Variation der Zeitverhältnisse in der Rede ändert, ist bestenfalls die Art und Weise, in der diese Bedeutung mitgeteilt wird. Rhythmus ist dagegen »isochron«. Ihr Sinn ist nicht von ihrem Zeitverlauf ablösbar; ihr Zeitverlauf ist ein Konstituens ihrer Formen und ihres Sinnes. (Vgl. Luckner 2007, S. 45–48.) Dies gilt sowohl – trivialerweise – für die Verhältnisse der rhythmischen Elemente untereinander, da geänderte Verhältnisse per Definition einen anderen Rhythmus ergeben, als auch für die Wahl der elementaren Zeiteinheit, aus der sich ein schnelleres oder langsameres Metrum ergibt. Ein Stück Musik im doppelten oder im halben Tempo zu spielen, kann es ins Absurde verzerren. Im Rhythmus ist die Zeit keine abhängige Größe, sondern selbst dasjenige, was den Rhythmus konstituiert. So verstehen wir die Zeitdauer nicht als ein Akzidens einer Bewegung, die aus einem weltlichen Zusammenhang ihren Sinn und ihre Einheit bekommt. Nun 53 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Eigenform der Musik

hat alles, was geschieht, eine Zeitdauer. Diese in Abstraktion kann es nicht sein, die vorschreibt, ob Zeitdauern ein Rhythmus oder Akzidenzien weltlicher Ereignisse sind. Die Differenz hängt vielmehr davon ab, wie ein Subjekt einen Zeitablauf verstehen kann. Im Fall des Kochens versteht es ihn als einen nach zusammenhängenden, erkennbaren Zwecken geordneten Ablauf – als Einheit einer Handlung. Im Fall der Rede versteht es ihn als Ausdrucksweise eines syntaktischen und semantischen Zusammenhanges – als Ausdruck von Bedeutungseinheiten. Die Erfahrung des Rhythmus ist dagegen dadurch ausgezeichnet, daß wir solche Ordnungen entweder nicht erkennen oder nicht auf sie achten. Indem Zusammenhänge und Einheiten wie diejenigen der Bedeutung und Handlung außer Betracht bleiben, wenn die Zeit als substantiell aufgefaßt wird, sind wir wieder auf den ersten Grundsatz der musikalischen Eigenform – denjenigen der Inhaltslosigkeit – verwiesen. Infolgedessen ist musikalischer Sinn als Bezugnahme innerhalb der Zeit zu verstehen, nicht als Bezugnahme auf etwas der Zeit Enthobenes wie bei der Sprache oder der Abbildung. Bezugnahme innerhalb der Zeit aufzufassen und damit die Zeit selbst substantiell zu nehmen wird nun – analog zur Tonhöhe als ›Auslöser‹ einer Wahrnehmung musikalischen Raumes – durch ein bestimmtes Phänomen provoziert. Es besteht in der Periodizität von Zeitverhältnissen: ihrer wahrnehmbaren gleichmäßigen Wiederholung. Wo wir Zeit auf diese Weise gegliedert wahrnehmen, liegt es nahe, der Gliederung der Zeit selbst Beachtung zu schenken und das Verständnis möglicher Ereignis- oder Sprachlogiken in den Hintergrund zu stellen. Man denke daran, wie der Sinn von Sprache unterlaufen wird, wenn Wörter und Wortgruppen mehrfach wiederholt und vielleicht in ihrem Klang leicht variiert werden: Der verweisende Wortsinn stürzt dann auf merkwürdige Weise zusammen und läßt die – in diesem Fall fremdartig wirkende – Wahrnehmung der Wortzeit und des Wortklanges nach vorne treten. Luckner illustriert dies an einem Beispiel aus der »minimal music«: »In einem seiner frühen Werke, It’s gonna rain von 1965, lässt Steve Reich über eine Viertelstunde lang zwei parallele, aber im Tempo leicht gegeneinander versetzte Tonbandschleifen (loops) laufen, mit dem aus der Rede eines Straßenprediger herausgeschnittenen Satz ›it’s gonna rain‹. […] Reich […] lässt durch die leichte Phasenverschiebung der beiden Tonbandschleifen vorher nicht existente musikalische Motive entstehen, was die musikalische Faktur zu einer sehr lebendigen Angelegenheit macht. Dies kann

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Musikalische Zeit: Vorläufiges zum Begriff des Rhythmus

freilich nur derjenige hören, der auf die musikalische Seite des Klanggeschehens wechselt. Für denjenigen, der hier die Klänge sozusagen ins ›falsche‹ Ohr bekommt und weiterhin dem Sprachsinn nachhört, ist dieses Stück nach kurzer Zeit unerträglich, da das spezifisch Geistige der Sprache durch die identische Wiederholung geradezu mutwillig zerstört wird […]. Durch die Zerstörung des Sprachsinns tritt der musikalische Sinn dieses Satzes hervor – der Satz wird zu einem musikalischen Motiv mit einem bestimmten Rhythmus und kann im Prinzip beliebig lang wiederholt und damit variiert werden, wodurch ständig neuer, wenn vielleicht auch […] minimaler musikalischer Sinn produziert wird.« (Luckner 2007, S. 47)

Wenn nun periodisch wiederholte (hörbare) Ereignisse eine Wahrnehmung der Zeit als Rhythmus provozieren, ebenso wie Klänge bestimmter Tonhöhen eine Wahrnehmung eines nach Tonhöhenkategorien strukturierten musikalischen Raumes hervorrufen, so gibt es doch einen gewichtigen Unterschied zwischen diesen beiden Momenten. Während der Aufbau des musikalischen Raumes darauf angewiesen ist, daß die Klänge in ihm Tonhöhen haben, ist der Aufbau der rhythmischen Zeit nicht durch ein vergleichbares »Haben« eingeschränkt. Wenn wir die Periodizität so beschreiben, daß ihr ein einheitliches, ebenfalls kategorial und nicht rein chronometrisch 12 gedachtes Zeitmaß zugrundeliegt, so sind es nicht die Zeitverläufe, die dieses Maß haben müssen. Periodische Zeitverläufe bieten uns ein Maß an. Aber nichts hindert, jeder beliebigen Art von Zeitverläufen ein Maß zu geben und damit den Schritt in die Isochronie und in die Auffassung des Zeitverlaufs als solchem zu tun. Das Maß der Tonhöhe können wir nicht auf die gleiche unbeschränkte Weise geben. Das Maß der Zeit geben zu können heißt dagegen, daß prinzipiell jeder Zeitverlauf in die musikalische Zeit überführt werden kann, indem wir uns auf die Suche nach einem möglichen Maß machen. So ist die Welt rhythmisier- und musikalisierbar. Der Begriff des Rhythmus erweist sich zwar als konstitutiv für die musikalische Eigenform, aber seine (ontologisch) abgrenzende Funktion ist deutlich problematischer als im Falle der Tonhöhe. Man kann eher sagen, daß an der Musik ein Vorbild dafür zu gewinnen ist, was es heißt, Rhythmus als eine Ordnung der Zeit selbst zu hören. Es ist aber nichtssagend, vor diesem Hintergrund musikaÄhnlich wie die Kategorien der Tonhöhen Varianten der Intonation erlauben, erlaubt ein musikalisches Zeitmaß teils erhebliche Schwankungen in den chronometrischen Dauern, in denen es verwirklicht wird, ohne daß dies als ein Wechsel des Maßes aufgefaßt wird. Vgl. zu dieser Differenz Dahlhaus 1984, S. 100.

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Die Eigenform der Musik

lischen von nicht-musikalischem Rhythmus zu unterscheiden. Wenn wir irgendwo den Eindruck haben, Rhythmus zu hören, halten wir ihn gegen das Vorbild der Musik. Aber über den Begriff des Rhythmus nachzudenken führt zu einem Überschuß über den Begriff der Musik hinaus; er macht etwas über die Weisen deutlich, wie Zeit überhaupt erfahren werden kann, und ist damit nicht auf die Musik beschränkt. In Kap. g. wird genauer untersucht werden, auf welche Weisen der den Rhythmus konstituierende Begriff erläutert werden kann, der hier erst einmal »Maß« heißt. Es mag scheinen, daß die Einheit des Maßes, von der ich gesprochen habe, eine quantitative Einheit sei und daß darum der Begriff des Rhythmus an einem Begriff des Metrums und des Taktes hänge. Dabei nimmt man an, für den Zweck der Musik sei die Zeit zunächst in gleiche Einheiten zu teilen, und Rhythmus seien nur Zeitverhältnisse in deren Rahmen. Gerade diesen Rahmen setze ich nicht voraus. Auch die auf regelmäßige Akzentuierung verzichtende »musikalische Prosa«, von der man seit der romantischen Epoche spricht (vgl. Danuser 1997), der »freie Puls« der frei improvisierten Musik oder die jedes Regelmaß sprengenden Verhältnisse, die in der zeitgenössischen Komposition der Normalfall sind, sind als Rhythmen zu hören, eben dadurch, daß man auf die Beziehungen der zeitlichen Abschnitte aufeinander achtet. Es ist nicht nötig, gleich festzustellen, in welchen Zahlenverhältnissen diese Beziehungen stehen. Gleichwohl bleibt die Frage nach dem Prinzip ihrer Verhältnisse vorerst offen. Sie zu beantworten setzt weitere Begriffe voraus, zu denen man im Rahmen des Vorbegriffs der musikalischen Eigenform, den wir gerade umreißen, nicht vorstoßen kann.

b.4. Primäre und sekundäre Dimensionen der musikalischen Eigenform Fassen wir zusammen: Der Rhythmus als Zeitordnung fundiert musikalische Bewegung, und bereits der »tonlose« Rhythmus kann als Fundament der Musik gelten, indem er eine Zeitordnung schafft. Allein ist er »raumlose« Bewegung. Bewegung im musikalischen Raum gibt es, wenn die Zeitordnung Töne bestimmter Höhe umfaßt. Sie sind das Element, das dem Komplex aus zeitlicher und musik-räumlicher Bewegung die größtmögliche Gestaltungsvielfalt gibt und die »musikalische Differenz« schafft: den Eindruck, daß ein Rhythmus 56 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Primäre und sekundäre Dimensionen der musikalischen Eigenform

nicht nur der Rhythmus eines materiellen Ereignisses, sondern der Rhythmus musikalischer Bewegung ist. Diese Gründe machen eine häufig vertretene, aber selten nicht explizierte Grundannahme plausibel, nämlich jene ›formalistische‹ Annahme, deren Betrachtung für eine Philosophie der Musik unvermeidlich ist. Sie läßt sich nun so formulieren, daß es zwei primäre Dimensionen der sinnkonstituierenden musikalischen Form gibt, nämlich Tonhöhe und Tondauer, denen gegenüber beispielsweise Klangfarbe, Lautstärke oder artikulatorische Details als sekundäre, von den primären Dimensionen abhängige Eigenschaften gelten. Dies illustriert die Notenschrift, die vor allem anderen Tonhöhen und Tondauern fixiert, während Angaben zur Dynamik, zur Instrumentation, zu Veränderungen im Tempo usw. nur allmählich in sie aufgenommen werden. Für sie werden bezeichnenderweise auch keine eigenen Schriftzeichen entwickelt – wenn wir vom 20. Jahrhundert absehen –, sondern man gebraucht die Wortsprache: »piano«, »forte«, »presto«, »rallentando« u. dgl. 13 Jene primären Dimensionen konstituieren die Eigenständigkeit der musikalischen Bewegung und der musikalischen Gestalten. In diesen Dimensionen haben die Kategorien ihren Ort, nach denen Klänge geordnet sind, wenn sie musikalische Klänge im Sinne des präsentierten Grundsatzes sind. In diesem Sinne sind sie die formalen oder, wie man manchmal liest, »strukturellen« Kategorien der Musik. Die Abhängigkeit der sekundären Eigenschaften ist vor allem so zu verstehen, daß der melodische und rhythmische Verlauf der Musik die Anleitung gibt, wie jene anzuwenden sind, das heißt: wie die Musik zu artikulieren ist. In diesem Sinne schreibt Carl Dahlhaus, daß der »musikalische Gedanke«, »Motivzusammenhänge« und die »strukturelle Rechtfertigung« der einzelnen Ereignisse eines Musikwerks sich aus den »zentrale[n] Parameter[n]« 14 der Tonhöhe und Zur Notenschrift s. weiter l.2. Tonhöhen und Tondauern insgesamt nenne ich zusammenfassend »Dimensionen«, innerhalb derer einzelne Höhen und Dauern unter diskrete Kategorien gebracht und dadurch bestimmt werden. Die sekundären Eigenschaften bilden dagegen keine eigenständigen Dimensionen der musikalischen Eigenform und sind als einzelne nicht diskret gegeneinander abgegrenzt. – »Parameter« ist in jüngerer Zeit ein beliebter Ausdruck, der diese Differenz umgeht. Dahlhaus erhebt an anderer Stelle Einwände gegen diese Redeweise, da sie die unabhängige Meßbarkeit von Höhen, Dauern, Lautstärken usw. suggeriert. Damit aber, so Dahlhaus, sagt man mehr über die physikalisch-akustischen Eigenschaften einzelner Töne als über ihre musikalische Relevanz, denn die Relevanz von Tonhöhen und Dauern für die melodische und rhythmische Bewegung

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Die Eigenform der Musik

Tondauer ergäben, während die sekundären Eigenschaften als bloße »Darstellungsmittel« dieser Gedanken gelten (Dahlhaus 1979a, S. 13). Man spricht auch davon, daß sie die musikalische Struktur »auszudrücken« helfen, und nennt sie »Ausdruckseigenschaften« (»expressive features«: z. B. Raffman 2003, S. 83). Nach dieser Ansicht verdeutlichen sie die melodisch, harmonisch und rhythmisch bestimmten Formen und geben ihnen einen »Charakter«, ohne zur Formung oder »Organisation« der Musik einen eigenständigen Beitrag leisten zu können (vgl. Scruton 1997, S. 20). 15 Wie Roger Scruton andeutet, liegt dies daran, daß ihr Beitrag eben nicht eigentümlich musikalisch ist, sondern, Geräuschen gleich, auf die physikalische Ursache des Klanges verweist, nämlich auf ein Instrument, auf die Spielweise, auf die aufgewandte Kraft usw. Daraus schließt er einen weithin anerkannten Gedanken: »This is why orchestrations, reductions, and so on are […] heard as versions of a piece, rather than as new musical entities.« (ebd., S. 77) Diesem Gedanken folgend geht es an der gegenwärtigen Stelle um die eigentliche, ungefärbte musikalische Form, die es erst möglich macht, etwas als ihre Versionen zu erkennen. Es ist nun möglich, einen wichtigen Einwand einzuschätzen: Könnten nicht auch, wie Albrecht Wellmer (2002, S. 134) fragt, »Klangqualitäten, Arten der Tonerzeugung und damit zusammenhängende rhythmische Subtilitäten, der Gebrauch der Stimme usw.« genausogut als primäre Dimensionen insofern gelten, daß sie die Identität – die allgemeine Form – eines Musikstücks konstituieren, so daß das Stück nicht mehr dasselbe ist, wenn man beispielsweise geht nicht in unabhängig voneinander zu messenden »Parametern« auf. (Vgl. Dahlhaus 1977, S. 31.) Eine Höhen- oder Dauernkategorie, die in erster Linie rhythmische oder melodische Bedeutung hat, kann also in ganz unterschiedlichen akustischen Parametern verwirklicht werden. Erst der Serialismus löst diese Zusammenhänge auf und versucht, beispielsweise die Artikulation oder die Dynamik streng »parametrisch« zu konstruieren. Das postserialistische und auch heutige »parametrische Denken« (Mahnkopf 1998, S. 51 f.) ist dagegen dadurch ausgezeichnet, daß die Elemente, die parametrisch geordnet werden, meist nicht einfach, sondern komplex sind. In diesem Falle haben wir es mit »qualitativ formulierten«, darum motivischen Strukturen im weiteren Sinne zu tun (ebd.), denen gegenüber die parametrische Ordnung manchmal ein bloßes Durchnumerieren zum Zwecke der Sortierung ist. Zur Illustration des Vorgehens vgl. beispielhaft Mahnkopf 2000, S. 362–365. 15 Hindemith (1994, S. 297) meint darum: »Von allen musikalischen Bauelementen ist der Klang das geringstwertige« und nennt den Klang den »Proleten unter den musikalischen Elementen«.

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Primäre und sekundäre Dimensionen der musikalischen Eigenform

am Einsatz der Bebung in der Stimme oder am Verlauf der Dynamik etwas ändert? Die Frage stellt sich vor allem für Musik außerhalb der uns selbstverständlichen europäischen Tradition. Und wenn man sie ernst nimmt, läßt sich aus ihr der Gedanke gewinnen, daß die primäre Rolle der Tonhöhen und Dauern nicht in der Natur der Musik liegt, sondern vielmehr ein historischer Zufall ist: Tasteninstrumente – zunächst die Orgel – hätten eine führende Rolle in der Kunstmusik und folglich in der Theorie der Musik Europas gewonnen, so daß einerseits jene Parameter, die auf der Orgel nicht flexibel genug verwirklicht werden konnten – Lautstärke, Klangfarbe, mikrotonale Ausdrucksnuancen –, nicht mehr als wesentlich aufgefaßt wurden. Andererseits zwingt ein Tasteninstrumente zur Festlegung von Tonhöhen, die es dann exakter als jedes andere Instrument wiedergibt, so daß gerade die Tonhöhenkategorie zum zentralen Aspekt des Musikwerks werden konnte. 16 Die vorangegangenen Darlegungen zur musikalischen Eigenform sollten Gründe dafür geben, daß die primäre Rolle der Tonhöhen und Tondauern nicht nur aus einem historischen Zufall zu begründen ist. Sie sind die Dimensionen, die der Musik eine eigene Form und einen eigenen Sinn verleihen. Andere Eigenschaften, etwa stimmliche und klangliche Färbungen oder vor allem als Lautstärkeveränderungen zu beschreibende Ereignisse, tragen demgegenüber nichts zur Eigenform der Musik bei. Sie gewinnen ihren Sinn vielmehr aus ihrem Zusammenhang mit nichtmusikalischen Ereignissen: stimmliche Färbungen etwa aus Weisen der Sinngebung, die wir aus dem Sprechen oder aus dem noch vorsprachlichen Ausdruck der Gefühle kennen, oder dynamische Ereignisse in der Musik aus der akustischen Form beliebiger Ereignisse in der Welt: dem Knall, Fall, Schlag, dem sanften Rinnen des Wassers. Die Position, die ich hier zunächst ausführe, sagt zu solchen Eigenschaften: Wenn wir ihnen eine primäre, konstitutive Rolle in der Musik zugestehen wollten, hätten wir keine reine, eigentliche Musik mehr, sondern eine Musik, die aus Weltbezügen heraus verstanden werden muß. Damit hätten wir aber den Bereich verlassen, von dem wir sprechen wollten, nämlich den Bereich der Untersuchung des spezifisch und wesentlich Musikalischen. Freilich ist der angeführte Einwand hiermit nicht vollständig abgewiesen. Vielmehr stellt sich die Frage: Denkt man tief und erschöp16

Vgl. Wellmer, ebd., der sich hierbei auf eine Überlegung Jakob Ullmanns stützt.

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Die Eigenform der Musik

fend genug über Musik nach, wenn man das spezifisch Musikalische in den Blick nimmt? Ist nicht das, was der Musik gerade nicht spezifisch ist – die Stimme, der Ereignischarakter mancher klingender Erscheinungen –, ebenso entscheidend für unser Verständnis und unseren Umgang mit Musik? – Es ist aber viel zu früh, auf diese Frage jetzt genauer einzugehen. Verfolgen wir erst einmal die formalistischen Positionen im Allgemeinen und in ausgewählten Einzelfällen möglichst weit, um mehr darüber zu erfahren, was sie als ihre eigene Wahrheit und Rechtfertigung ansehen.

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c. Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

Wenn das Wesen der Musik auf der Grundlage der soeben erläuterten Grundsätze bestimmt werden kann, so kann man fordern, daß musikalischer Sinn und musikalisches Verstehen dieser Bestimmung entsprechen. Sinn ist ein Zusammenhang, den die Musik rein aus sich herstellt, und Verstehen besteht darin, diese Zusammenhänge aufzunehmen. Dies entspricht unter anderem der einleitenden Beobachtung, denn was in ihr beschrieben ist, ist nichts anderes, als daß jemand nur auf den musikalischen Ablauf hört und ihn als zusammenhängend, folgerichtig oder wohlgeformt erfaßt. Wenn man den Begriff des Verstehens mit dem ontologischen Vorgehen – nämlich: das Wesen von etwas durch die Analyse seiner spezifischen Differenzen festzustellen – verknüpft, liegt eine weitere Voraussetzung nahe. Sie besteht in dem Bestreben, das, was man über eine Sache sagt und was man von ihr versteht, allein durch den Blick auf die Sache selbst zu gewinnen und nichts heranzuziehen, was ihrem Wesen äußerlich wäre. Dieses Bestreben kann man als »Objektivismus« oder »Internalismus« (so z. B. Zangwill 2007) betiteln. Eduard Hanslick ist mutmaßlich sein wichtigster Inspirator in der Geschichte der modernen Musikästhetik, wenn er sagt, daß es möglich und notwendig sei, eine »rein ästhetische« scharf von einer kunstgeschichtlichen, biografischen oder soziologischen Untersuchung zu trennen (Hanslick 1854, S. 45 f.), da ein rein ästhetisches, nur »anschauendes« Verhalten genau der richtige Umgang mit Kunst sei (vgl. ebd., S. 4 f.). Ihm gegenüber stehe zum einen ein halbwaches Schwelgen, Assoziieren und Träumen, in dem sich das Subjekt weniger mit der Sache als mit seinem eigenen Zustand abgibt, und zum anderen die historische Betrachtung, die aber gerade nicht das Ästhetische am Gegenstand in den Blick nehme, sondern die Geschichte seiner für das Schöne kontingenten weltlichen Hintergründe. Das anschauende Verhalten dem Schönen gegenüber sollte sich, wie Hanslick meint, schließlich in ein wissenschaftliches Vorgehen übertragen lassen, das dadurch charakterisiert ist, daß es »untersuch[t], was los61 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

gelöst von den tausendfältig wechselnden Eindrücken, die [die Dinge] auf den Menschen üben, ihr Bleibendes, Objectives, wandellos Giltiges sei«. Er stellt sich vor, daß dieses Vorgehen auch in der Ästhetik »eine der inductiven naturwissenschaftlichen Methode verwandte Anschauung« nutzen könnte (ebd., S. 1). 1 Namentlich die englischsprachige »philosophy of music« – von Ausnahmen wie Roger Scruton oder Aaron Ridley abgesehen – ist diesem Gedanken gefolgt, daß man in der Musik einen als ästhetisch bezeichneten Gegenstand vor sich habe, der gewissermaßen stillhält, während man ihn analysierend anschaut. Daß nun das grundsätzlich formal Bestimmte an der Musik ›objektiv‹ und wesentlich ist, andere Bestimmungen dagegen ›subjektive‹ Zutat zur Erfahrung oder äußerlicher, kontingenter Umstand, folgt aus Überlegungen, die zu zeigen versuchen, daß manche Bestimmungen nicht zuverlässig festgelegt werden können oder für die spezifisch musikalische Erfahrung irrelevant sind. Markus Gärtner (S. 11 in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Hanslick 1854) und Kurt Blaukopf (1996) haben hervorgehoben, daß Hanslick hierin den positivistischen ästhetischen Ansätzen Bernard Bolzanos gefolgt ist. Insofern Bolzano in eine Tradition gehört, die Hegels »Idealismus« ablehnen und dagegen einen »Realismus« verfechten will, ergibt sich für eine Auslegung Hanslicks die Schwierigkeit, daß sein Werk Vom Musikalisch-Schönen von hegelianischen Positionen nicht weniger deutlich geprägt ist. Die Spannung zwischen der Forderung, mit geradezu naturwissenschaftlich-exakten Methoden dem Gegenstand Musik »an den Leib zu rücken« (Hanslick 1854, S. 1), und dem Bewußtsein, daß dieser Leib »Geist« und »Ideen« als seinen Inhalt ausdrückt, durchzieht den gesamten Text. Ich verfolge diese Spannung nicht weiter in Bezug auf Hanslick; sie bestimmt aber von Hanslick unabhängig die Entwicklung dieser Arbeit mit. Anthony Pryer (2013) bezweifelt, daß Hanslicks Rede von Beweisen, Objektivität usw. ganz von einer wissenschaftstheoretischen Orientierung am Positivismus herkommt. Man solle vielmehr in Betracht ziehen, daß der ausgebildete Jurist Hanslick an juristischen Prozeduren Maß zu nehmen versuche. Wenn es um die Musik selbst und allein gehen soll, bedeute dies entsprechend nicht eine ontologische, sondern eine pragmatische Eingrenzung, »designed precisely to prevent judgments being overwhelmed by endless causal chains of circumstance.« (ebd., S. 55) In diesem Sinne sei Hanslicks Argumentationsstrategie zu lesen: Sie sei an der Verteidigung des Angeklagten – der Musik – gegen bestimmte Beschuldigungen – die Thesen der »Gefühlsästhetik« – interessiert und verfahre darum so, daß sie diese aus der Verantwortung der Musik herauszunehmen und äußeren Umständen zuzuschreiben versucht, an denen die Musik selbst ›unschuldig‹ sei. In Pryers Augen ist dieses Modell »fundamentally ›anti-ontological‹.« (S. 58) Es dürfte jedoch kaum möglich sein, Hanslicks Text gänzlich un-ontologisch zu lesen, vor allem, da es nicht um einen einzelnen Fall geht, sondern um die Musik mit den Charakteristika, die ihr allgemein zukommen.

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Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

Dies gilt zum einen für Bestimmungen der Zweckmäßigkeit, die man vornimmt, wenn man beispielsweise sagt, eine bestimmte Musik sei gut für einen Gesellschaftstanz, den Gottesdienst, eine Beerdigung oder die Therapie seelischer Beeinträchtigungen. Solche funktionalen Zusammenhänge haben zwar die längste Spanne der Musikgeschichte bestimmt, aber es ist deutlich, daß wir auch Musik, die von solchen gesellschaftlichen oder religiösen Funktionen bestimmt wurde, als autonome Musik hören können und es nicht nötig haben, jene Funktionen in Betracht zu ziehen, um zu einem musikalischen Verständnis für sie zu kommen. Hierzu genügen die Klänge und ihre Beziehungen. Wenn wir dagegen den Maßstab der Funktion anlegen, so messen wir nicht die Musik selbst, sondern die Musik als Mittel zu einem Zweck, der aber auch von einer anderen Musik oder vielleicht etwas ganz Anderem erfüllt werden könnte, so daß es auf die Musik selbst gar nicht ankommt und sie ersetzbar wird. Für unzuverlässig und irrelevant gelten zum anderen Maßstäbe der Repräsentation 2 . Wenn jemand ein Stück (instrumentale) Musik lobte, indem er behauptete, daß es eine gute Geschichte erzählte oder eine reizvolle Gegend abbilde, könnte man leicht fragen: »Woher weißt du, daß die Musik gerade so etwas erzählt (oder abbildet)?« und leugnen, daß man die Musik spontan gleichartig verstünde: »Ich höre hier keine Alpengipfel!« Sagt darauf der Landschaftenhörer: »Hör doch, wie sich in erhabener Weise die Klänge auftürmen«, so antwortet man: »Es könnte genausogut der Himalaya sein, oder die Pyramiden von Gizeh, oder die Weiten des Universums«, so daß Einigkeit bestenfalls über das abstrakte »erhabene Auftürmen« zustandekommt. So etwas sei in der Musik aber keineswegs eine Qualität, die einen Weltbezug enthalte, sondern eine formale Eigenschaft. – In dieser Unterhaltung sind die Grundzüge zu finden, die die »philosophy of music« der englischsprachigen Tradition elaboriert, um das Thema »meaning of music« zu behandeln. Ich gehe im Laufe dieses Kapitels genauer darauf ein. Aber selbst wenn man sich darüber einigen könnte, was ein Stück Musik repräsentiere, und damit die ›Objektivität‹ der Repräsentation aufzeigen könnten, bleibt es fraglich, ob die Repräsentation und ihre Gegenstände für unsere Wertschätzung der Musik relevant »Repräsentation« ist an diese Stelle in der eingeschränkten Weise verwendet, die für große Teile der ›analytischen‹ Ästhetik typisch ist. Einen erweiterten Begriff der Repräsentation entwickle ich in Kap. l.

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Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

sind. So sagt man auch von solcher Musik, die – beispielsweise, indem ihr ein Programm beigelegt ist – eine Absicht zu repräsentieren verrät, daß man sich nicht deshalb für sie interessieren würde, weil man in ihr eine Abfolge von dargestellten Gegenständen finden könnte. Im Gegenteil: es ist die Musikalität der Tonmalerei, die zuallererst unser ästhetisches Interesse anspricht. Ist die Musik gut, so spricht sie uns an, auch wenn wir nichts von den darstellenden Intentionen des Schöpfers wissen – und ist sie als Musik nicht gut, so wird kein Programm, keine darstellerische Absicht das Werk retten. So schreibt Hanslick (1854, S. 42): »Wo das Musikalisch-Schöne fehlt, wird das Hineinklügeln einer großartigen Bedeutung es nie ersetzen, und dieses ist unnütz, wo jenes existirt.« Im Gegensatz hierzu sieht man gegenständlich-bildende und sprachliche Künste, bei denen wir durch das Bild und durch den Text hindurch ein Interesse für einen Gegenstand haben können, für den uns Bild und Text neue Perspektiven, Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten aufschließen können. Damit ist nicht gesagt, daß die formalen und sinnlich aufzufassenden Qualitäten von Bild und Text außer Acht bleiben. Aber wenn wir über sie urteilen, dürfen wir nicht blind für die Inhalte sein, die sich in dieser oder jener Form zeigen, sondern müssen überlegen, ob die Form dem Inhalt angemessen ist. Gerade ein solches Verhältnis der Angemessenheit scheint aber in der Musik nach dem oben Gesagten nicht selbstverständlich zu sein. Unser Interesse an Musik muß folglich auf andere Weise erklärt werden als unser Interesse an repräsentierenden Kunstformen. Das formalistische Argument stellt einen Zusammenhang her zwischen (1) der Bestimmung einer Gruppe von Eigenschaften der Musik als wesentlich und objektiv musikalisch, (2) dem Ausschluß anderer Bestimmungen der Musik und ihrer Erfahrung aus dieser Gruppe und (3) der Festlegung der Erfahrungs- und Verständnisweise, die als objektiv gilt, indem sie das der Musik Wesentliche betrifft. Die Herstellung dieses Zusammenhanges wird von einer methodologischen Annahme getragen: Um zu sagen, was an der Musik objektiv und wesentlich ist, geht man darauf zurück, wie wir Musik auf (scheinbar) natürliche und unmittelbare Weise hören, verstehen und schätzen. Keinerlei Künstelei und Konstruktion soll in diese Bestimmung einwandern; sie soll vielmehr eine Bestimmung sein, mit der jeder einverstanden sein kann, der Musik als etwas kennengelernt hat, das er hörend genießt.

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Das formalistische Argument in der ›analytischen‹ Ästhetik

c.1. Das formalistische Argument in der ›analytischen‹ Ästhetik Die prominenteste jener Positionen aus der ›analytischen‹ Tradition der Musikphilosophie, die sich selbst als »Formalismus« bezeichnen, ist Peter Kivys in zahlreichen Schriften ausgeführter »erweiterter Formalismus« (»enhanced formalism«). Die englischsprachige Ästhetik benutzt als eine der zentralen Unterscheidungen, nach denen sich ihre möglichen Positionen differenzieren, die Unterscheidung zwischen formalen und nicht-formalen Eigenschaften. Der eben exponierte Grundsatz der musikalischen Eigenform läßt sich in diesen Zusammenhang einfügen, insofern er musikalische Form von Formen, die durch Darstellung zustandekommen, und von semantischen Funktionen unterscheidet. An Formen, die durch Darstellung zustandekommen, ist nicht ihre bloße sinnlich präsente Form relevant, sondern die Funktion, aufgrund derer diese Form eine Darstellung ist. Sie sind formalistisch nicht hinreichend verständlich. Musikalische Formen hingegen sollen es sein, und daß sie es sind, soll im wesentlichen ein Argument zeigen, das im Sinne des ersten der oben ausgeführten Grundsätze der musikalischen Eigenform negativ verfährt. Der Kerngedanke Kivys ist, daß Musik »›pure‹ sound structure« sei und daß ihre Schönheit und ihr Wert allein darin lägen, formale Strukturen sowie sinnlich ansprechende Klänge zu präsentieren. 3 Alle anderen Qualitäten, die man in der Musik sonst noch finden mag, sollen ihren Wert entweder dadurch gewinnen, daß sie Teil der formalen Struktur sind – Kivy behauptet dies insbesondere von Ausdrucksqualitäten – oder dadurch, daß sie eine Beziehung mit etwas eingehen, das zur Musik hinzutritt wie etwa ein Liedtext. Im letzteren Fall sei unser Interesse jedoch kein rein musikalisches mehr; von diesem Fall sieht Kivy für das im folgenden dargestellte Argument ab. Ihm geht es um »absolute Musik«. Kivys These ist vor dem weiteren Horizont der britischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts und vor dem engeren Horizont einer Debatte zu sehen, die in den 1950er Jahren von Frank Sibley ausgegangen ist und sich um »ästhetische Begriffe« bzw. »ästhetische Eigenschaften« dreht. Diesen Horizont charakterisiert ein empiristischer Zug, der im vorliegenden Fall zu zwei verbreiteten Voraussetzungen führt: Er-

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Kivy 2002, S. 67 f., S. 85 und S. 101.

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Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

stens sollen ästhetische Eigenschaften auf eine Weise erfahren werden, die nicht auf Schlußfolgerungen angewiesen ist; sie müssen der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sein, auch wenn zuvor in diese Wahrnehmung bestimmte Kenntnisse – etwa über einen Kunststil – oder die Ausbildung eines Geschmackes eingegangen sind. So wird zwar angenommen, daß die ästhetische Beschaffenheit eines Gegenstandes nicht von gleicher Art sein kann wie beispielsweise Farben oder andere einfache wahrnehmbare Eigenschaften. Dennoch steht im Hintergrund der Debatte häufig die zweite Voraussetzung, daß man ästhetische Urteile auf ihre Wahrheits- oder Korrektheitsbedingungen untersuchen können muß und daß somit ästhetische Gegenstände Objekte wie jedes andere auch sind, die eine bestimmte (ästhetische) Eigenschaft entweder haben oder nicht. Dies liegt daran, daß es gängig ist, keinen »Subjektivismus« haben zu wollen. Hierauf verweist der normative Anspruch ästhetischer Urteile und Beschreibungen, der sich beispielsweise in der Bemühung zeigt, ästhetische Urteile zu begründen, wie es in der Kunstkritik der Fall ist. Meistens nimmt man nun an, daß dieser Anspruch nur eingelöst werden kann, wenn die ästhetischen Eigenschaften der »äußeren Welt« angehören (Kivy 1977, S. 230), was am Ende so verstanden wird, daß sie in irgendeiner Weise mit materiellen Qualitäten zusammenhängen müssen. Anders gesagt: man soll den Bereich der ästhetischen Rede verlassen und in nicht-ästhetischen Termini von eben dem Gegenstand und eben den Eigenschaften sprechen können, die dem ästhetischen Eindruck zugrundeliegen, auch wenn es nicht der Fall ist, daß die bloße Summe nicht-ästhetischer Wahrnehmungen mit der auf ihnen basierenden ästhetischen Wahrnehmung identisch wäre (vgl. Bittner & Pfaff 1977, S. 266). 4 Was ist nun eine ästhetische Eigenschaft? – Besonders einschläMan lese beispielsweise eine Argumentation wie die folgende: »Das Hauptthema des ersten Satzes der ›Eroica‹ kehrt ›nicht weniger als siebenunddreißigmal‹ wieder, wie Grove hervorhebt. Haben wir da noch immer die logische Freiheit, zu leugnen, daß sie einheitlich ist […]? […] Ich meine, die Antwort ist hier ein emphatisches ›Nein‹.« (Kivy 1977, S. 215) »Einheitlichkeit« gilt als die nachzuweisende ästhetische Eigenschaft. Sie wird sowohl als ein Eindruck behauptet, den man hören können muß, als auch als eine Folge aus abzählbaren Wiederholungen. Häufig denkt man sich den Folgezusammenhang quasi-kausal: Die Menge der Wiederholungen ist eine nichtästhetische Eigenschaft, die beim entsprechend gebildeten Rezipienten einen bestimmten ästhetischen Eindruck verursache. Ist der Rezipient zu diesem Eindruck nicht imstande, soll man ihn dennoch durch den Hinweis auf die nicht-ästhetischen Eigenschaften darüber belehren können, welcher ästhetische Eindruck korrekt wäre.

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Das formalistische Argument in der ›analytischen‹ Ästhetik

gig sind die Begriffe der Schönheit und Erhabenheit. Es kennzeichnet die moderne anglophone Debatte, daß sie darüber hinausgeht und diesen beiden eine lange Liste anderer als ästhetisch bezeichneter Eigenschaften zur Seite stellt. Diese Bezeichnung gründet sich einerseits darauf, daß man von ihnen annimmt, sie seien nicht auf die gleiche Weise wahrnehmbar wie Farben oder stoffliche Eigenschaften, sondern erforderten »Geschmack« zu ihrer Erkenntnis, und andererseits auf dem Eindruck, sie hätten eine inhärente Bedeutung für die Wertung eines Kunstwerks. So kommt es, daß man über Schönheit gleichermaßen wie über Eleganz, Heiterkeit, Trägheit, Einheitlichkeit, Ruhe oder (auf der negativ bewerteten Seite) Unausgewogenheit, Trübheit etc. diskutiert. 5 Wenn die Rede über Kunst durch eine Analyse so gearteter ästhetischer Eigenschaften wenigstens zu einem wichtigen Teil erklärt werden soll, so fällt es auf, daß jene Rede von vornherein als weitgehend formalistisch verstanden worden sein muß, denn man hat bereits angenommen, daß sie sich auf Aspekte der wahrnehmbaren Form und des Materials richtet, nicht aber auf Aspekte des Weltbezugs. Auch Schönheit – die ästhetische Eigenschaft par excellence – kann wie alle anderen oben aufgelisteten Qualitäten als »abstrakte« Eigenschaft verstanden werden, wie es Malcolm Budd (1995, S. 164) nahelegt, das heißt: als eine Eigenschaft, die nichts mit Repräsentation zu tun haben muß. Sie ist eine Eigenschaft, die an oder in einem Gegenstand ist und die wir mit einem ausreichend gebildeten Geschmack finden können, ohne unseren Geist auf irgendetwas über diesen Gegenstand hinaus zu richten. Unter diesen Bedingungen ist die Forderung nach einer internalistischen oder objektivistischen Perspektive erfüllt. Man hat zugleich eine einfache Auffassung einer ästhetischen Autonomie des Gegenstandes gewonnen: Sein Wert soll nur durch das bestimmt sein, was ihm intern ist und was er unabhängig von weltlichen Zusammenhängen trägt.

Für Übersichten zur Debatte und ihrer Geschichte vgl. Goldman 2006 und Levinson 2003, S. 12; exemplarische neuere Diskussionen zum Thema sind Budd 2005 und Matravers & Levinson 2005. Eine Anthologie klassischer Artikel nebst einer kritischen Diskussion ihrer fundamentalen Schwächen enthält Bittner & Pfaff 1977.

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Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

c.2. Peter Kivys Bestimmung des Formbegriffs durch die Abgrenzung gegen »Narrativismus« und »Persona-Theorie« Diese Position bezüglich des Internalismus und der Autonomie der Musik hängt eng mit der Negation von weltbezogenen, ›repräsentierenden‹ Funktionen zusammen. Kivy bestimmt nun genauer, um welche Weltbezüge es sich dabei handelt. Wenn man diese Debatte verfolgt, ist es wichtig, daß man bemerkt: Eine positive Bestimmung des Formbegriffs wird meistens für so schwierig gehalten, daß man ihn und den entsprechenden Formalismus vorzugsweise negativ bestimmt, nämlich »in terms […] of what music isn’t.« (Kivy 2002, S. 67) Um Kivys Thesen genauer zu erkennen, muß man also nachsehen, wogegen er sie abgrenzt und wie er dies tut. Wie findet man heraus, was genau Musik nicht ist? Kivy bewegt sich in den Spuren der bisher skizzierten Debatte und versteht diese Frage so: Wie findet man heraus, welche Eigenschaften Musik nicht hat? Oder, spezifischer für das Problem, das ihn bewegt: Wie findet man heraus, was es bedeutet und was nicht, wenn man Musik beispielsweise »melancholisch« nennt? Der Weg zur Beantwortung dieser Frage folgt weiter dem beschriebenen Verlauf: Was eine Eigenschaft der Musik ist, muß ihr intern sein. Das heißt: Sie muß feststellbar sein, indem man nur auf die Musik schaut oder lauscht. Infolgedessen ist zu widerlegen, daß die zentralen ästhetisch relevanten Eigenschaften der Musik nur erfaßt werden können, wenn man sie in einen Weltbezug bringt. Für das angesprochene Beispiel der Melancholie heißt das, zu fragen, ob sie eine formale Eigenschaft – eine Eigenschaft (an) der musikalischen Form – ist oder eine Eigenschaft, die nur durch Bezugnahme beispielsweise auf Gemütszustände von Personen erkannt werden kann. Kivy nimmt an, daß diejenigen leicht zu widerlegen sind, die einem bestimmten Stück Musik eine Eigenschaft zuschreiben, die eben so verfaßt ist, daß sie auf die Welt verweist. Zusätzlich nimmt er an: Ist es leicht, der Musik derartige Eigenschaften abzustreiten, so können sie nicht das sein, worauf ihr Sinn und Wert begründet ist. Musik kann darum ›absolut‹ sein; dann gilt für sie: »According to the formalist creed, absolute music does not possess semantic or representational content. It is not of or about anything; it represents no objects, tells no stories, gives no arguments, espouses no philosophies.« (Kivy 2002, S. 67)

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Peter Kivys Bestimmung des Formbegriffs

Die hier in Frage stehende formalistische Grundannahme lautet: Was innermusikalisch – der Musik wesentlich – ist, hat keinen Bezug auf die Welt. Führen wir aus, wie nach Kivy die leichte Widerlegung der Behauptung aussieht, (absolute) Musik enthalte repräsentationale oder semantische Funktionen. Kivy bleibt in seinem Argument nicht bei einer pauschalen und unbestimmten Rede von Weltbezug. Er formuliert sehr scharf, welche Weltbezüge er der Musik abstreitet; genau dadurch legt er fest, was als formale Eigenschaft der Musik gilt. Die Positionen, die er zurückweist, bezeichnet er als Versuch der »literary interpretation« oder als »Narrativismus«. Ihnen sei gemeinsam, daß sie behaupten: »we cannot do full justice to the significance and nature of this [= absolute] music without discussing what they [= die »Narrativisten«] take to be its narrative content: what it says, or, more usually, what ›story‹ it ›tells‹.« (Kivy 2009, S. 179)

Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß man bemerken, daß die »narrativistische« These in den allermeisten Fällen nicht für alle Musik als Notwendigkeit behauptet wird. Vielmehr sagt man, daß eine »narrativistische« Interpretation eine unter mehreren Möglichkeiten ist, Musik zu verstehen (vgl. z. B. Robinson 2005, S. 325 und S. 333 f.), die für manche Stücke besser geeignet ist als für andere. Wenn sie jedoch geeignet ist, soll sie die Musik besser und gründlicher verständlich machen als beispielsweise eine formale Analyse. Kivys Absicht ist, diese bloße Möglichkeit zu verwerfen. Er unterscheidet zwei Arten, Musik »narrativistisch« zu hören: »There are those, I think in the minority, who throw caution to the winds, sometimes more, sometimes less, and impute to pure instrumental music narratives in startling detail, even to the extent of naming names, and there are those, of a more circumspect disposition, who put narrations to the music that are vague or sketchy enough to slip by without striking the average music lover as wildly implausible or ›off the wall‹. The most popular and most frequently resorted to artifice […] is a shadowy figure that has become known as the musical ›persona‹.« (Kivy 2009, S. 101)

Diese beiden Typen sind Kivys ausschließliche Gegner, was die Bestimmung (rein) musikalischen Verstehens angeht. Der erste Typ behauptet, musikalischen Sinn zu Tage zu fördern, indem er die Musik entziffert und entschlüsselt und auf diesem Wege auf Geschichten – seien sie fiktiv oder biografisches Faktenmaterial – stößt. Mit diesem Verfahren beschäftigen wir uns später an einer Stelle, an der wir seine 69 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

mögliche Berechtigung besser einschätzen können (Kap. m.). Eine zeitgenössische Version findet Kivy vor allem im »New Criticism«, dessen teils psychoanalytisch deutende Interpretationen großer Meisterwerke er erbittert bekämpft. Den zweiten Typ – die »Persona«Theorie – greift er vor allem in der Person von Jenefer Robinson an; Jerrold Levinson wäre als ein weiterer wichtiger Vertreter zu nennen (zu ihm kurz j.3.). Kivys Widerlegung der ersten These ist vergleichsweise trivial. Hier geht es darum, daß als Entsprechung zur Musik eine Geschichte angeboten wird, die auch als solche gelten kann, indem sie kohärent und einigermaßen abgeschlossen ist, identifizierbare Handlungen und Personen vorstellt u. dgl. Kivy versteht diejenigen, die eine derartige Entsprechung herstellen, so, daß sie sagen wollen, die Musik bedeute das, was in der Geschichte erzählt wird. Damit müßten sie behaupten, jedermann müßte diese Geschichte in der Musik hören. Diese Behauptung widerspricht aber jeglicher Erfahrung. Der zweite Typ – die »Persona«-Theorie – geht vorsichtig zu Werke. Hier wird akzeptiert, daß Musik nicht über die Ressourcen verfügt, die Dinge beim Namen zu nennen. Die Musik kann nicht sagen, wer das Subjekt von Handlungen in ihr ist, wenn man solche annimmt, und sie kann nicht sagen, welche Handlungen in ihr stattfinden. Wenn Musik also Eigenschaften hat, die einen Weltbezug herstellen, sollten wir sie nicht so verstehen, daß sie auf bestimmte Ereignisse, Handlungen, Gemütszustände oder Szenen verweisen würden. Stattdessen sollten wir sie als sehr allgemeine Typen von Bewegungen, Kräften und Stimmungen begreifen, die dadurch in einen Zusammenhang kommen, daß wir sie als Aktivitäten oder Widerfahrnisse einer »Persona« verstehen, die ansonsten äußerst unbestimmt ist. Wenn sie nahe an der Musik bleibt, enthält die »Geschichte«, die man aus ihr herausholt, also nur sehr allgemeine Aussagen: etwa, daß Beruhigung, Aufregung, Anspannung, Auflösung in ihr aufeinander folgen und ineinander übergehen, als würde eine Person diese Zustände durchlaufen. Es ist der Musik eigentümlich, daß sie es nur auf dieser sehr allgemeinen Ebene erlaubt, eine Interpretation für plausibel zu halten und eine andere abzustreiten. Die Allgemeinheit ist dermaßen, daß es oft keinen Grund gibt, der eher dafür spräche, zu sagen, daß eine »Persona« eine Reihe von Zuständen erlebt, als dafür, daß sie eine Reihe von Dingen tut; oder eher dafür, daß es sich um eine »Persona« in verschiedenen Situationen handelt als dafür, daß verschiedene charakteristische Personen nacheinander auftreten. 70 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Peter Kivys Bestimmung des Formbegriffs

Dies alles gestehen die »Persona«-Theoretiker zu – »the best such interpretations in this genre seem to me to be ones that avoid very specific readings«, wie Jenefer Robinson (2005, S. 336) schreibt. Kivys Einwand hiergegen hat zwei Teile. Zuerst nimmt Kivy die Rede von erzählten Inhalten (»narrative content«) auf. Wenn diese Inhalte, das Subjekt der Erzählung (die »Persona«), ihre Taten und Erlebnisse so allgemein und unbestimmt sind, dann – meint Kivy – ist die Erzählung uninteressant, denn wenn wir eine Erzählung hören wollen, wollen wir wenigstens wissen, wer was tut und wieso. Das sagt uns die Musik nicht. Wenn die Erzählung für sich so uninteressant ist, kann sie auch zum Sinn der Musik und zu unserem Genuß an ihr nichts beitragen, und es gibt keinen Grund, eine so gestaltete Erzählung aus der Musik herausholen zu wollen. Mehr noch: Diese Erzählung in der Musik ist überhaupt keine Erzählung. »If [music] cannot do this crucial thing that dramatic and narrative fiction can,« – nämlich: »disambiguation« hinsichtlich des »›who‹ and the ›what‹« – »then it cannot, for that reason alone, possess narrative or dramatic content.« (Kivy 2009, S. 148) Dies bringt Kivy zum zweiten Teil seines Arguments. Er fragt: Was sind diese allgemeinen vorgeblichen Inhalte, wenn sie gar keine Erzählung hergeben? Daß Spannungen, Auflösungen, Unruhen und melancholische Anmutungen in der Musik zu finden sind, streitet er nicht ab. Er analysiert sie aber anders: nicht als Inhalte oder als Elemente einer Erzählung, sondern als formale ästhetische Eigenschaften. Sie können solche Eigenschaften sein, weil sie die Voraussetzungen erfüllen, die in der oben umrissenen Diskussion gemacht wurden: sie sind in der Musik, und jeder kompetente Hörer kann sie erkennen. Kivy beharrt aber darauf, daß man nicht denken darf, sie würden aus der Musik heraus auf etwas Weltliches verweisen (es sei denn, ein beigefügter Text hilft dabei). Eine ästhetische Eigenschaft der reinen Musik darf keine repräsentationale Eigenschaft sein, selbst wenn das, was repräsentiert werden sollte, nur in allgemeinsten Worten wiedergegeben wird. Kivy diskutiert beispielsweise den 2. Satz in Mahlers 9. Symphonie, der unter anderem mit der Spielanweisung »Etwas täppisch und sehr derb« überschrieben ist. Das Täppische an der Musik ist, so Kivy, eine ihrer ästhetischen und formalen Eigenschaften. Anthony Newcomb, einer seiner bevorzugten Gegner, schreibt hierzu, daß jemand, der diese Eigenschaften wahrnimmt, in der Musik »an agency that is ›clumsy‹« vorstellen wird. Diese nicht weiter bestimmte 71 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

»agency« ist für Kivy schon zuviel an Inhalt. Überhaupt einen Inhalt oder eine Bedeutung vorzustellen ist ihm zufolge bereits ein unstatthafter Schritt über die Wahrnehmung einer ästhetischen Eigenschaft hinaus (vgl. ebd., S. 144–147). Im Falle solcher Eigenschaften, die mit Wörtern aus dem Feld des menschlichen Verhaltens oder Ausdrucks beschrieben werden, sollten wir gegen Kivys These jedoch die Frage stellen, ob es überhaupt möglich ist, sie rein formal und innermusikalisch wahrzunehmen, ohne daß dabei die Vorstellung einer Handlung, Bewegung oder Gemütsregung – wie unbestimmt auch immer – beteiligt wäre, die uns schließlich dazu motiviert, gerade eine solche Beschreibung wie »täppisch« oder »melancholisch« zu wählen. In den Begriffen der hier behandelten Diskussion hängt diese Frage an dem Problem, ob es zur Auffassung solcher Eigenschaften nötig ist, eine »agency« oder »persona« vorzustellen. Kivy hält dies für ein empirisches Problem, das man zu lösen habe, indem man Leute befrage: »Hören Sie Personen in der Musik?«; da er selbst mit »Nein« antwortet, hält er das empirische Problem für erledigt (vgl. ebd., S. 145) und sagt: Personen in der Musik sind keine Sache der Musik, sondern ein Zufall auf seiten des Hörers. Damit umgeht er jedoch das tieferliegende begriffliche Problem, daß es nicht klar ist, was (formale) Eigenschaften oder wahrgenommene »agencies« und »personas« überhaupt sind. Eine Untersuchung zu den Grundlagen dieses Problems wird hier in Kap. f.–k. durchgeführt; jetzt genüge es, zu bemerken, daß noch Klärungsbedarf vorliegt.

c.3. Sinn und Wert der Form der Musik im Formalismus Wenn man Kivys Ansicht folgt, daß keinerlei Weltbezug in allgemein ausdruckshaften Eigenschaften impliziert ist, so bleibt zu erklären, was sie überhaupt in der Musik zu suchen haben. Kivy antwortet: Sie helfen der Musik dabei, interessante Strukturen zu entwickeln, indem sie dazu beitragen, Kontraste, Variationen und Wiederholungen hervorzubringen und kenntlich zu machen (Kivy 2002, S. 91). Weiterhin können sie Spannungen auf- und abbauen (ebd., S. 99). Ist dies nicht der Fall, sind sie nur zufällig da und tragen nichts zur ästhetischen Wertschätzung der Musik bei (ebd., S. 92). Bevor wir uns Einwänden gegen diese Beschreibung zuwenden, ist es angemessen, zu fragen: Was interessiert uns eigentlich an all den formalen Eigenschaften und an den Strukturen, die sie bilden? – 72 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Sinn und Wert der Form der Musik im Formalismus

Das Herz der formalistischen Antwort ist: Sie interessieren uns einfach so. Wir mögen Mosaiken, hübsch gemusterte Teppiche, Geschirr mit eleganten oder rustikalen Umrissen und Dekorationen – wir mögen Blumen, Bäume, buntes Herbstlaub auf Teichen. Wir sehen auch gerne Eiskunstlauf. All diese Dinge mögen wir allein aufgrund ihrer Farben, ihrer Gestalten oder der bloß formalen Qualitäten ihrer Bewegungen. So verhält es sich auch mit der Musik. Sie überragt jedoch all diese anderen Dinge, indem sie zum einen die formalen Qualitäten »rein« präsentiert, also nicht an eine dinglich bestimmte Substanz gebunden 6 , und zum anderen besonders viele und komplexe formale Qualitäten simultan entfalten kann. Auf diese Weise versucht beispielsweise Malcolm Budd, das Rätsel der musikalischen Anziehungskraft (»appeal«) zu lösen (vgl. Budd 1995, S. 164–167). Kivy ist hierzu ausführlicher. Ihm liegt es am Herzen, daß man mit der Musik nicht einfach mitschwimmt, sondern daß man etwas über sie weiß, besonders über ihre etablierten Großformen. In diesem Fall interessiert uns nicht nur die Klangstruktur, die wir jetzt im Moment hören, sondern die Tatsache, daß sie beispielsweise eine Wiederaufnahme oder eine Variation eines Themas ist. Es sei geradezu der Sinn von Formen wie dem Rondo, der Ritornellform, der Fuge oder der Sonatenhauptsatzform, daß sie den Hörer anregen, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Momenten herzustellen: »the formal principle involved has been one kind or another in which the listener’s task is to find, to recognize, the principal melody or melodies out of which the musical structure is constituted. It is the composer’s task to vary these melodies, hide them, alter them, dismember them, and generally give the listener puzzles to solve. […] Finding one’s way in a musical form is part of the hide-and-seek game, and gives part of the satisfaction one derives from such music« (Kivy 2002, S. 78).

Dies befriedigend zu finden, dürfe nicht seltsam sein: Menschen vergnügen sich auch damit, Puzzles zu legen und Kreuzworträtsel zu lösen. Sie setzen gerne etwas zusammen und freuen sich, wenn es paßt. So erzeugen und erfassen sie etwas, das in der Debatte, die uns

Daß etwas ein Blatt, ein Schmetterling, ein Teller oder ein Gebäude ist, beschränkt die Formen, die an ihm schön sein können: Wäre ein Blatt kreisrund und glatt wie ein Teller, schiene dies mit seinem organischen Wesen schlecht zusammenzustimmen; wäre ein Teller gelappt wie ein Eichblatt, erschiene er unfunktional und daher grotesk und manieriert.

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gerade beschäftigt, nicht selten als eine intrinsich wertvolle ästhetische Eigenschaft diskutiert wird: Einheit. Es ist aufschlußreich, daß Kivy und Budd an Rätselspiele und an Dekoration erinnern, wenn sie unser Interesse an Musik erklären wollen – aufschlußreich in zwei Richtungen. Auf der einen Seite verweisen sie damit auf Gebiete, die die Ästhetik als Kunstphilosophie stark vernachlässigt hat, indem sie sich zumeist an einem Kanon »höherer« Künste orientiert und sich von Spielereien und bloßen Ornamenten fernhält. Dieses Feld ist außerordentlich interessant, kann aber hier nicht genauer untersucht werden. Auf der anderen Seite wird gut sichtbar, worin sich das Interesse der ›analytischen‹ Ästhetik von demjenigen der Ästhetik nach Kant bis hin zu Adorno und über ihn hinaus unterscheidet. Dieser Unterschied wird an vielen Stellen dieser Arbeit ausdrücklich werden; er sei hier nur an einem Beispiel angedeutet. Auch Adorno stößt auf den Gedanken der Musik als Puzzle, nämlich im Zusammenhang mit etablierten Verfahren, Musik zu analysieren, wie Riemanns »Elementaranalyse« (Adorno 2001b, S. 81 f.). Analysen, die die Musik gleichsam in Puzzleteile auseinandernehmen, scheinen ihm gerade die Musik der »klassischen« Epoche, zum Beispiel diejenige Haydns und Mozarts, besonders gut zu treffen und wesentliche Aspekte ihres künstlerischen Wertes anzusprechen. Für Kivy würde die Annahme naheliegen, daß die Anwendung derartiger Analysen per se etwas Schönes und Erfreuliches ist, weil sie die Erfahrung des Zusammenpassens vertiefen. Daß die Musik durch solch ein vergnügliches Puzzeln so gut getroffen scheint, ist für Adorno hingegen nicht bestätigend, sondern irritierend und ein Zeichen dafür, daß etwas dabei verlorengegangen sein muß, denn »Geschlossenheit um ihrer selbst willen […] ist eine Kategorie, welcher der ominöse Vorwurf des Formalismus tatsächlich gebührte.« (Adorno 1970, S. 239).

c.4. Die Lücke in Kivys Abgrenzung des Formbegriffs Was vernachlässigt die Analogie zwischen Musik und Rätseln oder dem auf dekorative Weise Schönen, die Budd und Kivy herstellen? Daß Musik mehr, feinere und ausdrucksvollere ästhetische Eigenschaften hat als ein Teppich, wie beide andeuten (vgl. z. B. Kivy 2002, S. 92), scheint nur ein quantitativer Unterschied zu sein. Die Intuition ist aber nicht unbegründet, daß die formalen Eigenschaften der 74 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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Musik qualitativ und wesentlich von jenen verschieden sind, die beispielsweise sichtbar sind. Hanslick versäumt nicht, diesen Hinweis zu geben, obwohl er Musik als ein »Kaleidoscop auf incommensurabel höherer Erscheinungsstufe« bezeichnet, denn er betont weiter, »daß solch unserm Ohr vorgeführtes Tonkaleidoscop sich als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes giebt, jenes sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug.« (Hanslick 1854, S. 33)

Im Gegensatz zum sichtbaren Farbenspiel ist das musikalische Formenspiel »sich von innen heraus gestaltender Geist« (ebd., S. 34). Nimmt man diesen Hinweis ernst, so kann man sich nicht damit zufrieden geben, formale Eigenschaften bloß negativ von repräsentationalen Eigenschaften zu unterscheiden. Es fehlt eine positive Aussage darüber, was hörbare Formen auszeichnet, insbesondere im Hinblick auf ihren ›Geist‹. Die Untersuchung der musikalischen Eigenform hat angezeigt, daß eine ihrer Besonderheiten darin liegt, wie sich Klänge bewegen. Genau hier liegt die entscheidende Verbindung zu dem, was Hanslick »Geist« nennt. Die Bewegtheit der Klänge ist die Grundlage dafür, daß sie zum Beispiel ausdruckshaft erscheinen können. 7 Daß dies eine der Besonderheiten der musikalischen Form ist, bemerkt Kivy zwar, doch mit scheinbar bescheidenem Agnostizismus vernachlässigt er ihre weitere Betrachtung: Er sagt, er verstehe nicht, worauf sie beruhe (Kivy 2002, S. 92), und bleibt dabei stehen. Es ist typisch für seinen Umgang mit der Erfahrung musikalischer Bewegung und musikalischen Ausdrucks, daß er sich entweder mit dem Postulat einer »black box« oder mit dem angesprochenen negativen Vorgehen zufriedengibt. Die formalen Eigenschaften, die wir in der Musik hören und wertschätzen, sind dann einfach alle Eigenschaften, die keine repräsentationale oder semantische Funktion tragen. Diese weitgehend negativ durchgeführte Analyse hinterläßt ihre Lücken, denn die Weise des Weltbezugs, gegen den die musikalische Form abgegrenzt wird, ist die Weise besonderer bezugnehmender Funktionen, insbesondere der Sprache und der Abbildung. Diese Abgrenzung ist trivial und bestimmt nicht das, was sie soll. 8 Kivy hat

Diese wichtige Annahme begründe und erläutere ich in Kap. h.–k. Mit der systematisch unzureichenden Abgrenzung mag zusammenhängen, daß Kivy aus der Diskussion über mögliche Weltbezüge der Musik die immergleichen Gegner herausgreift, während differenziert vorgehende »Semiotiker« wie Kofi Agawu, Robert Hatten oder Michael Spitzer in seinen Abhandlungen nicht vorkommen.

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vor, durch sie zu schließen: Musik bezieht sich nicht auf die Welt, wie die Sprache und Abbildungen es tun, also bezieht sie sich gar nicht auf die Welt. Wenn dieser Schluß gültig sein sollte, müßte vorher auf der Grundlage von sprachlicher und abbildender Bezugnahme ein allgemeiner und umfassender Begriff der Bezugnahme bestimmt worden sein, von dem man dann zeigen könnte, daß Musik ihn nicht erfüllt. Aber selbst dann ließe sich über die Allgemeinheit dieses Begriffs der Bezugnahme streiten, indem man fragt, ob die musikalische Form nicht eine eigene Weise des Weltbezugs hat, der Weltbezug ist, obwohl er nicht unter einen entweder allgemeinen oder speziell sprachlichen und abbildenden Begriff der Bezugnahme fällt. Eine solche Frage stellt Kivy nicht, und zwar deshalb, weil der Begriff der Form, den er voraussetzt, jeden Weltbezug per Definition ausschließt. Ebensowenig fragt er, ob und warum dieser abstrakte Begriff der formalen Eigenschaft für die Musik hinreichend sein sollte, sondern er setzt voraus, daß er es ist. Dieses gesamte Problem der abstrakten Negation steht im Rahmen der vorhin bereits exponierten empiristischen Probleme der Suche nach Eigenschaften. Diesem Rahmen entsprechend nimmt Kivy (und nicht nur er) an, daß ein abstraktes Eigenschaften-Haben auch die Weise ist, in der man am besten untersuchen kann, ob etwas Semantik oder abbildende Funktionen hat. Eine bestimmte Eigenschaft zu haben ist grundsätzlich etwas, das man einem Ding objektiv zuschreiben oder abstreiten können soll. Eine von Kivys Überlegungen läßt sehr gut erkennen, wie er diese Annahme denkt und was daraus folgt. Ihr Zusammenhang ist eine Polemik gegen psychologische Untersuchungen, in denen nachgewiesen werden sollte, daß Musik semantisches Potential hat, indem man Versuchspersonen Musik vorspielte und ihnen aufgab, sie in Polaritätsprofilen wie »kraftvoll – schwach«, »zornig – sanft« oder »mutig – ängstlich« einzuschätzen. Die Forscher, gegen die Kivy sich wendet, schließen dann: Es fällt allen leicht, solche Einschätzungen zu geben, also können wir sagen, daß Musik das semantische Vermögen hat, auf Kraft, Zorn oder Angst zu verweisen. Kivy deutet diese Hörweise dagegen so, daß die Versuchspersonen formale ästhetische Eigenschaften wahrnehmen und daraus nichts für irgendwelche Semantik folgt. Er schildert folgendes Szenario: »Imagine showing a group of subjects a brief moving picture of a turbulent river spilling over a deep crevice, and then a tranquil, purling stream mean-

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dering through a serene meadow. And imagine then asking the subjects to locate the two things they have seen on the semantic scales strength to weakness, impetuosity to restraint, kindness to cruelty. Is there really much doubt that there would be more or less consistent responses putting the turbulent river at the strength, impetuosity, cruelty ends of the scales, the purling stream at the weakness, restraint, kindness ends? And is there anyone who would conclude, on the basis of these eminently predictable results, that we have found out anything about the semantics of rivers and streams?« (Kivy 2012, S. 173 f.)

Man sieht hier sehr schön zwei empiristische Grundannahmen zusammenfließen. Erstens hält Kivy es für selbstverständlich, daß man über Flüsse in der ganz gleichen Weise wie über Musik reden kann und soll – daß Musik ein Ding wie jedes andere ist. Zweitens ist für ihn klar, daß man sagen kann: Semantik ist eine Eigenschaft, von der man entscheiden kann, ob der (im Film festgehaltene) Fluß sie hat oder nicht. Völlig aus dem Blick gerät dabei, daß ein Fluß so fließt, wie die Natur ihn fließen läßt, aber die Musik ebenso wie die Sprache und die Abbildung menschengemacht ist und ihren Ort in einer kulturellen Praxis hat. Was eine solche Praxis hervorbringt, ist aber nicht mehr nur darauf zu befragen, welche Eigenschaften es objektiv hat. Dies wäre, wie erwähnt, entscheidbar. Ist es aber auf die gleiche Weise entscheidbar, ob ein Produkt menschlicher Praxis Sinn oder Bedeutung hat? Nein: Diese Entscheidung kann man nicht treffen, indem man dieses Produkt betrachtet, sondern indem man fragt, ob es eine Praxis gibt, innerhalb derer ihm Sinn oder Bedeutung zukommen. Auch der Fluß wird im Film oder im Bild zum Gegenstand einer Praxis – er wird abgebildet, gezeigt, vorgeführt, betrachtet, in einen Zusammenhang gebracht – und bekommt dadurch eine Bedeutung (um das Wort »Semantik« nicht zu sehr zu strapazieren). Die Bedeutung ist selbst das Produkt einer Praxis und haftet nicht fest an den Gegenständen wie ihre Farbe und Gestalt. Ferner scheint Kivy Semantik so zu verstehen, daß sie auch in Erzählungen entweder offen vor uns liegt oder gar nicht vorhanden ist (vgl. S. 176). Dagegen kann man leicht einwenden, daß Sinn und Bedeutung von so etwas wie Erzählungen – das, um was es in ihnen geht – nicht mit Semantik deckungsgleich sind: »literary works are not always about their propositional content« (Bicknell 2002, S. 256). Wir lesen zwischen den Zeilen, vielleicht sogar gegen die offensichtlichen Bedeutungen, und fragen nach der Motivation dessen, was ge77 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Grundgestalt des formalistischen Arguments

schrieben steht. Wir fragen, was die Geschichte uns sagen will – denn ganz von allein sagt die Geschichte es uns oft nicht. Wir müssen also interpretieren. Die Narrativisten und Persona-Theorien, gegen die Kivy seinen Formalismus abgegrenzt hat, wären auf dieser Grundlage besser so zu verstehen, daß es ihnen nicht um die offensichtliche Semantik, sondern um den Vorgang der Interpretation geht, der den Sinn aus der Erzählung oder aus der Musik herausholt. Diese Unterscheidung scheint Kivy zu entgehen. Für ihn geht es darum, Eigenschaften gewissermaßen zu beweisen. Man mag auch noch davon reden können, daß ein einfacher semantischer Gehalt ›beweisbar‹ wäre, nämlich, was ein Wort bedeute und was nicht. Auf der Ebene der Interpretation ist dies aber nicht mehr von Interesse. Sie sucht in Erzählungen nicht nach dem, was ein Wort offensichtlich heißt, und in Musik nicht nach etwas, das so objektiv ist wie die Zahl von Themenwiederholungen, und wendet ein, daß man, wenn man lediglich nach solchen objektiv scheinenden Eigenschaften schaut, bereits einen empiristisch-formalistischen Begriff des Kunstwerkes selbst unterstellt hat. Sich auf diesen zu beschränken ist aber keineswegs die einzige legitime Möglichkeit. Beschränkt man sich nicht auf ihn, so fällt eine der Grundannahmen von Kivys Untersuchung fort, nämlich daß man etwas Gehaltvolles über ein Kunstwerk sagt, indem man Eigenschaften an ihm feststellt, denn das Kunstwerk ist dann kein bloß empirischer Gegenstand mehr. 9 Der interpretierende Ansatz ahnt dagegen in der Musik ein Potential, das über das Spiel der Kontraste und Wiederholungen hinausgeht, und versucht, dieses Potential durch seine Reflexion zu verwirklichen. Er ahnt in den musikalischen Formen den »Geist«, von dem Hanslick schrieb. An dieser Stelle untersuche ich dieses Vorgehen nicht weiter: Wie Musik gedeutet werden kann und wie nicht, was ihr Geist ist und wie er zu ihr kommt, sind Themen ab Kap. l. Stattdessen möchte ich abschließend einschätzen, was von Kivys Formalismus zu halten ist. Dieser Formalismus ist eine vor allem negativ bestimmte These. Er sagt, daß reine Musik viele schöne Eigenschaften hat, die wesentlich dadurch bestimmt sind, nicht semantisch oder repräsentational zu sein wie die Sprache und die Abbildung. Unser Wissen darüber, was Musik ist, ruht auf dem Fundament des Wissens, was Musik Vgl. Robinson 2005, S. 304: »The whole notion of what is ›in‹ a work of art is deeply problematic, and depends upon the conception of the work that a listener brings to it.«

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nicht ist. Dasjenige, was Musik aber nicht ist – Bild und Sprache, offensichtliche Semantik und Darstellung –, hat für sich keinerlei Bezug auf die Musik. Es mag dazu nützen, erste Schritte zur Überlegung anzuleiten, was Musik ist und was nicht. Aber es kann keine positive Auskunft über sie geben; es kann nicht dazu taugen, einen Begriff der Musik und ihrer Form(en) zu tragen. Mit diesem Formalismus als Grundlage wissen wir nicht, was die musikalische Form selbst ist. Wir wissen folglich auch nicht, was die musikalische Form anderen Formen gegenüber auszeichnet. Der Formalismus, der hier stehen bleibt, ist eine hohle Form, und wenn seine Grenzwände nicht halten, stürzt er selbst zusammen. Er hinterläßt also zwei Komplexe von Fragen: dem eben bemerkten, zu klären, was musikalische Form genauer in der Abgrenzung gegen ästhetische nicht-musikalische Form und gegen musikalische nicht-formale ›Eigenschaften‹ auszeichnet, und demjenigen, der den »Geist« der Musik betrifft – das also, was dadurch in ihr ist, daß sie menschengemacht ist. Die Fragen nach der Form und die Fragen nach dem Geist oder der Gemachtheit stehen, wie sich zeigen wird, in einem Zusammenhang, den man nur auflösen kann, wenn man eingesteht, daß man nur noch über eine abstrakte, methodisch vereinfachte Version des zu untersuchenden Gegenstandes – nämlich der Musik – spricht.

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d. Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes

Dieses Kapitel nimmt die in der Einleitung angesprochenen Beobachtungen wieder auf, daß die Fähigkeit fast universell verbreitet ist, musikalische Struktur wahrnehmend als mehr oder weniger folgerichtig zu erkennen und zu genießen, und untersucht den Versuch, aus solchen Beobachtungen einen Begriff des musikalischen Verstehens zu gewinnen und festzustellen, welcher Typ musikalischer Form einem so gearteten Verstehen entsprechen kann. Es geht also um die Begründung von wertenden Erfahrungen der musikalischen Formgebung aus empirischen Erkenntnissen über Wahrnehmungsprozesse – also aus der Psychologie heraus. Solche in einem weiteren Sinne naturalistischen Begründungsversuche sind in der ›analytischen‹ Musikphilosophie, aber auch in der Musikwissenschaft und der Kritik im 20. Jahrhundert nicht selten. Carl Dahlhaus zufolge wurden naturalistische Argumente vor allem seit einer Zeit in das Denken über die Musik aufgenommen, in der »die Musiktheorie unter dem Druck des Historismus, der Ethnologie und der Neuen Musik in eine Krise geraten war, die ihre normativen Ansprüche gefährdete« (Dahlhaus 1984, S. 92), also seit Beginn des 20. Jahrhunderts. In seiner Darstellung führte die Weiterentwicklung und völlige Revolution aller musikalischer Ordnungssysteme zum Verlust bisher selbstverständlicher Maßstäbe zur Bewertung von Musik und zur Anleitung zu ihrer Komposition und damit zu einer ästhetischen Orientierungslosigkeit. Wer der Moderne und ihrer scheinbaren Willkür mißtraute, hoffte darum, daß die prestigeträchtigen empirisch-experimentell arbeitenden Wissenschaften eine Stütze für die Verteidigung des Bewährten bieten konnten. Eine uralte Tradition leitete das Wesen der Musik aus der Proportioniertheit ihrer in Zahlen faßbaren Schwingungen ab. Man konnte diatonische Skalen erklären, indem man ihre Töne auf die Obertonreihe bzw. auf einfache ganzzahlige Schwingungsverhältnisse zurückführte: Sie erschienen somit als ›natürlich‹ gegebene

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Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes

Skalen. 1 Auf diese alte Tradition griff man auch in den empirischen Wissenschaften ab dem 19. Jahrhundert an den Stellen wieder zurück, an denen man annahm, daß aus jenen akustischen Zusammenhängen Vorzüge der entsprechenden Skalen für die Physiologie und Psychologie der Klangwahrnehmung folgen. Derartige Naturalismen wurden von Komponisten und Musikwissenschaftlern wie Friedrich Blume und Paul Hindemith fortgesetzt (vgl. kritisch: Cadenbach 2007, S. 190–192; Hindrichs 2014, S. 50) und sind auch in jüngerer Zeit noch verbreitet. Fred Lerdahl, der im folgenden weiter diskutiert wird, nimmt an, »musical consonance and dissonance« könne auf »sensory consonance and dissonance« basieren (Lerdahl 1988, S. 245) und letztere wiederum auf der größeren oder geringeren Komplexität der Frequenzverhältnisse zweier Töne. Zusätzlich werden diese Begriffe von Konsonanz und Dissonanz mit denen des Unangenehmen oder Angenehmen verknüpft und daran wiederum Thesen über die ästhetische Qualität der Erscheinung der Musik angeschlossen. In der jüngeren Musikphilosophie hat Geoffrey Madell in seiner Studie Philosophy, Music, and Emotion einer sehr ähnlichen These erhebliche Lasten aufgebürdet, denn die Schwebungsverhältnisse »dissonanter« Intervalle sollen die wesentlichen Träger musikalischen Ausdrucks sein (Madell 2002, S. 19–24 und S. 64). Aus einer ganz anderen Richtung kommt Ernest Ansermet, der in Les fondements de la musique dans la conscience humaine mit Hilfe einiger mathematischer bzw. akustischer Postulate einzusehen glaubt, welche Musik sinnvoll, schön und gut sein könne (Ansermet 1961 / 1965). Ansermet beruft sich dabei auf die PhänoArgumentationen auf der Grundlage solcher einfacher Verhältnisse müssen nicht nur davon absehen, daß in den unterschiedlichen Musikkulturen unterschiedliche Skalen und Tonstufen gängig sind, sondern auch davon, daß in der europäischen Musikgeschichte in der Form von Stimmungssystemen auf vielfache Weise versucht wurde, die internen Widersprüche auszugleichen, die sich aus den »einfachen« natürlichen Tonbeziehungen ergeben. Ein einfaches Beispiel: nimmt man die Schwingungsverhältnisse der Oktave, der Quinte und der großen Terz als 2 : 1, 3 : 2 und 5 : 4 an, so ist es nicht möglich, durch die Abfolge von (drei) großen Terzen oder von (zwölf) Quinten zu einem Ton zu kommen, der mit dem Ausgangston oktavgleich wäre. Für die Musikpraxis folgt daraus, daß sie nicht den geradzahligen Schwingungsverhältnissen folgt, sondern komplexe ›Kompromisse‹ ausarbeitet, um benutzbare Tonsysteme zu gewinnen. Entsprechend muß man lernen, Töne nach historisch und kulturell variablen Systemen flexibel ›zurechzuhören‹. Diese Schwierigkeiten von im engeren Sinne psychoakustischen Naturalismen verfolge ich hier nicht weiter, um mich stattdessen auf kognitionspsychologische Thesen zu konzentrieren.

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menologie Husserls, mißbraucht sie jedoch, wie Carl Dahlhaus in seiner Kritik dieses Werkes darlegt (Dahlhaus 1966). Der allgemeine Naturalismus über das Wesen der Musik ging zumeist in den in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehenden spezielleren Naturalismus über, der Tatsachen aus der ›Natur‹ der Wahrnehmung als Maßstäbe gebraucht. Nach dem zu Beginn Gesagten liegt der musikphilosophische Rückgriff auf diese ›Natur‹ der Wahrnehmung auch nahe, denn Wahrnehmungsprozesse tragen offenkundig etwas Wesentliches zum musikalischen Verstehen bei, so daß folgender Schluß anziehend wirkt: Gehören auf bestimmte Weise wahrnehmbare Strukturen zum Wesen der Musik – dies legten ja die Grundsätze der musikalischen Eigenform nahe, in denen sie als Tonhöhen- und Tondauernstrukturen gefaßt waren – und läßt sich aus einer Wesensbestimmung etwas Normatives folgern, so können aus Feststellungen über die Fähigkeiten der Wahrnehmung normative Aussagen für die Musik gezogen werden. Muster für diese Argumentationsweise, die zahlreiche weitere Vertreter hat 2 , beziehe ich von Fred Lerdahl (1988) und Diana Raffman (2003). Hier steht freilich kein Urteil über die Musikpsychologie an, sondern über Thesen im Bereich der philosophischen Ästhetik, die Begründungen aus dem Bereich der Psychologie beziehen. Zu untersuchen ist, inwiefern die Begründungen zu den Thesen passen. Passen sie nicht, so nenne ich sie psychologistische Ästhetiken. Passen sie – indem man beispielsweise den Bereich der Ästhetik entsprechend anders bestimmt –, so hat man eine empirische oder psychologische Ästhetik, die empirische Aussagen trifft. Diese ist hier aber nicht das Thema. Einen Hinweis darauf, ob die Argumentation zusammenpaßt oder nicht, kann die Verwendung des Wortes »verstehen« geben. Es gibt die Rede vom Verstehen und Nichtverstehen im innermusikalischen Bereich – dem Bereich der bloß musikalischen Formen –, die oft eine implizite Erkenntnis von Regelmäßigkeiten bzw. das Scheitern auf der Suche nach Regelmäßigkeiten meint. Es ist nun, soweit ich dies beurteilen kann, kennzeichnend, daß die psychologische Forschung den Begriff des Verstehens entweder gar nicht zu gebrauchen pflegt oder ihn in einem schwachen, deskriptiven Sinn verwendet, der z. B. Aussagen der Probandinnen wiedergibt. Stattdessen spricht Die Summe der älteren gestaltpsychologischen, lange Zeit einflußreichen Theorien, die auf eine Ästhetik hinzielen, ist bei Albert Wellek (1963) zu finden.

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Das Muster der psychologistischen Argumentation

man gewöhnlich von der Repräsentation oder der Verarbeitung musikalischer Formen. Man kann von gewissen musikalischen Strukturen feststellen, daß sie einer kognitiven Repräsentation nur unvollständig zugänglich sind, wenn man sie hört. Dies ist eine bloße Beschreibung. Sagt man hingegen, daß eine solche Struktur nicht verstanden werden kann, so liegt es nahe, anzunehmen, daß mit dem Verstehensbegriff ein normatives Element eingebracht wird und daß ein Text, der sich so ausdrückt, auf dem Weg zum Psychologismus ist.

d.1. Das Muster der psychologistischen Argumentation Der Ausgangspunkt der Forschung ist gewöhnlich die Wahrnehmung tonaler Musik – also solcher Musik, von der die eingangs geschilderten Beobachtungen ausgehen. Für diese Wahrnehmung läßt sich zeigen, daß gewisse Arten der Verarbeitung auch ohne besonderes musikalisches Training leicht zu leisten sind: Hörer sind in der Lage, Melodien wiederzuerkennen, als Varianten einer anderen Melodie zu beschreiben, Akkordfortschreitungen als Spannungs- oder Auflösungsvorgänge zu erleben oder einzelne Töne in einem bestimmten tonalen Kontext als passend oder unpassend zu beschreiben. Dieser vertraute Umgang mit dem musikalischen Idiom, in dem ein Hörer aufgewachsen ist, läßt sich experimentell überprüfen und theoretisch als erfolgreiche Repräsentation der musikalischen Strukturen beschreiben; nach einer älteren, aber nicht obsoleten Terminologie handelt es sich um Gestaltwahrnehmung. Im Zuge einer Theoriebildung versucht man, darzustellen, welchen Regeln die Gestaltwahrnehmung folgt. Diejenige Theorie, die wohl den umfassendsten Anspruch erhebt, derartige Regeln zu formulieren und auf einige wenige Prinzipien zurückzuführen, ist die generative Theorie der tonalen Musik von Lerdahl und Jackendoff; wohl aufgrund dieses umfangreichen Anspruchs hat sie große Aufmerksamkeit in den Bereichen gefunden, in denen sich Psychologie, Philosophie und Musikwissenschaft berühren. Ihr zufolge ist die Strukturwahrnehmung auf Regeln der Hierarchie gegründet: wenn wir Musik hören, gliedern wir sie (unbewußt) in Motive, Themen und größere Abschnitte. Auf der Ebene der einfachsten musikalischen Gestalt – des Motivs – ordnen wir hörend die Töne in Abhängigkeit voneinander: ein Ton mag der Zielton sein, andere führen zu 83 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes

ihm hin oder umspielen ihn. Auf der Ebene des Rhythmus entspricht dies der Gliederung in starke und schwache Zeiten. Auch die Motive stehen in Zusammenhängen der Fortsetzung, des Kontrastes usw. und hängen in diesem Sinne voneinander ab, so daß sich eine Hierarchie ergibt, in der einzelne Elemente zentral sind, andere als Begleitung, Variation, Einleitung, Nachsatz usw. gelten können. Je nach Komplexität der rhythmischen und tonalen Bildung der Musik gelingt uns diese hierarchische Gliederung auf unproblematische Weise, oder sie gerät in Konflikte und Zweideutigkeiten. 3 Lerdahl (1988, S. 236) behauptet nun, auf dem Weg der generativen Theorie sei »the nature of musical understanding itself« herauszufinden. Musik werde verstanden, »when the perceiver is able to assign a precise mental representation to what is perceived.« Dies erfordert jedoch »a degree of ecological fit between the stimulus and the mental capacities of the perceiver« (ebd., S. 232): eine Struktur muß so geordnet sein, daß sie den Ordnungskategorien des Hörers zu einem gewissen Grade angemessen ist. Über diese Kategorien sollen die in der generativen Theorie formulierten Regeln der hierarchischen Strukturierung und der Ableitung musikalischer Elemente auseinander Aufschluß geben. Hierüber Bescheid zu wissen sei auch sehr hilfreich für die Musikschaffenden, denn die Musik der 1920er bis 1950er Jahre habe bei der Ausarbeitung neuer Strukturprinzipien darunter gelitten, daß der kognitionspsychologische Ansatz noch nicht weit genug entwickelt gewesen sei, so daß sie keine Orientierung hinsichtlich dessen, gehabt habe, was eine verstehbare Musik sei (ebd., S. 236). Daß die genannten Formen der Repräsentation von Musik fast bei jedermann nachweisbar sind, weise auf die »apparent psychological reality« tonaler Strukturen hin (Raffman 2011, S. 598). Lerdahl zufolge sind die Regeln, die die generative Theorie aus der Beobachtung und der Analyse geläufiger Musik ableitet, nun nicht als bloße Regelmäßigkeiten, sondern auch als ästhetisch normative Regeln zu verstehen. Zu diesem Schritt verleitet die gestaltpsychologische Rede von der »guten Gestalt« oder von »well-formedness rules« (Lerdahl 1988, S. 238):

Diese Kurzdarstellung ist sehr frei formuliert. Für eine Kurzdarstellung, die die technischen Termini beibehält, s. Lerdahl 1988, S. 239 f.; für eine gleichermaßen übersichtliche wie umfassende Wiedergabe s. Bradter 1998, Kap. 1–2.

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Das Muster der psychologistischen Argumentation

»There is no obvious relationship between the comprehensibility of a piece and its value. Many masterpieces are esoteric, while most ephemeral music is all too comprehensible. On the other hand, if a piece cannot be understood, how can it be good? Most would argue that comprehensibility is a necessary if not sufficient condition for value.« (ebd., S. 254 f.)

Auch hier scheint das »most« – die Beschreibung eines häufigen Vorkommens – als Grundlage für Sätze über notwendige Eigenschaften der Musik dienen zu sollen, denn wenig später heißt es: »following them [= »aspects of this understanding«, wie es kognitionswissenschaftlich bestimmt wurde] will lead to cognitively transparent musical surfaces, and […] this is in itself a positive value; […] not following them will lead in varying degrees to cognitively opaque surfaces, and […] this is in itself a negative value.« (ebd., S. 255)

Wird das musikalische Verstehen ausschließlich als Wahrnehmung und Verarbeitung von Strukturen analysiert, so haben wir nach der eingangs vorgestellten Redeweise eine formalistische Theorie musikalischen Sinnes vor uns. Darüber mag die Tatsache hinwegtäuschen, daß genau dieses Verstehen nicht selten mit »Gefühlen« verknüpft wird, so bei Leonard Meyer, Albert Wellek oder Diana Raffman. Man ist damit aber nicht auf dem Weg zu einem Emotivismus oder einer Ausdrucksästhetik, denn diese Gefühle sind bei den genannten Autoren durch den formalistischen Rahmen bestimmt. Wenn Raffman schreibt: »musical understanding, grasp of musical meaning, consists in experiencing certain peculiarly musical feelings« (2003, S. 78), so meint sie »feelings of tension, stability, rhythmic stress, resolution« (S. 80). Diese Art von Gefühlen ist so bestimmt, daß ihre Ursache allein die Kognition strukturell beschriebener Ereignisse sein soll, nämlich die Erfüllung von Erwartungen, die man als Hörer implizit auf die musikalische Gestaltbildung richtet, oder die Überraschung, wenn die erwartete Fortsetzung umgangen oder variiert wird. Sie sind ganz von der tonalen und rhythmischen Gestalt der Musik abhängig. Insofern diese Gestalt die spezifisch musikalische, der Musik wesentliche Eigenform ist, sind diese Gefühle spezifisch musikalische Gefühle, wie Raffman sagen will. Folglich scheint sie zu behaupten (S. 85 f.), daß andere Gefühle – etwa solche, die mit Klangfarben, Dynamik, stilistischen Anspielungen usw. zusammenhängen – für das musikalische Verstehen belanglos sind, weil sie sich eben auf die »nonstructural features« der Musik beziehen. Die nun in ihren allgemeinen Zügen geschilderte Argumenta85 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes

tion hat einen konkreten, in Lerdahls und Raffmans Texten allerdings zur Vogelscheuche verunstalteten Gegner 4 : das ›Zwölftonsystem‹ und der Serialismus, und zwar weil die systematischen Grundlagen dieser Kompositionsweisen gerade jene Hierarchisierung auf der Ebene der Tonzusammenhänge untergraben wollen, die das Fundament der generativen Theorie ist. Für den vorliegenden Zweck ist es jedoch gar nicht wichtig, welche Regeln und »cognitive constraints on compositional systems« (so der Titel von Lerdahl 1988) im einzelnen aufgestellt werden und welche Art von Musik sie begründen oder widerlegen wollen. Wichtig ist vielmehr das Schema der Argumentation. Zusammengefaßt besteht es in einem Dreischritt. Zuerst werden empirische Beobachtungen über die Wahrnehmung musikalischer Gestalten angestellt. Als zweiter Schritt folgt die Bestimmung dieser Wahrnehmung als Verstehen und damit ihre normative Aufladung. Der dritte Schritt ist es, die entsprechenden Normen des Verstehens als ästhetisch-künstlerische Normen zu behaupten.

d.2. Kritik am Psychologismus und konstruktivistische Folgerungen Die Kritik an dem skizzierten Schlußschema kann sich auf zwei hauptsächliche Stellen richten: auf die theoretische Verarbeitung dessen, was man empirisch beobachtet hat, und auf den Gesamtzusammenhang der Argumentation. Zum ersten Punkt: Die Regelmäßigkeiten, die zu einer Theorie der Musikwahrnehmung zusammengefaßt werden, sind aus der Untersuchung bestimmter Musik gewonnen, und zwar zumeist nicht aus der Untersuchung ganzer Werke, sondern von übersichtlichen Abschnitten, die maximal die Dauer eines Chorals oder von Beethovens »Ode an die Freude« erreichen. Das liegt daran, daß bereits eine Vorannahme getroffen ist, um deren Prüfung es geht, nämlich die Möglichkeit der leichten kognitiven Verarbeitung tonaler Strukturen. Man dreht sich im Kreis: Die Theorie schlägt vor, welche Musik man hinsichtlich ihrer Wahrnehmung untersuchen will, und die an der entsprechenden Auswahl gemachten Beobachtungen werden theorieförmig generalisiert. Will man dann die geringe Popularität Man lese den abstrusen Abriß der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts in Raffman 2003, S. 71 f.

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Kritik am Psychologismus und konstruktivistische Folgerungen

etwa von seriell entworfener Musik begründen, ist es leicht, die an tonaler Musik gewonnene Theorie gegen sie zu halten und herauszufinden, daß ihre Strukturen nicht in ihrem Sinne »verarbeitet« werden können. In diesem Sinne ist eine so entworfene Theorie der musikalischen Gestalt nicht formal genug: sie ist nur die Generalisierung einer bestimmten Hörweise, die bestimmter Musik angemessen ist, aber sie untersucht nicht unvoreingenommen, wie jemand beispielsweise nicht-tonale Musik hört und welche Strukturen er dort wahrnimmt. Daß sie nicht formal genug ist, heißt damit auch: sie gibt nicht nur ein formales Schema der Wahrnehmung musikalischer Struktur, sondern sie füllt dieses Schema mit überkommenen Elementen – Kadenzfloskeln, melodischen Klischees und dergleichen – an, die der experimentell kontrollierbaren Wahrnehmung und damit der entsprechenden Theoriebildung besonders leicht zugänglich sind. Hiergegen ist wenigstens einzuwenden: »Nur weil eine erfolgreiche musikalische Verarbeitungsstrategie für tonale Musik existiert, heißt das noch lange nicht, daß nicht andere für eine andere Art von Musik gebildet werden können.« (Bradter 1998, S. 128) In einer anderen Hinsicht ist die Theorie jedoch zu formal: sie untersucht die Erfahrung musikalischer Strukturen als eine Leistung der kognitiven Verarbeitung, beispielsweise als eine Gedächtnisleistung oder als die Fähigkeit, melodische oder harmonische Fortführungen als mehr oder weniger regelgerecht wahrzunehmen. Sie untersucht jedoch nicht, welche Erfahrungen darüber hinaus ein Teil des musikalischen Hörens sein können und welche Träger von Sinn es außer der melodischen und rhythmischen Form in der Musik geben kann. »Durch diese Vorgehensweise wird die Betrachtung von Musik in eine Richtung gedrängt, die alles andersgeartete Eigenständige abwertet bzw. durch Nichtbeachtung disqualifiziert.« 5 Anders gesagt: sie geht nicht von der Hörerfahrung selbst aus, sondern beginnt mit theoretischen Konstruktionen, die bestimmten Paradigmen der allgemeinen Psychologie folgen (vgl. Stoffer & Oerter 2005, S. 15 f.). Diese Paradigmen mögen Erhellendes über Musik zutage fördern, aber es ist nicht von vornherein so, daß sie einen umfassenden Zu-

Bradter 1998, S. 127; S. 151 weist Bradter weiterhin darauf hin, daß die generative Theorie selbst – im Gegensatz zu weniger strengen Möglichkeiten von kognitiven oder Gestalttheorien – nicht einmal Polyphonie in ihre Betrachtung einbezieht.

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Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes

gang zu dem Gegenstandsbereich garantieren, an den sie herangetragen werden: »Mit den kognitionswissenschaftlichen Werkzeugen wird Musiktheorie kompatibel für einen interdisziplinären Dialog, vorausgesetzt dieser wird in der Sprache der Kognitivisten geführt. Ob dabei allerdings Musik wieder in ihrer Besonderheit […] in den Blick geraten kann, bleibt ungewiß.« (Thorau 2005, S. 386)

Schließlich übertreibt die Theorie hinsichtlich des Umfanges, den sie für die Kognition im Hören behaupten will. Es ist recht leicht zu zeigen, daß übersichtliche Musikbeispiele von mäßiger, etwa liedhafter Komplexität als faßbare Gestalten gehört werden. Die generative Theorie hingegen unternimmt es, die Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit, die die Wahrnehmung einfacher Gestalten kennzeichnen, auf den Umfang ganzer Sätze auszudehnen. Ob es aber gerechtfertigt ist, an umfangreiche musikalische Gebilde den Maßstab der Gestalt anzulegen, den man an sehr einfachen Gebilden gewonnen hat, ist zu bezweifeln, und man kann unterstellen, daß die Einheit der Gestalt der Großform nicht so sehr etwas Gegebenes ist, das die Wahrnehmung einfach repräsentiert, sondern vielmehr eine Voraussetzung, die die Hörerin bereits mitbringt und die ihr Hören mitkonstituiert, so daß »die Einzelheiten […] als Teile eines antizipierten Zusammenhangs begriffen« werden (Dahlhaus 1967, 116). Diese Voraussetzung ist eine andere Art von Erwartung als jene, die in den hier zu kritisierenden Theorien eine Rolle spielt. Letztere setzen voraus, daß die Erwartungen an umfangreichere musikalische Formen ihren Ursprung in elementaren Prozessen der Gestaltwahrnehmung haben und mit ihnen Eigenschaften wie die der Einfachheit und Ganzheitlichkeit teilen. Es ergibt sich so die »grundlegende Hypothese der GTTM [= der generativen Theorie der tonalen Musik], daß ein Hörer bestrebt ist, mental eine einzige kohärente Struktur abzuleiten, in die alle relevanten Strukturmerkmale homogen integriert werden können.« (Bradter 1998, S. 118 f.) 6

Es ist aber eine bloße Voraussetzung, daß die Erwartung an die Einheit eines musikalischen Werks so verfaßt ist. Sie ist überdies eine Genaugenommen sind in dieser Hypothese drei Schritte enthalten, die Bradter später so formuliert: »daß ein isolierter hierarchisch organisierter, strukturbeschreibender Ansatz mentale Realitäten widerspiegelt, die Hierarchie strengen Kriterien gehorcht, und daß der Hörer bestrebt ist, diese strukturelle Ableitung vollständig und widerspruchsfrei zu erstellen.« (ebd., S. 181)

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Kritik am Psychologismus und konstruktivistische Folgerungen

wenig plausible Voraussetzung, insofern zu ihr die Annahme gehört, daß diese Einheit auch vollständig »mental repräsentiert« werden könne, aber umfangreiche musikalische Strukturen im bloßen Hören kaum als solche Strukturen erfaßbar sind, erst recht nicht unter einer einheitlichen Beschreibung. Schließlich handelt es sich nicht um die theorieförmige Verallgemeinerung einer selbstverständlichen Praxis des Hörens, sondern um eine aus der musikalischen Analyse importierte Voraussetzung, die in diesem Buch später genauer in den Blick genommen wird. 7 Insofern diese Voraussetzung aber festgehalten wird, kommt eine gewisse Zirkularität in die Theorie, auf die Cornelius Bradter hinweist: Ist es möglich, ein Werk als einheitliche hierarchische Struktur so zu analysieren, wie es die generative Theorie vorschlägt, so gilt das Ergebnis dieser Analyse als Bestätigung der Theorie (Bradter 1998, S. 149), während abweichende Analysen oder Hörerfahrungen falsch sein oder Unwesentliches getroffen haben sollen. Die soeben genannten Kritikpunkte zielen auf die Ebene der Beobachtung und der verallgemeinernden Gewinnung von Theorien der musikalischen Wahrnehmung aus ihr. 8 Zum Psychologismus gehört jedoch, daß er diese Ebene verläßt. Er bleibt nicht dabei stehen, individuelle Wahrnehmungsweisen und die faktisch aus ihnen entstehenden Urteile und Urteilsgewohnheiten zu erfassen. Stattdessen will er zur Ebene ästhetischer oder kultureller Kritik übergehen. So heißt es bei Raffman (2011, S. 600): »No doubt the psychological findings concerning our preferences for consonance over dissonance and for happy music over sad, etc., may have implications for the evaluation of musical works.« »Evaluation« ist jedoch zweideutig: die Empirie erfaßt faktische, möglicherweise spontane Bewertungen beliebiger Die Einheit der postulierten kognitiven Repräsentation der Musik versteht man gern als quantitative Erweiterung des Gestaltbegriffs; es ist aber zu fragen, ob man diesen Begriff nicht damit sprengt, denn »daß man eine einfache Melodie mit Gestaltkriterien angemessen und zureichend beschreiben kann, steht ebenso fest wie die Tatsache, daß es widersinnig ist, für die ›Urlinie‹ eines ganzen Symphoniesatzes, der sich über Hunderte von Takten erstreckt, den Gestaltbegriff zu reklamieren: […] Urlinien [sind] latent, Gestalten dagegen manifest« (Dahlhaus 1984, S. 93). Heinrich Schenkers Begriff der Urlinie, auf den ich in Kap. e. und n. noch öfter zu sprechen komme, ist die Folie für die hierarchisch höchste Strukturebene, die die generative Theorie der tonalen Musik behauptet. 8 Für eine ausführlichere Kritik, die auch die methodischen Mängel der Hypothesenbildung und -prüfung in der generativen Theorie anspricht, s. Bradter 1998, v. a. Kap. 6–9. 7

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Naturalistische und psychologistische Begrenzungen des musikalischen Sinnes

Hörer. Etwas anderes ist die ästhetisch-kritische Bewertung, in der das, was jedermann an einem Stück Musik auf der Grundlage seiner Wahrnehmung finden kann, nur ein Element einer Reflexion ist, die wiederum versucht, nach den unbewußten Anlässen für die spontane Bewertung des ersten Typs zu finden, ohne diese Anlässe zugleich als eine Rechtfertigung anzuerkennen. Ohne weiteres von der Beobachtung von Bewertungen dazu fortzuschreiten, den beobachteten Bewertungen normativen Status zuzuerkennen, ist ein Kategorienfehler. Der Psychologismus übersieht oder leugnet diesen Sprung. Stattdessen verbirgt sich in seiner Argumentation das Prinzip, daß die Mehrheit recht hat; erkennbar ist es beispielsweise, wenn Raffman (2003, S. 72) überlegt: »almost no one has trouble making sense of modernist abstraction [in der Malerei]. The harsh criticisms of serialism, by contrast, intimate that something is wrong with the idiom, that the idiom is somehow defective.« Gleichartig mit dem Sprung von beobachteten Urteilen zu dem Postulat der Normativität ist der Sprung von beobachteten Wahrnehmungsweisen zu einem normativen Begriff des Verständnisses. Diese beiden Begriffe der Wahrnehmung bzw. des Verstehens liegen den jeweiligen Auffassungen von Urteil zugrunde. Wie sie durcheinandergeraten, sieht man, wenn Raffman (2011, S. 600) schreibt: »the artistic merit of a work must depend at least in part upon its comprehensibility«, und »Verstehbarkeit« aber nach wie vor auf die unmittelbare, allgemein verbreitete Gestaltwahrnehmung beschränkt ist. An die vorgestellte Kritik anschließend kann man fordern: Das Wesen der Wahrnehmung, die selbst wesentlich zu einer Bestimmung der musikalischen Eigenform beiträgt, darf nicht auf psychologistische Weise festgelegt werden, nämlich dadurch, daß gegenwärtig in einem bestimmten Kulturkreis empirisch vorzufindende Präferenzen bei der gestalthaften mentalen Repräsentation musikalischer Muster zur Natur des musikalischen Hörens und zum Maßstab musikalischer Produktion erhoben werden. Und noch weniger darf sie durch psychoakustische Festlegungen aus der ›Natur‹ der Klangbeziehungen festgelegt werden. Ziel der Kritik ist ein beiden Fällen ein Verständnis des Wahrnehmens als eines Prozesses, der uns in einem bestimmten Sinn entzogen ist, selbsttätig abläuft, durch die ›Natur‹ des Wahrzunehmenden oder durch Akkulturation weitgehend festgelegt ist und in diesem Ablauf das für das musikalische Verstehen Relevante übermittelt. Standpunkte, die naturalistischen und psychologistischen An90 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Kritik am Psychologismus und konstruktivistische Folgerungen

nahmen opponieren, können in einem weiten Sinne konstruktivistisch heißen. Sie teilen die Annahme, daß das musikalische Verstehen ein wesentliches Moment enthält, das in einem selbsttätigen Ablauf gegebener physiologischer oder psychologischer Prozesse nicht aufgeht, sondern durch Subjekte aktiv festgelegt und modifiziert werden kann. Wie dies genau zu verstehen ist, ist eine Grundfrage dieses Buches, und Varianten von Antworten auf sie werden den weiteren Verlauf durchziehen, allerdings dann nur selten unter dem Titel »konstruktivistisch«, da er sich langfristig als nicht besonders klar erweisen wird. Eine wichtige Teilfrage an konstruktivistische Positionen richtet sich auf die genaue Stelle, an der ein Subjekt Kategorien oder Maßstäbe für das Wahrgenommene hervorbringt. Im folgenden steht die Entwicklung einer Antwort darauf im Vordergrund, die annimmt, daß die sinnliche Wahrnehmung tatsächlich in gegebenen Abläufen besteht und daß die Resultate dieser Abläufe an anderer Stelle verarbeitet und beurteilt werden, nämlich im Denken. Die Abwehr von naturalistischen Annahmen lädt erst einmal dazu ein, die Sinnlichkeit für rezeptiv und passiv zu halten und ihr gegenüber dem Bereich des Kognitiven die Leistungen zuzuschreiben, in denen musikalisches Verstehen besteht. Das Grundproblem für diese Art einer konstruktivistischen Antwort besteht – dies sei vorgreifend gesagt – in der Frage, ob die Sinnlichkeit als Lieferant erst noch zu formender, für sich genommen sinnloser Daten überhaupt begriffen werden kann, wenn es so etwas wie das verstehende Erfahren von Musik tatsächlich gibt, oder ob die Möglichkeit dieser Erfahrung es erzwingt, die hörende Wahrnehmung anders zu begreifen, so daß die Stelle, an der Sinn ›konstruiert‹ oder hervorgebracht wird, nicht außerhalb der Sinnlichkeit steht, ohne daß man darum wieder in den Naturalismus zurückfiele.

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e. Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

In Kap. a. war kurz die Rede von zwei unterschiedlichen Ansichten auf die musikalische Form, in der Sinn und Wert der Musik zu suchen seien. Eine Ansicht war diejenige auf hörbare Formen. Die Frage, was der Form von Klängen in der Musik eigentümlich sei, führte auf die Feststellung, daß das, was Klänge zu Musik macht, eine Ordnung von Tonhöhen und Dauern ist. Ordnungen dieser Art sind offensichtlich hörbar, und von musikalischen Formen, insofern sie gehört werden, gehen die bis hierher betrachteten Positionen aus. Die zuletzt angesprochene konstruktivistische Position relativiert nun diese Feststellung, indem sie auf Tätigkeiten der Kognition und des Denkens verweist. Dieser Verweis läßt sich auf unterschiedliche Weisen verfolgen, etwa auch auf dem Boden kognitionspsychologischer Theoriebildungen. Um die Grundprobleme dieser wichtigen Position, die das Denken und das Wahrnehmen entgegensetzt, ganz allgemein herauszuarbeiten, möchte ich jedoch den Blick auf die zweite der einleitend genannten Ansichten auf die musikalische Form richten, nämlich auf diejenige, die sie als Angelegenheit der Konstruktion, Komposition und Analyse nahm. Vor dem Hintergrund dieser Ansicht erscheint die Relativierung des Hörens in der Gestalt, daß die Wahrnehmung der musikalischen Form zwar ein erster, aber kein durchweg zureichender Zugang zu ihr in ihrer Eigenform ist. Stattdessen sollte man sich auf einen Zugang stützen, der hinter die Wahrnehmung auf einen Gegenstand zurückgreift, auf dessen Grundlage die wahrgenommene Existenzweise der Musik erst entsteht. Für den größten Teil der abendländischen Kunstmusik gibt es einen solchen Gegenstand, weil diese Musik häufig aufgeschrieben wird und nicht mehr an das verschwebende Erlebnis gebunden ist. Mit einem bei Carl Dahlhaus prominenten und intensiv analysierten Begriff soll hier von Musik als Text die Rede sein. 1 S. vor allem Dahlhaus 1973 und 1979b. – Es geht mir tatsächlich nur um den Text im Sinne von etwas Niedergeschriebenem und um die Folgen, die die Tatsache des

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Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

Musik als Text wird nicht zuletzt dadurch ermöglicht, daß wir Tonhöhen und Tondauern als die primären Dimensionen musikalischer Form verstehen und daß wir innerhalb ihrer Klänge als kategorial bestimmt wahrnehmen. Einzelne Töne sind Verwirklichungen allgemeiner Höhen- und Dauernwerte. Diese können, weil sie allgemein sind, durch Zeichen wiedergegeben werden. Aus solchen Zeichen für kategoriale Höhen- und Dauernwerte besteht die Notenschrift. In ihr sind die allgemeinen Werte der gehörten Töne aufgehoben; und in ihr ist die allgemeine Gestalt der verschiedenen möglichen Aufführungen eines Werkes aufgehoben. In der niedergeschriebenen Musik treffen wir also die allgemeine Form der musikalischen Klänge an. Im Umgang mit der Musik ermöglicht es der Text, Zusammenhänge über die Grenzen des Hörgedächtnisses hinaus zu verfolgen. Mehr noch: er ermöglicht es, Formen zu finden, die dem Gehör gar nicht zugänglich sind, beispielsweise, daß ein Stück Musik in zwei Teile zu teilen ist, die im Verhältnis des Goldenen Schnittes zueinander stehen. Oder er ermöglicht es, aus oberflächlich ganz verschieden klingenden Melodien eine elementare Tonstruktur herauszuabstrahieren und anhand der Transformationen dieser Struktur Zusammenhänge herzustellen, die die tieferen Schichten des Werkes bestimmen. Kurz gesagt, ermöglicht die Tatsache, daß es Musik als Text gibt, musikalische Analyse. Daß Musik aufgeschrieben werden kann, ermöglicht es freilich nicht nur, in vorliegender Musik bestimmte Formen zu finden, sondern auch, solche Formen erst zu schaffen: Komposition wird möglich. In dieser Formulierung liegt die Behauptung, daß improvisierte oder nur ›oral‹ übermittelte Musik keine Komposition sei. Dies liegt

Niederschreibens für eine Praxis wie die Musik hat, deren Verwirklichung an die Zeit ihres Verlaufs gebunden ist. Es geht nicht um den weiteren, in semiotischen und poststrukturalistischen Diskursen gebräuchlichen Begriff des Textes »in the sense of defining relations and articulating codes in a genuinely semiotic fashion«, so daß jeder Zusammenhang zeichenhafter Verweisung Text genannt werden kann (Samuels 1994, S. 152 f.). Text und seine Zeichen im letzteren Sinne umfassen auch das, was in meiner Redeweise vorerst das Gegenstück zum Text ist, nämlich die klingende Verwirklichung; der weite Begriff des Textes ist nicht an Schriftlichkeit gebunden. Ich verwende das Wort »Text« dagegen in dem einfachen Sinn der niedergeschriebenen Musik. Zu Varianten des Textbegriffs in der Musikwissenschaft s. überblickshaft Klein 2008.

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Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

nicht nur an dem eher quantitativen Grund, daß das Komponieren auf dem Papier es möglich macht, sehr viel komplexere und sehr viel neuartigere Strukturen auszuarbeiten und in der Aufführung wiederzugeben, als es in der Vermittlung durch Vor- und Nachspielen erreichbar wäre. Liegt Musik als Text vor, gelangen vielmehr das Musikmachen und damit das Verstehen der so gemachten Musik auf eine qualitativ andere Stufe. Um sie zu beschreiben, muß man allgemein fragen, welche Formen und Zusammenhänge wir betrachten oder herstellen können, wenn wir uns der als Text verfaßten Musik zuwenden. Sehr einfach sind zunächst zwei Fälle: erstens die Niederschrift erklingender Musik, etwa von Melodien, die einem in den Kopf kommen oder denen man zufällig begegnet. In diesem Fall enthält der Text Formen, die nicht über das bisher Besprochene hinausgehen; er ermöglicht bestenfalls einen besseren Überblick über etwas, dessen primäre Form die gehörte Form ist. Zweitens gibt es die Ordnung von überschaubaren musikalischen Abschnitten nach überkommenen Schemata, etwa in konventionellen Tanz- und Liedformen. Solche Schemata sind zum einen im Hören meist leicht nachzuvollziehen, so daß auch hier die Textform keine weiteren Möglichkeiten des Verstehens beiträgt, und zum anderen erfordert ihre Anwendung, wenn sie schematisch ist, keine besondere kompositorische Entscheidung, so daß durch die Möglichkeit des Textes keine besondere Möglichkeit der Sinngebung eintritt. Der Text ist hier eine Weise, in erster Linie hörbare Formen aufzubewahren. Interessanter sind hingegen jene Formen und Zusammenhänge, die – kurz gesagt – reflexiv und durch Konstruktion zustandekommen und zu ihrer Erfassung Reflexion und Rekonstruktion erfordern. Daß durch schriftliche Fixierung Komposition möglich wird, heißt schließlich und entscheidend, daß es möglich wird, darüber nachzudenken, wie man mit einem musikalischen ›Einfall‹ umgehen kann, indem man verschiedene Gestalten und Fortsetzungen dieses Einfalls festhält, nebeneinanderstellt und zwischen ihnen abwägt, ganz abgesehen von den konstruktiven Arbeiten – beispielsweise der Herstellung einer großangelegten Proportion wie der des Goldenen Schnittes, der Anlage sich entsprechender Formteile, die nicht überlieferten Schemata folgen, der akribischen motivisch-thematischen Entwicklung oder den präkompositorischen Prozeduren der gegenwärtigen Musik, in denen überhaupt erst das erzeugt wird, was dann als Element eines Stücks gelten kann –, die man schlecht nur als musika94 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

lischen ›Einfall‹ denken kann. Wenn wir Musik als Text betrachten, sind wir nicht darauf beschränkt, nach der eingefallenen Form zu suchen, sondern wir können annehmen, daß die Form und die Zusammenhänge aus Reflexionen hervorgegangen sind, und den Text daraufhin befragen, welche Prinzipien die Abwägungen bestimmt haben könnten, die das Werk so geformt haben, wie es überliefert ist. Diese Frage zu stellen führt über die bisherigen wahrnehmungsgestützt-empiristischen Gedankengänge hinaus, da sie voraussetzt, daß die Form der Musik im relevanten Sinne nichts Gegebenes ist – gegeben weder durch die ›Natur‹ der Klänge noch durch diejenige der Wahrnehmung noch durch möglicherweise kulturrelative, aber dann als festgelegt geltende Kognitionsmechanismen. Zur Orientierung sei wiederholt, daß ihre Beantwortung zuerst so verläuft, daß sie in eine Aporie führt, weil über geistig oder rational begründete Prinzipien der Formgebung nachgedacht wird, ohne von vornherein das zu Formende auf diese Prinzipien bezogen zu haben. Sie können sich damit nur auf abstrakte Weise zeigen, und diese Abstraktion führt in Fragwürdigkeiten. Die Suche nach derartigen Prinzipien erweitert die Rede von musikalischem Sinn und Verstehen, denn damit ist nicht mehr allein ein hörendes Auffassen gemeint. Der Bereich der hörbaren musikalischen Form wurde bisher meist so behandelt, als sei er ein Bereich anonymer, einfach so vorliegender Klanggebilde. Solche Gebilde zu verstehen hieß, sie unmittelbar aufzunehmen und ebenso unmittelbar implizit zu urteilen, inwiefern sie Regelmäßigkeiten der musikalischen Form folgen oder von ihnen abweichen. Reflexion und Konstruktion zielen aber auf eine weitere Ebene des Verstehens, indem sie die Musik nicht mehr als Gegenstand nehmen, der schlechthin da ist, oder als Ereignis, das schlechthin vor sich geht – auch einen musikalischen Einfall kann man hierzu zählen 2 –, sondern als etwas aus einem Beweggrund heraus Gemachtes, worin mit jenem Gegebenen auf besondere Weise umgegangen worden ist. So sind auch beispielsweise die Überschreitungen impliziter Regeln nicht mehr einfach da Den Zusammenhang zwischen dem Einfall und der Anonymität dessen, was er hören läßt, und den gleichsinnigen Zusammenhang zwischen der Arbeit der Konstruktion und der persönlichen Intention stellt beispielsweise Carl Dahlhaus (1970, S. 28) her, indem er den Hinweis gibt: »Der erste Gedanke ist im allgemeinen der befangenere, abhängig von Konventionen, Gewohnheiten und Rücksichten. Und nicht selten ist es ein Kalkül, durch den ein Komponist den Traditionalismus in sich selbst überlistet.«

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Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

und werden mit mehr oder weniger Überraschung oder ›Unverständnis‹ gehört, sondern man kann fragen, warum sie da sind. Das Verstehen des musikalischen Textes schließt die Reflexion darüber ein, nach welchen untergründigen Überlegungen die Formen zustandegekommen sind, die wir auf der hörbaren ›Oberfläche‹ finden. Wir suchen nach der denkenden Person, die die Musik gemacht hat: wir suchen den Geist in ihr. Die Musik ist nichts Anonymes mehr. Sollte es aber nicht auch möglich sein, Musik zu reflektieren oder Geist in ihr zu suchen, ohne auf den Text der Musik zurückzugreifen? Müssen wir in die Noten sehen, um den Geist eines Meisterwerks der Musikgeschichte zu wittern? Auf diese Teilfragen geben die im folgenden besprochenen Positionen eine eingeschränkte Antwort, indem sie bestimmte Voraussetzungen darüber machen, was reflektierte, geisthaltige Musik eigentlich ist. Teils laufen sie wieder darauf hinaus, daß die Reflexion der Musik prinzipiell eine Elaboration und Erweiterung von im Grunde unverändert bleibenden Prinzipien ist, die wir bereits in der Wahrnehmung der Klänge finden können. In diesem Fall gilt die Untersuchung des Textes vorwiegend als Hörhilfe. Teils widerstreiten sie dieser Position und behaupten, daß die Grundlagen der Wahrnehmung der Musik und der wahrnehmbare Sinn selbst einer grundsätzlichen Umwandlung unterliegen, wenn reflexiv und konstruierend mit den Klängen umgegangen wird. Der Geist der Musik ginge in diesem Fall radikal über das Hörbare hinaus oder hinter es zurück. Die Prinzipien der Überlegung, nach denen Musik gemacht wird, sind immens vielfältig. Dieses Kapitel beschränkt sich auf formale Prinzipien und fragt, was sie motiviert, zu was sie führen und wie sie möglich sind – oder ob sie überhaupt möglich sind. Ich untersuche also einen Typ von Thesen, dem zufolge Musik so gemacht sein soll, daß sie ganz ›innermusikalisch‹ bestimmt ist und die Komposition ihrer Elemente durch Prinzipien der musikalischen Struktur und Konstruktion geregelt wird, und entsprechend einen Typ von Thesen, dem zufolge das Verstehen und die Wertschätzung von Musik, zu denen die Analyse beiträgt, ›innermusikalisch‹ sind und sich darin zeigen, daß man die Beziehungen zwischen den Elementen der Musik, ihre Funktionen und die Technik ihrer Hervorbringung expliziert. Mustergültig formuliert Hanslick (1854, S. 43) diese Forderung: »Wie das Schöne eines Tonstücks lediglich in dessen musikalischen Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Gesetze seiner Construction nur diesen.« Die ästhetische Wertung bezieht sich da96 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wichtige Formalismen in der Geschichte der Musikanalyse und Musiktheorie

mit auf die gekonnte Konstruktion, die als besonders originell, kohärent, schlüssig, zielgerichtet u. ä. beschrieben werden kann. Diese Qualitäten müssen nicht mehr dem unbefangenen Hören einleuchten, sondern werden durch Analyse herausgearbeitet; und selbst wenn man im unbefangenen Hören den Eindruck einer solchen Qualität hat, obliegt es der genaueren Betrachtung des musikalischen Texts, diesen Eindruck zu begründen und eventuell zu kritisieren.

e.1. Wichtige Formalismen in der Geschichte der Musikanalyse und Musiktheorie Auch wenn es hauptsächlich um den systematischen Ort der gerade abstrakt formulierten These geht, möchte ich zuvor die Stellen in der Geschichte der Musiktheorie schwerpunkthaft angeben, an denen sie in besonderem Maße zum Vorschein kommt. Zuerst mag man an Anweisungen zur Komposition denken, die ausschließlich technische Vorschriften machen. Diese folgen aber zumeist keinem kunstphilosophischen Grundsatz, sondern tradieren gewissermaßen ein Handwerk, dessen Regeln ihren (oft entfernten) Ursprung in Hörgewohnheiten haben. Dies gilt vor allem für Disziplinen wie den Kontrapunkt und die Harmonielehre. Ihre Prinzipien sind Kodifizierungen von Wahrnehmungsgewohnheiten; freilich wirken die Kodifizierungen formend auf die Wahrnehmung und die in ihr wirksamen Gliederungsweisen und Hörerwartungen zurück. Eine ästhetisch interessantere Disziplin der Unterweisung ist die Formenlehre. Sie kann nur begrenzt von Hörgewohnheiten ausgehen. Eine Folge von zwei achttaktigen Phrasen, die von der Tonika zur Dominante und wieder zurück führen, mag unserem Gehör noch leicht als symmetrisch gebaut oder ausgewogen einleuchten. Sobald die Modulation jedoch ausgefallener wird oder es darum geht, solche überschaubaren Einheiten in eine größere Entwicklung fortzuführen, fällt es schwer, Regeln für diese Vorgänge aus dem herzuleiten, was unmittelbar einleuchtend vorkommt. Hier treten originale kompositorische Entscheidungen in ihr Recht. Formenlehre kann nun versuchen, aus wiederum als mustergültig behaupteten Werken Regeln für den Bau größer angelegter Werke herauszupräparieren. Dies bedeutet, eine jeweils originale ästhetische Entscheidung, die besonders gelungen erscheint, aus ihrem Werkkontext zu abstrahieren und zur 97 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

Nachahmung zu empfehlen. Jedoch kann sich auch gegen dieses Vorgehen der Vorwurf richten, es sei sich seiner Grundsätze nicht wohl bewußt und übermittle lediglich Altbewährtes, ohne die Frage zu stellen, aus welchem Grund sich denn eine musikalische Gestaltung bewähre. Die genaue Analyse von Werken, die als besonders gelungen anerkannt sind, verspricht einen Zugang zu den Gründen dieser Anerkennung. Um ihr Werkzeuge zu verschaffen, ist es jedoch wiederum nötig, Prinzipien anzunehmen, die gleichermaßen das analytische Verständnis leiten und (hypothetisch) die Absichten des Künstlers gebildet haben sollten. 3 Mit einem solchen Ansatz beginnt die Entwicklung umfassender Analysemethoden, die die technischen Gerüste der Harmonie-, Formschema- und Stimmführungslehren nicht nur mitschleppen, sondern aus einem Prinzip heraus zugleich begründen und zu einem System fügen wollten. In dieser Zusammenfügung zum System wirkt die Formenlehre, der im Lauf des 19. Jahrhunderts gegenüber anderen Disziplinen wie der Harmonielehre immer größere Bedeutung zuwuchs, als »Überbau«, insofern allein sie das »Ganze« eines Werkes in den Blick nimmt und die Elementartechniken auf dieses Ziel der Ganzheit hin systematisch ordnet (vgl. Redmann 2002, S. 16 f.). Zu nennen ist hier zuerst Hugo Riemann (vgl. Gruber 1994, Sp. 582). Wenig später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis im wesentlichen in die 1950er Jahre hinein, entwarfen – um die einflußreichsten zu nennen – Heinrich Schenker, Arnold Schönberg 4 , Ernst Abseits der Theorien, die ich im folgenden ihres systematischen Interesses wegen behandle, gibt es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts freilich eine Fülle an Formenlehren, die, anstatt bewährte Schemata als Norm für das Musikschaffen vorzustellen, die möglichst vorurteilsfreie Analyse als Ausgangspunkt für generalisierende Aussagen suchen. Zur Orientierung hierüber s. z. B. Holzer 2011, S. 44–51. 4 Daß Schönberg in dieser Liste steht, ist unbequem und verlangt einige Erläuterungen. Erstens hat Schönberg selbst kein System im Sinn der anderen hier genannten Autoren produziert; aber er hat Prinzipien formuliert, die andere in einigermaßen systematische Form brachten oder in zahlreichen Analysen durchexerzierten – Reti für das Prinzip der entwickelnden Variation, Babbitt, Stockhausen oder Boulez für Systeme der Reihenkomposition. Einzig aufgrund der Rolle des Bahnbrechers für jene Theorien, die musikalische Form in der Verwandtschaft elementarer musikalischer »Gedanken« suchen, ist er hier genannt. Zweitens muß das Mißverständnis verhütet werden, Schönberg allein mit ›Zwölftonmusik‹ zu assoziieren. Deren Rolle wird bald zu besprechen sein. Schönberg verfaßte aber auch Lehrbücher der tonalen Harmonik und der durchaus konventionellen Komposition, um »dem durchschnittlichen Universitäts-Studenten zu nützen, der keine spezielle Begabung zur Komposition oder für Musik überhaupt hat«, aber eben verpflichtet war, musikalischen Unterricht zu 3

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Wichtige Formalismen in der Geschichte der Musikanalyse und Musiktheorie

Kurth und Rudolph Reti monistische 5 Theoriesysteme. Monistisch sind sie, indem sie der Auffassung folgen, musikalische Meisterwerke ließen sich aus einem einzigen, dem Wesen der Musik innewohnenden Prinzip erklären. Für den gegenwärtigen Ort der Diskussion ist hervorzuheben, daß die Prinzipien dieser monistischen Theorien nicht außerhalb des Detailtechnischen stehen, wie es der Fall ist, wenn man im Sinne älterer Analyseparadigmen ein Musikwerk beispielsweise auf der Grundlage von Modellen der Rhetorik oder der Affekte untersucht. Solche Modelle blieben im populären Musikverständnis und in der Musikkritik beherrschend, gerieten aber im wissenschaftlichen Umgang mit der Musik weitgehend in eine Nebenrolle, vor allem deshalb, weil man der Ansicht war, gerade die technischen Zugänge über Harmonik, Kontrapunkt und Formenlehre könnten direkt und genau auf das zugreifen, was Musik ausmacht, während die Rede von Botschaften oder Affekten im Zufälligen und Undeutlichen verbliebe und nicht bis auf den Grund der Musik vordringe, sondern auf den technischen und formalen Aspekten schwimmen müsse. Die Einheitsprinzipien, nach denen die monistischen Theorien das Verständnis des Zusammenhangs eines Musikwerkes suchen, sollten nun einerseits an die Musik nicht mit Metaphern herantreten, sondern sie selbst objektiv und in ihrem Wesen treffen. Dies zeigt sich zuerst darin, daß sie die Gesamtform eines Werkes in Begriffen zu fassen suchen, die auf die Elemente der genannten technischen Fächer – den Tonsatz, die Rhythmik, Metrik, Harmonik und Melodik – zurückgehen, wie wir im einzelnen gleich sehen werden. Hier gilt wieder die epistemo-ontologische Vorannahme, die bereits an vielen Stellen prominent gewesen ist: daß das Formale und Technische – harmonische, melodische, rhythmische Vorgänge – in der Musik dasjenige ist, das am ehesten objektiv und genau von ihr ausgesagt werden kann, indem man Intervalle benennt, Takte ordnet,

besuchen (Schönberg 1979, S. 118). Seine Prinzipien musikalischen Zusammenhangs sind auch in diesem pädagogischen Feld sichtbar. Drittens ist der Konstruktivismus, der sich sowohl in der Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen als auch in seiner Ansicht zu musikalischer Ganzheit zeigt, der Gegenpol eines an manchen Stellen seines Werkes sehr betonten Strebens nach neuartigem, authentischem Ausdruck. Dieses Verhältnis zwischen Technik und Ausdruck wird ebenfalls zu diskutieren sein (Kap. r.). 5 Das Wort »monistisch« übernehme ich von Bernd Redmann (2002, S. 28).

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Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

die Harmonie systematisch bezeichnet usw., und das darum ihr Wesen ausmacht. Andererseits sollten diese Prinzipien sich nicht im Katalogisieren technischer Fakten erschöpfen, sondern sowohl den ästhetischen Wert der Musik erhellen als auch einen verstehenden Zugang zu ihr zeigen, so daß die Anwendung der Theorie das musikalische Verstehen entscheidend fördert oder gar mit ihm identisch ist. Das heißt: Wir verstehen etwas, wenn wir es auf sein Prinzip bringen können. Ich erläutere im folgenden unterschiedliche Formulierungen solcher möglicher Prinzipien. Im Falle Riemanns hat das Augenmerk auf die Metrik und Rhythmik besonderes Gewicht. Ihr Prinzip sei die Folge »leichtschwer«, die innerhalb des Taktes wie auch in größeren Maßstäben zu finden sei: ein leichter und ein schwerer Takt wechselten einander ab; Gruppen von je zwei Takten sollten ebenfalls als leicht und schwer differenziert werden können; und so weiter bis wenigstens zur sechzehntaktigen Periode, die man als Einheit aus einem leichten und einem schweren Achttakter ansehen müsse (wobei jeder Achttakter in seiner Binnenstruktur aus unterschiedlich gewichteten leichten und schweren Taktgruppen, Takten und Taktschlägen gebaut ist). 6 Die harmonische Struktur ist Bestandteil dieser Phrasierung in leichte und schwere Teile. Von der theoretischen Grundlegung der Rhythmik und Harmonik aus sucht Riemann eine »angewandte Musiktheorie« aufzubauen, die in der Komposition und der Analyse verwendet werden könnte. Die Grundlegung aber beruhe auf objektiven und unzeitlichen Gesetzen, die das Wesen der Musik ausmachten: Die »abstrakte (allgemeine) Formenlehre« und »die angewandte (spezielle) Formenlehre«, die es mit einzelnen, historisch gewordenen Gattungen und Stilen wie dem Menuett, dem Marsch oder der Arie zu tun hat, sind zu unterscheiden; dabei gilt: »Die Gesetze der allgemeinen Formenlehre stehen über denen der angewandten, sind allgemein gültige, nicht nur für die bereits gewordenen sondern […] auch für alle etwa noch weiterhin entstehenden Formen; sie sind Theorie im eminenten Sinne des Worts« (Riemann 1916, S. 1),

Eine ausführliche Diskussion von Riemanns metrischem System, auch im Vergleich zu seinen Vorgängern, findet man z. B. bei Carl Dahlhaus (1989, S. 169 f. und S. 173– 189).

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Wichtige Formalismen in der Geschichte der Musikanalyse und Musiktheorie

und sie geben vor, was eine »an sich vernünftige Musik sein« kann (ebd.). 7 Riemanns System geht von dem Gedanken aus, daß ein metrisch-rhythmisches Prinzip erklärt, wie sich musikalische Sinneinheiten von der Dimension einer »Periode« aufbauen. Haben wir die Periode nach ihren leichten und schweren Teilen verschiedener Ebenen gegliedert und gegebenenfalls verkürzte oder erweiterte Gestaltungen als Abweichungen von jenem Schema aufgefaßt (und sie somit wieder auf es bezogen), so haben wir sie verstanden. »Was Riemann unter ›Sinn‹ versteht, ist demnach primär […] ein dynamisches Moment: die Progression vom Auftakt zur Endung, vom leichten zum schweren Takt […]« (Dahlhaus 1989, S. 71). Die Sinneinheiten, die die Perioden sind, sind in sich komplex, aber überschaubar, und auf ihrer Ebene endet weitgehend der Erklärungsanspruch des Grundprinzips, das sich in der allgemeinen Folge »leicht-schwer« verwirklicht. Die Fügung solcher Einheiten zu ganzen symphonischen oder Sonatensätzen ist für Riemann – der Strenge jener Periodenlehre gegenüber – eher durch Konvention als durch ein Wesensprinzip begründet. Sie steht unter dem Gesichtspunkt der »Verschiedenheit des Inhalts« der aneinandergefügten Perioden (Riemann 1916, S. 111), wobei unter »Inhalt« ihre thematische Charakteristik zu verstehen ist. Die Ansprüche der anderen genannten monistischen Theoretiker gehen weiter. Musikalisches Verstehen soll nicht nur abschnittsweise vorgehen, indem es die Phrasierung klärt, für die Riemanns Analysen – in engem Bezug zum musikalischen Vortrag – ein besonderes Interesse haben, sondern es soll die Ganzheit eines Werkes oder die Ganzheit von Werken überhaupt nach einem Prinzip begreifen, das ein Prinzip im Rahmen der musikalischen Eigenform sein soll. Zwei Grundgedanken haben dabei bis heute anhaltenden Einfluß auf die musikanalytische Praxis: der von Heinrich Schenker entworfenen Gedanke des Ursatzes und der Urlinie, aus denen durch »Prolongation« umfangreichste Strukturen hervorgehen können, sowie der Gedanke, daß ein Werk ein keim- oder zellenartiges Gebilde von Tonhöhenstrukturen enthält, aus dem durch »Transformation« oder »entwickelnde Variation« weitere Elemente gewonnen werden, die aufgrund ihrer Verwandtschaft untereinander eine organische Struktureinheit bilden. Hierfür ist Arnold Schönberg der wichtigste Ideen7

Vgl. ferner Kühn 1995, Sp. 636; Rathert & Kech 2005, Sp. 71 f.

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Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

geber; Rudolph Retis wesentlich von ihm angeregte Schriften zählen zu den bekanntesten Ausformulierungen und Anwendungen dieses Gedankens. Schenkers System wurde zu seinen Lebzeiten (1868–1935) keiner überdurchschnittlichen Aufmerksamkeit gewürdigt. Unter anderem durch die Vermittlung Felix Salzers, der es in seinem 1952 erschienenen Werk Structural Hearing in der Form eines umfassenden Lehrbuchs präsentierte, kam es jedoch in den USA zu eminenter Bedeutung, und »Schenkerian analysis« 8 ist dort bis heute die wichtigste Art musikalischer Analyse geblieben (so z. B. Spitzer 2004, S. 2). Das Ziel dieser Methode, wie Salzer sie darstellt, ist: »leading the ear and mind to understand all details as organic offshoots of the whole, which means the perception of total musical organization.« (Salzer 1962, S. 283) Diese Organisation muß zielgerichtet sein: »Like a logical argument or a literary composition, a musical work is directed; its direction is determined by the very goal towards which it moves.« (ebd., S. 11) Das Prinzip dieses »Ganzen«, das alle Details aus sich heraustreibt und das Ziel der musikalischen Bewegung bestimmt, nennt Schenker – je nachdem, ob man sich in dem Bezugssystem der Harmonik oder dem der Melodik bewegt – Ursatz und Urlinie; Salzer spricht bevorzugt von »structure« in einem emphatischen Sinn. »Structure« ist nämlich in einem fundamentalen Sinn nichts anderes als die »Progression« der Stufen I–V–I oder, wenn man einen zur Dominante »assoziierten« Akkord mit einschließt, die Progressionen I–II–V–I oder I–III–V–I oder I–IV–V–I 9 , während alles andere, was sich in einem Stück abspielt, als Prolongation dieser Struktur gilt (ebd., S. 14 f.), in anderen Worten: als der Vordergrund oder als Oberflächenschicht der Musik. Das musikalische Verstehen zeige sich darin, den Bezug des Vordergrundes auf seinen Hintergrund – auf die »structure« – und somit durch alle Details hindurch eine einzige »musical direction and continuity« (ebd., S. 251) zu hören. AndernFür eine Darstellung ihrer Geschichte und ihrer aktuellen theoretischen Anliegen vgl. Berry 2005. 9 Im Gegensatz zu Schenker, der den Schwerpunkt seiner Untersuchungen auf Beethoven legt, untersucht Salzer mit diesen Konzeptionen auch Alte Musik, Debussy, Stravinsky oder Bartók. Die Stelle der strukturellen Stufe V muß er dort, da sie als Dominante entweder noch nicht entstanden ist oder diese Rolle wieder verloren hat, häufig anders belegen, etwa durch »contrapuntal-structural chords« oder »neighborpassing chords«. 8

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falls erleidet man laut Salzer »the ear […] losing itself in a maze of the work’s details« (ebd., S. 257). Die Erkenntnis einheitsstiftender Struktur gilt Salzer als etwas Natürliches und Intuitives: »This way of understanding musical motion represents, I believe, the instinctive perception of the truly musical ear and can be termed ›structural hearing‹.« (ebd., S. 13) Es liegt nahe, daß ein »wahrhaft musikalisches Ohr« nur auf das hört, was Musik auch in Wahrheit ist, und entsprechend bestimmt Salzer: »Music is motion and the structural progression is the motion of highest order.« (ebd., S. 231) Darüber hinaus scheinen wir in der Musik nichts suchen zu müssen: »The whole interest and tension of a piece consists in the expansions, modifications, detours and elaborations of this basic direction, and these we call the prolongations.« (ebd., S. 14) Dies impliziert, daß in der Musik sinn- und wertlos ist, was nur Oberfläche in dem Sinn ist, daß es nicht auf den Hintergrund zurückgeführt werden kann. So kritisiert Salzer eine chromatische Komposition von Lasso als unverständlich: »What is the constructive principle underlying these ›colorful‹ progressions? Is it just color for the sake of color? To speak about colorful progressions without being able to explain their musical meaning [d. h. ihre Beziehung zur Grundstruktur in Salzers Sinne] seems tantamount to an admission of complete failure to understand the music’s structure and significance.« (ebd., S. 262)

Salzer sagt, man könne nicht feststellen, wie die chromatischen Fortschreitungen zur gerichteten Bewegung der Musik im Ganzen beitragen. Dies berechtigt ihm zufolge zu einer Wertung: »The lack of musical direction […] does imply beyond any doubt a definite weakness in a composition.« (ebd., S. 260) Eine Wertung, die vom »structural hearing« ausgeht, hat nach Salzer einen besonderen Status. Sie bezieht sich darauf, ob ein Stück das, was Musik wahrhaft ist, verwirklicht oder davon abirrt. So zu urteilen sei eine grundsätzlich natürliche Fähigkeit, die Schenker auf ihr Prinzip zurückgeführt und auf den Weg einer methodischen Anwendung gebracht habe. Salzer sagt zu dieser Leistung: »a heretofore unknown possibility of musical judgment has been achieved, a capacity to judge beyond the often doubtful and flimsy arguments of personal taste and predilection.« (ebd.) Musikalische Wertung ist nun also nicht mehr auf unwägbare subjektive Präferenzen angewiesen,

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sondern sie kann der Musik methodisch auf ihren Wesensgrund gehen und daraus ihre Berechtigung ziehen. Auch Schönberg spricht von organischer Ganzheit, wenn er den zentralen ästhetischen Wert eines musikalischen Werks benennen will: »Im ästhetischen Sinn bedeutet der Ausdruck Form, daß ein Stück organisiert ist, d. h., daß es aus Elementen besteht, die wie in einem lebenden Organismus funktionieren.« (Schönberg 1979, S. 12) Die Grundlagen dieser Ganzheit beschreibt er jedoch anders als Schenker und Salzer. Diese fassen Ganzheit als gerichtete Bewegung, deren Richtung wiederum wesentlich auf dem Boden der Dur-MollTonalität beruht, wenn auch die Nachfolger Schenkers es versucht haben, seine Methoden – die Analyse der Prolongation und der verschieden tief gelagerten Schichten eines Werks – auf posttonale Musik anzuwenden. Auch in diesem Fall jedoch sind sie darauf angewiesen, bestimmte Intervalle auszuzeichnen, um die für die Gesamtbewegung relevanten Tiefenstrukturen vom »Vordergrund« zu unterscheiden. Diese Intervalle sind in der Fassung Schenkers die Quinte und die Terz als Rahmen von Kraftrichtungen, die er als »Zug« bezeichnet, sowie die Leittonfortschreitung. An solche von vornherein ausgezeichneten Intervalle denkt Schönberg nicht, da er sich nicht auf den Begriff gerichteter Bewegung beruft. Er spricht vielmehr von »Entwicklung«. Diese braucht aber nicht so gefaßt zu werden, als ob sie ein absehbares Ziel hätte, wie es die abschließende Tonika in Schenkers Modell ist. Genaugenommen kommt die Zeitlichkeit, die der Begriff der Entwicklung mit sich bringt, allein dadurch ins Spiel, daß Musik notwendig im Lauf einer Zeit vorgetragen wird. Der Schwerpunkt des Entwicklungsbegriffs in Schönbergs Sinn ist vielmehr darin zu sehen, daß er ein Netz von Zusammenhängen stiften will, die sich einem unzeitlichen Zusammenschauen zeigen. 10 Zentral ist nicht die Aufeinanderfolge, sondern die »Verwandtschaft« (Schönberg 1979, S. 12) der elementaren Gestalten. So schreibt er: »DER ZWEI- ODER MEHRDIMENSIONALE RAUM, IN DEM MUSIKALISCHE GEDANKEN DARGESTELLT WERDEN, IST EINE EINHEIT. Obwohl die Elemente dieser Gedanken dem Auge und Ohr einzeln und unabhängig voneinander erscheinen, enthüllen sie ihre wahre Bedeutung nur durch ihr Zusammenwirken […]. Alles, was an irgendeinem Punkt dieses Um die Netzmetapher und die Unzeitlichkeit bzw. Entzeitlichung geht es ausführlich in Kap. n.

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musikalischen Raumes geschieht, hat mehr als örtliche Bedeutung. Es hat nicht nur auf seiner eigenen Ebene eine Funktion, sondern in allen anderen Richtungen und Ebenen und ist selbst an entfernter gelegenen Punkten nicht ohne Einfluß.« 11

Darum erfordere »die Einheit des musikalischen Raumes […] eine absolute und einheitliche Wahrnehmung. In diesem Raum gibt es wie in Swedenborgs Himmel […] kein absolutes Unten, kein Rechts oder Links, Vor- oder Rückwärts.« (Schönberg 1976, S. 115)

Diesen Zusammenfall in einen zeitlosen Erkenntnisakt – in dem idealerweise der Komponist sein Werk konzipiert und der Rezipient es versteht – erläutert er durch eine Analogie: »Gerade so wie unser Verstand zum Beispiel ein Messer, eine Flasche oder eine Uhr ungeachtet ihrer Lage immer erkennt und sich in der Phantasie in allen möglichen Lagen vorzustellen vermag, gerade so kann der Verstand des Musik-Schöpfers mit einer Reihe von Tönen unterbewußt arbeiten, ohne auf ihre Richtung und ihre Art zu achten« (ebd.).

Schönberg spricht zwar an der zitierten Stelle vom Umgang mit Zwölftonreihen, aber die Zusammenschau und die Erkenntnis von Tonfolgen in ihrem unveränderten Wesen durch alle Transformationen hindurch eröffnet für ihn die Erkenntnis der Einheit auch der älteren Meisterwerke. Für die Stiftung einer organischen Einheit ist es gleichgültig, ob die zugrundeliegenden Tonhöhenstrukturen tonal oder zwölftönig organisiert sind. Das Einheitsprinzip, das Schönberg entwirft, ist von den bei Riemann, Schenker und Salzer grundlegenden Prinzipien in einer wichtigen Hinsicht verschieden. Es zeigt nämlich ein doppeltes Gesicht. Zum einen stellt es sich als Einheit eines oft sehr einfachen Tonbestandes dar, das im Werk entwickelt wird. Ein solches Material kann eine Terz oder eine ab- und aufsteigende Folge von Terzen sein – so das Resultat von Schönbergs berühmter Analyse von Brahms’ 4. Symphonie (ebd., S. 42). Es ist also etwas, das in musikalischen Begriffen oder in Noten erfaßt werden kann. Zum anderen ist das Tonmaterial und seine Entwicklung und Ordnung in Schönbergs Worten nicht alles. Es ist Erscheinung eines

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Schönberg 1976, S. 112; die Hervorhebung folgt der Gestaltung des Herausgebers.

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Gedankens. 12 Der Gedanke ist das Prinzip der Einheit des Werkes; Entwicklung ist ein Prinzip der Verwirklichung des Gedankens. Es gibt eine musikgeschichtlich wichtige Art, von »musikalischen Gedanken« zu sprechen, die nicht mit Schönbergs Gebrauch verwechselt werden darf. 13 In jenem Sinn sind Gedanken motivische oder thematische Einheiten, so daß in einem Werk unterschiedliche, abgegrenzte Gedanken aufeinanderfolgen, die häufig in Hauptgedanken, Nebengedanken, variierte Darstellungen eines schon präsentierten Gedankens usw. differenziert werden. Diese einzelnen Gedanken oder Ideen sind zu einem Ganzen zusammenzusetzen, das »Form« heißt und zu dem die Formenlehre hinführt. Deren Aufgabe ist die Anleitung zur »Verwertung von Ideen« (Riemann 1916, S. 3). Die Ganzheit des Stücks ist hier begrifflich vom einzelnen Gedanken getrennt. Was meint dagegen Schönberg mit »Gedanken«? Halten wir uns an seine Schriften, so scheint der Begriff des Gedankens häufig formal oder funktional zu bleiben. Schönberg (1976, S. 51) schreibt, der Gedanke sei »die Totalität eines Stückes« oder die »Methode, durch die das Gleichgewicht wiederhergestellt wird«, oder er läßt den Gedanken wieder vollständig mit dem Tonmaterial zusammenfallen, beispielsweise – auf die Zwölftonkomposition bezogen – mit der »Grundreihe« (ebd., S. 111). 14 In Bezug auf letztere Formulierung »Ausgewogenheit, Regelmäßigkeit, Symmetrie, Unterteilung, Wiederholung, Einheit, rhythmische und harmonische Beziehungen und sogar Logik – keines dieser Elemente schafft Schönheit oder trägt auch nur zu ihr bei. Aber sie alle tragen bei zu einer Organisation, die die Darstellung des musikalischen Gedankens verständlich macht.« (Schönberg 1976, S. 55 f.) Hanslicks oben genannte Formulierung, die Musik sei nicht bloß einem Kaleidoskop und seinen mechanisch entstehenden hübschen Mustern zu vergleichen, sondern »sich von innen heraus gestaltender Geist« (Hanslick 1854, S. 34), findet hier eine Parallele, die zu klären sein wird. Schönbergs anspruchsvoller Begriff des »Gedankens« wird sich (Kap. r.) als wichtiger Anstoß zu einer umfassenden Klärung jener Rede vom »Geist« erweisen; hier ist vorläufig noch nicht der Boden dazu gelegt, und wir sehen erst einmal, auf welche Weise eine Erläuterung der Bedeutung von »Gedanken« in die Irre führen kann. 13 Zum Verhältnis beider Bedeutungen vgl. Jacob 2005, S. 131–141. 14 Die Facetten des »Gedankens«, seine Ausgangspunkte und seine Entwicklung findet man in Rudolf Stephans Vortrag »Der musikalische Gedanke bei Schönberg« (in: Stephan 1985, S. 129–137) sowie bei Andreas Jacob (2005, bes. Kap. III und IV) detaillierter analysiert. Ausführliche Quellenarbeit zu diesem Thema hat ferner Christian Reineke (2007) geleistet; in seiner Monografie ist jedoch deutlich zu erkennen, daß die bloße Quellenarbeit, mit der wir uns auch hier durchschlagen, um erst einmal schon vorliegende Erklärungen aufzufinden, dem eigentlichen Problem gegenüber hilflos bleibt. Von Hilflosigkeit ist vor allem darum zu reden, weil die Disparatheit des als 12

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mag es präziser sein, zu sagen, die »Grundreihe« sei eben nicht der Gedanke selbst, sondern seine erste Darstellung, aus der sich weitere Darstellungsformen ergeben (vgl. Jacob 2005, S. 156; S. 161 f.). Auf alle Fälle handelt es sich aber um einen Gedanken, der der Musik immanent und nicht einem außermusikalischen Gehalt entlehnt ist. Es liegt nahe, Schönbergs Ausführungen zum Gedanken auf eine Weise zu verstehen, zu der sich beispielsweise Adorno in Form einer Selbstkritik äußert. In einer Notiz von 1949 schreibt er zu seiner eigenen Philosophie der neuen Musik, »daß der Begriff der Notwendigkeit, integralen Gestalt, Logik der Komposition zu primitiv – zu buchstäblich gefaßt ist.« Vieles von jenem kritisierten Begriff hat Adorno von Schönberg übernommen; auf ihn bezogen fährt er fort: »Vielleicht liegt der Sündenfall Schönbergs darin, daß er im Gefolge einer großen, über Brahms auf Beethoven zurückgehenden Tradition, diesen Begriff gleichsam zu stofflich, material genommen hat d. h. ihn unmittelbar der thematischen Arbeit gleichsetzte.« (Adorno 2001a, S. 20)

Im folgenden soll erklärt werden, wieso man hier von einem Sündenfall sprechen kann, indem gezeigt wird, in welchen Auffassungen sich dieser Begriff fortsetzt. Solche Fortsetzungen der Schönbergschen Grundgedanken gibt es auf dem Feld der Analyse ebenso wie auf dem der Komposition. Prominent sind im ersten Bereich Rudolph Reti (zu ihm vgl. n.1.), im zweiten Pierre Boulez, auf den ich mich im folgenden aus Gründen des systematischen Interesses konzentriere. Bei ihm finden wir die am weitesten fortgeschrittene Variante unseres Formalismus auf dem Boden der zu Ende des vorigen Kapitels eingeführten konstruktivistischen Annahme. In ihr ist zugleich die allgemeine Forderung des formalistischen Gedankens ins Extrem vor»Gedanken« Bezeichneten in den Quellen für Reineke beweist, daß es Schönberg nicht gelinge, »die Kategorie des Gedankens […] als etwas Konkretes zu definieren« (ebd., S. 50), und er stattdessen – wie Reineke in fast jedem seiner den »Gedanken« betreffenden Abschnitte schließt – nur »subjektive« und »abstrakte« Meinungen kundtue (vgl. ebd., S. 23, 31, 38, 50, 55, 58 f., 62, 174). Diese Wertung steht vor der impliziten Hintergrunderwartung, Schönberg solle doch, wenn er von »Gedanken« rede, diese Gedanken mit etwas Konkretem, vielleicht im Text Niedergelegten identifizieren und eine handfeste Methode zu ihrem »rationalen« – soll heißen: schematisch regelgeleiteten – »Nachvollzug« (S. 174) bereitstellen. Die Schwierigkeiten, die sich vor diesem Hintergrund ergeben, weisen darauf hin, daß man den »Gedanken« und sein Verhältnis zu dem »Material«, mit dem er umgeht, auf eine Weise denken muß, für die das begriffliche Instrumentarium bisher unzureichend geblieben ist. In Kap. r. gehe ich dieses Problem neu an.

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gedrungen, daß wir rein anschauend das Tonmaterial so auffassen, wie es sei, ohne psychologische oder kulturelle, im Verhältnis zur Musik selbst kontingente Einflüsse gelten zu lassen. Sie ist die (idealtypische) Theorie der seriellen Musik. Von einem Idealtypen ist darum zu reden, weil die reine Lehre des Serialismus als durchgängiger reihenmäßiger Determination des Musikwerkes selbst von seinen Hauptvertretern häufig nur als ein Feld notwendiger Versuche oder »Forschungen« dargestellt wurde, als eine »Grenze des Fruchtlandes« (Boulez), an die man vordringen mußte, um die Konsequenzen des Reihendenkens und die daran anschließenden Möglichkeiten zu erkunden. Trotzdem hat die musikästhetische Kritik häufig so getan, als sei diese reine Lehre ein voll entwickeltes, über lange Zeit hinweg ungebrochen praktiziertes Kompositionssystem gewesen. 15 Nimmt man dies an, so übersieht man die Differenzierungen und Fortführungen, die aus dem serialistischen Grundgedanken hervorgegangen sind und die allesamt damit zu tun haben, das in der extremen Formulierung Ausgeschlossene wieder zum Thema der musikalischen Arbeit zu machen. Im folgenden soll es aber um die Extremposition gehen, die ich im Anschluß an Pierre Boulez referiere. Aus seinen häufig verworren-abstrakt formulierten Schriften, die man zuweilen wohlwollend als Methodologie verstanden hat, versuche ich herauszuarbeiten, wie er die wesentliche Einheit einer Komposition und ihre Prinzipien versteht. In wichtigen Zügen folgt Boulez Schönbergs Ansichten über den Zusammenhang zwischen Intuition und Methode oder Technik. Schönberg hatte die Vorgeschichte seiner Erfindung der »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« so dargestellt, daß er durch die Betrachtung der Musik der Meister wie auch durch unablässige eigene Praxis ein »Formgefühl« entwickelt habe, das ihm eine sichere Intuition auch beim ganz neuartigen, »dissonanten« Komponieren gegeben habe. Typisch für Schönberg mag es sein, diese Intuition gleichzeitig für unerläßlich und für unverläßlich zu halten: Trotz der intuitiven Sicherheit im Schaffen »wird der Wunsch nach einer bewußten Beherrschung der neuen Mittel und Formen in jedem Künstler aufsteigen; und er wird die Gesetze und Regeln, die die Formen, die er ›wie im Traum‹ empfangen hat, beherrschen, bewußt kennen wollen. Wie sehr überzeugend der Traum auch gewesen Boulez bekundete dagegen: »Ich bin vielleicht sechs Monate seriell gewesen, im Frühjahr 1952«, zit. nach Holzer 2011, S. 152.

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sein mag, die Überzeugung, daß diese neuen Klänge den Gesetzen der Natur und den Gesetzen unserer Denkweise gehorchen – die Überzeugung, daß Ordnung, Logik, Faßlichkeit und Form ohne Befolgung dieser Gesetze nicht vorhanden sein können –, treibt den Komponisten auf Entdeckungsreise. Er muß, wenn nicht Gesetze und Regeln, so doch zumindest Wege finden, um den dissonanten Charakter dieser Harmonien und ihre Aufeinanderfolge zu rechtfertigen.« (Schönberg 1976, S. 109)

Daß das Bedürfnis, die Werke der eigenen Intuition durch eine Anlehnung an Regeln zu rechtfertigen, eine solche Intensität annahm, war in der Musikgeschichte vor Schönberg lange nicht der Fall gewesen, wurde in seiner Nachfolge aber zu einem bestimmenden Moment des Komponierens – und zwar auch in der Form eines Abstoßungspunktes für das entgegengesetzte Bedürfnis, von Gesetzmäßigkeiten nichts wissen zu wollen und die Einfachheit, die Subjektivität, den Ausdruck, den Klang ohne Form u. dgl. hochleben zu lassen. Die Grundlage für Schönbergs neues Formgesetz war bekanntlich die Methode, mit Zwölftonreihen zu komponieren. Wir haben oben seine Ansicht kennengelernt, eine Reihe und ihre Transpositionen und Umkehrungsformen verhelfe zu einer gedanklichen Einheit der Musik, so wie ein Gegenstand ein und derselbe und wiedererkennbar sei, wenn er im Raum verschoben oder gedreht wird. Die Serialisten wandten ein: Schönberg gelingt es nicht, auf diese Weise eine organische oder gedankliche Einheit zu stiften, denn er organisiert nur die Tonhöhen auf diese neue und eigene Weise, während die Rhythmen, die Dynamik, die Klangfarben und Spielweisen und die großformale Anlage – Schönberg griff oft auf an die Tradition angelehnte Schemata und Gattungen zurück: Rondo-, Sonatenhauptsatzoder Variationenform, Solokonzert u. dgl. – nichts mit dieser neuartigen Organisationsform zu tun haben, sondern überkommenen Modellen folgen. Schönbergs Werke seien darum »ohne innere Einheit«, »brüchig« und »reaktionär« (Boulez 1975, S. 292–294). Boulez sah nur einen Weg, um dieser Brüchigkeit zu entkommen: »ich wollte aus meinem Vokabular absolut jede Spur des Überkommenen tilgen« (Boulez 1985, S. 40). Ein strenger Antinaturalismus und Konstruktivismus zeigt sich in diesem Streben: Nichts in der Musik ist natürlich, denn was so scheint, ist bestenfalls eine überkommene Gewohnheit der Formgebung und der Wahrnehmung (vgl. ebd., S. 34 f.). Arbeitet man aber mit dem Überkommenen weiter, so hat man die Musik aus der Hand gegeben und sich den alten Formen ausgeliefert, ohne sie zu hinterfragen. Man arbeitet nicht mit dem 109 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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Kopf, sondern mit einer »Tugend, die Instinkt heißt, aber tatsächlich bloße Erinnerungsmaschine ist. Bedeutung und Hören von Musik mußten sich eine gründliche und dauerhafte Wandlung gefallen lassen […]« (ebd., S. 48) – eine Wandlung, die darauf hinausläuft, zu sagen: Es ist nicht nur nötig, daß eine Inspiration, eine Idee oder ein Ausdrucksbestreben auf eine Technik angewiesen sind, um auf angemessene Weise verwirklicht werden zu können, sondern es ist nötig, daß diese Technik selbst, anstatt aufgegriffen zu werden, so neu und original ist, wie man es auch von der Inspiration erwarten könnte. Boulez spricht vom »Musikdenken«, das nicht »Gegebenheiten« bearbeiten sollte, sondern »auf Wesenheiten einwirken, die zu Beginn des Werkes noch keinerlei Gestalt gewonnen hatten […] Die Existenz des Werkes mußte also das Wesen seiner inneren Strukturen erst bloßlegen, im Gegensatz zu früher, wo das präexistente Wesen der musikalischen Strukturen die Existenz des Werkes, das der Einzelfall eines allgemeinen Phänomens war, hervorgerufen hatte.« (ebd., S. 46)

Man suchte also nach einem Weg, die elementarsten Strukturen eines Werks bzw. »alle Eigenschaften von Morphologie, Syntax und Rhetorik, die für das Zustandekommen einer organischen ›Sprache‹ notwendig sind, neu aufzubauen« (ebd., S. 45). 16 Dieser Weg sollte, in der Tradition Schönbergs, zum einen die organische Einheit der Werke ermöglichen und zum anderen regelhaft und methodisch sein, denn nur so sei er zu »rechtfertigen« (mit diesem Wort operiert auch Boulez: ebd., S. 70). Die Einheit sah man gewährleistet, wenn die »Parameter« der Tonhöhe, der Tondauer, der Klangfarbe oder Spieltechnik und der Lautstärke »zusammengeronnen im Schmelztiegel einer gleichen Organisation [sind], die verantwortlich sein sollte für Existenz, Entwicklung und Wechselbeziehungen der Sprachelemente.« (ebd., S. 40) Diese Organisation ist die Reihe, in der die genannten Parameter angeordnet werden. Die Reihe sollte das Prinzip der Form auf allen Ebenen sein und »die Einheit auf allen Ebenen der Sprache gewährleiste[n]« (ebd., S. 47). Der musikalische Gedanke stellt sich nun so dar, daß er sich darauf konzentriert, die Reihenordnung und die Verfahrensweisen für die Arbeit mit der Reihenordnung zu stiften.

Wenn Boulez »Sprache« sagt, meint er an den zitierten Stellen musikalische Technik.

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Ihre Grundannahmen zum Wesen der Musik

e.2. Ihre Grundannahmen zum Wesen der Musik und seinem Verhältnis zum musikalischen Schaffen Bevor wir die systematischen Konsequenzen dieser Thesen betrachten, lohnt es sich, die bisherigen Stufen des Denkens der musikalischen Eigenform im Hinblick auf die jeweiligen Grundgedanken der Ontologie und Autonomie zusammenzufassen. Ein Typ von Theorien, für die die Ansichten Riemanns, Schenkers und Salzers als Beispiele gelten, stellt die Musik so vor, daß sie ein ungeschichtliches Prinzip hat – die Leicht-Schwer-Ordnung oder Urlinie und Ursatz, die bei Salzer Struktur schlechthin heißen –, das durch Addition und Koordination (in Riemanns Fall) oder »Prolongation« zu größeren Einheiten wächst. Diese Prinzipien behaupten ein wenn auch sehr abstrakt gedachtes Material, das eine Natur der Musik ist und zu dem wir im Grunde einen natürlichen Zugang über das Hören haben. Vom Überkommenen und möglicherweise Veralteten kann darum auf der Ebene der Prinzipien und Grundstrukturen der Musik gar nicht die Rede sein. Entsprechend ist die Arbeit des Künstlers gedacht: Er lauscht in das Wesen der Musik hinein und schafft ein Werk, indem er die Möglichkeiten und Strebungen – für Schenker gibt es einen »Tonwillen« –, die objektiv und naturhaft in ihr liegen, kreativ ausnutzt. Musik zu verstehen beruht in einem solchen Typ von Theorien darauf, zum Allgemeinen und Wesenhaften in ihr vorzudringen und die kreativen Umspielungen, die ihre Oberfläche bilden, auf jene Tiefenschicht zu beziehen. Die Autonomie der Musik ist der nomos ihres unzeitlichen Wesens und nicht so sehr die Freiheit des Künstlers. Seine Meisterschaft ist Originalität nicht in dem Sinne, daß er zu erstaunlich Neuem in der Lage ist, sondern in dem alten Verständnis, daß er Einsicht in den origo, den Wesensursprung seiner Kunst hat. Hat er diese Einsicht nicht, wird es ihm nicht gelingen, etwas Ganzheitliches zu schaffen, so daß nur Stückwerk entsteht, dem kein Zusammenhang innewohnt. 17 Schönberg findet dieses Bild von der Arbeit des Künstlers und der Natur der Musik aporetisch. In einem Entwurf schreibt er in Bezug auf die Vorstellung, das Musikwerk keime wie aus einem Samen hervor: Für Schenker ist die Geschichte der Musik nach Beethoven durchaus eine Verfallsgeschichte, in der die Einsicht in das Wesen der Musik allmählich trüber wird. Auch bei Riemann findet man vergleichbare Züge der Kritik an den ihm zeitgenössischen Entwicklungen.

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»Fragt man dann weiter nach der Leistung des Autors, so ist sie entweder nötig, weil der Keim sich nicht von selbst entwickelt, oder umgekehrt überflüssig. […] [Für den ersten Fall gilt aber:] was ein Autor an einem Keime leistete, wäre menschliche Tätigkeit […] [und] erfolgt plangemäß.« (zit. nach Stephan 1985, S. 135 f.)

Entsprechend kommt musikalisches Denken nach Schönberg ohne Prinzipien aus, die mit der Natur des Tonmaterials gegeben sein könnten. 18 Auch wo er sich auf die Musik der Tradition beruft – und dies tut er häufig –, schaut er viel weniger auf Eigenarten, die man als musikalische Bewegung oder in metrischen oder harmonischen Schemata beschreiben würde, sondern auf die Weise, in der einfache musikalische Strukturen transformiert und entwickelt werden. Die tonale Ordnung verliert aus diesem Blickwinkel ihre Selbstverständlichkeit und ist nur eine – wenn auch historisch und psychologisch privilegierte – Möglichkeit, Sinnzusammenhänge in der Musik zu stiften. 19 Für diesen Blick ist aber die Musik auch der Vergangenheit in ihrem Wesen etwas anderes, als sie es für den Riemannschen oder Schenkerschen Typ von Theorien war: Sie gründet nicht auf einer genialen Einsicht in die natürlichen Möglichkeiten ihres Stoffs, sondern sie ist durch und durch geworden und gemacht. Denn das Prinzip ihrer Ordnung und Einheit ist der Gedanke, und dieser ist die Tätigkeit eines Subjekts. In einem Manuskript von 1931 notiert Schönberg: »Der Gedanke ist die Herstellung einer Beziehung zwischen Dingen, zwischen denen diese Beziehung nicht ohne die Herstellung existiert.« (zit. nach Jacob 2005, S. 166) So kommt es nicht darauf an, die natürlich angelegten Beziehungen der Töne auszubeuten, sondern darauf, diese Beziehungen erst zu stiften. Aus dieser Perspektive ist Beethoven, der auch für Schönberg ein zentraler Referenzpunkt ist, weniger ein großartiger Phrasierer oder ein Vollender der Möglichkeiten der Tonalität, sondern er ist derjenige, der die Verfahren der Entwicklung der Klangbeziehungen in ihrer ganzen Breite durchführt und vor uns stellt. Daß der Gedanke der Entwicklung von Klangbeziehungen zur Daß Schönberg Tonalität und Harmonik als Inbegriffe bereits vorhandener Klangordnungen einerseits, thematisch-motivische Konstruktion als (Denk-)Arbeit an Klangordnungen andererseits gänzlich unabhängig voneinander betrachtet, ist musikgeschichtlich »beispiellos« (vgl. Holtmeier & Linke 2011, S. 122) und einer der Hauptgründe für die Entwicklung, die ich im folgenden nachzeichne. 19 Vgl. Jacob 2005, S. 199 und S. 208 f. 18

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zentralen Sorge des Komponierens wird, bedeutet, daß das Komponieren nicht mehr die Anwendung eines Handwerks auf ein natürlich erscheinendes Material ist. Stattdessen wird auf das Material und das Handwerk reflektiert. 20 Indem Beethoven diese Reflexion einführt und durchführt, vollbringt er in den Worten von Claus-Steffen Mahnkopf (1998, S. 31) »den größten Schritt der abendländischen Musikgeschichte«. 21 Diese Reflexion impliziert eine radikale Wendung in Bezug auf das, was Musik ist: »Nichts ist vorab gegeben, alles wird geschaffen und erzeugt« (ebd., S. 32) – ein Ansatz, der nur im Blick auf die genauere Eingrenzung dessen, was zu erzeugen ist, von den Gedanken Schönbergs und Boulez’ verschieden ist. Das Schaffen und Erzeugen widersetzt sich dem handwerklichen Benützen, und »Komponieren heißt ab jetzt nicht einfach Schreiben, sondern zuvorderst Denken.« (ebd., S. 31) Das bedeutet: Komposition kann nicht entwickeln, was von selbst in der Musik ist, sondern sie fragt, warum das musikalische Material auf eine bestimmte Weise erscheint und wirkt. Diese Erscheinung und Wirkung hinterfragt Beethoven, indem er die gängigen Bausteine der Musik und die Techniken ihrer Verbindung auf gebrochene Weise verwendet: er reduziert, übertreibt, überdehnt, fragmentiert – und zwar durchaus im Hinblick darauf, die Techniken und Bausteine der Musik selbst auszustellen. Die Einheit eines Werkes ist also nicht als Einheit in der Ausarbeitung der Natur eines Materials zu begreifen, sondern als Einheit des Denkens, das ganz in der Reflexion der Musik aufgeht und ihr Material durchdringt. Diese Reflexion ist aber autonom: Sie setzt sich über das hinweg und bricht, was als Natur der Musik erschien. Die Autonomie ist nicht mehr das zeitlose Naturgesetz im Inneren der Klangwelt, sondern sie ist die Autonomie des Denkens, das mit Klängen umgeht. Indem sie aus dem Bereich des als Natur Vorgestellten in den Bereich des menschlichen Denkens rückt, gewinnt sie aber erst ihre eigentliche Bedeutung. Sie ist zugleich die Autonomie eines InDen hier nur hingestellten Begriff des Materials und sein Verhältnis zum Handwerk und zum Denken bzw. zur Reflexion entfalte ich in Kap. r. genauer. 21 Mahnkopf versucht in Kapitel II seiner Kritik der neuen Musik eine Fortschrittsgeschichte der Musik entlang der Linie Beethoven–Wagner–Schönberg–Serialismus und darüber hinaus unter der Voraussetzung, daß diese Geschichte keine bloße Heldengeschichte ist, sondern auf der Entwicklung von Grundkategorien der modernen Musik beruht, unter denen die Reflexion des Musikers auf das musikalische Material und die entsprechende Autonomie im Zentrum stehen. An diese Analyse lehne ich mich im folgenden an. 20

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Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

dividuums, das sich dadurch verwirklicht, daß es diese Reflexion im Inneren der Musik ausarbeitet. Diese der Musik immanente Reflexion wird damit bei Beethoven »ein geschichtlich neuer Typus musikalischen Ausdrucks.« (ebd., S. 34) Indem diese autonome Arbeit entdeckt und verwirklicht wird, verbietet sich ein Rückfall: Das Material und die Techniken, die Beethoven reflexiv verwendet hat, wieder als gegeben aufzunehmen und nur »handwerklich« zu arbeiten, bedeutet von nun an Heteronomie. In dieser Perspektive vollbringt Beethoven einen Sprung, dem in der folgenden Geschichte der Musik vergleichsweise bescheidene Schritte folgen, bei denen es darum geht, zu bestimmen, was genau als Gegenstand der Reflexion in der Musik und damit als Gegenstand des Komponierens gelten kann und muß. Zugleich heißt dies, zu bestimmen, was als weiterhin benutzbares Material gilt und was hingegen das Überkommene und Klischeehafte ist, das aus seiner bisherigen Verwendung befreit werden muß. Nach Mahnkopfs Darstellung bearbeitete Beethoven »das formale Denken und die musikalische Diskurslogik« (ebd., S. 45) – die motivischen Bausteine und die Weisen ihrer Verknüpfung. Der Rahmen, den diese Befragung nutzte, blieb aber die grundtonbezogene Tonalität. Wagners Beitrag war es nun, diesen Rahmen bis zum Zerbrechen zu überspannen, so daß die Beziehungen zwischen den einzelnen Tonhöhen selbst den Status eines natürlich nutzbaren Materials verloren und zur Reflexion riefen. Die Beziehungen der Tonhöhen wurden zu einem Bereich, den die Autonomie des Komponisten erst wieder schaffen mußte, und Schönbergs Methode der Komposition mit zwölf Tönen war ein Versuch, sie in eine völlig neue Ordnung zu bringen. Die Serialisten erweiterten diesen Bereich weiter, indem sie sagten, daß keine Eigenschaft der Klänge mehr in einer Beziehung steht, die man als gegeben annehmen dürfe, sondern daß die Beziehungen aller Eigenschaften der Klänge autonom neu erdacht werden müssen. So schreibt Boulez über die »ästhetische Wahl«, daß sie von nun an »vom Beginn des Werkes an bestehen und sich auch auf Phänomene erstrecken muß, für die sie im allgemeinen nicht als zuständig betrachtet wird […] von der grundlegenden Morphologie bis zur Großform« (Boulez 1985, S. 25). 22 Mahnkopf gibt die musikästhetische Position, die hier erreicht ist, folgendermaßen zu begreifen: Es gibt noch einen weiteren Schritt, nämlich die Herstellung des Klanges von hergebrachten Klangerzeugern – von Musikinstrumenten und der Stimme – zu lösen

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Ihre Grundannahmen zum Wesen der Musik

»Als rationales Prinzip kompositorischen Tuns fragt der Serialismus nach der Begründung für das Komponierte – und dies in allen Einzelheiten. Es geht um das Ideal eines restlos begründbaren und begründeten Strukturzusammenhanges, in dem nichts ›einfach so‹ – dezisionistisch infolge des Geschmacks, des Empfindens, der Willkür bzw. des Gutdünkens – komponiert ist, sondern das Ganze wie die Teile sich aus dem dem einzelnen Werk in seiner Einmaligkeit zugrundeliegenden Ausgangsmaterial, gleich, wie dieses auch beschaffen sei, gemäß der spezifischen Werkästhetik ergeben. Es geht demnach um die Konstitution von Musik aus sich selbst heraus.« »Der Serialismus ist dieses Nadelöhr der Musikgeschichte. Die Musik schafft sich gleichsam selbst ab und muß fürderhin sich wieder aufbauen – aus sich heraus, und das heißt: immanent und autonom.« (Mahnkopf 1998, S. 49 f.)

Deutlich wird, daß für diese Ästhetik in ihrer reinen Form die Autonomie der Musik so verstanden werden muß, daß jedes einzelne Werk für sich autonom ist. Jedes einzelne Werk fordert es, die Musik neu aufzubauen und das musikalische Material sowie die Regeln, nach denen seine Elemente sich aufeinander beziehen, neu zu erfinden. An diese Anforderung lehnt sich die Norm an, nach der die Güte einer Komposition gemessen werden kann: je mehr Überkommenes, bereits »Gebrauchtes« in ihr vorkommt, desto mehr verfällt sie der Heteronomie der unbedachten Intuition und ist dementsprechend zu kritisieren. Die Antwort auf die ontologische Frage, was Musik eigentlich ist, verschiebt sich entsprechend. Ein Typ von Ontologie findet die Wesensprinzipien der Musik in Elementen oder Grundstrukturen, die auf eine gewisse Weise material bestimmt sein sollen: in Grundstrukturen der Rhythmik, der Melodik und Harmonik. Sie kann der Komponist einsehen – um das Wort »Intuition« so zu umschreiben –, um sie in der Komposition erweiternd und verwandelnd zu gebrauchen, wobei er sich aber stets an sie anlehnen kann und soll. Es ist die

und damit auch von allen ›natürlichen‹ Beschränkungen, denen ein Mensch in der Klangererzeugung unterworfen ist. Dies geschieht durch die elektronische Erzeugung der Klänge und ihrer Obertonspektren frei von allen Bindungen an bekannte Ton-, Dauern- und Notationssysteme. Reichlich Experimente zu diesem letzten Schritt bieten die 1950er Jahre, doch ist zu bemerken, daß viele Komponisten sich nicht auf lange Zeit mit rein elektronischer Klangproduktion zufriedengaben – ein Hinweis darauf, daß es nicht befriedigend war, die Begriffe des Klanges als stoffliches Ereignis und Aktion und des Hörens von Klängen als Nachvollzug (s. hierzu Kap. f.–h.) aus dem Bereich der Musik entfernen zu wollen.

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Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

Ontologie eines tradierten musikalischen Materials. Sie fällt prinzipiell auf die Position zurück, die bereits vor dem Nachdenken über Musik als Text erreicht war, indem sie das Wesen der Musik in einem Prozeß aus empirischer, wahrnehmender Betrachtung und daraus verallgemeinerten Sätzen zu fassen sucht. Die Verschiebung zu einem anderen Typen von Ontologie, die schematisch bei Schönberg – oder bei einem schönbergischen Blick auf Beethoven – beginnt, zeichnet sich dadurch aus, daß solche materialen Prinzipien nicht mehr entscheidend sind und daß entsprechend die Intuition, die den Zugang zu ihnen eröffnen sollte, unter den Druck der Rechtfertigung gerät. Das Wesen der Musik wird nun in formalen Prinzipien der Konstruktion gesucht, und die Gültigkeit der besonderen Verwirklichungen solcher Prinzipien soll das Denken und seine ›Logik‹ gewährleisten. Die Intuition, die ein sinnliches Vermögen ist, insofern man sie als ein innerliches Hören und als ein Urteilen nach Kriterien wie der Ausdruckskraft oder der Ausgewogenheit der klingenden Gestalten beschreiben kann, muß sich vor der Rationalität verantworten, und die unterbewußten Maßstäbe der Intuition weichen Maßstäben, von denen es möglich sein soll, sie bewußt nachzuvollziehen und ausdrücklich anzugeben. Die Entwicklung der Musik ist unter dem Gesichtspunkt dieser Verschiebung ein »Prozeß […] der Entfaltung subjektiver Rationalität.« (Mahnkopf 1998, S. 44) Das Wesensprinzip der Musik scheint gänzlich aus dem stofflichen Bereich des Klanges in die Autonomie des denkenden Subjekts hinübergewandert zu sein. Der Gedanke ist damit das Wesen der Musik, und genauer: er ist jeweils das Wesen jedes einzelnen musikalischen Kunstwerkes. Dann hängt für die Ontologie der Musik alles davon ab, daß man den Begriff des Gedankens versteht.

e.3. Die konstruktivistische Aporie Im serialistischen Denken, das einen Extrempunkt des Denkens in und über Musik erreicht hat, sind bald Überlegungen zu finden, die klar zeigen, daß der reine konstruktivistische Standpunkt, dessen Gründe hier nachzuvollziehen waren, schwer festzuhalten ist. Er lädt zu der grundsätzlichen Frage ein: Ist es nur ein Zufall, daß die Strukturen, die er entwirft, klingend realisiert werden sollen? Denn beinah alle Charakterzüge, die das klingende Material bereits an sich trägt, gelten für die Arbeit an ihm erst einmal als heteronom und sollen 116 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die konstruktivistische Aporie

zerschlagen werden, so daß man fragen kann: Was hat die Konstruktion, wenn sie ohne Rücksicht auf alle vertrauten Eigenschaften der Klänge vorgehen soll, überhaupt noch mit Klängen zu tun? Ähnlich fragt Boulez, warum Strukturentwürfe überhaupt in Musik gesetzt werden sollten, wenn sie nur ›technologisiert‹ entworfen sind, denn dann genüge der technische Plan sich selbst, und »[d]ie Absicht bleibt bemerkenswerter als die Ausführung« (Boulez 1985, S. 11 f.). So zugespitzt lautet der bis hierher verfolgte Gedanke: Wenn das Wesen der Musik nicht durch eine Hingabe an Gewohnheiten des Hörens, sondern durch reflektierendes Denken ans Licht gebracht und gestaltet werden soll, so fordert Musik eine Autonomie, die nur durch die Autonomie der Gesetzgebung eines Subjekts für sie gewährleistet werden kann – eine Gesetzgebung, der sich aber immer ein träger, unverstandener, stofflicher Rest entgegenstellt, der in den Klängen beharrt. Die Vollendung der Autonomie der Musik würde ihre eigene Abschaffung fordern, indem sie jenen stofflichen Rest abschafft. Im Gegensatz zum Handwerk, das mit einem Material baut, wirkt der Gedanke, der hier der Musik ihre Form geben soll, materiallos. In gewisser Hinsicht gleicht diese Ansicht einem populärphilosophischen Einfall, daß eine akkurate, allen Zufällen enthobene und darum wirklich freie Kommunikation durch Gedankenübertragung vor sich gehen müßte und daß die Kommunikation mittels der Sprache uns unfrei mache, da sie uns nötigt, unsere Gedanken in ein Medium zu stopfen, dessen wir nie ganz Herr werden, da es immerzu Assoziationen, Zweideutigkeiten und mögliche Mißverständnisse mitschleppt. Freilich ist es nicht zufällig, daß es uns gelingt, etwas in der Sprache mitzuteilen, aber das Gelingen der Mitteilung ist selbst unter den besten Bedingungen nie ganz in unserer Hand. Kehren wir noch einmal zu Boulez zurück. Er behauptet, man müsse »Klang und Geräusch so behandeln, daß sie in funktioneller Beziehung zu den formalen Strukturen stehen, die von ihnen Gebrauch machen, die also Klang und Geräusch sozusagen aus sich heraus manifestieren. […] Klänge offenbaren sich durch und als Funktion der Strukturen, von denen sie ins Spiel gesetzt werden« (Boulez 1963, S. 36).

Die konstruktive Intention soll den Klang ganz und gar, auch darin, wie er klingt, bestimmen. Daß der Klang zu den Strukturen »in funktioneller Beziehung« steht, heißt entsprechend, daß der Klang nichts 117 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die musikalische Eigenform im musikalischen Text

mitteilen soll außer dem strukturellen, konstruktiven Zusammenhang, in dem er steht. Zugleich stellt Boulez fest, daß die Klänge nicht eigenschaftslos durchsichtig für den Blick auf die Strukturen sind, in denen sie stehen. »Es sind eben gerade die Eigenschaften dieses Objekts [= des Klanges und der Klangbeziehungen], die die Strukturen der Klangwelt […] erzeugen« (ebd.). Am deutlichsten zeigt sich diese Einsicht in Boulez’ methodologischem Entwurf auf negative Weise, indem es darum geht, jene Klangverbindungen zu vermeiden, die ein besonders starkes »Identitätsprinzip« mitbrächten. Dies sind vor allem Oktaven und Zusammenklänge, die sich tonal anhören. Solche Gebilde ziehen das Ohr dermaßen an, daß sie die Wahrnehmung der »formalen Strukturen« schwächen und löchern (vgl. ebd., S. 39–42). Sie ziehen als Gestalten, mit denen wir bereits vertraut sind, die Aufmerksamkeit auf sich und behindern den Blick durch die Gestalt hindurch zu den autonom bestimmten Formprinzipien. Die Form des Klangmaterials konkurriert immer mit der Form des musikalischen Gedankens, der doch den Sinn und Wert der Musik garantieren soll. Wie viele Gestalten kann man aber vermeiden, und wie viele müßte man vermeiden, um den konstruktivistischen Gedanken rein zu verwirklichen? Die serialistische Position in ihrer Extremform muß fordern, die bisherige Klangwelt so zu zerlegen, daß ganz eigenschaftslose Elemente übrigblieben, die sich jeder Konstruktion einordnen lassen. Diese Elemente sind physikalistisch verstandene Parameter: eben die Tonhöhen, Dauern, Lautstärken und Klangfarben, unabhängig voneinander betrachtet. »Man dachte quantitativ« und bezweckte damit, anders als Schönberg, der unter anderem in Ausdrucksgesten dachte, die »Abschaffung der musikalischen Morphologie« (Mahnkopf 1998, S. 51). Kurz gesagt: Von den Klängen sollten Zahlwerte bleiben. Dafür, Klänge so zu fassen, gibt es freilich einen Grund in der musikalischen Eigenform, nämlich darin, daß deren Kategorien diskrete und darum in Zahlen ausdrückbare Tonhöhen und Tondauern sind. Das aber deutet darauf hin, daß jene wichtigen Bestimmungen der musikalischen Eigenform zu eng verstanden sind, wenn man sie so liest, als seien sie nur Zahlwerte. Dieses Verständnis erläutere ich später (Kap. l.2.) unter dem Begriff des Schematismus und beziehe es auf andere Verständnissen musikalischen Sinnes und musikalischer Form. Qualitätslose (rein quantitative) Transparenz kann aber keine Grundlage für den Umgang mit musikalischem Sinn sein. Ihre An118 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die konstruktivistische Aporie

nahme beruht im Grunde auf dem ersten antinaturalistischen Einfall, der zu Ende des vorigen Kapitels genannt wurde: Die Leistungen des Verstehens sind kognitiv-gedanklich und daher transparent, wohingegen die Sinnlichkeit zunächst passiv, bedingt, trüb und für sich genommen sinnfrei ist. Entsprechendes gilt für die Einschätzung der musikalischen Form bzw. Struktur einerseits, ihres klingenden Materials andererseits. Diese Entgegensetzung ist zu überdenken, denn in der bisherigen Gestalt läßt sie den Begriff der denk- und konstruierbaren Form der Musik bezugslos im Leeren hängen. Auf die grundsätzliche Frage, was das Denken nötig hat, um nicht im Leeren zu hängen oder selbst leer zu sein, lautet eine klassisch gewordene Antwort: Es hat ein sinnliches Vermögen nötig. Diese Antwort verfolge ich nun, um nach und nach das Zusammenspiel zwischen dem sinnlichen Vermögen und dem Verstehen und Denken zu differenzieren. Eine grundsätzliche Motivation für jene problematische Entgegensetzung kann bereits jetzt diagnostiziert werden, auch wenn sie noch weiterer Erläuterung bedarf. Man kann sagen, daß die musikalische Form auch unter ihrem wahrnehmbaren Aspekt bisher nur so betrachtet wurde, daß sie der Möglichkeit nach wahrnehmbar ist, in ihrer wesentlichen Bestimmtheit aber nicht von der denkbaren Form abweicht. Dies liegt wiederum daran, daß das Wahrnehmen und das Hören grundsätzlich als Kognition gefaßt wurden, für die Resultate zählen: Informationen über Eigenschaften und Strukturen. Die Sinnlichkeit ist nur ein Mittel, das diese Informationen transportiert. Wenn dieser Begriff der Wahrnehmung den Begriff der musikalischen Form ebenso im Leeren hängen läßt, muß man nach einer Alternative zu ihm Ausschau halten, die den bisher behandelten Gegensatz zwischen Naturalismus und Konstruktivismus hinter sich läßt, und zu diesem Zweck erneut die Frage stellen, was denn an der Musik sinnlich zugänglich ist. Dieser Frage wenden wir uns zuerst auf einer ganz elementaren Ebene zu.

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Musik erfahren – Der Stoff und der Leib der Musik

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f. Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

f.1. Das Dasein der Musik in der Welt der Dinge und Tätigkeiten: Einwände gegen das »akusmatische« Hören Die Rede von der musikalischen Eigenform, die anhand der zwei diskutierten Grundsätze deutlich wird, interessiert sich dafür, Musik innerhalb des Bereichs des Hörbaren abzugrenzen. So unterscheidet sie musikimmanente Klangbeziehungen von den Zusammenhängen nichtmusikalischer akustischer Ereignisse mit ihren Quellen in weltlichen Ereignissen. Diese Unterscheidung muß davon absehen, daß die musikalische Eigenform Form an einem Stoff ist. Dieser Stoff ist das Hörbare überhaupt. Alles, was hörbar ist, hat ein Ereignis als Ursache und macht dieses Ereignis hörbar. Vom musikalischen Klang selbst kann nun, da er ja erklingt, nicht allein gelten, daß er seinen eigenen Raum und seine eigene Bewegung hervorbringt, denn während ihm dies in Melodien, Harmonien und Rhythmen gelingt, bleibt er auf materielle Quellen angewiesen: auf Instrumente und auf Stimmen. Wenn man den durch Tonhöhen und Tondauern konstituierten Raum als den eigentlich musikalischen bezeichnet, muß man doch anerkennen, daß die klingende Verwirklichung dieses Raumes und der musikalischen Bewegung in ihm immer auch Anteile des Geräuschhaften und nicht spezifisch Musikalischen aufweist. Dies sind die oben als sekundär bezeichneten Eigenschaften, insbesondere Klangfarbe, Spielweise und Lautstärke. Um das Verhältnis zwischen dem Primären, Spezifischen und dem Sekundären genauer zu fassen, ist zunächst Andy Hamiltons Kritik an Roger Scrutons Bestimmung des musikalischen Hörens illustrativ. Scruton zufolge hören wir Musik auf akusmatische (»acousmatic«) Weise (Scruton 1997, S. 3). Das heißt, daß wir Klänge ganz herausgelöst aus dem Verursachungszusammenhang der Dingwelt als »pure events« (vgl. ebd., S. 11–13) auffassen. In dieser Hinsicht ist Scrutons Beschreibung der Spezifik des Hörens von Musik eine Variante der Bestimmung der musikalischen Eigenform, daß musika123 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

lische Bewegung im musikalischen Raum kategorial von der Bewegung von Dingen im physikalischen Raum unterschieden ist. Im akusmatisch Gehörten liegt der musikalische Sinn, während nichtakusmatisches Hören lediglich kausale Beziehungen zwischen Klängen und ihren Quellen herstelle. Diese kausale Beziehung trägt für Scruton keinen musikalischen Sinn. Sie ist für diesen zufällig. An dieser Entgegensetzung beginnt Hamilton seine Kritik, indem er die These aufstellt: »both acousmatic and non-acousmatic experience are genuinely musical and fundamental aspects of musical experience« (Hamilton 2009, S. 146). Den »nicht-akusmatischen« Aspekts der Musik erläutert er einleitend wie folgt: »the acousmatic thesis neglects the importance of the human production of musical sounds, to which appreciation of music makes essential reference, and which therefore limits music’s abstract nature. […] It also neglects the way that our experience of music […] refers to the nature of sound-producers – the instruments – as physical objects, and the physical phenomena of sound-production.« (ebd., S. 151)

Im einzelnen bespricht Hamilton vier Aspekte (ebd., S. 160–169). Zwei davon – die Verteilung musikalischer Ereignisse im Umgebungsraum (die ich hier außen vor lasse) und die Klangfarbe – betreffen die materiellen, instrumentalen Bedingungen des Klanges. Zwei weitere – Virtuosität und Aufführung – betreffen seine Bedingtheit durch menschliche, leiblich vermittelte Tätigkeit. Die Klangfarbe (»timbre«) umfaßt unterschiedliche Elemente (zum folgenden: ebd., S. 162). Wesentlich zur Bestimmung eines Klanges ist zum einen der Einschwingvorgang (»attack«), der in vielen Fällen den eigentlichen Akt der Tonerzeugung aufschließt: das Anschlagen, Anreißen, Anblasen in ihren zahllosen Spielarten. Es folgt entweder gleich das Verklingen (»decay«) angeschlagener oder angerissener Klangkörper oder der Akt des Aushaltens durch Streichen oder Blasen (»sustain«). All diese Elemente gehören nicht von vornherein einer spezifisch musikalischen Bewegung an, sondern sind mit Akten im Ding- und Handlungsraum verknüpft, und dementsprechend beschreiben wir die Klänge: als hart, sanft, rauh, trokken, voll, scharf. Was Hamilton unter dem Titel der Klangfarbe behandelt, fällt sinngemäß auch in Bereiche, die anderswo von der Klangfarbe getrennt würden, beispielsweise in die Dynamik und die Artikulation. Die unvermeidlich aus jenem Aktionsraum der Klangbildung hervorgehenden Aspekte, die man durchaus als geräuschhaft 124 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das Dasein der Musik in der Welt der Dinge und Tätigkeiten

bezeichnen kann 1 , integrieren sich in die Aspekte der leiblichen Tätigkeit des Musikmachens, auf die Hamilton seinen Haupteinwand gegen die Ansicht aufbaut, eigentlich musikalisch sei nur die Aufmerksamkeit auf den ursachenfreien, akusmatisch aufgefaßten Klang: Musik sei vor allem »an art of performance« (ebd., S. 167). Verdrängen wir die Bemühungen, Bewegungen, Kräfte und Gesten der Musiker aus unserer Aufmerksamkeit, so seien wir nicht imstande, Musik in ihrem vollen Sinn zu schätzen, denn sie gehören mit zu den Grundlagen des musikalischen Verstehens. Das Argument, das Hamilton auf den Aspekten des Klanges aufbaut, lautet freilich nicht, daß diese Aspekte isoliert betrachtet einen gehaltvollen Beitrag zur Erfahrung der Musik leisten könnten (ebd., S. 171). Vielmehr gehören sie einem Ganzen an, das die Musik ist. Als Elemente dieses Ganzen sind sie aber von ihm mitbestimmt, überformt und häufig stilisiert (ebd., S. 168 f.). Hören wir den Klang in der Musik auf angemessene Weise, so hören wir nicht fortwährend auf die bloße Ursache bestimmter Klangphänomene. So würde jemand hören, der ein Instrument auf Schäden prüft oder einen Musiker auf technische Probleme aller Art. Die Stofflichkeit des Klanges und die Aktionen der Musiker erfassen wir vielmehr als Beiträge zur Gesamtheit der Musik, und zwar als unerläßliche Beiträge, was daran zu sehen ist, daß Musik, die vollständig auf den Bezug hierauf verzichtet und Klänge nicht auf der Grundlage unserer hörenden Erfahrung, sondern auf der Grundlage von Berechnung synthetisiert, dem unbefangenen Hören häufig als grotesk unirdisch oder als geistloses Piepen eines Lautsprechers erscheint. Dieses Phänomen zeigt an, daß der Sinn und der Geist der Musik auch, vermittelt durch die Stofflichkeit des Klanges, von ihren Ursachen in Instrumenten und Aktionen abhängen. In einer griffigeren Formulierung wäre zu sagen: Ihr Sinn hängt damit zusammen, daß die Klänge und die Bewegung der Klänge Kraft mitteilen. Kraft ist ein Begriff, für den die Grundsätze der musikalischen Eigenform keinen Platz lassen. Er tritt erst im Stoff des In der Musikgeschichte hat es immer wieder Schulen gegeben hat, die die Spieler dazu trainieren wollten, jene Aspekte zu vermeiden, so gut es geht: Jeder Klang sollte sich rein und gleichmäßig perlend an den nächsten reihen. Ein solches Klangbild wird häufig für selbstverständlich gehalten; dabei übersieht man, daß sowohl in vielen Zweigen der sogenannten Popularmusik wie auch in der Suche nach Aufführungspraktiken der Alten Musik bis hin ins 19. Jahrhundert eine größere oder geringere Rauhigkeit, Geräuschhaftigkeit oder Ungleichmäßigkeit gar nicht aus der Musik eliminiert werden sollen.

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Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

Klanges auf, insofern Klang nicht rein musikalisch, sondern außenweltlich verursacht ist. Der Begriff der Kraft muß freilich differenziert werden. In diesem Kapitel hat er vor allem mit der tatsächlichen Verursachung von Klängen in Ereignissen und Aktionen zu tun. Er hat allerdings auch dort seinen Ort, wo Klänge nicht unmittelbar als Ergebnis eines Ereignisses aufgefaßt werden, sondern wo das »Tonhafte am Ton« (Plessner, GS III, S. 229) untersucht wird (h.1.). Die Kraft des Tones bzw. Klanges selbst rückt dann in den Blick und zeigt sich als Volumen und Impuls. Sie kann nicht unmittelbar aus den Eigenschaften der Dinge, Stoffe und Ereignisse abgeleitet werden, die die Klänge hervorbringen; sie kann aber auch nicht begriffen werden, wenn wir von den materiellen Umständen des Klanges ganz abstrahieren, wie es Scruton tut. Stattdessen hat sie, wie zu zeigen sein wird, mit der Beziehung des Tones auf Verhaltensmöglichkeiten des menschlichen Leibes zu tun. Einstweilen kann man mit Hamilton übereinstimmen, wenn er sagt: Echt musikalisch (»genuinely musical«) kann nicht allein die musikalische Bewegung im musikalischen Raum im Sinne der ontologischen Abgrenzung sein. Echt musikalisch ist auch das Geräuschhafte, Materiale, Außenweltliche, das eben skizziert wurde – obwohl es nicht rein musikalisch ist, sondern ebensosehr außermusikalisch sein könnte (vgl. Hamilton 2009, S. 160). Klang steht unter dem doppelten Aspekt (»twofoldness«: Hamilton 2013, S. 94), sowohl im spezifisch musikalischen Raum dazusein als auch an der Welt der Dinge, Stoffe und Aktionen teilzuhaben. Unter diesem doppelten Aspekt steht auch unsere Erfahrung und schließlich unser Verständnis des Erklingenden.

f.2. Die Ontologie des Musikwerks zwischen Text und Klang: Der ›analytische‹ Ansatz Die ontologische Problematik der Trennung beider Aspekte wird besonders im Rückbezug auf einen Gedanken klar, der für die Einführung des Begriffs des musikalischen Texts wichtig war. Daraus, daß die musikalisch formbildenden Parameter – Tonhöhe und Dauer – in Kategorien tonsystematischer und rhythmischer Ordnung wahrgenommen werden, folgte, daß die Töne diesen Kategorien entsprechend als Instanzen eines Allgemeinen wahrgenommen werden. Die126 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Ontologie des Musikwerks zwischen Text und Klang

ses Allgemeine erlaubt es, ein Zeichensystem zu entwickeln, in dem es festgehalten werden kann. Das Verfahren, Töne aufzuschreiben, ist nicht nur ein Mittel, bereits mündlich überlieferte Musik festzuhalten, sondern entwickelte sich im Abendland zum hauptsächlichen Verfahren, Musik neu zu schaffen. Die jüngere Philosophie hat aus dieser Tatsache und aus der Konsequenz, daß niedergeschriebene Musik ihr klingendes Dasein durch eine Aufführung auf der Grundlage eines Textes gewinnt, ein ontologisches Problem gezogen: Was ist eigentlich das Musikwerk? Der Text oder der Klang? 2 Dieses Problem wird allerdings meist auf die Frage eingeschränkt, wann das Allgemeine, das der musikalische Text faßt oder ist, vollständig in der Aufführung wiedergefunden werden kann. Die Klänge der Aufführung werden damit unter den Aspekt des Allgemeinen und des Identitätskriteriums geschoben. In dieser Behandlung des ontologischen Problems werden sie darauf befragt, ob und wann sie die richtigen Töne in Bezug auf den Text sind – nicht darauf, welchen Sinn die (mehr oder weniger) richtige Wiedergabe des Notentextes hat und welcher Sinn überhaupt nur durch die Aufführung hörbar wird, also nicht unter den Aspekt der nachprüfbaren Richtigkeit fällt. Klangqualitäten, die sich aus der Instrumentation, der Dynamik, der Artikulation oder der Phrasierung ergeben, werden in einer so verfaßten Untersuchung ebenfalls allein darauf befragt, ob sie für die Werkidentität – also dafür, daß bestimmte Töne richtig gespielt werden – konstitutiv sein könnten. Dies ist eine Frage epochenspezifischer Konventionen: Gemeinhin nimmt man an, daß sie es im 16. Jahrhundert nicht so sehr sind und die Werke darum eine ›dünnere‹ ontologische Verfassung als zu einer Zeit haben, in der die Instrumentation zu einem echten Bestandteil des Kompositionsprozesses wurde, nämlich vor allem ab dem späteren 18. Jahrhundert. Die Konventionen und die in ihrem Rahmen stehenden Intentionen In der ›analytischen‹ Ästhetik gilt dieses Problem als die Grundfrage der »ontology of music« schlechthin; sie versucht, diese Frage in Termini der allgemeinen Ontologie zu klären: ob ein Musikwerk ein »type« sei, der »tokens« hat, unter welchen Bedingungen verschiedene »tokens« zum selben »type« gehören, ob diese »types«, indem sie Universalien seien, zeitlos sein müssen, usw. Ich werde diese mittlerweile maßlos umfangreiche Debatte hier nicht wiedergeben. Überblicke und kritische Ausblicke bieten z. B. Scruton 1997, Kap. 4; Davies 2001 (sehr ausführlich) und 2003; Kania 2008; Levinson 2011, Kap. 4. Auch das Themenheft »Music« der Zeitschrift The Monist (Oktober 2012) widmet sich zum Großteil entweder Feinjustierungen auf diesem Gebiet oder kritischen Abhandlungen zur Methode.

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Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

der Komponisten werden in der Ontologie der »philosophy of music« unter dem Gesichtspunkt untersucht, welche Vorstellungen von der Identität eines Werkes sie vorgeben oder erlauben, nicht aber unter dem Gesichtspunkt, mit welcher Absicht oder mit welchen Gedanken diese Identität auf eine bestimmte Weise gestaltet wird. Damit gerät auch die Frage an den Rand, was die je besondere Aufführung zum Dasein des Werkes über die bloße Wiedergabe seines AllgemeinIdentischen hinaus beiträgt. Jetzt interessiert uns aber dasjenige am Klang, was nicht unter den Aspekt der Allgemeinheit und Identität des Werkes fällt. Die Aufführung ist damit so zu verstehen, daß sie den Text nicht einfach verwirklicht, sondern in dieser Verwirklichung etwas Eigenes beiträgt, nämlich die elementar klanglichen Bezüge auf Stoffe, Dinge und Aktionen. Die Musik auf die geschilderte Weise als Ganzes zu fassen führt dazu, das ontologische Problem zu verschieben. Der Begriff des Textes wird dementsprechend weniger klar, als er bisher erschien. Bisher wurde er strikt ausgelegt: Der Text besteht nur aus Zeichen für allgemeine Kategorien des musikalischen Klanges; das ontologische Problem im gerade skizzierten Sinne hat es dann damit zu tun, den Umfang dieser Kategorien zu bestimmen. Die je besondere Verwirklichung – die Aufführung oder Interpretation – dieses Allgemeinen kann aber nicht unmittelbar aus dem Text abgeleitet werden. Sie ist nicht aus der Ontologie des Werkes bestimmbar, sondern eine Angelegenheit von Praktiken, die für ontologiefremd gehalten werden: »musical works do not bear properties of sound essentially. […] what counts as an interpretation is a de facto issue, to be resolved on the basis of aesthetic, artistic, and to a certain extent ›sociological‹ considerations utterly unrelated to the ontological nature of works of music« (Predelli 2012, S. 624 und 637).

Eine andere Möglichkeit, den Textbegriff zu verstehen, ist weniger strikt. Ihr zufolge zielt der Text auf den wirklichen Klang hin, aber seine hauptsächlichen Ressourcen dafür sind gerade nur die Zeichen für Tonhöhen und Dauern, während deren nähere Verwirklichung durch verbal notierte Annäherungen oder durch die Kenntnis und die Klangvorstellung des Interpreten – dieses Wort ist hier ernst zu nehmen, um die Vorstellung bloßen Abspielens zu vermeiden – geleistet werden muß. Um diese Möglichkeit zu behandeln, sind aller-

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Bernard Sèves Verschiebung des ontologischen Problems

dings noch einige begriffliche Mittel zu entwickeln, die ich ab Kap. l. um den Begriff der Repräsentation herum anordne.

f.3. Bernard Sèves Verschiebung des ontologischen Problems: Klang als Ereignis und Aktion – Wirklichkeit statt Richtigkeit Bernard Sève modifiziert die ontologische Fragestellung, indem er dem Großteil der Arbeiten zu diesem Thema vorwirft, in einer »conception juridique de l’identité des œuvres musicales« (Sève 2013, S. 312) befangen zu bleiben, weil sie voraussetzen, es gebe im Text ein selbstständig beharrendes Werk und man müsse nach einer – ihrerseits mehr oder weniger flexiblen – Festschreibung der Eigenschaften suchen, die Aufführungen des Werkes zu erfüllen haben, um als seine Aufführungen gelten zu dürfen: als vergängliche Instanzen einer beständigen Struktur. Sève empfiehlt, die Aufmerksamkeit dagegen auf die Prozessualität des Werkes zu lenken. Das heißt hier erstens, daß es nicht nur eine unzeitlich faßbare Klangstruktur ist, sondern ein gestaltetes Ereignis. Die Betonung liegt darauf, daß die musikalische Klangstruktur eine Struktur in der Zeit ist. Daran hängt zweitens eine These über den Zusammenhang zwischen Aufführung und Text. Die eben besprochene Untersuchung dieses zweiten Problems sah das für das Werk Wesentliche im Identitätsbestimmenden und damit in jenen Parametern, die der Text erfaßt, während die Momente der Aufführung entweder vom Text bestimmt sein müßten oder zum Werk in einem zufälligen Verhältnis stünden. Dagegen behauptet Sève, wir dürften nie so tun, als ginge es um die Angleichung der Aufführung an das im Text Festgehaltene. Wir sollten überhaupt die Musik nicht als feststehend begreifen: »qu’une œuvre musicale fasse l’objet d’interprétations différentes, et qui parfois transgressent telle ou telle prescription de la partition, n’est pas un accident qui lui arriverait de l’extérieur, mais la continuation d’un processus qui la définit en profondeur. L’œuvre n’étant jamais identique à elle-même, il n’est pas raisonnable de poser la question de son interprétation en termes d’identité.« (ebd., S. 314)

Entscheidend ist es, die Frage von der Identität des Werkes zur Wirklichkeit der Musik zu verschieben: »il ne s’agit plus de reconnaître l’œuvre, mais de déterminer ce qui fait sa réalité et sa puissance mu129 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

sicales.« (ebd., S. 317) 3 Das bedeutet, daß die Ereignishaftigkeit bzw. Prozessualität nicht der im Text zu findenden Klangstruktur gegenübersteht oder zu ihr hinzutritt, sondern daß das Ereignis des Erklingens sowohl die Weise, wie ein bestimmtes Werk gedacht ist, als auch die Seinsweise von Musik im allgemeinen mitbestimmt. Dies ist auf verschiedene Weisen zu verstehen. Ein anspruchsvolles Verständnis muß das Ereignis des Erklingens in seiner Zeitlichkeit und in seiner Materialität auf die Frage beziehen, wie ein Subjekt ein solches Ereignis als sinnvoll erfahren kann (hierzu Kap. g., h., k.). Sève befaßt sich dagegen mit den Klangqualitäten und den Musikinstrumenten auf eine eher objektgerichtete, phänomenologische Weise. Im Rahmen der umfassenden Untersuchung des Musikinstruments, der ich Sèves Thesen entnehme, heißt dies, im besonderen zu fragen: Was ist »la fonction de l’instrument de musique par rapport à l’œuvre musicale en tant que telle«? (ebd., S. 319) Den zwei genannten Weisen der Prozessualität entsprechend hat diese Frage eine doppelte Antwort. Ein Teil der Antwort betrifft den musikalischen Text selbst, insofern er ontologisch ›dicht‹ verfaßt ist, weil er die Instrumentierung und weitere Angaben über die Klangqualität enthält. Sève differenziert jenes »enthält«, indem er sagt, daß es nicht nur bedeutet, die Angabe eines Instruments sei eben ein Punkt auf einer Liste der Eigenschaften, die für ein Werk identitätsbestimmend sein können, sondern müsse in vielen Fällen so gedacht werden, daß das Instrument und die Klangqualitäten, die es beherrscht, in die »conception« des Werkes eingehen und damit die Gesamtheit seiner weiteren ›Parameter‹ mitbestimmen: »C’est dans les instruments et dans les voix […] que le compositeur pense« (ebd., S. 335 f.). Das Instrument und sein Klang setzen nicht nur etwas um, das unabhängig von ihnen als Musik konzipiert worden ist, und treten in dieser Umsetzung einfach als weitere, sekundäre Eigenschaften – beispielsweise der Klangfarbe – hinzu, sondern die Rhythmik, Melodik und der gesamte Tonsatz werden durch eine Klangvorstellung hindurch oder für ein Instrument, eine bestimmte Menge von Instrumenten oder Stimmen gedacht. In diesem Licht erscheint die ProDie hier betonte Verschiebung der Frage verführt zu dem Mißverständnis, daß der Text gleichgültig würde und die Aufführung alles mögliche mit ihm anstellen könnte. Dies ist nicht gemeint. Es geht um ein Verständnis des Ganzen aus Text und Aufführung, in dem die Aufführung freilich die Aufführung des Textes ist. Als Aufführung geht sie über ihn hinaus; aber sie stürzt nicht das um, was das im Text Niedergelegte ausmacht (vgl. Sève 2013, S. 328–331).

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Bernard Sèves Verschiebung des ontologischen Problems

blemstellung der ›analytischen‹ Ontologie der Musik von einer Voraussetzung der Additivität geprägt, die mehr oder weniger ›Eigenschaften‹ als identitätsstiftend zusammenkommen läßt. Zu dieser Voraussetzung sucht Sève eine Alternative, indem er nach der Funktion des Instruments fragt. In der Eigenschaftsredeweise hieße das, davon auszugehen, daß Eigenschaften, die sich aus dem Instrument und seinem Spiel ergeben, andere Eigenschaften bedingen, anstatt einfach neben ihnen zu stehen. Offensichtlich bringt der Gebrauch von Musikinstrumenten eigene Möglichkeiten und damit eigentümliche Interessen mit sich, die die Schöpfung eines Werkes mitbestimmen. Sève verdeutlicht diese Interessen in einer Gegenüberstellung mit a cappella-Gesang. Vor allem die polyphonen Vokalwerke der vorbarocken Zeit stellt man sich aufgrund einer verbreiteten Aufführungspraxis als das Muster einer reinen, unstofflich schönen Musik vor. 4 Es gibt die Annahme, daß auch die Instrumentalmusik zuallererst entstanden sei, um eine solche ›reine‹ Musik zu ergänzen oder zu imitieren. Sève behauptet dagegen, daß dies zu kurz griffe, und er führt etliche Beispiele dafür an, daß die Instrumente und ihre Klangmöglichkeiten gerade dazu genutzt werden, die Musik von der Reinheit des Gesanges zu entfernen oder sie auf der Grundlage von etwas dem Gesang Fremden zu formen (ebd., S. 101 f.). So hört er im Beginn von Wagners Rheingold das Hervorgehen der Musik aus dem geräuschnahen Murmeln (»murmure«) der Kontrabässe (ebd., S. 88), und er bespricht allgemein So hört sie etwa Kivy; vgl. unten i.2. Daß Aufführungen, die von der Vorstellung eines von aller Erdenschwere befreiten Engelschores ausgehen, die einzig angemessene Weise seien, solche Musik zu verwirklichen, darf man gern anzweifeln und als Alternative vorschlagen, z. B. »Ockeghems muziek (en de 15de eeuwse polyfonie in het algemeen) ontdoen van haar pseudo-etherische connotaties, van haar pseudo-professionele justesse en haar pseudo-historische saaiheid« (»die pseudo-ätherischen Konnotationen, die pseudo-professionelle Genauigkeit und die pseudo-historische Öde von Ockeghems Musik und der Polyphonie des 15. Jahrhunderts im allgemeinen zu entfernen«: Schmelzer 2006, S. 25). Das Resultat, das Björn Schmelzer mit dem Ensemble graindelavoix – um nur ein Beispiel zu nennen – aus dieser Absicht heraus erzielt, hebt den Wert individueller Stimmfärbungen und teils spontaner Auszierungen hervor, die wiederum nicht nur als tonhöhenmäßige Varianten verstanden werden dürfen, sondern aus dem Aspekt der Kraft – der Anspannung, dem Nachlassen usw. – der Stimme hervorgehen. Die Auszierung war und ist dann nicht nur Zier und Zutat, sondern essentielles Ausdrucksmittel, durchaus in der Weise, wie ich sie bezogen auf die Funktion der Musikinstrumente mit Sève und anderen im weiteren Verlauf darlege.

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Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

»un goût marqué pour les timbres étranges, la bizarrerie sonore, la production de bruits ›non humains‹, l’exploration risquée de l’univers sonore […]. D’emblée, l’instrument est autre chose qu’un support ou un double de la voix. Il étend l’ambitus des sons produits par l’homme bien au-delà de ce dont la voix est capable, il en étend également l’intensité, les timbres, etc. L’instrument crée un type de réalité sonore spécifique« (ebd., S. 102).

Dem Instrument sind bestimmte Klangmöglichkeiten zugeordnet, die wiederum mit Spielweisen, Aktionen und Kraftausübungen verknüpft sind. Solche Aktionen bilden einen Teil der erfahrbaren musikalischen Form und sind nicht nur eine Folge der Verwirklichung musikalischer Strukturen, die in Absehung von solchen Aktionen als Formen aus puren Tonhöhen und Dauern vorgestellt werden. In nicht wenigen Fällen bilden sie sogar einen sehr beträchtlichen Teil, während der Beitrag der melodischen, harmonischen und rhythmischen Struktur für sich verhältnismäßig gering ist. Jerrold Levinson vertritt eine sehr ähnliche Ansicht, deren Brennpunkt darin liegt, daß es bei dem Umgang mit Klangqualitäten nicht um »sound for its own sake« geht (Levinson 2011, S. 394), sondern darum, daß Klangqualitäten uns auf ihre Erzeugung verweisen: »That a phrase sounds a certain way, in the narrow sense, is not the only thing that counts […]; equally important is our sense that the phrase has been sounded in a certain way.« (Levinson 2006b, S. 84). Unterschiede im Klang, die nur sehr subtil zu sein scheinen, können auf unsere Auffassung des musikalischen Sinnes einen Einfluß von größerer Tragweite ausüben, denn »we are cued by those differences, however slight, to imagine or understand different means of production, and thus to perceive somewhat different gestural content in the music, and so eventually, differences in resultant expression.« (Levinson 2011, S. 405, Anm. 27)

Über die in Levinsons Texten zentralen Begriffe der Geste und des Ausdrucks kann ich hier nicht ausführlich sprechen, da noch ein wenig Grundlagenarbeit bis zu ihrer sinnvollen Einführung zu leisten ist (j.3. und k.). Wichtig ist vorerst, zu verstehen, daß die musikalische ›Gestik‹ nach Levinson nicht nur eine rein melodische oder rhythmische Gestik ist, auch wenn sie von dieser Seite entscheidend bestimmt wird; in vielen Fällen sind die konkreten Aktionen der Aufführung ein Beitrag zu jenem gestischen und Ausdruckssinn, wenn wir ihn im ganzen betrachten. 5 Infolgedessen ist die Musik selbst als 5

Vgl. Levinson 2006b, S. 83 und Levinson 2011, S. 398, Anm. 19.

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Bernard Sèves Verschiebung des ontologischen Problems

Prozeß und Aktion zu fassen, und die Konzeption der Musik – der musikalische Gedanke selbst – überschreitet die Grenzen dessen, was die eingangs eingeführte Ontologie als spezifisch musikalisch umrissen hat. Die Musik ist das, was sie tut; und was sie tut, ist zum Teil das, was getan wird, um sie erklingen zu lassen: »What we identify a passage as doing, in the way of expressive gesture, is a function of what we take it to be« (ebd., S. 404). Überlegungen dieser Art reichen über eine Diskussion hinaus, in der die Rede von Werken zentral ist. Sebastian Kiefer fragt am Beispiel eines Trompetensolos von Miles Davis, worauf man die Aufmerksamkeit richten muß, wenn man den Wert einer solchen Musik erfahren will. Seiner Ansicht nach ist es vergebens, sich an das zu halten, was »in Normalnotenschrift« niedergelegt werden kann, denn dies sei häufig verhältnismäßig simpel und konventionell. Wertvoll werden diese simplen, allgemeinen melodischen und rhythmischen Strukturen durch ihre besondere Verwirklichung, die »die Eigenart und Variationsfülle der Anblastechniken und Modulationen der Ein- und Ausschwingvorgänge; die mikrotonalen Abweichungen und d[a]s Vibrato[]; die Dramaturgie der Verschärfungen und farblichen Verfremdungen des Klangs und der Atemführung; die bewusst hörbar gemachten Tonerzeugungsgeräusche; die mikrorhythmischen Verschiebungen« umfaßt (Kiefer 2011, S. 73). Dieser Verwirklichung gegenüber erscheine der Text entweder als Zensur dessen, was man in solcher Musik sinnvollerweise hört, oder er muß sich einer großen Menge an Hilfszeichen und verbalen Zutaten bedienen. Die musikalische Form verwirklicht sich hier in erster Linie im Klang, nicht im Text, der nur als unzureichende Annäherung oder als abstrahierende Verallgemeinerung erscheint. Umgekehrt denkt Kiefer an musikalische Texte, die so verfaßt sind, daß sie im Hinblick auf die sonst als musikalisch primär verstandenen Dimensionen wenig interessant sind, und zwar gerade deshalb, um die Aufmerksamkeit der Hörer wie auch der Spieler durch die monotone Tonhöhen- und Tondauernstruktur hindurch auf die »Mikrostruktur« der Klang- und Geräuschphänomene zu lenken und damit eine andere »Auffassung der Zeit oder der Funktion des Klanges« zu vermitteln. 6 Kiefer 2011, S. 157. Er nennt Morton Feldman; das Verfahren könnte, neben vielen anderen, das Stück Vieux Jeu (2011) von Gösta Neuwirth illustrieren, in dem die Vorschrift, eine einzelne Note auf der Violine mit einem zehn Sekunden dauernden Bogenstrich zu spielen, dazu führen soll, daß der Bogen auf unvorhersehbare Weise

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Klänge als Stoff der musikalischen Eigenform

Der zweite Teil der Antwort auf Sèves Frage nach der Funktion des Instruments und seiner Klangqualitäten für das Musikwerk betrifft jede Verwirklichung einer Musik in der Aufführung, gleichgültig, wie genau die Vorschriften im Text sind, denen die Aufführung folgen muß. Sie betrifft die konstitutive Rolle der Qualitäten des (instrumentalen oder vokalen) Klanges nicht dafür, bestimmte Werke auch nur zu denken und zu entwerfen, sondern dafür, alle Arten von Musik aufzuführen und damit zu verwirklichen. Im Gegensatz zu dem in der ›analytischen‹ Philosophie üblichen Interesse an der Frage, wie »authentisch« Aufführungen seien, möchte Sève von »intensité« sprechen. Diese mißt er nicht an der Übereinstimmung der Elemente des Textes mit den erklingenden Tönen, sondern daran, daß »sa temporalité propre« zum Vorschein kommt. Man könnte auch sagen, daß es die Aufgabe der Aufführung sei, das Werk über seine abstrakte Identität hinaus überhaupt zu Musik zu machen (vgl. Pryer 2013, S. 64). Dies sei nicht nur ein Fall einer korrekten, sondern einer gelungenen (»réussi«) Weise der Aufführung. Die Gelungenheit, die zu der intensivsten Verwirklichung der Musik führt, ist das ästhetische Ideal, das das Zentrum der Ontologie der Musik sein sollte und um das sich unterschiedliche Verwirklichungen in einer »série de cercles concentriques« ordnen, deren äußerster gerade in den puren Tonhöhen und Dauern besteht, die nur »un abstract, un schéma« sind. Dieser äußerste Kreis ist, in Umkehrung einer dantesken Kosmologie, »l’Enfer musical, qui est celui des sonneries de portable«. 7 Die Situation ist nun so zu beschreiben, daß die spezifisch musikalische Form für sich unwirklich ist und Musik erst noch dadurch werden muß, daß sie einen Stoff gewinnt, für den die kategorische Abgrenzung des Musikspezifischen nicht gelten kann. Offen bleibt hier noch, ob das, woraus die Musik gemacht wird – all die Aspekte des Geräuschhaften, Ereignisbedingten – tatsächlich zum Sinn der Musik beiträgt. Es wäre ja möglich, daß jene Aspekte nur Effekte zeitigen, die zu einer nicht weiter verständlichen Affektion führen – daß sie Aspekte von Kräften sind, die sich in unser Hör-

schwankt und zittert, da er über diese Zeit nicht ganz gleichmäßig geführt werden kann. Daß der Klang zittert, ist nicht nur von akustischem oder ›akusmatischem‹ Interesse, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf die körperliche Aktion, die hier eben nicht im rein musikalischen Klang aufgehoben ist. 7 Alle nicht anderweitig nachgewiesenen Zitate in diesem Absatz nach Sève 2013, S. 329–334.

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Bernard Sèves Verschiebung des ontologischen Problems

vermögen hineinbeulen. Eine Antwort auf diese Frage haben wir bislang nicht in der Hand. Wenn es nicht so sein soll, wäre zu zeigen, wie sich die Verwirklichung von Kräften im Klang von bloßen Effekten unterscheidet, welche Art von Sinn den Ereignissen, Aktionen und Verhaltensweisen zukommt, die in diese Verwirklichung involviert sind, und schließlich, welcher Sinn nur durch den Bezug auf solche Ereignisse und Verhaltensweisen in die Musik kommen kann. Dabei ist ein Unterschied festzuhalten: zwischen kausalen Verhältnissen und dem Vorliegen der durch sie hervorgebrachten Klangeigenschaften einerseits und einem verstandenen, repräsentierten oder gedachten Verhältnis zwischen dem menschlichen Tun und den Klängen andererseits.

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g. Rhythmus

g.1. Die Konstitution der musikalischen Zeit und die Bedingungen ihrer Wahrnehmung – Der elementare Begriff des Nachvollzuges In Sèves musikalischer Ontologie war an zentralen Stellen von der besonderen Zeitlichkeit oder Prozessualität der Musik die Rede, und zwar vorwiegend in Hinsicht auf den elementaren Klang. Prozessualität erschien damit an die Entstehung von Klängen aus weltlichen Ereignissen gebunden, so daß sich gezeigt hat, daß die Verwirklichung der Musik auf Formen der Zeitlichkeit angewiesen ist, die nicht zur musikalischen Eigenform zählen. Notwendig für die Musikphilosophie ist es aber, über diese elementar-stoffliche Perspektive hinaus nach der Form der Zeitlichkeit der musikalischen Eigenform selbst – die allgemein »musikalische Bewegung« heißt – und nach der Erfahrung dieser Zeitlichkeit zu fragen. In b.3. wurde gesagt, daß diese Zeitlichkeit rhythmisch oder musikalisch wird, wenn wir ihr ein Maß geben und durch dieses Maß die Zeitverhältnisse substantiell oder für sich wahrnehmen. Dieses Maßgeben soll nun näher betrachtet werden. Es leitet zu dem Begriff des Nachvollzugs weiter, der in den letzten Jahren eine wichtige Rolle in philosophischen Untersuchung über die Erfahrung und das Verstehen von Musik eingenommen hat, wobei seine Verwendung nicht einheitlich, sondern recht vielschichtig ist. Im folgenden geht es um die einfachsten, elementaren Bereiche, in denen er wirkt. Der einfachste Bereich besteht in der Folge wahrnehmbarer Zeitverhältnisse in Absehung von weiteren Bestimmungen, etwa solchen der Tonhöhe. Man könnte von reinen Rhythmen sprechen. Angesichts ihrer stellt sich die grundsätzliche Frage, wie reine Rhythmen überhaupt wahrgenommen und im engeren Sinne gehört werden. Vorausgesetzt ist dabei, daß die Wahrnehmung eines reinen Rhythmus bedeutet, ihn unter einer Einheit oder als eine Gestalt wahrzunehmen. Diese Einheit ist, wie gezeigt, kategorial von den Arten 136 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Konstitution der musikalischen Zeit

der Einheit verschieden, die die Äußerung eines propositionalen Sinngebildes in der Sprache oder der Ablauf eines kausal geordneten (Ding-)Ereignisses oder der Ablauf einer zweckmäßig geordneten Handlung aufweisen. Mit welcher Art von Einheit haben wir es nun im Falle des Rhythmus zu tun, und wie nehmen wir sie wahr? Eine Überlegung, die dieser Frage auf den Grund geht, stammt von Susanne Herrmann-Sinai. Sie entwickelt das Problem anhand von Kants Auffassung, die Musik sei gehalt- und gestaltlos. Hier ist die zweite Bestimmung wichtig. Sie soll bedeuten, daß Klänge verfließen, ohne mit einer Veränderung an einer materiellen Substanz zusammenzuhängen, die für diese Substanz relevant wäre – etwa im Unterschied zu Handlungen von der Art des Kochbeispiels –, und ohne einen bleibenden Eindruck im Subjekt zu hinterlassen, etwa von der Art, wie man sich etwas bildlich vorstellt oder wie man etwas begrifflich verstanden hat. Wenn sie so verfließen, bilden sie eine »reine Sukzession«. Rein ist diese Sukzession deshalb, weil sie sich »nicht wesentlich an einer Substanz vollzieht.« (Herrmann-Sinai 2009, S. 902) Auf die Frage, wie wir eine reine Sukzession erfahren, antwortet Herrmann-Sinai, daß dies nur möglich ist, »indem ich die Zeit in mir vergehen lasse. Das Vorstellen (repraesentatio) einer reinen Sukzession ist ein rein präsentisches Mit-Vollziehen, für das man das Wort co-praesentatio verwenden könnte.« (ebd.) Dieser Vollzug ist kein passives Bewegt- oder Affiziertwerden: Eine reine Sukzession wahrzunehmen bedeute, daß der Hörer sie sich aneignet und »zu seiner eigenen Sukzession macht […] Nach dieser Beschreibung liegt die Quelle der Bewegung im Hörer begründet.« (ebd., S. 903) Dies ist die einfachste und grundlegendste der verschiedenen Schichten des Nachvollzugsbegriffs, die in der gegenwärtigen Diskussion von Bedeutung sind, denn es geht hier nicht um einen Nachvollzug, der auf irgendeine Weise zur Wahrnehmung hinzukäme, sondern darum, die Wahrnehmung der Klänge und des Rhythmus so zu bestimmen, daß der »Mitvollzug […] den Hörprozess selbst [kennzeichnet].« (ebd., Anm. 59) Die Frage, wie es gelingt, eine Klangfolge über die Zeit hinweg als (rhythmische) Einheit zu erfahren, ist damit jedoch noch nicht ganz beantwortet, denn der bisher beschriebene Mitvollzug ist »rein präsentisch« und scheint damit der wirklichen Erfahrung rhythmischer Abläufe nicht zu genügen. Wenn er über die bloße Gegenwart hinausreicht, ist der Mitvollzug in der Lage, das Verhältnis eines 137 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Rhythmus

Momentes der Sukzession zu den vorausgehenden und nachfolgenden Momenten zu erkennen. Er setzt nun Begriffe oder Vorstellungen von Sukzessionstypen (ebd., S. 904) voraus. Im Mitvollzug identifizieren wir eine Folge von Klängen – oder auch nur von tonlosen Schlägen – als Repräsentanten eines solchen Typs, bzw. wir halten jene Folge koordinierend gegen die Vorstellung eines Sukzessionstyps und nehmen die Übereinstimmungen und Abweichungen wahr. Das Maßgeben, von dem die Rede war, ist nun so zu erklären, daß eine wahrgenommene Sukzession mit dem in seinem zeitlichen Ablauf vorgestellten Sukzessionstypen koordiniert wird. Abläufe von bestimmter Art begünstigen es, daß wir an sie das Maß eines Typs reiner Sukzession anlegen und nicht etwa das Maß eines Handlungsbegriffs. Dies sind Abläufe, in denen einzelne Elemente sich regelmäßig wiederholen. Für die heutige musikalische Erfahrung ist das Muster einer solchen Sukzession die Taktmetrik (hierzu weiter g.2.–3.). Ein Sukzessionstyp reicht über die verfließende Gegenwart hinaus, und zwar in zwei Hinsichten. Erstens faßt er aufeinanderfolgende Momente zusammen; zweitens begreift er die Momente und ihr Verhältnis als Allgemeines und damit über die Zeit hinweg Re-Identifizierbares. Ein Sukzessionstyp ist eine allgemeine Form, die in unserer sinnlichen Vorstellung verwendet wird; er ist wenigstens rudimentär begrifflich. Diese formale Bestimmung lädt dazu ein, zu fragen, wie die Tätigkeit des Gebrauchs eines Sukzessionstyps im Falle der Musik und des Rhythmus vor sich geht und welche Typen von Vorstellungen oder Proto-Begriffen das begreifende Subjekt als Maß eines Ablaufes verwendet. Diese Frage ist von zentraler Bedeutung und mit erheblichen Schwierigkeiten belastet, wie beispielsweise in einem Versuch Andreas Luckners zu sehen ist, noch einen Schritt genauer zu sein, indem er von der Musik sagt, sie sei »diejenige Kunst, die Akte (Sprech-, Willens-, Schöpfungsakte) in ihrem Prozesscharakter, also so, wie sie sind, vorführt.« (Luckner 2010, S. 277) Das würde bedeuten, daß wir den Verlauf der Musik mit Begriffen von Akten des Sprechens, Wollens oder Schaffens koordinieren. Wie wir aber dazu kommen, gerade solche Begriffe an die Musik zu halten, die ja nicht durch ihren Zeitverlauf – der ihnen akzidentell ist –, sondern durch eine überzeitliche Einheit bestimmt sind, ist vom jetzigen Standpunkt aus schwer zu sehen; und ähnlich schwer zu sehen ist dasjenige, worauf Luckner viel eher hinaus will, nämlich daß man jene Akte des Sprechens, Wollens 138 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Konstitution der musikalischen Zeit

oder Schaffens gerade nicht von ihrer überzeitlichen Einheit her auffassen sollen, sondern wie sie als Verläufe sind. Faßt man aber einen Akt des Sprechens nur als Verlauf auf, muß man ihn der Einheit seines Satzsinnes entkleiden – und dann wäre zu fragen, ob er noch als bestimmter Akt des Sprechens verständlich ist. Als Muster für Sukzessionstypen rückt Herrmann-Sinai (2009, S. 904) hingegen »musikalische Formen« in den Vordergrund. Wir lernen Kadenzformen oder metrische Strukturen von der Art achttaktiger Perioden kennen und sind in der Lage, den Verlauf unseres Hörens an solchen Modellen zu orientieren. Diese Beispiele, die Herrmann-Sinai verwendet, können durch viel elementarere Gestalten ergänzt werden. Zu ihnen zählen die Kategorien für Tonhöhen. Im Hinblick auf den Rhythmus wären Verhältnisse wie Triolen oder Punktierungen zu nennen oder, im allereinfachsten Fall, das bloße Metrum als Vorstellung einer in gleichen Abständen geteilten Zeit. Diese Begriffen befinden sich noch ganz auf dem Gebiet, dessen kritische Bearbeitung gerade an der Reihe ist: mit ihnen teilen wir die Zeit, ohne einen Weltbezug herzustellen. Ein Zug von der Art, wie Sève ihn oben vorgemacht hat, stellt die scharfe Unterscheidung zwischen reinen Sukzessionen und Handlungs- oder Ereignistypen in Frage. Er drängt sich auf, wenn man genauer überlegt, was es heißt, daß Rhythmen klingend verwirklicht werden und daß der Nachvollzug (die co-praesentatio) dieser zeitlichen Verläufe eine Aktivität des hörenden Subjekts ist. HerrmannSinai weist darauf hin, daß es in der Gegenwart des Mitvollzugs mehr oder weniger offen ist, welche Typen als Hintergrund für das Hören dienen: »Da Klänge durch den Mitvollzug noch nicht musiktheoretisch-begrifflich bestimmt sind, lassen sie Rede-Variationen und Neudeutungen zu.« (ebd., S. 905) Musiktheoretische Sukzessionstypen im strengen Sinn sind eine verhältnismäßig exakte, aber nicht die einzige Möglichkeit, das nachvollziehende Hören von Musik zu beschreiben. Sie sind eine relativ abstrakte Form der Gliederung der Zeit, die in bestimmten historischen Auffassungen von musikalischer Zeit vorherrscht, in anderen aber gegenüber einer Annäherung von musikalischer und weltlicher, natürlicher oder organischer Zeit zurücktritt. Ich schlage im folgenden eine systematisch orientierte Skizze des Verhältnisses dieser Auffassungen vor, die allerdings der langen und verwirrenden Geschichte des Rhythmusbegriffs, besonders auch in seinem Verhältnis zu den näheren Bestimmungen des Ak-

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Rhythmus

zents, des Taktes oder des Metrums, nicht im Detail gerecht werden kann.

g.2. Rhythmus als Zahl Reine Sukzession im strengen Sinn ist immateriell. Sie ereignet sich in der Zeit allein. Um erfahren zu werden, muß sie zwar in einem sinnlich wahrnehmbaren Stoff ihre Abschnitte markieren: die reine Sukzession wird Rhythmus auf der Grundlage »fundierender Elemente«, die Töne und Geräusche, aber auch haptische und motorische Reize, Lichtzeichen und schließlich Vorstellungen im ›inneren Sinn‹ des Zeitbewußtseins – das Vorstellen eines »jetzt – und jetzt – und jetzt …« – sein können. Diese Elemente im wahrnehmbaren Stoff sind aber nur durch die Ordnung der Sukzessionsbegriffe zu Elementen eines Rhythmus bestimmt. 1 Die Sukzessionsbegriffe sind hier rein quantitativ; der Nachvollzug einer so vorgestellten Sukzession besteht im Zählen. Die Unterscheidung der Elemente der Sukzession kommt dadurch zustande, daß sie in bestimmten Abständen anfangen und aufhören. Rhythmus ist wesentlich als zahlenmäßiges Verhältnis – als Proportion – bestimmt. Einen so bestimmten Begriff des Rhythmus 2 verortet man beispielsweise im antiken Griechenland und im europäischen Mittelalter, besonders in dem im 14. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichenden »mensurale[n] Denken« 3 . Er ist noch einmal im 20. JahrZu diesem Verhältnis der »Fundierung« des selbst immateriellen Rhythmus in materiellen Elementen s. Hönigswald 1926, S. 26–31, und die übersichtliche Darstellung von Hönigswalds Theorie in Cadenbach 1978, S. 70–72 und 103–115. 2 Diese Zeitgliederung »Rhythmus« zu nennen ist problematisch, weil der auf die reine Sukzession und Koordination bezogene und insofern verhältnismäßig abstrakte Begriff des Rhythmus, den ich hier verwende, nur mit Mühe dem historischen Gebrauch entspricht. So schreibt Aristoxenos, die durch Silbenlängen und -kürzen definierten Metren, die ich gleich anspreche, seien nicht von selbst auch ›rhythmisch‹, sondern müßten besondere Bedingungen der Proportioniertheit erfüllen, denen gegebene metrische Strukturen auf mehrere Arten untergeordnet werden könnten (vgl. Barker 1999, Sp. 934 f.). Diese normativ stärkere Auffassung von Rhythmus, die auch später eine vorrangige Rolle spielt, stelle ich für einen Moment zurück. Es geht jetzt nicht, wie so oft in der Geschichte dieses Begriffs, darum, rhythmisch und unrhythmisch zu unterscheiden, sondern darum, die Zeiterfahrung zu beschreiben, die den jeweiligen Normen des Rhythmischen und Unrhythmischen zugrundeliegen kann. 3 Dieses Wort verwendet Seidel 1998, Sp. 278. 1

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Rhythmus als Zahl

hundert im Serialismus anzutreffen, in dem der uns vertrautere qualitative und akzentuierende Rhythmus wieder in eine quantitative Auffassung der Zeit aufgelöst wird. Wir finden ihn ferner im 18. und 19. Jahrhundert dort, wo in der Kontroverse zwischen einem nun anders verstandenen Rhythmus und dem Metrum – dem gezählten Zeitmaß – letzteres als das spezifisch Musikalische gedacht wird (vgl. Seidel 1998, Sp. 261). Schellings Philosophie der Kunst wird, auch wenn das Wort »Metrum« dort nicht erscheint, ein kurzes Beispiel dafür geben, wie der Vorrang der abgezählten Zeit begründet werden kann. In dieser Auffassung des Rhythmus als Zahl lassen sich zwei Varianten unterscheiden: additiver und unterteilender Rhythmus. Die erste Variante hat ihr Muster in der griechischen Rhythmik und Metrik vor allem in Bezug auf die Zeitgliederung in der Sprache. Diese Entwicklung des Rhythmus aus dem Wesen der Sprache darf nicht zu übereilten Analogien zwischen Sprache und Musik führen. Es sind nämlich nicht die Bedeutung der Sprache und auch nicht ihr Ausdrucksgehalt, sondern allein die Zeitverhältnisse ihrer Silben, die zum Rhythmus führen. Insofern ihre Längen und Kürzen festgelegt sind, ist Rhythmus gleichursprünglich mit der Sprache; und insofern die Silben selbst, ohne Ausdruck, Nachdruck oder Absicht eines Sprechers, schon durch ihre Folge einen Rhythmus bilden, ist dieser »bedeutungsfrei« (Georgiades 1958, S. 47). Die Versfüße und Rhythmen, die die Verslehre klassifiziert – Iamben, Anapäste, Ioniker und viele mehr –, kann man als Additionen von Längen und Kürzen denken, die in einfachen Zahlenverhältnissen zueinander stehen. 4 Es ist für den modernen Blick auf die antike griechische Rhythmik und Metrik bezeichnend, daß man einen Rhythmus, der nicht durch gleichmäßige takthafte Betonungen gegliedert ist, immer wieder für kaum begreiflich hält. Nietzsche hält es für einen typischen Fall der hermeneutischen und lebensweltlichen Kluft zwischen Antike und Moderne, wenn man der griechischen Rhythmik eine solche Art der Betonung unterzuschieben versuchte (vgl. § 16 in seiner »Encyclopaedie der klass. Philologie« und seinen Entwurf »Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik«: KGA II/3, S. 397– 401 und 267–280; zur Übersicht über Nietzsches Argumentation vgl. Santini 2016, S. 132–139). Für jüngere Argumente gegen die Auffassung, daß die klassische griechische Metrik streng additiv und indifferent gegen Betonungen gewesen sei, vgl. aber z. B. die differenzierten Überlegungen in Allen 1987, S. 110–115 und 131–139; Raeburn & Thomas 2011, S. 246 f. Zu dieser Kontroverse nehme ich hier keine Stellung. Gibt man der zweiten Position recht, so ist die antike griechische Rhythmik an dieser Stelle kein geeignetes Beispiel; man könnte statt ihrer über das indische talaSystem nachdenken.

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Rhythmus

Der unterteilende Rhythmus ist das Leitprinzip der Musik seit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit. Hier wird nicht von der Aneinanderreihung kleiner Elemente ausgegangen, sondern von der Unterteilung eines Zeitwertes in zwei oder drei gleichlange Zeitwerte, die wiederum weiter unterteilbar sind. Der Grundgedanke der Musik, die auf dieser älteren Grundlage beruht, kann als Auszierung verstanden werden, insofern häufig eine in langen Zeitwerten gehaltene Melodie im Tenor zugrundeliegt, während die anderen Stimmen den Zeitverlauf in komplexen Proportionen zu kleineren Werten zerteilen. Wilhelm Seidel (1998, Sp. 279) betont, daß in solcher Musik, deren Ende um 1430 anbricht, nicht die Folge von Zeiteinheiten, sondern die Gleichzeitigkeit einer Einheit und ihrer Untergliederung im Mittelpunkt des Interesses steht. Freilich gerät diese Teilung der Zeit häufig so komplex, daß sie hörend kaum zu fassen ist. Im Gegensatz zur Antike und zur folgenden Zeit verhält diese Musik in ihrer wahrnehmbaren Gestalt sich gleichgültig gegen die Sprache. Die Zeit, die zählend nachvollzogen wird, behält ihre zentrale Stellung in der Bestimmung der Musik bis ins 19. Jahrhundert. Ein deutliches Beispiel dafür gibt Schelling in seiner Philosophie der Kunst. Die grundsätzlichste Bestimmung der Musik sei, daß sie Sukzession ist, und zwar in der oben skizzierten abstrakten Form. Vom Rhythmus schreibt er: »seine Schönheit ist nicht stoffartig«; sie ist also unabhängig beispielsweise von der Bestimmung der Klänge oder der Bewegungen, die ihn tragen. Daß sich aus »der an sich bedeutungslosen Succession« ein Rhythmus bildet, der »bedeutend« und schön ist, geschieht zuallererst durch das Zählen, das eine Regelmäßigkeit schafft. Wichtig ist Schellings Feststellung, daß die bedeutend gewordene Sukzession – der Rhythmus – es zustandebringt, »nicht mehr der Zeit unterworfen [zu sein], sondern sie in sich selbst [zu haben]«. Indem wir die Zeit zählen – Seidel (1998, Sp. 261) erklärt, daß dies ganz im Sinne der antiken Rhythmik bedeute, »Zeiten und [die] daraus gebildeten metrisch strukturierten Zeitmuster« zu zählen –, legen wir den Grund dafür, daß die musikalische Zeit aus den Zeitverhältnissen heraustritt, die von unseren Handlungen oder von natürlichen kausalen Vorgängen gebildet werden. Insofern ein solches Heraustreten die Musik bestimmt und ihre Besonderheit ausmacht, kann Schelling sagen: »Der Rhythmus ist die Musik in der Musik […] und also der Natur dieser Kunst gemäß das Herrschende in ihr.« Man darf freilich, um Schelling gerecht zu werden, nicht über142 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Rhythmus als gezählte Bewegung – Takt

sehen, daß das genannte bloße Zählen in seiner Philosophie nur den »unterste[n] Grad des Rhythmus« ausmacht, dessen volle Verwirklichung erstens durch Akzentuierung der Einheiten zustandekommt und sich zweitens mit Harmonie und Melodie zur »ganze[n] Musik« verbindet. 5 Schelling scheint aber der Ansicht zu sein, daß die Akzentuierung sich wie von selbst aus dem Zählen der rein musikalischen Zeit ergibt. Dagegen ist denkbar, daß diese Akzentuierung bereits darauf verweist, daß Bestimmungen der »natürlichen Zeitlichkeit« (Seidel 1998, Sp. 261) sich mit der von ihr abgetrennten musikalischen Zeit verbinden; für diese Mutmaßung gibt die Geschichte des Rhythmusbegriffs einige Illustrationen.

g.3. Rhythmus als gezählte Bewegung – Takt Das 15. und 16. Jahrhundert beginnt den Rhythmus als Bewegung zu verstehen. 6 Dieser Begriff ist von einer reinen Zeitgliederung oder vom fortlaufenden Zählen zu unterscheiden. Über die folgenden Jahrhunderte formt sich das Verständnis des Rhythmus als Bewegung zunehmend aus. Die Zeitwerte »treten nun weniger als Teilwerte der übergeordneten Mensur denn als Elemente unterschiedlicher musikalischer Bewegungen in Erscheinung.« (Seidel 1998, Sp. 280) Einen Zeitverlauf als Bewegung zu erleben und zu beschreiben bezeichnet einen anderen Sachverhalt als eine Sukzession und Unterteilung reiner Dauern. Es ist nicht das bloße Anfangen und Aufhören und das quantitative Verhältnis von Dauern, das die Elemente einer Bewegung zueinander in Beziehung setzt. Diese Beziehung wird vielmehr durch Bewegungsbegriffe ausgedrückt und ist qualitativ. 7 Die historisch wichtigsten sind Hebung und Senkung. Der Nachvollzug der Bewegung ist kein Zählen – oder nicht nur –, sondern er ist auf Alle nicht anderweitig nachgewiesenen Zitate in den vorangegangenen zwei Absätzen aus Schelling, PhK, S. 135–139. 6 Es ist anzunehmen, daß diese Auffassung nie abwesend war, sondern vor allem dort, wo die Musik mit dem Tanz verbunden war, stets lebendig blieb; nur ist von ihr aus der Hochzeit des mensuralen Denkens kaum etwas überliefert, da sie als niedrigere Gattung galt. Daß auch die ›künstlichere‹ Musik mehr zur Bewegung wird, folgt unter anderem daraus, daß sie sich der weltlichen und Tanzmusik annäherte und einige von deren Charakteristika aufnahm. 7 Zur Entgegensetzung von quantitativer mensura als »Zeit-Ordnung« und qualitativem Takt als »Bewegungs-Ordnung« vgl. auch Gurlitt 1954, S. 5 und 14. 5

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grundlegende Weise ein Fühlen oder eine Weise, selbst bewegt zu sein. Georgiades (1958, S. 15 f.) erklärt den Unterschied des modernen Rhythmus vom antiken dadurch, daß jener dynamisch, dieser aber statisch sei. 8 Für die Erfahrung bedeutet das: Einen statisch verstandenen Rhythmus, den wir innerlich zählend erfahren, betrachten wir, während wir mit einem dynamisch verstandenen Rhythmus mitgehen. Diese Kontraste werden bei Hönigswald, von dem oben einige Grundgedanken zur reinen immateriellen Sukzession entlehnt wurden, deutlich formuliert. Für ihn gelten Aspekte wie die Hebung und Senkung oder das Mitgehen nicht als Elemente des Rhythmus, sondern nur als Anlässe, etwas als Rhythmus zu erleben; als Anlässe tatsächlichen Erlebens haben sie aber keinen begrifflichen, sondern nur statistischen Wert (vgl. Hönigswald 1926, S. 50–52). Dieser Einschätzung werde ich im folgenden Kapitel Plessners ästhesiologischen Ansatz entgegenstellen, der hörbaren Rhythmus von mit anderen Mitteln angezeigten Zeitgliederungen grundsätzlich unterscheidet. Hönigswald betont hingegen: »Der Rhythmus muß aus ›allem‹ herausgeholt und in ›alles‹ hineingelegt werden können. Denn ›alles‹ ist, sofern es zeitliche Ersteckung besitzt, im Sinne des Zeiterlebnisses zu gliedern« (S. 53) – jedes Ereignis können wir zeitzählend nachvollziehen. Rhythmus als Bewegung aufzufassen weist hingegen auf eine Menge von Begriffen hin, die in der ersten und elementaren Bestimmung des Rhythmus als reine Sukzession nicht erkennbar waren. Sie sind Begriffe, die ihren Grund in der Erfahrung von Kraft haben. Statt reiner Sukzession erfahren wir eine Sukzession von Kraftmomenten, die – wie noch genauer auszuführen sein wird – wesentlich leiblich vermittelt ist. Man darf nicht übersehen, daß ein voll ausgebildeter Begriff des Rhythmus in der Musik diese beiden Elemente – Zahl und Bewegung, Quantität und Qualität – auf spannungsvolle Weise in sich aufhebt. Auf der einen Seite (die andere Seite untersucht der folgende Abschnitt) neigt das unterteilende Zählen der Zeit, wie etwa in Schellings Überlegungen deutlich wird, zur Akzentuierung, so daß man nicht einen Zeitwert – wie es dem »mensuralen Denken« entsprach – in verschiedene gleichgewichtige Einheiten teilt, sondern diese EinAuch an dieser Stelle mag die historische Richtigkeit kontrovers sein; wichtig ist aber die Differenzierung des Begriffs und des Phänomens.

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heiten nach ihrem Gewicht unterscheidet. Die Akzentuierung macht eine wichtige Bestimmung der unterteilenden Zeitordnung sinnfällig: Sie ist eine hierarchische Ordnung, in der einzelne Momente hervortreten und sich eine bestimmte, abgemessene Anzahl von Zeiteinheiten neben- oder unterordnen. Die Zeit kann so auf unterschiedlichen Hierarchieebenen gezählt werden. Daraus folgt, daß die unteren Ebenen der Hierarchie sich, sofern die Teilung der größeren Einheiten regelmäßig ist, wiederholen: Das Zählen wird zyklisch. Man gewinnt so den modernen Begriff des Taktes, der nicht nur eine Teilung, sondern eine Gewichtung der Zeit und eine Charakterisierung der Bewegung nach ihrer Geschwindigkeit – eine Kategorie, die in der Musik über lange Zeit keine ausdrückliche Rolle spielte – bezeichnet (vgl. Seidel 1998, Sp. 286–288). Diese im Takt und in Taktgruppen gezählte und gewichtete Zeit gilt als Musterbeispiel der musikalischen Eigenzeit. Sie beherrscht die Musik und das Musikverständnis der »Klassik« genannten Epoche, 9 der z. B. Schelling angehört, wenn man von seiner Theorie des Rhythmus ausgeht, und prägt weithin die Musikauffassung auch in der Gegenwart, vom klassischen Konzertpublikum bis hin zur elektronischen Tanzmusik. Über den Takt hinaus sind es beispielsweise die verschiedensten Strophenformen, die eine zyklische Ordnung verwirklichen; sie gehören zum Grundbestand aller musikalischer Kulturen. Abläufe als zyklisch zu erfahren bedeutet, ihre Momente allDiese idealtypische Kurzdarstellung sollte nicht vergessen machen, daß gerade in der ›klassischen‹ Epoche die Gliederung von mehrtaktigen Perioden auch in der Musiktheorie zunächst nicht so verstanden wurde, wie sie später Riemann und andere systematisierten, nämlich als eine Hierarchie, deren Glieder auch nach der gezählten Länge in ganz geraden Verhältnissen stehen. Wie Carl Dahlhaus darstellt (1989, S. 175 f.; S. 190), lag dem Verständnis der musikalischen Zeitgliederung auf dieser Ebene zuerst ein rhetorisches Paradigma zugrunde: Nicht die Folge von elementaren Hebungen und Senkungen bestimmte, wann eine »Periode« oder ein »Satz« endet, sondern die Vollständigkeit des musikalischen »Gedankens«, der nach der Analogie sprachlicher Syntax verstanden wurde. Ausschlaggebend ist dabei die Kadenz, die dem Schlußpunkt in der Schriftsprache gleichkommt. Die harmonische und melodische Struktur – und weniger die regelmäßige Folge von schwer und leicht, die dieser Theorie zufolge ohnehin nicht jener Struktur vorgängig bestimmt werden kann – des satzförmigen Gedankens ermöglichte es, in ihm musikalische »Commata«, »Semicola« u. dgl. zu setzen. Nach Dahlhaus erfolgte später ein Übergang »von der Prosatheorie des Periodenbaus zur Verstheorie – von den Kategorien der Rhetorik zu denen der Poetik«, so daß das normierte Regelmaß des dichterischen Verses die Weise beeinflußte, in der die Zeitgliederung der Musik aufgefaßt wurde. Erst dies brachte den »Zwang, Gruppen von drei oder fünf Takten als ›Lizenzen‹ zu erklären« (ebd., S. 175).

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gemein vorhersehen zu können und in der Zeit orientiert zu sein, so daß man in ihr selbst – und nicht nur im Ereignis, das sie ausfüllt – eine Struktur erkennt. Gerade indem die Zeitkonzeption des hierarchischen und zyklischen Taktmetrums eine optimale Orientierung ermöglicht, stiftet sie wenigstens in einem wahrnehmungspsychologischen Verständnis – in dessen weiterem Umfeld wir uns ja momentan aufhalten – musikalischen, hörbaren Sinn. Und insofern es dabei nur um eine Orientierung im Ablauf der Musik, nicht aber um eine Orientierung des Ablaufs der Musik an anderen Abläufen geht, ist dieser Sinn innermusikalisch. Er nimmt keinen Bezug auf bestimmte andere Abläufe. Er ist nicht in der Zeit, die ihn bestimmt, sondern er hat mit Schellings Redeweise Zeit und ihre Ordnung in sich. Der Takt ist nicht nur ein Voranzählen und darum keine Leerform dieser Ordnung. 10 Er gibt keine gleichgültigen Zeitstellen, sondern diese Zeitstellen sind zugleich Kraft- oder Schwerpunkte, die auf verschiedene Weise im Erklingen markiert werden können, etwa durch Lautstärke, durch Artikulation, durch Dehnung oder durch melodische und harmonische Momente. Die Kategorie des Taktes leitet dazu an, im Klang solche Markierungen zu setzen, und diese Markierungen leiten umgekehrt die Wahrnehmung dazu an, in einer Folge von Ereignissen eine Taktordnung zu erkennen. Aus den besprochenen Gründen gilt das so entstehende Gleichmaß als eines der Zentren, aus denen heraus Musik sich bildet und das dazu taugt, uns darauf aufmerksam zu machen, daß das, was wir so im Gleichmaß hören, Musik ist. Allerdings – und hiermit beginnt die Aufhebung dieser Seite des Rhythmus – hat die einseitige Betonung dieses Gleichmaßes Einwände auf sich gezogen, die insgesamt von der Frage ausgehen, welches Bewußtsein man vom Gleichmaß des Taktes haben kann – anders gesagt, wie man ihn nachvollzieht –, und diese Frage insgesamt so beantworten, daß es sich um ein Nachvollziehen handelt, das das BeDahlhaus warnt (1984, S. 100): »Daß die messende Bewegung, der Takt, eine gleichbleibende Einheit ist, darf nicht zu der Annahme verleiten, daß es sich um die Art von Zeitquanten handelt, wie sie in Naturgesetzen […] enthalten sind. Das musikalische Metrum ist vielmehr prinzipiell an die subjektive Erfahrung gebunden, die vom Begriff der Gegenwärtigkeit oder des Jetztpunktes her den Zeitverlauf strukturiert.« Die Warnung richtet sich gegen die Objektivierung des Taktes in bloß zählbare Zeit. So würde die besondere, phänomenologische Zeitlichkeit der Bewegung aus dem Blick geraten, die nicht als leeres Vorwärts, sondern wenigstens als Hebung und Senkung und damit als gestalteter Prozeß erfahren wird.

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wußtsein bezwingt und unterwirft. Meint man, diese Unterwerfung geschehe von außen, so entwirft man ein Argument gegen den Militarismus oder Totalitarismus des Taktes; meint man, sie geschehe mit Absicht des Subjekts, argumentiert man auf der Grundlage des Orgiastischen oder der Sedierung. 11 Johann Gottfried Herder (Br. 3, S. 125) spottet 1774, während er selbst ein Opernlibretto zu verfassen und die angemessene Musik dafür vorzustellen versucht, über das Festhalten am Gleichmaß der Takte und Perioden, es sei ein »Lehnu. Schlafstuhl«: Der zählende Nachvollzug des Taktes läßt sich auch als ein Schäfchenzählen verstehen. Der leibliche Nachvollzug eines solchen Gleichmaßes im Tanz kann ein Weg sein, auf andere Weise das Bewußtsein zu bezwingen; und ein dritter nennenswerter Weg ist der für sehr viele Schulen der Meditation gängige Einstieg über die Konzentration auf das zyklische Gleichmaß des eigenen Atems. So assoziiert man das Gleichmaß des Taktes in seinen verschiedenen Verkörperungen mit Schlaf, Trance und Versenkung. Vom Gleichmaß der Zeit eingenommen zu sein führt in Zustände, die selbst zeitlos sind.

g.4. Rhythmus als Bewegung jenseits der Zahl Einem Verständnis des Rhythmus, das dessen andere Seite in den Vordergrund stellt, gilt das Regelmaß der Taktbewegung nur als Rahmen, in dem sich Rhythmus ereignet, oder, polemischer, als etwas Mechanisches und Starres, dem der Rhythmus entgegensteht, indem er eine Bewegung verwirklicht, die organisch und natürlich sein soll. So wird »unter Rhythmus das ›Belebende‹ im Unterschied zum ›Messenden‹ [verstanden], also weniger das Maß, das eine Bewegung faßlich macht, als die Bewegung, die durch ein Maß hindurchgeht« (Dahlhaus 1989, S. 163).

Die Quelle der Bewegung, die nach dieser zweiten Ansicht der Kern des Rhythmus ist, soll nicht die Gliederung und Gewichtung der Zeit selbst sein, sondern »der lebendige, dynamisch wirksame Ton« (Seidel 1998, Sp. 262). Diese Lebendigkeit und Dynamik kann nicht aus

Einen vielfältigen Abriß des – teils als »Befreiung des Körpers«, teils als »Zwangssystem« entworfenen – »Anti-Intellektualismus« in verschiedenen Theorien und Praktiken des Rhythmus gibt Primavesi 2005; hier nach S. 13.

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dem Regelmaß der metrischen Zeitordnung begründet werden. Seidel schreibt sie dem Ton selbst zu; diese kurzgefaßte Aussage wird aber erst verständlich, wenn wir den Ton bzw. Klang, auf Sèves Argument zurückgreifend, in seiner Entstehung und Wirkung als Moment der Gestaltung des Ereignisses in der Zeit, das die Musik ist, ernst nehmen. Zwei Aspekte sind hierbei geschichtlich und systematisch wichtig: die Zeitlichkeit des Klanges selbst und der Zusammenhang zwischen Klang und Ausdruck auf einer elementaren Ebene. In beiden Fällen ist die volle Lebendigkeit und Dynamik des Tones erst erreicht, wenn er auch die Form der Melodie angenommen hat. Zuvor gibt auch eine abstraktere Betrachtung dieser beiden Aspekte Aufschlüsse über den Gedanken, daß diese zweite Seite der musikalischen Bewegung ihre Zeit nicht nach der Zahl einteilt, sondern aus der »natürlichen Zeit« (ebd.) gewinnt. Der erste Aspekt – die Zeitlichkeit des Klanges – bedeutet, wenn man ihn ganz für sich betrachtet, daß »natürliche« Verhaltensweisen des Klanges vorgeben, welche Zeit er in der Musik hat. Solche Verhaltensweisen können physikalisch-akustisch sein wie der Einschwingvorgang, das Verhalten der Obertöne zueinander oder das Verklingen; oder sie können durch die Aktion der Klangerzeugung bedingt sein, etwa durch die Dauer des Atems oder des Bogenstrichs. Diese Verhaltensweisen und Aktionen sind die einfachste Form jener Lebendigkeit und Dynamik des Klanges, aber sie sind deren unverzichtbarer Stoff. Insofern der für sich genommen geräuschhafte Klangstoff, der zum musikalischen Klang geformt werden kann, selbst schon zeitlich ist, da er von einem ihn hervorbringenden Ereignis abhängt, hat die erklingende Musik stets einen Anteil »natürlicher«, ereignisbedingter Zeit in sich. Diese natürliche, stoffliche Zeit des Klanges hat zahlreiche Komponisten des 20. Jahrhunderts explizit interessiert, was dazu führte, daß sie selbst die Zeitordnung des Musikwerks mitbestimmte, anstatt sich in eine vorgängig vorstellbare metrische Ordnung einzureihen. Im einfachsten Fall wurde sie unverändert aufgenommen – dies ist der Fall bei Anweisungen in Partituren, abzuwarten, bis Töne verklungen sind oder der Atem nicht mehr reicht –; häufig wurde sie auskomponiert. Es sind dann Schwebungen zwischen Tönen, die die Zeiteinheiten eines Metrums vorgeben (zum Beispiel in Hans Thomallas Momentsmusicaux von 2003/04), oder es sind die Verhältnisse zwischen Teiltönen in den verschiedenen Phasen des Klanges, die gewissermaßen unter die Lupe genommen und in 148 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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einer Komposition entfaltet und weiterverarbeitet werden. Die als »musique spectrale« bekannte ästhetische Konzeption, die ungefähr zwischen 1973 und 1982 von Gérard Grisey, Tristan Murail, Michaël Lévinas und Hugues Dufourt auch theoretisch ausgearbeitet wurde, beruht zu wesentlichen Teilen auf diesem Gedanken. Grisey verwendete zeitweise das für den momentanen Kontext besonders illustrative Verfahren, einen einzelnen Klang durch spektralanalytische Messungen in seine einzelnen Frequenzkomponenten zu zerlegen, um die »Mikrostruktur eines Klanges« und seiner Entstehung erkennbar zu machen, und die Komponenten dieser Mikrostruktur anschließend auf die Instrumente eines Orchesters und die Zeitdauer mehrerer Sekunden zu vergrößern (vgl. Barthelmes 2000, S. 220–223). Der Klang, der den Ausgangspunkt dieser Kompositionsweise bildet, wird als »quasi organische[r] Stoff mit eigenen Gesetzmäßigkeiten« vorgestellt, den der Musiker erkundet, wobei er sich einem Naturforscher ähnlich betätigt, der dasjenige, was er in der ›Natur‹ findet, schließlich in eine sinnlich prägnante oder »poetische« Gestalt bringt (ebd., S. 240 f.). Tristan Murail setzt diese Gestaltung aus dem Klang heraus einer Arbeitsweise entgegen, die die Klänge als Bausteinchen begreift, die man in der Zeit reiht und schichtet, während sie selbst, wie lebloses Material, keine Zeit an sich haben. 12 Das Interesse an dieser Gestaltung liegt darin, die stofflichen Aspekte des Klanges, die eine an den allgemeinen tonalen und rhythmischen Kategorien orientierte Musik ignoriert, hervorzuheben, ihre Differenzen und Qualitäten herauszuarbeiten und auf diese Weise die Klang- und Zeitwahrnehmung zu verfeinern: Ihre Aufmerksamkeit wird auf die Übergänge oder ›Schwellen‹ gerichtet, die zwischen den Momenten der Klangentwicklung liegen und die von einem Denken über Musik, das sich an diskreten, kategorial auseinandergehaltenen Tonhöhen und -dauern orientiert, nicht erfaßt werden. 13 Verbreitet sind schließlich Fälle, in denen instrumentale und körperliche Ereignisse der Klangerzeugung mit ihren eigentümlichen

»[…] d’entrer dans la profondeur du son, de sculpter vraiment la matière sonore, au lieu d’empiler des briques et des couches successives.« Zit. nach von der Weid 2010, S. 587 f. Vgl. auch Gérard Grisey: »le dynamisme du son compris comme un champ de forces et non comme un objet mort«; zit. ebd., S. 605. 13 Ich interpretiere hier Gérard Griseys Skizze der spektralen Musik als »différentielle«, »liminale« und »transitoire«; nach von der Weid 2010, S. 605. Vgl. auch Haselböck 2009, S. 54–57. 12

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Zeitverläufen und Kräften überhaupt erst konstruiert und komponiert werden. Zwei Beispiele: »Fallen – gezogen – gedrückt – festgefressen« ist eine als Folge physischer Ereignisse konstruierte Weise der Bogenführung in Helmut Lachenmanns Streichquartett Gran Torso von 1972. Die Elastizität des Violinbogens, den man zuerst auf den Saiten springen läßt, wird durch zunehmenden Druck der Bogenhand ausgeschaltet; durch diesen Druck wächst die Reibung des Streichens so weit an, bis sich der Bogen und der Klang ›festfressen‹ (nach Hilberg 2000, S. 179 f.). Heinz Holliger setzt in seinem Streichquartett Atem und Armbewegung zusammen: »möglichst alle Bogenbewegungen mit Atembewegungen verdoppeln […] ev. ›Stetoskop‹Mikrophon zur Verstärkung der Atemgeräusche. Die durch ungewöhnlich langes Ein- oder Ausatmen bedingten Ermüdungserscheinungen sollen sich aufs Klangbild übertragen (Bogenzittern, krampfartige, stockende Bogenführung usw.).« (zit. nach Hilberg 2000, S. 200) Hier nähert sich die Musik der szenischen Aktion an und entfernt sich am weitesten von der akusmatischen Ansicht: Der Klang ist als Resultat und hörbares Zeichen einer Aktion bedeutend, nicht als rein akustisches Objekt. 14 Dann kann nicht mehr von einer reinen Sukzession von Zeitmomenten die Rede sein, sondern der Zeitlauf ist ausdrücklich mit Handlungen und Ereignissen körperlicher und physikalischer Art verbunden. Daß Lachenmann und die Spektralisten hier so bruchlos nebeneinanderstehen, soll nicht vergessen lassen, daß in einer Hinsicht, die über das hier diskutierte Feld hinausreicht, eine tiefe ästhetische Differenz die jeweiligen Vorgehensweisen trennt. Die spektralistische Theorie spricht häufig von einer ›Erforschung‹ der Klänge als quasiobjektiver, unpersönlicher Gegebenheiten. Lachenmanns Kompositionsweise ist weit entfernt, die Klänge als unpersönliche Naturgebilde zu nehmen; hier und in verwandten Ansätzen geht es vielmehr darum, gerade die von einem Subjekt ausgeübte und empfundene Tätigkeit, die einen Klang hervorbringt, nicht durch den Klang aus-

Man sollte sich allerdings nicht vorstellen, daß ein zuerst theatralisch gedachtes Ereignis konzipiert ist, das nur zwangsläufig Töne produziert. Vielmehr ist die theatralisch scheinende Aktion samt ihrer Klänge häufig das Ergebnis konstruktiver Verfahren, die vor allem die serielle Musik entwickelt hat; nur sind die Elemente, die konstruiert werden, nicht mehr nur Klangparameter wie Tondauer und Tonhöhe, sondern auch Parameter der Aktion wie die Geschwindigkeit, der Druck oder der Winkel des Bogenstriches.

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gelöscht sein zu lassen, sondern ins Licht zu rücken. 15 (Vgl. Haselböck 2009, S. 154 f.) Da sich die Musik seit dem 20. Jahrhundert die Möglichkeit angeeignet hat, auf jene Kategorien des Klanges und der Klangorganisation zu verzichten, die ihn als einen musikalischen Klang auszeichnen – nämlich auf die Tonhöhe, die Tonalität und die regelmäßige Seite des Rhythmus –, kann in ihr die stoffliche, geräuschhafte Grundlage des Klanges besonders deutlich werden. Die zitierten Beispiele zeigen, was sich für die Zeitgestaltung der Musik ergeben kann, wenn der Klang aus seiner Aufhebung in Tonhöhen- und Tondauernkategorien heraus- und auf seine stofflichen, natürlichen und körperlichen Aspekte zurückgeführt wird, um mit diesen weiterzuarbeiten. Dies ist ein Extrempunkt jener zweiten Seite des Rhythmusbegriffs, auf der nicht die regelmäßige Gliederung der Zeit, sondern die Eigenbewegung des »lebendigen« Klanges bestimmend ist. Dieses Verständnis von Rhythmus ist freilich auch außerhalb des Extrempunktes zu finden, nämlich überall dort in der Geschichte der Musik, wo Rhythmen und Melodien nicht geschaffen werden, damit man sie in ihrem eigenen Recht hört, sondern eher, um sich zu Texturen oder Klangräumen zu verdichten oder auszudehnen. Solche Absichten finden wir in der Cembalomusik Rameaus, Couperins und Scarlattis und später bei Schubert, Chopin, Wagner und vielen anderen, wenn beispielsweise gebrochene Akkorde zu einem schillernden oder an- und abschwellenden Klanggewebe gefügt werden, bei dem das Verhältnis der einzelnen Töne beinah gleichgültig gegenüber der Textur wird, oder wenn lang gehaltenen, so gut wie unbewegten Tönen die Rolle zukommt, einen bestimmten Raumeindruck – von Weite, Helligkeit, dunkler Tiefe – herzustellen, der sich nach und nach selbst in Bewegung versetzt oder in den weitere Elemente von Bewegung einwandern. Die Anfänge von Mahlers 1. Symphonie, von Wagners Rheingold oder mancher Symphonien Bruckners können so aufgefaßt werden. 16 Die musikalische Bewegung kommt hier dem Stillstand einer nur noch in sich bewegten Textur und damit den Grenzen des Rhythmusbegriffs nahe, denn an den Klängen ist nun weniger ihre zeitliche Folge als vielmehr ihre räumliche und klang-

Mit dieser Differenz zur Vorstellung des ›Klangforschers‹ setze ich mich in r.2. auseinander. 16 Vgl. auch die Beispiele von Schubert und Chopin bei Seidel 1998, Sp. 298 f. 15

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farbliche Wirkung der Gegenstand der Aufmerksamkeit. Wilhelm Seidel deutet diese Richtung der Aufmerksamkeit folgendermaßen: »Damit öffnet sich die Musik […] der natürlichen und naturalistischen Zeit. Musik hört damit auf, im Sinne Schelling auf ihre eigene Zeit zu bauen. Rhythmus bezeichnet nicht mehr die Ordnung der Zeiten, sondern die mehr oder weniger freie Dynamik der offenen, unendlichen Zeit. Damit erst wird Musik in modernem Sinne zur Zeitkunst, zu einer Kunst, deren Gegenstand die ›wirkliche‹ Zeit ist. Die klassische, aristoxenische Scheidung des Rhythmus von der zu rhythmisierenden Materie […] wird dadurch zurückgenommen.« (Seidel 1998, Sp. 262)

Von der Ordnung der Zeit über die Ordnung der Bewegung in zyklischen Prozessen erstreckt sich damit das Verständnis von Rhythmus bis hin zur Gestaltung von Bewegungen, die kaum eine Ordnung haben und teilweise weniger Bewegungen als Zustände sind. Die Prozesse, die zum Gegenstück der Zeitgestalt der Musik werden, sind hier das stürmische oder sanfte Wehen, das Fließen oder nur das stille Ausgebreitetsein einer Landschaft. Der Zusammenhang zwischen Klang und elementarem Ausdruck war der zweite Teil des Gedankens, Rhythmus entstehe aus der Lebendigkeit und Dynamik des Tones. Hier sei dieser Zusammenhang, bevor er in den folgenden Kapiteln differenziert besprochen wird, erst einmal behauptet, damit klar wird, wann Rhythmus nicht allein aus den Kategorien der musikalischen Eigenform heraus verstanden werden kann. Johann Gottfried Herder hat, vielleicht als erster, Skizzen eines derartigen Verständnisses vom Rhythmus gegeben, und zwar zu einer Zeit, als die hierarchische und zyklische Taktmetrik und der ihr entsprechende Periodenbau, die ja als Musterbeispiel der musikalischen Eigenzeit gelten konnten, ihre Blütezeit erlebten und auch in der Theorie und Ästhetik zum Standard erklärt wurden. Vor diesem Hintergrund eignen sich Herders Gedanken besonders gut zur Darstellung des Rhythmus, der sich der Metrik entgegensetzt, anstatt aus ihr zu entstehen. Ein solcher Rhythmus ist, wie die Musik im Ganzen, ein »Schwung« 17 , der geradewegs aus der Empfindung eines sich im Klang äußernden Subjekts hervorgegangen sein soll und wiederum im hörenden Subjekt bewirkt wird. Rhythmus ist damit Ausdruck und erregt einen dem Ausdruck entsprechenden Eindruck.

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So in Kalligone: Herder, Werke 8, S. 812.

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»Dasjenige, was Herder ›Rhythmus des Ausdrucks‹ nennt, ist offenbar nicht – im Sinne Sulzers – als fassliche Gliederung eines melodischen oder tänzerischen Bewegungsablaufs zu verstehen, sondern als unmittelbares Korrelat fluktuierender Leidenschaften, einzig dem Gesetz der Empfindungsdynamik verpflichtet.« (Stollberg 2005, S. 183)

Die zeitliche Ordnung des Rhythmus folgt hier der Verlaufsform eines Gefühls oder einer Seelenregung, die Herder auf charakteristische Weise nicht als etwas rein Innerliches oder Seelisches denkt, sondern von vornherein als körperlich, so daß solche Regungen nicht ohne ihre stoffliche Ausprägung in Gesten und in besonderem Maße in der Stimme zu denken sind, beispielsweisen in Ausrufen oder in Sprechweisen. Letzteres reflektiert einen Zusammenhang zwischen Musik und Sprache, der seit ungefähr 1600 hervorgehoben wird (ohne freilich die einzig mögliche Form dieser Beziehung zu sein): daß der Rhythmus und der Tonfall der Musik sich an denjenigen der Sprache anlehne, und zwar genauer an die ihr vom Subjekt verliehenen Akzentuierungen. Die Sprache als Ausdrucksträger steht hier zur Musik in einer Analogie. Da Herder unter den menschlichen Handlungs- und Erlebnisweisen das Gefühl und seine Ausdrucksformen besonders nah an den Klang heranrückt, liegt es nahe, daß in seiner Ansicht die Musik als Kunst des Klanges vor allem durch das Gefühl bestimmt sein muß und daß man sie naturgemäß auf diese Weise wahrnimmt. »Der Rhythmus ist bei Herder weder mit dem Gedanken verknüpft, dass Musik Gestalt werden müsse, um sich als Kunstwerk ausweisen zu können, noch steht er im Dienste der Formbildung beziehungsweise regelmäßigen Periodisierung des melodischen Flusses. Im Gegenteil: Da die Musik eine ›energische‹ Progression in Tönen darstellt und als solche dem Verlauf menschlicher Empfindungen unmittelbar entspricht, widerstrebt es ihr, feste Konturen anzunehmen […]« (Stollberg 2005, S. 185)

Rhythmus ist damit nicht durch das Gleichmaß der Hebung und Senkung charakterisiert, sondern von Rhythmus spricht man vor allem dort, wo man die Musik fließen, drängen, stocken, zögern oder eilen hört – wo sie einen Bewegungscharakter hat. Stollberg zieht Parallelen zwischen den Überlegungen Herders und jenen, die Richard Wagner Jahrzehnte später anstellte. Er stellt fest, »dass Herder auf der Grundlage einer anthropologischen Kunstanschauung zu Formulierungen gelangt, die der musikalischen Praxis um 1800 enteilen

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und vorwegnehmen, was erst im 19. Jahrhundert klingende Realität werden sollte: die Dynamisierung des Melos und seine Ausweitung zu einem frei fluktuierenden Strom, der über den vorgestanzten Grundriss von Metrum, Takt und Periode hinwegflutet.« (ebd., S. 192)

Benennen läßt sich diese Verschiebung des Interesses innerhalb des komplexen Rhythmusbegriffs als »Fortschritt der Musik von der Tanz- zur Tonkunst« (Seidel 1998, Sp. 298). Als Beispiel seien nur eine ästhetische Forderung Richard Wagners und eine häufig zitierte Beobachtung Friedrich Nietzsches angeführt. In seinem Briefaufsatz »Über Franz Liszt’s Symphonische Dichtungen« (1857) geht Wagner davon aus: »jedes […] selbständige Instrumentaltonstück verdankt seine Form dem Tanze oder Marsche« (SSD V, S. 189). Dies gilt nicht allein für die Metrik und Periodik, sondern auch für die Abfolge von Formteilen. All diese Dimensionen haben als Prinzip ihrer Bewegung den »Wechsel«: von Hebung und Senkung oder, worauf Wagner sich bezieht, von ruhigen und lebhaften Abschnitten (ebd.). Diese »Regel« wird nach Wagner zur Schwierigkeit, wenn es darum geht, in der Musik eine »Entwicklung« zu vermitteln. Er will damit auf dramatische Stoffe hinaus, aber so weit müssen wir erst einmal nicht gehen, und es genügt, im Kleinen an die Ausdrucksdynamik nach der Herderschen Skizze zu denken, denn auch sie ist durch eigentümliche Formen der Entwicklung geprägt. Wagner zufolge kann eine »verständliche« Musik nicht ohne eine Form sein, die sie dem Prinzip des metrischen Wechsels entlehnen mußte – aber nur, solange sich nicht »das unendlich entwickelte und bereicherte Ausdrucksvermögen« (S. 193) gebildet hatte, das es möglich machte, der Musik eine Form dramatischen Ausdrucks statt einer nun als beschränkt und vorläufig angesehenen Form regelmäßiger Bewegung zu geben. Nietzsche notiert, die »neuere Musik« – und hiermit ist vor allem Wagner gemeint – sei so vorzustellen, »dass man ins Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang […].«

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Kritisch wendet er gegen die schwimmende Bewegung ein, in ihr lauere »die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik […], wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maass hat […]« (Nietzsche, KSA 2, S. 434 f. = Menschliches, Allzumenschliches II, § 134).

Einem gewissen klassizistischen Geschmack erscheint die Tonkunst, die zur Natur der Empfindung oder zur »natürlichen Zeit« hinstrebt, als maßlos, und sie scheint das Wesen der Musik zu verlieren, das man in der Gestaltung der Zeit zum Regelmaß sieht. Wagner dagegen bestreitet, daß es in der Natur der Musik liege, dem Tanze gemäß geformt zu sein. Die Form des Tanzes sei der Musik gegeben worden; genausogut aber – vorausgesetzt, man verfügt über die technischen Fähigkeiten und die »nötige dichterisch-musikalische Eigenschaft« (Wagner, SSD V, S. 193) – könne man ihr dramatische Form verleihen, was »edler und befreiender« (S. 192) für sie sein könne. Diese beiden Seiten des Rhythmus sind freilich nur in Ausnahmefällen für sich zu betrachten. Im Normalfall treten sie in eine mehr oder weniger ausgeglichene Spannung von »Einheit und Gesetzlichkeit« im Regelmaß des Metrums und »Mannigfaltigkeit und Freiheit des Ausdrucks« in der Bewegung des Klanges (Seidel 1998, Sp. 294). Carl Dahlhaus führt zu diesem Verhältnis aus: »an der überlieferten Auffassung, daß Rhythmus das Maß einer Bewegung sei, [kann] sowohl das Moment des Maßes als auch das der Bewegung akzentuiert werden. Die eine Tendenz ist, um grob zu kontrastieren, für das 18., die andere für das 20. Jahrhundert charakteristisch. (Im 19. Jahrhundert durchkreuzen sich Relikte und Vorausnahmen.)« (Dahlhaus 1989, S. 163)

Manchmal ist der Fluß oder der Ausdruck der Klänge gänzlich in das Gleichmaß des Metrums eingepaßt, das dann möglicherweise ebensosehr einen fließenden Charakter annimmt; manchmal löst sich der Ablauf des Metrums in einer Textur auf oder wird zum bloß orientierenden Rahmen für musikalische Abläufe, die vor allem in Begriffen einer ›naturnahen‹ oder charakteristischen Bewegung zu hören sind. Sofern aber nicht einer jener Aspekte isoliert und für sich gesetzt wird, kann gelten, »[d]aß Musik zwei Bewegungen nebeneinander umfaßt, aus deren Synchronisierung ein spezifisch musikalisches Zeitgefühl resultiert« (Dahlhaus 1984, S. 100).

155 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Rhythmus

g.5. Die Erfahrung der Bewegung als Problem Indem wir den Blick auf die Erfahrung des Rhythmus als Bewegung gelenkt haben, um zu bemerken, daß diese Erfahrung häufig behauptet und eingefordert wird, öffnet sich ein neues und zentrales Feld von Fragen. Sie haben es damit zu tun, wie diese Erfahrung zu begreifen ist. Die bisher eingeführten Begriffe sind dazu nicht hinreichend. Auf der einen Seite steht der Begriff der reinen Sukzession und ihres Mit- und Nachvollzuges, der es mit einem Maß der Zeit zu tun hat. Dieses Maß macht es möglich, die Momente der verfließenden Zeit und ihre Verhältnisse zueinander zu identifizieren. Im Grunde ist dieses Maß von der Art der Zahl. Das sinnliche Element, in dem sich dieses Messen verwirklicht, ist ein ›rein innerer‹ Sinn. Die Sukzession mit ihren Bestandteilen und deren Verhältnissen ist unstofflich. Was wir identifizieren, sind die Kategorien der musikalischen Eigenform: Wir hören einen Verlauf von Klängen in den Kategorien der Dauern musikalischer Zeit und auch in den musikalisch relevanten Kategorien der Tonhöhe. Wir identifizieren aber auf diese Weise keine Bewegung, sondern die Orte in dem Koordinatensystem der reinen Sukzession. Bewegungsbegriffe müssen auf andere Weise vorausgesetzt sein. Auf der anderen Seite steht der Stoff der musikalischen Eigenform. Hier knüpft eine Auffassung der Zeit an, die durch die Stofflichkeit des Klanges und damit durch die Stofflichkeit von Dingen und Ereignissen bedingt ist. Die Zeit, in der der Klang verläuft, ist durch Ereignislogiken bedingt und bestimmt: So, wie das Ereignis verläuft, das den Klang erzeugt – das Streichen und Kratzen, das Atmen, das Anschlagen und Verklingen –, verläuft auch der Klang. Die Begriffe für derartige Sukzessionen sind die Begriffe jener Ereignisse und der beteiligten Materialien. Die Klänge sind dementsprechend nicht substantiell aufgefaßt, sondern Akzidenzien dieser Ereignisse. Hier liegt keine musikalische Bewegung vor, sondern eine identifizierbare Bewegung in der Außenwelt, die den Verlauf der Klänge bestimmt. Das Verständnis von Bewegung, das eingefordert wird, wenn man wie etwa Wagner oder Herder die Musik an Begriffen des Ausdrucks mißt, ist von anderer Art. Sie ist kein Messen im Sinne der musiktheoretischen Elementarbegriffe, die man an den Verlauf der Klänge anlegt. Sie ist aber auch keine kausale Folge von Ereignissen, durch deren Begriffe sie festzustellen wäre. 156 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Erfahrung der Bewegung als Problem

Möglich, aber unbefriedigend ist es, dieses Verständnis daran zu hängen, daß man Begriffe von Bewegungen, Emotionen und anderen dynamischen Sachverhalten schlicht an die Musik anlegt. Sie wären einfach eine andere Art von Sukzessionstypen. Unbefriedigend ist dieser Vorschlag aber, weil er als bloße Setzung erscheint: Man könnte ja beliebige Begriffe an den Verlauf der Klänge anlegen, solange dieser Verlauf irgendwie gegliedert und merkbar erscheint. Während das Anlegen der musiktheoretischen Elementarbegriffe durch die Wesensbestimmung der Musik in den Sätzen über die musikalische Eigenform gerechtfertigt erscheint, ist die Rede von der Form der Bewegung der Musik in diesen Sätzen immer noch zu unbestimmt, um das Anlegen von Bewegungs- und Ausdrucksbegriffen gewährleisten zu können. Angesichts dieses Problems stellt sich die zu lösende Frage so dar, daß zwischen dem Rückfall in den Formalismus und dem willkürlichen Hinzuziehen von Begriffen der charakteristischen Bewegung ein Ausweg zu finden ist. Wir suchen die Bewegung in den Klängen, sofern sie musikalische Klänge sind. Musik an Begriffen der Bewegung, des Ausdrucks und dergleichen zu messen müßte also eine Grundlage im Wesen des musikalischen Klanges und im Wesen des Hörens dieser Klänge haben. (Das vage und zusammenraffende Prädikat »der Bewegung, des Ausdrucks und dergleichen« ist freilich noch genauer zu qualifizieren.) Diese Grundlage besteht darin, Hören als Nachvollziehen und den Klang als nachvollziehbar zu bestimmen. Hierbei zeigt der Begriff des Nachvollzuges allerdings eine andere Seite als diejenige, das Vermögen der Begriffe reiner Sukzession zu sein. Im Unterschied zu diesem – der stoffindifferenten Koordination reiner Sukzession mit basalen kognitiven Vorgängen – zeigt er sich als leiblicher Nachvollzug. Da der Begriff des Rhythmus eingangs als Ordnung von Zeitdauern untersucht wurde, ist es angebracht, hier ausdrücklich eine Qualifikation einzufügen, die wenigstens unterschwellig bereits die Auffassung des Rhythmus als Bewegung an vielen Stellen bestimmt hat. Die Momente rhythmischer Bewegung – die Hebung und Senkung, die Bewegung zu etwas hin und das Erreichen des Ziels, das Zunehmen und Nachlassen – sind nicht durch die bloße Intensität eines Schlages oder dergleichen, sondern auch durch den harmonischen und melodischen Wert der Klänge bestimmt. Der Übergang vom Leitton zur Tonika und andere kadenzierende Fortschreitungen oder das Verhältnis von kleineren Schritten in der Melodie zu größe157 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Rhythmus

ren Sprüngen in ihr – um nur diese Beispiele zu nennen – gestalten sie zu einem melodischen Rhythmus, der mit der metrischen Bewegung, die zum Beispiel Figuren in den Begleitstimmen implizieren, übereinstimmen oder sich gegen sie richten kann. 18 Dies ist die wesentliche Gestalt der »Dynamik des Tons«, die oben vereinfacht auf der Grundlage der Eigenzeit von Klängen und von ausdruckshaften Bewegungen besprochen wurde. In dieser Dynamik liegt der Grund für den vollen Begriff der hörbaren musikalischen Bewegung, in dem sich in von Zeit zu Zeit, von Stil zu Stil und von Werk zu Werk unterschiedlichem Maße eben die Melodie, das Regelmaß der Metrik und die stofflichen Charakteristika des Klanges vereinen.

18

Vgl. Seidel 1998, Sp. 261 f.; 294; 298–301.

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h. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

Um die Beziehung zwischen leiblichem Nachvollzug und musikalischem Klang zu erklären, ist eine Lektüre Helmuth Plessner hilfreich. Dieser untersucht begrifflich detailliert in seinem Buch Die Einheit der Sinne von 1923 (in GS III, S. 7–315), in einigen wenig später verfaßten Vorträgen und Aufsätzen 1 sowie in seiner 1970 veröffentlichten Anthropologie der Sinne 2 , die skizzenhaft-knapp auf seine Jahrzehnte zuvor durchgeführten Überlegungen zurückgreift, die Zusammenhänge bestimmter Weisen des Verstehens mit bestimmten sinnlichen Modalitäten. Eine umfassende Musikphilosophie beabsichtigt er dabei nicht, aber die Musik spielt eine tragende Rolle für den gesamten Kontext seines Vorhabens. Ich unternehme hier keinen Kommentar und keine umfassende Interpretation von Plessners Text – dies wäre noch zu leisten und vor allem für die Schriften der 1920er Jahre ein lohnendes Forschungsprojekt –, sondern versuche lediglich, jenen Zusammenhang von Einsichten darzustellen, der den musikalischen Nachvollzug erläutert. Hier besteht in der Musikphilosophie und Ästhetik Nachholbedarf, weil Plessner in diesen Bereichen höchstens mit dem Blick auf Einzelthesen beachtet worden ist, während der breite systematische Zusammenhang, den er entwickelt, unbeachtet blieb. Die Grundthese besteht darin, daß der Klang einen Nachvollzug nicht nur aufgrund seiner Vergänglichkeit erfordert, damit wir seinen »Zur Phänomenologie der Musik« (1924/25, in GS VII, S. 59–65) und »Sensibilité et raison. Contribution à la philosophie de la musique« (1936), teils unter dem Titel »Zur Anthropologie der Musik« in deutscher Sprache veröffentlicht (GS VII, S. 131– 200). Wichtig ist ferner »Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs« (1925, in GS VII, S. 67–129) wegen der dort erläuterten Thesen zum nichtsprachlichen Verstehen, auch wenn sie nicht explizit auf die Musik bezogen werden. Diesen Bezug stelle ich in Kap. k. her. 2 GS III, S. 317–393. Das 5. Kapitel dieser Schrift, »Sprachlose Räume«, ist fast identisch mit dem in der philosophischen Forschung öfter zitierten Aufsatz »Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks« (1966/67, in GS VII, S. 459–477). 1

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

zeitlichen Ablauf in der Wahrnehmung zusammenfassen können. Über seine Zeitlichkeit hinaus ist seine Stofflichkeit zu beachten, die spezifische Formen des Nachvollzuges nahelegt und die Bedingung dafür ist, daß in ihm eine bestimmte Art von Sinngehalten aufgefaßt wird. Der Zugang zur musikalischen Bewegung, den Plessner wählt, verläuft über eine Frage, die gelegentlich schon aufgeworfen wurde: wieso die spezifisch musikalischen Formen und Kategorien der Gliederung und Wahrnehmung nur im Medium des Klanges auftreten – und nicht etwa in Filmbildern oder Farbfolgen –, und was es für diese Formen und ihre Wahrnehmung bedeutet, daß sie in Klängen auftreten. Dies betrifft Kategorien der Bewegung wie Hebung und Senkung ebenso wie Kategorien der ›Syntax‹ solcher Bewegungen, etwa die Gliederung in gleichzeitig ablaufende Stimmen und die Segmentierung in motivische und thematische Gestalten, von denen man sagen kann, daß sie Spannung aufbauen, einen Schluß bilden und dergleichen. Kurz gesagt verläuft dieser Zugang über das Problem, was es heißt, Klänge zu hören, und zwar genauer: sie als sinnvoll zu hören. In Plessners Worten ist es ein ästhesiologisches Problem: »Die Ästhesiologie des Geistes« – so der Untertitel der Einheit der Sinne – »ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen. Sie zeigt, daß zu bestimmten Sinngebungen bestimmte sinnliche Materialien nötig und warum keine anderen möglich sind.« (Plessner, GS III, S. 278) 3

Die »Sinngebungen« und »geistigen Gehalte«, um die es uns hier geht und die auch den Kern von Plessners Untersuchung bilden, haben einen ähnlichen Gehalt wie jene die Wahrnehmung leitenden Begriffe musikalischer Bewegung, für die eben einige Beispiele wieder ins Gedächtnis gerufen wurden. Gelingt es, diese Begriffe der musikalischen Form und Gliederung ästhesiologisch zu behandeln, so wäre erklärt, worin der Mangel jener formalistischen Thesen liegt, die Musik mit einer Tapete vergleichen und sagen, sie habe als Klangmuster einfach mehr wahrnehmbare Qualitäten als ein visuell wahrnehmbares Muster. 4 Allgemein wäre erklärt, worin der Mangel von Vgl. auch GS VII, S. 56 f., für eine prägnante Formulierung dieses Programms, seine Abgrenzung gegen die Psychologie und seinen Anspruch, als »Kritik der Sinne« Phänomenologie und eine kantisch verstandene kritische Philosophie zu verknüpfen. 4 »So music, I am arguing, is ›merely‹ sonic wallpaper, but it is wallpaper with some pretty impressive features. It is multidimensional wallpaper. It is quasi-syntactical 3

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

Theorien liegt, die das Verstehen der Musik in eine besondere musikalische Kognition oder ein besonderes musikalisches Denken legen, ohne zu beachten, daß das akustische Medium nicht nur eine Bedingung für sie ist, sondern auch den Gehalt des so Erkannten oder Gedachten mitbestimmt. In Frage steht dabei auch, ob und inwiefern diese Gehalte als rein musikalisch und als rein formal bezeichnet werden können. Das Argument, das ich aus Plessners Arbeiten heraus rekonstruiere, kann im Voraus so umrissen werden: Klänge zu hören bedeutet, sie als dynamisch bzw. als Bewegung zu hören. Dies ist dadurch bedingt, daß sie von ihrer Stofflichkeit her – »material-apriorisch«, wie Plessner sagt (ebd., S. 238) – Bewegungen und der »Haltung« des Leibes »akkordant« (ebd., S. 236) sein können. Klänge werden also im Raum eines leiblichen Nachvollzuges gehört. Die Bewegungsvorstellungen, die in diesem Nachvollzug vorkommen, haben als solche einen bestimmten Sinngehalt, den Plessner als »Thema« bezeichnet und dessen nächste lebensweltliche Verwirklichung wir aus dem gestischen, mimischen und sprachlichen Ausdruck kennen. In der Begründung der andernorts oft nur bemerkten Akkordanz zwischen Klang und leiblicher Bewegung, dem Versuch, den Begriff »thematischen« Sinnes zu entwickeln, und den mannigfachen phänomenologischen und begrifflichen Differenzierungen, die jene Argumente stützen, liegt Plessners besonderer Beitrag zu den Grundlagen einer Philosophie der Musik. In der Abfolge des Arguments drehe ich Plessners Argumentationsrichtung um, indem ich zunächst elementare Unterscheidungen wiedergebe und aus solchen Bausteinen nach und nach zu einer Auffassung von musikalischem Sinn und seinem Nachvollzug fortschreite. Dieses Fortschreiten ist jedoch keine Deduktion aus womöglich empiristisch mißverstandenen Elementen, sondern eine Erklärung, die dem sonstigen Aufbau dieser Arbeit entspricht, indem sie sich vom Elementaren und Abstrakten zu komplexen Begriffen bewegt, die wiederum das Abstrakte qualifizieren.

wallpaper. It is deeply expressive wallpaper. And it is deeply moving wallpaper.« (Kivy 1993, S. 358) Man bedenke hier, daß »expressive« für Kivy nur eine wahrnehmbare, nicht aber eine zeichenhafte oder affektiv aufgeladene Qualität bedeutet, und daß »deeply moving« nur heißt, daß man die technische Gelungenheit der Anordnung reiner Formen bestaunt. Vgl. c.3., i.2.

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

h.1. Die ästhesiologische Differenz des Klanges Eine erste Gruppe von Differenzierungen dient dazu, die besondere Stofflichkeit des Klanges und seine darauf aufbauende Eignung zur Verwirklichung bestimmter Arten von Sinngehalten herauszuarbeiten. Hier geht es darum, was es bedeutet, wenn man Klänge »ungegenständlich« nennt, und wie ihre Wirkung genau zu klassifizieren ist. Plessners Ausgangsfeld ist die Entwicklung namentlich der bildenden Kunst vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre, die Plessner so versteht, daß sie die Ungegenständlichkeit der Musik übernehmen und zugleich eine der Musik vergleichbare Wirkung und Verständlichkeit erreichen will. »Ungegenständlichkeit« ist hier ein Kurzwort für den ersten der beiden ontologischen Grundsätze über die musikalische Eigenform und bedeutet, daß in der Musik kein abbildender oder zeichenhafter Verweis auf Gegenstände liegt. Plessner bemerkt 1924, daß die Entwicklung des »Expressionismus«, des Kubismus und der abstrakten »Komposition« (wie Kandinsky diese Art der Malerei nennt) »von der prinzipiellen Gleichberechtigung des optischen mit dem akustischen Sinne aus[ging], von der Idee also einer gewissen Vertretbarkeit der Sinne gegenüber dem seelischen Ausdruckswillen und der geistigen Kundgabe; was dem Ohre recht, sollte dem Auge billig sein. Man sagte sich, daß, was dem Musiker vergönnt ist, nämlich durch ein gewisses Arrangement von Tönen und eine souveräne Verfügung über die Klänge unmittelbar Sinn zu erzeugen, auch dem Maler und dem Dichter zustehen müsse, indem jener mit Farben und Formen, dieser mit Wortbildern und Wortklängen, ohne Rücksicht auf ihre sachliche Bedeutung und ihren objektiven Hintergrund, sinnvolle Wirkungen erzielen wird.« (GS VII, S. 62)

Daß diese Vertretbarkeit nicht gegeben und darum die These problematisch ist, Kompositionen aus reinen Farben und Linien ergäben einen der Musik vergleichbaren Sinnzusammenhang und eine quasimusikalische Wirkung, sucht Plessner an Beispielen aufzuzeigen und ästhesiologisch zu begründen. Im Rahmen der hier bislang verwendeten Darstellung des Problems der musikalischen Eigenform würde die These, die Plessner bestreitet, lauten, daß der Grundsatz der Ungegenständlichkeit einen Schluß auf den Grundsatz von der spezifisch musikalischen Bewegung im musikalischen Raum zuließe und daß also die Ungegenständlichkeit der puren Farben und Linien bedeute, mit ihnen könnte eine ›farbmusikalische‹ Bewegung verwirk162 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die ästhesiologische Differenz des Klanges

licht werden, in der wir zahlreiche Kategorien der klangmusikalischen Bewegung – Melodie, Harmonie, Rhythmus, Spannung, Auflösung, Gerichtetheit, Höhen- und Tiefendimensionen, Hebung und Senkung etc. – wahrnehmen würden. Ein erster Schritt der Differenzierung zwischen ungegenständlichen optischen Stimuli und Klängen sieht vom zeitlichen Verlauf ab und untersucht sie, wie sie sich statisch darbieten, nämlich in einem Bild und als stehende Klänge. Bereits hier ist ein wesentliches Merkmal erkennbar, das Klänge gegen Farben auszeichnet: Klänge haben Lagewerte 5 und damit Höhe und Tiefe. Darum können sie Akkorde bilden. In Akkorden bleiben Töne einerseits unterscheidbar und individuierbar. Andererseits sind Akkorde »übersummenhafte Komplexe von komplexqualitativem Charakter« 6 : Sie sind Gestalten in dem Sinne, daß sie eine prägnante Erscheinung haben, die in ihrer Charakteristik nicht auf die einzelnen Elemente der Gestalt zurückgeführt werden kann. Prinzipiell gilt dies bereits, sobald nur zwei Töne in einem einfachen Intervall zusammenklingen. Intervalle und Akkorde sind zwischen Farben bestenfalls metaphorisch zu finden. Erscheinen Farben gemeinsam, so vermischen sie sich entweder zu einer neuen Farbe, in der die Ursprungsfarben nicht erkennbar sind: Es entsteht eine neue Qualität, in der die vorigen Einzelqualitäten ausgelöscht sind. 7 Oder sie stehen nebeneinander: Jede Farbe bleibt dann, wo sie ist, und aus ihrem Nebeneinanderstehen bildet sich keine komplexe, in sich geschlossene Gestalt. Die Beziehung zwischen den Farben kann nur nach Ähnlichkeit oder Kontrast, Helligkeit und Dunkelheit und größerer oder geringerer Sättigung beschrieben werden. Diese Verhältnisse sind aber stufenlos und kontinuierlich; sie bilden keine Kategorien nach der Art von Intervallen zwischen Klängen. Solang wir vom zeitlichen Verlauf absehen, bleibt diese Unterscheidung allerdings dünn. Plessner betont, daß die ungegenständlichen Daten sowohl im Optischen als auch im Akustischen nur zuGS III, S. 233–235; GS VII, S. 64. GS VII, S. 64 f.; vgl. GS III, S. 250. 7 Plessner hat sicherlich die ausführlichen Überlegungen Carl Stumpfs zu diesem Problem im Sinn (z. B. Stumpf 1917, S. 50–69). Zu Behauptungen, die Empfindung von Violett sei keine »einfache« Empfindung, sondern gleichsam ein Akkord aus Rot und Blau, sagt Stumpf, daß man keineswegs Rot und Blau im Violett tatsächlich als eigenständige Farben sieht. Diese seien vielmehr die »Quasi-Bestandteile« des Violett, die in der »bloßen Vorstellung« ›nachgebildet‹ würden (S. 66). 5 6

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

ständlich erfahren werden, wenn sie statisch bleiben. »Zuständlich« bedeutet, daß sie einen gewissen Stimmungseindruck vermitteln: »Den Eindruck absoluter Ruhe und Wohligkeit erhalten wir sehr wohl aus einer Komposition von blassem Rosa, Blau und gedämpftem Gelb«. Über dieselbe Art von Eindruck gelangen auch statische oder vereinzelte Klänge – »das Schmetternde der Trompete, das Näselnde der Oboe, die Stumpfheit des Englischhorns, die tote Pracht des Hammerklaviers« und im Allgemeinen die Eigenschaften der »Tonart, Klangfarbe, Intensität, Höhenqualität, Deutlichkeit« – nicht hinaus. Durch solche Eindrücke werden Plessner zufolge nur »Wirkungen auf den Zustand der Seele, nicht Sinngehalte und Sinnzusammenhänge« hervorgebracht. »Sie versinnlichen keinen Sinn, sondern dienen einer bestimmten Erregung«. (GS III, S. 250–253) Die Lagewerte des Klanges sind darum nicht selbst Sinnträger, sondern lediglich eine Vorbedingung für die spezifischen Möglichkeiten der Bewegung und der Sinngebung im Klang, indem sie Vorbedingungen der Melodie und Harmonie sind. Um die Differenz zwischen Klang und optischen Daten weiter zu begründen, muß man vergleichen, wie beide sich zu zeitlichen Abläufen verhalten. In der Musik beachten wir damit die Melodie und den Rhythmus. Im Optischen treffen wir zu Plessners Zeiten auf Filme aus ungegenständlichen Linien und Farben (ebd., S. 253 f.), deren Nachfolger heute etwa als Bildschirmschoner bekannt sind, oder auf »Farbenklaviere«. Die Differenz besteht darin, daß Klänge sich zu einer Bewegung fügen, reine optische Daten aber nicht. Plessner erzählt: »Farben für sich […] haben keine motivierende Bindekraft für eine sukzessive Darbietung. Unvergeßlich ist mir der Versuch des Münsteraner Psychologen Goldschmidt, der ein Farbenklavier konstruiert hatte, das tonlos wechselnde Farben in verschiedener Schnelligkeit (wie er meinte, in wechselndem Rhythmus) darbot. Seine Versuche, einem Kreis von Zuschauern das Erlebnis steigender Spannung zu vermitteln, […] schlugen völlig fehl. Seine in die Farbfolgen hineingesehene Dynamik teilte sich keinem mit. Das gleiche Unvermögen, auf rein optischem Wege Eindruck von Rhythmik und tendierender Spannung zu vermitteln, zeigen die einstmals so beliebten abstrakten Zeichenfilme, deren Strich- und Kurvenfolgen einer musikalischen Einbettung bedürfen, um irgendein sinnhaftes Kontinuum zu sein.« (GS III, S. 359 = GS VII, S. 469)

Optische Daten und Klänge haben jeweils unterschiedliche Möglichkeiten, aus der zuvor angesprochenen zuständlichen Statik heraus in 164 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die ästhesiologische Differenz des Klanges

Bewegung zu kommen. Jene sind bewegt, wenn sie an bewegten Gegenständen auftreten (GS III, S. 263–265). Die Bewegungen und Veränderungen von beharrenden Gegenständen in Raum und Zeit sind die primären Phänomene sichtbarer Bewegung. Es gibt also nicht die Bewegung eines ›Sehstoffes‹ – etwa der Farbe – selbst, sondern nur die Bewegung von Substanzen 8 , die akzidentell bestimmte sichtbare Aspekte für die Perspektive sehender Subjekte darbieten. Diese substanziellen Gegenstände sind die Träger einer Regelhaftigkeit oder einer ›Logik‹, die zeitliche Abläufe zu einer Bewegung verknüpft; die Zeit im Feld des Sichtbaren ist eine Zeit von begreifbaren Dingen. Wir verstehen eine solche Regelhaftigkeit in Plessners Worten »schematisch« (ebd., S. 154). Stark abkürzend können wir sagen, daß der Schematismus der eigentliche Zugang zu Gegenständen ist und daß dieser Zugang wiederum vor allem über das Sehen bzw. über das Zusammenspiel zwischen Sehen und Greifen geschieht; »Griffigkeit« ist darum ein hervorgehobenes Charakteristikum des sichtbaren Dinges (ebd., S. 263). Im Schematismus verstehen wir Gegenstände als Elemente kausaler Zusammenhänge und verhalten uns zu ihnen in einer »Zweckhandlung«, in der wir selbst eine Reihe von Wirkungen hervorzubringen suchen (ebd., S. 218–220). 9 Ungegenständlich aufgefaßten optischen Daten fehlt die Stütze in der schematischen ›Logik‹ gegenständlicher Bewegungen, so daß sie selbst kein Prinzip der Bewegung an sich haben, sondern nur (als Akzidenzien einer Substanz) bewegt werden. Es ist dasjenige, was sie bewegt, das wir, etwa an einem Farbklavier oder in einem Film nur aus Linien und Farben, begreifen müßten, um überhaupt etwas an ihnen zu verstehen; wir müssen auf irgendeine Weise hinter sie gelangen, im Falle der Malerei etwa durch eine kunsthistorische und geistesgeschichtliche Untersuchung, womit wir aber den Bereich der Wahrnehmung zugunsten einer Reflexion mithilfe von Dokumenten usw. verlassen. Plessner sucht nun zu begründen, daß der Klang aufgrund maDie Redeweise von Substanzen und Akzidenzien verwendet Plessner nicht; ich verwende sie hier, um daran anzuknüpfen, daß in b.2. Klänge als Substanzen bezeichnet wurden. Dies unterscheidet sie von den selbst nicht substanziell behandelbaren optischen Daten. Vgl. hierzu Straus 1960, S. 149: »Durchwandert eine Farbe unser Gesichtsfeld, so sehen wir die Bewegung eines Gegenstandes. Treten an einer Stelle nacheinander verschiedene Farben auf, so sehen wir die Veränderung eines Gegenstandes.« 9 Das Feld schematischen Sinnes bespreche ich weiter in k.3. und k.5. 8

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

terial-apriorischer Bestimmungen und ihrem Verhältnis zu bestimmten menschlichen Weisen des verstehenden Wahrnehmens in der Lage ist, von selbst und ohne gegenständliche Bindung Bewegungen zu bilden. Der Klang trägt also allein aufgrund seiner Stofflichkeit Ansätze zu einer ›Logik‹ eines zeitlichen Verlaufes in sich. Die dafür verantwortlichen Bestimmungen des »Tonhafte[n] am Ton« (ebd., S. 229) 10 legt Plessner auf verwickelte und von Text zu Text etwas unterschiedliche Weise dar; ich versuche hier, sie übersichtlich wiederzugeben und ihre notwendige Verschränkung mit den sinnlichen und leiblichen Bedingungen des Menschen noch kurz auszuklammern. Als Überbegriff kann »Volumen« oder »Voluminosität« 11 gelten. Gerade Volumen geht optischen Daten ab: sie sind im Raum und an räumlichen Dingen, aber selbst nicht räumlich, sondern »eben« oder »flächig«. 12 Diese Grundbestimmung des Klanges analysiert Plessner: »Voluminosität […] hat zwei Seiten oder Momente: Räumigkeit und Schwellfähigkeit.« (GS VII, S. 64) Das später wieder aufgegebene Kunstwort »Räumigkeit« führt Plessner in der Einheit der Sinne ein, um Verwechslungen mit der Räumlichkeit der Außenwelt zu vermeiden, die entweder durch Handlungsmöglichkeiten oder geometrische Abstraktion zugänglich ist (GS III, S. 239). Indem ein Klang ein »räumiges Element« ist, hat er einen Lagewert, aber auch Qualitäten, die man als mehr oder minder »dick«, »satt«, »voll«, »massig« wahrnimmt. 13 Die Schwellfähigkeit 14 ist gegenüber den auch statisch vorstellAnschließend an g.5. ist hier ein Unterschied zu dem zuvor Überlegten zu bemerken, demzufolge die Zeitlichkeit der Klänge entweder aus einer zählenden Teilung der Zeit oder aus der Vorstellung eines Ereignisses gewonnen wird, das den Klang erzeugt oder mit seiner Erzeugung verknüpft ist. Plessner versucht, die Zeitlichkeit in den Ton selbst zu legen und nicht aus seiner Erzeugung abzuleiten. Der »Ton selbst« ist freilich im Zusammenhang damit zu sehen, wie wir ihn hören können; hierzu der folgende Abschnitt. 11 GS III, S. 229–240; S. 345; S. 348; GS VII, S. 64 f.; S. 189 f.; S. 199. 12 GS III, S. 233; S. 348; GS VII, S. 63; S. 189. 13 GS III, S. 239; GS VII, S. 189. 14 Stellvertretend für viele andere Termini sei an der »Schwellfähigkeit« darauf aufmerksam gemacht, daß Plessner häufig Wortbildungen mit »-bar« oder »-fähig« für systematisch zentrale Begriffe verwendet; später wird »deutbar« eine tragende Rolle spielen. Apriorische oder Wesensbestimmungen erscheinen bei Plessner häufig in der Form einer notwendigen Möglichkeit: Ein Klang muß nicht tatsächlich schwellen, aber er muß es können; Deutbares muß nicht gedeutet sein oder werden, muß der Deutung aber offen sein. Dies unterscheidet Plessner etwa von empiristischen Reden 10

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Die ästhesiologische Differenz des Klanges

baren Lagewerten jene Seite des Klangvolumens, die für zwei entscheidende Bestimmungen des Klanges verantwortlich ist: für seine Bindung an die Zeit und für die Möglichkeit des Ausdrucks im Klang. 15 Daß der Klang im genannten Sinn ein Volumen hat, das – im einfachsten Fall im An- und Verklingen – sich über eine kürzere oder längere Zeit hin entwickeln kann, verleiht ihm schließlich Impulswert, der der Grund dafür ist, daß aus Klängen Rhythmen gebildet werden können. 16 Wiederum ist es häufig ein Vergleich mit Farb- und Lichtwerten, den Plessner benutzt, um die Schwellfähigkeit und die mit ihr zusammenhängende Zeitlichkeit zu erläutern. Diese Erläuterung ist vergleichsweise mühevoll, weil sie zu einer Stelle in den Phänomenen und ihrem Wahrnehmen vordringt, an der der Spaten der Untersuchung und Differenzierung aufs Grundgestein stößt. Dies liegt auch an der phänomenologisch-beschreibenden Herangehensweise, die hier den Stoff für die systematische Arbeit liefern soll. Leichter geht es, wenn man mit der systematischen Ordnung beginnt und mit der hier manchmal verwendeten Terminologie sagt: Farben sind Akzidenzien, so daß ihnen selbst keine Dauer und kein Raum zukommt, sondern nur den Substanzen, an denen sie hängen, während Klänge als Substanzen oder substanzhaft selbst die Akzidenzien der Zeit und des Raumes – auf »Räumigkeit« oder Raumhaftigkeit eingeschränkt – tragen. Wenn man für diese These eine Begründung am Phänomen verlangt, faßt Plessner sie folgendermaßen: Wohl ist das Leuchten oder das Farbigsein in der Zeit wie alles; es hat aber keine eigene Zeit. Ein Klang ist dagegen in jedem Fall »gedehnt« (GS III, S. 229). An ihm kann man unterscheiden, ob er verklingt und verklungen ist oder ob er abgebrochen wird, denn »Hallen, Klingen ist ein Prozeß« (GS VII, S. 193), wie es das »Erhellen oder Verblassen« nicht ist. Die Veränderung der Intensität eines Tones über die Zeit ist eine – eben als An- und Abschwellen bezeichnete – Volumenveränderung.

von musikalischem Sinn, die diesen an Aussagen festmachen, die tatsächlich irgendein Verständnis oder irgendeine Deutung in propositionaler Form äußern, und das Ergebnis, daß Deutungen oder Verständnisse nicht übereinstimmen, nicht als Offenheit, sondern als Beleg für Bedeutungslosigkeit oder Unverständlichkeit ansehen. 15 GS III, S. 233 f.; GS VII, S. 64. 16 GS III, S. 235; S. 345; S. 348; GS VII, S. 190.

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

»Das Licht [dagegen] verstärkt sich, als Ausgebreitetes gegeben, gleichsam punktuell unvoluminös, an der Stelle, die es mit Leuchten füllt, verharrend. Der Schall schwillt im Hallen dahin, und dieses charakteristische ›dahin‹ zeigt schlagender als alle umständliche Beschreibung, was mit Dehnung und Volumen des akustischen Stoffes gemeint ist.« (GS III, S. 232)

An anderer Stelle merkt Plessner an, Klänge hätten eine »Tendenz ins Kommen« (GS VII, S. 193). Sie treten – dies ist eine Redeweise, die bedingt, daß Klänge als Substanzen gelten – in einen Klangraum ein, indem sie anklingen und anschwellen. Farbe und Licht dagegen treten nicht ein, kommen nicht, sie gehen nur an einer bestimmten Stelle an und aus, an der ansonsten etwas anderes zu sehen wäre, und sei es nur Dunkelheit. Der Klang aber, der »kommt«, beginnt, den Ort, an den er kommt, erst herzustellen. Wo nichts klingt, ist kein Klangraum, auch kein leerer. Aus diesem Grund kann man sagen, daß die klangliche Bewegung – jetzt unter dem elementaren Aspekt ihres Dahinklingens betrachtet – den musikalischen Raum erst hervorbringt und dieser insofern grundsätzlich vom physikalischen oder Dingraum getrennt ist. Klang ist also, indem er selbst voluminös ist, raumbildend und raumfüllend, wobei er aufgrund seiner Tonhöhe eine Lage einnimmt. Zeitliche Veränderungen an Klängen müssen, weil diese genau so bestimmt sind, zugleich als Bewegungen der Klänge im Raum verstanden werden, nämlich als An- und Abschwellen, als An- und Abstieg. Klänge sind also nicht dadurch ausreichend charakterisiert, daß man auf ihre Zeitlichkeit hinweist, sondern man muß ihr Volumen als wesentliche Bestimmung ihres Verhaltens zur Zeit berücksichtigen. Dann aber ist es erforderlich, die Erfahrung von Klängen nicht nur als die Koordination einer reinen Sukzession mit einer rein kognitiven Zeitvorstellung zu beschreiben, sondern als eine Erfahrung, die die material-apriorische Bestimmung des Volumens in sich aufnimmt; dazu gleich mehr. Wer einen farb-musikalischen Film machen will, übersieht diese doppelte Bestimmung und »glaubt, daß die Musik ihr von allem Gegenständlichen losgelöstes Spiel nur durch die Bewegung in der Zeit, das heißt durch die Abfolge der Klänge erreicht. Er sieht nicht, daß diese Abfolge im Wesen des Schalls motiviert ist, daß seine Geschwelltheit im Hallen eine Andauer ausfüllt und ebenso, wie zu seiner Erzeugung fortdauernde Impulse nötig sind, auch seine Wahrnehmung ein gewisses Maß von Zeitdauer erfordert.« Dagegen »ist jede Bewegung, jede Abfolge Farbdaten gegenüber äußerlich und im Wesen des optischen Stoffs nicht motiviert.« (GS III, S. 254)

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Die ästhesiologische Differenz des Hörens von Klängen

Dem Impulswert widmet Plessner keine ausführliche Diskussion, da er zu finden scheint, ihn durch die allgemeine Darlegung der Voluminosität begründet zu haben. Im Vorbeigehen sei jedoch eine Bemerkung hierzu gemacht. Der Impuls im Klang setzt voraus, daß dieser eine Intensität hat. Interessant im Rahmen der bisher angestellten Differenzierung ist die ausführliche und Plessner sicherlich geläufige Diskussion Carl Stumpfs zu der Frage, ob Farben Intensität zukommen könne. 17 Auf den ersten Blick scheint es einfach, diese Frage zu bejahen. Zahlreiche Komplikationen ergeben sich jedoch, wenn man die scheinbare Intensität einer Farbe mit anderen ihrer Attribute in Zusammenhang bringt. Teilweise scheint Intensität mit der Helligkeit des Lichtes zusammenzufallen; dies gilt jedoch vor allem für weißes Licht. In anderer Hinsicht, nämlich betreffs der Farbigkeit oder Sättigung, ist es dagegen sinnvoll, auch eine an sich lichtarme Farbe – so wie Ultramarin – als intensiv bezeichnen zu können, weil sie einfach stark farbig und nicht sehr durch Grau oder Weiß getrübt ist. Zusammenfassend meint Stumpf (1917, S. 78), es sei »überhaupt nicht zu erwarten, daß die Notwendigkeit der Heranziehung des Intensitätsbegriffs […] sich jedem ohne weiteres unwiderstehlich aufdringen müßte.« Ist Intensität aber auf Helligkeit reduzierbar, so qualifiziert dies einen entsprechenden Lichtimpuls eben als Helligkeitsimpuls, nicht hingegen als Impuls einer Intensität, die gerade nicht für die optische Modalität spezifisch, sondern Intensität tout court wäre.

h.2. Die ästhesiologische Differenz des Hörens von Klängen Man kann fragen, welche Art von Attribut das Volumen der Klänge und seine Ausgestaltungen in Lagen und Impulse sind. Könnte man unabhängig von einer Beziehung auf ein wahrnehmendes Subjekt von ihnen sprechen, so wie man von den Größen eines Körpers im Raum sprechen kann? Dies wäre unvorsichtig. Man hätte damit den Zusammenhang von Plessners Untersuchung verlassen, die ja weder Physik noch Physiologie noch Psychologie im Sinne einer an naturwissenschaftlicher Empirie orientierten Disziplin ist, sondern ein »Versuch einer Strukturtheorie der menschlichen Person, und zwar zunächst ihrer Fundamentalbeziehungen zur Umwelt« (GS III, 17

Stumpf 1917, v. a. S. 31–50 und S. 72–80.

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

S. 20). Sie betrifft somit nicht physikalische Materie, sondern »die Sinnesqualitäten«, die »die möglichen Modi der Materie sind«, als solche Modi jedoch »Entsprechungen, wahre Gegenbilder des Existenztypus der menschlichen Person.« (ebd.,S. 21) In diesen Rahmen gehören die material-apriorischen Feststellungen. Sie betreffen den Klang nicht als Luftschwingung, sondern als Gegenstand der Wahrnehmung. Auf die Besonderheiten der Hörwahrnehmung und des Bezugs von Subjekten zu Klängen muß man also eingehen, um deren raumhafte Gestalten und Bewegungen nicht im Leeren hängen zu lassen, was nach Plessner geschieht, wenn man sie nur »in der Projektion auf die Bewußtseinsebene« (ebd., S. 358), abstrahiert von den leiblich-sinnlichen Bedingungen ihrer Wahrnehmung, betrachtet. Wie bereits angedeutet, soll der Klang aufgrund seiner Stofflichkeit in »Akkordanz« mit der Leibeshaltung stehen können. Näher an der im vorigen Kapitel eingeführten Redeweise heißt das, daß der Klang nachvollziehbar ist, und zwar nicht allein deshalb, weil er in der Zeit vergeht und wir ein kognitives Vermögen benötigen, um die in der Zeit vergehenden Klänge zu Zeitgestalten zusammenzufassen, sondern deshalb, weil sein Volumen, indem es »eindringlich« 18 ist, in einen besonderen Zusammenhang mit dem leiblichen Nachvollzug eintritt. Dieser ist weder ein Reflex noch eine bloße Reaktion, sondern wird durch den Klang motiviert: Klänge appellieren gewissermaßen an die Leibeshaltung. Versuchen wir zuerst, das Appellative oder Eindringliche des Klanges zu verstehen, bevor wir fragen, wie genau die leiblichen Haltungen oder Verhaltensweisen zu begreifen sind, auf die Plessner einen beträchtlichen Teil seines Arguments über das Verstehen von Musik stützt (hierzu Kap. k.). Daß Klänge eindringen, ist eine leicht verständliche Phänomenbeschreibung, die Plessner jedoch differenziert. Sie korreliert der Tatsache, daß Klänge dem Subjekt nicht als beharrende Objekte gegenüberstehen, aber auch keine bloß subjektive Reizung wie etwa ein Stich oder ein Druck sind. Indem sie als vorübergehende Quasi-Objekte – als substanzielle Zeitverläufe – aufgefaßt werden, die eine eigene Raumhaftigkeit haben, und zugleich als Impuls, der die Motorik ansteckt, besitzen sie »Fern-Nähe« (GS VII, S. 187). »Fern-Nähe« ist genauer so zu verstehen, daß die beiden Pole des »Fernen«, Objekthaften und des »Nahen«, Leiblich-Affektiven, ineinander aufgehoben sind. Die quasi-objektiven Attribute Volumen 18

Vgl. GS III, S. 344 f.; GS VII, S. 187.

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Die ästhesiologische Differenz des Hörens von Klängen

und Bewegung sind das, was sie in der Klangwahrnehmung sind, indem sie ein Subjekt leiblich affizieren oder in es eindringen. Eindringlichkeit ist die Weise des Subjektbezuges von Klangvolumen und Klangbewegung. Sie »ist ein Strukturmerkmal des akustischen Modus« (GS III, S. 345). Volumen und Bewegung sind umgekehrt die Weisen, wie die Eindringlichkeit im Hören Gestalt gewinnt. Sie sind also in der Klangwahrnehmung als ganzer nicht nur (quasi-)objektive Beschreibungen, sondern beziehen sich zugleich darauf, wie ein Subjekt von ihnen betroffen wird: Sie sind Volumina und Bewegungen, die ›im‹ Subjekt miterlebt werden. In Plessners Worten: »Töne [wirken] nicht nur als erregend durchdringende Anstöße, sondern als selbständige Gebilde, welche die Unbeteiligtheit des gegenständlichen Gegenüber mit der Mitgenommenheit des zuständlichen Hier verschmolzen haben.« (GS VII, S. 190)

Eine Begründung für diese Verschränkung zwischen gegenstandsorientierten und leibbezogenen Aspekten sucht Plessner im Begriff der »akustomotorischen Einheit«, die am deutlichsten in der Tatsache erfahrbar wird, daß der Mensch Laute hervorbringt 19 : »Wenn der Mensch im Ruf, Jubel, Schmerzensschrei sich Luft macht, erfährt er die akustomotorische Einheit als einen in sich geschlossenen Vorgang. Der Laut kehrt zum Ohr zurück. Wir hören unsere eigene Stimme.« (GS III, S. 345)

Plessner spricht anschließend an, daß dieser in sich geschlossene Kreis dazu beiträgt, daß der im weiteren Sinne motorische Vorgang des Rufens, Redens oder Schreiens keine emergente Zuckung unseres auf irgendeine Weise bewegten Leibes ist, sondern eine Möglichkeit der Äußerung und Vergegenständlichung und damit des Ausdrucks (vgl. ebd., S. 346): Wir nehmen wahr, was wir hervorbringen und hervorbringend spüren – als Hauch des Flüsterns oder Spannung und zugleich Entlastung des Schreis –, wobei die Aspekte der Gegenständlichkeit und der Zuständlichkeit ineinander aufgehoben sind. »Als tönender Leib […] gibt er dem Besitzer erst diejenige Distanz in diesem und zu diesem Verhältnis, die der Begriff ›mein‹ Leib fordert. Das Außersichsein, welches echte Vergegenständlichung des eigenen Leibes ohne

Deutlich sind auch die Tatsachen, daß der Mensch sich zu Rhythmen bewegen oder Melodien in passenden Gesten nachvollziehen kann; aber diese Tatsachen gilt es ja gerade zu erklären.

19

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Verfälschung und Verleugnung seiner zuständlichen Gegebenheitsweise in Anspruch nimmt […], dokumentiert sich selbst, kommt sinnlich zu eigener Erfüllung in der Erzeugung (und dann auch einer geregelten) von Lauten.« (GS VII, S. 188)

Wir sind »im Tonbereich produktiv und rezeptiv zugleich«. Diese »Zweiseitigkeit« versteht Plessner als »Grundphänomen« der »akustische[n] Modalität«. 20 Genauer betrachtet prägt sich die rezeptiv-produktive Zweiseitigkeit in den Attributen des Klanges aus: in der Intensität bzw. Schwellfähigkeit oder Volumen ebenso wie in der Höhen- oder Tiefenlage. Das Volumen und die Intensität, die wir einem Klang geben, wenn wir ihn singen oder rufen, stehen unmittelbar mit der Intensität in Zusammenhang, die in dem entsprechenden leiblichen Akt empfunden wird. Die Höhen und Tiefen der Klänge stehen zudem in einer »prägnanten Lagebeziehung« zum Leib, indem sie, grob gesagt, der Brust- oder Kopfstimme zugeordnet und näherhin als Stufen einer Tonleiter in der Vertikalen des Leibes vorgestellt werden können. Plessner nimmt darum an, »daß jeder Ton, gleichgültig, wie er hervorgerufen wird, der menschlichen Stimme äquivalent ist (ob er auch vielleicht in dieser Klangfarbe, Intensität und Lage nie wirklich von irgendeinem Menschen gesungen werden könnte).« (GS III, S. 233)

Damit sagt er (diese Begründung ist nicht deutlich ausgedrückt und aus der Einheit der Sinne etwas mühsam herauszupräparieren), daß wir dadurch, daß wir unsere Stimme und ihre klingenden Produkte erleben, Klänge als voluminös, als schwellfähig und als lagewertig wahrnehmen können; weil hiermit Impulswerte verknüpft sind, ist nicht zuletzt begründet, daß wir in Klängen eine Kraft hören. Liest man genau, so schreibt Plessner dem Klang das Volumen ganz objektiv zu, aber zu diesen objektiven Qualitäten haben wir nur kraft unseres Vermögens zur Klangerzeugung Zugang und wären sonst taub für sie. »Nicht weil wir Laute und Klänge stimmlich erzeugen können […], haben wir die Möglichkeit zur Musik, sondern weil wir an unserer Stimme eine akustische Ausdrucksweise haben und die ganze Welt der Töne auf dem stimmerzeugenden Körper nach seinen verschiedenen Haltungen in den

20

GS III, S. 349 f.; vgl. S. 358 = GS VII, S. 468; S. 186–188.

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einzelnen Lagen abtragbar ist. Auf dem Was des akustischen Stoffs liegt der Nachdruck.« (ebd., S. 234)

Subjektive und objektive Aspekte zu unterscheiden ist von einem populären Verständnis dieser Begriffe aus in der Einheit der Sinne eine vertrackte Angelegenheit, denn objektiv heißt dort, den Begriff »objektiv« schlüssig ausdeutend, gerade etwas, das subjektbezogen ist 21 : »Nach unserer Theorie gehören […] die Sinnesqualitäten gerade vermöge ihrer Totalrelativität auf die Einheit der Person […] zum objektiven Sein der Dinge, wenn auch freilich nicht zu ihrem absoluten Sein […]. Die Einheit der Person […] ist auf diese Weise ein Index für die Objektivität der sinnlichen Grundeigenschaften der erscheinenden Welt.« (GS III, S. 21; vgl. auch S. 323)

Der Zusammenhang zwischen den stimmlichen Möglichkeiten und den Attributen des Klanges ist Plessner zufolge kein »psychologische[r] Befund«, der bestimmte Assoziationen feststellt, sondern eine »ästhesiologische Bedingung« (vgl.ebd., S. 235). Das, was hier bedingt wird, ist die Akkordanz der Klanggestalten zur Leibeshaltung, die sichtbar darin resultiert, daß musikalische Bewegung in leiblichen Bewegungen ausgedeutet werden oder in ihnen eine »Adäquation« finden kann. Als Beispiele solcher Bewegungen nennt Plessner den Tanz und das Dirigieren, wenn man es nicht nur als Taktschlag, sondern als eine interpretierende oder nachzeichnende Bewegung begreift. In diesen beiden Beispielen erschöpft sich die Akkordanz jedoch nicht; sie sind lediglich ein Hinweis darauf, wie wir sie faktisch vielerorts antreffen. Bevor ich genauer auf weitere Weisen der Akkordanz eingehe und nach ihrer allgemeinen Bestimmung frage, ist es nützlich, wiederum die Unterschiede zu betrachten, die Plessner zwischen dem Nachvollzug der Musik und anderweitigen Arten, sich mit etwas mitzubewegen, hervorhebt. Diese klassifiziert er insgesamt als Reaktionen oder als Anpassungen. Darunter fallen zuerst einfache emotionale Reaktionen und die damit verbundenen Ausdrucksbewegungen des Erschreckens, der Überraschung u. dgl. über einen Vorfall, der uns entweder bloß physiologisch betrifft (wie ein Knall) oder den wir als einen Sinnzusammenhang verstehen, beispielsweise als einen Glücks- oder Unglücksfall. Ferner treffen wir auf »psychische Ansteckung«, etwa daß man Als Kontrast zu Plessners Darlegung des Subjektbezuges lese man die Diskussion in j.3.

21

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zu lachen beginnt, wenn auch andere lachen. Drittens – hier wird die Unterscheidung subtiler – schreibt Plessner, terminologisch uneinheitlich, von »Reaktion durch Mitvollzug der Akte« oder durch »Identifikation« und gibt dafür etliche kurze Beispiele. Im einen Fall ist man selbst von einer Bewegungsvorstellung eingenommen: »Wenn ich auf dem Film fortdauernd sich auf mich zubewegende Schienen sehe, so gerate ich in den entsprechenden Bewegungszustand […]. Unwillkürlich lehne ich mich fester an die Rückwand meines Stuhles.« Im anderen Fall identifiziert man sich – oft ebenso unwillkürlich – mit der Bewegung einer anderen Person, etwa eines Seiltänzers oder eines »Dachdecker[s] in exponierter Lage«, so daß die Anspannung und das Kribbeln über die Höhenlage auf einen selbst überspringt. In allen Fällen ist die Bewegung nicht selbst ein Element des Verstehens oder der Deutung, sondern, wenn sie nicht pure physiologische Reaktion ist, eine »Begleiterscheinung« eines Verstehens, das sich an einer anderen Stelle als im Nachvollzug ereignet, nämlich in der Schicht der Sprache und der Handlung. Wir verstehen eine sprachliche oder auch vorsprachliche Mitteilung und gehen auf sie ein; oder wir verstehen einen Vorgang als eine gewisse Handlung oder Situation. Selbst im Fall des Dachdeckers und Seiltänzers kann dies angenommen werden: wir müssen selbst ein leibliches, verhaltensmäßiges Vorverständnis von der Situation der Höhenlage haben, das wir für die Situation des Dachdeckers in Anschlag bringen und auf dem die Reaktion der unwillkürlichen Identifikation basiert. Oder aber wir ahmen etwas nach und vollziehen es mit, weil wir es gerade nicht verstehen und aus lauter Verständnislosigkeit eben mitmachen. 22 Hierunter fällt nach Plessner auch der bloß zählende Nachvollzug eines Rhythmus oder Taktes: »der bloße Takt […] ist sinnfrei und gestattet nur eine Anpassung an die Rhythmusgestalt, an die gewissermaßen chronometrische Gliederung […]. Einfach den Takt schlagen wie der Metronom, ergibt keine innere verständliche Verbindung zum musikalischen Sinn.« (ebd., S. 225)

Aus diesen Abgrenzungen kann man zwei Bedingungen für die Akkordanz herausarbeiten. Die leibliche Bewegung bzw. deren Vorstellung darf keine bloße Reaktion sein, sondern muß mit der Musik im Hinblick auf deren Form übereinstimmen. Zweitens aber muß die leibliche Bewegung selbst – anders als das bloße Mitklopfen eines 22

Zitate in den vorangegangenen zwei Absätzen aus GS III, S. 222–225.

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Rhythmus – sinnvoll oder verständlich sein. Dies ist für Plessner der Fall, wenn wir sie als Ausdrucksbewegung begreifen können. Solche findet er in bestimmten Formen des Tanzens und des Dirigierens umgesetzt. Sie sind erweiterte Formen der Gestik, so verstanden, daß der gesamte Leib in seiner Haltung ›gestikuliert‹. Beide Bedingungen können wir in Plessners Formulierung wiederfinden, die der Musik akkordante Bewegung sei »angleichend-ausdeutend« (GS VII, S. 196). Dies heißt nicht, daß tatsächliches Gestikulieren und Mitschwingen eine Bedingung dafür sei, Musik zu verstehen. Wieder haben wir es mit einer notwendigen Möglichkeit zu tun, nämlich einer »Einfügbarkeit der körperlichen Haltung in die Formen der Musik« (GS III, S. 236; Hervorhebung Th. D.). Es muß möglich sein, den Leib durch die Musik bestimmt sein zu lassen. Es übertrifft aber die Möglichkeiten des Leibes, diese Bestimmung in allen Fällen tatsächlich zu realisieren. Die Musik hat jenen Möglichkeiten gegenüber einen Überschuß (hierzu genauer k.8.–9.). Diese Einsicht ist in der Einheit der Sinne, in der etwa behauptet wird, durch die sichtbare Geste käme es erst zur ›Erfüllung‹ des Ausdruckssinnes (GS III, S. 243 f.), weniger deutlich formuliert als in späteren Texten. In dem Aufsatz »Zur Anthropologie der Musik« lesen wir eine treffendere Analyse: »Je innerlicher und tiefer eine Musik ist, […] desto peinlicher wirkt der Versuch, sie in tänzerischer Gebärde auszudrücken. Der reale ›Ausdruck‹ degradiert das symbolische Zu-verstehen-Geben der tönenden Linien zur Allegorie, als handelte es sich um eine seelische oder geistige Intention, die […] den Leib braucht, um wirklich zur Erfüllung zu kommen. Er vergröbert den Sinngehalt, nimmt ihm das schwebend Mehrdeutige, die Offenheit ins noch verborgene Ende und leitet auf eine zu direkte Art die Spannung ab, die ihre Lösung in der ›Fläche‹ des Hörens und Verstehens, nicht aber in realer Motorik finden will.« (GS VII, S. 196)

Ferner betont Plessner die Spannung zwischen der »Mitgenommenheit« durch die evozierte Bewegung und dem »einfachen Zuhören«. Er schreibt in diesem Sinne weiter: Die Richtungen und Ordnungen der musikalischen Bewegung »entfalten sich also zwar im Hinblick auf (dem Klang entsprechend müßte man genauer sagen: im Appell an) die Schicht des Verhaltens, geben aber zu verstehen, daß ihren Impulsen nicht direkt motorische Folge geleistet werden kann. Musik bedeutet dem Leib, seine von ihr geweckte und angesprochene Motorik zu unterlassen und die Lösung der durch sie gesetzten dyna-

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mischen (bisweil emotional-expressiven) Spannungen den Klanggebilden selbst zu überlassen. Ihr Spiel untereinander steht für das Spiel mit uns.« (ebd., S. 198)

Im Begriff des Nachvollzugs eröffnen sich damit zwei Aspekte: einerseits, daß das nachvollziehende Subjekt im Vollzug (hier der Bewegungsvorstellung) ist; andererseits aber, daß es, um ganz wörtlich zu sein, nach dem Vollzug ist und ihn verfolgt und betrachtet. Sein eigener Vollzug wird ihm gegenständlich. Bisher haben wir uns an den ersten Aspekt gehalten, denn er gibt den Stoff für dasjenige, dem wir beobachtend und reflektierend folgen. Den zweiten Aspekt auszuarbeiten erfordert noch einige begriffliche Vorarbeit; vollständig greife ich ihn in k.9. und l. wieder auf. Das tatsächlich in Gesten geäußerte Verstehen trivialisiert die Musik in manchen Fällen und verfehlt sie in anderen ganz. Es gibt Musik, die ausdruckslos erscheint, weil wir sie am ehesten in »ausdrucksindifferenten Formen der Motorik, die beim Gehen, beim unallegorischen Tanzen […] auftreten«, nachvollziehen (ebd., S. 197). Solche Musik nannte man in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts häufig »Spielmusik«, mit dem Beiklang, daß es sich nicht um Musik handelt, die etwas in einem stärkeren Sinne ausdrücken oder mitteilen wolle, sondern die nur gespielt wird, beispielsweise als Hausmusik, als Begleitung für gesellige Anlässe, als Übung oder als Schaustellung von besonderer Geschicklichkeit. 23 Und wenn Kritisch referiert wird die Entgegensetzung von Spiel- und »Ausdrucksmusik« bei Albert Wellek (1963, S. 204–208; S. 254). Da Wellek annimmt, es gebe keine Musik ohne »gefühlsmäßige und physiognomische Wirkungen« (ebd., S. 274), bestreitet er, daß diese Entgegensetzung streng als Entgegensetzung zwischen ausdruckshaltiger und ausdrucksloser Musik verstanden werden dürfe. Seine Begründung hierfür scheint Plessners Gedanken ähnlich zu sein, nur ist dessen Theorie von der Eindringlichkeit und Nachvollziehbarkeit des Klanges vorsichtiger, indem in ihr die Rede vom »Gefühl«, die für Wellek wichtig ist, zurückgestellt ist. »Gefühl« ist ein riskanter Terminus: Einerseits ist es bei Wellek »definiert als die umgreifende Totalqualität des jeweiligen Erlebnisinsgesamt« (ebd., S. 204); andererseits schleicht sich ein normatives Verständnis des Wortes ein, wenn die Anwesenheit oder der an dieser Stelle weder begründete noch begründbare »Grad« jener »Totalqualität« dafür verantwortlich gemacht wird, daß eine musikalische Gestalt, die einen Erlebnisgehalt vermittelt, mehr oder weniger »tief« sei und darum mehr oder weniger »ästhetischen Wert« trage (ebd., S. 196). Die »gefühlsmäßige« »Totalqualität« der Spielmusik sei relativ flach und erlaube ihr nur minderen ästhetischen Wert. Sie sei eben »unlebendig, unvital. Denn Leben ist Ausdruck und Ausdruck ist Leben.« (ebd., S. 208) Das Problem liegt in der Kopplung von »Ausdruck« und »Leben« mit einem nicht hinterfragten Vorbegriff von scheinbar unmittelbar erlebter Gefühlsintensität. Gerade diese

23

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Übergang zu Haltung, Verhalten und Ausdruck

Plessner schreibt, daß »nur still vor sich hinblickendes Sinnieren, das ins Unendliche dringende Auge« die Verhaltensweisen seien, die für den Nachvollzug von »Palestrina und Buxtehude« in Frage kämen (GS III, S. 242), so ist darauf verwiesen, daß nicht nur die Raumhaftigkeit der leiblichen Bewegung, sondern auch ein Vorstellungsraum, in dem man betrachtend-hörend stillsteht, zu den wichtigen Weisen gehört, in denen wir musikalischen Raum und die Bewegung der Musik in diesem Raum vorstellen. In allen Fällen gelten aber zwei Grundgedanken: Erstens können wir musikalische Bewegung nur hören, weil »Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung« vorliegt. Diese ist »im strengsten Sinne die allgemeine Voraussetzung zum Verständnis und zum Ausdruck musikalischer Gehalte, sie ist ganz eigentlich die Bedingung der Möglichkeit der Musik schlechthin.« (ebd., S. 236) Die Akkordanz ist nicht nur eine Bedingung materieller Art, die das Gehörte nicht weiter mit formt (so wie das Auge als Sehorgan zwar die Sehtätigkeit bedingt, aber nicht dem Gesehenen seine Form aufprägt), sondern sie ist eine ästhesiologische Bedingung. Dem Wortsinn von »ästhesiologisch« folgend heißt das, daß sie die Sinngehalte bedingt, die in der Wahrnehmung auftreten können. Zweitens nimmt Plessner an, daß das subjektseitige Glied der Akkordanz die »Haltung« ist. Dieser in der Einheit der Sinne zentrale Terminus wird wenig später präziser gefaßt, wenn Plessner schreibt, Musik könne nachvollzogen und verstanden werden, weil sie mit der »Schicht des Verhaltens und Benehmens« vermittelt sei (GS VII, S. 197). Wenn dies so ist, können wir als Zwischenergebnis feststellen: Der musikalische Raum ist in der Tat kein physikalischer Raum, wie ja bereits die erste Darlegung der Grundsätze der musikalischen Eigenform ergeben hat; aber er ist mit einer Räumlichkeit verknüpft, in der wir leibliche Bewegungen erfahren. So ist er ein Nachvollzugsraum.

h.3. Übergang zu Haltung, Verhalten und Ausdruck Diesem zweiten Gedanken, daß Musik in Akkordanz zu Haltung oder Verhalten steht, müssen wir uns zuwenden, da er aufschließt, was Kopplung darf nicht vorausgesetzt werden. Mit Plessner können wir Ausdruck und Ausdruckssinn auf alternative Weise bestimmen (Kap. k.).

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Helmuth Plessners Ästhesiologie des Klanges

nach Plessner als jener musikalische Sinn zu verstehen ist, den wir im akkordanten Nachvollzug erfahren. Dieser Gedanke ist nicht auf enge Weise zu verstehen, nämlich so, daß wir Musik in Verhaltensweisen übersetzen müßten, sondern er nimmt an, daß Verhaltensweisen uns als lebensweltlich primäre Vorgänge zu grundlegenden, formal herauszuarbeitenden Verstehensweisen weiterleiten, die in der Musik eigentümlich oder sogar »rein« ausgestaltet sind. Im Umgang mit Verhalten und Haltung zeigt sich ein methodisch zentraler Gedanke Plessners. Er versucht, Thesen über Sinn und Verstehen in Überlegungen zum Verhalten zu fundieren. Verstehen gibt es zuallererst als das Verstehen von Verhalten. Es ist offensichtlich und sei nur zur Vermeidung der Ablenkung durch eine später entstandene Terminologie deutlich gesagt, daß der hier gebrauchte Begriff von Verhalten nichts mit jenem zu tun hat, den ein cartesianischer Behaviorismus erfand. Ein solcher Behaviorismus bildet den stillschweigend angenommenen Hintergrund der Theorien des Ausdrucks, die ich in Kap. j. untersuche. Beispielsweise für Alan Tormey, der mit seinem Büchlein The Concept of Expression einen wichtigen Ausgangspunkt für diese Theorien hervorgebracht hat, kommt Plessners Ansatz, Verhalten als intrinsisch sinnvoll und verständlich zu begreifen, von vornherein nicht in Frage, denn – hier auf das gleich anzusprechende Ausdrucksverhalten bezogen – »there is nothing intrinsic to behavior which marks it as unmistakably expressive – nothing, that is, which identifies it as an expression of ϕ« (Tormey 1971, S. 51). Verhalten zu verstehen bedeutet hier, durch es hindurch einen ›inneren‹ Zustand identifizieren zu können, beispielsweise epistemische oder affektive Zustände (»beliefs« und »emotions«). Der Begriff des Verhaltens und des Ausdrucks geht entsprechend mit einer Trennung zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ einher. Dagegen geht Plessner davon aus, daß Verhalten nicht etwas ist, das man mißt und registriert, sondern zuallererst etwas, das man versteht. Und es ist das Allererste, das man versteht. Darum ist eine Untersuchung des Verhaltens nicht eine Folge aus einer schon bereitgestellten Theorie der Emotionen, Absichten oder Wünsche, sondern deren Ausgangspunkt, sofern sie eine Untersuchung des Menschen im Ganzen und nicht von isolierten Aspekten sein will (vgl. Plessner, GS VII, S. 214 f.). Entsprechend können folgende Sätze aus Lachen und Weinen als Plessners Grundannahme über die Methode aller Geistes- und Kulturwissenschaft gelten: 178 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Übergang zu Haltung, Verhalten und Ausdruck

»Als Ganzer ist uns der Mensch, d. h. der Mitmensch, und sind wir uns selber zugänglich im Konnex des Verhaltens, des Umgangs mit unseresgleichen und der Umwelt. In diesem Konnex leben wir, von ihm leben wir, er ist die (geschichtlich freilich variabel geformte) Basis aller Erfahrung.« (GS VII, S. 223 f.; Hervorhebung Th. D.)

Vor diesem Hintergrund setzt Plessner, »daß die Haltungen des Leibes notwendig sinnvollen Charakter haben müssen« (GS III, S. 240). Diese These ist der Ausgangspunkt dafür, Plessners Theorie vom musikalischen Sinn zu erläutern. Die am wenigsten spezifische und nach Plessner fundamentale Art von Sinn in den Haltungen des Leibes trägt den Titel »Ausdruck«, so daß folgt: »Haltung besitzt in jedem Falle den Wert des Ausdrucks, auch wenn sie nicht ausdrucksmäßig motiviert ist« (ebd.) und wir auch sonst nichts weiter über die Motivation einer Haltung und Bewegung wissen. Es gibt also keine ausdrucksfreien Verhaltensweisen, sondern allenfalls solche, deren Ausdruckswert irrelevant für unsere jeweiligen Erkenntnis- und Handlungsinteressen ist. Um schärfer sehen zu können, wie zum einen die Eindringlichkeit und Fern-Nähe des Klanges nicht zu verstehen ist und welche Konturen zum anderen der an Plessner anschließende Begriff des Ausdrucks hat, schiebe ich die Diskussion von Theorien aus der ›analytischen‹ Ästhetik ein, die sich mit nahestehenden Problemen befassen.

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i. Affektive Wirkungen und Emotionen

i.1. Jenefer Robinson über physiologische Wirkungen, »affective appraisals« und Stimmungen Mit der Eindringlichkeit und der »Fern-Nähe« des Klanges ist ein vorbegrifflicher Zusammenhang zwischen den Klangereignissen der Musik und einer Bewegtheit des hörenden Subjekts behauptet, die man als ›innerliche‹ Bewegtheit auffassen könnte: als Gemütsbewegung. Gerade weil er vorbegrifflich und unreflektiert ist, hat dieser Zusammenhang in der musikästhetischen und philosophischen Literatur weniger eine tragende als eine problematische Rolle erlangt. Stattdessen hat er sich vor allem für die Psychologie als ergiebiges Forschungsfeld erwiesen. Im Bereich der Kunstphilosophie hat sich aber zuletzt Jenefer Robinson (2005; 2010) um den Versuch verdient gemacht, affektive Reaktionen auf Musik und andere Künste zu sortieren und auf mögliche Verknüpfungen mit deren Verstehen zu untersuchen. Sie vertritt die Ansicht, daß solche Reaktionen fundamental für unsere angemessene Erfahrung zumindest wichtiger Gruppen von Kunstwerken sind, ohne die Grenzen und problematischen Aspekte dieser Reaktionen zu vernachlässigen. In der ›analytischen‹ Ästhetik ist es üblich, den Zusammenhang zwischen Kunst und affektiven Reaktionen aus der Perspektive von bereits etablierten Theorien über die letzteren zu betrachten. Sie gehen zumeist von alltagsweltlichen affektiven Reaktionen aus. In ihrem Zentrum steht der Begriff der Emotion; andere Typen von Reaktionen, beispielsweise Stimmungen, werden dann zumeist gegen den jeweils angenommenen Emotionsbegriff abgegrenzt. Robinson arbeitet damit, auf die Erfahrung der Musik aus einer Perspektive zu schauen, die kognitivistische Erklärungen der Emotionen ablehnt. Ihnen zufolge basieren Emotionen, grob gesprochen, auf Bewertungen von Gegenständen und Situationen; der affektive Aspekt der Emotion – wie sie uns aufwühlt oder sich anfühlt – soll

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Jenefer Robinson über physiologische Wirkungen

dabei auf die kognitiv verstandene Bewertung folgen, aber er müßte es prinzipiell nicht einmal. Hiergegen folgt Robinson einer »affective appraisal«-Theorie, von der in den letzten Jahren zahlreiche Varianten entstanden sind. 1 Grundsätzlich gilt in dieser Gruppe von Theorien die Annahme, daß die Bewertungen, aus denen Emotionen bestehen oder die ihnen zumindest zugrundeliegen, keine im Denken hervorgegangenen Urteile, sondern genuin affektive Bewertungen sind, die aus der Wahrnehmung und einem leiblich verfaßten Sinn für Bedeutsamkeit entspringen. Robinson stellt dabei fest, daß keineswegs Einigkeit darüber besteht, wie die Grenze zwischen Affekt und Kognition zu ziehen ist, und bescheidet sich einerseits mit einer neurologischen Ortsbestimmung – »using the term ›cognition‹ only when we are talking about processes localized in the neo-cortex« – und andererseits mit einer relativen Abgrenzung: Prozesse sind »non-cognitive«, wenn »they occur without any conscious deliberation or awareness« und »they do not involve any complex information processing.« (Robinson 2005, S. 45) Man mag einwenden, daß diese Abgrenzung in begrifflicher Hinsicht unscharf ist. Der Hinweis auf den un- oder unterbewußten Ablauf dieser Prozesse ist jedoch ausreichend, um ihre Rolle beim Hören und Verstehen von Musik zu umschreiben. Unter den affektiven Bewertungen werden zwei Gruppen danach unterschieden, ob sie mehr oder weniger fokussiert sind. So trennt man solche, die sich auf ein gegenwärtiges Ereignis, eine Handlung o. ä. richten, von solchen, die den Weltbezug einer Person global betreffen. 2 Letztere bezeichnet man häufig als »Stimmungen«. Beide Gruppen spielen in Robinsons Überlegungen zur affektiven Wirkung der Musik eine wichtige Rolle. Ihre allgemeine Bestimmung der »affective appraisals« ist vornehmlich in Bezug auf die lokal fokussierten Reaktionen zu verstehen: »[…] an affective appraisal […] concerns those things that matter to the organism and […] occurs very fast, automatically, and below the threshold of awareness. This affective appraisal is non-cognitive in that it occurs prior

Nach dem klassischen Vorläufer dieser Theorien, der in William James’ Principles of Psychology zu finden ist, diskutiert Robinson vor allem Studien von Richard Lazarus, Paul Ekman, Robert Zajonc und Joseph LeDoux. 2 Vgl. Robinson 2005, S. 392 f.; 2010, S. 660–663. 1

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to and independently of any cognitive evaluation. […] The affective or noncognitive appraisal causes physiological changes […].« (Robinson 2005, S. 41 f.)

Letztere wiederum führen auf eine Handlungstendenz und sind mitbestimmend für die Einschätzung, daß überhaupt ein emotionaler und nicht ein bloß kognitiv-evaluativer Prozeß vorliegt. Dies gehört zum Kern der antikognitivistischen Emotionstheorie: »In my terms, an emotion process is always triggered by a non-cognitive affective appraisal. We would not call a process emotional unless there were such an appraisal to trigger the emotional (physiological) responses and associated action tendencies.« (ebd., S. 77)

Beispiele für solche »affective appraisals« sind das Erschrecken, das Erschauern oder die Entzückung über einen bereits vorbewußt als solchen bewerteten Erfolg. Robinson ist freilich weit davon entfernt, zu behaupten, eine Emotion erschöpfe sich in derartigen Reaktionen, die sie selbst als »quick and dirty« (ebd., S. 50 und 58) bezeichnet. Eine Emotion sei vielmehr als Prozeß zu verstehen, der im weiteren Verlauf auf Überlegungen und Neubewertungen führe, aber jedenfalls durch eine unterbewußte affektive Reaktion ausgelöst sein müsse. Für Stimmungen (»moods«) ist der Aspekt der Einschätzung einer Situation weniger bestimmend. Er kann eine Rolle spielen, »as when I get into a gloomy mood after learning that my lover has deserted me«, ist aber nicht die einzige mögliche Quelle für eine Stimmung: »Notoriously I can get into a sad or happy mood by imbibing an appropriate chemical compound, by lack of sleep, or because of general facts about the environment such as the time of day or the season of the year.« (Robinson 2010, S. 660 f.)

Daß hier Medikamente und Schlafmangel genannt werden, weist auf einen nach Robinson wichtigen Aspekt der »Stimmungen« hin, nämlich darauf, daß sie mit physiologischen Zuständen einhergehen und auf sie verweisen, »indicat[ing] ›the overall state of the organism‹« (ebd., S. 663; Noël Carroll zitierend). Wie kommt Musik nun dazu, derartige Wirkungen auszulösen? Und was sagen diese Wirkungen, wenn sie so beschrieben sind, uns über die Musik? Die erste Frage ist, wie erwähnt, eines der beliebtesten Forschungsfelder der Musikpsychologie, und Robinson zitiert eine große 182 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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Zahl von Versuchen und deren Interpretationen, die insgesamt zwei Quellen affektiver Wirkungen aufzeigen: die Überraschung oder Bestätigung der Erwartung, wie die Musik sich fortsetzen könnte, sowie Bewegungssuggestionen, die sie der Hörerin bietet. Auf den ersten Fall beziehen sich »affective appraisals«, auf den zweiten Stimmungen. Die lokaleren affektiven Bewertungen von Musik zeigen sich vor allem in der Gestalt von Spannung, Lösung, Überraschung oder Bestätigung. Sie sind »appraisals of match or mismatch« dessen, was wir hören, mit dem, was wir zu hören erwarten (ebd., S. 657). Leonard Meyer folgend bezieht Robinson diese Arten der erfüllten oder durchkreuzten Erwartung vor allem auf strukturelle Eigenschaften der Musik, insbesondere auf den tonalen Horizont, der dafür verantwortlich ist, daß bestimmte melodische und harmonische Fortführungen als besonders einfach und einleuchtend gehört werden. Modulationen, Trugschlüsse und andere Mittel der Harmonisierung führen in diesem Horizont zu Spannungen im Klangbild, die wir unreflektiert als aufregend, erstaunlich oder schlicht als unpassend und falsch empfinden können. Daß die Empfindung solcher strukturbedingter Spannungen zu den Reaktionen auf »things that matter to the organism« (Robinson 2005, S. 41) – wie Robinson ja die »affective appraisals« bestimmt hat – zählt, ist ein Anlaß zu fragen, warum ausgerechnet musikalische Ereignisse bedeutsam genug sein sollten, um einen Affekt auszulösen. Robinson löst dieses Rätsel auf, indem sie sagt, daß es sich bei solchen Affekten um einen »spin-off from a generally adaptive pattern of response« handelt. Dieses Muster sei »to respond in a similar way whenever our desires or expectations are thwarted« (Robinson 2010, S. 657), gleichgültig, ob die Erwartungen ihren Ort im ›wirklichen Leben‹ oder im ästhetischen oder fiktionalen Bereich haben. Welchen Gehalt kann man diesen Überraschungs- oder Spannungsgefühlen in musikalischer Hinsicht zubilligen? Robinson macht hierzu zwei Annahmen: erstens, daß sie notwendige Bedingungen für das affektive Erleben von Musik sind, weil es ohne sie überhaupt keine Emotion oder Affektion geben könne; zweitens: »If I am appropriately surprised, bewildered, relieved and so on by the unfolding musical structure, this constitutes musical understanding.« (ebd., S. 671) 3 Sowohl das affektive Erleben als auch das hörende Ver3

Robinson relativiert im folgenden diesen Satz und gibt andere, affektlose Formen

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ständnis musikalischer Struktur werden also an »affective appraisals« geknüpft. Robinson benennt klar das Grundproblem, daß die »affective appraisals« so beschrieben sind, daß sie für sich keinerlei Kenntnis der Musik verschaffen. Sie sind nicht erkenntnis- oder wahrnehmungsartig. Sie erregen unsere Aufmerksamkeit und lenken sie an einen bestimmten Punkt. Aber erst durch diese Aufmerksamkeit – das Hinhören und im folgenden auch das Nachdenken – richten wir uns im eigentlichen Sinne wahrnehmend und verstehend auf einen Gegenstand. Ohne sie sind wir lediglich Rezeptoren eines gegenständlich kaum bestimmten Reizes, der die Struktur der abstrakten Abweichung vom Erwarteten hat. Dabei wird nicht bewußt, was genau das Erwartete war und worin die Abweichung besteht. Die Grundlage dafür ist häufig struktureller Art: Die Musik ist so gemacht, daß sie die Hörerin, die mit dem jeweiligen Stil vertraut ist, dazu anleitet, bestimmte Sukzessionsbegriffe an sie anzulegen. Mit diesen Sukzessionsbegriffen spielt die Musik, indem sie verschiedene Arten von ungewöhnlichen Umsetzungen oder Abweichungen gebraucht. Um diesem Spiel verstehend zu folgen, ist es nicht nötig, »affective appraisals« zu erleben: es würde genügen, zu wissen, was erwartet werden soll. Wenn auf der anderen Seite tatsächlich »affective appraisals« einsetzen, ist unklar, was sie zu verstehen geben außer der abstrakten Überraschung. Erleben wir diese, so ist uns nicht klar, was genau ihr Grund gewesen ist – es sei denn, wir sind schon aufmerksam gewesen und können unabhängig vom Erlebnis der Überraschung etwas über den Verlauf der Musik sagen. Zur Unklarheit der Überraschung schreibt Robinson, daß die vom »affective appraisal« betroffenen Hörer sich in einer Verlegenheit befinden: »they feel a need to make sense out of and understand their state of arousal in the most appropriate way.« (Robinson 2005, S. 401) Dies führe einerseits zu dem Versuch, den Affekt in eine vertraute Kategorie zu ordnen, so daß die ›unsagbaren‹ Reaktionen auf die Musik als gewöhnliche Emotionen wie Freude, Trauer etc. benannt werden, und andererseits dazu,

strukturellen Verstehens zu. Diese stehen aber unter der Voraussetzung, daß sie nur dann der Musik angemessen sind, wenn die Musik gewissermaßen affektarm gemeint sei, zum Beispiel als ›Spielmusik‹ (vgl. h.2.). Daß manche musikalischen Sinngehalte affektive Reaktionen einfordern, andere nicht, scheint für Robinson quasi objektiv in der Musik zu liegen.

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einen Gegenstand zu erdichten – Robinson schreibt von »confabulation« (ebd., S. 403) –, auf den sich der Affekt bezieht. Dann aber sei zuzugeben, daß »this cognitive monitoring« – die dem Affekt folgende Überlegung, die in den vorliegenden Fällen vor allem konstruierend arbeitet – »may not result in much insight into the music.« (ebd., S. 466, Anm. 70) Denn es kann vieles als Ursprung des Affektes gelten: eine Assoziation an ein persönliches Erlebnis, ein musikimmanenter Vorgang harmonischer, melodischer, dynamischer oder anderweitig klanglicher Art, oder die auf ihnen beruhende Gelungenheit oder Schönheit der Musik, wie Peter Kivy behauptet (zu letzterem s. den folgenden Abschnitt). Für musikalisches Verstehen scheinen Affekte der beschriebenen Art also weder notwendig noch hinreichend zu sein. Sie sind ein Symptom dafür, daß Musik uns auf eine bestimmte Weise betrifft. Systematisch läßt sich aber wenig darüber sagen, welche Momente des Musikalischen oder auch des zur Musik Kontingenten für sie verantwortlich sind. Stimmungen bilden die zweite Gruppe affektiver Reaktionen. Eine naheliegende Quelle für sie sind Assoziationen, die entweder persönlicher Art sind oder mit symbolischen Gehalten der Musik zu tun haben, die man im Verlauf einer musikalischen Sozialisation erlernt. Von dieser Quelle sehen wir hier ab (vgl. dazu l.3.), denn verkürzt kann man sagen, daß hier die Assoziation und die symbolische Verknüpfung die Stimmung bewirken und nicht die Musik selbst (vgl. Robinson 2010, S. 654). Die Beschreibung, die Robinson davon gibt, wie wir durch die Musik selbst zu Stimmungen angeregt werden 4 , hat einen ähnlichen Bezugspunkt wie die ästhesiologische Analyse des Nachvollzuges der Klangqualitäten, darum ist es aufschlußreich, die signifikanten Abweichungen anzusehen. Nach Robinsons Beschreibung (2010, S. 663) entstehen Stimmungen vor allem als Reaktion auf den Charakter der Bewegung in der Musik, und zwar auf unterschwellig physiologischem Weg: Die Musik dringt in uns ein, wir gleichen uns dem Charakter ihrer Bewegung an und erfahren dadurch ein verändertes Gefühl unseres gesamten Zustandes, aber ausdrücklich nicht deshalb, weil wir etwas erkannt hätten – beispielsweise Ausdruck (2005, S. 397) –, sondern weil wir einem Mechanismus unterliegen, der »wholly or largely below the level of consciousness« wirkt (2010, S. 672). In dieser Hinsicht definiert es Stimmungen geradezu, daß sie nicht intentional 4

Vgl. Robinson 2005, S. 392–409; 2010, S. 660–668, 672 f.

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sind: »they are not directed at or about anything in particular.« (ebd., S. 660) Robinson versucht, für diese unterschwellig wirkenden Mechanismen eine Rolle für das Verständnis des Ausdrucks auch der Kunstmusik zu finden, indem sie annimmt, die in uns bewirkte Stimmung mache uns für genauer umschriebene, mit der Stimmung zusammenhängende Ausdrucksqualitäten empfänglicher, ähnlich wie man je nach Stimmung dazu neige, besonders viele Anzeichen für kommendes Unheil oder, im Gegenteil, fröhliche Aussichten in der Umgebung zu bemerken, z. B.: »it seems likely that the languorous mood induced in listeners by ›L’après-midi d’un faune‹ plays an important role in what we hear the music as expressing.« (ebd., S. 672 f.) Abgesehen von diesen Ansätzen, der Stimmung eine Rolle im musikalischen Verstehen zuzuschreiben, äußert Robinson völlig klar, daß »[i]n this respect music operates on mood much as recreational drugs do« (ebd., S. 667) und daß die stimmungsartige Reaktion auch auf »music in elevators or grocery stores« folgt, auf Musik also, die die Hörerin eher zum Ausgang flüchten läßt, wenn sie beginnt, ihr Aufmerksamkeit zu schenken (2005, S. 394). Diese Art von Stimmung, die unterschwellig in uns entsteht, ist nun unter einem soziologischen, psychologischen oder ökonomischen Gesichtspunkt eine wichtige Wirkung von Musik. Daß sie aber vorwiegend als Wirkung betrachtet wird, läßt ihre versuchsweise behauptete Rolle, Ausgangspunkt des Verstehens zu sein, gleich wieder in Zweifel ziehen, und so gesteht Robinson zu, daß »mood arousal mechanisms are not usually very important to the understanding and appreciation of great art music in the Western ›classical‹ tradition.« (2010, S. 673) Denn die Stimmung in den Vordergrund des Erlebnisses der Musik zu stellen, heißt auch, ihr gar nicht zuzuhören (ebd.). Wie die »affective appraisals« im engeren Sinne, von denen zuvor die Rede war, werfen die Stimmungen kein Licht auf die Musik, und zwar darum, weil sie als nicht-intentional definiert sind. Aus diesem Grunde sind sie nur Zustände des Subjekts. Anders gesagt: Sie zeigen ein Eindringen der Musik in uns, das eine bloße Nähe ohne Ferne ist. Dann haben sie weder eine Wahrnehmungsnoch eine Vermittlungsfunktion. Die Gemeinsamkeiten zwischen dieser Theorie der Stimmungen und der Plessner folgenden Theorie des Nachvollzuges liegen darin, daß sie von der Erfahrung der Bewegtheit, der Impulse und der 186 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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Raumhaftigkeit des Klanges ausgehen, diese Erfahrung als ›Eindringen‹ des Klanges in das hörende Subjekt und darum als eine Form der Affektion beschreiben und die Nichtbegrifflichkeit dieser Erfahrung festhalten. Der wesentliche Unterschied liegt darin, daß die Theorie des Nachvollzuges ausdrücklich macht, daß der eindringende Klang Sinn hat, indem Verstehen im Hören die Möglichkeit eines Verhaltens zum Klang impliziert. Über diese Möglichkeit schweigt die Stimmungstheorie, so daß das Subjekt, das sie beschreibt, nur passiv scheint. Beiden besprochenen Gruppen der affektiven Reaktion – global verfaßten Stimmungen und lokalen Affekten, die als »peak experiences« wie »thrills or chills« besonders auffällig werden 5 – widmet Robinson eine abschließende Interpretation. Sie bemerkt, daß es wenig zufriedenstellend klingt, wenn man sagt, daß »a powerful emotional experience would be evoked just because the key changed« (Robinson 2005, S. 406) – ein gar nicht merkwürdiges Beispiel, wenn man den eigentümlichen Effekt der Rückung bemerkt und die Häufigkeit, mit der er in der Popmusik ausgebeutet wird. 6 Wer bei der Rückung und anderen Effekten eine Gänsehaut bekommt, sei vielmehr zu bedeutungsschweren Interpretationen geneigt, wie »I heard […] the reconciliation of man and nature, the voice of God, or the cry from outre-tombe of a long-lost beloved.« (ebd.) Dies sind extreme Beispiele der oben genannten »confabulation«. Robinson erklärt den Drang zu solchen Interpretationen mit der Spannung zwischen der Stärke der physiologisch-affektiven Reaktion und ihrer Gegenstandslosigkeit. Wir können einfach nicht glauben, daß hinter dem mitreißenden oder erhebenden Erlebnis nichts weiter steckt als »a physiological effect; surely something more powerful and profound must have caused it!« (ebd., S. 407) Aber in diesen Fällen war es häufig nur ein formales Moment der Musik. Es ist in der Tat eigenartig, daß die reine musikalische Struktur, die mit der Trockenheit des Formalismus assoziiert ist, ein Faktor ist, der so enge Verbindung zur Hierzu s. Gabrielsson 2001. Davon, daß dieser Effekt so einschlägig ist, zeugt beispielsweise die Möglichkeit, ihn ironisch zu brechen, wie es R.E.M. in dem Song »Stand« tun, indem der Refrain gleich zweimal hintereinander um einen Ganzton nach oben geschoben wird. Die lärmige und bemüht ausgelassene Ansammlung von Begleitmustern und die monotone Singstimme, die kaum ihre Langeweile verbirgt, tun alles, um den Effekt weiter zu verfremden (R.E.M. 1988, Nr. R [lies: 4]: die erste Rückung ist bei 2'29" zu hören, die zweite bei 2'47").

5 6

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Nässe der Augen hat. Aber diese Verbindung ist ein Eindringen kausaler Art, dem man ausgeliefert ist. So kann die starke affektive Erfahrung ein Anlaß sein, uns der Musik weiter zuzuwenden, um nach den Ursachen des Affektes zu suchen; aber um selbst dem musikalischen Verstehen angehörig sein, ist sie in der beschriebenen Form entweder zu sehr von unbewußten Mechanismen geprägt oder zu sehr eine Angelegenheit persönlich geprägter Empfindsamkeit.

i.2. Emotion im alltäglichen Verstande: Peter Kivys Analyse zum affektiven Wert der Musik Wenn Affekte nicht mehr als Reaktionen sind, stoßen sie sehr schnell an die Grenzen ihres Potentials für das musikalische Verstehen. Sollen sie dafür mehr Wert haben, so müssen sie auch ein gegenständliches Verhältnis zu ihrer Quelle haben. Die übliche Weise, wie in der ›analytischen‹ Ästhetik ein solches Verhältnis gefaßt wird, beruht auf jener Art von Theorien, die Robinson zu Anfang beiseite gelegt hat, nämlich auf kognitivistischen Theorien der Emotion. Sie betonen, daß eine Emotion ein affektives Verhältnis zu einem emotionalen Gegenstand ist. Die Emotion erschließt dabei die Art und Weise, wie uns der Gegenstand betrifft. Eine Theorie der emotionalen Reaktion auf Musik hat es also mit der Frage zu tun, kraft welcher Qualitäten uns Musik so betreffen kann, daß wir emotional auf sie reagieren. Soll das Verhältnis zwischen Musik und Affektion nicht rein kausal sein, so muß die Theorie annehmen, daß wir die Musik auf irgendeine Weise erkennend auffassen und daß diese Erkenntnis mit der Emotion verknüpft ist. Ein Musterbeispiel für eine solche Argumentation stammt von Peter Kivy, der das Ausgangsproblem so stellt: »I will indeed make it the central requirement, here, of an account of how music moves that it include […] a perfectly ordinary explanation, of the kind we use every day to explain why we are angry at this or depressed about that« (Kivy 1990, S. 151).

Dasjenige in der Musik, was uns emotional bewegt, muß seiner Ansicht nach als eine Qualität beschrieben werden, auf die wir uns erstens wahrnehmend und erkennend beziehen und in der zweitens etwas erkannt wird, das bedeutsam genug erscheint, um die emotionale Reaktion angemessen sein zu lassen. Jemand, der eine Emotion

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erfährt, »must, in the standard case, have some belief, or set of beliefs, appropriate to the experiencing of that emotion« (Kivy 2002, S. 25). Dieser Zug schließt neben einer kausalen Theorie der emotionalen Reaktion auch eine Ansteckungstheorie aus, derzufolge uns die Wahrnehmung einer bestimmten Ausdrucksqualität in der Musik dazu verleiten würde, mit einer entsprechenden Emotion auf sie zu reagieren. Trauer in der Musik als Ausdruck zu hören muß nach Kivy streng davon getrennt werden, Trauer zu fühlen. Der von ihm in Anspruch genommene Emotionsbegriff bedarf eines Gegenstandes, auf den die gefühlte Trauer bezogen ist. Das sei eben nicht der wahrnehmbare Ausdruck von Trauer, der ein Wahrnehmungs- oder Erkenntnisgegenstand, nicht aber ein emotional bedeutsamer Gegenstand sein könne. An die bloße Feststellung eines traurigen Ausdrucks kann eine neutrale, mitfühlende oder ablehnende Reaktion anschließen; die Feststellung hat allein keine Valenz, die eine bestimmte Reaktion nahelegen würde. Das ist erst der Fall, wenn eine Wertung hinzukommt; nur diese steht in einem relevanten Zusammenhang mit unserem Gefühl. Traurig fühlen wir uns folglich beispielsweise, wenn wir die Musik negativ bewerten: wenn wir sie für schlechte Musik halten – und nicht deshalb, weil sie den Ausdruck von Trauer trägt. Kivy hält sich in seiner Theorie vor allem an die gegenteilige Erfahrung, nämlich an eine Emotion, die er als »›excitement‹, or ›exhilaration‹, or ›wonder‹, or ›awe‹, or ›enthusiasm‹« (Kivy 2002, S. 130 f.) umreißt. Diese Erfahrungen scheinen den oben angesprochenen »peak experiences« sehr ähnlich zu sein. Kivy interpretiert sie jedoch anders als Robinson. Der Unterschied ist vor allem in seiner formalistischen Grundannahme bezüglich des Sinnes und Wertes von Musik begründet (hierzu Kap. c.). In diesem Rahmen ist der Gegenstand der Emotion der Bewunderung das »set of features in the music that the listener believes are beautiful, magnificent, or in some other way aesthetically admirable to a high degree.« (ebd., S. 129) Unter diesen »features« mögen sich Ausdrucksqualitäten befinden, aber nicht notwendigerweise, und wir würden nicht durch sie bewegt, weil sie ausdrucksvoll sind, sondern weil sie auf schöne und kunstvolle Weise in die Musik eingearbeitet sind. Die Schönheit ist die Qualität, der eine Wertung inhärent ist und die darum ein Gegenstand der emotionalen Reaktion sein darf. Robinson zufolge sind stark emotionale Erfahrungen mit Musik dagegen durch unterschwellige Mechanismen ausgelöst und deshalb ganz und gar nicht darauf angewiesen, daß die Musik beson189 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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ders kunstvoll ist (vgl. Robinson 2005, S. 407). Eine nur ausgelöste Reaktion ist für Kivys Fragestellung allerdings irrelevant. Eines von Kivys Lieblingsbeispielen zugunsten seiner Darlegung ist polyphone (Vokal-)Musik der Renaissance. 7 Von ihr sagt er, daß sie keinen Ausdruck von Emotion trage, aber trotzdem »zutiefst bewegend« (»deeply moving«) sei. Umgekehrt können wir uns verschiedene Stücke vorstellen, die gleichartigen Ausdruck tragen – zum Beispiel Melancholie –, aber auf die dieselbe Hörerin emotional unterschiedlich reagiert, nämlich begeistert auf das eine, gut gemachte, und gelangweilt oder gar angewidert auf das andere, das sie für geschmacklos oder anderweitig unbefriedigend hält. Also, schließt er, ist die Emotion, die die ›rein musikalische Erfahrung‹ – »the purely musical experience«, so der Untertitel zu Kivy 1990 – erregt, grundsätzlich von dem an der Musik wahrnehmbaren Ausdruck unabhängig. An dieser Darstellung der Emotion für Musik läßt sich zweierlei kritisieren: erstens, daß sie langweilig ist, wenn sie stimmt; zweitens, daß sich möglicherweise eine Täuschung hinter ihr verbirgt. Erinnern wir uns an Kivys Anspruch, daß unsere emotionale Bewegtheit durch die Musik auf die gleiche Weise erklärt werden sollte wie jede andere Emotion im täglichen Leben. Aus diesem Anspruch folgt, daß diese Emotion ihrer Form nach nichts haben soll, was sie spezifisch mit der Musik verbinden könnte – weder mit der besonderen Musik, auf die sie sich gerade bezieht, noch auf Musik überhaupt im Gegensatz zu anderen emotionalen Gegenständen. Was den ersten Punkt betrifft, hat Stephen Davies (1994, S. 286 f.) eingewandt: Wenn es so ist, wie Kivy behauptet, nämlich daß Ausdrucksqualitäten uns nicht dadurch bewegen, daß sie einen ganz bestimmten Ausdruck haben, sondern nur dadurch, daß sie Elemente einer kunstvollen Verarbeitung sind, so müßte unsere emotionale Erfahrung für alle gleichermaßen großartigen Werke – und entsprechend für alle gleichermaßen durchschnittlichen oder schlechten – gleichartig sein. Unsere Bewunderung für das zweite Thema im Kopfsatz von Bruckners 6. Symphonie (in der Partitur: Abschnitt B) wäre nicht unterschieden von der Bewunderung für ein anderes gleichrangiges Meisterwerk melodisch-rhythmischer Erfindung, zum Beispiel für den mit »Modéré, joyeux« überschriebenen Abschnitt in dem Satz »Les bergers« aus Messiaens La nativité du Sei7

Vgl. Kivy 2002, S. 128; 1990, S. 158.

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gneur. Wenn aber die Melodien so unterschiedliche Charaktere tragen, scheint es eine Verarmung der affektiven musikalischen Erfahrung zu sein, wenn man fordert, daß wir diese unterschiedlichen Charaktere lediglich zur Kenntnis nehmen sollten, anstatt uns nachvollziehend von ihnen affizieren zu lassen. Die Antwort Kivys auf diesen Einwand lautet (den eben gewählten Beispielen angepaßt): Wir hören wohl neben der melodischen und rhythmischen Meisterschaft den sehnend-fließenden Ausdruck bei Bruckner oder die robust-zarte Bejahung in dem Stück von Messiaen. Diese besonderen Ausdruckserscheinungen stecken uns nicht an und dringen nicht in uns ein, sondern sind Gegenstände unserer Bewunderung. Aber indem wir sie erkennen und bewundern, ist unsere Bewunderung im Fall Bruckners »wie« Sehnsucht, sie wird sehnsuchtsartig oder Quasi-Sehnsucht (vgl. Kivy 2002, S. 133). Wie das zu verstehen ist, läßt Kivy dunkel. Aber es scheint, daß an dieser Stelle die Wand zwischen formalistisch beabsichtigter Ausdruckswahrnehmung und emotionaler Reaktion einen Riß bekommt und daß die Bewunderung, wenn wir sie gehaltvoll verstehen wollen, so rein nicht zu haben ist. Der zweite Gedanke, nämlich daß die Emotion der Bewunderung auch für die Musik im allgemeinen keine spezifische Ausprägung hat, ist wenig mehr als eine Wiederholung dessen, was Kivy selbst einfordert. So wie er sie beschreibt, ist sie Bewunderung für Struktur überhaupt, unabhängig vom Gehalt, der in ihr zu finden ist, oder von der Materie, die sie trägt. Ihr Gegenstand könnte ebensogut ein Schachspiel oder eine ornamentale Tapete sein – Vergleichsbeispiele, die Kivy selbst heranzieht. Sie könnte aber auch der Enthusiasmus eines Waffennarren für handwerklich ausgezeichnete Knarren sein, an denen der in diesem Fach gebildete Bewunderer erkennt, wie ordentlich verarbeitet und technisch raffiniert sie sind. Handwerkliches Geschick und Raffinesse sind ja die Qualitäten, von denen Kivy sagt, daß sie die passenden Auslöser für die musikalische Emotion seien, die er untersucht. An alldem gibt es überhaupt keine Schwierigkeit (so auch Davies 1994, S. 280): Wir finden etwas gut und freuen uns; oder wir sitzen im Konzert, finden die Musik schlecht und langweilig und ärgern uns, weil wir unsere Zeit verschwenden. Eigentlich bräuchte man, wenn es bloß so steht, gar nicht weiter darüber zu schreiben. Aber Kivy ist ein vielgelesener und vieldiskutierter Autor; und schließlich führt er ein zusätzliches Problem ein, das ein doppeltes Gesicht zeigt. Kurz ge191 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Affektive Wirkungen und Emotionen

sagt, besteht es darin, daß er unterstellt: Wer von Musik emotional bewegt wird und sagt, dies liege daran, daß die Musik so ausdrucksvoll sei, täusche sich. Diese Unterstellung kann man aber herumdrehen und fragen: Täuscht sich nicht Kivy, wenn er von sich behauptet, er sei rein von der Schönheit der Musik entzückt? Kivys eigener Täuschungsvorwurf lautet: Ein Mensch ist überzeugt, Musik von fröhlichem Charakter habe ihn fröhlich gemacht, weil sie fröhlich ist. Aber er hat nicht recht. Erstens ist er selbst gar nicht fröhlich, sondern er freut sich nur darüber, daß die Musik schön ist. Zweitens kommt die Freude nicht aus dem Ausdruck der Musik, sondern aus ihrer ästhetischen Gelungenheit. Daß sie außerdem noch fröhlichen Ausdruck hat, führt dazu, daß die Freude über die Schönheit die Färbung der Quasi-Fröhlichkeit gewinnt (Kivy 2002, S. 133 f.). Ein Umweg über Kivys Kritik an der »tendency theory« affektiver Wirkungen der Musik mag helfen, diese Überlegung besser zu verstehen. Die »tendency theory«, wie Kivy sie nimmt, möchte affektive Wirkungen erklären, indem sie sagt: Ausdrucksqualitäten in der Musik haben die »Tendenz«, eine entsprechende affektive Wirkung im Hörer hervorzubringen – ihn gewissermaßen anzustecken. Was Kivy bei der Rede von einer Tendenz, den Hörer affektiv anzustecken, als Schwachpunkt vorkommt, ist der Gedanke, daß es Tendenzen gibt, die sich nie verwirklichen. Damit eine Tendenz sich verwirklicht, müßten bestimmte Umstände eintreten. So verwirklicht ein Glas seine Zerbrechlichkeit nur, wenn es einen ausreichend kräftigen Stoß von einem harten Gegenstand abbekommt; aber es kann sein, daß dieser Stoß nie vorkommt und das Glas eine sehr lange Zeit überdauert. Sein Gedanke ist nun: Der Hörer wird von der Schönheit der Musik begeistert; diese Begeisterung mag eine zusätzliche Färbung durch Ausdrucksqualitäten erhalten; aber falls die Ausdrucksqualitäten die Tendenz haben, im Hörer einen ihnen entsprechenden Affekt zu bewirken, so haben wir keinen Beweis dafür, daß die Tendenz sich jemals verwirklicht (Kivy 2002, S. 121), denn das, was als ihre Verwirklichung erscheinen könnte, wurde ja bereits als Täuschung enthüllt. Der Frage, welche Umstände denn für ihre Verwirklichung günstig sein könnten, begegnet Kivy schließlich, indem er ästhetisch relevantes Hören auf eine Weise definiert, daß in ihm die Umstände für die Verwirklichung der besagten Tendenz immer ungünstig sind. Denn zwar sei man beim Hören »reiner« Musik stets in Versuchung, 192 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Emotion im alltäglichen Verstande

etwas zu imaginieren – »heroes and shipwrecks« als bei Kivy häufige Beispiele – und sich davon rühren zu lassen. Aber der ästhetisch kompetente Hörer sei angewiesen, derartige Phantasien und Erregungen zu unterdrücken 8 , denn sie hätten nichts mit dem zu tun, was an der Musik relevant sei: mit der reinen Form und den reinen sinnlichen Qualitäten. Der musikalische Hörer habe so zu hören, daß die in Frage stehende Tendenz des musikalischen Ausdrucks, ihn emotional (und nicht nur ›quasi-emotional‹ oder ›emotionsartig‹) zu affizieren, sich gar nicht verwirklichen kann. Werde er dagegen affiziert und die Quelle der Affektion sei etwas anderes als die Erkenntnis der formalen Qualitäten der Musik, so habe er nicht musikalisch gehört. Der zentrale Unterschied zur ästhesiologischen Darlegung der Fern-Nähe und der Eindringlichkeit liegt auf der Hand. Von Qualitäten der Klänge wird in der gerade diskutierten Theorie angenommen, daß sie entweder kausal auf die Hörer eindringen – diese Variante hat der vorhergehende Abschnitt behandelt – oder daß sie ›stumm‹ vor einer Wahrnehmung liegen, deren Funktion es ist, etwas festzustellen. Hier ist letzteres der Fall. Die Wahrnehmung hat es mit dem ›Fernen‹ zu tun, und die ›Nähe‹ ist abstraktiv von ihr abgetrennt. Die Theorien, die wir eben behandeln, kennen die ›Nähe‹ somit nur als kausale Einwirkung oder andererseits als verursacht durch die Evaluation eines Gegenstandes, der dadurch zum emotional relevanten Gegenstand werden kann. Die Kreisbewegung von Kivys Argument kann immerhin so scheinen, daß sie der Theorie Kohärenz verleiht. Ich möchte aber zeigen, daß diese Kohärenz erschwindelt ist. Wenn wir sehen, wieso das der Fall ist, zeigt sich, daß sich die kognitivistischen Emotionstheorien zum Verstehen der Musik nicht besser verhalten als die nichtkognitivistischen Emotionstheorien. Dazu muß man ein wenig zwischen den Zeilen lesen. Besonders gut eignen sich dazu die Beschreibungen der Renaissancepolyphonie, die in Kivys Schriften das Musterbeispiel für rein-schöne Musik darstellt. Allgemein nimmt Kivy an, daß die einzigen wahrhaften Emotionen, deren emotionaler Gegenstand die Musik ist, auf die rein sinnlich-formale Schönheit der Musik (oder den Mangel daran) reagieren. Diese Emotionen sollen einer Analyse zugänglich sein, die zeigt, daß sie von einer Meinung (»belief«) und Bewertung – von kognitiven Zuständen also – ausgehen. Diesen zentralen Kriterien genügt es 8

Kivy 2006, S. 307 f. und 310; 2007, S. 312 und 314.

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Affektive Wirkungen und Emotionen

auch, wenn wir vor den Noten sitzen, den Kontrapunkt studieren und feststellen, wie raffiniert er gemacht ist, ohne daß wir viel dabei empfinden müßten. Staunend heben wir vielleicht die Augenbraue … Kivy bleibt aber häufig nicht dabei stehen, sondern möchte auch sagen, daß die Musik »deeply moving« sei (z. B. Kivy 2002, S. 129), und zwar genau aufgrund jener Qualitäten, die wir beim Studium des Kontrapunktes bemerken. Seine Schilderung der Musik von Josquin oder Lasso läßt aber durchscheinen, daß es sich nicht ganz so verhält. Denn die Betonung liegt dort nicht auf den Vollkommenheiten und Raffinessen des Kontrapunkts. Wenn es um die Intelligenz in der musikalischen Struktur ginge, könnte Kivy auch von Anton Webern und seiner trickreichen Reihentechnik schreiben, die beispielsweise in dem Streichquartett op. 28 zu Gipfeln der kompositorischen Eleganz gelangt – aber zu Gipfeln der Berückung? Das würde Kivy nicht behaupten wollen, denn was ihn an Josquin und Lasso berückt, ist doch etwas anderes. Ihre Musik ist, so schreibt er, nicht »expressive«. Aber sie klingt »serene«, »crystal-clear, almost passionless, ethereal« (wenn von einem Knabenchor aufgeführt, so Kivys zusätzliche Qualifikation: ebd., S. 128). Was sind das aber anderes als atmosphärische Qualitäten – als Qualitäten, die unbestimmt paradiesische oder wenigstens religiöse Assoziationen wecken? Wenn man schließlich in Betracht zieht, wie Kivy den Wert der absoluten Musik bestimmt – nämlich in der ausdrücklichen Nachfolge Schopenhauers als die Kunst, die uns aufgrund ihrer Ungegenständlichkeit von den Bezügen zur Welt der täglichen Plage befreie und in ihre eigene reine Welt entrücke (ebd., S. 256–262) –, so liegt es nicht fern, zu behaupten: Was Kivy so berückt, ist das Versinken in der Atmosphäre einer selbstentworfenen Kunstreligion. 9 Daß die Emotion, die dabei empfunden wird, allein oder auch nur noch teilweise am aufmerksamen Hören auf die formalen Zusammenhänge der Werke liegen würde, scheint nun eine anzuzweifelnde Beschreibung zu sein. Wohl können wir die konstruktiven Qualitäten einer Musik kognitiv wertschätzen. Daß wir aber tatsächlich enthusiastisch werden und Affekt erleben – das ist ja der Fall, den Kivy erklären will –, hat dunklere Quellen, und wenn man der kognitivistischen EmotionsAn vielen Stellen vergleicht er das, was der Konzertbesucher erlebt, als säkularisierten Ersatz für die Ergriffenheit bei religiösen Ritualen (Kivy 2009, S. 203–205 und S. 259).

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Emotion im alltäglichen Verstande

theorie gegenüber vorsichtig bleibt, kann man mit Robinson sagen: Kivys Enthusiasmus ist auch nur ein Fall eines »affective appraisal« oder einer stimmungshaften Reaktion, die von sich aus nicht preisgibt, was sie ausgelöst hat, so daß es gar nicht klar ist, was der emotionale Gegenstand gewesen ist. Robinsons »confabulation«-Interpretation hierzu lautet, wie bemerkt, daß Probanden einen wenig bestimmten Affekt erlebt haben, den sie im folgenden als eine bestimmte Emotion mit einem bestimmten Gehalt interpretieren. Kivy sagt nun: Daß eine solche Interpretation stattfindet, zeigt nicht, daß gerade diese Emotion auch da war. Eher gab es eine Emotion – zum Beispiel »excitement« – in seinem Sinne, die anschließend im Lichte des in der Musik wahrgenommenen Ausdrucks fehlinterpretiert wird (Kivy 2006, S. 310). Warum sollte aber die von Kivy beschriebene Emotion – »excitement«, »awe« und ähnliche – nicht zu Beginn eine genauso unbestimmte affektive Reaktion gewesen sein und die Annahme, sie richte sich auf wundervolle künstlerische Qualitäten, eine bloße »confabulation«? Kivy sagt dazu: »I certainly reject the idea« (ebd.); doch scheinen wir uns in einem Bereich zu befinden, in dem sich für diese Ablehnung keine guten Gründe finden lassen, denn die meines Wissens letzte Formulierung ist noch defensiver: »I think there is more to it than psychology. But the bad news is that I do not know what more.« (Kivy 2009, S. 252) Die Diskussion sinkt damit zum bloßen Meinungsaustausch herab. Wir sollten hinzufügen: Was hier unterschwellig und unmittelbar wirkt, muß nicht immer unterschwellig gewesen sein. Es kann ein vermitteltes Unmittelbares sein, zum Beispiel, wenn wir uns mit der Zeit in einen musikalischen Stil einhören, seine Techniken und Formen kennenlernen und seine charakteristischen Züge zu einer hörbaren Gestalt bilden, so wie Kivy die Renaissancepolyphonie zu einer Gestalt »of serene, untroubled quality« verdichtet (Kivy 2002, S. 128). Kaum zu vermeiden ist es dann, daß diese Gestalt sich mit allerhand Assoziationen verbindet: mit Ahnungen vom Lebensgefühl einer Epoche, mit eigenen Erfahrungen, mit nachvollzogenen Bewegungs-, Raum- und Klangqualitäten. All dies, das der Hörer sich angeeignet hat, kann in die unmittelbare affektive Reaktion einfließen, ist in dem Moment aber nicht gegenständlich, sondern hat sich zur Empfindung verwandelt. 10 Diese Empfindung kann genausogut so beschrieben werden, daß sie nicht einen zuvor erkannten Gegen10

Vgl. hierzu: Hegel, Enz., § 400 (S. 97 f.) und § 447 (S. 247 f.).

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Affektive Wirkungen und Emotionen

stand betrifft, sondern unseren Habitus, mit der Musik erkennend umzugehen, und damit die Auffassung, daß die Musik, die wir beispielsweise in einem Konzert hören, zu diesem Habitus paßt und wir uns mit ihr auskennen: daß wir das in ihr hören, was man hören »soll«, und daß wir also Kenner sind und nicht Banausen. Sie wird ein Gegenstand der Soziologie, etwa im Sinne von Bourdieu: sie ist die Freude über eine gelungene gesellschaftliche Distinktion und funktioniert damit genauso wie jener emotionale Umgang mit Musik, den man beispielsweise daraufhin untersuchen kann, inwiefern er für die Musikbenutzerinnen zur Konstruktion eines Lebensstil mit entsprechender affektiver Gründung beiträgt. Um zu begreifen, was es heißt, daß die Musik in uns eindringt und uns bewegt, und zugleich zu begreifen, daß diese Bewegtheit einen Ansatz dazu enthält, die Musik zu verstehen, sind die beiden Varianten von Theorien der Gemütsbewegungen nicht geeignet, denn sie kennen die Vermittlung nicht, die in einem leiblichen Nachvollzug zwischen dem möglichen Verhalten des Subjektes und den Gegenständen und Abläufen, die es wahrnimmt, zustandekommt. Ihre Gemütsbewegungen liegen entweder zu tief im Unbewußten und Physiologischen, oder sie setzen vieles voraus, das sich dann in der Schicht der Empfindung ablagert, aber in einem symbolischen oder assoziativen Bezug zur Musik steht und weniger in einem nachvollziehenden Bezug auf die musikalische Eigenform. Diese Problematik kommt auf, wenn man meint, in der Ästhetik müsse man das Begriffsfeld von Affekt, Emotion und Ausdruck aus Wissenschaftsbereichen importieren, die die alltäglichen Verwirklichungen des Affektiven untersuchen. Hier mag die Diskussion zwischen kognitivistischen und nicht-kognitivistischen Theorien fruchtbar sein. Ihre unhinterfragte Anwendung auf den Umgang mit Kunst verursacht jedoch zahlreiche begriffliche Konflikte, die sich auch in der Besprechung des Ausdrucksbegriffs fortsetzen, wie das folgende Kapitel zeigt. Um sie aufzulösen, ist es nötig, die Erfahrung im Ästhetischen in ihrem eigenen Recht zu betrachten. Die ästhesiologische Analyse ist ein Schritt in dieser Betrachtung.

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j. Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

Die Überlegungen zum leiblichen Nachvollzug der Musik haben zum Begriff des Ausdrucks geführt. Im Zusammenhang mit ihm sollte musikalischer Sinn auf eine grundlegende Weise bestimmt werden können. Ein Begriff des Ausdrucks ist auch für die ›analytische‹ Ästhetik zentral. Zum Zweck der Abgrenzung möchte ich seine Schwierigkeiten aufzeigen; vor ihrem Hintergrund wird besser verständlich, was eine Theorie des Nachvollzuges artikulieren muß – um so mehr, weil auch in der ›analytischen‹ Ästhetik an manchen Stellen nachvollzugsähnliche Begriffe entworfen werden (hierzu j.3.). Es zeichnet diese Denkschule aus, daß sie dem Problem des Ausdrucks in der Musik umfangreiche systematische Darstellungen gewidmet hat. Andernorts ist der Begriff vor allem von musikhistorischem Interesse. Die zwei größten musikwissenschaftlichen Enzyklopädien der Gegenwart lassen dieses selektive Interesse durchscheinen: Anselm Gerhards Artikel in Die Musik in Geschichte und Gegenwart endet mit der Nennung von Friedrich Hauseggers Musik als Ausdruck von 1885 sowie mit einigen Bemerkungen Arnold Schönbergs von 1912, aus denen der Autor herausliest, daß der Ausdrucksbegriff sich aus seinem zunächst rhetorischen Kontext und seiner späteren individuell-genialischen Lesart gelöst habe und nun nichts mehr weiter als ein »physiologische[s] Phänomen« und eine »Metapher bewußtloser Entäußerung« sei (Gerhard 1994, Sp. 1047 f.). Mit dieser Feststellung wird der Ausdrucksbegriff historisch verabschiedet und einer Sphäre des Irrationalen überantwortet. Im New Grove Dictionary of Music and Musicians wird der Ausdrucksbegriff bis Adorno weiterverfolgt (Baker & al. 2001). 1 Ähnlich wie zum Schluß von Ger-

Der größte, systematische Teil des Artikels in der englischsprachigen Enzyklopädie stammt von Roger Scruton, also wiederum einem – wenn auch sehr eigensinnigen – Vertreter der »philosophy of music«. – Um Adornos Ausdrucksbegriff kümmere ich mich in Kap. r., um zu zeigen, daß er keineswegs nur historisch einsortiert gehört, sondern erhebliches systematisches Gewicht tragen kann.

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Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

hards Artikel endet er auch hier als eine Art von irrationaler Komponente. Die Behauptung dieses Zuges ins Irrationale entwertet die Rolle, die der Begriff des Ausdrucks zuvor spielen konnte, nämlich ein hermeneutisches Modell für das Verstehen von Musik zu geben. 2 Auch gegen diese Entwertungsdiagnose versucht die »philosophy of music«, dem Begriff des Ausdrucks einen verständlichen systematischen Gehalt zu geben. Zentral ist dabei die Forderung, daß der Ausdruck, der in der Musik zu hören ist, nicht einer beliebigen subjektiven Projektion entspringt, sondern objektiv ist. Wie diese Objektivität genau zu verstehen ist, bildet einen wichtigen Bestandteil der Diskussion, der teils explizit besprochen wird, teils aber in impliziten Voraussetzungen versteckt ist. Auf alle Fälle wird sie als Meßlatte für konkurrierende Theorien in Anspruch genommen: In den Verzweigungen der Diskussion wird manchen Autoren vorgeworfen, daß sie die – manchmal »externality requirement« genannte – Voraussetzung der Objektivität nicht erfüllen können und in ihrer Analyse den musikalischen Ausdruck in eine subjektive Reaktion verlegen. Daß dies als Vorwurf selbstverständlich akzeptiert wird, zeigt die Gültigkeit jener Voraussetzung, und die Frage ist am Ende, wie man es anstellt, die größtmögliche »externality« zu erreichen. 3

Verwiesen sei dagegen auf Jürgen Stolzenbergs systematisch begründeten Versuch, die hermeneutische Leistung des Ausdrucksbegriffs zu stärken und zu vertiefen. Stolzenberg (2011, S. 20) schreibt dem Prinzip des Ausdrucks von Subjektivität »eine erkenntnisleitende Funktion« zu, die »eine idealtypisch-strukturale Analyse musikalischer Formen und ihrer expressiven Gehalte« erlaube. Wohlgemerkt geht es dabei um den Ausdruck von Subjektivität überhaupt und nicht von einzelnen Gemütsbewegungen. Diese Form von Ausdruck sieht Stolzenberg mit der ›empfindsamen‹ Epoche einsetzen – C. Ph. E. Bachs Werke dienen ihm bevorzugt als Ausgangspunkt – und die Folgezeit bestimmen, bis sie mit Schönberg höchst problematisch werde, da die Subjektivität selbst, die zuvor Trägerin des Ausdrucks sein konnte, sich zerspalte und »unrettbar« werde (ebd., S. 91). Gerade diesen Gedanken der Problematik des Ausdrucks führe ich in Kap. r. weiter. 3 Vgl. hierzu Levinson 1996, S. 91 zur Aufgabenstellung, und S. 94 f. sowie S. 97–100 zu Kritiken am mangelnden Externalismus bei Walton, Ridley und Wollheim; und Matravers 2003. 2

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Die Grundbestimmung des Ausdrucksbegriffs

j.1. Die Grundbestimmung des Ausdrucksbegriffs und die Grenzen seiner primären Bedeutung In der »philosophy of music« herrscht weitgehende Übereinstimmung 4 , daß es einen allgemeinen und primären Begriff des Ausdrucks (»expression«) gibt, von dem eine Untersuchung des besonderen musikalischen Ausdrucks ausgehen müsse. Dieser primäre Begriff des Ausdrucks zeichnet sich dadurch aus, daß er die Äußerung eines mentalen Zustandes sein soll. Als mentaler Zustand gilt zunächst alles mögliche, so auch Haltungen, Charakterzüge oder Gedanken. Die Art mentaler Zustände, von der jedoch vorzüglich in Bezug auf den Ausdrucksbegriff die Rede ist, sind Emotionen, so daß man in der englischsprachigen Tradition selten »expression« allein diskutiert findet, sondern die Einschränkung »expression of emotion«. Diese Qualifikation wird selten deutlich begründet. Es ist zu vermuten, daß Ausdruck als Äußerungsform verstanden wird, die zur affektiven Sphäre gehört, da es intuitiv naheliegt, den Ausdruck eines mentalen Zustandes von einem Bericht über ihn oder einer Aussage zu trennen. Mentale Zustände wie Gedanken, die nicht als affektiv gelten, scheinen nicht eigentlich ausgedrückt, sondern ausgesagt zu werden; für affektive mentale Zustände hingegen scheint die bloße Aussage eine unzureichende oder sogar unglaubwürdige Äußerung zu sein (so Rinderle 2010, S. 27). Daß Emotionen und nicht Haltungen, charakterliche Dispositionen und andere Qualitäten oder Zustände einer Person vorzüglich als das Innere des musikalischen Ausdrucks gesucht werden, wird ebenfalls selten ausdrücklich thematisiert. Anzunehmen ist, daß eine Vorstellung vorherrscht, derzufolge Emotionen, ihre Ausdrucksformen und entsprechende musikalische Episoden elementar sind und daß es, wenn man verstehen möchte, wie ein ganzes umfangreiches Werk unter dem Gesichtspunkt des Ausdrucks betrachtet werden kann, nötig ist, zuerst den Ausdruckscharakter der Einzelteile des Werks festzustellen. Der Ausdruck von Haltungen und Charakterzügen scheint sich dagegen durch ein zeitlich wie sachlich umfassendes Spektrum von Äußerungen zu ziehen und nicht in einer vereinzelten Äußerung isolierbar zu sein. Emotionen wiederum erfahren im allgemeinen eine Bestimmung, die dem im vorigen Kapitel vorgestellten Modell entspricht: 4

Als Ausnahmen sind besonders Roger Scruton und Jenefer Robinson zu nennen.

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Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

Sie sollen wertende intentionale Zustände sein, wobei die Intentionalität kognitiv verstanden wird, nämlich als Überzeugung (»belief«) oder Urteil über einen Sachverhalt. Zumeist tritt eine affektive Komponente hinzu. Weiterhin ist die Annahme einschlägig, daß Emotionen sich im Verhalten zeigen; dies ist dann natürliches oder konventionelles Ausdrucksverhalten. Schließlich gilt es für selbstverständlich, daß Emotionen typisiert auftreten. Sie sollen keine unbenennbaren Gemütsbewegungen sein, sondern man nimmt an, daß es klar ist, welche Emotion man erlebt – Wut, Freude, Niedergeschlagenheit, Ekel und dergleichen –, während die je individuellen, begrifflich noch nicht erfaßten Schattierungen des emotionalen Erlebens für sekundär und zufällig gelten. Offensichtlich ist der primäre Begriff des Ausdrucks nur auf Personen anwendbar, da nur sie die relevanten mentalen Zustände haben können, die dem primären Begriff zugrundeliegen. An ihm festzuhalten, während man sagen möchte, Ausdruck sei eine Eigenschaft der Musik, führt strenggenommen zu der These, daß Musik als Ausdruck der wirklichen Emotionen einer wirklichen Person verstanden werden müßte: des Komponisten oder des Musikers. Dies ist zwar eine populäre ›romantische‹ Ansicht; sie hat aber in der philosophischen Diskussion aus naheliegenden Gründen wenig Gewicht, denn gegen ihre naive Fassung richten sich einige triviale Einwände (Davies 1994, S. 171 f.): daß emotionale Erregung der kompositorischen Arbeit und ihren unverzichtbaren technischhandwerklichen Anteilen eher hinderlich ist, daß ein musikalisches Werk über einen längeren Zeitraum hin planmäßig entsteht und der Komponist nicht auf passende emotionale Episoden angewiesen sein darf und daß die tatsächliche emotionale Lage des Komponisten und die in der Musik erkennbaren Ausdrucksqualitäten zueinander in Spannung stehen können – »Beethoven wrote the joyous last movement of his Piano Concerto No. 1 when racked with gastroenteritis.« (ebd.) Aus der Voraussetzung primären Ausdrucksbegriffs und aus den genannten Einwänden schließt man: Wenn wir Musik als Ausdruck hören, so muß ein Bezug auf Emotionen im Spiel sein, die echten lebensweltlichen Ausdruck garantieren. Es darf aber nicht gefordert sein, daß diese Emotionen den Ausdruck der Musik auf die gleiche Weise hervorbringen, wie sie persönlichen Ausdruck hervorbringen. Sonst gäbe es Ausdruck nur mit einer Ursache im Innenleben einer Person, und das führt auf die genannten Einwände. Ausdruck in der 200 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als wahrnehmbare Erscheinung: Stephen Davies’ Theorie

Musik muß frei verfügbar sein; er muß gewissermaßen in den Klängen selbst liegen und damit eine ihrer Eigenschaften sein.

j.2. Ausdruck als wahrnehmbare Erscheinung: Stephen Davies’ Theorie Damit Ausdruck eine Eigenschaft sein kann, ist von dem primären Ausdrucksbegriff ein sekundärer abzuziehen, der dem Gedanken gerecht wird, daß Musik kein lebendes Wesen ist, also keine Emotionen und folglich keinen Ausdruck im primären Sinn besitzen kann. 5 Im sekundären Sinn muß Ausdruck eine Erscheinung sein, hinter der keine mentalen Zustände zu finden sind, die aber in ihrer äußeren Erscheinung primären Ausdrucksformen ähnlich ist. Wenn weiterhin davon ausgegangen wird, daß diese Ähnlichkeit einfach wahrgenommen werden kann, ohne daß dazu affektive, imaginative und anderweitig nichtkognitive Vermögen des Subjekts nötig wären, so läßt sich diese Theorierichtung als Kognitivismus der Ausdruckswahrnehmung bezeichnen. Ihre ausführlichste Version stammt von Stephen Davies. Er spricht hierbei von »occurrent« oder »felt emotions«, wenn er von einer Person tatsächlich erlebte Emotionen meint. Zu ihnen steht Ausdruck im primären Sinn stets in Beziehung, indem er von ihnen hervorgebracht wird und auf sie schließen läßt. Musikalischer Ausdruck steht aufgrund der genannten Einwände nicht in einer primären Beziehung zu »occurent emotions«. Andere Möglichkeiten des Verweises auf sie, nämlich in sprachlicher, abbildender oder symbolischer Form, weist Davies für musikalischen Ausdruck ebenfalls zurück oder läßt sie nur in Einzelfällen zu. Der Ausdruckscharakter beispielsweise einer bestimmten Melodie muß ihm zufolge ohne Bezug auf »occurrent emotions« verstanden werden. Ein solcher Bezug wäre ein Bezug auf etwas außerhalb der Musik (vgl. Davies 1994, S. 220). Was als Ausdruck in der Musik erscheint, kann also kein Ausdruck im primären Sinn sein. Wenn die Musik selbst ›Ausdrucksmaterial‹ ist und Ausdruck als wahrgenommene Eigenschaft an sich Diese Problemstellung, so trivialsophistisch sie erscheinen mag, ist allgegenwärtig. Vgl. für Varianten ihrer Formulierung Davies 1994, S. x, S. 201 und S. 219–222; Levinson 2006a, S. 192; Levinson 2006b, S. 85; Zangwill 2007, S. 393; Rinderle 2010, S. 9 f. und 32 f.; Trivedi 2011, S. 229; und viele andere.

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201 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

tragen kann, ohne daß wirkliche Emotionen diese Eigenschaft hervorbringen, ist für Davies impliziert, daß diese Ausdruckseigenschaft nicht auf Emotionen referiert oder sie repräsentiert. Davies möchte sagen, daß Musik diese Eigenschaften präsentiere, ohne damit etwas zu repräsentieren oder auf etwas zu referieren (ebd., S. 261). Die Ausdruckseigenschaften seien einfach da. Da Davies den Ausdrucksbegriff nur in der Bedeutung verwenden möchte, die wir als »primär« bezeichnet haben, und da er die Beziehung der Musik auf erlebte Emotionen höchstens als nebensächlich gelten läßt, schließt er, daß der Anschein, Musik habe Ausdruck, grundsätzlich über einen Begriff nicht-erlebter (»unfelt«: ebd., S. 221) Emotion erklärt werden sollte. Was damit gemeint ist, erläutert sein zweiter Hauptgedanke: daß wir Emotionswörter nicht in ihrer primären, sondern in einer sekundären Bedeutung 6 für Musik sowie für andere aus dem Alltag bekannte Phänomene gebrauchen. Solche Phänomene sind ihm zufolge, daß Menschen – oder schließlich Hunde oder Bäume – traurig aussehen, ohne sich traurig zu fühlen: wenn sie uns Trauer vorspielen wollen, oder auch, wenn ihre Gesichtszüge grundsätzlich traurig wirken, so wie im Falle Max Frischs, dessen Physiognomie durch eine Lidmuskellähmung (vgl. Hage 1997, S. 105) einen müd-melancholischen Grundzug hatte. Den Grundzug dieser Phänomene bezeichnet er als »emotion characteristics in appearances« (vgl. Davies 1994, S. 221–228). Musikalischer (sekundärer) Ausdruck wurzelt nach Davies in einer Wahrnehmung der Ähnlichkeit zwischen musikalischen Elementen und uns anderweitig vertrauten Ausdruckserscheinungen, vor allem im menschlichen Verhalten. Besonders Bewegungsweisen und Leibeshaltungen hält er für vielversprechende Bezugspunkte. Ich schiebe die Diskussion über die Quelle des Ausdruckseindrucks auf (hierzu j.3., k.4.) und stelle hier diesen Eindruck selbst in der von Davies beschriebenen Gestalt in den Mittelpunkt, gleichgültig, welche Faktoren genau die Ähnlichkeit zwischen musikalischem und personalem Ausdruck herstellen sollen. Die Wahrnehmung dieser Ähnlichkeit bezeichnet Davies als irreduzibel (ebd., S. 255), und die Kenntnis über ihre Quellen ändert nichts an ihr selbst. Unter der Voraussetzung, daß Ausdruck im eigentlichen Sinne Dem sekundären Ausdrucksbegriff entspricht Davies’ sekundärer Emotionsbegriff; beide sollen eine wahrnehmbare Erscheinung ohne Verweis auf ein Erleben bezeichnen.

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Ausdruck als wahrnehmbare Erscheinung: Stephen Davies’ Theorie

verstanden wird, wenn man weiß, welche Emotion ihn hervorgebracht hat, stellt sich die Frage, welche ›nicht-erlebten‹ Emotionen die Ausdruckserscheinungen in der Musik zu verstehen geben können. Davies beginnt seine Überlegung hierzu mit der Annahme, daß »emotion characteristics in appearances« von sicht- oder hörbarem primärem Ausdrucksverhalten abhängen, dem sie äußerlich ähneln (vgl. ebd., S. 224). Da Emotionen komplexe Zustände sind, ist zu fragen, ob ihre Komponenten allesamt im Ausdruck geäußert werden können und damit eine Grundlage für die Ähnlichkeitsbeziehung hergeben, in der »emotion characteristics in appearances« zu ihnen stehen. Diese Frage knüpft besonders an die Diskussion um sogenannte »höhere Emotionen« an, denen eine komplexe, begrifflich verfaßte Intentionalität eigen ist, so wie Eifersucht, Neid oder Hoffnung. Gibt es in diesem Fall ein Ausdrucksverhalten, an dem wir die Hoffnung oder den Neid einer Person erkennen können wie die Freude am strahlenden Lächeln? Gibt es eine Geste des Neides, eine Mimik der Hoffnung, eine Bewegungsweise der Eifersucht? Dies ist offensichtlich schwierig, denn was auf Neid oder Hoffnung hinweist, sind üblicherweise nicht Ausdrucksbewegungen, sondern Aussagen oder Handlungen, die wiederum nur in einem richtig begriffenen Handlungszusammenhang gedeutet werden können. Es ist dieser Zusammenhang, der ihnen ihren Sinn gibt, und nicht ihre äußere Erscheinung; sie können damit nicht in einen sekundären Ausdrucksbegriff überführt werden. Dies gilt allgemein für objektbezogene Verhaltensweisen. Eine eilige Bewegung könnte eine Flucht sein oder ein Hinstürzen zu etwas oder zu jemandem, aber das können wir nicht wissen, ohne den Zusammenhang der Bewegung zu kennen. Ein strahlendes Lächeln hingegen verstehen wir als Ausdruck der Freude, ohne wissen zu müssen, was der Gegenstand der Freude ist. Davies folgert hieraus allgemein, daß nur »the feeling component« einer Emotion eine äußere Erscheinung habe, die von den Umständen und auf besondere Gegenstände gerichteten Intentionen unabhängig ist (ebd., S. 225). Mit solchen kontextunabhängigen Erscheinungen haben wir es in der Musik darum zu tun, weil vorausgesetzt ist, daß sie nichts aussagt, erzählt und spezifiziert, wie es die Sprache oder die bildenden Künste vermögen. Davies teilt hier eine Voraussetzung, die oben (Kap. c.) an Hanslick exemplifiziert wurde: Wir wollen auf die Musik selbst schauen. Entsprechend geht es um den Ausdruck, wie er uns einfach erscheint, und nicht darum, zu fragen, ob die gleiche Klang203 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

gestalt zu einer anderen Zeit vielleicht ganz anders zu erscheinen pflegte. Es zeichnet die ›analytische‹ Behandlung des Problemes aus, daß sie die Frage nach dem ›Eindruck selbst‹ und damit die Frage nach der Ausdrucksqualität ohne Kontext für eine sinnvolle Frage hält. »Feeling« ist schließlich bei Davies so eingeschränkt, daß es nichts weiter als die Qualität von Lust oder Unlust bezeichnet (ebd., S. 217 f.). Strenggenommen sind also die Emotionen, die eine charakteristische Erscheinung haben, ohne auf einen intentionalen Zusammenhang angewiesen zu sein, jene, in denen Lust oder Unlust sich ohne weitere Bestimmung finden: »sadness or happiness in general« (ebd., S. 239). 7 Diese Einschränkung erstaunt auf den ersten Blick. Ist es denn nicht so, daß die Ausdruckserscheinungen, die wir in der Musik wahrnehmen, unendlich fein differenziert sind – daß wir nicht einfach nur allgemeine Trauer in der Musik erkennen, sondern hier schlichte Melancholie, dort tiefe Verzweiflung, andernorts eine ernste Gestimmtheit, wenn es auch schwer fällt, die feinen Unterschiede genau in Worte zu fassen? Davies gibt hierauf zwei Antworten. Die erste betont, daß seine Theorie den Zweck habe, zu sagen, welche Emotionen unmittelbar in der Musik wahrnehmbar sein können. Diese Wahrnehmbarkeit könne aber nur angenommen werden, wenn Hörerinnen mit signifikanter Mehrheit die emotionalen Charakteristika auf gleiche Weise beschreiben. Hört man den Beginn von Mozarts Sinfonie in g-Moll KV 550, mag es breite Übereinstimmung geben, daß die Musik traurig klingt und nicht freudig, nicht aber in der Frage, ob sie als ernst oder bedrückt oder sehnsüchtig beschrieben werden sollte (vgl. ebd., S. 250–252). Daß man sich nach dem bloßen Hören über solche feineren Beschreibungen nicht unmittelbar einig ist, zeige, daß sie weniger über die Musik und ihre objektiven Eigenschaften etwas aussagen als über subjektive Imaginationen einzelner Hörerinnen (Davies 2006, S. 185). An anderer Stelle ist Davies weniger strikt und überlegt, welche an sich ausdruckshaften Körperbewegungen es gibt, die in musikalischer Bewegung eine Entsprechung finden können. Dabei denkt er an Wut, Zurückhaltung, Starrheit, Arroganz, »ethereal dreaminess, and sassy sexuality« (Davies 2006, S. 183). Jedoch ist in jedem dieser Fälle genauer nachzufragen, ob es sich tatsächlich um eine Emotion in dem Sinne handelt, den Davies’ Theorie zuvor gefordert hat, oder um einen Bewegungscharakter, der relativ deutungsoffen bleibt. Letzteres wäre ein Hinweis darauf, daß die Rede von musikalischem Ausdruck doch von dem primären Emotionsbegriff abgehängt wird.

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Ausdruck als wahrnehmbare Erscheinung: Stephen Davies’ Theorie

Hier wäre zumindest einzuwenden, daß nicht die Wahrnehmung der feineren Qualitäten notwendig uneinheitlich ist, sondern die Beschreibung dieser Wahrnehmung. Wenn wir zur Beschreibung Emotionswörter verwenden, so müßten wir uns Davies zufolge sekundär auf ähnlich fein unterschiedene Emotionen beziehen, und zwar aufgrund ihrer Äußerung im Ausdruck. Wie gesehen, bezweifelt er jedoch, daß die Äußerung allein zuverlässig unterscheiden lasse, ob eine Person nur ernst oder auch bedrückt oder womöglich gelangweilt ist, und um so weniger seien musikalische Eigenschaften geeignet, eine solche Unterscheidung zu erlauben. Diese Überlegung führt ihn zu der zweiten Antwort: »this nuanced variety applies to the manner of musical expression, not to the identities of the emotions thereby presented« (ebd.). Wie er im folgenden ausführt, heißt das, daß verschiedene Stücke von Mozart, Beethoven, Mahler oder Miles Davis allesamt nichts anderes als »sadness in general« präsentieren, sich hierzu aber unterschiedlicher musikalischer Mittel bedienen. Es sind diese »musical specifics«, durch die sie verschieden sind, nicht aber die Emotionserscheinungen: »The difference, to put it bluntly, lies in the notes and how they work together, not in the identity of the emotion that gets presented.« (ebd., S. 186) Zusammengefaßt heißt das: Wahrnehmbar sind in der Musik nur die allgemeinsten Emotionserscheinungen, und alle weiteren Details sind nicht ausdruckshaft, sondern musikalisch-formal zu bestimmen. Feiner bestimmte Emotionen nehmen wir in der Musik nicht wahr, sondern wir müssen sie interpretierend erschließen oder imaginieren (vgl. Davies 1999, S. 283). Interpretation und Imagination sind aber nach Davies nicht die ersten Ursprünge der Erfahrung von Ausdruck in der Musik, sondern werden erst dadurch motiviert, daß wir ohne weitere Reflexion »emotion characteristics in appearances« wahrnehmen. Aus der Einschränkung des Ausdrucksbegriffs auf die Polarität von Lust und Unlust folgt, daß er für die Musik nur begrenzten Wert haben kann: »these considerations suggest to me that the achievement of expressiveness is neither a necessary nor a sufficient condition for musical value.« (Davies 1994, S. 271) Wenn Davies seine Theorie derart einschränkt, daß Ausdruckserscheinungen in der Musik nur von zwei Arten sein können, weil die Grundlage erkennbarer Ähnlichkeit nur so viel erlaubt, kann man die Frage anknüpfen, ob jene Grundlage stark genug ist, um überhaupt 205 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

irgendeine Wahrnehmung von Ausdruck in der Musik zu tragen. Diese Zweifel bringt Jerrold Levinson gegen Davies vor. Knapp ausgedrückt lautet sein Einwand, daß die hörbaren musikalischen Formen allein keine Regel geben, wie wir sie in den vertrauten primären Ausdruck im menschlichen Verhalten ›übersetzen‹ oder aus ihm ableiten könnten (Levinson 2006a, S. 197). Eine solche Übersetzung oder Ableitung ist gefordert, wenn man von dem eingangs als primär behaupteten Begriff des Ausdrucks klassifizierbarer Emotionen ausgeht. Die Rede von Analogie oder Ähnlichkeit zwischen primärem und sekundärem Ausdruck könne nun nicht begründen, warum wir uns in der Wahrnehmung des sekundären auf den primären Ausdruck beziehen, denn »everything is similar to everything else to some degree« (ebd.). Beziehungen der Ähnlichkeit ließen sich zwischen den verschiedensten Gegenständen und Sachverhalten finden, wenn man nicht angeben kann, in welcher Hinsicht die Ähnlichkeit bestehe. Wir bräuchten darum einen Leitfaden zur Erkenntnis der Ähnlichkeit; und hierzu müßte man spezifizieren können, welche musikalischen Formen bestimmten personalen Ausdrucksweisen entsprechen. Das heißt, man müßte den musikalischen Ausdruck auf formale Elemente der Musik reduzieren können. Dies aber sei nicht möglich. Und selbst wenn es möglich wäre, ergäbe sich aus einer solchen Übung nicht mehr als eine »complex disjunction of technical or structural features coextensive with sadness in music« (ebd., S. 198 f.; Hervorhebung von Th. D.). Identisch mit dem wahrgenommenen Ausdruck könne dieser Komplex formaler Eigenschaften, die mit menschlichem Ausdrucksverhalten in einem Ähnlichkeitsverhältnis stehen könnten, jedoch nicht sein. 8 Es sei möglich, zu sagen, daß jemand diese formalen Eigenschaften und dieses Ähnlichkeitsverhältnis hören könnte, ohne sie als Ausdruck zu hören, und daß es eine besondere Art der »response« erfordere, diesen Komplex als Ausdruck zu erfahren. Levinson sieht den wesentlichen Fehler darin, daß Davies versucht, die Wahrnehmung von Ausdruck auf die Wahrnehmung einer Ähnlichkeit zu gründen und letztere als irreduzibel anzusehen (vgl. Davies 1994, S. 255). Er kehrt dieses Verhältnis um: Die Erfahrung

Dies greift einem Argument vor, das später (l.1., l.4., n.5.) vertieft wird: Die Auffassung ausdruckshaften Sinnes kann nicht vollständig schematisiert, d. h. in die Kategorien des musikalischen Textes oder in Begriffe umgesetzt werden.

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Jerrold Levinson: Wahrnehmung von Ausdruckseigenschaften

musikalischen Ausdrucks – Levinson spricht hauptsächlich von »Erfahrung« (»experience«) anstatt von »Wahrnehmung« und vermeidet damit den Anschein, als ginge es hier um die bloße Erkenntnis objektiver Eigenschaften – ist das Irreduzible und leitet uns erst dazu an, Ähnlichkeiten festzustellen. Diese Erfahrung sei aber nicht aus objektiven Eigenschaften des erfahrenen Gegenstandes zu begründen, sondern müsse einer Disposition folgen, Musik als Ausdruck zu hören. 9

j.3. Jerrold Levinson: Subjektive Bedingungen der Wahrnehmung von Ausdruckseigenschaften Theorien der »response-dependency« verlegen die Bestimmung des Ausdrucks in ein subjektives Verhalten der Musik gegenüber. Sie geben sich also mit der bloßen ›Ferne‹ der wahrgenommenen Eigenschaften und Ähnlichkeiten nicht zufrieden, sondern behaupten die Möglichkeit einer »response« – eines Verhaltens zum Wahrgenommenen – als Bedingung für die Wahrnehmung des Ausdrucks, der in der Musik erscheint. Insofern stehen sie Theorien des Nachvollzuges nahe. Mit Jerrold Levinsons »Persona-Theorie« musikalischen Ausdrucks bespreche ich im folgenden einen weithin bekannten Vertreter dieses Ansatzes. Ich ziehe die Umrisse nach, die Levinson dem Phänomen der Erfahrung von Ausdruck in der Musik gibt, und stelle dann seine Erklärung der Quellen dieser Erfahrung dar. Die problematischen Stellen in beiden Momenten seiner Theorie weisen darauf hin, wie der für die Musikphilosophie zentrale Begriff des Ausdrucks nicht aussehen sollte. Im Grunde folgt Levinson den Definitionen von Emotion und Ausdruck, die auch Ähnlichkeitstheorien wie derjenigen von Stephen Davies zugrundeliegen. Jedoch bestreitet er, daß es möglich sei, musikalischen Ausdruck lediglich als sekundäre Form zu verstehen, die von primärem personalem Ausdruck abgezogen werden könnte. Stattdessen wählt er den Weg, zu sagen: Wo Ausdruck ist, muß auch jemand sein, der sich ausdrückt. Ist niemand zu sehen – beispielsweise in den Tonfolgen der Musik – und erscheint uns trotzdem Ausdruck, so bedeutet das, daß wir ein Subjekt des Ausdrucks imaginiert

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Vgl. Levinson 1996, S. 103 f.; 2006a, S. 197.

207 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

haben. Dieses imaginierte Subjekt ist die musikalische »Persona«. 10 Wir kennen Ausdruck Levinson zufolge nur als personalen – primären – Ausdruck. Der musikalische Ausdruck stellt Emotionen oder weitere mentale Zustände vor, indem er sie uns in den Sinn kommen läßt (»call to mind«: Levinson 2011, S. 346), wenn wir auf bestimmte Weise hören. Was uns dabei in den Sinn kommt, bedarf keiner großen Genauigkeit. Kommt uns gar nichts Emotionales oder Mentales in den Sinn, so handele es sich um Anmutungs- oder Bewegungsqualitäten wie beispielsweise die Gleichmäßigkeit des ersten Präludiums aus Bachs Wohltemperiertem Clavier. Solche Qualitäten wahrzunehmen erfordere nicht, sie als personalen Ausdruck aufzufassen. 11 Daß Levinson auf einer Linie mit den zu Beginn dieses Kapitels resümierten Bestimmungen von Ausdruck und Emotion liegt, wird in einer der Voraussetzungen sichtbar, die er für eine Analyse musikalischen Ausdrucks anführt, nämlich aus dem »generality requirement«: Der Gehalt des Ausdrucks muß in den paradigmatischen Fällen zu »familiar psychological states of a general sort« zählen (Levinson 1996, S. 92). Dies sind beispielsweise Freude und Trauer, bei Levinson jedoch auch kognitiv komplexe Haltungen wie Hoffnung und schließlich Emotionen und andere Zustände mitsamt parodistischer oder ironischer Brechung (ebd., S. 121 f.); auf letztere gehe ich weiter unten kurz ein. Daß Ausdruck vorliegt, hängt auf alle Fälle davon ab, daß durch ihn solche allgemeinbegrifflich faßbaren Zustände ›identifiziert‹ werden können (vgl. z. B. Levinson 2011, S. 337). Wenn Ausdruck auf diese Weise bestimmt ist, müsse die Differenzierung musikalischen Ausdrucks eingegrenzt werden: Er dürfe nicht »absolutely particular« sein, denn ein solcher Eindruck – der durch ein ›vollständiges Eintauchen‹ in den Klangfluß und seinen besonderen Charakter aufkommen könne und dann durchaus berechZur Terminologie sei angemerkt, daß Levinson und andere »Persona«-Theoretiker wie Jenefer Robinson oder Peter Rinderle annehmen, das Wort »Person« (ohne a) lege zu viele Ansprüche an die Bestimmtheit der persönlichen Geschichte, der Umstände, der Charakterhaltung usw. der Person nahe. »Persona« (mit a) soll dagegen der Tatsache gerecht werden, daß die Musik derartige propositional auszudrückende Bestimmungen nicht leistet und das in ihr imaginierte Wesen in diesen Hinsichten unbestimmt bleibt. Rinderle (2010, S. 145) sagt hierzu, bei der Persona handele es sich um einen »Typen« oder Charakter, nicht um ein »Individuum«. Ich möchte mich im folgenden aber nicht, wie es in der Diskussion oft geschieht, auf die nähere Analyse der Persona konzentrieren, sondern vielmehr auf die imaginativen Akte, die ihr zugrundeliegen. 11 Levinson 2006a, S. 192 f. und 201; 2006b, S. 85. 10

208 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Jerrold Levinson: Wahrnehmung von Ausdruckseigenschaften

tigt sei – stimme nicht mit dem überein, was es heißt, Ausdruck »in the ordinary and central sense« zu verstehen (Levinson 1996, S. 98), nämlich als einen allgemeinen mentalen Zustand bedeutend. Bestenfalls sei der Eindruck absoluter Besonderheit so aufzulösen, daß man sagt, es handle sich um instabilen (»fluctuating«), ›zweideutigen‹ oder ›unbestimmten‹ Ausdruck oder um den Ausdruck eines ›hybriden‹ oder ›gemischten‹ Geisteszustandes (ebd., S. 123). Die Besonderheit entsteht hier aus der Mischung von vorher begrifflich bekannten Zuständen. Für die Erkärung des so beschriebenen Phänomens stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis alltagsweltlicher und musikalischer personaler Ausdruck stehen. Ein objektives Analogie- oder Ähnlichkeitsverhältnis kann es für Levinson nicht sein. Es gibt ein Verhältnis zwischen mentalen Zuständen und dem auf sie verweisenden Ausdrucksverhalten, das uns aus der eigenen lebensweltlichen Erfahrung geläufig ist. Musikalischer Ausdruck ist nicht von dieser Art: Er ist nicht so verfaßt, daß eine wirkliche Person sich ihrer musikalischen Fähigkeiten bediene, um sich auszudrücken. Die Persona in der Musik ist keine Person, die ein Instrument spielt oder dergleichen. Das Verhältnis zwischen den Zuständen und Tätigkeiten der musikalischen Persona und ihrer Äußerung in Klängen sei vielmehr »sui generis«, was vorerst nicht mehr heißt als: »it is that the persona, in some unspecified way, is manifesting emotion through musical output« (ebd., S. 107, Anm. 54). Dieser »output« ist in keiner Weise auf die sonstigen menschlichen Verhaltensmöglichkeiten beschränkt, denn indem er durch die Musik zustandekommt, verfüge er über ganz andere und unvergleichbare Ressourcen (vgl. ebd., S. 115). Er ist der Ausdruck einer Person(a), die sich im musikalischen Raum und in der musikalischen Zeit bewegt. Levinson sieht deutlich, daß diese Erklärung schwer verständlich und der Terminus »sui generis« unglücklich sein kann (Levinson 2006a, S. 194), und bietet als Alternative an, man möge beim musikalischen Ausdruck nicht an eine ganz außergewöhnliche Ausdrucksweise denken, sondern jede nähere Bestimmung der Art und Weise tilgen, wie der Ausdruck vonstatten geht. Dann könnte man von »personal expressing, sort unspecified – or else just personal expressing, tout court« (Levinson 1996, S. 121) sprechen. Das heißt: Wir hören Ausdruck – aber wir wissen nicht, wie und wieso, und stehen erst vor einem Rätsel, wenn wir über unseren Eindruck nachdenken, so daß »sui generis« erst in der Theoriebildung als Erklärungshypo209 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

these erscheint (Levinson 2006a, S. 194 f.). Eine gewisse Spannung herrscht also in der Beschreibung des Phänomens: Begrifflich ganz unbestimmte Ausdrucksweisen bringen für uns nach der Maßgabe des »generality requirement« bestimmten und verständlichen Ausdruck hervor. Es führt weiter, auf die subjektseitigen Akte der Imagination einzugehen und zu sehen, welche Vorschläge Levinson präsentiert, um sie zu analysieren. Für diese Analyse ist zu beachten, daß Imagination nicht als ein ungeregelt subjektives, völlig willkürliches Tun verstanden wird, sondern als ein Prozeß, der einerseits auf Regelhaftigkeiten und Ursachen befragt werden kann, die einer philosophischen Untersuchung zugänglich sind, sich aber andererseits mit einer gewissen Freiheit entfaltet, so daß seine Erklärung keine einheitliche und zwangsläufige These – gleichsam die Betriebsanleitung für einen Mechanismus – darüber sein kann, wie Ausdruck in der Musik funktioniert. Den Beitrag der Imagination zur Wahrnehmung des Ausdrucks umreißt Levinson zunächst so: »The sound of the sound [gemeint ist damit der Klang als objektiv], so to speak, does not suffice in itself to fix the expressive character of the passage […]. The same sounds present different appearances […] according to the notions we entertain at the same time regarding the actions or processes that have engendered them.« (Levinson 2006b, S. 80 f.)

Das heißt: Um Ausdruck im Klang zu hören, müssen wir eine Vorstellung von einem Zusammenhang von Bewegungen oder Verhaltensweisen haben, als deren Teil oder Ergebnis wir den Klang hören. Im grundlegenden Fall der unreflektierten Ausdruckswahrnehmung ist solch eine Imagination nicht beliebig und willkürlich, sondern ebenfalls spontan und unreflektiert (vgl. Levinson 2006a, S. 195). Diese spontanen Imaginationen haben nach Levinson ein breites Spektrum möglicher Quellen, das sich über Stimmungsansteckungen, »affective appraisals«, unterschwellige Spannungs- und Überraschungsmomente (»›subemotional‹ responses«) und die Vorstellung von Ähnlichkeitserscheinungen erstreckt und ferner Konventionen, bewußte innere Nachvollzüge, die Assoziation natürlicher Phänomene oder das Wiedererkennen musikalischer Elemente, die uns in anderen Kontexten als ausdruckshaft erschienen sind, einschließt (Levinson 1996, S. 113 f.; S. 117). All diese Möglichkeiten können zu der spontanen Auffassung der Musik als Ausdruck einladen (»invita210 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Jerrold Levinson: Wahrnehmung von Ausdruckseigenschaften

tion«: Levinson 2006a, S. 192), indem sie mit dem, was wir sonst als personalen Ausdruck kennen, gleichschwingen (»hook into« oder »resonate«: Levinson 2011, S. 345). Mit diesen Thesen möchte Levinson einen wesentlichen Schritt über die kognitivistischen Theorien musikalischen Ausdrucks hinauskommen, aber er verbleibt schließlich doch wieder in deren Rahmen. Das liegt daran, daß der epistemologische Status des lebensweltlichen Ausdrucksverstehens, das Levinson als Ausgangspunkt annimmt, den Status des Imaginationsvermögens bestimmt, das an es anknüpft, und damit am Ende den Status der Ausdrucksbegriffe, die die imaginative Erfahrung uns in den Sinn kommen läßt. Das eingangs postulierte »generality requirement« bestimmt Ausdrucksverstehen so, daß das, was ausgedrückt erscheint, von allgemeiner, propositional faßbarer Art ist: ›mentale Zustände‹, Verhaltensweisen etc., die aus dem Alltagsleben geläufig sind. Die Gehalte des Ausdrucksverstehens unterscheiden sich nicht weiter – wenn wir davon absehen, daß Levinson einen höheren Grad der Komplexität der ausgedrückten Zustände zuläßt – von denen, die beispielsweise in Davies’ Theorie zu erkennen sind. Nur der Zugang zu diesen Gehalten unterscheidet sich: er soll nicht rein erfassend, sondern imaginativ sein. Was uns aber nach der einen Theorie in der Wahrnehmung, nach der anderen in der Imagination entgegentritt, steht nach wie vor im Rahmen des primären Emotionsbegriffs, der zu Anfang umrissen wurde. In diesem Rahmen bedeutet Ausdruck zu verstehen die, wenn auch imaginative, Identifikation eines allgemein bestimmbaren ›inneren‹ Zustandes, weil Ausdruck seinem Wesen nach eine begriffliche Identität haben und auf etwas ebenfalls von vornherein begrifflich Identifizierbares verweisen soll. Verstehen ist daran gebunden, daß wir identifizieren. Ausgehend von dieser Voraussetzung kann die Imagination nur noch ein Hilfsmittel zu einem Verstehen sein, dessen Begriff vorgängig bereits festgestellt worden ist, und zwar im Rahmen einer kognitivistischen These des Verstehens als Identifizieren. Die Grundlagen der Imagination werden unterhalb der Reflexion und der begrifflichen Erkenntnis von Ähnlichkeiten gesucht. Sie sind zu einem wesentlichen Teil unterschwellige psychologische Mechanismen. Dies ist aber nicht alles: Jene Mechanismen bestimmen nicht im Alleingang den Gehalt der musikalischen Erfahrung, sondern sie begründen eine ›Einladung‹ dazu, diese Erfahrung in bestimmte Begriffe zu fassen. Darum bemerkt Levinson, daß der unter211 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

schwellige psychologische Prozeß allein nicht die Kraft habe, unsere bewußte Imagination, daß die Musik beispielsweise als Ausdruck zu hören und zu verstehen sei, fest auf die Füße zu stellen. Unser Denken müsse die Vorgabe der unterschwelligen Motivation überprüfen, ob sie anerkannt werden kann, indem es fragt, ob die Musik die Eigenschaften habe, die es rechtfertigen, sie als Träger eines bestimmten Ausdrucks zu hören: »[…] the theory requires […] that they [= »listeners«] recognize the music as readily hearable as the expression of an emotion« (Levinson 2006a, S. 201). Von welcher Art ist dieses anerkennende und damit am Ende erkennende (»recogniz[ing]«) Denken? Levinson beruft sich hierzu auf eine Gemeinschaft kompetenter Hörerinnen, die den Maßstab dafür gibt, welche Aussagen über die musikalische Erfahrung als gültig und sinnvoll gelten dürfen (ebd., S. 202). Dabei ergibt sich – von Levinson durchaus zugegeben, aber für unproblematisch gehalten (ebd.) – eine Zirkelstruktur: Wenn kompetente Hörerinnen die Musik so imaginieren, daß sie eine bestimmte Eigenschaft hat, muß diese Eigenschaft auf der ontologischen Ebene, die jener Imagination entspricht – auf der ›ästhetischen‹ Ebene –, objektiv und wirklich sein. Wäre sie es nicht, so denkt Levinson, daß keine nicht-zufällige Übereinstimmung zwischen den Erfahrungen kompetenter Leute zustandekommen könnte: Diese Erfahrungen müßten im Leeren hängen und in Bezug auf ihren vorgeblichen Gehalt kontingent sein. 12 Levinson beansprucht als Grundposition einen Realismus ästhetischer Eigenschaften. Dementsprechend haben am Ende die Begriffe, die die imaginative Erfahrung heraufbeschwört, den Status der Beschreibung von Eigenschaften inne, deren Objektivität durch die Zwischenschaltung der »response-dependency«, diverser psychologischer Abläufe, der kulturellen Praxis des Sprechens über Musik und der Imagination qualifiziert wurde, ohne selbst grundsätzlich in Frage zu stehen. Es ist bemerkenswert, daß die offensichtliche Heterogenität der Ausgangspunkte für den Gebrauch von Ausdrucksbegriffen für die Musik – psychologische Mechanismen am einen Pol, erlernte Praktiken der Reflexion auf Musik am anderen – in empiristisch-realistischen Ästhetiken eingeebnet wird, was ihre epistemologische Funktion betrifft, denn die Perspektive, von der aus sie untersucht werden, ist diejenige einer vorgeblich unmittelbaren Erfahrung der Musik. 12

So in Matravers & Levinson 2005, S. 220 f.; vgl. auch S. 215.

212 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Jerrold Levinson: Wahrnehmung von Ausdruckseigenschaften

Diese Einebnung ist in Levinsons Fall daran zu erkennen, daß aus ihr umgekehrt folgt, daß teils recht komplexe Beschreibungen von Ausdrucksgehalten durch jenes Konglomerat aus Reflexionen, Gewohnheiten und psychologischen Mechanismen auf gleiche Weise begründet sein sollen wie ganz elementare Ausdruckswahrnehmungen. Solche komplexen Beschreibungen sehen beispielsweise so aus, daß eine charakteristische Bewegung in der Musik nicht für voll genommen, sondern als Parodie, Karikatur oder »mimicking« erkannt wird (vgl. Levinson 1996, S. 121 f.). Berühmt geworden ist auch sein Aufsatz »Hope in The Hebrides« (in Levinson 2011, S. 336–375), in dem er den Anspruch erhebt, in Mendelssohn-Bartholdys Konzertouvertüre Die Hebriden die Emotion Hoffnung zu ›identifizieren‹. Dies sei gewährleistet, indem die Musik in uns direkt ›Gedanken‹ ›hervorrufe‹ (»call to mind«: ebd., S. 346): »a musical passage might – by inducing appropriate listeners to imagine the personal expressing of a positive future-oriented state of mind […] – succeed in being expressive of hope« (ebd., S. 350, Hervorhebung von Th. D.). Man bemerke, wie eng der deutliche Gedanke mit dem Gehalt »Hoffnung« mit einer Kausalerklärung (»inducing«) seines Zustandekommens verknüpft wird. Aufschlußreich ist allerdings, wie Levinson am Ende dieses Textes schreibt, daß das musikalische Verstehen schon gegeben sein könne, bevor man diesen deutlichen Gedanken faßt, nämlich in »hearing a certain way« (ebd., S. 375, Anm. 53). Im Rahmen der an Plessner anknüpfenden Theorie könnte man Levinson so deuten: Wir erfassen den Sinn der Musik durch die Anknüpfung eines Verhaltens – nur scheint Levinson zu fordern, daß hierdurch gleich ein Reflex des begrifflichen Denkens hervorgerufen wird, das jene Anknüpfung begrifflich abschließt, nämlich im Fassen des Gedankens »Hoffnung«. Dagegen wird ab dem folgenden Kapitel auszuführen sein, daß musikalischer Sinn in einer wesentlichen Hinsicht offener Sinn ist, der nicht begrifflich vollends abgeschlossen werden kann. Zusammenfassend finden wir an Levinsons Theorie einen Zug, einem nachvollziehenden und leiblich mitaffizierten Hören eine wichtige Rolle zuzuweisen. Problematisch ist jedoch, daß dieser Nachvollzug zum bloßen Mittel herabsinkt, um zu einer begrifflich bestimmten Beschreibung der Musik überzugehen. Diese ist der Ausgangs- und der Endpunkt von Levinsons Untersuchungen. Ihre empiristischen Rahmenbedingungen erlauben die Begriffe des Nachvollzuges und des nachvollziehenden Subjekts nur als von vonherein 213 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck als Erkenntnisgegenstand

zerfallene Begriffe zu fassen: zerfallen in einen Anteil unbewußter Prozesse, über die die Psychologie etwas sagen können soll, und in einen Anteil der Begriffsbildung, der von ebenfalls empirisch untersuchbaren Praktiken des Redens über Musik abhängt. Dieser mehr oder weniger stillschweigende Rückbezug auf das empirisch Untersuchbare ist eine Folge des »externality requirement«: Treffen wir im subjektiven Verhalten auf eine feststellbare Übereinstimmung mit etablierten Praktiken oder auf nicht willkürlich beeinflußbare psychologische Abläufe, dann ist das Verhalten eben nicht unbegreiflich und idiosynkratisch, sondern es folgt Regelhaftigkeiten – seien sie nun psychologisch, neurologisch oder sozial – und kann daher einer »externalistischen« Ansicht unterliegen und eine gewisse Objektivität der in ihm ausgeprägten Redeweisen und Erkenntnisse beanspuchen. Einen wesentlichen Anteil an diesem Problem hat der eingangs bestimmte Begriff des Ausdrucks, der durchweg jenem empiristischen Paradigma entspricht. Ausdruck liegt vor unseren Augen oder Ohren und hat den Zweck, bestimmte, in einer Innenwelt vorliegende Zustände so anzuzeigen, daß wir sie benennen können. Eine Begründung dafür, wieso dieser Ausdrucksbegriff so gern vorausgesetzt wird, ist selten zu finden; meist scheint er lediglich aus Gründen der vorgeblichen Faßlichkeit gewählt: Hält man die Untersuchung im Rahmen von Begriffen, von denen man voraussetzt, daß wir wissen, wie wir sie alltäglich gebrauchen, so erspart man sich den Rückgriff auf nebulöses Unsagbares. Gerade diese Voraussetzung vorgeblich alltäglicher Begriffe verstellt das Problem. Um diese Verstellung abzubauen, gehen wir von diesem langen Exkurs zur ›analytischen‹ Ästhetik fort, um im Kontrast zu ihm die Folgerungen herauszustellen, die die ästhesiologische Untersuchung des Klanges und des Hörens empfiehlt.

214 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

k. Ausdruck und thematischer Sinn

k.1. Folgerungen aus Plessners ästhesiologischer Untersuchung: Grundsätzliche Unterschiede zu objektivistischen Theorien Die ästhesiologische Analyse läßt die Ansicht hinter sich, daß musikalisches Verstehen an das Erkennen von Eigenschaften der Klänge gebunden ist. Ein Begriff musikalischen Verstehens, der auf der Vorstellung bestimmbarer Eigenschaften beruht, prägte den Idealtypen des Serialismus. Als Eigenschaften der Klänge galten dort zahlmäßig bestimmbare ›Parameter‹, aus denen sich die ›rationale‹ Ordnung des Werkes aufbauen sollte. Die Rede von Eigenschaften ist auch in der ›analytischen‹ Ästhetik besonders prominent, wie in Kap. c. und j. zu sehen war. Die Erfahrung und das Verständnis von Kunstwerken führen viele ihrer Vertreter darauf zurück, daß man als Rezipientin imstande ist, die Ordnung und die Verknüpfung ihrer Eigenschaften wahrzunehmen, gleichviel, ob diese ›Eigenschaften‹ formal, kunsthistorisch, semantisch usw. sind (die jeweilige Relevanz dieser verschiedenen ›Eigenschafts‹-Gruppen für das Verstehen kann anschließend noch diskutiert werden). So verhält man sich auffassend gegen ein Objekt. Das Ungenügen an diesem kognitivistischen Gedanken fordert Gegenthesen heraus, denen zufolge es musikalisches Verstehen auch mit nicht-kognitiven Reaktionen zu tun haben muß, die durch die Musik bedingt sind. Hier verhält man sich subjektiv affiziert (Kap. i.). Über diese Entgegensetzung kommt die ästhesiologische Analyse hinaus. Die Grundbestimmungen der Qualitäten des Klanges – Lagewerte, Impulswerte, Volumen, Schwellfähigkeit – sind keine Eigenschaften im Sinne der eben genannten Positionen, die etwa als Eigenschaften des musikalischen Klanges zum Geräusch oder als stoffliche Eigenschaften zur Form hinzutreten würden. Diese Qualitäten sind Sinnmomente im Zusammenhang eines Weltbezuges, den ein Wesen in seinem Verhalten herstellt und äußert. Daß sie Sinnmomente sind, sei hier noch einmal hervorgehoben, da die elementa215 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck und thematischer Sinn

re und abstrahierende Darlegung in h.1. so aussehen konnte, als enthielte sie eine Liste von dem Klang zukommenden Eigenschaften im herkömmlichen Sinn. Dementsprechend ist die relevante Wahrnehmung von Klängen nicht als Kognition von Eigenschaften zu denken. Die Wahrnehmungssinne fungieren vielmehr vermittelnd: Sie vermitteln einen sinnlich aufzunehmenden Gegenstand mit Möglichkeiten des Weltbezuges für ein wahrnehmendes Wesen, dem sie kraft ihrer Vermittlung die Möglichkeit geben, sich zu dem sinnlich Aufgenommenen zu verhalten. Diese Möglichkeit, sich zu ihm zu verhalten, ist der Sinn des sinnlich Aufgefaßten. Die Kognition oder Erkenntnis durch die Wahrnehmung steht also nicht für sich, sondern in einem Horizont des Verhaltens. Zu fragen ist nun nach den relevanten Weisen des Verhaltens, mit denen vermittelt die musikalischen Klänge Sinn haben. Daß ich eben wiederholt das Wort »Möglichkeit« gebraucht habe, weist auf den Unterschied zwischen der genannten Vermittlungsbeziehung und ›nonkognitivistischen‹ Ansichten über affektive Reaktionen hin. Theorien, die affektive Reaktionen dieser Art in das Verstehen der Musik einarbeiten, sind negativ abhängig von der kognitivistischen Theorie, die dieses Verstehen in die Wahrnehmung objektiver Eigenschaften legt. Jene hängen ebensosehr von der Vorstellung objektiver Eigenschaften – etwa von Reizen – ab, betrachten sie aber nicht als Wahrnehmungsgegenstände, sondern heben ihre Rolle als Auslöser von Zustandsänderungen im Subjekt hervor. Insofern diese auf psychologischen Mechanismen beruhen, gesteht man ihnen zu, nicht subjektiv-willkürlich zu sein, sondern objektiv begründet, auch wenn sie mit der Objektivität beispielsweise der Eigenschaftswahrnehmung in Konkurrenz treten können. Daß die Sinne vermitteln, bedeutet dagegen, daß ihr Gegenstand kein tatsächlicher Auslöser einer Reaktion oder Kognition ist, sondern ein Träger von Möglichkeiten, sich auf ihn zu beziehen. Wichtig sind hier insbesondere die in Kap. h. aufgetretenen notwendigen Möglichkeiten. In diesem Sinne ist die Nachvollziehbarkeit des Klanges zu verstehen. Der Klang erregt nicht den Nachvollzug als notwendige Reaktion, aber es muß möglich sein, ihn nachzuvollziehen, damit er musikalischer Klang sein kann. Wir werden sehen, daß der Sinn des Klanges mit seiner auf gleiche Weise zu verstehenden Deutbarkeit einhergeht und nicht mit einer vorgeblich vorliegenden Bedeutung, wie sie in objektivistischen Theorien als Grundbegriff beansprucht wird. 216 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Sinn des Verhaltens

Schließlich ist die Frage anzusprechen, wie sich die nachvollziehende Erfahrung zu Begriffen verhält. Dies war eine der Ausgangsfragen für die ästhesiologische Analyse. Vor ihr kannten wir Begriffe reiner Sukzession – musiktheoretische Elementarbegriffe, das Zählen der Zeit – als Maß eines kognitiven und unstofflichen Nachvollziehens der Klänge, und wir kannten die Begriffe von Ereignissen, die Klänge verursachen, so daß Klänge hörend auf solche Begriffe zurückgeführt werden können. Im Vergleich zu diesen beiden Fällen ist der im Nachvollzug erfahrene Sinn der Klänge nicht begrifflich. Die Klänge werden nicht an ein Koordinatensystem diskreter Einheiten gehalten, das für den zählbaren Rhythmus eine notwendige Voraussetzung ist. Im Gegensatz zur Diskretheit dieser Begriffe verläuft der Nachvollzug in seinem Grunde nicht-kategorial oder analog. Anstatt daß der Begriff das Mannigfaltige des Klanges ordnet und reduziert, kommt hier zunächst jedes Moment dieses Mannigfaltigen als Möglichkeit der Anknüpfung und als Träger von Sinn in Frage, denn leibliches Verhalten, nicht eine rein kognitive Tätigkeit, ist das Moment im Subjekt, mit dem der Ablauf der Klänge koordiniert wird. Für die Ausgangsfrage bedeutet das, daß wir hinter jene Erläuterung zurücksteigen, die mit dem ersten elementaren Nachvollzugsbegriff gegeben wurde und mit dem Anlegen von Sukzessionsbegriffen umging. Der leibliche Nachvollzug führt dagegen zu einer Schicht, in der Bewegung und Ausdruck nicht begrifflich erfahren werden, sondern auf eine Weise, die dem Gebrauch und der Bildung von Begriffen der Bewegung und des Ausdrucks vorhergeht und sie mitbegründet. Diese Erfahrung musikalischen Sinnes enthält keine Sukzessionsbegriffe, sondern ist selbst Ausgangsmoment für eine mögliche Begriffsbildung.

k.2. Der Sinn des Verhaltens Verhalten als vorproblematisches, vorwissenschaftliches Phänomen ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß es psychophysisch indifferent ist (Plessner, GS VII, S. 81). Diesen Terminus übernimmt Plessner von Max Scheler 1 , bei dem er im Zusammenhang eines umPlessners Verweis und Kritik: GS III, S. 20 f.; GS VII, S. 117–121; S. 127; Schelers Wortverwendung: GW 2, S. 381 f.; S. 388; GW 7, S. 256. Man kann diesen Grundgedanken aber auch schon in Hegels Philosophie des Geistes (vgl. z. B. Enz., § 401

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Ausdruck und thematischer Sinn

fangreichen Argumentes steht, von dem ich hier nur die wesentlichen Züge anführe. Nach Scheler kennzeichnet die psychophysische Indifferenz die »Person« und ihre »Akte« im ganzen. Dieses Verständnis grenzt sich gegen eine Auffassung ab, daß das Verstehen von Personen auf eine »psychische« Sphäre seelischer Vorgänge zurückgreifen müsse, die naiv-introspektiv oder auch methodisch beobachtbar sind und sich als bewußte Innenwelt von einer physischen, d. h. Körperwelt abtrennen lassen. Das Psychische und das Physische wären dabei, indem sie beobachtbar sein sollen, gleichermaßen vergegenständlicht. Unter dieser Voraussetzung gelingt es nach Scheler nicht, zu verstehen, was eine Person ist und wie sie tätig sein kann; sie erlaubt uns nur den Blick auf ein Gefüge von Reizen und Reaktionen. Eine Person und ihre Akte seien jenseits dieser Unterscheidung, denn sie sind geistig (Scheler, GW 2, S. 388). Personale Akte seien dadurch ausgezeichnet, daß in ihnen, im Gegensatz zu psychischen und physischen Vorgängen, etwas »gemeint« ist (ebd., S. 387). Alle Arten des Urteilens, Ausdrückens, Verstehens, Denkens und Handelns zählen somit zu ihnen. Scheler zeichnet nach, welche Folgen die Unterscheidung zwischen personalen Akten und Vorgängen, die unter der Voraussetzung psychophysischer Indifferenz betrachtet werden, für die Auffassung anderer Personen hat. Erkennen wir sie als Personen, so erkennen wir sie eben nicht als Körper, aus deren Verhalten wir etwas Psychisches erschließen müßten. Vielmehr verwenden wir die Kategorien des Physischen und Psychischen gar nicht. Dies tun wir entweder dann, wenn wir in der Analyse auf dasjenige hinweisen, was uns tatsächlich an fremden Personen nicht zugänglich ist, nämlich das nur Psychische und Physische, »die Organempfindungen und die mit ihnen verknüpften sinnlichen Gefühle« (GW 7, S. 249). Oder wir verwenden sie reflektierend, wenn wir an unserem Vorverständnis dessen, was jemand tut und sagt, zweifeln. »Im ›Verstehen‹ ist uns niemals der Tatbestand als Sachverhalt gegenwärtig, daß psychische Prozesse im anderen ablaufen, die Ursachen haben und von denen die Lebensäußerungen ›Wirkungen‹ sind. Wesentlich vielmehr ist für das ›Verstehen‹, daß wir aus einem in der Anschauung mitgegebenen geistigen Zentrum des anderen heraus seine Akte (Rede, Äußerungen, und 411: S. 100–102 und 192) formuliert finden, auf die ich hier nicht weiter eingehe, um nicht zu sehr abzuschweifen.

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Der Sinn des Verhaltens

Handlungen) gegenüber uns und der Umwelt ohne weiteres als intentional auf etwas gerichtet erleben und nachvollziehen […] und all dem ohne weiteres die Einheit irgendeines ›Sinnes‹ unterlegen. […] Nur da, wo sich solche Hemmungen dieser Verständnisintention einstellen, die auch durch Annahme von Mißverstehen sich als unaufhebbar erweisen, wechselt unsere Einstellung in charakteristischer Weise. […] In seinen Lebensäußerungen sehen wir nun nicht mehr sinngerichtete Intentionen enden, sondern was uns gegeben ist, sind Ausdrucksbewegungen und andere Bewegungen, hinter denen wir psychische Vorgänge als Ursachen suchen. Anstelle des ›Sinnbandes‹ dieser Äußerungen aber tritt das Band der ›Kausalität‹ resp. der Umweltreize, die jene Äußerungen auslösen […]«. (GW 2, S. 470 f.)

Scheler skizziert eine Figur, die nicht bei Sinnen, »irrsinnig« ist. Sie können wir nicht mehr verstehen, so daß wir in den Modus des kausalen Erklärens übergehen, für den wir die psychophysisch indifferente Auffassungsweise aufgeben. Plessner folgt dieser Schilderung im Grunde, mit dem Unterschied, daß er Schelers Betonung des Personbegriffs und des Geistigen zunächst in den Hintergrund stellt, um anzunehmen, daß der Begriff des Verhaltens für Tiere im allgemeinen gilt 2 und wir mit gewissem Recht sagen können, deren Verhalten zu verstehen, etwa als »Suchen und Finden, Drohen und Fliehen« (Plessner, GS VII, S. 81). Daß wir dieses Verständnis vorwissenschaftlich in Anspruch nehmen, führt zu der Frage, welche Grundlage für es vorliegt. Diese Grundlage ist nach Plessner ein struktureller Grundzug tierischen Lebens, der auch im menschlichen Leben beibehalten ist, nämlich die »Gegensinnigkeit der Leib-Umgebungsrelation« (ebd.): Als Lebewesen verstehen wir uns auf eine bestimmte Weise auf unsere Umgebung, da sie die Umgebung unserer Akte ist. Die Wahrnehmung der Umgebung ist darauf ausgerichtet, in ihr Möglichkeiten und Erfordernisse der Aktion zu erkennen, und die Aktion ist wiederum auf diese wahrgenommenen Möglichkeiten und Erfordernisse ausgerichtet. Das agierende Lebewesen nimmt in seiner Umgebung nicht nur Plessners Position ist in Bezug auf das Verstehen tierischen Verhaltens zweideutig. Einerseits spricht er von »Stufen des Organischen«, was auf eine Kontinuität zwischen menschlichem und tierischem Verhalten in ihrer Leib-Umwelt-Relation hinweist. Andererseits und gegen diese Kontinuität im Begriff des Verhaltens fordert sein Begriff der Exzentrizität, der den Menschen ausmacht, so verstanden zu werden, daß die Stufen des Verhaltens, auf die wir uns exzentrisch beziehen, durch diesen Bezug fundamental transformiert werden. Dann ist der Mensch nicht ein Tier mit geistigen Zusätzen. Grob gesagt ist in »Die Deutung des mimischen Ausdrucks« jene Kontinuität betont, in späteren Schriften die Differenz; vgl. z. B. Plessner 1975, S. 293.

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Ausdruck und thematischer Sinn

Daten auf, sondern es nimmt verhaltensrelevanten Sinn wahr und verhält sich in sinnvoller Weise in diesem Rahmen. Diese Gerichtetheit auf die Umgebung bringt es mit sich, daß Verhalten nicht nur eine auf bestimmte Weise geformte und entsprechend zu beschreibende (oder zu zeichnende) sichtbare Gestalt hat. Vielmehr ist diese Gerichtetheit immer schon als etwas »Unanschauliches« (ebd., S. 86) in die sinnlich-anschauliche Bewegungsgestalt hineingetreten und bildet ihren Sinn. Auf dieser Stufe ist Sinngebung und Verstehen »keine reine Bewusstseinsleistung mehr, sondern Vollzug des Körperleibes« (Loenhoff 2008, S. 173). Die Verhaltensweisen sind »bildhaft-sinnhaft indifferent« – ein Prädikat, das Plessner außer dem Verhalten, verstanden als rein körper-leiblicher, von Reflexion abstrahierter Vollzug, allein der Musik zuschreiben möchte (Plessner, GS VII, S. 84). Bevor wir dies unterschreiben können, sind allerdings einige Differenzierungen zu erörtern, die die menschliche Umwelt und die in ihr möglichen Formen von Sinn betreffen. Die eben umrissene Beziehung zwischen Leib und Umgebung scheint ja zunächst nur Verhaltensweisen verständlich zu machen, die auf ein bestimmtes in der Umgebung angetroffenes Ziel ausgerichtet sind – und gerade dieses Verständnis ist ja nicht für die Weise relevant, wie musikalischer Sinn wahrgenommen wird, wie die Unterscheidung zwischen der jeweiligen Bewegtheit, Zeitlichkeit und Räumlichkeit von Musik bzw. Rhythmen und von zweckmäßig geordneten Handlungen oder kausalen Verläufen gezeigt hat. Im Falle des Menschen haben wir es nicht nur, wie beim Tier, mit dem Verhältnis eines Leibes zu einer nährenden, behausenden oder bedrohenden Umwelt zu tun, sondern müssen erstens in Betracht ziehen, daß seine Umwelt geistig ist. Mit anderen Worten: Sie ist intersubjektiv konstituiert und hat über die rein leiblichen Aktionsmöglichkeiten hinaus den Aspekt der Bedeutung, indem wir auf denkende, urteilende und verstehende ›Verhaltensweisen‹ treffen. Im Zusammenhang mit solch verständigem Verhalten steht die Tatsache, daß wir nicht in einer Welt von Reizen, sondern in einer Welt aus nach empirischen Begriffen geordneten Dingen leben. 3 Insofern unsere Umgebung verstehbar ist, stellt unser Verhalten nicht eine bloße Reaktion dar, sondern es involviert die Möglichkeit der Reflexion,

Vgl. GS VII, S. 114; S. 142 f.; Plessner 1975, S. 293–295, zur Differenz zwischen »Umfeld« und »Außenwelt«. Vgl. auch unten k.5.

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Der Sinn des Verhaltens

indem uns die Möglichkeit gegeben ist, auf unterschiedliche Weisen auf diese Umgebung einzugehen. Zweitens ist die menschliche Gegensinnigkeit auch ein Selbstbezug. Dies ist gerade für den Begriff des Ausdrucks entscheidend. Das Verhalten des Menschen ist nicht nur so bestimmt, daß »der lebendige Körper in seiner Haltung einen […] Bezug zur Umwelt äußert« (GS VII, S. 114), sondern der Mensch äußert zugleich einen Bezug – eine Haltung und ein Verständnis – zu sich selbst, zu seinem Leib, seinem Bewußtsein, seinen Erlebnissen und Erkentnissen. An dieser Stelle kann ich den Bestimmungen der Geistigkeit und des Selbstbezuges nur den Charakter von Forderungen geben, denen eine Theorie des Verstehens von Musik genügen muß; eingelöst werden sie in Kap. q. und r. Diese beiden Bestimmungen menschlichen Verhaltens – daß es Verhalten in und zu einer geistigen Umgebung ist und daß es ein Selbstverhältnis impliziert – sind Momente von Plessners berühmtem Grundsatz der Exzentrizität des Menschen. Dieser Grundsatz bestimmt die Analyse von Ausdruck und Haltung bis hin zu Grenzfällen wie denen des Lachens und Weinens. Plessner schreibt: »Eine Selbstentdeckung, ein Sinnverständnis geht voraus und führt […] das ›Verhältnis‹ der Person zu ihrem Körper […] auch Lachen und Weinen [und umso mehr andere Formen des Ausdrucks] sind nicht starre Vermögen, die hinterrücks ihr Werk tun und über den Menschen verfügen, ob er will oder nicht. Sie sind nur insoweit Vermögen, als er sich auf sie versteht und zu ihnen versteht.« (GS VII, S. 210) 4

Es sei nicht verborgen, daß Plessner, wenn er seit der Mitte der 1920er Jahre seine Untersuchungen entschieden an der Frage »Was ist der Mensch?« ausrichtet, dieses Verstehen in hohem Maße problematisiert: Sprache, Handlung und Ausdruck könnten zwar, weil das Verstehen und Mitteilen in ihnen so prominent ist, den Menschen erscheinen lassen, als ob der Leib »keine andere Rolle als die der Materie, des verkörpernden Stoffs, des willfährigen Darstellungsmittels« beanspruche (GS VII, S. 234). So sei man – Plessner scheint hier eine Kritik an Heidegger (»Existenzialanalyse«: ebd., S. 236) zu verbergen – dazu verführt, die althergebrachte Leib-SeeleProblematik zu lösen, indem man sie einfach auf der Basis zahlloser selbstverständlicher Verstehensleistungen fallenläßt. Plessner untersucht Lachen und Weinen, weil er in ihnen ein Phänomen zu finden meint, in dem der Leibkörper nicht mehr als Medium des Sinnausdrucks beherrscht wird, aber auch nicht nur physiologisch reagiert, sondern selbst auf eine Situation antwortet, die für den Geist problematisch und überfordernd ist. Er denkt über den Eigensinn des menschlichen Leibes nach. Dieses Problemfeld lasse ich außen vor und bemühe mich lediglich um eine Klärung des Ausdrucksbegriffs und der Frage nach seinen Sinngehalten.

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Ausdruck und thematischer Sinn

Wo dies nicht mehr der Fall ist – im »Kreis der Vorgänge des Errötens, Erblassens, Erbrechens, Hustens, Niesens« – verlassen wir den Kreis des Ausdrucks und treten in denjenigen »vegetativer Prozesse«, die zwar Reaktionen auf das Verständnis einer Situation sein können – beispielsweise als beschämend oder entrüstend –, nicht aber dieses Verständnis ausdrücken. Im Gegensatz zum Ausdrucksverhalten im engeren, uns hier interessierenden Sinn, das in höherem Maße gestaltbar ist, sind sie nicht oder nur in geringem Maße »durchsichtig« für eine Intention. (Ebd., S. 225.) Das Verständnis eines Selbstverhältnisses und eines Verhältnisses zu einer geistigen Umgebung ist wiederum das, was wir als Gegenüber eines sich äußernden Menschen verstehen. Plessner betont, daß auf einer vorreflexiven Stufe des ›natürlichen‹, ›unmittelbaren‹ Verstehens ein Mensch nicht verstanden wird, indem man nachfühlt, wie es wäre, in seinem innerlich-psychischen Zustand zu sein, sondern indem man gar nicht anders kann als zu wissen, daß er auf eine Umwelt, deren Bedeutungen und Möglichkeiten bezogen ist und in dieser Beziehung zugleich sein Verständnis und seine Haltung zu ihr zum Ausdruck bringt: »Der Leib« – und zwar auch der je eigene – »ist nicht darum Leib, weil er von innen her durchfühlbar und impulsiv beherrschbar ist, sondern weil er eine Umwelt hat, auf welche er, die auf ihn einspielt [sic]. Die Umweltintentionalität […] garantiert durch ihre subjektiv-objektive Indifferenz die Einheit […] der Anschauung der Körperleiber untereinander« (GS VII, S. 121 f.).

Plessner stellt im Zuge dieser Überlegung fest: »genau besehen, wird Psychisches im Akt des Verständnisses [des Verhaltens und des Ausdrucks] überhaupt nicht getroffen, ja nicht einmal intendiert.« Stattdessen solle man anerkennen: »Aus Haltungen, Verhaltungen besteht das intersubjektive Miteinander«. Die Reflexion über die Gedanken, Absichten oder Ansichten eines Gegenüber wäre ein zweiter Schritt im Umgang, der ein Vorverständnis auf jener ersten, psychophysisch indifferenten Ebene voraussetzt; die Reflexion richtet sich auf den Status oder den Grund des so Vorverstandenen (ebd., S. 122–124). Diese Analyse des (Vor-)Verständnisses der Haltung ergibt sich aus einer zentralen These von Plessners ästhesiologischen Schriften: Die Untersuchung der Wahrnehmungssinne darf sich nicht auf ihre rein kognitive Funktion – bei Plessner als »Wahrnehmungsfunktion« 222 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Arten des Verhaltens und seiner Sinngehalte: Übersicht

im engeren Sinne bezeichnet – beschränken, in der es um »Richtigkeit der Information« (GS III, S. 321) geht. Vielmehr muß die »Vermittlungsfunktion« der Sinne in Betracht gezogen werden: die Tatsache also, daß die Wahrnehmung, insofern sie in einer Beziehung zum Verhalten steht, zwischen ›Sinnesdaten‹, Bewegungen und Verstehensleistungen immer schon vermittelt hat. 5 Diese Vermittlungsleistung der Sinne ist die Grundlage für die Erkenntnisweise, die in der Schicht des Verhaltens tätig ist. Infolgedessen faßt diese Erkenntnisweise nicht datenartige Eigenschaften auf, sondern Sinngehalte. Anknüpfend an diese Grundbestimmungen des Verhaltens und seines Sinnes können wir auf ein Problem zurückblicken, das in Kap. i. ohne befriedigende Lösung geblieben war: wie der Bezug der Musik auf Affekte und Emotionen begrifflich zu bestimmen ist. Soll dieser Bezug auf musikalischen Sinn nicht wie dort akzidentell bleiben, ist es nötig, Affekt grundsätzlich so zu bestimmen, daß er ein Moment in der Schicht des Verhaltens ist. In dieser Grundbestimmung ist Affektivität weder ein physiologischer Vorgang, der sich in einer puren Organempfindung und in reflexhaften Reaktionen niederschlägt, noch ist sie ein vor allem kognitiv bestimmter mentaler Zustand, sondern sie zählt zuerst zur Schicht des psychophysisch Indifferenten. In dieser Schicht erfahren wir das, was uns begegnet, so, daß wir von ihm angesprochen oder aktiviert werden können, uns zu ihm zu verhalten. Die Affektivität ist derjenige Aspekt der Gegensinnigkeit, unter dem sich zeigt, auf welche bestimmte Weise wir uns aktiviert oder angesprochen fühlen. Sie ist das ›Wie‹ unserer Verhaltensmöglichkeiten. Auf diese Grundbestimmung komme ich unten (k.6.) zurück.

k.3. Arten des Verhaltens und seiner Sinngehalte: Übersicht Unmittelbar verstehbares menschliches Verhalten differenziert Plessner in der Einheit der Sinne – dort unter dem Titel der »Haltung« – in drei Arten 6 : (Zweck-)Handlung, Kundgabe durch Zeichen und AusPlessner führt diese These weiter aus z. B. in GS III, S. 298–310; S. 377–384; GS VII, S. 162–165. 6 Plessner gebraucht auch in der Einheit der Sinne hierfür nicht selten das Wort »Stufe«, um die systematische Gliederung zu beschreiben (z. B. GS III, S. 154; S. 192–194). Es würde eine gesonderte Untersuchung lohnen, den seinerzeit sehr beliebten und sicherlich nicht unproblematischen Gebrauch der Stufen- und der ver5

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Ausdruck und thematischer Sinn

druck als Haltung oder Bewegung (GS III, S. 209–220). Jeder der Arten der Haltung bzw. des Verhaltens soll eine Art von Sinngehalten entsprechen, auf die sich die jeweilige Verhaltensweise bezieht. Je eine Art des Sinngehaltes und der Haltung bzw. des Verhaltens teilen somit eine Weise der Ordnung und der Auffassung der Gegenstände, die auf die je spezifische Weise Sinn tragen. Sinngehalte, die der (Zweck-)Handlung entsprechen, haben »schematische« Form; Plessner nennt sie »Begriff«. 7 Ihr Ort ist die als Dingwelt verfaßte Umgebung des Menschen. Sinngehalte, die der Kundgabe entsprechen, haben »syntagmatische« Form – die Form der syntaktischen Beziehung von Sprachzeichen – und heißen »Bedeutung« (ebd., S. 163). 8 Sinngehalte, die dem Ausdruck entsprechen, haben »thematische« 9 Form und heißen schlechthin »Sinn« (ebd., wandten Schichtenmetapher zu erhellen, die insbesondere in Nicolai Hartmann einen prominenten Vertreter hatte. Ich bemühe mich hier darum, zu zeigen, inwiefern die Arten von Sinngehalten, von denen die Rede ist, irreduzibel aufeinander sind; ein anderes Problem, das Plessner stellt, das ich aber an dieser Stelle nicht auslege, liegt in der Behauptung einer Fundierungsordnung jener Arten bzw. Stufen. In k.9. komme ich auf seine Behauptung zurück, daß thematischer Sinn eine grundlegende Rolle spielt. 7 Z. B. GS III, S. 154; S. 157; S. 189. Hier wie andernorts ist seine Wortwahl nicht selten auf den ersten Blick irritierend, erweist sich aber im Lauf des Gedankens als schlüssig. 8 Ich verfolge hier das Problem nicht weiter, daß Plessners Sprachtheorie – zu der Kundgabe, Syntagma und Bedeutung ja zählen – in der Einheit der Sinne einige sehr merkwürdige Züge trägt, vor allem die Trennung zwischen einer rein mitteilenden Sprache, die sich auf »Psychisches« bezieht, und einer Verwendung der Sprache für technische oder wissenschaftliche Zwecke. Für das Verständnis des Ausdrucksbegriffs, das gegenwärtig angestrebt wird, sind diese Probleme vorerst nebensächlich. Die im folgenden Abschnitt angestellte Unterscheidung zwischen zweierlei Verwendungen von »Ausdruck«, die auf den Begriff der Kundgabe zurückgreift, verfolgt Plessners Differenzierungen bezüglich des syntagmatischen Sinnes nicht weiter. 9 Es ist unklar, wieso Plessner gerade das Wort »thematisch« für jene Stufe des Sinnes wählt. Wahrscheinlich lehnt er sich an die etablierte musikalische Bedeutung des Begriffes »Thema« an, so daß den thematischen Sinn im allgemeinen die Prägnanz oder Charakteristik einer (Klang-)Gestalt auszeichnet. Damit steht sein Wortgebrauch zu einer anderen etablierten Bedeutung von »thematisch« in Spannung, nämlich zu der Unterscheidung »thematisch«-»unthematisch«, die bei Husserl und Heidegger einschlägig ist und Plessner wenigstens in ihrer Husserlschen Variante geläufig gewesen sein muß. Plessners thematischer Sinn ist in dieser zweiten Bedeutung zumeist unthematisch oder unterschwellig und wird erst thematisch, indem er isoliert wird oder indem unsere Aufmerksamkeit von der Zweckmäßigkeit oder der Zeichenbedeutung fortgelenkt wird. Sein bevorzugter Ort ist darum, wie Plessner betont, die Kunst und besonders die Musik, in der er »rein« auftritt.

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Der Unterschied zwischen Ausdruck und Kundgabe

S. 154; S. 190–192). An den letztgenannten Sinngehalten hat zuallererst der musikalische Sinn teil. Um mit seiner Untersuchung fortzufahren, ist es nötig, einzusehen, wie Ausdrucks- oder thematischer Sinn sich von den beiden anderen Arten unterscheidet.

k.4. Der Unterschied zwischen Ausdruck und Kundgabe Zur Unterscheidung des Ausdrucks von der Kundgabe eignet sich besonders eine Besprechung der Ausdrucksbewegung und der Geste, weil die beiden Stufen des Verhaltens hier nah beieinanderliegen. Wenn eine Geste die »Symbolik der Gebärde« annimmt und zum Zeichen wird – Beispiele wären, als Zeichen der Verneinung den Kopf zu schütteln oder als Zeichen des Grußes die Hand zu reichen –, so ist sie in ihrem Bezug auf eine Bedeutung prinzipiell vertretbar 10 , etwa durch eine andere Geste, aber auch durch ein Wort. In einer anderen Beziehung enthält sie jedoch ein unvertretbares, nämlich »ein mimisches, ein emotional-expressives Element« (GS VII, S. 256). Sie trägt einen Ausdrucks-Eigensinn in sich. Dieses Element offenbart die »Unvertretbarkeit und Unablösbarkeit der Ausdrucksbewegung gegenüber dem Ausdrucksgehalt« (ebd., S. 260): Während die Zeichenbedeutung dem expressiven Element gegenüber invariant ist, ist der Ausdrucksgehalt dasjenige, das sich mit jeder Änderung der Bewegung, der Körperhaltung oder – im Fall der Sprache – der Tonlage, der Färbung der Stimme, der Lautstärke und der Geschwindigkeit des Sprechens ebenfalls ändert. Ein Ausdrucksgehalt im strengen Sinne kann nicht durch eine andere Ausdrucksbewegung realisiert werden. Er »erscheint« in ihr, wie Plessner schreibt, um das Ausdrucksphänomen gegen die Beziehung der Vertretung abzugrenzen (ebd., S. 92). In dieser gibt es ursprünglich keine Erscheinung des Sinnes bzw. der Bedeutung im Zeichen, wenn es streng als solches genommen wird; im Gegenteil: Die materielle Gestalt des Zeichens »muß sinnfrei sein, um nur durch das, was es bezeichnet, seine Bedeutung zu erhalten« (GS III, S. 221). Diese Sinnfreiheit tritt in höchstem Maße in Schriftzeichen auf, während sie in Gesten von der Leiblichkeit der Bewegung mehr oder minder durch das expressive Element verdeckt ist. Im Falle der Zeichen müssen wir wissen 11 , 10 11

GS III, S. 205; GS VII, S. 260. Dieser Beschreibung entspricht Rainer Cadenbachs Grundunterscheidung zwi-

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Ausdruck und thematischer Sinn

daß sie eine bestimmte Bedeutung haben, im Falle des Ausdrucks nicht. Jens Loenhoff gibt einen Hinweis, der den Grund des Unterschieds zwischen der Ausdruckstheorie in Plessners Sinn und jenen Ausdruckstheorien, derer sich die ›analytische‹ Musikphilosophie fast durchgehend bedient (vgl. Kap. j.), klar erkennen läßt. In den letzteren wird davon ausgegangen, daß Ausdruck zuallererst auf gewisse allgemeine, deutlich unterscheidbare Emotionen bezogen sei. Loenhoff macht nun darauf aufmerksam, daß die Unterscheidung der Emotionen untereinander und die Zusammenfassung von Gemütsregungen unter diskrete Emotionskategorien erst einmal geleistet werden muß. Dies geschehe durch eine »Rekodierungs«- und »Vergegenständlichungspraxis«, »die von den Kontingenzen der fallweisen Verwendung […] absehen will, um Ausdrucksgestalten je spezifische und stabile Bedeutungen in Form emotionaler und kognitiver Gehalte zuzuordnen«. Unter der Bedingung des menschlichen Selbstverhältnisses macht diese Vergegenständlichung es möglich, daß der Mensch in seinem Leib nicht nur – wie das Tier – vitale Impulse wiedergibt; er nutzt vielmehr seinen Leib, um mit ihm oder durch ihn etwas kundzugeben. (Loenhoff 2008, S. 175–177) Indem der Inhalt der Kundgabe etwas Allgemeines, vom Leib als dem Medium der Kundgabe Abgetrenntes ist, kann man meinen, sein Ort sei in der Seele. Diesem Allgemeinen in der Seele würde dann ein Allgemeines, ein Typ in der Ausdruckshaltung und -bewegung entsprechen. Die ›analytischen‹ Musikphilosophien gehen zumeist von einem solchen Modell der zur Kundgabe geronnenen, verallgemeinerten Ausdrucksformen aus, die sie auf die Musik anwenden, indem in ihr nur die allgemeinen Erscheinungen solcher Ausdrucksformen aufgesucht werden, während das Psychische fortabstrahiert werden muß: Musik sei schließlich kein Lebewesen. Plessners Theorie von der Schicht des Verhaltens verwirft gerade diesen Zug: Ausdruck ist uns zuallererst als psychophysisch indifferentes Verhalten bekannt, so daß die Trennlinie zwischen der Erscheinung und einer mutmaßlich dahinter verborgenen psychischen Schicht im Verstehen gar nicht gezogen zu werden braucht, da wir uns in der Schicht des Verschen Zeichenbedeutung und »musikalischer Bedeutung«, daß erstere »gewußt« sein muß, letztere dagegen »erlebt« (Cadenbach 1978, S. 64; S. 74). Die notwendige »Erlebtheit« des musikalischen Sinnes wird mit jener des Ausdrucks noch zu verbinden sein.

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Der Unterschied zwischen Ausdruck und Kundgabe

haltens, nämlich in einem Nachvollzug, auf ihn beziehen. Ebensowenig brauchen wir eine Menge diskreter Emotionen anzunehmen, die auf basale Weise ausgedrückt werden. Diese Unterscheidung ist bereits kategorial. Plessner arbeitet aber daran, eine Stufe des präkategorialen Verstehens zu erschließen. Diese Unterscheidung zwischen einem prä-kategorialen, an seinen leiblichen Stoff gebundenen Ausdruck und der zeichenhaften Kundgabe typisierter Gemütsbewegungen wird in musikgeschichtlicher Perspektive in Carl Dahlhaus’ Vorschlag zum Gebrauch des Wortes »Ausdrucksästhetik« wiedergespiegelt. Dahlhaus stört sich an der undifferenzierten Verwendung des Ausdrucksbegriffs in der Ästhetik, der dadurch zustandekomme, daß von der Antike bis ins 18. Jahrhundert ein Verständnis von »exprimere« gebräuchlich sei, das im folgenden durch eine eher ›romantische‹ Fassung des Ausdrucksbegriffes überlagert und darum mißverstanden werde. Um »Ausdruck« differenzierter gebrauchen zu können, schlägt er vor, Karl Bühlers Unterscheidung zwischen drei Leistungen der Sprache heranzuziehen: »Ausdruck, Appell und Darstellung« (Bühler 1982, S. 28). 12 »Ausdruck« heißt hier die Funktion, die von einem Zustand, einer Bewegtheit oder einer Haltung der »Innerlichkeit« des Sprechers abhängt, im Unterschied zur Darstellungsfunktion, die auf allgemeine, in einer intersubjektiven und objektiven Welt zugängliche Bedeutungskategorien zurückgreifen muß. Dahlhaus empfiehlt, die Unterscheidung dieser Leistungen für die Musik fruchtbar zu machen und unter einer Ausdrucksästhetik strenggenommen nur die Fälle zu verstehen, in denen der Musik die Funktion des Ausdrucks in Bühlers Sinn zugeschrieben wird. Die frühere Rede von »exprimere« sei dagegen entweder eine Ästhetik der (appellativen) Übertragung von Affekten oder – wichtiger – eine Ästhetik der Darstellung von zu Zeichen verfestigten Affektäußerungen. Diese sind nicht der Ausdruck eines Erlebens, das Form zu gewinnen sucht, sondern verweisen auf bereits kategorial fixierte Affekttypen. Musik ist, wenn man für sie diesen Sinn von ›expressio‹ veranschlagt, die Nachbildung von bereits klassifizierten und Figur gewordenen Verhaltensweisen, die auf etwas verweisen, das in einer vergegenständlichten Innenwelt bzw. Psyche beobachtbar und ›geDahlhaus greift auf eine ältere Formulierung Bühlers zurück, in der statt »Ausdruck« noch das Wort »Kundgabe« verwendet wird, das freilich bei Bühler und bei Plessner sehr unterschiedlich fungiert.

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Ausdruck und thematischer Sinn

wußt‹ ist. (Dahlhaus 1967, S. 29–31) Eine solche Innenwelt ist freilich bereits ein unpersönlich-objektiv beobachtbarer Sachverhalt. Relativiert wird die Trennung dieser ästhetischen Positionen dadurch, daß auch dann, wenn Musik typisierte Affekte wiederzugeben sucht, an der einzelnen musikalischen Gestaltung Momente des Ausdrucksgehaltes eintreten, die in je verschiedenen Gestaltungen des gleichen Typs differieren. Allgemeine Ausdrucksformen, wenn man so sagen will, nehmen dann besondere Ausdruckscharaktere an. Dahlhaus erkennt diese Spannung zwischen zeichenhaft verständlicher Konvention im Ausdruck und seiner Bindung an je einzelne Formen des Erlebens, die eine ›originale‹ und daher nicht rein konventionelle Form in der Musik erhalten sollen, als Antrieb der geschichtlichen Entwicklung der Musik an (ebd., S. 37 f.). Ich komme später (ab r.5.) auf eine vergleichbar strukturierte Spannungsfigur zurück, in der es möglich ist, ein musikalisches Kunstwerk im Ganzen als Ausdruck zu begreifen. Die Differenz zwischen beiden Weisen, den Begriff des Ausdrucks anzugehen, zeigt sich auch in der Behandlung eines Phänomens, das beispielsweise Kivy 13 und Davies gelegentlich als Parallele zum Hören von Ausdrucksgehalten in der Musik heranziehen. Dieses Phänomen wird oft »Animismus« 14 genannt und so erklärt, daß es in der Tendenz bestehe, alles mögliche, das man sieht, zu vermenschlichen. So sieht man Gesichter und mimischen Ausdruck in den Frontalansichten von Autos, um ein vielgebrauchtes Beispiel anzuführen. Die in der ›analytischen‹ Musikphilosophie am meisten diskutierte Erklärung hierfür geht von einem Assoziationsvorgang aus, der drei Prämissen enthält: Wir kennen Ausdruck als Kundgabe von seelischen Zuständen, etwa in der Mimik von Menschen; wir sind in der Lage, visuelle Ähnlichkeiten zwischen menschlichen Ausdrucksformen und beliebigen Gebilden festzustellen; und es ist uns angeboren, daß uns solche Ähnlichkeiten in besonderem Maße auffallen, so daß wir an allen möglichen Stellen Ausdruck assoziieren (vgl. Davies 1994, S. 228), und zwar mit der impliziten und naiven Unterstellung, das jeweilige Gebilde sei beseelt. Ferner geht sie davon aus, daß Z. B. Kivy 2002, S. 40–43. Kivy ist zunehmend skeptisch gegen den Erklärungswert des im folgenden beschriebenen Phänomens. Jedoch ist es gerade seine an der angegebenen Stelle unzureichende Analyse, die den Erklärungswert verringert. 14 Systematisch steht die Beschreibung des »Animismus«-Phänomens dem in j.3. besprochenen Versuch nahe, den Begriff der Imagination zu erläutern, und es wird teilweise als Bestandteil dieser Erläuterung in Anspruch genommen. 13

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Der Unterschied zwischen Ausdruck und Kundgabe

unsere Wahrnehmungssinne primär eine Erkenntnisfunktion haben, nämlich Gegenstände so zu sehen oder Ereignisse so zu hören, daß sie zutreffend klassifiziert werden können. Ausdruck in Unbelebtem zu sehen oder zu hören gilt demzufolge als eine Fehlfunktion, die gegen unser besseres Wissen fortbesteht: wir wissen, daß Ausdruck etwas kundtut – zumeist eine Emotion –, und wir wissen ebensogut, daß das Auto oder die Musik nicht lebendig sind und nichts kundzutun haben. Darum betont Davies so sehr (vgl. j.2.), daß wir es in der Musik nicht mit Ausdruck im »primären« Sinne, sondern nur mit Ausdruckserscheinungen zu tun zu haben, die vom »primären« Ausdruck abgezogen sind. Musikalischer Ausdruck beutet jene Fehlfunktion der Wahrnehmungserkenntnis aus. Max Scheler hat an einer einschlägigen Stelle bereits 1913 solchen Assoziationstheorien widersprochen. »Primär [damit meint er vorerst »genetisch primär«] ist alles überhaupt Gegebene ›Ausdruck‹, und das, was wir Entwicklung durch ›Lernen‹ nennen, ist nicht eine nachträgliche Hinzufügung von psychischen Komponenten zu einer vorher schon gegebenen ›toten‹, dinglich gegliederten Körperwelt, sondern eine fortgesetzte Enttäuschung darüber, daß sich nur einige sinnliche Erscheinungen als Darstellungsfunktionen von Ausdruck bewähren – andere aber nicht. ›Lernen‹ ist in diesem Sinne zunehmende Entseelung« (Scheler, GW 7, S. 233).

Mit Scheler wird deutlich, daß die dritte der obigen Prämissen (daß wir so verdrahtet seien, daß wir die Ähnlichkeiten zwischen allen möglichen Gebilden und Ausdruckserscheinungen unbewußt geradezu suchen) die Assoziationsthese bereits umwirft: Es ist nicht so, daß Ähnlichkeiten vorliegen und wir getrieben sind, flugs aus ihnen auf Ausdruck zu schließen. Vielmehr ist der Ausdruck und die Erwartung, Ausdruck bzw. Verhalten zu sehen, selbst die Voraussetzung dafür, daß diese Ähnlichkeiten weniger gefunden als (re-)konstruiert werden. Einem zweiten Problem der Assoziationshypothese – wie man nämlich zu dem Eindruck von Ausdruck und quasi-gestischer Bewegung in der Musik kommt – begegnet Plessners oben wiedergegebene ästhesiologische Analyse: Wir treffen nicht pure Klangparameter an und lernen allmählich, Bewegungsbegriffe an sie hinzuassoziieren, sondern Klang spricht eine akustomotorische Einheit in der Wahrnehmung und im Nachvollzug an. Die Unterscheidung zwischen Ausdruck als Kundgabe einer bestimmten Emotion und Ausdruck als Verwirklichung thematischer

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Ausdruck und thematischer Sinn

Sinngebung klärt schließlich ein weiteres mögliches Mißverständnis. Theorien, die Ausdruck als Äußerung einer distinkten Emotion ansehen, können leicht davon sprechen, daß zahlreiche Äußerungen ausdruckslos seien, weil sie nicht durch eine Emotion, sondern anderweitig motiviert sind. Emotionen wiederum können beherrscht oder ungehemmt geäußert werden; den letzteren Fall erkenne man daran, daß die Bewegung oder die Stimme besonders stark von ›Normalwerten‹ abweichen und extrem laut, stockend, ausgreifend etc. sind. Dieses Bild auf die Musik zu übertragen bedeutet, Musik dann ausdruckshaft zu finden, wenn sie besonders heftig bewegt, dynamisch ungleichmäßig usw. ist. Von dieser Ansicht, daß die Zuschreibung von Ausdruck eine Sache der Intensität sei, unterscheidet sich die Erläuterung des Ausdrucks nach Plessner. Auch das, was gleichmäßig, normal und unaufgeregt erscheint, trägt gerade diese Charakteristika als Ausdruck. Angelehnt an die Unterscheidung zwischen Ausdruck und Kundgabe kann ein wichtiger Aspekt thematischen Sinnes benannt werden: Der Zusammenhang zwischen thematischem Sinn und seiner Äußerung ist performativ oder, mit einem anderen Wort, produktiv. Die Äußerung thematischen Sinnes gilt nicht einem vor der Äußerung bereits bestimmten Sinngehalt, den sie darstellen oder anzeigen würde. Wenn ein Sinngehalt vor der Äußerung bestimmt ist, kann er von verschiedenen Äußerungen auf gleiche Weise vertreten werden. Thematischer Sinn wird dagegen erst in der Äußerung zu dem bestimmt, was er ist, und liegt damit nicht – sei es in der Innen-, sei es in der Außenwelt – vergegenständlicht vor, so daß man auf ihn zurückgreifen könnte. Wenn er weder in der Innen- noch in der Außenwelt liegt, so liegt, oder besser: entsteht er in der Sphäre psychophysischer Indifferenz – in der Sphäre des Verhaltens und Erlebens. Sie ist die Sphäre der Subjektivität und des subjektiven Aktes, und diese Subjektivität ist das Produzierende und Aufführende: Sie ist Quelle und Akteur zugleich. 15 Anderswo ist das Subjekt ein Akteur, In k.6. führe ich diese Bestimmung weiter aus. – Vgl. Stolzenberg 2011, S. 13; S. 18–21; S. 68 f. Wenn das Subjekt nicht nur der Ort der Gemütsbewegungen ist, sondern ihre Quelle, und sich selbst folglich nicht durch Introspektion, sondern durch Äußerung ›erkundet‹ und versteht, ist dies ein Paradigma »expressiver Subjektivität«. Stolzenberg versucht herauszuarbeiten, inwiefern dieser Subjektbegriff als Prinzip der Gestaltung der Musik vornehmlich seit der Mitte des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verstanden werden kann und welche Differenzierungen er dabei erfährt.

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Der Unterschied zwischen Thema und Schema

der auf etwas Bezug nimmt, das jenseits seiner individuellen Akte bestimmt ist.

k.5. Der Unterschied zwischen Thema und Schema und ihre jeweiligen Verhältnisse zu Raum und Zeit Auch bei der Unterscheidung zwischen Ausdruck und Zweckhandlung tritt eine Schwierigkeit auf, die bereits bei der Unterscheidung zwischen dem Zeichengehalt und dem Ausdrucksgehalt in der Geste erkennbar war: Im Normalfall treffen wir nicht auf reine Formen der jeweiligen Verhaltensweisen und Sinngehalte. Vielmehr tritt, wie Plessner meint, an jeder Geste wie auch an jeder Handlung ein expressives Element auf. 16 Dieses ist wieder der Träger eines unvertretbaren Sinngehaltes, der jedoch für das Zweckhafte der Handlung irrelevant ist: daß man eine Tätigkeit beispielsweise hektisch, träge, lustlos oder sachlich-zügig ausführt. Die Handlungselemente im eigentlichen Sinn sind hingegen grundsätzlich ersetzbar, nämlich durch Handlungsschritte, die den gleichen (Teil-)Zweck erzielen. Darüber hinaus ist eine gesamte Handlung reproduzierbar, wenn man gewissermaßen ihren Ablaufplan im Kopf hat. Unter anderem in diesem Sinne nennt Plessner den entsprechenden Sinngehalt ein »Schema«; es ist nahe verwandt mit dem Begriff des Handlungstyps. Das Schema ist grundsätzlich ein »Weglassen nach einem bestimmten Prinzip« (GS III, S. 159), im gegenwärtigen Fall nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit. 17 Im schematischen Weltverständnis geraten diejenigen Eigenschaften von Dingen oder diejenigen Elemente von Ereignissen Vgl. GS III, S. 154: »die Stufen des Sinnverständnisses [bezeichnen] Möglichkeitsfundamente des konkreten verstehenden Bewußtseins, nicht Inhaltselemente. […] Sie vereinigen sich im wirklichen Wahrnehmen und Beobachten […]. Ebenso geht im gewöhnlichen Leben eine Richtung des Verstehens mit der anderen, sie kreuzen sich und verbinden sich zu komplexen Sinngebilden.« 17 Ich beschränke mich hier auf die Verwirklichung des Schema in der Zweckhandlung und sehe davon ab, daß Plessner in der Einheit der Sinne die Lage komplizierter gestaltet, indem er sich vor dem Hintergrund eines verbreiteten Interesses an Wissenschaftstheorie vor allem mit Wissenschaften, nicht mit einfachen Zweckhandlungen befaßt. Dabei analysiert er jedes wissenschaftliche Vorgehen – nicht nur dasjenige der Geometrie, Mathematik oder Mechanik – als Schematisierung. Auch Kultur- und Geschichtswissenschaften operieren »erklärend durch Einreihungen und Verknüpfungen aller Art« (GS III, S. 161). Die pure »Disziplin«, durch die die »Erfahrungsfülle« (ebd., S. 158) nach einem je nach Wissenschaft etablierten Prinzip auf bestimmte 16

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Ausdruck und thematischer Sinn

außer Betracht, die nicht zu ihrer Tauglichkeit für ein bestimmtes Ziel beitragen. Ein Grund für das reduzierende Prinzip, nach dem schematische Verstehensweisen funktionieren, liegt in dem Verhältnis des Schema zu Raum und Zeit, das grundsätzlich von der Raumhaftigkeit und Zeitlichkeit des Ausdruckssinnes verschieden ist. Dieser spielt sich in der »Erlebniszeit« 18 und in einem durch Impuls und Volumen – konkreter: durch die jeweilige Weise, leiblich Kraft einzusetzen – konstituierten Raum ab. Man könnte von einem Qualitätsraum und einer Qualitätszeit sprechen, die sich von dem Quantitätsraum und der Quantitätszeit unterscheiden, die dem Schema entsprechen. Um Ereignisse schematisch zu verstehen – und das heißt auch: um sie reproduzieren zu können –, müssen ihre Kausalbeziehungen offenbar werden; und um Handlungen schematisch zu verstehen, muß offenbar werden, daß diese Kausalbeziehungen verständig zur Erreichung eines Zieles ausgenutzt werden. In vielen lebensweltlichen Fällen gelingt dies durch Wahrnehmung und durch die Aneigung motorischer, begrifflich nicht expliziter Schemata, etwa bei der Bedienung von Maschinen und Fahrzeugen. Es gibt jedoch eine vollständige Schematisierung, die diese leibliche Aneignung hinter sich läßt. Diese ist das Verständnis von Ereignissen in den Begriffen der Mechanik, die »die Kontinua des Raumes und der Zeit« (ebd., S. 159) voraussetzen, und darüber hinaus die Operation mit diesen Kontinua allein – mit den »Elemente[n] der Figur und des Stellenwerts« (ebd., S. 160) – in der Geometrie und Mathematik. Der Raum und die Zeit, in denen die Konstruktionen dieser Wissenschaften liegen, sind homogen und leer, und die Abläufe und Figuren, die rein geometrisch und mathematisch formuliert sind, sind »rein verstandesmäßig begriffen«. Im Gegensatz zu Sinngehalten von thematischer Form sind sie »Figuren ohne alle Empfindungen« (ebd., S. 199). Diesen Begriffen von Raum und Zeit entspricht die Bewegung, die schematisch gefaßt wird. Einerseits ist sie ein durch Raum- und Zeitabläufe genau bestimmtes Bewegungsschema, das mechanisch umgesetzt werden kann. Bezeichnenderweise hebt Plessner hervor, daß eine unmittelbare leibliche Umsetzung eines so bestimmten Bewegungsschemas nicht möglich ist, sondern Zwischenstufen erforKategorien zurückgeführt wird, gilt für Plessner als Wesensmerkmal schematischen Verstehens. 18 GS III, S. 227; vgl. GS VII, S. 91.

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Der Unterschied zwischen Thema und Schema

dert (ebd., S. 201 f.). Wir müssen das Schema auf etwas anwenden, das wir ins Auge fassen können, auf das wir zugreifen und mit dem wir hantieren. Dann aber führen wir nicht unbedingt die Bewegung aus, die die mechanisch-geometrische Formulierung ausdrückt, sondern wir haben es mit einer zweiten Weise zu tun, wie sich Bewegung zum Schematismus verhält, nämlich mit einer nicht geometrischen, sondern leiblichen Bewegung, die an griffigen Raumpunkten nur orientiert ist und ansonsten einem impliziten Wissen um die Leibbewegungen, einem ›Körperschema‹, folgt. Selbst dieses aber hat seinen Ort, wenn nicht in dem kontinuierlichen und leeren geometrischen Raum, so doch in einem objektiven – das heißt hier: Objekte enthaltenden – Raum, den die Geometrie darstellen kann. Die als Handlungsmittel verstandenen Objekte geben die Bewegungsmöglichkeiten an, und wir verstehen zweckmäßige Bewegungen aufgrund ihrer Orientierung an und am Umgang mit ihnen. Der Unterschied zu der Bewegung, die sich an Musik orientiert, wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, daß eine nachvollziehende Bewegung zur Musik zeitgleich mit dieser möglich und notwendig ist. Eine Bewegung nach einem Schema folgt dagegen in der Zeit dem vorgegebenen Schema: Eine schematische Bewegung muß einen bestimmten Zielpunkt erreicht haben, damit sie verständlich und reproduzierbar werden kann. Welchen Grund hat der Unterschied zwischen diesen beiden sehr verschiedenen Weisen des Nachvollzugs – zwischen dem musikalischen Mitgehen und dem handelnden Nachmachen? Diese Differenzierung in Bezug auf die Zeit kann auf die propädeutische Erklärung der Wahrnehmung von Zeitverhältnissen einerseits im Rhythmus und andererseits in Zweckhandlungen zurückgreifen. Diese Erklärung läßt sich nun präziser fassen. Eine Handlung läuft in der Zeit ab, und zwar in dem Sinne, daß die Zeit die Handlung enthält, aber außer der Ordnung des Vorher und Nachher nichts zum Handlungssinn beiträgt. Das Ergebnis der Handlung müssen wir ansehen, um sie zu verstehen; die Handlung wird im Rückblick aus ihrem erreichten Ziel verständlich. Die Handlung selbst und das ihr entsprechende Verstehen sind wesentlich antizipierend (vgl. ebd., S. 222), und zwar in Bezug auf einen Punkt, den die Handlung einholen oder anpacken muß. Dieser Punkt liegt außerhalb der Handlungsbewegung im engeren Sinne. Im Ausdruck verhält es sich anders. Als Mimik ist er zeitfrei verständlich. So überlegt Plessner in »Die Deutung des mimischen Aus233 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck und thematischer Sinn

drucks«, indem er fragt, was sich an einem eingefrorenen Bewegungsbild verstehen läßt. In einem solchen Bild können wir die Handlungsrichtung und ihren Gegenstand möglicherweise nicht erkennen und darum über den Sinn des Handlungsbildes nur Vermutungen anstellen. Mimischer Ausdruck in einem solchen Bild tritt uns jedoch prägnant entgegen und erscheint sinnvoll, wenn auch dieser Sinn, wie gleich zu erklären sein wird, offen ist. 19 In der Gestik und der stimmlichen Äußerung ist ihr zeitlicher Ablauf als solcher ein Moment des Ausdruckssinnes, weil Impulse und Volumina zu ihrer dem Ausdruck entsprechenden Entwicklung eine jeweils ganz bestimmte, unvertretbare Dauer beanspruchen. Sie formen den Zeitablauf, und die Zeit ist entsprechend so verstanden, daß sie nicht der leere Behälter eines Ablaufes, sondern ein Stoff dieser Formung ist, und zwar bedingt durch die Stofflichkeit des Leibes und des Klanges, die eine dynamische Stofflichkeit ist. Auch hier kann man davon sprechen, daß in der Anschauung dieser Dynamik eine Antizipation liege; jedoch richtet diese sich nicht auf einen Punkt jenseits der Ausdrucksbewegung, sondern bezieht sich auf die Kraftund Volumenentfaltung in dieser Bewegung selbst. Die Richtungen dieser Entfaltung faßt Plessner allgemein in den Begriffen der Arsis, Thesis und Synesis (Hebung, Senkung und Zusammenordnung) zusammen (ebd., S. 207). Für Bewegungen, die der Eindringlichkeit der Klänge der Musik und dem eindringlich vermittelten thematischen Sinn folgen, gilt auf gleiche Weise, daß sie nicht auf ein schematisches Verständnis reduziert werden können, weil beide ein von Grund auf je eigenes Verhältnis zu Zeit und Raum haben. 20 Schematischer Sinn ist zeitfrei bestimmt; Zeit ist die quantitative Bestimmung, unter der seine VerGS VII, S. 90 f.; vorsichtiger in Bezug auf die Möglichkeit, ein aus seinem Bewegungsablauf herausgetrenntes Bild zu verstehen: GS VII, S. 263 f. 20 Sehr anschaulich und in vielerlei Hinsicht mit Plessner analog verfolgt Erwin Straus diese Differenz in seinem Aufsatz »Formen des Räumlichen« (Straus 1960, S. 141–178). Vgl. besonders S. 160: »Die Musik induziert […] nicht irgendwelche beliebigen Bewegungen, sondern Bewegungen eigener Art. Solche Formen der Bewegung, wie Marsch, Tanz, sind überhaupt nur zur Musik möglich, d. h. die Musik formt erst die Struktur des Räumlichen, in der die Tanzbewegung geschehen kann. Der optische Raum ist der Raum der gerichteten und gemessenen Zweckbewegung, der akustische Raum der Raum des Tanzes. Zweckbewegung und Tanz sind nicht als verschiedenartige Kombinationen der gleichen Bewegunselemente zu begreifen; sie unterscheiden sich als zwei Grundformen der Bewegung überhaupt, die auf zwei verschiedene Modi des Räumlichen bezogen sind.« Zu Plessners Betonung der Gestik 19

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Die Eigenständigkeit des thematischen Sinnes

wirklichung in Handlungen und Ereignissen steht. Thematischer Sinn ist hingegen wesentlich prozessual: Der Sinngehalt selbst kann nicht aus dem zeitlichen Ablauf seiner Entfaltung herausgehoben werden. Mit der Prozessualität und der Produktivität bzw. Performativität sind nun zwei wesentliche Aspekte thematischen Sinnes und seiner Äußerung benannt. Hier kann eine wichtige Qualifikation des Begriffs der Form hinzutreten. Ganz zu Beginn stand der Gedanke, daß das Verstehen der Musik im Erfassen ihrer wahrnehmbaren Form liegt. Die Wahrnehmung der Musik wurde durch die ästhesiologische Untersuchung erhellt; ein Ansatz zum Verstehen des so Wahrgenommenen ist die gegenwärtige Erklärung thematischen Sinnes. Wenn Musik die Form, die wir wahrnehmend und nachvollziehend verstehen, als Gestaltung thematischen Sinnes trägt, insofern das Verständnis thematischen Sinnes uns die Ordnung der wahrnehmbaren Sukzession gibt, tritt der Begriff der Form unter den Begriff des nachvollziehenden Hörens. Die wahrnehmbare Form der Musik ist thematisch und damit selbst prozessual und performativ, anstatt als Struktur von Eigenschaften vorzuliegen.

k.6. Die Eigenständigkeit des thematischen Sinnes und seine Stelle in Haltung und Verhalten Sowohl an der Kundgabe durch Zeichen als auch an der Zweckhandlung zeigen sich Ausdrucksgehalte als Nuancen, die für den streng gefaßten Sinn des Zeichens oder der Handlung unwesentlich sind und nur ›außen‹ an ihm haften. Dieses ›Außen‹ ist das stoffliche Medium der Leibesbewegung, die die bezeichnende Geste oder die Handlung verwirklicht, oder der sprechenden Stimme (oder der Handschrift). Der schematische wie auch der syntagmatische Sinn können von ihrer bestimmten Verwirklichung abstrahiert und durch andere Verwirklichungsweisen vertreten werden. Sie sind also übersetzbar, denn so, wie sie im menschlichen Verstehen auftreten, sind diese beiden Typen von Sinngehalten innerhalb von Bereichen formaler und allgemeiner Bestimmungen gebildet: in den Bereichen der objektiven, durch Dingzusammenhänge bestimmten Raumzeit und der bestimmund der Ausdrucksbewegung bildet Straus’ Konzentration auf den Tanz eine hervorragende Ergänzung.

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Ausdruck und thematischer Sinn

baren Bedeutung (vgl. GS III, S. 205 f.). Der Ausdruckssinn zeigt sich ihnen gegenüber als akzidentelles Element, das jedoch notwendig dann auftritt, wenn Schema oder Syntagma zu einer Verwirklichung im Medium des Leibes kommen. Plessners Gedanke ist nun, daß Ausdruck nicht allein ein Akzidens an Handlungen und Kundgaben ist, sondern einen eigenständigen Sinngehalt hat, der sich im Verhalten jedoch nur selten eigenständig offenbart. Um ihn herauszuarbeiten, muß man ein isolierendes Verfahren wählen. In der Einheit der Sinne führt Plessner diese Isolierung durch, indem er nach Kulturprodukten sucht, die die Stufen des Sinnes – schematisch, syntagmatisch und thematisch – jeweils in reiner Form ausnutzen. Den dem Ausdruck zugrundeliegenden thematischen Sinn findet er in reiner Form in der Musik. (Vgl. ebd., S. 154 f.) In Bezug auf sie wird von einem Verstehen gesprochen, das ebenfalls weder schematische Zweckmäßigkeit noch Symbole oder Signale zum Gegenstand hat. Die Grundsätze der musikalischen Eigenform isolieren gleichfalls die musikalische Bewegung und das musikalische Verstehen von der Bewegung im objektiven Raum der Ziele und Zwecke und von dem Verstehen von Zeichen. Ungeklärt war aber dort die Frage geblieben, wie das Wahrnehmen und das Verstehen der musikalischen Formen positiv gefaßt werden kann. Ein simpler Formalismus meint darum, daß die kognitive Leistung der Wahrnehmung in Bezug auf die musikalischen Formen und Gestalten von gleicher Art ist wie die Kognition der handlungsrelevanten Dingwelt, aber aufgrund der dingbegrifflichen Unbestimmtheit der Klangformen nicht zur Vollendung kommt: Im einen Fall gelingt es eben, Wahrnehmungsdaten zu Dingen zu ordnen, während man im Fall der Musik bei bloßen ›Formen‹ stehenbleibt. Über diesen Formalismus der bloßen Reduktion 21 hilft Plessners Theorie hinauszugelangen, indem Plessner erAn solch einem »realistischen« Formalismus orientiert sich per Abgrenzung beispielsweise Roger Scrutons Theorie ästhetischer Erfahrung. Zentral für diese ist die Fähigkeit der Imagination und der metaphorischen Übertragung: etwas als etwas zu sehen, was es nicht ›in Wirklichkeit‹ ist. Voraussetzung hierfür ist: »We are able to attend not only to the inner reality of objects, but also to their appearance.« (Scruton 1997, S. 86) Erst in dieser Erscheinung, die nicht die ›innere Wirklichkeit‹ ist, treffen wir den Sinn an, der uns in der Kunst anspricht. Was für Plessners Theorie die Stufe der schematischen Dingkognition ist, hat für Scruton den Stellenwert der eigentlichen Wirklichkeit, von der wir uns abwenden müssen, um auf den Sinngehalt der äußeren Erscheinung eingehen zu können. Dieser ist aber nicht ›wirklich‹ ; darum benötigt Scruton eine antirealistische Theorie der Erfahrung. Offensichtlich taugt die Ent-

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Die Eigenständigkeit des thematischen Sinnes

klärt, daß nicht die bloße Dingkognition den Rahmen einer Theorie der musikalischen Wahrnehmung bilden darf, sondern wir die Tatsache ins Auge fassen sollten, daß unsere Wahrnehmungen sich an die Schicht des Verhaltens richten. Wenn musikalischer Sinn durch den Appell an die Schicht des Verhaltens zugänglich wird, muß jene Stufe des Verhaltens genauer analysiert werden, in der ein Sinngehalt verkörpert wird, der demjenigen der Musik entspricht. Einerseits hat sich gezeigt, daß der thematische Sinn in einer Äußerung unvertretbar ist, während der Sinn von Zeichen und von Zweckhandlungen auf unterschiedliche Weisen geäußert oder verwirklicht werden kann. Der Geschlossenheit und materiellen Bestimmtheit des thematischen Sinnes steht aber die Tatsache gegenüber, daß er in einer anderen Hinsicht offen und ungerichtet ist. Diese »Offenheit« in der Bestimmtheit 22 ist von zentraler Bedeutung. Im Gegensatz zu ihr setzt das Verstehen einer Handlung oder einer Kundgabe voraus, daß wir den Rahmen der Handlung oder der Kundgabe kennen, innerhalb dessen diese beiden Stufen des Verhaltens ihre Bestimmtheit gewinnen. Dieser Rahmen schließt die Möglichkeiten, ein Verhalten zu interpretieren, ab, und er ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit des schematischen und syntagmatischen Verstehens, die beide nicht offen bleiben können, ohne unverstanden zu bleiben. Ihn bildet, allgemein gesprochen, die Situation des weltbezogenen und intersubjektiven Miteinanders. Die Situation zu kennen bedeutet, zu wissen, um was es geht. Ohne sie zu kennen, wissen wir nicht genau, worum es in der Kundgabe oder der Handlung geht. Thematischer Sinn im Ausdruck ist dagegen dasjenige, was man versteht, ohne die Situation zu kennen, und zwar deshalb, weil Ausdruck – hier wieder nicht als Kundgabe einer spezifischen, nur wiederum aus dem Situationsbezug begreifbaren Gemütslage begriffen – die am wenigsten gerichtete, von vornherein nicht zielbestimmte Stufe des Verhaltens ist (vgl. GS III, S. 212). Leiblicher Ausdruck zeigt eine »seelische Haltung und Verfassung« oder »Gemütsbewegungen« (ebd., S. 210) an, die anschaulich bestimmt und verstehbar sind, ohne daß es möglich oder nötig wäre, eine eindeutige begriffgegensetzung zwischen »Realismus« und »Antirealismus«, die in der ›analytischen‹ Ästhetik gängig ist, kaum dazu, eine Orientierung über Verstehen und Sinn zu gewinnen. 22 Vgl. GS III, S. 360; S. 188; GS VII, S. 382.

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Ausdruck und thematischer Sinn

liche Bestimmung zuzuordnen. Eine solche Bestimmung tritt im Verhalten zumeist ein, indem die Situation den offenen Ausdruckssinn ›ergänzt‹ (vgl. GS VII, S. 127) und dieser zum Teil den Wert einer Kundgabe oder der Begleiterscheinung einer Handlung annimmt. An dieser Stelle tritt ein Problem auf: Wenn Verhalten in einer Sphäre der Gegensinnigkeit stattfindet und seinen Sinn daraus bezieht, scheint es keinen Platz und keinen Grund für ein ›ungerichtetes‹ Verhalten und dessen Verstehen zu geben. Ungerichtetheit und Offenheit müssen darum näher erklärt und qualifiziert werden. Hierzu können wir uns auf die Besonderheiten des menschlichen Verhaltens zurückbeziehen, die in ihm die Dimensionen des Verhältnisses zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst erkennen lassen. Plessner selbst hat die Stufenordnung von Sinn und Haltung, die er in der Einheit der Sinne vorstellt und die jetzt zu dem Problem der Ungerichtetheit geführt hat, und die in den Stufen des Organischen formulierten anthropologischen Grundsätze, aus denen ich jenen dreifachen Selbst- und Weltbezug herausgezogen habe, nicht explizit in ein Verhältnis zueinander gestellt. Es liegt aber nahe, dies folgendermaßen zu versuchen: Schematischer Sinn und die Zweckhandlung sind die Formen des Bezugs auf die Dingwelt; syntagmatischer Sinn und die Kundgabe sind die Formen des Bezugs auf die intersubjektive Welt; thematischer Sinn und Ausdruck sind Formen des Selbstbezuges. 23 »Selbstbezug« muß hier genau gefaßt werden, denn er kann zunächst zweierlei bedeuten: Es gibt einen Selbstbezug der Selbstbeobachtung, sowohl in der körperlichen als auch in der psychischen Dimension. In diesem Selbstbezug bilde ich selbst – mein Körper oder meine Gedanken und Erlebnisse – eine Innenwelt, innerhalb derer ich bestimmte Elemente gegenständlich zu machen suche. Dieser Selbstbezug ist genauso gerichtet wie die anderen Formen der Weltbezüge; er besteht in der Anwendung der bekannten Formen des Außenweltbezuges auf eine Innenwelt. Es gibt aber auch einen Selbstbezug, der insofern ungerichtet ist, als das hier angesprochene Selbst nicht den Wert eines expliziten Gegenstandes der Bezugnahme hat. Dieser Selbstbezug ist das allDiese Aufteilung darf nicht als scharfe Grenzziehung zwischen Bezugnahmen und Bezugssphären verstanden werden, sondern als analytische Isolierung von Momenten. Dies zeigt besonders die Variabilität von Bezugsmöglichkeiten, die Plessner als Momente der den Menschen auszeichnenden exzentrischen Positionalität beschreibt. Diese Variabilität betrachte ich im folgenden hinsichtlich des Selbstbezuges. Vgl. dazu Plessner 1975, S. 295 f.

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Die Eigenständigkeit des thematischen Sinnes

gemeine ›Wie-es-ist-zu-sein‹, das alle anderen Weltbezüge begleitet. In diesem Sinne konkordiert er den Ausdruckswerten, die alle anderen Akte des Verhaltens begleiten. In den explizit weltbezogenen Akten kristallisieren der Ausdruckswert und der Selbstbezug zu einem bestimmten, aussprechbaren Sinngehalt. Von diesen Akten abgesehen bleibt er im Stoff der Leiblichkeit gebunden und bezieht seinen offenen Sinn aus dem Selbstbezug, der noch nicht explizit auf bestimmte gegenständliche Gehalte gerichtet ist, sondern der Grenzfall zu »reiner Zuständlichkeit« (Plessner 1975, S. 296) oder reinem Erleben. 24 Ausdruck ist damit vor allem von seiner Quelle her bestimmt und nicht, wie das Zeichengeben und das Handeln, von einem Ziel. Einem solchen Ziel gegenüber verfügen wir über den Leib als »Mittel«, einen Gegenstand zu erfassen, der den Sinn der Bewegung mitkonstituiert. Hier ist der Leib das Vehikel der Gerichtetheit; im Ausdruck ist er dagegen das »Medium« oder der »Resonanzboden« eines Sinnes, der nicht in einer eindeutigen Richtung über ihn hinausweist (GS VII, S. 374). Diese Unterscheidung setzt die Charakterisierung thematischen Sinnes als performativ oder produktiv fort: er ist nicht zu ›ergreifen‹, sondern zu äußern, hervorzubringen oder herauszulassen. Wenn man das ›Wie-es-ist-zu-sein‹ statisch faßt und das ›Sein‹ als Zustand nimmt, handelt es sich um eine Gestimmtheit, die in einer Leibeshaltung zum Ausdruck kommt. Solch eine Gestimmtheit kann man jedoch als Tendenz verstehen, auf eine Situation, die erst noch eintreten muß, auf eine gewisse Weise einzugehen. Es ist wichtig, jenes ›Sein‹ unter dem Aspekt der Aktivität und der Bewegung zu begreifen, so daß es im Ganzen darum geht, wie es ist, sich zu verhalten, sich zu bewegen, einen Raum einzunehmen oder eine Kraft zu entfalten oder zurückzuhalten. 25 Prekär ist diese Grenzziehung auf alle Fälle. Ich stelle im folgenden die möglichen Aspekte gegensinniger Bezüge auch auf die Qualität des eigenen Weltbezuges stärker heraus, als Plessner dies in der Einheit der Sinne tut. Dort ist Raum für einen »Kreis der zuständlichen Modalitäten«, die »der Akkordanz zur Haltung [entbehren]« und darum sinnfrei sind; neben Geruch, Geschmack, Temperaturempfindung usw. schreibt Plessner allgemein vom »Selbsterleben« (GS III, S. 267–274; vgl. auch S. 285 f.). Es ist nicht einfach, den Gedanken des reinen Erlebens zu fassen, auf den Plessner dort noch abzuzielen scheint, und dieses Erleben dabei von allen Bezugnahmen fernzuhalten. 25 Vgl. Luckner 2010, S. 269–271. Luckner illustriert dort den Gedanken, Musik sei der Ausdruck eines ›So-Seins‹ schlechthin, mit dem Experiment, ein Bild mit unter24

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Ausdruck und thematischer Sinn

Es mag unglücklich erscheinen, hier von Selbstbezug – überhaupt von einem Bezug – zu sprechen, denn was gerade skizziert wurde, scheint in einer bloßen Zuständlichkeit aufgehen zu können. Um diese Verwechslung zu vermeiden, ist daran zu erinnern, daß zwischen physiologischen Zuständlichkeiten und solchen, die einen Bezug auf ein Welt- und Selbstverständnis voraussetzen, unterschieden werden muß. Der Brechreiz oder die Muskelverspannung sind Zustände der ersten Art. Im zweiten Fall aber tritt wenigstens ein Verhältnis zum eigenen Leib ein, insofern er nicht nur ein reagierender Körper, sondern ein Träger von Aktivität ist. Die scheinbare Zuständlichkeit gewinnt darum in seiner Haltung und Bewegung eine gegenständliche Form, etwa die Form der Gangart, der raumgreifenden oder gedrückten Haltung und dergleichen mehr. Diese Haltungen und Bewegungen sind, obwohl sie oft unbewußt zustandekommen, beherrschbar und darum transparent für eine ›seelische‹ Haltung, eine Stimmung oder eine gewisse Impulsivität, die Plessner zufolge nicht als formloses Innenleben, sondern als Träger einer »Gestaltetheit« zu sehen sind (GS III, S. 104). Das Gegenstück zur sinnhaften Transparenz für eine seelische Haltung ist eine auf ganz andere, nämlich kausale Weise transparent zu machende Beziehung zwischen ›formlosen‹ Reizen oder physiologischen Vorgängen und ihren Resultaten wie einem Hautausschlag oder erhöhter Körpertemperatur. Gemütsbewegungen sind nun, indem sie als gestaltet gelten, nicht bloße Auslöser einer Reaktion, sondern Elemente eines im Ganzen psychophysisch indifferenten Verhaltens. Fassen wir thematischen Sinn wahrnehmend auf, so kann man geltend machen, daß die ihn tragenden Gegenstände uns so erscheinen, als brächten sie einen Selbst- und Weltbezug der beschriebenen Art zum Ausdruck. Sie erscheinen unter diesem Aspekt nicht als Angriffspunkte für unser Handeln, sondern sie erscheinen, als zeigten sie ein Verhalten. Wenn thematischer Sinn nicht von der Art ist, daß er dinglich vorliegt, sondern uns lebendig entgegentritt, liegt es nahe, seine Erfahrung in besonderem Maße mit dem Grundbegriff des Afschiedlicher Musik zu unterlegen. Der Gegenstand, den das Bild zeigt, bleibt stets derselbe, aber dieser Gegenstand wird, so Luckner, zu einem »konkrete[n] Beispiel dessen […], was in der Musik allgemein ausgedrückt wird«: Er wird zu einer Erscheinung eines jeweils verschiedenen Wesens, das – so wäre mit den hier eingeführten Begriffen zu sagen – der in der Musik erscheinende und von ihr für uns bestimmte thematische Sinn ist. Das Bild gilt als eine Deutung dieses Sinnes, indem es ihm eine Situation gibt.

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Musik und thematischer Sinn

fekts zu verknüpfen: Er ist ein Sinn, den wir nicht ergreifen, sondern der eine Antwort in einem Nachvollzug erfordert, in welchem sein performativer Aspekt zum Tragen kommt. Wir sind selbst in die Performativität eingebunden und finden uns darum, wie es oben hieß, aktiviert oder angesprochen. In der Qualität dieses antwortenden Verhaltens, in dem wir uns finden, liegt das affektive Moment.

k.7. Musik und thematischer Sinn Deutlicher werden müssen nun die Zusammenhänge zwischen der ästhesiologisch begründeten These, Musik spreche die Schicht des Verhaltens an, der Erläuterung der Stelle des Ausdrucks in dieser Schicht und dem hier involvierten Begriff des thematischen Sinnes. Der Grundgedanke war, daß Verhalten – das sprachliches, handelndes und sich ausdrückendes Verhalten umschließt – ein lebensweltlich primäres Feld des Verstehens ist. Unter dieser Voraussetzung liegt es nahe, daß man, wenn man nach dem Sinn der Musik fragt, den Bezug der Musik auf dieses primäre Feld des Verstehens untersucht. Dabei werden einige Übereinstimmungen zwischen der Musik und dem Bereich des Ausdrucks, wie er von den anderen Bereichen des Verhaltens unterschieden wurde, deutlich. Diese Übereinstimmungen hat zunächst die ästhesiologische Analyse als »Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung« (GS III, S. 236) aufgewiesen, indem sie sich auf die stoffliche Seite des Klanges und der Leiblichkeit stützte. Volumen und Impuls des Klanges und die inhärente Zeitlichkeit der Entfaltung dieser Qualitäten traten dabei einerseits mit der akustomotorischen Einheit in der Erfahrung der eigenen Stimme in Beziehung, andererseits mit den allgemeinen Charakteristika der Leibeshaltung und -bewegung, insofern diese eine ›voluminöse‹ Erfahrung der Raumerfüllung und eine ›impulsive‹ Erfahrung der eigenen Bewegung involvieren. Eine hübsche Zusammenfassung dieser Entsprechung gibt Plessner unter dem Titel der »Umgänglichkeit«: »man geht mit ihren Tönen um so wie die Töne auch mit uns umgehen, und die Töne gehen mit sich selber um« (GS VII, S. 198). Die Musik ist für das verstehende Hören ein sich verhaltendes Wesen, das sich auf sich selbst bezieht – oder womöglich eine Mehrzahl von bewegten Wesen, die aufeinander eingehen – und ebenso auf den Hörer. Zu dieser Untersuchung, die sich auf die Entsprechung zwischen den Modalitäten der Wahrnehmung mit ihren material-apriorischen 241 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck und thematischer Sinn

Sätzen und den Stufen des Verhaltens konzentriert, muß aber jene Seite der Analyse treten, die es mit dem Verstehen in der durch die Musik angesprochenen Schicht des Verhaltens zu tun hat. Sie muß zeigen, daß es eine Stufe im Verhalten gibt, die wir auf eine Weise verstehen, die mit dem Verstehen der Musik übereinstimmt, insofern es keine Begriffe von Dingen und zweckgerichteten Handlungen und keine Bedeutungen von zeichenhafter Art verwendet. Diese Stufe des Verhaltens ist die eben untersuchte Stufe des offenen Ausdrucks. Sie spielt die Rolle eines Anzeigers für den Gedanken, daß es ein Verstehen eines offenen Sinnes gibt. Dieses Verstehen und der ihm zugrundeliegenden Sinnbegriff sind nun im Hinblick auf die Musik zu erläutern. Dabei darf nicht aus den Augen geraten, daß musikalischer Sinn nicht dem Sinn leiblichen Ausdrucks gleichzusetzen ist oder vollständig in ihm aufgeht, sondern daß beide an einer gemeinsamen Stufe des Sinnes teilhaben, die im tatsächlichen Ausdruck zumeist unter andere Bedingungen – nämlich jene der Kundgabe durch Zeichen und der zielgerichteten Handlung – gerät als in der Musik und darum in der Welt des Verhaltens fast nie rein auftritt. Führen wir uns vor Augen, wie Musik und leiblicher Ausdruck korrespondieren. Vier Momente sind dabei zu erfassen: (1) die Korrespondenz in der Bewegung (Motorik); (2) die Korrespondenz zwischen der Ungerichtetheit der Ausdrucksbewegung und der Ungegenständlichkeit des Klanges; (3) die bildhaft-sinnhafte Indifferenz durch die Bindung des Sinngehaltes an seine konkrete Erscheinung; (4) das Verhältnis zur Zeit, das Musik und Ausdruck haben. (1) Durch den rhythmischen Verlauf und die Ordnung von Tonhöhen kommt der Klangstoff zu Bewegungsformen, die, wie die ästhesiologische Analyse gezeigt hat, der leiblichen Motorik entsprechen und versuchsweise in Gesten oder im Tanz umgesetzt werden können. Die leibliche Bewegung und ihre Vorstellung sind dabei selbst keine außenweltlichen Objekte einer bloßen Beobachtung, die mit beobachteten Elementen der Musik in ein Ähnlichkeitsverhältnis gesetzt werden müßten, sondern Momente eines Erlebens: »Der Leib […] ist […] keine passive Hülle und Außenschicht, in die sich die Erregungen von innen hineinbeulen«. Er ist ein »Ausdrucksorgan«. (GS VII, S. 249 f.) Das bedeutet, daß wir das eigene Verhalten oder die Vorstellung von ihm als einen Bezug auf uns selbst erfahren; es ist Ausdruck eines, wenn auch nur vorgestellten (simulierten, imaginierten), Selbst- und Weltverhältnisses. Wenn eine solche Vorstellung im 242 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Musik und thematischer Sinn

Nachvollzug der musikalischen Bewegung impliziert ist, kann man in Anlehnung an die Formulierung, dieses Selbstverhältnis sei das ›Wiees-ist-zu-sein‹, sagen, daß die musikalische Bewegung dem Nachvollzug ein ›Wie-es-sein-könnte-…-zu-sein‹ anbietet. Das »könnte« ist in dieser Formulierung auf den gegensinnigen Umgang eines Menschen mit Tönen bezogen, der sich im Medium des thematischen Sinnes vollzieht. Die Musik sagt nicht (syntagmatisch) »So bin ich«; sondern sie sagt: »Gehe mit mir um, vollzieh mich nach, und so erlebst du, wie es sein könnte, so zu sein, wie ich bin.« Aufgrund des Überschusses musikalischer Bewegung gegenüber dem Nachvollzug (s. hierzu den folgenden Abschnitt) ist diese Angleichung nur hypothetisch; in ihr wird merkbar, was noch und anders nachzuvollziehen wäre. Vom Nachvollzug muß man die Bewegungsformen erst künstlich abziehen, wenn man sie als rein objektiv im Sinne des Formalismus auffassen will, ebenso wie man mit einem behavioristischen Vorurteil an das Verhalten herantreten muß, um es als Folge rein physischer Vorgänge auffassen zu können. In diesem sehr elementaren und basalen Sinne wird Musik als ausdruckshaft erlebt: weil sie die Schicht des Verhaltens anspricht, dessen einfachste, am wenigsten gerichtete Stufe als Ausdruck einer Haltung oder Bewegung – beide Termini psychophysisch indifferent genommen – erscheint. (2) Daß der Ausdruck die am wenigsten gerichtete Form der Haltung und Bewegung ist, entspricht der Tatsache, daß musikalische Klänge keine fixierbaren Dinge bilden, die sich im Außenweltraum befinden, sondern daß sie einen musikalischen Raum aufspannen, in dem sie sich zu musikalischer Bewegung gestalten. Diese ist dingfrei, so wie die Ausdrucksbewegung frei von direkten Dingbezügen ist. 26 Diese Freiheit befördert (im Fall der leiblichen Bewegung) oder erzwingt (im Fall der Musik) die Auffassung der Bewegung als thematisch geformt. Um klar zu machen, welcher Unterschied in der Möglichkeit der Formgebung zwischen der Musik und den Sprach- und den Bildkünsten besteht, führt Plessner aus: Von den Bezügen auf die materielle Welt, die durch die Geräuschmomente des Klanges hergestellt werden (s. Kap. f.), sehe ich hier ab. Geräuschmomente treten zu der rein klanglichen Seite der Bewegung hinzu, indem sie ihr einen konkreten Stoff in die Hand geben: Wir vollziehen die Musik dann nicht nur als Geste oder Haltung nach, sondern als eine Aktion, zu der die Vorstellung tritt, sie würde mit oder an einem stofflichen Gegenstand ausgeführt.

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Ausdruck und thematischer Sinn

»Nur die Musik hat in den Tönen ein Material der thematischen Sinngebung, das selbst weder etwas darstellt noch zu etwas dient noch etwas bedeutet. Farben, Formen, körperliche Massen kommen in der Natur vor als komponierende Elemente von Gegenständen, und es bedarf erst eines Aktes, sie ihrer Gegenständlichkeit zu entkleiden […]. Ebenso hat der Dichter mit dem Eigensinn der Sprachbedeutungen zu rechnen und muß ihn brechen, um dann ihm folgend oder sich über ihn hinwegsetzend, ihrer als Klangwerte, Affektträger und als Vehikel zu vorgestellten Anschauungen sich zu bedienen.« 27

Nur in der Musik gibt es »Formung überhaupt« (GS III, S. 190), ohne daß damit direkt ein begrifflicher oder dinglicher Zusammenhang geformt würde. Diese Zusammenhänge, mit denen die Sprach- und Bildkünste rechnen müssen, erfordern vom Leser, Zuschauer und Betrachter ein syntagmatisches oder schematisches Verstehen, an dem die Auffassung der Formgebung häufig nur als begleitendes Moment zu hängen scheint. Anders gesagt: man schaut oder liest leicht durch das Moment der Formgebung hindurch auf einen Gehalt hin, von dem man meinen kann, er könne davon befreit werden. In der Musik tritt dagegen dieses Moment in den Vordergrund. (3) Der Leib und der Klang sind im Ausdruck und in der Musik die »Materialien« oder Stoffe zur Ausprägung der thematischen Sinngebung, die gerade dadurch ausgezeichnet ist, daß sie in ihren Stoff gebunden ist. 28 Ihr gegenüber stehen Handlungen und Zeichen, die die leiblichen Bewegungen des Tuns und Sprechens oder seine Ergebnisse wie die Schrift nur als »Mittel« – und eben nicht als »Materialien« – einer Sinngebung gebrauchen. 29 Sie agieren auf einer Stufe des Sinnes, auf der dieser vom besonderen Stoff unabhängig ist, indem er als sprachliche Bedeutung und als Kategorie von Dingen und Funktionen vorliegt. Der Geist ist hier tätig, indem er (grammaGS III, S. 182; vgl. auch S. 190 f.; S. 289 f. Vgl. GS III, S. 214: »Statischer und dynamischer Ausdruck bilden im unmittelbaren Verhältnis zum Leib einen echten Fall der thematischen Sinngebung […]«. 29 GS III, S. 287; GS VII, S. 374. Vgl. die Formulierung, »daß in der reinen Musik mit (nicht aus) dem puren Stoff des akustischen Bewußtseins, den klingenden Tönen, Sinn erzeugt wird« (GS III, S. 199), und die Abgrenzung gegen den schematischen Sinn und das optische Sinnesfeld: Sinn liegt dort nicht im Stoff, sondern in einer Funktion, nämlich der Funktion der »Gerichtetheit«, die den Sehstrahl ästhesiologisch auszeichnet wie die Voluminosität die Gehörempfindung (GS III, S. 258 f.; S. 264 f.; S. 291). Nicht die Stofflichkeit in ihrer besonderen »Räumigkeit« und ihrem besonderen Zeitbezug, sondern die »Erfassung der Dinglichkeit« ist dabei die Erfüllung der entsprechenden Sinnerwartung. 27 28

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Musik und thematischer Sinn

tisch) gliedert und »nach bestimmten Leitideen die Erfahrungsfülle« »schematisiert« (ebd., S. 158); durch diese Gliederungen und Schemata greift er auf die Welt zu und ordnet seine entsprechenden Handlungen. Im Vergleich zu der »besondere[n] Durchdringung zwischen Geist und Materie«, die Plessner als Kennzeichen der thematischen Sinngebung anführt, hat der Geist in allen anderen seiner Tätigkeiten »Umwege durch die Welt der Dinge« und aller anderen unsinnlichkategorial bestimmten Gehalte zu nehmen (GS VII, S. 186). Die bildhaft-sinnhafte Indifferenz des thematischen Sinnes und seiner Erscheinungsform zeigt sich, wie eben ausgeführt, als Indifferenz zwischen anschaulichem bzw. hörbarem Stoff und dessen Sinngehalt. Sie zeigt sich aber auch im Bereich der Erfahrung, wenn wir es mit einem Sinngehalt zu tun haben, der nur in der Erfahrung der Anschauung und des Nachvollzuges selbst aufscheint und damit »anschauungsimmanent« ist (GS III, S. 193). Anders gesagt, ist er ein Sinn, der nicht einfach gedacht werden kann; er erfordert wenigstens – in der Abwesenheit des Objektes – eine bildliche oder klangliche Phantasievorstellung. (4) Zu den Korrespondenzen gehört schließlich jene der Zeitlichkeit der Musik und des Ausdrucks, die sich beide von der Zeitlichkeit der Handlung unterscheiden. Wichtig für sie ist nicht die objektiv abgemessene Zeit, in der Ausdruck und Musik wie alle Abläufe nur enthalten sind, sondern die »Bewegtheit, die in der subjektiven Zeitordnung, also unmeßbar, nur erlebbar […] sich abspielt« (ebd., S. 228). »Bewegtheit« ist sie nur, wenn sie kein unendliches Weiterzählen gleichmäßiger Zeitgrößen ist, sondern wenn der Zeitlauf eine Ordnung und Gestaltung erfährt, deren allgemeinste »Ordnungsfunktionen« Hebung und Senkung sowie deren Zusammenordnung sind (ebd., S. 207). Durch die Zusammenordnung ergibt sich, daß der Zeitablauf nicht nur geradlinig fortschreitet wie die Uhrzeit, sondern »mehrsinnig« erfahren wird (ebd., S. 226; S. 207). Einerseits kann die Musik verschiedene simultane Abläufe ineinander integrieren; andererseits fassen wir die einzelnen Momente so auf, daß sie die Fortsetzung einer begonnenen Bewegung und die Vorausdeutung auf eine Fortsetzung sind, so daß im musikalischen Hören ein kontinuierliches Vor- und Zurücksinnen stattfindet, das die jeweiligen Erwartungen mit dem dann tatsächlich Gehörten vergleicht. Einen solchen Prozeß des Vorgreifens, des Abgleichens und der Integration in zuvor Aufgefaßtes teilt das musikalische Hören allerdings mit Verstehensvorgängen, die sprachlich und begrifflich verfaßt 245 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck und thematischer Sinn

sind. Das Verstehen der Syntax eines Satzes hat eine Struktur, die formal auf gleiche Weise beschrieben werden kann. Aber auch auf der höheren Ebene des Reflektierens oder des Argumentierens treffen wir auf solche Prozesse des Rückgriffs auf bereits Gesagtes und Gedachtes, den Abgleich mit anschließenden Gedanken und dem Versuch, sie ineinander zu integrieren oder gegebenenfalls einige Annahmen wieder auszuscheiden. Diese Gemeinsamkeiten sind mitentscheidend dafür, daß sich Paradigmen musikalischen Verstehens ausbilden konnten, denen Musik als Logik oder als Klangrede gilt. Andererseits ist dieses Verhältnis der zeitlichen Aspekte in den Prozessen des Denkens, des Sprechens und der Musik genauer zu befragen, denn der Sinn von Syntagmen und Schemata geht nicht in den Prozessen des Vor- und Rückgreifens, Entgegensetzens, Verstärkens, Verneinens usw. auf. Zwar erfordern das Denken und das Sprechen Zeit, die erlebt werden kann; die Bedeutungen und Begriffe, mit denen es operiert, treten aber aus diesem Zeitfluß heraus. Sobald die Prozesses des Denkens und Sprechens abgeschlossen sind, liegt der schematische oder syntagmatische Sinn als ihr Ergebnis vor und kann indifferent gegen den Prozeß seiner Gewinnung verstanden werden. Die Ordnung der musikalischen Bewegung ist auf eine wesentlich andere Weise an den tatsächlichen Verlauf der Zeit gebunden, weil sie nicht einfach durch die Zeit hindurch verläuft, sondern die Zeit formt, indem sie Bewegung im Klang ist: Bewegung, die aufgrund des Materials, in dem sie sich ereignet, die Zeit als Stoff ihrer Formung fordert. Wenn der Sinn dieser Bewegung von thematischer Art ist, ist er an die Bewegung mit ihrem Stoff und damit an ihren zeitlichen Ablauf gebunden. Wir können den Sinn nicht als ein Ergebnis von dem Prozeß der Bewegung des Klanges und des Nachvollzuges abziehen. Die Entsprechung zwischen Musik und Rede und Denken besteht strenggenommen nicht zwischen den Sinngehalten, sondern sie bedeutet, daß Musik mit dem Erlebnis des Sprechens und Denkens verknüpft wird, insofern sie Prozesse in der (Erlebnis-)Zeit sind. Musik verknüpft sich mit dem Sinn der »Erfahrung davon, wie es ist zu denken« (Mittmann 1999, S. 19). Nicht die ›Logik‹ des Denkens oder Sprechens ist der Bezugsgegenstand, sondern daß sie Momente eines »Bewußtseinsstromes« sind (ebd.).

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Der Überschuß des thematischen Sinnes in der Musik

k.8. Der Überschuß des thematischen Sinnes in der Musik über das Ausdrucksverhalten hinaus Es ist nötig, den Korrespondenzen zwischen Musik und leiblichem Ausdruck die Diskrepanzen zwischen den beiden Feldern gegenüberzustellen. Diese Diskrepanzen bestehen bereits auf der elementaren Ebene des Nachvollzuges – absehend also von konstruktiven Möglichkeiten der Sinngebung, von historisch und gesellschaftlich konstituierten Sinnpotentialen, symbolischen Bedeutungen usf. – vor allem in einem Überschuß des musikalischen Sinnes über die Möglichkeiten leiblicher Ausdruckshaltung und -bewegung, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens überschreitet die Bewegung der Musik die Möglichkeiten des Leibes. Sie kann polyphon sein und damit verschiedene, auch gegensätzliche Bewegungsabläufe simultan ineinander integrieren. Eine rhythmisch-melodische Bewegung kann durch Dynamik, Klangfarbe, Harmonik, die Art der Begleitung einer Hauptstimme usw. in einer Weise differenziert werden, im Vergleich zu der die für Geste und Tanz verfügbaren Gliedmaßen, Schrittchen, Hüpfer, Drehungen und Biegungen nur sehr ärmliche Ressourcen bereitstellen. Ferner kann man dazu übergehen, mit dem Geräuschhaften, mit Texturen, mit statisch wirkender Räumlichkeit die Musik so zu gestalten, daß sie weniger menschlichen Bewegungen als natürlichen Prozessen – beispielsweise einem Fließen, Rauschen oder Grollen – zu entsprechen scheint. Diese Möglichkeiten der musikalischen Gestaltung aus dem Geräuschhaften, ›Natürlichen‹ und Ereignishaften des Klanges heraus gehören nicht in den engeren Kreis von Plessners Argument. Ihr Verstehen hängt aber durchaus mit der Vorstellung eines Verhaltens zusammen, indem sie eine verhaltensrelevante Umwelt bilden. Diese kann man, wie so häufig in der Orchestermusik der Romantik, als ›Szene‹ auffassen. Tremoli, gehaltene Töne, Figurationen und Texturen – man denke an die Eröffnungen der Symphonien Bruckners oder den Anfang von Mahlers 1. Symphonie aus einem gehaltenen Baßton und einem ebenso gehaltenen, extrem hohen Violinflageolett – öffnen einen noch leer scheinenden Raum, in dem Bewegungen und Ereignisse wie auf einer Bühne auftreten. Zweitens überschreitet der Sinn der musikalischen Bewegung den Sinn der tatsächlichen leiblichen Ausdrucksbewegung, weil diese leicht weitere Deutungsmöglichkeiten anzieht, die der Musik selbst nicht angemessen sein müssen. Dies sind Deutungen auf der Ebene 247 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck und thematischer Sinn

der Mitteilung oder der Zweckrichtung; oder sie stammen aus Konventionen eines an Gestenarmut gewöhnten Verhaltens, das dazu führt, das Gestikulieren und weitere Ausdrucksbewegungen für albern oder übertrieben zu halten. Gewinnt die Vorstellung leiblicher Bewegung mitsamt solchen Kontexten die Oberhand, so wird die Offenheit des in der Musik gestalteten thematischen Sinnes leicht abgeschlossen oder abgeschnitten, da die Vorstellung von ihr weg zu Mitteilung, Zweckhandlung oder Konvention fortgeht. 30 Behält man diesen Überschuß im Sinn, so ist es am ehesten möglich, das Mißverständnis zu vermeiden, musikalische Bewegung müsse in Tanzbewegungen, Gesten oder Haltungen unseres tatsächlichen Leibes überführt werden können – und sei es auch nur in der Vorstellung –, um sie verstanden zu haben. Gegen dieses Mißverständnis steht der Gedanke, daß die Akkordanz zwischen der Musik und der Schicht des Verhaltens die Bedingung für musikalisches Verstehen, aber nicht sein Endpunkt ist. Die Schicht des Verhaltens reicht unsere Auffassung der Musik vermittelnd an die Möglichkeiten der Reflexion weiter. Indem sie Reflexion auf einen Sinn ist, kann sie Deutung heißen. Das Verstehen, das unmittelbar nachvollziehend in der Schicht des Verhaltens ansetzt, zielt unter den Bedingungen einer Geistigkeit, die sich zu diesem Verhalten verhält, auf eine Deutung ab. Aus dieser Perspektive ist der Begriff des thematischen Sinnes noch einmal genauer zu beleuchten.

k.9. Vertretbarkeit und Deutbarkeit Unter dem Aspekt des Ausdrucks z. B. in der leiblichen Bewegung ist thematischer Sinn etwas, das vom Ausdruck, in dem er sich äußert, »abgelöst« werden kann (GS III, S. 183). Darum ist der Sinn der psychophysisch indifferenten Erscheinung des Ausdrucks nicht mit dieVgl. Plessners Einschränkungen, die in h.2. schon angesprochen wurden. – Als Entsprechung zu den Beschränkungen der leiblichen Ausdrucksbewegung mag man Wittgensteins Gedanken lesen, daß die Musik – wohl gerade darum, weil sie einen Sinn präsentiert, der weder in Worten noch in Gesten, die bereits bestehen, adäquat eingefangen werden kann – uns neue Gesten lehre und unser Verhalten und Verstehen erweitere: »Diese musikalische Phrase ist für mich eine Gebärde. Sie schleicht sich in mein Leben ein. Ich mache sie mir zu eigen.« (Wittgenstein 1984, S. 553) »Und das Thema ist auch wieder ein neuer Teil unsrer Sprache, es wird in sie einverleibt; wir lernen eine neue Gebärde.« (ebd., S. 523)

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Vertretbarkeit und Deutbarkeit

ser Erscheinung selbst identisch. Dies erscheint paradox vor dem Hintergrund der Erklärung, daß thematischer Sinn – im Unterschied zu Bedeutung und Begriff – in der Gestalt eines wahrnehmbaren Stoffes selbst liegt und nicht durch wahrnehmbare Zeichen nur auf ihn als auf eine zweite, hintergründige Schicht verwiesen wird. Es hieß, der Sinn des Ausdrucks sei unvertretbar. Wie paßt dies zu der Rede von der Ablösbarkeit? Es wäre einfach, zu antworten, daß die Unvertretbarkeit nur für den Ausdruck im engeren Sinne, nicht aber für thematischen Sinn im allgemeinen gelte. Auf die Musik bezogen hieße das: Wohl ist der Ausdruck einer Phrase nicht davon zu trennen, wie sie komponiert ist und gespielt wird. Aber ihr thematischer Sinn bleibt in abweichenden Verwirklichungen (in abweichenden Ausdrucksweisen) der Phrase derselbe. – Diese Auskunft ist nicht befriedigend, denn sie legt den Schwerpunkt auf die formale Allgemeinheit des thematischen Sinnes. Diese aber muß damit zusammengedacht werden, daß er prägnant bestimmt und anschauungsgebunden ist (vgl. GS III, S. 188; S. 192 f.). Wie bereits angesprochen, ist es dieses doppelte Gesicht der Offenheit in der Bestimmtheit, das den thematischen Sinn auszeichnet. Um sie kenntlich zu machen, ist ein anderer Weg der Erklärung zu versuchen und zunächst noch einmal zu sehen, welchen Ort im Argument der Begriff der Unvertretbarkeit hatte. Vertretbarkeit gibt es für Bedeutungen und Begriffe: Eine Bedeutung kann durch verschiedene Zeichen vertreten werden, vorausgesetzt, man verständigt sich entsprechend. Gleiches gilt im Schematismus beispielsweise der Zweckhandlung, dessen Elemente durch funktional gleichwertige Dinge vertreten werden können. Unterschiedliche Stoffe fungieren also gleich. Im Falle des thematischen Sinnes hingegen bewirkt jede Veränderung im Stoff – in der Mimik, in der Geschwindigkeit und Kraft der Geste, oder im Tempo und der Dynamik in der Musik – eine Veränderung des Sinngehaltes. Ein Gesichtsausdruck kann nicht durch einen anderen vertreten werden, eine Tonfolge nicht durch eine andere, ein Wort im Gedicht – das ja nicht nur eine Mitteilungsfunktion erfüllt, sondern einer bestimmten Art von Formgebung unterliegt, die in Plessners System ebenfalls unter den Thematismus fällt – nicht durch ein anderes, einfach weil es den gleichen Bedeutungswert hat. Der Begriff der Unvertretbarkeit hat hier den hauptsächlichen Zweck, thematischen von schematischem und syntagmatischem Sinn zu unterscheiden. Dafür kennt der Thematismus eine andere Vertretungsmöglich249 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Ausdruck und thematischer Sinn

keit: eine »Vertretbarkeit der Sinne« (GS III, S. 188). Diese steht der Bedeutungsvertretung gegenüber, bei der die einander vertretenden Elemente aus gleichen formal oder funktional bestimmten Gegenstandsbereichen stammen, so daß ein Wort ein anderes, ein Schriftzeichen ein anderes vertritt. Die Vertretung im Thematismus ersetzt hingegen weniger, als daß sie Bereiche verknüpft: Eine melodische Phrase kann nicht durch ein anderes musikalisches Element vertreten werden, wohl aber durch ein Element aus einem anderen Bereich, in dem thematische Sinngebung möglich ist: durch eine Geste, durch eine Raumvorstellung, durch eine gezeichnete Linie 31 , auch durch Worte, die in diesem Fall generell als Metaphern fungieren. Der thematische Sinn, der sich in einem bestimmten Medium äußert, ist von diesem Medium ablösbar, ohne innerhalb dieses Mediums von seiner bestimmten Gestaltung ablösbar zu sein. Die Vertretung thematischen Sinnes in verschiedenen Medien ist dadurch bedingt, daß diese Medien in Bezug auf den thematischen Sinn material-apriorisch äquivalent sind, das heißt, daß sie die Formbestimmungen thematischen Sinnes – Hebung, Senkung, Impuls, Volumen und die jeweiligen Prozesse ihrer Modifikation in ihrer bestimmten Zeitlichkeit, also die thematische Bewegung – übernehmen können. Mit dem Stoff jener Medien muß thematischer Sinn erzeugt werden können. Dies unterscheidet die Vertretung der Medien im Plessner schreibt äußerst allgemein von einer Vertretung in »Bildern, Handlungen, Affekten, Willensregungen, Vorgängen aller Art« (GS III, S. 188). Eine beispielhafte Illustration kann ein Artikel (Schmarsow & Ehlotzky 1922) geben, auf den er an anderer Stelle (GS III, S. 207) verweist, da er behauptet, dieser Text gäbe Aufschluß über die Begriffe Arsis, Thesis und Synesis. Diese tauchen dort zwar gar nicht auf; dafür erhalten wir ein Beispiel für eine Leistung der Vetretung des nach Arsis, Thesis und Synesis geordneten thematischen Sinnes in verschiedenen Medien. August Schmarsow und Fritz Ehlotzky geben eine Erläuterung der vierzeiligen alkäischen Odenstrophe, also einer in sich geschlossenen rhythmischen Form. Sie behaupten, daß diese Erläuterung auf ein »Gesetz« einer im Rhythmus verwirklichten reinen Form hinausläuft, die Entsprechungen in anderen Bereichen der Formgebung haben müsse. So beschreiben sie die Strophe in Termini eines Gehens und Schreitens, anschließend als pantomimische oder skulpturale Figur und zeichnen sie zuletzt in der Umsetzung ihrer »Bewegungslinie« als Palmetten-Ornament. In einem zweiten, später erschienenen Teil dieses Artikels (Schmarsow & Ehlotzky 1924, S. 15 f.) behaupten sie in der Tat, daß jene reine Form, die der Formgebung aller Künste zugrundeliegt, in allen Fällen den »Bewegungsformen des menschlichen Körpers« entstammt. Die Vorstellung der eigenen leiblichen Bewegung hat hier, ähnlich wie in Plessners Theorie, eine vermittelnde Stellung für die Auffassung von Formen in den verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten inne.

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Vertretbarkeit und Deutbarkeit

Thematischen von ihrer Vertretung im Schematischen, bei der es darum geht, daß die Medien – zum Beispiel die geometrische Zeichnung und die in Zahlen ausgedrückte Funktion – sich dazu eignen, eben diese Funktion darzustellen, und zwar nicht mit, sondern in ihm. Für die Vertretung des thematischen Sinnes von Klängen tritt jedoch die Schwierigkeit auf, daß die anderen Medien prinzipiell ein Verständnis unter anderen als den thematischen Gesichtspunkten wenigstens erlauben, wenn nicht fordern. Wir müssen sie unter der Voraussetzung des Thematismus betrachten. Eine Linie beispielsweise müssen wir als Linie einer Bewegung verstehen, nicht als Darstellung einer geometrischen Funktion. Besonders komplex erweist sich die Vertretung thematischen Sinnes in der Sprache, da in diesem Fall gezeigt werden muß, inwiefern Sprache an die Bewegtheit und die Stoffbestimmtheit des Thematischen anschließen kann; besonders hierüber werde ich in den folgenden Kapiteln weiteren Aufschluß zu geben suchen. Die »Vertretung der Sinne« ist nie vollständig, sondern gleicht einer asymptotischen Annäherung an einen idealen Sinngehalt. Insofern ist es günstiger, hier das Wort »Vertretung« nicht mit zu viel Gewicht zu versehen, sondern es als Verknüpfung zu verstehen, und zwar auch zu dem Zweck, das Mißverständnis zu vermeiden, daß der Sinngehalt vollständig von einem der verknüpften Bereiche in einen anderen transportiert würde. Dies widerspräche einer wesentlichen Bestimmung des thematischen Sinnes, nämlich seiner Offenheit. Diese Offenheit ist systematisch näher dadurch zu erklären, daß Plessner postuliert: »Im Thema werden Idee und sinnlicher Stoff verschmolzen« (GS III, S. 178). Der Begriff der Idee spielt in der Einheit der Sinne eine tragende Rolle, wird von Plessner aber nur spärlich erläutert. Jetzt ist er als jenes Moment in der sinnvollen Erscheinung zu verstehen, das die Anknüpfung eines (insbesondere geistigen) Verhaltens an die Erscheinung oder an den Gegenstand ermöglicht. Jede Art von Sinngehalt trägt Idealität (ebd., S. 192), aber nur im thematischen Sinn verschmilzt sie mit der Stofflichkeit der »Empfindung«, so daß sie nicht auf eine Dingkategorie, ein Schema oder eine Zeichenbedeutung fixierbar ist. Plessner drückt diese wesentliche ›Verschmelzbarkeit‹ der Ideen mit einem Empfindungsstoff aus, indem er sagt, »daß Ideen prägnante (nicht darstellbare) Gestalt haben, solche Art von Gestalt aber nur in der Bedingung zu konkreten […] Gestalten bestehen

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Ausdruck und thematischer Sinn

kann, weshalb Plato sie Urbilder nennt, an denen die Erscheinungen teilnehmen. […] was zur Formung in den Künsten überhaupt gehört und nie selbst für sich erscheint, [ist] ebenfalls bloße Bedingung zu jeder konkreten Modellierung, Prägung, Rhythmisierung.« (ebd., S. 191; Hervorhebungen von Th. D.)

In einer einfacheren Formulierung folgt hieraus: »Ihr [= der Musik] Sinngehalt läßt sich von ihrer Realisierung nicht trennen, obwohl er in solcher nicht aufgeht.« (GS III, S. 361 = GS VII, S. 471) Die Anknüpfung steht im Falle des thematischen Sinnes zuerst unter der Bedingung der ›Verschmolzenheit‹, so daß die Anknüpfung an den Sinngehalt dessen Stofflichkeit bewahrt. Dies geschieht im leiblichen Nachvollzug. Hiermit ist der Aspekt der Bestimmtheit in der Beziehung zwischen Sinn und Stoff angesprochen. Der Nachvollzug ist aber keine Imitation der bloßen Erscheinung, sondern er ist Nachvollzug der Erscheinung unter den Bedingungen der mit ihr verschmolzenen Idealität. Damit ist der Aspekt der Offenheit angesprochen. Bestimmt ist thematischer Sinn, insofern der Sinngehalt die Formung des Stoffes vollständig bedingt, so daß jeder Wandel der Erscheinung als Wandel des Gehaltes angesehen werden muß; offen ist er, insofern der Sinngehalt einen Überschuß an Idealität über die sinnliche Erscheinung hinaus hat, gerade indem er Bedingung der Gestalt ist. Wir können also ein anderes Medium der Gestaltung so auffassen, daß die Gestaltung in ihm durch den thematischen Sinn bedingt wird, den wir nachvollziehend in den Klängen aufgefaßt haben. Idealität des Sinnes und Bestimmtheit der sinnlichen Erscheinung bedingen gemeinsam die wesentliche Offenheit des Thematismus, die sich als »Vertretbarkeit der Sinne« und als »Deutbarkeit« zeigt. »Deutbar« 32 ist dabei als »deutungsoffen« zu verstehen: Der Sinn steht einer Tätigkeit der Deutung offen, oder er fordert sie heraus, aber diese Tätigkeit bleibt immer Tätigkeit und kennt keinen bestimmten Abschluß. Daß Deutung gefordert ist, gilt gerade unter den Bedingungen der Geistigkeit und unterscheidet das Verstehen thematischen Sinnes in einem geistigen Produkt vom gleichfalls bildhaftsinnhaft indifferenten Verstehen in der Schicht des Verhaltens: Dort GS III, S. 154; S. 284; S. 289; »freier Deutung überlassen«: S. 205; die Musik gegen die Möglichkeit der Sprache, »anzudeuten« oder »undeutlich« zu sein, abgrenzend: GS VII, S. 195; vgl. hierzu GS III, S. 179 f. Wir haben es hier wieder mit einer notwendigen Möglichkeit zu tun.

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Vertretbarkeit und Deutbarkeit

stellt sich die Frage nach der Deutung erst dann, wenn das unmittelbare, verhaltensmäßige Verstehen in Frage gestellt wird. 33 Ansonsten vollzieht sich das Verstehen im Verlauf des Verhaltens selbst. Eine Tätigkeit der Ausdeutung thematischen Sinnes wird dagegen dann zur Forderung und zum Problem, wenn der Sinn vergegenständlicht vorliegt, so also, daß man immer wieder auf ihn zurückkommen kann. In der Musik tritt dieser Fall vor allem dann ein, wenn sie die Form des Textes und der wiederholbaren Aufführung bestimmter Werke annimmt. Diesen Schwerpunkt setzt Plessner allerdings nicht, so daß er die Tätigkeit der Ausdeutung kaum bespricht. Ihm geht es vor allem um die ästhesiologisch begründeten und darum in der Wahrnehmung und im Verhalten situierten Verknüpfungen, weniger um eine Reflexion, die erst zu bemühen ist. Die Problematik der Beziehung zwischen dem Verstehen in der Schicht des Verhaltens und den Ausdeutungen gegenständlich gegenübertretender Gestaltungen thematischen Sinnes ist bei Plessner nur in der Form angesprochen, daß er in seiner späten Anthropologie der Sinne Heinrich Besselers Unterscheidung zwischen Umgangs- und Darbietungsmusik aufgreift. 34 Umgangsmusik ist daran gebunden, daß sie für einen tatsächlichen Umgang gemacht ist, nämlich für den Tanz, den Marsch oder die Arbeit. Man hört ihr darum nicht zu, sondern ihr Hören geht in ihrem tatsächlichen Mitvollzug auf. Darbietungsmusik ist dagegen solche Musik, die sich aus diesem Zusammenhang emanzipiert hat und darum die Möglichkeiten musikalischer Formbildung weit über das tatsächlich Mitmachbare hinaustreiben kann, so daß sich der ›Umgang‹ mit ihr in die Vorstellung verlagert. Diese Vorstellung aber steht (oder sitzt) ihr kontemplativ gegenüber. Die Musik gerät damit an eine Stelle, von der aus sie dem stillhaltenden Hörer entgegenwirkt, wie es eine Rede, ein Schauspiel oder ein Gemälde tun. Sie muß für sich verstanden werden. Weil sie damit über den direkt mitvollziehenden Umgang hinausreicht, fordert sie dem Verstehensvermögen des Hörers ab, ihren thematischen Sinn in Bereiche der Rede oder der Darstellung zu übertragen;

Man könnte geradezu sagen, daß die Geistigkeit des Verhaltens dadurch ausgezeichnet ist, daß sie ein Moment der Infragestellung oder der Problematizität in sich trägt und dadurch von einem vorzüglich angepaßten Reagieren unterschieden ist; hierzu Kap. q. und r. 34 GS III, S. 362 = GS VII, S. 472; vgl. Besseler 1959, S. 12–14. 33

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Ausdruck und thematischer Sinn

und für die Gestaltung der Musik werden Mittel bedeutsam, die eben diesen Ansätzen entgegenkommen. Auf alle Fälle kann jedoch die Musik – und dies hebt die Weise, in der sie Sinn realisiert, von den Weisen anderer Medien und Kunstgattungen ab – auf einen solchen Umgang zurückgreifen, ohne daß etwas daran ins bestimmte Zeigen oder Sagen überginge oder daß sie mit diesen Weisen der Sinngebung rechnen müßte. Die Weise ihres Umgangs greift auf ein Verhalten zurück, das aus sich selbst, aus dem ›Wie-es-ist-zu-sein‹ bzw. ›-sich-zu-verhalten‹, seinen Sinn gewinnt. Diese Stufe des Verhaltens heißt Ausdruck, und der Bezug der Musik auf sie kann unmittelbar und simultan erfolgen. Aus diesem Zusammenhang zwischen Musik und Ausdrucksverhalten ergibt sich die besondere Weise, in der Musik dem Geist, damit er sich anschließend an die explizite Reflexion machen kann, Sinn vermittelt. Den Übergang vom unmittelbaren Nachvollzug zu deutenden Vertretungen kann man mit Plessner kurz so beschreiben, daß der Anfang dieses Verstehensprozesses in einer Haltung der »sinnvolle[n]« »Leere des Bewußtseins bei voller Anregung aller innerlichen Kräfte« (GS III, S. 187 f.) zu finden sei. In diese angeregte Leere tritt die Musik als »Geste« und damit als »der noch leere Rahmen zu einer Bedeutung«, die »aus allen Gebieten des Geistes« hergenommen werden kann (ebd., S. 241). Aus einem solchen Rahmen heraus deutet Sinn, der in seiner allgemeinsten Form »Richtung auf, Hinweis auf, Anknüpfungsmöglichkeit« ist (GS VII, S. 361). Plessner nimmt an dieser Stelle die offene Hinweisstruktur des Sinnes als »Minimalforderung«, der die Welt des menschlichen Lebens überhaupt genügen muß. Sinn ist so gesehen ein Korrelat der menschlichen Position, die potentiell offen und distanziert-vergegenständlichend gegen die Umwelt und die eigene Subjektivität steht; und damit ist Sinn anders angesprochen als im Fall der Sinnhaftigkeit tierischen Verhaltens. Die Tätigkeit der Deutung, die ich hier in Bezug auf die Kunst beschreibe, ist aus dieser Perspektive eine Tätigkeit, die überall ihren Ort hat, wo der Mensch sich Welt aneignet. Plessners Postulat der »Fundamentalstellung« des thematischen Sinnes für die Stufen von Bedeutung und Begriff (GS III, S. 194) ist unter diesem Aspekt zu lesen. Im Falle des Thematismus ist dieser Sinn aber nicht abschließbar wie die Sinngehalte der anderen Stufen, sondern unaufhebbar »mehrsinnig«, ohne daß er darum undeutlich würde:

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Vertretbarkeit und Deutbarkeit

»Offenheit, d. h. Nichtangebbarkeit, Nichtaussprechbarkeit, Nichtbeschreibbarkeit des ästhetischen Sinnes ist seine Art von Eindeutigkeit und ist nicht ihr [= der Eindeutigkeit], sondern der Geschlossenheit anderer Arten von Sinn und Beziehung entgegengesetzt.« (GS VII, S. 382; Hervorhebung Th. D.)

Es wäre an dieser Stelle zu früh, diese Fundamentalstellung näher erläutern zu wollen; sie wird sich aber im weiteren Verlauf, teils in aufgehobener Gestalt, als eine Art Generalschlüssel dafür erweisen, Umgänge mit ästhetischen Gegenständen zu unterscheiden und einzuschätzen. Halten wir kurz inne, um den erreichten Standpunkt zu besinnen. – Der musikalische Raum wurde zu Ende von Kap. h. als Nachvollzugsraum bestimmt. Im Nachvollzug sollte sich der Sinn musikalischer Bewegung erschließen. Dieser Sinn zeigte sich nun nicht als feststellbare Bedeutung, sondern als Möglichkeit einer Anknüpfung. Die erste Anknüpfung geschieht eben im Nachvollzug, der ein Verhalten oder die Vorstellung eines Verhaltens ist, das der Musik folgt und sich mit ihr im Raum eines gemeinsamen Umganges abspielt. Wenn es in der Form musikalischer Bewegung im musikalischen Raum liegt, sinnvoll und verstehbar zu sein, und wenn dieser Sinn wesentlich eine offene Anknüpfungsmöglichkeit ist, erhalten wir eine dialektische Fortsetzung des Gedankens der musikalischen Eigenform: Die Form musikalischer Bewegung im musikalischen Raum ist eine Form, die der Musik eigen ist und nicht aus Formen außerhalb der Musik erklärt werden kann. Zugleich können wir diese Form nicht erfahren und verstehen, wenn wir die Möglichkeit ihrer Anknüpfung an Formen des Verhaltens und an Sinngehalte ausschließen, die nicht eigentümlich musikalisch sind. Zu erläutern ist nun die Verwirklichung der Anknüpfungsmöglichkeit.

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Musik denken und deuten

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l. Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

Die Nahlektüre Plessners im Hinblick auf seine Theorie musikalischen Verstehens ist nun abgeschlossen, indem wir seinen begrifflichen Differenzierungen so weit wie möglich gefolgt sind. Anschließend an sie möchte ich die Weisen der Vertretung oder Deutung thematischen Sinnes in Bezug auf die Musik genauer erläutern, zuvor aber einen Dachterminus einführen, der im folgenden die unterschiedlichen Aspekte des Vertretens, Deutens und Verstehens, die bisher im Spiel waren, einschließt. Ich möchte summarisch von der Repräsentation der Musik sprechen. Vom Thematismus ausgehend setzt Repräsentation dort ein, wo wir über die Stufe elementaren, erlebnishaften Nachvollzuges hinausgehen und ihn uns als Gegenstand möglicher Vertretungen und Deutungen vorhalten. Die Wahl des Wortes »Repräsentation« mag Unbehagen und Mißverständnisse bereiten. Zu ihrer Abwehr sei gesagt, daß ich den Begriff der Repräsentation grundsätzlich nicht aus einer gängigen und bereits ausgearbeiteten Theorie beziehe. Nichts liegt also ferner als die Absicht, Repräsentation oder einen verwandten Begriff wie »Darstellung« für die Musikphilosophie vorauszusetzen und aus ihm so etwas wie eine sogenannte Darstellungsästhetik, womöglich als Abbildungs- oder Nachahmungsästhetik einsortiert, begründen zu wollen. Auch gegenüber einer modernen Verwendung von »representation«, die ihren Ort in einer oft naturalistischen »theory of mind« hat, möchte ich mich vorsichtig verhalten. Am ehesten lehne ich mich an die weite Verwendung des lateinischen Wortes repraesentatio an, die später in deutscher Sprache in den Gebrauch der Wörter »Darstellung« und »Vorstellung« übergegangen ist. Die Bedeutungsbreite dieses Repräsentationsbegriffs ist vorteilhaft, wie ich vorweg in einem skizzenhaften Vergleich mit nahestehenden Begriffen umreißen möchte. Repräsentieren hat in der hier vorliegenden Theorie viel mit Deuten gemeinsam, läßt aber im Gegensatz zu diesem nicht eine vorgängige Konzentration auf die Sprache als das Medium, in dem die 259 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

Deutung hergestellt wird, erwarten. Repräsentation steht vielmehr zweideutig zwischen dem symbolhaften und sprachähnlichen Füretwas-Stehen, das ganz willkürlich und ohne Rücksicht auf die sinnliche Erscheinung des Repräsentierten und des Repräsentierenden gestiftet sein und gedeutet werden kann, und dem mimetischen Nachbilden und Nachvollziehen, das wesentlich von der sinnlich aufzufassenden Gestalt und Stofflichkeit des zu Repräsentierenden ausgeht (vgl. Werber 2003, S. 266). Dieses zweite Moment kann man als Darstellen bezeichnen, das nicht einen Bezug auf ein Allgemeines oder Abstraktes herstellt, das begrifflich bekannt sein müßte, sondern etwas in seinen sinnfälligen Eigentümlichkeiten ›vor Augen führt‹ (vgl. Schlenstedt 2000, v. a. S. 846–848). Sowohl Darstellen als auch symbolisches Deuten sind mögliche Arten der Repräsentation. Im Unterschied zum Nachvollzug schließlich möchte ich Repräsentation als umfassenderen Terminus verwenden, der sowohl den Aspekt des Vollzuges und der Prozessualität als auch den perfektiven Aspekt zum Ausdruck bringen kann (damit weiche ich von Plessner ab, der den Nachvollzug in seiner Simultanität mit der Musik als eine in sich vollständige Form repräsentativen Bewußtseins nimmt). Der perfektive Aspekt liegt darin, daß die repräsentierenden Vollzüge zu Ergebnissen führen, die festgehalten und mitgeteilt werden können, vor allem in der wissenschaftlichen Analyse und im kritischen und hermeneutischen Sprechen über Musik (die beide freilich zusammenfließen können). In diesem Sinne sind Repräsentationen der Musik Vorstellungen, Darstellungen und Deutungen, die wir uns von der Musik machen. Vor allem um sie geht es im folgenden. Das Verständnis von »Repräsentation« wird aber erst vervollständigt, wenn wir auf die Doppelrichtung des Begriffes aufmerksam geworden sind: darauf also, daß man fragen kann, inwiefern die Musik selbst eine Repräsentation von etwas sei (hierzu l.3. und r.).

l.1. Zur Repräsentation thematischen Sinnes Es mag nützlich sein, auf die mittlerweile recht entlegenen Stellen zurückzuschauen, an denen das Problem deutlich wurde, auf das der Begriff des thematischen Sinnes und die ästhesiologische Analyse des Klanges eingehen sollten. Jenes Problem stellte sich als Folgefrage an 260 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zur Repräsentation thematischen Sinnes

die Lösung eines anderen Problems, nämlich an die These, die Erfahrung reiner Sukzession sei nur möglich, wenn wir diese als Verwirklichung eines Sukzessionstypen erfahren. Muster für solche Typen reiner Sukzession waren Begriffe der Melodik, Harmonik und Rhythmik, die Klänge und Klanggruppen als Instanzen solcher Typen oder als auf sie bezogen erkennen lassen (g.1.). Es zeigten sich aber Auffassungen der Ordnung der musikalischen Zeit, d. h. des Rhythmus, die es als unerläßlich erscheinen ließen, Musik als Bewegung zu verstehen. Die Untersuchung des thematischen Sinnes hat gezeigt, daß diese Verständnisweisen nicht gleichartig sind. Der Nachvollzug der Musik impliziert in diesem Fall das Anlegen von Bewegungsbegriffen nicht auf die gleiche Weise, wie er in jenem Fall das Anlegen von Zahlbegriffen, harmonischen Bestimmungen usw. impliziert. Dieser Unterschied besteht nicht darin, daß zur Erfahrung der Musik verschiedene Typen von Begriffen zur Verfügung stünden, die wir in gleicher Weise an ihren Ablauf anlegen würden. Der Unterschied der zwei Weisen, Musik nachzuvollziehen, läßt sich hingegen auf die folgende Weise ausdrücken: Im einen Fall wird eine Sukzession an die Vorstellung von Sukzessionstypen gehalten, die von vornherein bestimmt sind. Die Grundlagen ihrer Bestimmung sind die gezählte Zeit und die kategoriale Bestimmtheit der Tonhöhen und ihrer Beziehungen untereinander. Im Verhältnis zu dieser vorgängigen Bestimmung können wir die Momente des Verlaufes der je gegenwärtigen Musik bestimmen: Wir wissen dann, was diese Momente sind – zum Beispiel ein punktierter Rhythmus, ein Leitton, der erste Schlag eines Dreiertaktes –, indem wir sie auf den (musikalischen) Begriff gebracht haben. Nebensächlich ist hier, wie klar der einzelnen Hörerin der jeweilige Begriff ist. Selbst wenn sie nicht imstande ist, sich musiktheoretisch, in Form von Notennamen usw. auszudrücken, kann sie in dieser Form des Nachvollzuges die Momente des musikalischen Verlaufes in eine Ordnung bringen, die die Ordnung eines Tonsystems ist und die man im Sinne vieler der in Kap. a.–e. dargelegten Positionen auch dann ›versteht‹, wenn man sie nur implizit begriffen hat. Im anderen Fall tritt ein Verlauf von Klängen kraft seiner stofflichen (material-apriorischen) Charakteristika in Beziehung zu einem Verstehen, das in der Schicht leiblichen Verhaltens beheimatet ist. Dieses Verstehen ist als Resonanz oder als Mit- bzw. Umgehen mit dem thematischen Sinn der Klänge zu beschreiben. In diesem Um261 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

gang liegt der Grund des Verstehens, ohne daß zu dem Umgang vorgängig bestimmte Begriffe erfordert sind. Das Verhältnis von Begriffen zum Verstehen thematischen Sinnes ist ein anderes als das Verhältnis von Begriffen zum Verstehen der reinen Sukzession. Dieses ist (hierzu der folgende Abschnitt) ein Verstehen des schematischen Sinnes der Musik, das ein Verstehen durch Begriffe ist. Jenen fassen wir auf, um ihn als offenen Sinn durch die mögliche Verbindung mit Begriffen – aber nicht nur direkt mit ihnen – zu repräsentieren. In der Auffassung ist das Verhältnis des thematischen Sinnes zu Begriffen erst im Entstehen. Seine Idealität ist darum selbst nicht von der Art des Begriffes, sondern sie ist Idealität eines Sinngehaltes, weil sie, wie schon gesagt, »Anknüpfungsmöglichkeit« ist (Plessner, GS VII, S. 361). Die Möglichkeit der Anknüpfung in ihrer elementaren Form liegt in der Antwort auf ein Verhalten durch ein Verhalten. Unter den Bedingungen des Geistes und geistiger Produkte führt sie weiter zum Anknüpfen einer Repräsentation (einer ›Vertretung‹) an das, was im antwortenden Verhalten erlebt ist. Wir sind also von dem elementaren Begriff der Sukzessionstypen noch einen Schritt weiter nach unten gegangen. Die ästhesiologische Untersuchung und die Besprechung der Begriffe des Ausdrucks und des thematischen Sinnes bilden eine Talsohle dieser Arbeit, indem sie erklären, wie wir die Folge der Klänge noch diesseits des Gebrauchs distinkter Begriffe verstehen können. Von dieser Talsohle steigen wir nun wieder aufwärts, indem wir nach den Möglichkeiten der Repräsentation thematischen Sinnes fragen. Ich halte die Antworten auf diese Frage jetzt sehr kurz und formal; ihre genauere Ausführung erfordert es, darüber klar zu werden, daß die Repräsentation musikalischen Sinnes nicht allein vom Thematismus beginnen kann (hierzu die weiteren Abschnitte dieses Kapitels). Indem die Repräsentation thematischen Sinnes es erfordert, Möglichkeiten der Anknüpfung und Verbindung zu verwirklichen, ist sie ein produktiver Akt. Sie kann damit keine bloße Reproduktion – keine Kopie oder Tonaufnahme – der Erscheinung sein, die den Sinn trägt, denn das Repräsentierte ist nicht eine äußere Erscheinung als solche, sondern ›Idee‹ : der ideelle Sinngehalt, der in die Erscheinung gebunden ist. 1 Diese Unterscheidung läßt sich mit Roger Scrutons Argument gegen die Behauptung illustrieren, daß eine Fotografie eine Repräsentation sei. Was die Fotografie

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Sie kann auch nicht durch bloße Anwendung einer Regel vollzogen werden, da sie die Repräsentation offenen Sinnes ist. Um die Verbindung mit einem Begriff, mit einer visuellen Gestalt, mit der Vorstellung einer Handlung, einer Szenerie usw. zustandezubringen, muß der Gegenstand unter einem bestimmten Aspekt betrachtet werden. Diesen Aspekt herauszugreifen und den Gegenstand entsprechend geordnet zu haben gehört zu der produktiven Leistung der Repräsentation. Es steht also nicht von vornherein fest, welche Elemente und Strukturen der Musik die Hauptsache oder die Nebensache für die Repräsentation sind und wie sich diese Elemente und Strukturen selbst gliedern und zueinander verhalten. Der Sinngehalt als wesentlich deutungsoffener und stoffgebundener ist dementsprechend so verfaßt, daß er stets auch unter einem anderen Aspekt aufgefaßt und geordnet werden kann. Insofern ist das Hervorbringen einer Verbindung im Ganzen prozessual: Es kann sich nicht darauf beschränken, eine Verbindung hervorgebracht zu haben, sondern muß imstande sein, stets neu erscheinende Aspekte des zu repräsentierenden Gegenstandes in Betracht zu ziehen und in die Repräsentation zu integrieren. Um diese Weise der Ordnung des Gegenstandes von jenem Akt zu unterscheiden, der ihn unter einen Begriff bringt, schreibe ich von einer Verbindung oder Verknüpfung mit bereits vertrauten Begriffen und Sinngehalten. Diese Vorüberlegungen sind bei den folgenden Beispielen für Formen der Repräsentation des thematischen Sinnes der Musik zu beachten. Die besondere Schwierigkeit ist, daß thematischer Sinn im Vollzug verstanden wird, aber nicht repräsentiert werden kann, ohne daß man dabei die Bindung an die Zeitlichkeit des Vollzuges und des Klanges zugunsten einer Objektivierung aufhöbe. Zum Zweck seiner Repräsentation ruft das nachvollziehende Verstehen thematischen Sinnes die anderen beiden Momente des Verstehens auf, die ihn in sprachlicher oder schematischer Form zu fassen suchen. In ihnen wird der Nachvollzug aufgehoben und typisiert. zeigt, zeigt sie nicht kraft einer intentionalen, sondern kraft einer kausalen Relation zum Gezeigten (Scruton 2005, S. 208). Sie gibt darum eine äußere Erscheinung wieder. In der Repräsentation, wie sie Scruton interessiert, ist der wesentliche Aspekt aber, daß sie Sinn und das Verständnis von Sinn – in Scrutons Worten: »thoughts« (ebd., S. 210) – vor- und darstellt. Den Status der Repräsentation leiht sich die Fotografie in Scrutons Ansicht nur auf indirekte Weise, nämlich indem der Fotograf das Motiv selbst als eine Repräsentation eines bestimmten Sinnes ansieht (vgl. ebd., S. 217 f.; S. 221–226).

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In kürzester und banalster Weise beginnt die Versprachlichung thematischen Sinnes damit, musikalische Elemente und Motive, die einen bestimmten Nachvollzugstypen zu fordern scheinen, mit den Namen von Bewegungsweisen, Stimmungen, Gesten usw. zu benennen, für die wir bereits über Kategorien verfügen: sie scheinen »feierlich«, »heroisch«, »fragend und antwortend«, »absteigend«, »niedersinkend«, »fortgehend«. Ausgehend von solchen elementaren Benennungen lassen sich Strukturen von Typen bilden, die einem gleichen Bedeutungsfeld zugehören. Weitere Momente der Musik hört man dann im Rahmen eines solchen Feldes, das den Verlauf der Musik als Rede, als Spiel der Affekte, als Ablauf bestimmter Bewegungsmuster oder als Erzählung repräsentieren läßt. Praktisch ist diese Form der Versprachlichung für das 19. Jahrhundert charakteristisch. Bei ihr handelt es sich nicht, wie im Rahmen einer älteren Figurenlehre, um die Benennung typisierter Affekte, sondern sie setzt die Vorstellung voraus, daß in der Musik gefühlshafte, einzigartige, nicht feststellbare Sinngehalte wesentlich sind, denen man zur Sprache verhelfen kann, indem man eine sprachliche Form wählt, die solchen Sinngehalten angemessen ist. Diese sprachliche Form kann man das »Poetisieren« 2 nennen. Sie ist eine sprachliche Form, deren Flüssigkeit und Flüchtigkeit anerkannt werden muß. So steht sie einerseits gegen die Beschreibung des Konstruktiven, Kompositionstechnischen, das unter dem ›poetischen‹ oder ›romantischen‹ Blick auf die Musik als »das ›Mechanische‹« erscheint, das »nicht hervorgehoben, sondern verborgen werden« sollte (Dahlhaus 1970, S. 26). Andererseits steht sie gegen das Mißverständnis, man habe den Sinn der Musik in die Sprache auf eine Weise übersetzt, die das Übersetzte ersetzt und für sich spricht:

Vgl. Dahlhaus 1970, S. 25. Die Rede vom »Poetisieren« und von einer »poetischen« Musik geht vor allem auf zwei Gründerfiguren musikanalytischer Kritik bzw. kritischer Analyse zurück: auf E. T. A. Hoffmann und auf Robert Schumann. Dahlhaus spricht in diesem Zusammenhang einen Gedanken an, den ich hier nicht weiter diskutiere, nämlich, daß unterschiedliche Stücke zum Poetisieren unterschiedlich geeignet seien, so daß das Gelingen des Poetisierens als kritischer Maßstab für die Qualität der Musik taugen kann: Manche Musik gibt sich eben nur zu banalen Paraphrasen her oder ist ›prosaisch‹, so daß eine poetische ›Stimmung‹ gar nicht aufkommt. Um so reden zu können, braucht man freilich mehr als den elementaren Begriff thematischen Sinnes. – Zu Schumann vgl. als Illustration Floros 1989, S. 101–106 und S. 116–122; differenziert zum Zusammenhang ›poetisierender‹ Schilderung mit formalen Analysen bei Hoffmann und Schumann vgl. z. B. Beck 1974, S. 56–83.

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»Das Poetisieren, subjektiver Reflex des poetischen Gehaltes der Musik, war vage und unbestimmt und sollte es sein; durch eine Verfestigung zum Programm wurde – nach der Überzeugung E. T. A. Hoffmanns und Schumanns – das, was man zu fassen suchte, eher zerstört als kenntlich gemacht.« (ebd., S. 25)

Versprachlichung von dieser Art trifft leicht auf zweierlei Vorwürfe. Einmal mag man ihr ihre Vagheit vorwerfen und fragen, warum man sich mit einem andeutenden und umschreibenden Sprechen zufriedengeben sollte, wenn doch die Sprache auch präzise beschreiben kann – und dies täte sie, wenn sie auf die Kategorien der Eigenform der Musik abzielt (zu diesem Argument vgl. Kap. c.). Zweitens kann man ihr vorwerfen, daß sie ihren Vorrat beispielsweise an Ausdruckswörtern ›verschleißt‹ (vgl. Dahlhaus 1970, S. 24) und »zu geradezu lächerlicher Irrelevanz herab[sinkt]« (Wellmer 2009, S. 114). Dies geschieht, wenn man der produktiven Leistung, die im Prozeß der sprachlichen Repräsentation thematischen Sinnes liegt, keine Aufmerksamkeit mehr widmet, sondern das Ergebnis dieser Repräsentation als Wort und Phrase im gewöhnlichen Verstand auffaßt, nämlich so, als ob diese Wörter und Phrasen die Musik und festumrissene ›Inhalte‹ in ihr beschrieben. Die deutende Leistung der Sprache und der in ihr aufgehobene offene Sinn werden dann vergessen. Man hat so den Status der Sprache und den Status des Sinngehaltes, der ausgesprochen werden soll, gleichermaßen mißverstanden. Dieser Status des Sprechens über Musik ist unaufhebbar problematisch 3 , weil eine Art des Sprechens gefordert ist, die im Gebrauch bekannter Wörter In der jüngsten Musikphilosophie kommt Albrecht Wellmer das Verdienst zu, in mannigfachen Anläufen diese Problematik angesprochen zu haben. Viele dieser Ansätze stehen dem, was ich dargelegt habe, nahe. Dies gilt für allem für die Betonung, daß in der Musik ein »Weltbezug« liegt, »für dessen Deutung [es] ein ›etabliertes‹ Vokabular überhaupt nicht geben« kann und das ein »artikulierende[s], produktive[s] (nichtformale[s]) Reden« fordert, und ferner für den Gedanken, ein wesentliches und für die Schwierigkeit der Versprachlichung verantwortliches Moment liege darin, daß die Musik den »Körper« und die »Materialität« betrifft und einbezieht (Wellmer 2009, S. 117 f.). Für diskutabel halte ich jedoch die wiederholte Betonung, daß ohne den Versuch der Versprachlichung gar kein »Weltbezug« und kein »Sinn« zu haben sei (vgl. ebd., S. 23 f.); »Sinn« scheint dabei manchmal im engeren Sinne als propositional artikulierter Sinn verstanden zu sein, so daß Wellmer betonen kann, wie sehr die körperlichen oder stofflichen Momente der Musik »Sinn« unterliefen (vgl. Wellmer 2012, S. 204 f.). Es ist teils dieses ›Subversive‹, das ich als das erst Deutbare, Offene des Sinnes anspreche. – Wellmers Arbeiten haben ein breites Interesse an der Beziehung zwischen Musik und Sprache (wieder-)belebt; dokumentiert ist es unter anderem in den Tagungsbänden Grüny 2012 und Utz 2013.

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dem produktiven, performativen und prozessualen Aspekt des thematischen Sinnes gerecht wird, den sie ausspricht. Neben der Versprachlichung findet sich der Nachvollzug in Schematisierungen typisiert, die darin entspringen, daß sie die Bewegung der Musik in Gestalt von Linien oder Flächen visualisieren 4 , die die Bewegungsrichtung, Bewegungsart und die Entwicklung des Klangvolumens zeigen. Dies reicht bis zur Gliederung der musikalischen Bewegung in einer Schematisierung, die in Ablaufdiagrammen oder den in der Musikvermittlung zeitweise populären Hörpartituren niedergelegt werden kann. Hier wären auch die in der Wissenschaft kaum beachteten, aber im persönlich-kreativen Umgang mit Musik beliebten Unternehmungen zu nennen, Musik zu ›malen‹. Die Bewegtheit der Linie gewinnt dabei zusätzliche Bestimmungen, etwa durch Farbe und Textur. Hierin kann man Versuche sehen, über das Schematische und Sprachliche hinaus das dem Klang Eigentümliche ins Sichtbare zu übertragen: seine Helligkeit, Dunkelheit, Sättigung oder eben seine ›Farbe‹. Gerade letztere ist aber jenes Moment des visuellen Feldes, das nicht in den Schematismus gehört und immer nur ein Akzidens an Gegenständen ist (vgl. h.1.). Aufgrunddessen ist sie als Mittel der Repräsentation der Musik im Bild in besonderem Maße von der je einzelnen subjektiven Empfindung abhängig und im Gegensatz zu schematischen und sprachlichen Repräsentationen kaum imstande, sich zur allgemeinen Verwendung in der intersubjektiven Verständigung über Musik zu empfehlen.

l.2. Der Schematismus der musikalischen Eigenform und sein Verhältnis zum Nachvollzug thematischen Sinnes Daß die Darlegung des ausdruckshaften, namentlich gestisch vorgestellten Nachvollzuges so breiten Raum eingenommen hat, mag zu dem Eindruck geführt haben, mit diesem Nachvollzug allein sei der Grund für die Repräsentation des musikalischen Verlaufes gelegt. Wie der im folgenden wiedergegebene Einwand deutlich macht, ist

Die Schematisierung der musikalischen Bewegung zu einer Linie muß über das hier Angesprochene hinaus als einer der Ursprünge der Notenschrift angesehen werden, wie wir sie kennen. Diesen Sachverhalt greife ich im folgenden Abschnitt auf. Erst das dort erklärte Verhältnis zwischen Thema und Schema erlaubt es, gehaltvoller über die schematisierende Repräsentation zu sprechen, als ich es in diesem winzigen Abriß tue.

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dies aber falsch, sofern man vergißt, daß der Nachvollzug auch der harmonischen und melodischen Bestimmtheit der Musik – und nicht nur ihrer ungefähren Dynamik und Bewegungsweise – gerecht werden muß und diese in sich aufhebt. Der Einwand geht von der Frage aus, was genau an der Musik nachvollzogen wird, wenn sie expressiv-gestisch oder expressivstimmlich aufgefaßt wird. Man kann meinen, daß es lediglich Konturen der Dynamik und der Tonhöhenverläufe sind, weil die Gestalt von Gestik ebenfalls aus solchen Konturen bestünde. So beschriebe man aber eine Musikhörerin, die in der Lage ist, die Richtung der Tonschritte nachzuvollziehen oder gar nachzusingen, ohne dabei die einzelnen Töne und Intervalle richtig zu treffen oder die Töne überhaupt zu unterscheiden, so daß sie die Melodie nicht Tonschritt für Tonschritt, sondern als eine Kurve auffaßt, an der sie mit der Stimme lediglich entlanggleitet. (Vgl. Grüny 2009, S. 915 f.) Solch eine Hörerin würde ausschließlich die Umrisse der Musik erfassen, ohne dabei die Bestimmungen zu erfahren, die sie innerhalb dieser Umrisse hat, nämlich die Bestimmungen nach den Kategorien der Tonhöhe. Die harmonischen oder – in den Epochen vor der DurMoll-Tonalität und in den davon unabhängigen außereuropäischen Musikkulturen – modalen Verhältnisse der Töne zueinander wären kein Teil ihrer Erfahrung, und ebensowenig die von diesen Verhältnissen abhängigen Bestimmungen der musikalischen Bewegung, die für die allermeiste Musik wesentliche Kategorien ihrer Gestaltung bilden, wie etwa das Offenbleiben oder Schließen eines Abschnittes, der Aufbau von Spannung und Entspannung oder die Variation einer Melodie, die in ihrer Kontur bewahrt bleibt, aber das Tongeschlecht wechselt oder von veränderten Harmonien begleitet wird. »Die Musik unserer Tradition besteht nicht einfach aus Gesten, sondern aus tonalen Gesten«; sie ist »Lautgeste, die auf spezifische Weise gestaltet und geformt ist« (ebd., S. 921). Diese Spezifik der Form ist nicht aus der Gestik zu gewinnen. Sie ist eine Spezifik der musikalischen Eigenform, in der die Klänge sich zu rhythmischen und zu Intervallstrukturen ordnen; der Einfachheit halber konzentriere ich mich hier auf die letzteren. Zahllose Möglichkeiten, Bewegung und Gestik in der Musik über die bloße Kontur hinaus zu gestalten und hörend zu erfassen, sind davon abhängig, daß es ein System der Klänge gibt, dessen Elemente – schon bei den einzelnen Intervallen beginnend – auf eine nicht weiter reduzierbare Weise charakteristisch sind. Die Gestaltungen der Bewe267 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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gungen und Gesten müssen folglich so verstanden werden, daß sie eben diese Charakteristika in sich aufgenommen haben. (Vgl. ebd., S. 924–928.) Nimmt man Rücksicht auf diesen Einwand, so gewinnt man genauere Anforderungen, denen ein Begriff des Nachvollzugs und der Repräsentation in der Musik genügen muß. Man denke sich etwa eine Melodie und ihre Wiederholung, wobei am Ende der Phrase lediglich ein oder zwei Töne vertauscht oder um einen Halb- oder Ganztonschritt verschoben werden. Die erste Phrase soll sich beispielsweise als Frage nachvollziehen lassen; ihre leicht veränderte Wiederholung bewahrt die Kontur, nimmt aber den Charakter eines Insistierens auf der Frage oder den Charakter der Antwort an. Derartige Nachvollzüge gehören zu verbreiteten und elementaren Weisen musikalischen Verstehens. Wenn sie plausibel sein sollen, kann das in ihnen Nachvollzogene nicht nur als Kontur bestimmt sein, wie es die einfache Rede von Hebungen und Senkungen in der musikalischen Bewegung suggerieren mag, sondern es muß spezifisch tonsystematisch bestimmt sein – in diesem Fall durch den Ort von Ganz- und Halbtonschritten in Bezug auf bestimmte Stufen im Tonsystem –, und diese Bestimmung gibt den Grund für die Vertretung in der Vorstellung von Frage und Antwort, die, wenn man sie wiederum wortlos und gestisch fassen will, ihren Sinn viel schwerer aus ihrer Kontur ersehen lassen, als es Ausdrucksgesten tun. Die Eigenständigkeit des thematischen Sinnes darf also nicht so gedacht werden, als sei sie eine gestische Kontur, die als ›Idee‹ aus dem Klang herausgelöst werden könnte. Sie ist in den Klang gebunden. Damit ist sie auch an die tonsystematischen Bestimmungen des Klanges gebunden: an die musikalische Struktur. Diese und die musikalische Geste sind grundsätzlich als voneinander untrennbar zu verstehen, wenn letztere ein Ausgangsmoment der Repräsentation der Musik sein soll, weil die Möglichkeit der musikalischen Geste auf zwei Grundlagen ruht: einerseits auf den stofflichen Momenten des Klanges, die ästhesiologisch analysiert werden können, andererseits auf der Tonhöhen- und Tondauernstruktur, die ihr die bestimmte Form verleiht. Die Bestimmtheit und die Nuancen dieser Grundlagen muß der gestisch vorgestellte Nachvollzug übernehmen 5 : nur so bewahrt er die Fülle Zur Illustration lese man z. B. Robert Hattens Schubert-Analysen, in deren Verlauf er darauf hinweist, wie sehr ein reichhaltiges Verständnis musikalischer Gestik davon abhängt, daß man klangfarbliche Effekte wie das Spiel mit mitschwingenden Ober-

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des thematischen Sinnes, den die Musik vermittelt, und vermeidet es, in eine abstrakte Vorstellung typisierter Gesten abzurutschen. Gleiches gilt auch für nicht im engeren Sinne gestische Eindrücke der Musik, beispielsweise in der Gestalt von Texturen oder Raumwirkungen. Die Bestimmungen der musikalischen Eigenform bewahren auch unter den Bedingungen des Verstehens thematischen Sinnes ihr Recht, selbstständiges Ausgangsmoment der musikalischen Repräsentation zu sein. Sie sind die Bestimmungen der tonsystematischen Struktur. Als solche ermöglichen und verlangen sie Leistungen des kategorialen Unterscheidens, Identifizierens und Gliederns. Der schaffende Umgang mit den so bestimmten Klängen kann entsprechend unter den Titel der Konstruktion gestellt werden. Musikalische Konstruktion operiert, den Grundsätzen der musikalischen Eigenform zufolge, zuallererst im Bereich der Tonhöhen und Tondauern, und zwar auf allen Dimensionen von der kleinsten melodischen und rhythmischen Zelle bis hin zum Gesamtwerk. Sie arbeitet dabei zum Teil im Rahmen überlieferter Gestaltbildungen – der wichtigste Rahmen, der diese Überlieferung zusammenhält, ist die Tonalität – und zum Teil als Dekonstruktion des Überlieferten und als Konstruktion neuer Gestalten. Eine ›reine‹ Konstruktion, etwa im serialistischen Sinn, kann dabei nur als Extremfall gelten. Mit dem gestischen, sprachhaften oder ausdruckshaften Element ist die Konstruktion zumeist auf vielfältige Weise verwachsen. Sie gestaltet es im Rahmen einer Tonsystematik und gibt ihm dadurch seine musikalische Bestimmtheit; in diesem Sinn ist die Konstruktion nachvollziehbar. Wenn dies der Fall ist, so wird – produktionsästhetisch gesehen – dem Moment des thematischen Ausdrucks sein volles Sinnpotential erst dadurch verliehen, daß es durchgebildet wird und mit der Struktur interferiert. Konstruktion verhindert, daß der thematische Sinn zu Klischees gerinnt, indem sie seine sinnliche Gestalt kraft ihrer vom Ausdruckssinn zuerst unabhängigen Prinzipien bestimmt und nuanciert und dadurch den Ausdrucks selbst verdichtet. Dies kann sie tun, weil sie in der Lage ist, das ›Klangmaterial‹ in seine Bestandteile – im äußersten Fall in die einzelnen Parameter der Töne – zu zerlegen, damit vom Gestischen, Sprach- und Ausdruckshaften zu abstrahieren und einen von tönen oder die Einbettung des gestischen Elementes in modulierende Verläufe zur Kenntnis nimmt: Hatten 2004, S. 183–200.

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ihm befreiten Baustoff zu gewinnen. Umgekehrt hebt die Aufmerksamkeit auf die leiblich basierte Nachvollziehbarkeit des Klanges die Konstruktion darüber hinaus, mechanisches ›Klappern‹ zu sein. 6 Die Grundlage jener möglichen Abstraktion und analytisch-zerlegenden Leistung ist die allgemeine Möglichkeit, mit Musik schematisch umzugehen. Insgesamt heißt das, musikalische Elemente – von einzelnen Klängen bis hin zu größeren Formteilen, mehrstimmigen Zusammenhängen und harmonischen Prozessen – von ihrer besonderen klingenden Verwirklichung abzuziehen. Die Schematisierung holt die Musik aus ihrem Klangstoff heraus und überträgt sie in ein Element, das prinzipiell von der Modalität der sinnlichen Wahrnehmung unabhängig ist. 7 Praktisch nimmt diese Übertragung zumeist die Form einer Verräumlichung an. Da der thematische Sinn musikalischer Bewegung ebenfalls raumhaft aufgefaßt wird, überschneiden sich in der Verräumlichung der Musik zwei Aspekte von Räumlichkeit, nämlich der Bewegungsraum thematischer Sinngehalte bzw. Sinnvollzüge und der quantitative, (proto-)geometrische Raum des Schematismus. Vgl. Adorno 1970, S. 174; dazu erläuternd z. B. Nowak 2007, S. 179 f. Ich komme in r.5.–9. darauf zurück. 7 Plessner bezeichnet ein Schema als »Regel« und diskutiert dessen Beziehungen zu den in Anwendung einer solchen Regel gezeichneten (geometrischen) »Bildern« in GS III, S. 197–202. Entsprechend besteht der schematische Umgang mit der Musik in der Anwendung von Regeln des Tonsystems auf Töne in Abstraktion von den nicht durch die Regel erfaßbaren Momenten. Den schematischen Umgang mit Tönen bezieht Plessner selbst nicht in seine Untersuchung ein. Hier liegt die Grenze seiner Theorie eines musikalischen Sinnes. Wiewohl er an verschiedenen Stellen andeutet, daß er vorrangig die »reine« und nicht die »ganze« Musik behandelt (z. B. ebd., S. 196), gibt es in seinen Schriften einen Hang, dasjenige in der »ganzen« Musik, was nicht zur rein thematischen Sinngebung im Klang zählt, nur für uneigentlich musikalisch zu halten. Dies gilt insbesondere für die »nachahmende Musik«, für Elemente einer »konventionelle[n] Zeichensprache« und für die Momente der Konstruktion. Diese gingen »den Hörer selbst nichts an« oder »zerstreu[t]en« sein nachvollziehendes Verstehen weg vom Klang hin zu einem Buchstabieren symbolischer Bedeutung oder zu einem Nachkonstruieren kontrapunktischer Linien. Vollgültig musikalisch ist für Plessner nur ein Hören, das in der Unmittelbarkeit des Nachvollzuges verbleibt, nämlich beim »im Erleben genießend Verstandene[n]«. (Ebd., S. 183– 188) Die Textform, die die Möglichkeit der Schematisierung der Musik ebenso voraussetzt, wie sie wiederum komplexere schematische Umgänge mit ihr ermöglicht, gälte ihm entsprechend nur als eine zur Reproduktion nötige Reduktion jener vollgültigen Hörerfahrung. Die Stufen der Repräsentation, die ich hier im folgenden anspreche, würden in seiner Sicht aus dem engeren Feld des Musikalischen hinaus in allgemeine ästhetische, kritische und kunsthistorische Überlegungen weiterführen. 6

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Der Schematismus der musikalischen Eigenform

Diese beiden Aspekte finden wir in der Notenschrift wieder; in der Geschichte ihrer Entstehung sind sie und die Wandlung ihres Gewichtes deutlich erkennbar. Zuerst zeigt sich dort ein »gestische[r] Linienzug«: Die Auf- und Ab-Bewegung der singenden Stimme wird in Wendungen zerlegt, die in Neumen – in einer »gestalthafte[n] Schrift« – niedergelegt werden (Kaden 1984, S. 340 f.). Für die Bewegung der Klänge wird eine entsprechende bewegte Linie gesucht. Sie ist der in einem Schema festgelegte Nachvollzug einer Klangbewegung. In einem zweiten Schritt, mitmotiviert durch die Entstehung mehrstimmigen geistlichen Gesangs, werden in jener Bewegungslinie Punkte individuiert, die den in festen Tonhöhenkategorien begriffenen Einzeltönen entsprechen können (vgl. ebd., S. 341–343). Dieser zweite Schritt verknüpft die Schematisierung des bewegungshaften Nachvollzuges mit der Niederschrift des von vornherein schematischen Momentes der Tonhöhenkategorien. Die enge Verschlingung dieser beiden wesentlichen Momente der Musik wird hier überdeutlich. Sobald jedoch ›Punkte‹ des musikalischen Verlaufes niedergeschrieben werden – sichtbar als Notenköpfe –, tritt leicht die diskrete Einzelheit des schematischen Elementes in den Vordergrund, während der Zusammenhang der (thematisch aufgefaßen) Bewegung, indem er nur indirekt in der Notenschrift erscheint, leicht aus dem Blick geraten kann (vgl. Mahrenholz 1998, S. 121). Die Notenschrift ist die elementare Ebene der Schematisierung. Sie zeigt deutlich deren zwei zusammenhängende Momente: die Verräumlichung und die begriffliche Festlegung und Identifikation von Elementen der Musik. Sie setzt voraus, daß Töne als kategorial gleiche identifiziert werden. Dazu müssen sie ihren Ort innerhalb eines Bezugssystems haben können. 8 Dieses ermöglicht die Abbildung der in ihm verorteten Elemente in einem System von Koordinaten, dessen Achsen den meßbaren Zeitverlauf – ein Metrum gibt hierfür das innermusikalische Maß an die Hand – und die Tonhöhe darstellen. Ein solches Koordinatensystem orientiert die Notenschrift, auch wenn sie der Einheitlichkeit eines streng geometrischen KoordinatenEin Bezugspunkt kann der vereinbarte Stimmton sein, von dem ausgehend alle Töne ihre Namen bekommen können. Innerhalb dieses Systems lassen sich dann weitere Teilsysteme individuieren: ein Ton ais kann einem an anderer Stelle vorkommenden Ton dis äquivalent sein, indem beide der Leitton zu einem Grundton – h im ersten, e im zweiten Falle – sind, der durch Modulation einen anderen Namen trägt, aber in beiden Fällen die Rolle des Grundtones spielt.

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systems fern liegt, indem sie beispielsweise unterschiedliche Schlüssel – damit unterschiedliche Nullpunkte für die Tonhöhenachse – verwendet sowie den Zeitverlauf nicht räumlich proportional abbildet. 9 In der musikalischen Repräsentation hat die Notenschrift eine doppelte Rolle. Sie ist einerseits das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses des schematisierenden Umgangs mit Musik. Indem sie Musik als Text möglich macht, ist sie andererseits ein Ausgangsmoment für die Repräsentation der als Text verfaßten Musik: Sie ist ein Ausgangsmoment für die Möglichkeit der Komposition, für die Möglichkeit der Aufführung des Komponierten und für den breiten Strom wissenschaftlicher Umgangsweisen mit Musik, die sich ihr vor allem lesend nähern. Sie ist damit ein Ausgangsmoment für die Praxis der abendländischen Kunstmusik geworden. Als solches birgt sie einerseits die Möglichkeit der Entwicklung der Konstruktion im Großen wie im Kleinen und damit die Möglichkeit eines Umgangs mit Musik, der sie der Vergänglichkeit des Klanges enthebt und einer Art von Reflexion zugänglich macht, wie sie in Kap. e. besprochen wurde. Überwiegt das schematische Moment, zeichnet sich die entsprechend konstruierte Musik dadurch aus, daß sie, platt gesagt, nicht mehr überwiegend zum Hören gemacht ist, sondern dazu, das Geschick der Konstruktion zu bestaunen. Musterbeispiele für dementsprechende Kompositionsweisen sind der Krebs (eine Melodie rückwärts ablaufen zu lassen) und teilweise auch die tonhöhenmäßige Umkehrung. Von dem in der Notenschrift festgehaltenen grundlegenden schematischen Moment der Musik gehen mannigfache Formen der Repräsentation aus, die weitere Stufen der Schematisierung anstreben; ich spreche sie jetzt kurz an, um die möglichen Problematiken dieser Vorgehensweisen später (Kap. n.) zu diskutieren. Weitere Schematisierung anzustreben bedeutet, daß sie es unternehmen, einfache Beziehungen zu identifizieren, die die Mannigfaltigkeit des Erklingenden strukturieren. Diese Beziehungen werden von wiedererkennbaren Gestalten gestiftet: von Motiven und Themen, Rhythmen, harmonischen Verläufen, zu deren Zusammenfassung und Repräsentation Systeme von Buchstaben- und Zahlensymbolen ersonnen werden. Der schematisierende Überblick sucht weiterhin jene Für eine detailliertere Aufschlüsselung der Elemente der Notenschrift und ihrer jeweiligen schematischen und symbolischen Leistungen vgl. Mahrenholz 1998, S. 33–39.

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Der Schematismus der musikalischen Eigenform

Gestalten in Zusammenhänge zu bringen, sie evtl. als Transformationen von Grundgestalten oder Elaborationen von Grundprinzipien zu begreifen und den jeweiligen Bezug der besonderen Gestalt zur durch Schematisierung gewonnenen Grundgestalt oder zu ihrem angenommenen Grundprinzip darzustellen. Wesentliche Aspekte ihrer Ergebnisse sind in der Form von Diagrammen darstellbar. Diese greifen teils die Notenschrift in erweiterter Form wieder auf, so wie die Darstellungen von ›Mittel-‹ und ›Hintergrund‹ in der Schenkerschen Tradition, harmonische Exzerpte, die Stimmführungen und Modulationen verdeutlichen, oder Analysen, die motivische Kerne und elementare Segmente zu identifizieren suchen, um sie grafisch so zu ordnen, daß Über- und Unterordnungen, Ableitungen, Kontraste und Übereinstimmungen auf einen Blick sichtbar werden. Teils gehen sie von der Notenschrift vollständig ab und benutzen rein grafische Mittel, unterstützt durch Buchstabenund Zahlensymbole: so die schulmäßigen Formdiagramme (etwa der Sonatenhauptsatzform oder der Stimmführung in Fugen), die in der »neo-Riemannian theory« praktizierte Darstellung tonaler Beziehungen in ›Netzen‹, die die größere oder geringere ›Entfernung‹ zwischen Tonarten und die ›Wanderung‹ der Modulation zwischen ihnen veranschaulichen, der entsprechende Symbolvorrat für die harmonische Analyse und schließlich die von Allen Forte initiierte Zerlegung des musikalischen Textes in »pitch-class sets«, die Gruppen von Tönen vollständig in Zahlen überträgt. 10 Die schematisierte Musik liegt dann in Form eines Bauplanes (eines Formschemas, einer zu Zwecken der Analyse umgearbeiteten Partitur u. ä.) vor und zeigt sich nicht mehr als ein Prozeß, sondern als ein zeitloses Netz von Beziehungen zwischen musikalischen Elementen. Diese wiederum sind nach bestimmten Hinsichten vereinfacht worden, je nach dem analytischen und theoretischen Interesse des Schematisierenden. In all diesen Fällen entwickelt sich die schematische Repräsentation der Musik zu einer ›disziplinierten‹ Sinngebung: Sie wird zu einer Repräsentation für Fachleute, die nach Regeln mit ihr umgehen. Eine Liste analysierend-schematisierender »methods of operating« und entsprechender »media of presentation« mitsamt Abbildungen von Beispielen ist in dem umfassenden Artikel »Analysis« des New Grove Dictionary of Music and Musicians versucht (Bent & Pople 2001, S. 529 f.; zu den grafischen Möglichkeiten besonders ab S. 542). So gut wie alle analytischen Verfahren, die ich in dieser Arbeit behandle, findet man dort in ihrem historischen und wissenschaftlichen Kontext skizziert, den ich hier zumeist außen vor lasse.

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Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

Die Leitfrage der schematischen Sinngebung ist in Bezug auf die Musik gleichartig mit der Leitfrage in bezug etwa auf die Mechanik: wie nämlich der untersuchte Gegenstand ›funktioniert‹ – in diesem Fall, wie die Musik ›gemacht‹ ist und wie man, wenn man an der Hervorbringung interessiert ist, sich selbst zum Musikmachen anleiten könnte. Sie zielt also auf eine Beherrschung des Gegenstandes, indem sie nach seinen allgemeinen Konstruktionsregeln sucht, zu deren Darstellung die grafischen Repräsentationen dienen.

l.3. Das symbolische Moment in der Musik Neben den thematischen Sinn der Klangbewegung und den Schematismus vorrangig in den Systemen der Tonhöhen und Tondauern tritt ein drittes Ausgangsmoment des musikalischen Verstehens, das sich auf grundsätzliche Weise von den anderen beiden unterscheidet. Repräsentieren wir diese Momente der Musik, so gehen wir von den stofflichen und den formalen Momenten der Musik aus. Das dritte Moment ist der symbolische Aspekt der Musik. In ihm wirkt die Musik selbst repräsentierend bzw. darstellend, so daß wir im Verständnis dieses Moments durch die Musik gewissermaßen hindurchblicken. Die wichtigsten Formen, in denen es sich verwirklicht, sind Figuren, Topoi 11 und Verknüpfungen allgemeinerer musikalischer Stile mit bestimmten historischen und sozialen Kontexten. Sie können nicht mehr verstanden werden, indem man allein auf die Musik hört, sondern erfordern die Kenntnis konventionell hergestellter Bezüge. Diese symbolischen Ausgangsmomente der musikalischen Repräsentation nennt Jaroslav Jiránek (1999, S. 55) nicht ungeschickt »semantische Eintrittselemente«. Mit ihnen treten Bedeutungen in ein Werk hinein, die »vor der Begegnung mit dem Kunstwerke bekannt geworden sind« (ebd.). Indem sie aber ins Werk hineintreten, bleiben sie nicht das, was sie waren: Ihre Bedeutung wird dort »ver»Topic« ist ein zentraler Begriff für die neuere musikalische Hermeneutik und Semiotik, wie sie beispielsweise von Kofi Agawu und Robert Hatten ausgearbeitet worden ist. Es handelt sich dabei um »forms of associative signification«, die zunächst einmal auf musikalische Typen – Tänze, Nationalstile oder deren Klischees, gesellschaftliche Verwendungen, Floskeln der »Empfindsamkeit« oder »Gelehrsamkeit« – bezogen sind. An sie knüpfen sich aber wiederum im weiten Sinne expressive Assoziationen. (Agawu 1991, S. 32) Die Verarbeitung der »topics« im musikalischen Werk impliziert eine Verarbeitung solcher symbolischer Verweisungen.

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Das symbolische Moment in der Musik

gegenwärtigt« und erfährt zugleich eine Umfunktionierung und Umgestaltung, indem sie im Medium des musikalisch-thematischen Sinnes und der musikalischen Konstruktion auftritt. Daß ich diesem nicht unwichtigen Moment musikalischen Verstehens erst so spät und auf verhältnismäßig geringem Raum ausdrückliche Beachtung schenke, liegt an dem zu Beginn gewählten Ausgangspunkt beim ›spezifisch Musikalischen‹. Das symbolische Moment ist von jenem Ausgangspunkt her gesehen zufällig und fremd. Es ist nichts ›eigentlich‹ Musikalisches. Daß es hier einen unverzichtbaren Ort hat, liegt an einem Faktor, der für die Musik wesentlich ist, sie aber gerade unter dem Gesichtspunkt eines scheinbar unmittelbaren Hörens, der dem Großteil der bisher behandelten Positionen gemeinsam ist, nicht auszeichnet: Sie ist gemacht. Dieser Faktor wurde bisher nur in der Hinsicht erwähnt, daß die Elemente der Musik und ihre Zusammenhänge nicht naturwüchsig, sondern Erzeugnisse einer Produktion sind. Dabei ging es um die Produziertheit der Strukturen, nicht aber um einen zweiten Aspekt: um die mit der Produktion der Strukturen verknüpften Intentionen. Wie alles Gemachte fügt sich auch die Musik in den Rahmen von Praktiken ein, die als Zusammenhänge von Zwecken, von Mitteilungen oder von Ausdruckshandlungen verstanden werden können. Unter ihnen gibt es zwar Praktiken der Kunst im neuzeitlichen Sinne, deren Intention so zu beschreiben ist, daß sie ein Werk produzieren, das möglicherweise nur auf seine Struktur oder Konstruktion zu befragen ist. So versteht der Formalismus die Praxis der Kunst. Nicht zu vergessen sind aber Praktiken, in denen die Produkte gemacht sind, um für etwas zu stehen oder um etwas zu bewirken. Wie jedes andere Produkt menschlicher Tätigkeit kann die Musik den Bedingungen solcher Praktiken unterliegen. Hat sie eine etablierte Rolle in ihnen, so erwirbt sie einen Symbolwert. Mit Christian Kaden (1998, Sp. 2172 f.) ist darauf aufmerksam zu machen, daß das Innehaben einer Rolle in einem »Funktionskontext« selbst nicht symbolisch sein muß: Spielt man Tanzmusik beim Tanz, Blasmusik im Bierzelt oder ein Choralvorspiel auf der Orgel im Gottesdienst, so verweist die jeweilige Musik nicht auf den Zusammenhang, in dem sie steht, sondern sie ist sein Teil und trägt mehr oder minder zu seiner Konstitution bei. Außerhalb jener typischen Situationskontexte verwendet, haben die sonst in ihnen verankerten musikalischen Stile jedoch das Potential der symbolischen Verweisung: Sie vergegenwärtigen »pars pro toto« die abwesende Situation, 275 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

beschwören sie herauf u. dgl. In anderen Worten: Die Pragmatik des Gebrauchs einer bestimmten Art von Musik in einem bestimmten Kontext geht in ihre Semantik über. In vielen Fällen erwirbt man die Kenntnis der Symbolwerte im Rahmen einer informellen musikalischen Sozialisation, und sie lagert sich in bestimmten musikalischen Figuren und Stilen auf eine Weise ab, daß sie unmittelbar und reflexartig aufgerufen wird. Dies nutzt etwa das Handwerk der Werbung aus, wenn es Musik verwendet. Schlager, Chanson, Shanty, Rap, Blaskapellen oder Händels Feuerwerksmusik sind auf diese Weise mit bestimmten sozialen Gruppen oder Schichten, Jugendkulturen, Nationen, Landschaften oder kulturellen Stereotypen (»festlicher Glanz«) assoziiert. Je nach Stilkenntnis und Weltläufigkeit des Publikums können solche Assoziationen sehr grob oder sehr feinkörnig sein, sie funktionieren aber auf gleichartige Weise. Zu einer besonderen Herausforderung werden sie allerdings dadurch, daß Musik als Text und seit nicht allzu kurzer Zeit auch als Tonaufnahme konserviert werden kann. In dieser Musik, die in der Vergangenheit geschaffen und aufgeführt wurde, muß man mit symbolischen Verknüpfungen rechnen, mit denen Komponisten, Musiker und Hörer einst auf selbstverständliche Weise umgegangen sind, ohne daß die Hörer und Spieler der Nachwelt damit rechnen können, sie ebenso selbstverständlich zu erkennen und zu verstehen. Hier setzt die Bemühung einer Hermeneutik im engeren Sinne 12 ein, nämlich die Aufdeckung eines Sinnes, der auf den ersten Blick manchmal gar nicht vorzuliegen scheint, oder, umgekehrt, die kritische Befragung eines Sinngehaltes, der uns so unmittelbar entgegenspringt, daß wir es versäumen, zu fragen, ob er überhaupt so intendiert gewesen ist und nicht vielmehr auf etwas anderes verweisen sollte oder womöglich gar keinen symbolischen Sinn trägt. Während der Nachvollzug am bloßen Erklingen der Musik ansetzen und sich wenigstens versuchsweise an jedes klingende Element heften kann, ist es das Problem einer Hermeneutik der Figuren, Topoi oder kulturellen Stereotypen, festzustellen, welche klingenden Elemente überhaupt für eine Deutung in Frage kommen. Obwohl der symbolische Sinn der Musik kategorial von jenen Als Gegenstände philosophischer Hermeneutik im weiteren Sinne oder wenigstens ihrer Propädeutik können alle bisher besprochenen Momente des musikalischen Verstehens gelten.

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Das symbolische Moment in der Musik

Momenten des musikalischen Sinnes unterschieden werden sollte, die nicht durch ein Verweisen ins Außermusikalische, sondern kraft der Klangstruktur konstituiert sind, dürfen die Beziehungen zwischen diesen Feldern nicht außer Acht bleiben. Es ist hilfreich, zwei Fragen zu diesen Beziehungen zu stellen: erstens, ob und wie der konventionell-symbolische Sinn stets ganz arbiträr und unabhängig von den klanglichen Bestimmungen zustandekommen kann; zweitens, inwiefern im Hören der innermusikalische oder thematische vom konventionell-symbolischen Sinn unterschieden werden kann. Das Problem, auf das die erste Frage verweist, wird anhand zweier Beispiele klar: Pauken und Trompeten sind leicht als Symbole für Pracht zu verstehen, der Gegensatz zwischen Dur und Moll als symbolische Entsprechung des Gegensatzes zwischen Freude und Niedergeschlagenheit, Tragik und dergleichen. Es ist nicht offensichtlich, daß diese symbolischen Beziehungen gleichermaßen arbiträr zustandekommen. Um hierüber entscheiden zu wollen, muß man fragen, ob eine plausible Entsprechung zwischen dem jeweiligen musikalischklanglichen Element und demjenigen, als dessen Symbol es verstanden wird, bestehen kann. Für den ersten Fall ist dies denkbar: Pauken und Trompeten sind historisch und sozial nicht zufällig ausgewählt, um das Auftreten von Würdenträgern zu begleiten. Zwischen dem Anspruch der letzteren, Macht und Größe zu verkörpern, und den Instrumenten, die als Hilfsmittel dazu gewählt werden, gibt es einen Zusammenhang aus dem Klang jener Instrumente heraus: Dieser Klang ist selbst ›mächtig‹ und ›groß‹ kraft seiner möglichen Lautstärke, seiner Fülle und der wörtlich zu nehmenden Schlagkraft der Pauken. Das zweite Beispiel hingegen gilt als Stolperstein schlechthin für den Versuch, symbolische oder auch expressive Bezüge der Musik gänzlich auf den Klangstoff zurückzuführen. Nichts an den Klangbeziehungen allein, die die jeweiligen Tongeschlechter konstituieren, scheint sinnvollerweise als quasi-natürlicher Bedeutungsträger in Frage zu kommen. Nicht zuletzt mag man das daran sehen, daß andere Kulturen ihren musikalischen Modi Charaktere zuschreiben, die kaum etwas mit den Zuschreibungen an Dur und Moll gemeinsam haben, auch wenn jeweils bestimmende Intervalle übereinzustimmen scheinen – man denke vor allem an das indische rāga-System und die elaborierten Listen von Stimmungen, Affekten, Tageszeiten und Tätigkeiten, die mit den für jeden rāga charakteristischen modalen und artikulatorischen Wendungen verknüpft seien. Konventionen, 277 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

die verschiedenen Strukturen im Tonsystem selbst eine Bedeutung verleihen, scheinen grundsätzlich arbiträr zu sein. Dies gilt wesentlich für Bedeutungen, die die Tongeschlechter, Modi und teilweise die einzelnen Intervalle tragen können. Andere Konventionen können wenigstens zu einem Teil durch Rekurs auf Bewegungsweisen, Rhythmen oder Klangcharakteristika motiviert und erklärt werden – also durch einen Rekurs auf Momente, deren Sinn konventionsfrei und im bloßen Nachvollzug begründet ist. Gibt es diesen Sinn, ist er nach dem oben Gesagten prinzipiell offen für Deutungen und Repräsentationen, die nicht mit der konventionellen Festlegung übereinstimmen. Aber der verstehende Nachvollzug und das Verständnis der konventionellen Bedeutung dürfen nicht durcheinandergebracht werden, denn der Vorgang, daß eine Repräsentation, die auf einem bestimmten motivierten Nachvollzug beruht, überhaupt in eine mehr oder weniger festgelegte Bedeutung überführt wird, ist selbst nicht aus der Motivation des Nachvollzuges zu erklären. Auch in diesem Fall spielt die Konvention, die das symbolische Moment der Musik bestimmt, eine eigenständige Rolle und darf deshalb unter den Ausgangsmomenten des musikalischen Verstehens nicht fehlen. Wenn die konventionelle Festlegung dasjenige Moment ist, durch das die Musik eine verweishafte Bedeutung im engeren, von der Offenheit des Thematismus unterschiedenen Sinne gewinnt, so wird eine allgemeine Kunstphilosophie, für die der Begriff des bedeutungshaften Weltbezuges zentral ist – was naheliegt, wenn man sie, wie es oft geschieht, vorwiegend an der Literatur und an den bildenden Künsten orientiert –, jenes Moment des musikalischen Sinnes in den Vordergrund rücken. Exemplarisch sei dafür Henning Tegtmeyers kurze Überlegung angeführt, wie Musik, wenn sie doch im Grunde »abstrakt« ist, »künstlerische Tiefe« haben könne. Dies könne sie nur, wenn es zu irgendeinem Zeitpunkt Musik gibt, deren klangliche und kompositorische Aspekte – etwa die Kontrapunktik oder die »Liedhaftigkeit« der Melodie – eine feste Verbindung mit einem »tiefen Gehalt« eingegangen sind. Dieser Gehalt sei aber so zu verstehen, daß »ein ernster und wichtiger Gegenstand in angemessener Weise sprachlich dargestellt wird« (Hervorhebung von Th. D.). Rein instrumentale Musikwerke können nur tief sein, wenn »sie auf einem hohen kompositionstechnischen Niveau an die Gehalte konkreter, textbezogener oder liturgisch gebundener Musik erinnern«. (Tegtmeyer 2008, S. 115–117) Konventionelle Verknüpfun278 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das symbolische Moment in der Musik

gen der zunächst »abstrakten« Musik mit einem bereits sprachlich bedeuteten Gehalt seien also der Ausgangspunkt für jede Rede davon, daß Musik ihrerseits bedeutungsvoll sei. Eine solche These drängt die anderen Momente des musikalischen Sinnes in den Hintergrund: Der Eigensinn des Klanglichen, die Leistungen der Konstruktion oder das Spiel von bedeutungsoffenen musikalischen Gesten, die in besonderem Maße das Eigentümliche der Musik ausmachen, sind dann keine Momente, durch die Musik einen Wert gewinnen kann. Sie sind in Tegtmeyers Augen kaum von »subjektive[n]« und darum für das Kunstverständnis »unwesentlich[en]« »Hörerassoziationen« unterschieden (ebd., S. 217, Anm. 56). Die produktive Leistung der Repräsentation dieser Sinnmomente, die oben kurz unter dem Aspekt ihrer immer problematischen Versprachlichung diskutiert wurde, verliert in dieser Betrachtung an Wert. Zu dem entgegengesetzten Extrem gelangt eine bestimmte Spielart einer engen rezeptionsphänomenologischen Betrachtung. In ihr ist es für das Hören wie für das ›ästhetische‹ Wahrnehmen überhaupt gleichgültig, ob der aufgefaßte Sinn in konventionell-symbolische Bedeutung und symbolfreien thematischen Sinn getrennt werden kann. Die Betonung des ersten Moments in vielen Theorien der Ästhetik gilt ihr als kognitivistische Abirrung von der Einsicht, daß Ästhetik es mit einer bestimmten sinnlichen Präsenz zu tun habe. In diesem Rahmen argumentieren etwa Martin Seel 13 , Hans-Ulrich Gumbrecht und Gernot Böhme; auf Böhmes Begrifflichkeit und Verfahren möchte ich kurz anhand seiner Aisthetik (2001) eingehen. Der wesentlich von Hermann Schmitz’ »Neuer Phänomenologie« angeregte Zentralbegriff seiner Theorie ist »Atmosphäre«, die ein unmittelbares Anmuten bezeichnet. Jede Art von Raum – Landschaften ebenso wie Zimmer –, von Ding – Möbel, Teppiche, dekoraAm Beispiel des Filmbildes einer durch die Luft fliegenden Plastiktüte aus Sam Mendes’ American Beauty illustriert Seel die These, die Aufmerksamkeit, die wir solchen Bildern entgegenbringen, sei der wesentliche »erste Schritt in die Ästhetik«. Dieser sei so zu begreifen, daß in unserer ästhetischen Aufmerksamkeit Filmbilder dieser Art »überhaupt keine Auskunft [geben]. Sie geben ein einmaliges Ereignis wieder […] Es geht um nichts weiter als darum, etwas im Prozeß seines Erscheinens zu vernehmen.« (Seel 2002, S. 334 f.) Entscheidend sei also, ein pures Erscheinen aufzufassen, ohne daran etwas verstehen oder deuten zu wollen. Daß man in diesem Erscheinen immer schon etwas verstanden hat, das man nur möglicherweise suspendiert, oder offenen Sinn auffaßt, den man nur nicht festlegt, wird von Thesen wie den hier diskutierten verwischt.

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Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

tive und Gebrauchsgegenstände, die etwa in einem Zimmer zu sehen sind – und von globalen, teils recht diffusen Eigenschaften – Beleuchtung, Wetterlage, Gerüche – kann eine Atmosphäre haben oder zu ihr beitragen. Die Atmosphäre ist für Böhme ein primärer Träger von Sinn kraft der Assoziationen, die sie vermittelt. Daß sie dies präreflexiv tut, gibt ihr nach Böhmes Ansicht den Status eines Fundamentalbegriffs der Ästhetik und soll dafür sorgen, daß diese sich nicht auf eine deutende und reflektierende Kunstphilosophie beschränkt, sondern die ›hohe‹ Kunst neben handwerkliche Praktiken der »Erzeugung von Atmosphären« (Böhme 2001, S. 52) stellt, beispielsweise neben den Gartenbau, die Raumgestaltung oder die Technik der angemessenen Musikberieselung in Gaststätten und Kaufhäusern. Offensichtlich bietet sich die Musik allein schon kraft der Qualitäten des Klanges, auf die bei Plessner analysierte Weise einen Raum auszufüllen und zugleich ins Gehör einzudringen, in hohem Maße dazu an, als Erzeugerin von Atmosphären gebraucht und besprochen zu werden. Dazu ist es jedoch notwendig, die Faktoren, die die atmosphärische Wirkung und Assoziation hervorrufen, zu nivellieren, denn wenn diese Wirkung im Vordergrund steht, ist es von ihr ausgehend und in einer rein phänomenologischen Perspektive nicht möglich, zwischen Faktoren der konventionellen Bedeutungszuordnung und Faktoren, deren Sinn das nachvollziehende Hören zugänglich macht, zu trennen. 14 Böhme versucht eine solche Trennung zwar, indem er – nach einem nicht klar zu erkennenden Prinzip – Atmosphären in »gesellschaftliche Atmosphären«, »Synästhesien«, »Stimmungen«, »kommunikative Charaktere« und »Bewegungsanmutungen« (ebd., S. 89 f.) aufteilt. Erstere sind durch »Insignien bzw. Symbole« (ebd., S. 102) erzeugt, andere etwa durch Farb- oder Lichtwirkungen. Farbwirkungen wie Symbole treten in dieser Theorie nur als »Erzeugende« von Atmosphären in den Blick, während die Art und Weise, wie sie jeweils Bedeutung erwerben und wie ihre Bedeutung bzw. ihr Sinn erfahren werden kann, außer Betracht bleibt. Die Theorie unterscheidet also nicht zwischen Bedeutungen, die – auf wie vage Weise auch immer – gelernt und gewußt sein müssen, um eine Wirkung erzielen zu können, und Sinngehalten der thematischen Stufe, die Die hier kurz gehaltene Kritik an der vom Begriff der Atmosphäre geleiteten Untersuchung ist mit der sachlich verwandten Kritik zum Begriff der Stimmung in i.1. zusammenzuhalten.

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Das Verhältnis der drei Ausgangsmomente

im Nachvollzug ›wirken‹ und von dort aus mit bereits vertrauten Bedeutungen verknüpft werden. Erst diese Unterscheidung macht es aber möglich, auf gehaltvolle Weise über ein musikalisches Verstehen zu sprechen, zu dem es gehört, die nun aufgezählten einzelnen Ausgangsmomente der musikalischen Repräsentation in Beziehung zueinander zu setzen, beispielsweise so, daß ein topischer oder symbolischer Gehalt durch Instrumentation, Spielweise oder die Gestaltung des musikalischen Satzes verfremdet und verzerrt wird, so daß sich die unterschiedlichen Ausgangsmomente kommentieren und in Spannung zueinander geraten.

l.4. Das Verhältnis der drei Ausgangsmomente und das Problem des Status sprachlicher und schematischer Repräsentation Der verstehende Umgang mit der Musik stützt sich, wie eben gesehen, auf drei Ausgangsmomente. 15 Von ihnen in je unterschiedlichem Maße ausgehend, schlägt er sich in schematischen und sprachErgänzend seien zwei wichtige musikphilosophische Positionen angeführt, die (höchstwahrscheinlich ohne Kenntnis von Plessners Einheit der Sinne) von einer Dreiheit von Sinnmomenten ausgehen, die in wesentlichen Zügen mit der Unterscheidung zwischen schematischen, thematischen und symbolischen Momenten übereinstimmt. Albrecht Wellmer skizziert die ästhetisch angemessene Erfahrung der Musik als Wechselspiel zwischen drei Möglichkeiten des Umgangs mit Musik: zwischen Hermeneutik, die der sprachlichen Deutung entspräche, Analyse, die, wenn man sie im engen Sinne nimmt, die »formal-strukturelle« Konstruktion der Musik ins Auge faßt, und einem »sinnlich-körperhafte[n], ›vorprädikativen‹ Auffassen« oder »gleichsam mimetische [n] Nachvollziehen« (Wellmer 2002, S. 156; S. 167; vgl. auch Wellmer 2009, S. 192). Der zuletzt genannte Punkt faßt in Wellmers Texten eine große Bandbreite von Verstehensweisen unter sich, zu denen weiterhin beispielsweise »klangstrukturell-physiognomische Beschreibungen« gehören (Wellmer 2009, S. 204). Ferner mag Adornos Entwurf einer Unterscheidung von drei »Elemente[n]« der musikalischen »Reproduktion« vergleichend neben den Rahmen gehalten werden, den ich aufstelle. Zwar ergibt sich an der Oberfläche eine deutliche Differenz aufgrund der Zielsetzung: während ich vor allem vom Hören (und Lesen) der Musik ausgehe, richtet sich Adornos Interesse auf das (Lesen und) Spielen. Am Ende geht es jedoch darum, so zu spielen, daß die »mensuralen«, »neumatischen« und »idiomatischen« Aspekte des Werkes hörbar, das heißt: wiederum im Klang repräsentiert werden. »Mensurale« Elemente sind die Elemente, in denen die Musik sozusagen abgemessen erscheint; sie entsprechen dem Schematismus. »Idiomatische« Elemente entsprechen dem Symbolischen: sie sind in einer Theorie der Reproduktion besonders problematisch, weil sie, wenn ihr zeitgebundenes Verständnis »abgestorben« ist, in der Aufführung nicht mehr verwirklicht werden können, so daß sie zum Gegenstand der

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Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

lichen Repräsentationen nieder, von denen ich beispielhaft einige Formen genannt habe. Indem der Umgang mit der Musik zu diesen Ergebnissen führt, begibt er sich in den intersubjektiven, kulturellen Bereich. Die Ergebnisse der Repräsentation können sich hier als Bestandteile von Praktiken etablieren, in denen sie orientierende oder anleitende Funktion haben. Solche Praktiken sind das Deuten von Musik, das Lehren ihrer Technik und schließlich die produzierende Repräsentation von etwas in der Musik, die jemand macht – Praktiken des Denkens in Musik. Hier stellt sich das Problem, daß in unterschiedlichen Akten und Praktiken der Repräsentation der Musik die drei Ausgangsmomente je unterschiedlich gewichtet und beachtet sind, ohne daß aber die Gründe dieser Gewichtung expliziert werden. Jene Praktiken suchen musikalischen Sinn je in einer bestimmten Hinsicht zu verstehen, während andere seiner Aspekte reduziert werden. So stellt sich die allgemeine kritische Frage nach den blinden Flecken etablierter Repräsentationsformen im Hinblick auf die Musik, die sie repräsentieren wollen, und auf das Verständnis, das sie empfehlen. Im folgenden werde ich einige solcher Repräsentationsformen daraufhin befragen, welchen Status sie beanspruchen, welche Probleme sie aufwerfen und was sich daraus für den Begriff der musikalischen Repräsentation insgesamt ergibt. Wenn man von blinden Flecken spricht, darf man nicht vergessen, daß blinde Flecken nicht zufällig, sondern notwendig auftreten. Offensichtlich ist jede Art von Schematisierung und jeder sprachliche Ausdruck dadurch konstituiert, daß sie gezielt von Einzelheiten absehen, um allgemeine Strukturen in den Blick zu bekommen. Die Schwierigkeit, die darin liegt, kann nicht dadurch gelöst werden, daß man Schematisierung und Versprachlichung generell als unzureichend ablehnt, allein weil sie notwendig blinde Flecken enthalten. Vielmehr sind diese blinden Flecken in einer übergreifenden Betrachtung bewußt zu machen. Geschieht dies nicht, so bleibt die Gefahr Philologie und Hermeneutik werden. Das »Neumatische« heißt auch »mimetisch« oder »gestisch« und ist »das eigentliche Element der Unmittelbarkeit« (Adorno 2001c, S. 88 f.; S. 122 f.; S. 265–267); dementsprechend erklärt Adorno an anderer Stelle, die »mimetische Verhaltensweise« sei »eine Stellung zur Realität diesseits der fixen Gegenübersetzung von Subjekt und Objekt« (Adorno 1970, S. 169) – in Übereinstimmung mit dem oben erläuterten Begriff des Nachvollzuges von Ausdruckssinn. – Was hier jedoch zählen sollte, ist nicht die Übereinstimmung zwischen diversen Philosophen, sondern die aufzudeckenden Gründe dieser Übereinstimmung.

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Das Verhältnis der drei Ausgangsmomente

bestehen, daß schematisierende und versprachlichende Repräsentationen ihre Resultate, die notwendig durch Vereinfachungen und Ausblendungen zustandegekommen sind, für die Erfassung des Wesentlichen ihres Gegenstandes halten. Die hauptsächliche Problematik liegt dabei im Umgang mit thematischem Sinn. Es liegt nämlich auf der Hand, daß Momente, die von vornherein zum Schematischen der Musik gehören, notenschriftlich und dann diagrammatisch repräsentiert werden können. Es liegt ebenfalls auf der Hand, daß symbolische Momente ausgesprochen werden können, indem man sagt, ein Element der Musik bedeute etwas begrifflich Bestimmtes oder sei darauf bezogen. 16 Praktiken des Aufschreibens, Nachzeichnens, schematischen Gliederns und des Sprechens über Musik können sich also fortsetzen, indem sie dazu anleiten, die Musik so zu behandeln, als sei sie in schematischen und symboldeutenden Repräsentationen faßbar und darum selbst vorrangig schematisch oder symbolisch verfaßt. Im Verhältnis zu solchen Repräsentationen liegt es eben nicht auf der Hand, wie mit thematischem Sinn und seinem Nachvollzug umgegangen werden kann. Oben wurde gesagt, daß die Repräsentation thematischen Sinnes auf schematische und sprachliche Formen zurückgreift; das heißt wiederum, daß schematische und sprachliche Praktiken der Repräsentation ihrerseits an manchen Stellen ein thematisches Moment in sich tragen, ohne daß ihnen dies offenbar wäre. Gerade die mehrfache Rolle der Sprache muß herausgehoben werden. 17 Im Gegensatz zur fachinternen Technik des Schematismus ist die Repräsentation der Musik in der Sprache auf den ersten Blick allgemein zugänglich. Wie jede Erfahrung ist die Erfahrung der Musik möglicher Gegenstand eines wenigstens versuchten sprachlichen Ausdrucks. Das Sprechen über Musik speist sich dabei aus allen drei Ausgangsmomenten, die die Musik dem Repräsentationsprozeß bereitstellt. Je nachdem, welches Moment dabei vorrangig ist, leistet die Versprachlichung jedoch etwas anderes: Sie kann ein Erlebnis zu artikulieren versuchen und hat dann deutende und erschließende Funktion. Sie kann aber auch dem Schematismus entspringen, indem sie Daß sie so repräsentiert werden können, läßt natürlich offen, wie genau diese Repräsentation vorzugehen hat. 17 Hier sei auf die aufschlußreiche Arbeit von Ursula Brandstätter (1990) verwiesen, die acht literarische und wissenschaftliche Analysen und Interpretationen daraufhin untersucht, wie sie Sprache gebrauchen und in ihrem Sprachgebrauch beanspruchen, das Spektrum der Sinnmomente der Musik nachzuvollziehen. 16

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Der Begriff der Repräsentation und ihre Ausgangsmomente in der Musik

die Kategorien und Regeln benennt, die in dieser Form der Sinngebung identifiziert und klassifiziert worden sind. Eine gleichartige Benennungsfunktion hat sie, wenn es um stabile symbolische Repräsentationen in der Musik geht. Gerade auf der Grundlage des Schematismus bildet sie sich als disziplinierte und disziplinabhängige Fachsprache aus. Unter Umständen bleibt es dem Sprechen über Musik aber verborgen, in welchem Modus – dem benennenden oder dem erschließenden – es sich befindet und wie diese Modi sich zueinander verhalten.

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m. »Musik als Botschaft«: Der Sinn der Musik in den Schranken der Symbolik

Eine Position, die in der Herausstellung des symbolischen Momentes die wichtigste Aufgabe musikalischen Verstehens sieht, steht unter dem Titel »Musik als Botschaft«. Prominent wurde sie von Constantin Floros vertreten. Sie ist in ihrer Argumentation ein Erbe der älteren musikalischen Hermeneutik, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre ihre prominentesten Vertreter in Hermann Kretzschmar und Arnold Schering hatte 1 . Das Argument dieser Position beginnt damit, die Auffassung für unzutreffend zu halten, daß ein großer Teil der Meisterwerke der okzidentalen Musik als ›absolute‹ Musik zu rezipieren und zu analysieren sei. Die Kritik an diesem Gedanken stützt sich auf die Annahme, daß es zum Verstehen von Musik notwendig sei, sie als ein Produkt zu nehmen, in dem ein Subjekt sich äußert. Ein Subjekt äußere sich aber nicht, indem es etwas eine Form gibt, sondern es müsse seinem Gebilde vor allem »einen allgemein geistigen Inhalt [geben], dem die jeweilige […] Form als Hülle und Schale dient.« (Kretzschmar 1911, S. 173) Im Gegensatz zu Inhalten gilt die Form – sei es die wahrnehmbare, sei es die konstruktive Form, die die Klänge in der Komposition gewonnen haben – als etwas Mechanisches und Totes (vgl. Schering 1929, S. 13–17), das nicht deutbar, sondern nur beschreibbar sei. Der Hörer bleibe also, wenn er seine Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Form richte, »in sinnlichen Eindrücken stecken« (Kretzschmar 1911, S. 169). Das Deutbare, der Sinn der Form sei darum etwas, das zu ihr hinzutreten muß. Dafür sei das Tun des Subjekts verantwortlich. Das Subjekt hat Erlebnisse, und zu diesen ›erfindet‹ es Tonsymbole (vgl. Schering 1935, S. 25). Dabei ist vorausgesetzt,

Zu diesen beiden Autoren vgl. die prägnanten kritischen Darstellungen von Werner Braun (1975) und Arno Forchert (1975). Im Falle Scherings trifft die Kritik, die ich an Floros’ parallelem Unternehmen exemplifiziere, vor allem seine BeethovenDeutungen, während er ansonsten mit einem stark erweiterten Symbolbegriff operiert.

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»Musik als Botschaft«

daß der Sinn dessen, was die Musik dann symbolisiert, »vor den Tönen da« sei (Schering 1929, S. 12). Die Annahme, daß dies der Hintergrund des Sinnes vieler Musikwerke sei, möchten Schering (besonders in seinen Beethoven-Deutungen) und Floros vor allem durch historische Fakten stützen und präzisieren. Der Kürze halber konzentriere ich mich auf den letzteren. Von zahllosen Komponisten vorgeblich ›absoluter‹ Musik – unter den Namen, die er besonders häufig nennt, finden wir Brahms, Tschaikovskij, Bruckner, Webern, Berg, Beethoven – seien Äußerungen überliefert, die bezeugen, daß ihre Werke von »verschwiegenen Programmen« (z. B. Floros 1994, S. 125) ausgehen. In diesen Programmen seien sowohl Anlässe für die Komposition als auch Leitlinien für deren tatsächliche Gestaltung zu sehen. Musikalischen Momenten, die einen charakteristischen Bewegungs- oder Ausdruckstypen erkennen lassen, könnte so durch die Programme ein eindeutigerer Sinn zugewiesen werden, etwa der Bezug auf einen bestimmten Vorfall oder eine bestimmte Person. Themen könnten eine symbolische Bedeutung gewinnen, die ohne schriftliche Beigabe nicht zu erkennen wäre. Beliebt als Elemente, durch die sich ein Programm in die Musik hineingestalten läßt, sind schließlich die Tonnamen als Buchstaben, die Personennamen chiffrieren. In allen Fällen ist die Musik so gemacht, daß sie jemanden oder etwas symbolisch repräsentiert. Die Symbolik ist aber nicht offengelegt, beispielsweise aus privaten Gründen. Die Musik zeigt sich somit als Medium für »Rätsel […], die der Hörer lösen muß.« (Floros 1989, S. 175) Die Lösung des Rätsels bestehe darin, das »Programm« oder die »Botschaft« der Musik zu entschlüsseln. Floros unterstellt, daß es im bestmöglichen Fall eine richtige Lösung gibt. Diese Unterstellung ruht wiederum auf einer objektivistischen Auffassung des zu verstehenden Gegenstandes: Es sei möglich, bis zu einem gewissen Grade – jenseits dessen ein »Rest Geheimnis« (1994, S. 148) bleibe – herauszufinden, was die Musik »in Wirklichkeit« ist (1989, S. 163). Dies herauszufinden sei ein »wissenschaftliches Interesse« (1994, S. 146), das sich wissenschaftlicher Mittel zu bedienen habe. Solche Mittel sind vorrangig diejenigen der historischen und biographischen Forschung, die sich auf Dokumente stützt (ebd., S. 145). Im günstigen Fall machen die Dokumente – Briefe, Skizzen, Tagebücher usw. – deutliche Aussagen über Werke und die Prozesse ihrer Entstehung. Solche deutlichen Aussagen erfüllen den Anspruch, dem Wissenschaftler, der auf der Suche nach des Rät286 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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sels Lösung ist, handfeste Fakten zu liefern. Handfeste Fakten scheinen für Floros das Beste zu sein, was wir haben können, wenn wir ein Musikwerk verstehen wollen – weil sie handfester und faktischer als die Produkte der werkimmanenten Analyse und der von ihr ausgehenden Hermeneutik sind. So kritisiert er Adornos Mahler-Deutung: Weil Adorno nicht die »authentischen Programme« Mahlers, seine »innere Biographie, sein Weltbild, seine geistige Welt« in Betracht gezogen habe, mußte er »Fehldeutungen« produzieren und verfehlen, was Mahlers Musik »in Wirklichkeit« sei (1989, S. 162 f.). Fragt man nach, was man verstanden habe, wenn man die Musik richtig enträtselt hat, so sagt Floros: »Man sieht dann das Ganze« (1994, S. 141), dessen entscheidendes Moment aber »immer die ursprüngliche Intention und Konzeption« sei (S. 139). Diese ursprüngliche Intention soll in einem Korpus dokumentierbarer persönlicher und historischer Fakten erkennbar sein. Das Verstehen der Musik scheint darin zu bestehen, daß man ihr biographische Fakten aussagend zuordnen kann. Diese Version einer Theorie, die in Symbolgehalten der Musik ihren vorrangigen Wert sieht und diese Symbolgehalte für objektiv entzifferbar hält, ist ein Ausläufer eines Denkens über Musik, das sich im Rahmen einer abstrakten Entgegensetzung bezüglich des musikalischen Sinnes hält: Entweder sei musikalischer Sinn dechiffrierbar, also einer symbolischen Lektüre zugänglich, oder rein formal verfaßt, so daß er nur in schematischer Form angemessen repräsentiert werden könne. Die formalistische Alternative (Kap. c.) lebt zu einem nicht geringen Teil davon, daß sie das symbolische Verstehen der Musik für willkürlich oder unzureichend erklärt, und kann sich dabei auf die Tatsache berufen, daß der Zugang zur Musik für ein breites Publikum auch ohne die Erforschung symbolischer Sinngebung möglich ist. Wenn es aber einen solchen dem Symbolismus gegenüber gleichgültigen Zugang gibt – ihn haben sowohl die kritisch gehaltenen Abschnitte über das Verstehen im Rahmen der musikalischen Eigenform als auch die Abschnitte über den unmittelbaren Nachvollzug in ihren jeweiligen Grenzen dargelegt –, so steht die Theorie, die dem Symbolverstehen den Vorrang zuweist, der Kritik gegenüber, daß sie jene un-symbolischen Verstehensweisen und die entsprechenden Momente der musikalischen Schöpfung – die Konstruktion, die Anlage offen nachvollziehbarer Bewegungsformen und Klangcharaktere – darauf reduziert, zu einer Hülle für ein Rätselspiel zu 287 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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dienen. Wenn die Musik nur eine Hülle ist, stellt sich erneut das Problem, daß wir nicht wissen, wieso die Musik und ihr Erklingen überhaupt noch nötig ist. Den Rezipienten betreffend bedeutet das, daß man nicht gut verstehen kann, wieso er die Musik anhören sollte, denn derjenige, den die Musik ›in Wirklichkeit‹ ansprechen sollte, wäre jemand, der ohnehin in die Intention, eine gewisse Botschaft in die Musik hineinzupacken, eingeweiht wäre, und die Musik als schmückende Zutat zu dieser Botschaft genießt; oder es wäre der Forscher, dessen hauptsächlicher Umgang mit der Musik darin besteht, Archivstudien zu betreiben. Sind ihm aber die Programme enthüllt worden, so scheint die Theorie zu fordern, daß er sich auf die Momente der Musik konzentriert, die auf die Programme hinweisen, und alle anderen Momente – am Ende also das, was für die Ontologie vom Anfang dieser Arbeit aus nicht allzu schlechten Gründen die Musik selbst war – als bedeutungsarme oder notfalls ›geheimnisvolle‹ Nebensachen lediglich zur Kenntnis nimmt. Sie zu verstehen wäre ein rudimentäres und mangelhaftes Verständnis. Den Produzenten betreffend bedeutet das benannte Problem, daß es keinen Grund für ihn gibt, Musik zu machen, wenn das Verrätseln das Wesentliche ist: Der Sinn, den er in die Musik legt, wird so verstanden, daß er bereits außerhalb der musikalischen Verarbeitung eindeutig vorliegt. Er ist dann kein genuin musikalischer Sinn. Er ist kein Sinn, der mit dem klingenden Stoff, in den er gekleidet wird, in einer wesentlichen Beziehung steht. Es ist freilich nicht ganz gehaltlos, nach Intentionen und Gedanken zu fragen und nach dem, was Musik symbolisch bedeuten kann. Aber diese Fragen müssen anders behandelt werden. Wenn Schering (1934, S. 14) schreibt, daß eine gründliche Deutung von Beethovens Streichquartetten und Klaviersonaten »einfach den Tatbestand aufdecken [will], der bei der Entstehung der Werke im Kopfe Beethovens eine Rolle gespielt hat«, so ist ihm entgegenzuhalten, daß das, was »im Kopfe« gesucht wird, kein »Tatbestand« sein kann. 2 Es ist nicht unsinnig, dieses im Kopfe Befindliche als Gedanken zu bezeichnen. Wenn aber die Gedanken schon vor der künstlerischen Arbeit vorlieScherings eigenes und weithin berüchtigtes Ergebnis sieht, kurz gesagt, so aus, daß er auf Beethovens Interesse an Dramen vor allem Shakespeares stößt. In Beethovens Kopf seien darum einige Handlungsstränge und Szenen aus jenen Dramen; und da sie gleichzeitig mit der Komposition von Streichquartetten und Klaviersonaten in Beethovens Kopf seien, können sie als der ›geistige Inhalt‹ behauptet werden, der zu der Form der musikalischen Komposition hinzugetreten sei und deren Sinn ausmache.

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gen und ausgesagt werden können, liegt es nahe, daß sich das Dilemma ergibt, auf das Adorno (1970, S. 226–228) hinweist: Je mehr solcher Gedanken als »Intentionen« in ein Kunstwerk gesteckt werden sollen, desto eher entsteht dessen Sinn geradezu unbeabsichtigt dort, wo diese Intentionen nicht zutage treten und ihre Verwirklichung auf einen Widerstand stößt. Der Sinn des Kunstwerks liegt dann gerade dort, wo die vorgängige Intention problematisch und fragwürdig wird. Fragwürdig wird sie, weil ein Kunstwerk davon lebt, daß es einen Sinn hat, der performativ und prozessual ist und ebenso aufgefaßt wird. 3 Dieser performative Prozeß verschlingt die vorgebliche Intention. Wenn der Begriff des Gedankens für das musikalische Verstehen eine positive Bedeutung haben soll, muß er anders gefaßt werden. Anstatt eine Intention zu sein, die ein leb- und sinnloses Material formt und mit einem Hintersinn versieht, muß er das, mit dem er arbeitet und in dem er sich verwirklichen wird, selbst als sinnvoll verstehen und mit diesem Sinn arbeiten. Er arbeitet mit etwas, das bereits den Status der Repräsentation hat. Entsprechend ist der Begriff symbolischer Bedeutung zu verstehen. Als willkürliche Zuweisung von Bedeutungen, die man für Tatbestände in der Privatheit eines Kopfes hält, zu musikalischen Elementen ist er kein wesentliches Ausgangsmoment musikalischen Verstehens. Das symbolische Moment, das im vorigen Kapitel herausgestellt wurde, ist dagegen keine individuelle Zuweisung, sondern entspringt intersubjektiven Umgängen mit der Musik. Das musikalische Denken kann sie darum nicht selbst erfinden. Es kann sie nur gebrauchen. Wenn es sich dabei an die bloße symbolische Bedeutung hält, formt es die Musik aber nicht, sondern gebraucht ein Tonsignal. Dies ist zu unterscheiden von der Arbeit mit symbolischen Momenten, in denen diese mit konstruktivem und thematischem Sinn in eine Beziehung gesetzt werden. In dieser Beziehung wird die Eindeutigkeit des symbolischen Momentes aufgesprengt und aufgehoben, so daß es weiter zu befragen und in seiner Beziehung zu der konstruktiven und thematischen Form der Musik auszudeuten ist; es zeigt sich als ein Moment des musikalischen Sinnes, nicht aber als dessen Zielpunkt. Diese Behauptung und die folgenden stütze ich durch die Untersuchung der Begriffe der hermeneutischen Gestaltung, des Gedankens, des Materials und des (musikalischen Kunst-)Werks in Kap. q. und r.

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n. Wege der schematischen Repräsentation – Verstehen durch Analyse und musiktheoretisches Sprechen

n.1. Der Versuch der immanenten Repräsentation innermusikalischer Beziehungen In philosophischer Hinsicht interessanter als das symbolische Sinnmoment der Musik ist das schematische Moment. Dieses ist in der ontologischen Grenze begründet, die die Musik von anderen Formen des Erklingens trennt, und darum eine Bedingung dafür, Musik als solche wahrzunehmen. Auf dieser Grundlage klingt es nach einem vielversprechenden Projekt, die Form der Musik zu repräsentieren, indem man sich von den ihr ohnehin immanenten schematischen Momenten anleiten läßt. Jede Repräsentation im hier vertretenen Sinne stellt sich die Aufgabe, die Form der Musik zu repräsentieren, indem sie Beziehungen aufzeigt. Dies muß sie tun, wenn Sinn im allgemeinen darin besteht, eine Möglichkeit der Anknüpfung und Beziehung zu geben. Offen ist dabei erst einmal, zu was eine Beziehung bestehen soll. Die gerade besprochene Repräsentation symbolischer Momente stellte sich die Aufgabe, Musik mit Ereignissen, Sachverhalten und Personen in Beziehung zu setzen. Es gibt aber genügend Einwände dagegen, diese Aufgabe als vorrangig für das musikalische Verstehen zu behaupten. Es gibt auch genügend Einwände gegen eine weitere, dann und wann vertretene Art der Erklärung musikalischen Sinnes, die ihn in der im engeren Sinne emotionalen oder eher assoziativen wirkungshaften Beziehung auf Hörer sieht (vgl. Kap. i.). Aus einem Ungenügen an dieser Art von Beziehungsstiftungen geht ein Projekt hervor, das einen Gedanken wieder aufgreift, der schon den ersten Teil dieses Buches beherrscht hat: Um den Sinn der Musik zu erfassen, müssen wir die Beziehungen innerhalb der Musik repräsentieren. Ganz streng genommen fordert dieses Projekt den Ausschluß aller Einflüsse auf die Repräsentation dieser Beziehungen, die nach subjektiven Wirkungen, Erlebnissen oder – der musikalischen Form gegenüber zufälligen – symbolischen Bedeutungen aus290 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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sehen. Es fordert gewissermaßen, daß die Musik sich selbst repräsentiere, ohne daß dabei von außen herangetragene Begriffe und Modelle eine Rolle spielen. Dieses Projekt zu beschreiben läßt genauer sehen, was unter der schematischen Repräsentation der Musik zu verstehen ist. Vorzüglich an ihr werden einige Aspekte sichtbar, die die musikalische Repräsentation insgesamt prägen. Hier haben wir es zuerst mit der reinsten Form schematischer Repräsentation zu tun. Als reinste Form möchte sie die disziplinierteste, vorurteilsfreieste und darum die ›wissenschaftlichste‹ sein. Da sie nicht nur Noten kopieren oder Töne aufnehmen, sondern Beziehungen repräsentieren soll, ist zu fragen, welche Arten von Beziehungen sie voraussetzungsfrei innerhalb der Musik auffinden kann. Grundsätzlich gibt es derer zwei: »Identität und Differenz, oder, anders gesagt, […] Wiederholung und Abweichung« (Luckner 2007, S. 45). Ein musikalisches Element Z steht mit einem anderen musikalischen Element Y in Beziehung, indem es Y wiederholt oder indem es von Y abweicht. Die Abweichung ermöglicht zwei Lesarten: Z bezieht sich auf Y als eine Variation von Y, oder es bezieht sich nur negativ auf Y, so daß es eine eigene Klasse von Elementen eröffnet. Die Beziehung der Variation kommt freilich im allerersten Schritt der Untersuchung noch nicht in Frage, sondern erst, wenn man eine gewisse Menge von Elementen unterschieden und gesammelt hat. In der Schicht eines Mediums – hier des musikalischen Klanges, andernorts beispielsweise der Sprachlaute – sind in diesen Arten der Beziehung die Grundlagen der »Entstehung von Sinnstrukturen« (ebd., S. 49) und der Entstehung eines Zeichensystems zu erkennen. Mit dieser Einsicht, daß Sinn nur entstehen kann, wenn die sinntragenden Elemente – die Zeichen – auf die beschriebene Weise voneinander differenziert worden sind, eröffnet man eine strukturalistische Semiotik 1 , die sich auch in Bezug auf die Musik als ein ForschungsDer Gebrauch des Wortes »Semiotik« in der Musikwissenschaft ist uneinheitlich. Ich verwende ihn hier für die im folgenden bestimmte Unternehmung, während andere Semiotiker wie etwa Kofi Agawu oder Robert Hatten den Terminus weitaus flexibler gebrauchen, um über sämtliche Momente der musikalischen Repräsentation sprechen zu können, also auch jene des Nachvollzuges und der topischen oder symbolischen Bedeutung. Semiotik erscheint dann geradezu als allgemeine Erkenntnistheorie: »the fundamental motivation of semiotics […] is a sharper delineation of the ways in which we know things.« (Agawu 1991, S. 10) – Das hier »strukturalistisch« genannte Programm steht in Agawus Abriß der musikalischen Semiotik unter dem Titel »taxonomic-empiricst« und wird von dem von ihm angestrebten ›semantizistischen‹ Ansatz abgegrenzt, den man auch »hermeneutisch« nennen könnte (Agawu

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programm entwickelt hat. Ihr Ziel ist es, Musik als Zeichensystem zu lesen und die diesem System internen Repräsentationsbeziehungen herauszuarbeiten. Sie stellt dar, welche Merkmale einzelne Elemente der Musik mit anderen Elementen teilen und aufgrund welcher Merkmale sie sich voneinander unterscheiden. Die Elemente der Musik ordnen sich somit zu einem Netzwerk von Wiederholungs-, Ableitungs- und Kontrastbeziehungen. Das Problem ist zuerst, die Elemente – die einzelnen ›Zeichen‹ – zu individuieren, zwischen denen Zusammenhänge bestehen sollen, und die Weise der Zusammenhangsbildung zu erläutern. Die Mittel, um die Elemente zu individuieren, müssen allein aus der Schicht der Musik gewonnen werden, wenn sich das Postulat bewähren soll, die Musik bilde ein sich selbst tragendes System von Beziehungen, beispielsweise ein System reiner ›Syntax‹. Die Untersuchung soll der Musik ›immanent‹ sein und erfordert also, nach dem Wortgebrauch von Jean-Jacques Nattiez, die methodische Annahme einer ›neutralen Ebene‹, auf der Faktoren »like the composer’s ›intentions‹ and the accidents of listening – the sophistication of the listener, his attentiveness, his level of acculturation – must be eliminated for scientific music theory to make sense.« (Monelle 1992, S. 90) Der Gleichheits- oder Wiederholungsbeziehung kommt in einer solchen immanenten Untersuchung prinzipielle Bedeutung zu, insofern sie deutlich macht, daß das Element, das Motiv oder die Phrase, die erneut erklingt, eine Instanz von etwas ist, das zuvor auch schon instantiiert wurde. Damit macht sie deutlich, daß die Musik nicht als Ablauf von Einzelmomenten vorübergeht, sondern es etwas Allgemeines in ihr gibt: allgemein in dem einfachen Sinne von etwas, das sich an mehreren Stellen verwirklichen kann. Mehrere allgemeine Gestalten können identifiziert werden, indem man Übereinstimmungen zwischen Segmenten im Verlauf des Stückes findet. Ein derartiges Vorgehen zerlegt die Musik in Einheiten, die durch Gleichartigkeit untereinander erkennbar sind. 2 Man gewinnt so eine Menge von mehrfach instantiierten Gestalten und von noch nicht einsortierten Elementen. Die Elemente dieser Menge unterscheiden sich auf die eine oder andere Weise. Man kann nun beginnen, einen Teil dieser Unterschiede als Variatio1991, S. 11–14). Von der Terminologie abgesehen teile ich mit Agawu den Großteil der kritischen Anmerkungen zur ersten Schule. 2 Zur Illustration vgl. Monelle 1992, S. 65–74 und S. 82–88.

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nen zu deuten. Dazu muß man die verschiedenen Varianten wiederum unter allgemeine Gesichtspunkte bringen. Diese gehen häufig von elementaren Mustern aus: vom Wechsel von kurz und lang, dessen Varianten in unterschiedlichen Proportionen und unterschiedlichen absoluten Dauern dieses Wechsels bestehen; von Tonschritten und Sprüngen auf- und abwärts u. dgl. Nicht notengetreue Wiederholungen können darauf untersucht werden, inwiefern in ihnen dennoch solche elementaren Muster bewahrt bleiben oder ersetzt werden und zu welchen Teilen, so daß man eine Tafel von Segmenten oder Einheiten gewinnt, die sie auf der Grundlage der festgestellten und beschriebenen Abweichungen in Beziehung setzt. 3 Hier jedoch zeigt sich eine Voraussetzung: Der strengen Methodik der immanenten Untersuchung müssen schon identifizierbare Elemente zugrundeliegen, die überhaupt erst den Gesichtspunkt bereitstellen, unter dem die skizzierten Identitäten und Differenzen sichtbar werden. Diese Elemente sind die Kategorien der Tonhöhen und der Tondauern; für gewöhnlich werden sie aus dem musikalischen Text abgelesen. Nur unter ihrer Voraussetzung ist es möglich, ihre Verbindungen nach Wiederholung und Abweichung zu klassifizieren. Die Möglichkeiten dieser Klassifikation sind aber bei sehr kleinen Tongruppen durch die Intervallkategorien begrenzt, insbesondere wenn man beachtet, daß die Melodiebildung wenigstens im Rahmen der tonalen Musik praktisch gewisse einfache Intervallfolgen bevorzugt. Darum ergibt die skizzierte Methode nur wenige typische, einander sehr ähnliche Elemente. Werden die Tongruppen jedoch größer, wachsen die möglichen Verbindungen und Abweichungen schnell ins Unüberschaubare, und die rein immanente – nicht also auf Hörgewohnheiten u. dgl. gestützte – Analyse gerät schnell an die Grenzen ihres Zugriffes, insbesondere sobald Harmonik, Begleitstimmen oder Polyphonie eine Rolle spielen. Raymond Monelle Das Vorgehen einer solchen »paradigmatic analysis« illustriert wiederum Raymond Monelle an verschiedenen Beispielen (Monelle 1992, S. 94–120). – Kurz und knapp ist die Terminologie folgendermaßen zusammengefaßt: »Paradigmatic analysis is the first stage of semiotic analysis whereby a musical work is segmented and organized into paradigms or categories of meaningful musical units, with segments placed into the same category according to various similarity criteria. The second stage of the process, syntagmatic analysis, involves the description of the temporal distribution and succession of these analytically significant categories.« (Anagnostopoulou & Cambouropoulos 2012, S. 129).

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merkt so zu den Grenzen der »segmentation« und »paradigmatic analysis« an: »monodies are the home territory of any segmentation that can be called intellectually respectable.« Dagegen steht: »the western tradition has produced elaborate monuments of harmony and polyphony which resist rational analysis« (Monelle 1992, S. 89) – »rational« im Sinne der von atomaren Bausteinen ausgehenden Abzählbarkeit der Elemente des Werkes. Hier müssen Prinzipien der Repräsentation im Spiel sein, die die auf dem Boden des elementaren musikalischen Schematismus aufbauende Analyse nicht selbst entwickeln kann. 4 Werden diese Prinzipien absichtlich zugunsten der Berechenbarkeit der Analyse außer Kraft gesetzt, wie es vom methodischen Prinzip gefordert wird, eine ›neutrale Ebene‹ aufzusuchen, so droht die Gefahr, daß die Untersuchung der Musik haltlos wird. Den von Monelle angeführten Beispielen ist dieses Problem darum nicht vorzuhalten, weil sie sich an relativ simples Material halten oder von der ›neutralen Ebene‹ aus den Blick auf den ›poietischen‹ Aspekt und die mögliche Hörwahrnehmung nicht verlieren (vgl. Monelle 1992, S. 109 und 114). Anders sieht es aus, wenn der Versuch, ein Werk durch die Zurückführung auf einfache, untereinander verwandte Elemente in seinem ›eigentlichen‹ Kern zu repräsentieren und in diesen Elementen seine Substanz zu erkennen, Aspekte außer acht lassen muß, die auf der ›neutralen Ebene‹ nur schwer zugänglich sind und die Aufmerksamkeit auf klangliche Gestaltung durch die Gliederung von Bewegung, die Formung von Textur usw. erfordern, die als Ganzheiten gehört, aber nicht entsprechend im Notenbild erkannt werden können. Das gilt fast immer, wenn wir nicht die auf die Melodie konzentrierte Einstimmigkeit, auf die sich viele der von Monelle angeIn Anagnostopoulou & Cambouropoulos 2012 zeigt sich dieses Dilemma angesichts der Frage nach dem möglichen Beitrag computationaler Methoden zur Musikanalyse; solche Methoden würden eine Maschine anleiten, auf der neutralen Ebene die Musik auseinanderzunehmen. Die beiden Autoren betonen dabei, daß der Ausgangspunkt einer solchen Methode, nämlich die Definition der »parametric features«, nach denen die Musik zerlegt werden soll, »ad hoc« (S. 131) ist und am Ende doch wieder auf menschliche Gestaltwahrnehmungskünste zurückgreift. Wozu aber braucht man am Ende die Maschine? Erstens kann sie schnell rechnen und aus der Sicht der menschlichen Wahrnehmung unwahrscheinliche Resultate zustandebringen. Zweitens mag man annehmen: »formalizing a process and creating an analysis based on scientific methods can be an important task per se.« (ebd., S. 144) Hier muß dem puren Schematisieren ein Wert gesetzt sein, ähnlich der von Budd und Kivy angesprochenen Freude an Puzzles und Kreuzworträtseln (vgl. c.3.).

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führten Analysen beziehen, vor uns haben, sondern die kammermusikalischen oder orchestralen, auch dem zeitlichen Umfang nach größer angelegten Werke, die den größeren Anteil der abendländischen Kunstmusik ausmachen. Bei ihnen wird die Suche nach elementaren Substanzkernen leicht zur selbsterfüllenden Prophezeihung – so die Kritik etwa an Rudolph Reti. Retis Ansatz ist ein Musterbeispiel für die Ausgangsschwierigkeit, mit der die immanente Analyse auf rigorose Weise umgehen wollte: die Schwierigkeit, herauszufinden, welche Elemente der Musik eigentlich den Kern des Zusammenhanges der Musik ausmachen. Man kann sich dabei auf dasjenige Medium stützen, das für alle weiteren, analytischen Schematisierungen der Musik den Ausgangspunkt bildet: auf den musikalischen Text. Reti geht davon aus, daß nach einer »concrete relationship within the material itself« zu suchen sei und nicht nach seiner Meinung nach oberflächlichen »general affinities of style, mood, or key« (Reti 1961, S. 4), um die tiefere Einheit eines Werkes herauszuarbeiten. Diese Art von Verhältnis im musikalischen Material müsse auch die Einheit offensichtlich kontrastierender Abschnitte gewährleisten: Sie muß über die hörbare Mannigfaltigkeit der Musik hinaus oder durch sie hindurch auf der Ebene der »Substanz«, nicht der Erscheinung, gesucht werden. Sein Schlagwort ist, daß ein Meisterwerk »contrasting on the surface but identical in substance« (ebd., S. 5) sei. Ausführlicher formuliert: »in the classical technique of transformation it is the composer’s intent to produce a theme which is entirely new in appearance and character, though derived from the same essence and kernel.« (ebd., S. 61) Das Kriterium substantieller Identität sei nicht nur in den motivischen »affinities« zu suchen, die man ohnehin höre, sondern darüber hinaus in »Transformationen« der Substanz des Werkes (ebd., S. 351 f.). Diese Transformationen ließen die Elemente des Werkes auf eine Weise miteinander verwandt sein, die jenseits des hörbar Prägnanten liegt, aber unterschwellig die Ahnung der Einheit bewirke, die wir an jedem Meisterwerk unweigerlich empfingen. Reti geht wie selbstverständlich davon aus, daß die Forschung nach der »Substanz« ihre Grundlage in der Isolation von Elementen aus dem Text hat; bevorzugt sind dies einzelne Tonhöhen. 5 Sie und ihre Ordnung sind jene Wesensmerkmale der musikalischen EigenZur Kritik gegen diese Isolation bzw. Abstraktion der Tonhöhen gegen alle restlichen Formkategorien, die sich »in Jahrzehnten zu einer so alltäglichen Gewohnheit

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form, denen nicht nur in Retis Analyseweise zumeist die größte Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Vernachlässigt man nun die spezifische, rhythmisch, dynamisch und klanglich mitbestimmte Bewegung, deren Teil sie sind, so fällt es leicht, fast beliebig Verknüpfungen zwischen den Tonhöhenelementen herzustellen, vor allem dann, wenn man – da die Wahrnehmung als Prüfstein methodisch ausgeschlossen ist – es zuläßt, die Beziehungen zwischen ihnen auch dann als verwandt gelten zu lassen, wenn beispielsweise Tonschritte von oben nach unten oder von hinten nach vorn gekehrt werden, die Größe der Tonschritte als variabel gilt, Töne untereinander austauschbar sein dürfen oder Töne aus verschiedenen Stimmen oder von verschiedenem Gewicht – Haupt- und Ziernoten – unterschiedslos in die motivisch-thematische »Substanz« eingehen können 6 , die als Basis des Zusammenhanges eines Werkes behauptet wird. Unter der methodischen Voraussetzung, rein textimmanent zu verfahren und nur die abstrahierten Beziehungen der Töne und die Beziehungen der Beziehungen zueinander darzustellen, wird aber »bald alles mit allem verknüpfbar«, denn diese geforderte Abstraktionsleistung läßt verschwinden, was für das Ohr das Individuelle und Charakteristische der Bausteine der Musik ausmacht. 7 Die immanente Untersuchung der Musik, die ohne Modelle und Begriffe auskommen wollte, die von außen herangetragen werden, kommt also ins Stocken, weil die Masse der möglichen ›paradigmatischen‹ Segmente eine unüberschaubare Menge nur potentieller Beziehungen aufweist, unter denen allein auf der Grundlage der von vornherein schematischen, in Noten faßbaren Momente nicht entschieden werden kann. Sie bringt also nur Rudimente einer Repräsentation zustande. Geht sie mit dieser Schwierigkeit auf die Reti’sche Art um, wird sie haltlos, weil sie jene Entscheidung nach Belieben trifft. Die schematischen Ausgangsmomente der Musik verfestigt hat, daß kaum noch auffällt, wie seltsam [sie] ist«, vgl. Dahlhaus 1970, S. 48 f. 6 Diese Vielzahl der Operationen in Retis Analyseverfahren faßt Hans-Ulrich Fuss (2005, S. 23–25) prägnant und kritisch zusammen. 7 Vgl. Kühn 1993, S. 222 und S. 27; zur geschilderten Kritik auch Finscher 1998, Sp. 2531: Reti postuliert eine wesentliche Einheit des Werkes als »Substanzgemeinschaft, die durch analytische Reduktion individueller, meist thematischer Strukturen auf die einfachsten Elemente der dur-moll-tonalen Sprache nachgewiesen werden soll und durch die praktisch jedes tonale Werk auf gleiche Weise als Einheit erscheint, wodurch die Methode sinnlos wird«.

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Der Versuch der immanenten Repräsentation innermusikalischer Beziehungen

und ihre schematische Repräsentation sind hier durch eine Kluft willkürlicher Setzung von Beziehungen getrennt. Wie kommt diese Kluft aber genau zustande? Die grundlegende Bestimmung, was schematisches Verstehen überhaupt ist, weist auf eine Antwort hin. Schematisierung ist immer eine Vereinfachung; sie beruht darauf, etwas wegzulassen und auszublenden. Im vorliegenden Fall blendet sie alles aus, bis sie nur noch einzelne Noten vor sich hat: den schematischen Kernbestand der Musik. Sie sucht dann, diese Noten wieder in Beziehungen zueinander zu setzen. Die gerade skizzierten Ansätze scheitern daran. Sie setzen das schematisierend Ausgeblendete ganz und gar beiseite, indem sie es für ›unwissenschaftlich‹, ›irrational‹ oder – dies eher im Falle Retis – für Gewohnheiten der Wahrnehmung halten, jenseits derer das Genie des Komponisten sein Werk getan habe, so daß der Blick auf die Form des Musikwerks ein Blick hinter das Wahrnehmbare sein müsse. Dieses Beiseitesetzen reißt die genannte Kluft auf. Über sie hinwegzukommen hieße, zu wissen, wie die schematischen Elemente – die einzelnen Noten – zueinander in Beziehung zu setzen sind. Das, was diese Beziehung stiftet, ist aber nicht von der Art der eben versuchten Verknüpfung auf der Grundlage von Gleichheiten und Differenzen atomhafter Elemente. Es ist einerseits von der Art thematischen Sinnes, der uns die Musik als Bewegung zeigt und diese Bewegung gegliedert erscheinen läßt. Es ist andererseits von der Art von Sukzessionsbegriffen, die wir mitbringen, um die Musik an ihnen zu messen und die für uns bereits schematische Gestalt haben. Dies betrifft das Spektrum musiktheoretischer Begriffe, das von elementaren Zusammenhängen wie dem Takt und Formen der Kadenz über die Periodenbildung bis hin zu Großformen wie denen der Dacapo-Arie, der sogenannten Sonatenhauptsatzform in ihren mannigfaltigen Ausgestaltungen, der Variationsform usw. reicht. Dieses Spektrum umfaßt die Schemata, durch die wir den in einzelne Noten zergliederten Verlauf der Musik zu Einheiten integrieren. Sie sind die Voraussetzung dafür, daß die schematische Repräsentation weder rudimentär bleibt noch haltlos wird. Daß sie eine Voraussetzung sind, heißt freilich, daß sie nicht immanent gewonnen werden können, sondern daß die schematische Repräsentation durch eine Beziehung des musikalischen Verlaufes und seiner Elemente auf jene vorausgesetzten Schemata zustandekommt. Sie und den Prozeß ihrer Einbeziehung müssen wir genauer betrachten. Vorgreifend sei gesagt, daß das Problem des Gebrauchs von 297 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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Schemata, wie ich es in diesem Kapitel vorstelle, nicht in jeder Art von Musik in der Form auftritt, zu der ich es in späteren Abschnitten zuspitze. Verhältnismäßig einfache Formgebungen und Formzusammenhänge, wie wir sie in Kinderliedern, nicht allzu künstlichen Tanzsätzen oder in vielen Bereichen marktgängiger Musik antreffen, stellen das Problem nicht. In solcher Musik finden wir Schemata der rhythmischen und melodischen Gestaltung handwerksmäßig gebraucht, und im Hören wir der Verlauf der Musik auf unausdrückliche und unproblematische Weise unter diese Schemata gebracht. Das Problem in seiner komplexen Gestalt stellt sich vor allem unter zwei Voraussetzungen: einmal dann, wenn die zu integrierenden musikalischen Momente sich über einen Zeitraum erstrecken, der über die Dauer überschaubarer Perioden hinausreicht; und, meist damit zusammenhängend, unter der zweiten Voraussetzung, daß die Schemata nicht einfach gebraucht, sondern in ihrem Gebrauch reflektiert werden. Ihr Gebrauch erscheint dann besonders, zweideutig o. ä., und das verstehende Hören findet in der Musik Momente, die zweifelhaft scheinen lassen, daß ihre Gliederung durch geläufige Schemata – mag sie auch unter bestimmten Aspekten passend erscheinen – das Wesentliche der Struktur dieser Musik trifft. Die im folgenden diskutierten Ansätze betreffen also ›künstliche‹ Musik.

n.2. Die Spannung zwischen Schema und Schematisiertem Die Schematisierung der musikalischen Bewegung zeichnet sich dadurch aus, daß sie deren Verlauf vermißt und ihre Abmessungen verräumlichend darstellt. In dieser Verräumlichung ist der zeitliche Ablauf aufgehoben: er wird überschaubar. Die schematische Repräsentation schüttet den Feldherrnhügel auf, von dem aus der Überblick auf die Musik gestattet ist, die in der Repräsentation als simultanes Ganzes vor uns liegt. Dieser Feldherrnhügel ist beispielsweise bei Reti vorausgesetzt. Er schaut von dort auf ein System, das dadurch konstituiert ist, daß die Elemente der Musik in einem Netz von Beziehungen aus Wiederholungen, Ableitungen und Veränderungen zueinander stehen. Dieses Netz ist aus dem Ablauf der Musik herausgelöst und wird, ganz wie Schönberg es als Einsicht in die Einheit eines Werkes geschildert hat (vgl. e.1.), simultan mit einem Blick erfaßt. In der räumlichen Darstellung des Netzes erscheinen Abschnitte auch eines ausgedehn298 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Spannung zwischen Schema und Schematisiertem

ten Stückes unter Umständen in sehr engen – schematisch-räumlich nahen – Beziehungen auch zu zeitlich weit entfernten Abschnitten. Die zeitliche Entfernung spielt in dieser Form der Repräsentation keine Rolle für die Nähe der Beziehung. Die Verräumlichung ist ein Mittel, zeitliche Distanzen zu überwinden und somit kraft ihrer Darstellungsweise die Einheit oder Ganzheit des Stückes herzustellen. Weniger entzeitlicht und mehr von einem prozessualen Zug geprägt scheint ein anderer wichtiger Strang theoretisch-analytischen Denkens zu sein, liegt doch der »Schenkerian analysis« der Gedanke zugrunde, daß die Meisterwerke wenigstens in der tonalen abendländischen Musik aus einer teleologisch zu denkenden »Urlinie« hervorgehen, die in der Komposition elaboriert und »prolongiert« wird. Der Aspekt der sich entwickelnden Bewegung verliert sich jedoch in dieser Theorie: Zwar wird eine Richtung der Bewegung behauptet, aber dadurch, daß der tonalen Gerichtetheit alle anderen Momente der Bewegung, beispielsweise die Momente melodischer Details oder der Gestaltung der rhythmischen und metrischen Ordnung, vollständig untergeordnet werden, versickern die letzteren zugunsten einer »Selbstähnlichkeit«. »Schenker und seine Nachfolger behandeln die großen Einheiten analog zu den kleinen, Zusammenhänge im Mikrobereich werden genauso repräsentiert wie solche, die sich über Hunderte von Takten erstrecken; es dominiert also […] die synoptische, vom Zeitverlauf unabhängige Perspektive.« (Fuss 2005, S. 21 f.)

Es ist vorrangig die ›Linie‹ der musikalischen Bewegung, die in dieser Analyse repräsentiert wird. Die Linie einer Bewegung ist ihre Verräumlichung, ihr Schema, das einen gerichteten Weg vom Anfang bis zum Ende des Stückes zeichnet. So sehen wir vom Feldherrnhügel aus im einen Fall auf ein Netz von Beziehungen, im anderen Fall auf eine Linie, die sich ›oberflächlich‹ schlängelt und verästelt. Jener Feldherrnhügel hat sich historisch unzweifelhaft zu einem wesentlichen Standpunkt entwickelt, von dem aus Musik konzipiert wird und der also auch als Standpunkt der Rezeption nicht einfach mißachtet werden darf, wie Christian Grüny deutlich macht: »Die Vergegenwärtigung immer größerer Passagen ist in unserer westlichen Tradition eine der Voraussetzungen für das Musikhören, bei dem es nicht nur darum geht, Melodien als Kontinuitäten von Tonzusammenhängen aufzufassen, sondern auch einzelne Abschnitte als ganze vor sich zu bringen […]. Gelingt dies überhaupt nicht, so höre ich keine Musik, son-

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Wege der schematischen Repräsentation

dern lediglich einen Melodiestrom. Die Totale wäre die Auffassung, die diese Zusammenfassung für ein ganzes Stück leistet: Ein hoch voraussetzungsreiches Unterfangen, das nur den wenigsten gelingen dürfte und das sich um so schwieriger gestaltet, je weniger der Abgleich mit einem traditionellen Formenkanon noch möglich ist« (Grüny 2013, S. 47).

Zum anderen stellt Grüny klar, daß die geforderte »virtuelle Präsenz des ganzen durchlaufenen Prozesses [des gehörten Stückes] sub specie seiner Einheit« notwendig in einer Spannung zu dem in ihr zusammengefaßten Prozeß steht 8 : »jeder Blick auf größere Strukturen bis hin zum Ganzen bezahlt seinen größeren Überblick mit wachsender Vagheit.« (ebd., S. 48) Für das gegenwärtige Thema bedeutet das, daß diese der schematischen Repräsentation inhärente Spannung 9 genauer angesehen werden muß. Sie tritt nicht nur ein, wenn, wie gerade angesprochen, zeitlich ausgedehnte Prozesse unter den Aspekt des Überblicks gestellt werden sollen. Sie ist nicht nur eine Spannung zwischen Prozessen unterschiedlicher zeitlicher Dimensionen, sondern sie ist eine Spannung zwischen Sinngehalten, die in ihre Zeit und in ihren Stoff gebunden sind, und ihrer Repräsentation, die sie verallgemeinert und so entzeitlicht.

n.3. Musiktheoretische Begriffe: Ursprünglich schematische Kategorien und sekundäre Schematisierungen Beginnen wir die Repräsentation nicht immanent bei den Notenelementen, sondern mit einem Werkzeugkasten bereits gebrauchstüchtiger Schemata, so verfügen wir über Mittel, die der Repräsentation helfen, die Kluft zwischen den schematischen Elementen und der Repräsentation ihres Zusammenhanges zu überbrücken. Daß die Bildung der Zusammenhänge nicht ins Willkürliche entgleitet, scheint vorläufig dadurch gegeben, daß die Schemata, die den ZusammenGrüny benennt diese Spannung als Grenze für einen Ansatz, der das Verstehen von Musik vor allem über Husserls Untersuchungen der Zeitwahrnehmung angeht, die häufig so interpretiert werden, als sei der einheitliche Überblick über die Sukzession etwa einer Melodie unproblematisch und als könnte die Struktur von Protention und Retention, die diesen Überblick erlaubt, nahezu unbegrenzt ausgedehnt werden. Mit einer solchen Ausdehnung haben wir es beispielsweise in der generativen Theorie der tonalen Musik zu tun (vgl. hier Kap. d.). 9 In Bezug auf die musiktheoretische Begriffsbildung ist sie in Redmann 2002 (S. 29– 32 und S. 79–82) übersichtlich dargestellt. 8

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Musiktheoretische Begriffe

hang und den Überblick stiften, durch ihren Gebrauch bewährt sind. An sie halten sich Praktiken des Hörens und, in Wechselbeziehung auf diese, Praktiken der Komposition. Wenn diese Schemata für die Repräsentation der Zusammenhänge der Musik vorausgesetzt und unentbehrlich sind, sind ihre Funktion und ihre Verwendung genauer zu untersuchen. Dabei muß man beachten, daß zur Vermittlung dieser Repräsentationsweisen zumeist die Sprache gebraucht wird, aber die sprachlich gefaßten Begriffe, in denen die Musik strukturell und schematisch repräsentiert werden soll, hinsichtlich ihres Status differenziert betrachtet werden müssen. Der im eigentlichen Sinne schematische Gebrauch von Begriffen identifiziert und klassifiziert etwas, indem er es als Instanz von etwas Allgemeinem auffaßt. Die Identifikation von Elementen der Musik ist einfach, solange man sich nahe an die einzelnen Töne hält. Diese sind durch die primären Parameter der musikalischen Eigenform bestimmt und darum identifizierbar: durch ihre Tonhöhe und ihre Dauer. Auf dieser Identifikation baut eine Form des Sprechens über die musikalische Struktur auf. Zu dieser Form zählen beispielsweise Begriffe wie der der Wiederholung – die gleichen Töne noch einmal – und grundlegende Ausdrücke der Harmonielehre und Rhythmik: »punktierter Rhythmus«, »Triole«, »verminderter Septakkord«, »Dsieben-b-fünf-Kreuz-neun« (D7b5#9 – ein Beispiel für die im Jazz übliche Repräsentation harmonisch-modaler Schemata). Diese Begriffe beschreiben und identifizieren Töne und jene ihrer Zusammenhänge, die in der »Dimension formalisierter Kompositionstechniken« (Redmann 2002, S. 176; S. 182–185) konstituiert sind. Ihnen kommt ein objektiver Status zu, indem sie geradewegs aus der durch die Notenschrift vorgegebenen Schematisierung der musikalischen Grundkategorien – Tonhöhe und Tondauer – gewonnen sind und über diese Schematisierung hinaus keine Anwendung haben. Anders verhält es sich mit Begriffen, die Aspekte der Musik repräsentieren, die nicht allein auf die elementar-schematische Ebene zurückgeführt werden können. Das Problem, daß das Herstellen eines Netzes von Zusammenhängen auf der Basis der elementaren Schematismen der Tonhöhe leicht haltlos und willkürlich wird, geht darauf zurück, daß man die Begriffe, die das jeweilige Netz konstituieren sollen, so mißverstanden hat, als ob sie am Ende eindeutig identifizierbare Töne und Tonzusammenhänge im Sinne des notenschriftlichen Schematismus zum Inhalt hätten. Damit übersah man die 301 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wege der schematischen Repräsentation

Kluft, die die Elemente der Repräsentation von der Repräsentation ihres Zusammenhanges trennte, und man übersah, daß die Begriffe, die diesen Zusammenhang gewährleisten, einen anderen Inhalt haben. Was diese Begriffe typisieren und identifizierbar erscheinen lassen, sind Elemente und Zusammenhänge, die auf der Grundlage des unmittelbaren Nachvollzuges, der Kenntnis symbolischer Gehalte und wiederum der Anwendung von gängigen Repräsentationsmodellen aufgefaßt werden. Diese Elemente zeigen sich dann als gestische oder Ausdrucksgestalten, Bewegungsformen, topics usw.; Zusammenhänge in diesem Rahmen wären solche von Frage und Antwort, Entwicklung, Steigerung, logischer Folge, Erzählung, Erinnerung, Kontrast, Bruch und Desintegration. Der Gebrauch von Begriffen, die auf solche Elemente und Zusammenhänge zurückgehen, steht im Sprechen über Musik neben dem Gebrauch von Begriffen aus der Gruppe der technischen Ausdrücke, und man könnte meinen, daß der Gebrauch in beiden Fällen vergleichbar funktioniert, nämlich als objektive Identifikation schematischer Gestalten. Hier ist aber Vorsicht geboten. Die zweite Gruppe von Begriffen ist zwar häufig auf schematische Weise gebraucht – besonders dann, wenn sich ihr Gebrauch so gefestigt und geklärt hat, daß er zum wissenschaftlichen Gebrauch geworden ist –, aber die Grundlage des schematischen Gebrauchs zum Zwecke der Integration und Zusammenfassung ist nicht wiederum schematisch. Es handelt sich stattdessen um eine sekundäre Schematisierung nachvollziehender, symbolischer und deutend-repräsentierender Umgänge und der in ihnen prägnant erfahrenen Gestalten, während die im engeren Sinne technischen Begriffe auf eine primäre, aus den Kategorien der musikalischen Eigenform gewonnene Schematisierung zurückgehen. Eine sekundäre Schematisierung kann nicht den gleichen identifikatorischen Status beanspruchen wie Begriffe, die auf einer primären Schematisierung aufbauen, da die Gegenstände der sekundärschematisch gebrauchten Begriffe auf andere Weise zu identifizieren 10 sind als die Elemente des bereits kategorial bestimmten Bereichs der Tonhöhen und Tondauern. Im Gegensatz zu diesen geht ihre Identifikation aus einer Repräsentationsleistung hervor, die nicht im ganzen schematisch ist, sondern auf jeden Fall das Moment des Nachvollzuges an sich hat, und zwar auf zwei Weisen: Einerseits wird Ich gebrauche dieses Wort vorläufig weiter, obwohl man bemerken muß, daß die Rede von »Identifikation« schnell zweifelhaft wird.

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Exkurs: Die Metapher im Rahmen schematischen Aussagens

Thematisches auf schematische Weise repräsentiert; andererseits ist der Prozeß der Schematisierung selbst durch jene Momente der Offenheit und der Bindung an den zeitlichen Verlauf der Erfahrung gekennzeichnet, die den thematischen Sinn auszeichnen. Diese beiden Aspekte der Spannung zwischen dem Schema und dem Schematisierten sind nach und nach zu erläutern. Sie verschieben die Frage, welche Sukzessionsbegriffe wir als Maß des Ablaufs der Musik haben können (vgl. g.1.), in die Richtung der Frage, wie diese Begriffe hergestellt sind und was das für ihren Gebrauch als Maße bedeutet.

n.4. Exkurs: Die Metapher im Rahmen schematischen Aussagens Um zu erklären, wie offener thematischer Sinn sprachlich repräsentiert werden kann und wie sich diese Repräsentation zum schematischen Sprechen verhält, lohnt es sich, einen Blick auf den Begriff der Metapher zu werfen. Sie ist die sprachliche Äußerung einer Vertretung des thematischen, nachvollzogenen Sinnes. Diese Vertretung ist Verknüpfung oder Verbindung mit einem bekannten Bereich, in dem Sinn versinnlicht wird – beispielsweise in Gestalt einer Ausdrucksbewegung oder eines Linienzuges – oder sich in Handlungsund Denkformen zeigt, beispielsweise in der Auffassung der Musik als einer Rede, einem Dialog, einer Erzählung, des phantasierenden Herumschweifens oder des festgefügten Schließens. Stabilisieren sich die Verknüpfungen, die man als »Analogiesetzungen zwischen außermusikalischen Bereichen und musikalischen Phänomenen« fassen kann, dann ›verdichten‹ sie sich »zu Kategorien innermusikalischen Sinnverstehens.« (Redmann 2002, S. 8) Die Metaphorizität der Metapher – die Tatsache, daß sie zwei in ihrem Ursprung nicht zusammenhängende Gegenstände oder Felder miteinander verbindet – gerät dann aus dem Blick, und die Metapher hat sich verfestigt. Sie kann nun auf tendenziell schematische Weise verwendet werden, indem sie ein Begriff ist, unter den Gegebenheiten in der Musik gebracht werden können, und nicht mehr ein Begriff, mit dem die Musik erst verbunden werden muß. Aus verfestigten Metaphern wird eine Terminologie. (ebd., S. 99 f.) Ihr Gebrauch für strukturelle, musikimmanente Gegebenheiten macht sie zu sekundären Schematisierungen. Indem Metaphern Sinn verknüpfend vertreten, unterscheiden sie sich von der sprachlichen Repräsentation schematischer und sym303 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wege der schematischen Repräsentation

bolischer Sinnmomente der Musik, die streng genommen nur benannt werden. Die Benennung kann ihrerseits metaphorisch geprägt sein, muß es aber nicht. Für die ›schematischsten‹ der musikalischen Elemente ist dies nicht der Fall: Tonhöhen und Harmonien werden durch bloße Buchstaben benannt, Tondauern durch Zahlwerte. Um die Differenz zwischen der Funktion der Sprache, kraft derer sie benennt, und der Funktion, kraft derer sie offenen Sinn vertritt, schärfer darzustellen, blicken wir auf eine Theorie der Metapher, der es nicht gelingt, diese Differenz festzuhalten. Für sie ist eine Metapher ein mehr oder weniger passender Name, der einem zuvor nicht notwendig benannten, aber auf irgendeine Weise bekannten und bestimmten Element einfach gegeben worden ist. In dieser Ansicht ist die Metapher das Ergebnis einer Verbindung, welche auf Analogien und Ähnlichkeiten beruht, die zwischen dem Herkunftsbereich der Metapher und ihrem Zielbereich – der Musik – festgestellt werden können. Diese Ansicht bestimmt einen Umgang mit dem Begriff der Metapher, der in der ›analytischen‹ Ästhetik verbreitet ist. Man nennt sie häufig Substitutions- oder Vergleichstheorie; ihr Gegenstück trägt oft den Titel der Interaktionstheorie. 11 Typisch für die Vergleichstheorie ist zuerst eine Ansicht darüber, wie die Bedeutung eines Wortes festzustellen und zu klassifizieren sei: Es sei von einer klaren Trennung zwischen wörtlichem (»literal«) und uneigentlichem (»non-literal«) Wortgebrauch auszugehen; zwischen beiden liege gegebenenfalls – besonders bei häufigen Wörtern mit einem etwas breiteren Bedeutungsspektrum – ein Bereich sekunMein Vorwurf gegen die Debatte in der ›analytischen‹ Ästhetik ist, daß sie zumeist überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen scheint, daß hier unterschiedliche Entwürfe vorliegen, sondern mit einem etwas hausbackenen, auf althergebrachten Auffassungen beruhenden Begriff der Metapher operiert. Ich kann es hier nicht unternehmen, die Diskussion um Substitutions- und Interaktionstheorie im Detail wiederzugeben. Für Darstellungen dieser Entgegensetzung, die teils auch Kritik an der »nicht sehr glücklichen« Benennung (Kurz 2004, S. 7) ihrer Pole üben, s. Kurz 2004, S. 7–21; Ricœur 1986, S. 7–10. Zu dem Problem, daß die Interaktionstheoretiker die Vergleichstheoretiker möglicherweise verzerrt darstellen und selbst wieder auf ein zentrales Problem zurückfallen, das sie aus der Welt schaffen wollten – nämlich dasjenige der Ähnlichkeit oder Analogie, die zwischen den metaphorisch verknüpften Gegenständen und Begriffen herrschen sollten, ohne daß die Grundlagen dieser Ähnlichkeit klar würden –, s. Eggs 2001, Sp. 1154–1164; Coenen 2002, S. 225–228 und 233–239. Eggs’ abhandlungsartiger Wörterbuchartikel sei als exzellente historisch-kritische Darstellung der Diskussion des Metaphernbegriffs empfohlen.

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Exkurs: Die Metapher im Rahmen schematischen Aussagens

där-wörtlicher Bedeutungen. 12 Diese Trennung ermöglicht eine Heuristik zur Deutung von Metaphern: Hören wir Sätze, die Unsinn ergeben, wenn wir die wörtlichen Wortbedeutungen veranschlagen, dann sollten wir überlegen, ob einige Wörter in einer sekundären Bedeutung gebraucht sind; verstehen wir auch so nichts, so können wir eine metaphorische Verwendung annehmen und uns weiter fragen, wie die Metapher gemeint sei. Bei der Deutung bemühen wir uns, die Ähnlichkeiten zwischen den Gegenständen zu erkennen, die das fragliche Wort einerseits durch seinen wörtlichen, andererseits durch seinen metaphorischen Gebrauch bezeichnet. Das Verstehen von Wörtern gleicht also dem Durchgehen von Bedeutungslisten, geordnet nach ihrer ›Wörtlichkeit‹. Dies führt zu der These: »what goes on in understanding a word metaphorically is basically the same as what goes on in understanding a word literally.« (Dickie 1997, S. 116) Im metaphorischen Verstehen bezeichnet das Wort nur noch einige durch es hervorgehobene Eigenschaften an dem Gegenstand, auf den es als Metapher zielt; aber es bezeichnet sie im Grunde auf die gleiche Weise, in der ein Wort im wörtlichen Gebrauch seinen ›eigentlichen‹ Gegenstand bezeichnet. Damit im Rahmen dieser Theorie nicht nur erklärt werden kann, wie eine Metapher verstanden wird, sondern auch, wie sie zustandekommt, ist es nötig, Ähnlichkeiten vorauszusetzen, die an zwei Gegenständen aus unterschiedlichen Begriffsfeldern zu bemerken sind. Diese Ähnlichkeiten zu bemerken erlaubt uns, es für passend zu halten, daß ein Wort uneigentlich-metaphorisch gebraucht wird: Mit ihm sagen wir gewisse Eigenschaften des Quellgegenstandes vom Zielgegenstand aus. Diese gemeinsamen Eigenschaften sind der Theorie zufolge der Gegenstand des metaphorischen Sprechens. So kann man die Benennung als Substitutions-, Vergleichs- oder WortTheorie (letztere nach Ricœur 1986, S. 7–10) verstehen: Diese Theorie behauptet, daß die Metapher darauf beruht, daß einzelne Wörter eine feststehende Semantik haben, kraft derer sie metaphorisch in eine Aussage eingebaut werden können; und sie behauptet, daß es der Vergleich zwischen zwei Gegenständen ist, der den MetaphernDie Entscheidung hierüber fällt der ›analytische‹ Ästhetiker mit Hilfe der Autorität eines Wörterbuches: »A word is used literally when it is used in one of its dictionary senses.« (Dickie 1997, S. 114) Es ist haarsträubend zu sehen, wie häufig zuerst zum Concise Oxford Dictionary o. dgl. gegriffen wird, um die Probleme auszuloten, die die Redeweisen von der Art, die Musik sei ›traurig‹ oder sie ›stelle etwas dar‹, dem Philosophen aufgeben.

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Wege der schematischen Repräsentation

gebrauch begründet, so daß das metaphorisch gebrauchte Wort in einer Aussage die eigentliche Bezeichnung eines Gegenstandes ersetzen kann, indem es den gleichen Referenzbereich hat. In der Musik braucht man dann beispielsweise nicht zu sagen: »die fallende Sekunde«, sondern man kann gleich vom »Seufzer« sprechen. Aus der so umrissenen Metapherntheorie ergibt sich eine Folgerung über die Rolle der Metapher in unserem Sprechen. Sie beruft sich darauf, daß der eigentliche Gegenstand der Metapher eine Eigenschaft oder eine Gruppe von Eigenschaften ist, auf die mit einem als uneigentlich erkannten Gebrauch eines Wortes hingewiesen wird. Das heißt, daß man diese Eigenschaft erkannt hat, wenn man die Metapher verstanden hat. Man muß sie also paraphrasieren können. 13 Im Rahmen der Substitutionstheorie ist die Paraphrase eine RückErsetzung: Die Metapher hat eine ›eigentliche‹ Bezeichnung ersetzt und muß also selbst wieder aufgelöst werden können, indem man sie durch die ›eigentliche‹ Bezeichnung dessen ersetzt, worauf sie hinweist. Für das Sprechen überhaupt bedeutet das, daß alles, was gesagt wird, wörtlich gesagt werden können muß, indem der Referenzgegenstand des Sprechens klargestellt wird. Die Metapher kann nur eine objektive Beschreibung in uneigentlicher Redeform sein. Dann ist sie aber verzichtbar: sie ist nur ein rhetorisches Mittel, das um der Kürze oder um des Effektes willen eingesetzt wird. Diese Konsequenz ist nur im Zusammenhang mit der These möglich, daß alles, worüber wir in der Musik sprechen wollen, den Bereichen des Schematismus, der symbolischen Bedeutungszuweisung 14 oder schließlich der Verursachung physio- und psychologischer Reaktionen 15 angehört. Deutlich wird diese These besonders in Stephen Davies’ Analyse. Er schließt aus ihr dreierlei: Erstens gibt es eine im engeren Sinne metaphorische Rede über die Musik, die auf eine objektive Beschreibung der Eigenschaften der Musik reduzierbar ist. Zweitens gibt es eine Rede über Musik, die metaphorisch zu sein scheint; dies betrifft insbesondere Ausdrucksbegriffe. Hierzu sagt Davies, daß wir diese nicht reduzieren können, da in ihrer Reduktion So z. B. Davies 1994, S. 150 f.; Trivedi 2008, S. 46–48. In Davies 1994 s. zur Symbolik v. a. S. 34 f. und 40–48. 15 Vgl. hierzu v. a. Davies 2007, S. 70 f.: Auf solche Reaktionen – kognitive Prozesse eingeschlossen – sollen wir am Ende stoßen, wenn wir fragen, was bestimmte metaphorische und auch höherstufige analytische Aussagen über Musik ›eigentlich‹ bedeuten. Er hofft, in diesen Reaktionen und Prozessen auf einen objektiven, sachlichen Kern des Redens über Musik zu stoßen. 13 14

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Exkurs: Die Metapher im Rahmen schematischen Aussagens

etwa auf musikalisch-technische Begriffe ein wesentlicher Aspekt unserer Erfahrung der Musik verlorengehen müsse. Sie können darum keine Metaphern sein: Möglicherweise waren sie einmal solche; für uns aber müssen sie als sekundär-wörtliche Verwendungen von Ausdruckswörtern gelten, die sich auf faktisch vorliegende Eigenschaften der Musik richten. (Vgl. Davies 1994, S. 165.) Die Ausdruckseigenschaften zählen – so müssen wir Davies interpretieren – zum Schematismus und sind objektiv durch kompetente Hörer identifizierbar. Jedoch führt ihn dies (vgl. j.2.) zu der These, daß »fröhlich« und »traurig« die einzigen solchen Eigenschaften sein können, die in der Musik vorliegen, und daß die Bestimmung dieser allgemeinsten Eindrücke durch detailliertere Ausdruckswörter wiederum auf die Qualifikation von »traurig« und »fröhlich« entweder durch musikalischtechnisch zu definierende Eigenschaften oder durch seiner Ansicht nach ebenfalls sekundär-wörtlich verwendete Adjektive für Bewegungs- und Klangfarbeneigenschaften (»dark«, »dragging«, »metallic« usw.) zurückgeführt werden müsse. Auf alle Fälle bezögen wir uns direkt auf »literal properties« (ebd.). Dies müsse auch für jene Begriffe gelten, die vorhin als sekundäre Schematisierungen bezeichnet wurden. Sie gehen zwar auf die metaphorische Beschreibung eines einigermaßen standardisierten Nachvollzuges zurück, aber die Metaphorizität sei für uns abgestorben und damit nicht mehr von Bedeutung, denn diese Begriffe sagten uns nunmehr wörtlich, was in der Musik da ist. Drittens möchte Davies mit seiner These jenen Autoren begegnen, die der Meinung sind, es gebe eine unverzichtbare und unvertretbare Metaphorizität des Sprechens über ästhetische Gegenstände und Erfahrungen, die daran liege, daß es in ihnen etwas gibt, das wir nicht wörtlich bezeichnen können, weil uns die wörtlichen Wortbedeutungen dafür fehlen. Davies versteht dies so, daß mit diesem »etwas« Eigenschaften gemeint sind, die aufgrund ihrer ›Feinkörnigkeit‹ nicht begrifflich erfaßt werden können, obgleich sie in der Wahrnehmung und im Erlebnis bemerkbar sind. Dagegen wendet er ein: »language is chock-full of terms for experiences and their description«, und es liege nur an uns, die richtigen Wörter herauszusuchen (ebd., S. 158 f.). Halten wir diese Wörter aber immer noch für zu grob, so lenkt Davies die Debatte darauf, zu fragen: Warum sollte man das ›Feinkörnige‹ überhaupt aussagen wollen? Nur weil es als unaussprechbarer Aspekt im Erleben oder in der Wahrnehmung des Klanges (oder anderer Medien der Kunst) erscheint, heißt das noch lange 307 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wege der schematischen Repräsentation

nicht, daß es auch wichtig wäre. Wenn wir nicht wörtlich darüber sprechen können, sollten wir uns damit begnügen, jene Eigenschaften als bloße Details oder Zusätze zu dem zu betrachten, wofür wir bereits Begriffe haben. (Vgl. ebd., S. 161 f.) Die oben angesprochene Spannung zwischen der einheitlichen Bestimmtheit des Schemas und dem in ihm zusammengefaßten Sinngehalt wird damit für unerheblich erklärt; wichtig ist nur das Verallgemeinerbare und Aussagbare. Die Auffassung, das ›Unaussprechliche‹ sei ein Detail am Aussagbaren, das selbst wiederum den Stufen des symbolischen und schematischen Sinnes angehört, erschien bereits in Kap. k. und wurde mit einer Erläuterung des Begriffes des thematischen Sinnes beantwortet. In dieser Erläuterung steckte ein Gedanke, der mit Davies’ Thesen über das Sprechen nicht erfaßt werden kann. Bei Davies geht es darum, daß Gegenstände und Eigenschaften vorliegen, die wir entweder wörtlich beschreiben können oder nicht; im letzteren Fall handelt es sich um Details an etwas, das wir als Ganzes bestimmen können. Den thematischen Sinn zu erfassen liegt aber über diese Alternative hinaus: Ihn beschreiben wir nicht, indem wir Eigenschaften beschreiben, sondern wir erfahren ihn nachvollziehend und deuten ihn vom Nachvollzug aus. Mit der Deutung erschließen wir ihn. Dies ist etwas anderes, als eine vorliegende Eigenschaft zu beschreiben. Die ›Feinkörnigkeit‹, die wirklich interessant ist, liegt nicht in den Sinnesdaten, sondern in den Sinngehalten, die in den sinnlichen Stoff gebunden sein können und den Nachvollzug mehr oder weniger herausfordern. Davies hat an dieser Unterscheidung zwischen deutender und im engeren Sinne beschreibender Repräsentation wenig Interesse. Ohne sie muß – wie es sich bei Davies ja zeigt – der Wert der Metapher in ästhetischer Rede fragwürdig bleiben. Die ästhetische Rede wird dabei selbst so verstanden, als sei sie die Wiedergabe von Beobachtungen, die jemand an einem Objekt macht. Mittels einer Beobachtung die wahrnehmbaren Eigenschaften der Musik feststellen und unter allgemeine Begriffe bringen zu wollen ist jedoch etwas anderes, als den offenen Sinn nachzuvollziehen, der in der wahrnehmbaren Gestalt aufscheint, denn dieser Sinn ist gerade aufgrund seiner Offenheit nicht durch die beschreibende Sprache eindeutig festzulegen, sondern fordert eine Vertretung in Nachvollzügen und Beschreibungen, die ihn jeweils auf andere Weise treffen und jeweils andere Aspekte an ihm zum Vorschein bringen. Dieser Forderung kann keine

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Thematische Zeit und ihre Schematisierung

Sprachtheorie genügen, die als Grund allen Sprechens eine beschreibende und damit festgestellte Repräsentation annimmt.

n.5. Thematische Zeit und ihre Schematisierung Von der eben wiedergegebenen Metapherntheorie möchte ich mich in mehreren Hinsichten abgrenzen. Erstens hat sie keinen Begriff thematischen Sinnes. Ihn deutend zu repräsentieren ist eine Funktion der Sprache, die in jener Theorie also keinen Platz hat. Zweitens bezieht sie Wörter direkt auf Dinge und Sachverhalte und kann darum die Sprache unter die Norm stellen, daß der Wortgebrauch das Ding selbst träfe. Sie verzichtet darauf, über Sinn unterschiedlicher Arten und daran anschließend über Repräsentationen unterschiedlicher Arten nachzudenken. Der ›Sinn‹, um den es ihr geht, ist die Identität und die Identifikation eines Dinges. Damit kann sie drittens nicht an die zuvor gestellte Frage nach dem Status musiktheoretischen Sprechens herantreten. Die Frage ist, wie es zugeht, wenn Schemata, die wir bereits mitbringen, einen Zusammenhang zwischen den schematischen Elementen der Musik stiften. In ihrer Perspektive sieht es so aus, daß ein Schema entweder auf das Ding Musik paßt oder nicht; wenn nicht, ist ein anderes Schema zu ergreifen. In unserer Perspektive ergibt die Beziehung des Schemas auf die Musik den Zusammenhang einer schematischen Repräsentation, deren Herstellung gerade erläutert werden soll. In dieser Beziehung ist das mitgebrachte Schema nicht eine Schablone, in die wir die Musik einfach hineinfallen lassen, sondern eine Anleitung zu einer bestimmten Form von Repräsentation. Insofern es Anleitung ist, ist es weniger beschreibend (im engeren Sinne) als deutend, und zwar auch in dem Sinne, daß es hindeutet, das heißt, die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung lenkt. Es greift der Repräsentation vor, indem es vorschlägt, auf bestimmte Aspekte des zu Repräsentierenden aufmerksam zu sein, andere dagegen auszublenden. Versteht man es auf objektivistische Weise falsch, dann meint man, daß der schematische Vorgriff einen normativen, wesensenthüllenden Gehalt habe, der es erlaube, das Unwesentliche abzutrennen, indem er jene Momente des Hörens verschwinden läßt, die nicht in seinem Schematismus aufgehen. Eine Redeweise, die suggeriert, daß es im musikalischen Hören darum gehe, sich von Schemata auf diese Weise anleiten zu lassen, 309 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wege der schematischen Repräsentation

benutzt die Vorstellungen des Vordergrundes und Hintergrundes bzw. der Oberfläche und der Tiefenschicht. Mit diesen Vorstellungen arbeitet wesentlich die Schenkersche Tradition. Für sie sind Vordergrund bzw. Oberfläche der Musik etwas, durch das man hindurchhören muß, wie in e.1. an einigen Aussagen Salzers deutlich wurde. Pointiert formuliert Martin Kaltenecker (2007, S. 207): »Der mit Röntgenstrahlen ausgestattete Analytiker bringt also einen idealen Kern zum Vorschein, indem er sich von der ›überschätzten‹ Erscheinung des Werks hier und jetzt abwendet: Dieser seherhafte Platonismus mündet aber zugleich in eine ›Furie des Verschwindens‹ ein, denn was zurückbleibt [,] ist eine abstrakte Formel […]«.

Die Spannung zwischen dem unsinnlichen Schema und den Oberflächenmomenten, die es als Tiefenschicht oder Hintergrund begründet, wird auch hier aufgelöst, indem das Vordergründige, Sinnliche, das das Schematisieren als unidentifiziert übrigläßt, unter den Tisch fällt. Dieses »Verschwinden des Vordergrundes« ist seit geraumer Zeit das Thema einer kritischen Diskussion in der Musikwissenschaft. Eine Überlegung, wie man sich in der Erkundung des Vordergrundes von mitgebrachten Schemata leiten lassen kann, ohne dabei nur noch das vom Schema Gewiesene zu bemerken und den Vordergrund damit verschwinden zu lassen, hilft dabei, das Problem der Spannung zwischen dem Schema und dem Schematisierten weiter zu klären. Wenn wir zunächst fragen, welche Züge des Vordergrundes es sind, deren Verschwinden in einer umfangreichen Diskussion vor allem über die Musikanalyse beklagt wird, so finden wir ein buntes Panorama: Klang und Affektion, die zeitliche Verfaßtheit der Musik in der Aufführung und im hörenden Erleben, die historischen und kulturellen Hintergründe eines Musikwerks und damit symbolische Momente und der Aspekt des Stils, und davon abhängig der Aspekt der Innovation und der Eigentümlichkeit des einzelnen Werkes. Von all diesen Zügen kann man behaupten, daß sie eben nicht als akzidentell ›durchschaut‹ werden sollen, sondern wesentliche Bedeutung haben. 16 Hier Ganz allgemein gibt diesen Hinweis zum Beispiel Adorno: Was der »Theorie, Musik auf allgemeinste Strukturen zu reduzieren, als Akzidens, als bloß Hinzugefügtes erscheint, das ist in gewissem Sinn in der Musik überhaupt das Wesen. Wenn Sie etwa […] nach dem Unterschied des Stils von Mozart und Haydn suchen, dann werden Sie diesen Unterschied nicht in großen Stilmodellen […] zu finden haben […], sondern Sie werden dabei auf entscheidende kleine Züge[,] der Themenbildung etwa[,] zu rekurrieren haben« (Adorno 2001b, S. 76 f.). Lawrence Kramer nennt solche Züge treffend »signifying surfaces« (Kramer 1992, S. 5).

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Thematische Zeit und ihre Schematisierung

sollen sie nicht allesamt besprochen werden; teils haben sie mit anderen Ausgangsmomenten musikalischen Sinnes zu tun, von denen weiter oben die Rede war. Konzentrieren wir uns auf das Problem der zeitlichen Verfassung des Vordergrundes. Sie ist dann ein Problem, wenn sie thematisch bestimmte Zeit ist – nicht also die zählbare Zeit, sondern die Zeit der Bewegung der Musik, die wir nachvollziehend auffassen. Dieses Problem stellt sich häufig so dar, daß einem analytischen Verfahren, das die Musik auf Begriffe zu bringen sucht, leicht das Handwerkszeug fehlt, um mit der thematischen Zeit umzugehen. Es fehlt ihm, wie verschiedentlich gesagt wird, an Prozeßkategorien, die die hörend erlebten zeitlichen Aspekte der Musik angemessen repräsentieren können. Diese Aspekte verschwinden in der Analyse der musikalischen Form, wenn die Analyse sich mit bewährten Schemata von der Art der Rückführung auf einen Hintergrund oder der netzartigen Verknüpfung begnügt, weil der Entwurf neuer Schemata zu unsicher und zu wenig orientierend erscheint. 17 Jene Prozeßkategorien wären dagegen neu zu entwerfende sekundäre Schematisierungen. Soll der Entwurf schematischer oder sprachlicher Repräsentationen das thematische Moment treffen, so ist gefordert, daß jene Repräsentationen von diesem ausgehend erst erzeugt werden, weil es wesentliche Aspekte des Thematischen sind, performativ bzw. produktiv und prozessual zu sein. Thematischer Sinn ist nur in einem Ablauf, und zwar so, daß er in diesem Ablauf seine Äußerung produziert und nur im Ablauf der Produktion der Äußerung seinen Gehalt entwickelt. Ansonsten tritt der Fall ein, daß die Schematisierung von ihren eigenen Vorannahmen ausgehend die Offenheit des Thematischen reduziert; das geläufige Schema bringt das Thematische unter seinen Begriff. Wenn hingegen das im Vordergrund erscheinende Thematische die Repräsentation bestimmen soll, müssen wir Vgl. zu diesem ungleichen Verhältnis zwischen den auf die grundsätzlich schematischen, im Text erfaßbaren Momente aufbauenden Begriffen der Harmonielehre, der Beschreibung melodischer Verläufe, der Formenlehre usw., um deren Systematik und Präzision andere Kunstwissenschaften die musikalische Analyse beneideten, und den systematisch nicht recht erfaßten prozessualen Momenten, die dem Nachvollzug entspringen, z. B. Kerman 1980, S. 321; Dahlhaus 1984, S. 75 f.; Gruber 1994, S. 33–46; Redmann 2002, S. 30 f.; Fuss 2005, S. 21 f.; Kaltenecker 2007, S. 197. Diese Autoren legen nahe, daß es das Prestige der Präzision der technisch-schematischen Begriffe ist, das daran hindert, sich den subjekt- und erlebnisbasierten Aspekten zuzuwenden, da der schematische Umgang bereits genug zu tun erlaubt und befriedigende, deutliche Resultate verspricht.

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Wege der schematischen Repräsentation

den Entwurf von Prozeßkategorien so denken, daß in jedem Nachvollzug des Thematischen und damit in jedem in den Nachvollzug aufgenommenen Oberflächen- und Verlaufsmoment der Musik ein eigentümlicher Ursprung für die begriffliche Repräsentation der Musik liegt, so daß die begriffliche Repräsentation an der Produktivität des thematischen Sinnes teilhat. Das heißt freilich nicht, daß es darum geht, in jedem Fall ein noch ungehörtes Wort zu erfinden; aber es heißt, daß der Gebrauch jeden Begriffes seinen Sinn für die Repräsentation des Thematischen nur daraus ziehen kann, daß von jenem Gebrauch anerkannt wird, daß er im Nachvollzug des Thematischen seinen Ursprung haben bzw. produziert werden konnte. Diese Anerkennung setzt wiederum voraus, daß der betreffende Begriff mit thematischem Sinn verknüpfbar ist, und damit, daß er selbst unter einem thematischen Aspekt verstanden wird: unter dem Aspekt also, am Prozeß der Produktion von Sinn teilzuhaben. Dies ist dann möglich, wenn der Begriff, aus dem man beispielsweise eine neue Prozeßkategorie bildet, nicht (allein) so verstanden wird, daß er seine Bedeutung durch ein Weglassen nach einem Prinzip bestimmt, sondern auch so, daß er seine Bedeutung zum Zweck der Deutung des Thematischen durch eine Erweiterung im Vergleich zum Vereinfachten und Schematisierten gewinnt. Dann ist der Begriff so verstanden, daß er eine Orientierung für den thematischen Nachvollzug gibt und diese Orientierung mit dem Nachvollzug in einer Wechselwirkung steht: Je nachdem, wie der Nachvollzug weiter verläuft, variiert das Bedeutungsspektrum des orientierenden und deutenden Begriffes. Unter dieser Bedingung bleibt die Spannung zwischen dem Schema und dem Schematisierten bestehen, anstatt einseitig aufgelöst zu werden. Für den beklagten Mangel an Prozeßkategorien bedeutet das, daß es nicht einfach darum geht, weitere sekundäre Schematisierungen zu prägen, sondern darum, den Ursprung dieser Kategorien im Blick zu behalten. Kategorien, die thematischen Sinn einfangen sollen, erfüllen diese Funktion nur, wenn sie mit einer methodischen Überlegung über ihr Zustandekommen einhergehen, die daran erinnert, daß es sich dabei nicht um die Anwendung eines irgendwann fertigen Handwerkszeuges handelt, sondern um eine Reflexion zu dessen Verfertigung im Gebrauch. Nun zeigt sich deutlicher, worin die Problematik der zeitlichen Verfaßtheit des Vordergrundes für die Schematisierung liegt: nicht 312 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wandelbares schematisches Verstehen

nur darin, daß zu ihrer Erfassung die Begriffe fehlen oder zu unscharf sind, sondern darin, daß die zeitliche Verfaßtheit thematischen Sinnes den Akt und Prozeß der Repräsentation selbst mitbestimmt. Das heißt, daß die Schematisierung selbst als offener Prozeß begriffen werden muß, wenn die Spannung zu dem in ihr Zusammengefaßten nicht zusammenklappen soll. Die Nachsilben »-isierung« müssen mit terminologischem Gewicht gelesen werden: Schematisierung macht schematisch, was es zuvor nicht war; sie ist damit nicht nur die Anwendung von Schemata, sondern die Überführung des Noch-nichtSchematischen auf die Ebene des Schemas – nicht jedoch als Selbstzweck, sondern um die gewonnenen Schemata wieder als Anleitung für das verstehende Wahrnehmen der thematischen Verläufe gebrauchen zu können.

n.6. Wandelbares schematisches Verstehen: Die Zeit als Substanz des schematischen Zusammenhangs der Musik Viel von dem Vorangegangenen hat sich mit der Repräsentation thematischen Sinnes befaßt. Zusammen mit dessen Erläuterung als ein Sinngehalt, der einen verhaltensartigen, leiblichen Nachvollzug anspricht, kann es also scheinen, als liege das Problem der Schematisierung hauptsächlich in ihrer Spannung zu den elementar thematischen, bewegungshaften Momenten der Musik. Das ist aber nicht alles. Das Ausgangsproblem hatte es grundsätzlich mit der Stiftung eines Zusammenhanges zwischen musikalischen Elementen zu tun. Diesen Zusammenhang gibt uns einerseits das Hören in der Schicht thematischen Sinnes, indem wir die Musik als Verlauf einer Bewegung aufnehmen. Andererseits hängt die genauere Klärung der Frage noch in der Luft, was es bedeutet, wenn dieser Zusammenhang im Licht sekundärer Schematisierungen aufgefaßt wird, die als musiktheoretische Formkategorien gängig sind: als diejenigen Kategorien, die uns am Ende den Überblick über ein Netz von Zusammenhängen verschaffen. Ich habe angedeutet, daß sie als sekundäre Schematisierungen nicht die gleiche Funktion der Identifikation erfüllen können wie Begriffe, die sich auf primär Schematisches richten, und erklärt, daß dies durch ihren Ursprung in Nicht-Schematischem bedingt ist. Dieses identifizieren sie nicht abschließend, 313 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wege der schematischen Repräsentation

sondern sie deuten ihren Gegenstand in einer bestimmten Hinsicht und leiten damit das Hören. Genauer ansehen müssen wir nun, was geschieht, wenn wir uns in der Schicht des bereits (sekundär) Schematisierten in der Musik bewegen und in ihr Überblick und Zusammenhang gewinnen. Der Mangel an Prozeßkategorien, der in der Musikwissenschaft mancherorts beklagt wird, betrifft nicht nur die im Vordergrund erscheinenden Aspekte der Bewegung oder der stofflich bedingten Zeitlichkeit des Klanges. Um das jetzt zu untersuchende Problem genauer zu formulieren, sind einige Bemerkungen von Carl Dahlhaus hilfreich. Er schreibt von einem Mangel »an Kategorien […], die den Prozeß der musikalischen Formwahrnehmung – samt den ästhetisch durchaus relevanten Veränderungen, denen manchmal das Urteil über den Formsinn ein und desselben Teils im Verlauf des Satzes unterworfen ist – der Analyse zugänglich machen.« (Dahlhaus 1984, S. 75 f.)

Damit sind nicht Kategorien für Bewegungsverläufe, sondern Kategorien des Prozesses der schematisierenden Repräsentation selbst gemeint. Dieser Prozeß umfaßt das Linienziehen, das Gruppenbilden, die fortlaufende Bestimmung und Vernetzung der Elemente eines Stückes usw., die das aufmerksame, auf die Form eines Werkes gerichtete Hören mit ausmachen. Am Ende geht es darum, daß das verräumlichende Schema selbst mit dem Prozeß seiner Bildung im Hören Umbildungen erfährt. Diese Umbildungen treten nicht als solche ins Bewußtsein, wenn man das Musikverstehen beim Lesen der Noten anfangen läßt, die ja den Eindruck erwecken, sie legten das gesamte Stück auf einen Schlag vor Augen; und sie sind schon wieder aus dem Bewußtsein getreten, wenn man den Feldherrnhügel der Schematisierung vollends erklommen hat. Dieser Feldherrnhügel war ja in den Großtheorien nach Reti oder Schenker vorausgesetzt; ihnen gegenüber ist Dahlhaus’ Vorwurf, daß sie dasjenige nicht bedenken, was vorausgesetzt ist, um seinen Gipfel zu erreichen. Der Weg zu seiner Höhe ist nun das Thema. Dahlhaus bezieht sich auf Phänomene von der Art, daß es im Verlauf des Hörens vorkommt, daß man ein Motiv oder eine Harmoniefolge beispielsweise als einleitende Floskel aufnimmt, von der sich im Verlauf des Stückes zeigt, daß aus den Elementen dieser Floskel weitere Motive entwickelt werden, die wichtige thematische Funktionen erfüllen. Man hat dann bemerkt, daß jener Floskel formal größe314 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wandelbares schematisches Verstehen

re Bedeutung zukommt als die einer bloßen Einleitung: Sie ist im Hören umgedeutet worden. Umdeutung ist eine Prozeßkategorie, die voraussetzt, daß das umgedeutete Element zuerst auf die eine, später und im Rückblick auf die andere Weise repräsentiert wird; darauf also, daß sein schematischer Sinn variabel ist. 18 Eine solche Prozeßkategorie hat keine sinnvolle Verwendung, wenn man die Musik quasi-simultan vor sich auslegt und die im Rückblick gewonnene Bedeutung von vornherein in die einleitende Floskel hineinlegt: Sie scheint dann nie nur eine solche Floskel gewesen zu sein, sondern immer schon die Bedeutung einer Keimzelle zu tragen. Zur musikalischen Erfahrung gehört es aber, daß diese Bedeutung nicht von Anfang an da ist, sondern sich erst im Verlauf des Hörens zeigt. Dies ist nicht die Korrektur eines Irrtums, so daß das spätere Verständnis das frühere ungültig machen würde. Die Erfahrung ist vielmehr so zu beschreiben, daß ihr Sinn in der Wandlung des Verständnisses liegt. Die Prozessualität des schematischen Verstehens der Formmomente erweist sich als Prozeß des Aufkommens von Sinn. Dies ist ein weiterer und essentieller Aspekt der Gebundenheit musikalischen Sinnes in die Zeit. Es geht nicht mehr nur um die Zeitlichkeit der thematisch geformten Bewegung und ihres leiblich basierten Nachvollzuges. In die Zeit gebunden ist das Verstehen insgesamt, selbst wenn in ihm das schematische Moment vorrangig ist. Zu diesem Moment zählt das Identifizieren. Unter der Bedingung zeitlicher Bindung ist die Identität des jeweils Repräsentierten flüssig. Diese FlüsChristian Grüny, dessen Exposition der Spannung zwischen verräumlichender Zusammenfassung und dem Eigengewicht einzelner Passagen wir oben kurz gefolgt sind, entwickelt diese Spannung mit Hilfe einer alternativen Husserl-Lektüre auf eine Weise weiter, die dem Problem der Umdeutung Rechnung trägt. Er schreibt, daß man nicht von einzelnen feststehenden Elementen ausgehen dürfe, die in ihrer je eigenen Gegenwart an uns vorbeiziehen und währenddessen in ein Schema integriert werden, sondern daß die Identifikation dieser Elemente selbst durch Umdeutung wesentlich geprägt beziehungsweise stets im »Übergang« begriffen ist: Ein umgedeutetes Element erscheint im Moment der begriffenen Umdeutung als »eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war.« (Grüny 2013, S. 52) Dies gilt ihm als wesentliche Bestimmung des Phänomenbereiches, der sich in der Kunst bzw. im Ästhetischen auf paradigmatische Weise zeigt: »Es ist das Prinzip des verstetigten Übergangs, das den Ursprung des Ästhetischen darstellt, nicht das Verhältnis vorweg bestimmter Seiten, Aspekte, Dimensionen oder gar Entitäten« (ebd., S. 53 f.). Grüny bezieht sich in den zitierten Passagen häufig auf Bilder; die Gedanken, die er für die Erfahrung der Bildlichkeit in Anschlag bringt, sind jedoch nicht zuletzt aus einer Auseinandersetzung mit der Musik gewonnen.

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Wege der schematischen Repräsentation

sigkeit der Schematisierung liegt darin, daß sie zusammenfaßt und daß sie die Wahrnehmung in ihrem Verlauf leitet. Indem sie leitet, greift sie in der Zeit vor und behauptet eine bestimmte Möglichkeit des Anschlusses der kommenden Momente. Indem sie zusammenfaßt, greift sie zurück. Beide zeitliche Richtungen der Schematisierung finden aber zugleich statt, und darin liegt die Möglichkeit der Umdeutung. Das Zurückliegende hat seinen Sinn auch darin, daß etwas Weiteres an es anschließt; je nachdem, was tatsächlich eintritt, wird dieser Sinn auf verschiedene Weisen abgeschlossen, differenziert oder mit einem Widerspruch konfrontiert. Das Spektrum der Schemata, die hier als Anleitung in Frage kommen und die ihren Sinn nach und nach enthüllen oder umbilden, ist weit; zu nennen wären etwa Einleitung, Vorbereitung, Entwicklung, Überleitung, die Zugehörigkeit eines Elementes zu einem Thema oder mehreren Themen (nun im gängigen musiktheoretischen Sinn), Abschluß, aber auch die Suspension des musikalischen Fortgangs usw. Eine wichtige und vielversprechende Ausarbeitung eines analytischen Umganges mit Musik, der den Sinn musikalischer Abschnitte auch daran knüpft, welche Stelle sie in der Zeit des Werkes innehaben und wie genau sie mit früheren und folgenden Momenten verbunden sind, heißt narratologisch. Das Verfahren mit musikalischen Schemata und Kompositionstechniken wird unter diesem Gesichtspunkt so verstanden: »Die […] Beschreibung der Verwandlungen des thematischen Kerns im Ablauf der Sonate ist jedoch mehr als nur Beleg innerer Geschlossenheit, sie erzählt vielmehr eine ›Geschichte‹ des thematischen Kerns« (Sichardt 2012, S. 43).

Als Geschichte zeigt sich die Musik nicht als Ausbreitung eines Netzes, sondern als ein Ablauf, dessen Zeitstellen Querbeziehungen aufweisen, die man so beschreiben kann, daß ein bestimmtes Motiv oder Thema nicht nur wiederkehrt oder variiert wird, sondern daß es im Rückgriff oder Rückblick 19 , in einer Andeutung oder Anspielung, im Vorgriff usw. erscheint. Anders gesagt: Wir repräsentieren die Musik so, daß sie in der Gegenwart ihres Verlaufes über Zeitmodi verfügt – gewissermaßen über Präsens, Präteritum und Futur. Damit gewinnen wir eine weitere Vertiefung einer Redeweise, die bereits mehrfach in Anspruch genommen wurde und mit der auch Insbesondere hierzu s. die ausführliche Untersuchung Martina Sichardts (2012, S. 69–116).

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Einheit als Schema und als Problem

Dahlhaus umgeht: daß nämlich die Zeit für die Musik »Substanz« ist und nicht nur »Medium« (Dahlhaus 1984, S. 101). Substanz ist die Zeit hier, weil sie die Verweisungen und Zusammenhänge, die durch die Zeit hindurch – als Erwartungen, Erfüllungen, Umdeutungen – zeigen, selbst mitformt. Substanz ist die Zeit dagegen nicht, wenn man denkt: »Der Prozeß – samt den skizzierten Bedeutungsänderungen und -überlagerungen einzelner Teile – ist […] nicht selbst die Form, sondern lediglich der Weg, der zu ihrer ›Anschauung‹ vom Ende her führt, als wäre sie ein ruhendes Gebilde, das sich zwar in der Zeit zeigt und zeigen muß, aber in seinem eigentlichen Wesen, das die Analyse und Formenlehre zugrunde legen muß, außerhalb der Zeit existiert.« (ebd.)

n.7. Einheit als Schema und als Problem Wenn es zum Sinn der Erfahrung von Musik gehört, daß die Momente ihres Verlaufes in ihrem schematischen Sinn umdeutbar sind, so hat dies Auswirkungen nicht nur auf die lokale schematische Bestimmung, sondern auch auf den so häufig beanspruchten Begriff der Einheit oder Ganzheit eines Kunstwerkes. Diese Diskussion hat hier mit einer Einheit begonnen, die sich dem Überblick vom Feldherrnhügel zeigt und voraussetzt, daß wir bestimmte zusammenhangsbildende Schemata besitzen. Es hat sich nun gezeigt, daß musikalischer Sinn, der in der Zeit erfahren wird, davon lebt, daß die Schematisierung variabel ist. Das Über-Schema, das jene Großtheorien voraussetzen, ist der Begriff der Einheit. Er soll die einzelnen Momente der Schematisierung sowohl zusammenfassen als auch anleiten. An diesem Über-Schema können wir, gerade wenn wir es auch musikwissenschaftsgeschichtlich verorten, noch einmal klar sehen, wie der Zusammenhang musikalischen Sinnes mißverstanden werden kann und wie er dagegen zu begreifen ist. Carl Dahlhaus erklärt zum Begriff der Ganzheit, daß er im Feld der Kunst zunächst – im späten 18. Jahrhundert – als Problemstellung oder gar als Paradox gebraucht worden sei: als eine Idee, von der man meinte, das ästhetisch Gelungene müsse ihr genügen, ohne daß aber gezeigt oder gelehrt werden könne, was genau für dieses Gelingen bürge. Der problematische und ›vorgreifende‹ Status des Begriffs der Ganzheit sei aber im Laufe des 19. Jahrhunderts aus der Aufmerksamkeit verschwunden, und 317 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Wege der schematischen Repräsentation

»die Idee der lückenlosen Geschlossenheit [verflachte] […] allmählich zu einem Gemeinplatz, dessen ästhetische Implikationen man vernachlässigte, um sich ausschließlich auf den Versuch zu konzentrieren, Analysemethoden zu entwickeln, die am Notentext den Sachverhalt demonstrieren sollten: einen Sachverhalt, den man als gegeben ansah, so daß nichts zu tun blieb, als das Vorausgesetzte empirisch sinnfällig zu machen.« (Dahlhaus 1984, S. 78)

Behauptet man Ganzheit als objektiven »Sachverhalt«, so liegt es nahe, Methoden des empirischen Nachweises zu entwickeln, denn man meint nun, Ganzheit sei als ein Schema zu verstehen, das primär schematisch gegebene Daten übergreife. Unterstellt man der Ganzheit den Status des vorrangigen methodischen Prinzips für empirische Analysen des musikalischen Textes, so ist es kaum zu vermeiden, daß sich die Berechtigung der einzelnen methodischen Schritte an ihrer Ausrichtung auf das übergreifende Prinzip mißt und damit zirkulär wird. Ganzheit oder Einheit ist nun nicht mehr Idee, sondern nur noch Schema: Vorschrift des Weglassens. Dahlhaus argumentiert dagegen, daß die ›monistischen‹ Modelle der Analyse stets nur lokale Gültigkeit beanspruchen könnten, da musikalische Werke zumeist in Bezug auf eine bestimmte Methode »›exterritoriale‹ Strecken« aufwiesen (ebd., S. 79): Eine Analyse, die – wie bei Reti – die Ganzheit eines Werkes als Einheit einer motivischen »Substanz« erklärt, müsse Stellen verleugnen, die ›unthematisch‹ sind, eine Analyse, die die Ganzheit im ›Linienzug‹ eines ›Ursatzes‹ sieht, solche Stellen, die nicht dem Zug nach vorn angehören, sondern sich statisch-räumlich erstrecken. Verschieden vorgestellte Ideen der Einheit konkurrieren sowohl miteinander als auch mit verschiedenen regionalen und lokalen Zusammenhängen, für deren Einfügung ins ›Ganze‹ die Großschemata keine Orientierung geben. In der musiktheoretischen Diskussion, die das Verschwinden des Vordergrundes in jenen Großschemata beklagt, gibt es eine Antwort auf diesen Sachverhalt der Konkurrenz der möglichen Zusammenhänge, derzufolge Einheit eben nicht als Sachverhalt im Werk, sondern nur als übergestülpte subjektive und ideologische Kategorie gesehen werden kann. Ein sachgerechter Blick auf das Werk müsse sich um dessen Differenzen, Konflikte und Inkonsistenzen kümmern – um seine »disunity« 20 , seine zerklüftete Oberfläche. Vgl. Morgan 2003, S. 7 f. und S. 22–24, für eine kurze Wiedergabe solcher ›postmoderner‹ Projekte.

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Der Bezug zwischen dem Schema und dem Schematisierten

Diese Antwort ist nur eine Antwort, wenn der Begriff der Einheit, dem sie sich entgegensetzt, der objektivistisch und schematisch mißverstandene Begriff der Einheit ist und wenn die einzige Alternative zu ihm die »disunity«, die bloße Mannigfaltigkeit ist. 21 Dies ist aber undifferenziert. Es ist möglich, den Begriff der Einheit anders zu verstehen: nicht als den Blick vom schon erklommenen Feldherrnhügel, sondern als die Reihe der Blicke, die sich nach und nach im Aufstieg präsentieren. Mehr noch: Da dieser Hügel selbst aus Schemata besteht, die wir bereits mitgebracht haben, diese Schemata sich aber im Blick auf die Gegenstände, die sie repräsentieren sollen, differenzieren und erweitern, ist er eine Wanderdüne. Die Einheit und Ganzheit, die wir von dort zu sehen bekommen, muß als problematische Einheit verstanden werden. Problematisch ist sie, weil sie die Einheit des performativen Prozesses ihrer eigenen Bildung ist. Dies gilt überhaupt für den Begriff der wahrnehmbaren und der denkbaren Form der Musik, denn sie sind Formen, deren Momente nur durch ihren Bezug auf den deutenden, ordnenden und seinen Standpunkt verändernden Blick das sind, was sie sind.

n.8. Der Bezug zwischen dem Schema und dem Schematisierten: Zusammenfassung, Folgerungen und Anschlußfragen Wenn die Einheit des Werkes und auch die kleinteiligeren Zusammenhänge, die wir im Hören mit der Anleitung durch musiktheoretische Schemata erfassen, problematisch bleiben, so bleibt auch die Spannung zwischen dem Schema und dem Schematisierten, zwischen Tiefenschicht und Oberfläche, zwischen Hinter- und Vordergrund erhalten. Oberfläche und Vordergrund verschwinden nicht zugunsten des Überblicks. Daß sie nicht verschwinden, soll nicht so verstanden werden, daß sie sich als bloße Oberfläche und unbegriffenes Einzelnes ausbreiten. Diese Konsequenz würde die bloße Rede von Oberfläche und Vordergrund nahelegen, die mehr oder weniger implizit unterstellt, daß es sich dabei um Akzidentelles, zu Durchschauendes, für sich Sinnloses handele. Es wäre vorausgesetzt, daß man den Gebrauch bekannter Morgan (2003, S. 43) sagt hierzu: Wenn wir Mannigfaltigkeit und Vieldeutigkeit ansprechen wollen, sollten wir diese nicht als »disunity« abstrakt negativ beschreiben, sondern als »complexity« qualifizieren.

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Wege der schematischen Repräsentation

Schemata zur Ordnung des musikalischen Verlaufes so versteht, daß man vorausgesetzte Prinzipien des Weglassens und Vereinfachens auf den Verlauf anwendet. Dieser Gebrauch ergibt zweierlei: Er ergibt erstens auf tautologische Weise das Schema, das man schon mitgebracht hat, beispielsweise eine bestimmte regelmäßige Phrasengliederung oder eine Urlinie. Mit dem Schema schneidet man sich die Musik zurecht. Zweitens ergibt er unzugeordnete und unverstandene Reste. Diese haben im Verhältnis zu der Allgemeinheit des Schemas den logischen Status des bloß Einzelnen, solang ihre Einzelheit nicht wiederum von der Schematisierung zurechtgeschnitten wird: In der Oberfläche fällt eine Stelle auf und erscheint eigenartig, aber diese Eigenart wird wieder aufgelöst und nur noch nach jenen Aspekten betrachtet, die es mit den sonstigen Strukturen des Stückes oder vieler Stücke verbinden könnten. Diesen Vorwurf macht Joseph Kerman (1980, S. 325 f.): Es mag Stellen in einem Stück geben, die auffallen, indem sie vom zu erwartenden Ablauf abweichen oder ihn abbrechen. In ihnen liege »the fragile artistic content«. Der Analyst – die Schenker-Schule ist hier Kermans Feindbild – gibt dagegen vor, gerade das, was auffällt, als unwesentlich zu entlarven und von der sinnlichen Oberfläche in die geistigen Tiefen zu tauchen; »a sort of grim pleasure from pretending not even to notice certain blatant foreground details in the music he was analyzing.« Gerade dieser Zerfall in etwas abstrakt Allgemeines einerseits und in unzugeordnete, unverstandene Reste andererseits soll nicht geschehen, wenn die geforderte Spannung ernstgenommen wird. Oberfläche und Vordergrund sind stattdessen als das Besondere zu verstehen. Das bedeutet, daß der Sinn der Schematisierung nicht darin aufgeht, daß man durch den Vordergrund hindurch auf den Hintergrund blickt. Er liegt vielmehr darin, daß man bemerkt, daß und wie der Vordergrund auf den Hintergrund bezogen ist. Der Vordergrund erweist sich als Besonderung des allgemeinen Hintergrundes. Man kann dies als Fall einer allgemeinen Operation mit Regelschemata auffassen: Bezieht man ein Einzelnes – hier: ein einzelnes Werk oder ein einzelnes Oberflächenelement – auf das SchematischAllgemeine, so ist dies nicht nur als Subsumtion zu fassen, sondern in allen Fällen, in denen wir es nicht von vornherein mit »durchgängig schematisierbaren« Praktiken wie der Mathematik und der formalen Logik zu tun zu haben, als »eine relevanzlogische Anpassung des Allgemeinen an die Einzelsituation«. Diese Anpassung involviert die ›Besonderung‹ der Regel, so daß sie dem Einzelfall gerecht wird, und 320 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Bezug zwischen dem Schema und dem Schematisierten

zieht »Einschränkungen oder gar partielle Revisionen« des Allgemeinen nach sich (Stekeler-Weithofer 2009, S. 30). In dieser Perspektive bewahrt das, was sonst als bloßer Rest erscheinen würde, ein Sinnpotential. Es ist nicht ein träges Element, das der Schematisierung zu unterwerfen ist und ansonsten aus ihr herausfällt. Für die Schemata, die wir voraussetzen, ist es ein Moment, das in bestimmten Aspekten aus einem Zusammenhang ausbricht, in den es in einer anderen Hinsicht gesetzt werden kann. In den ausbrechenden, noch unschematisierten Aspekten ist es immer noch auf das Schema bezogen. Durch diesen Bezug erlangt es einen Sinn, der im Rahmen der schematischen Repräsentation darin besteht, daß es durch seine Besonderung die allgemeinen Regeln qualifiziert – einerseits im einzelnen Werk, andererseits dann, wenn es in einem einzelnen Werk eine auch strukturell tragende Rolle spielt, aber ungewöhnlich im Vergleich vieler Werke ist. Dementsprechend ist das Schema selbst zu verstehen, wenn es eine Funktion in einem nicht durchgängig schematisierbaren Gegenstandsbereich hat. Diese Funktion liegt nicht ausschließlich im Beschreiben und Identifizieren, denn wie oben im Hinblick auf die begriffliche Repräsentation thematischen Sinnes deutlich wurde, hat es ein Moment der Offenheit, aufgrund dessen es erweiterbar oder revidierbar ist. Nur wenn man dieses Moment berücksichtigt, erhält man einen gehaltvollen Begriff eines Hintergrundes oder einer Tiefenstruktur, die nicht die immergleichen Ziele der Schematisierung sind, sondern Bezugsmomente der sinnhaltigen Differenz, die in der Besonderung besteht. Aus der Perspektive des Schemas kann man diese Differenz so ausdrücken: Ein vorausgesetztes Schema erlaubt unterschiedliche Verwirklichungen. Die Möglichkeit dieser Unterschiede – und nicht das Einebnen der Unterschiede – ist das Sinnpotential der schematischen Repräsentation. 22 Dieses Potential kann nicht allein schematisch ausgeschöpft werden. Wir sind darauf verwiesen, einen Begriff der Repräsentation darDaß (virtuelle) Kontraste der Ursprung sind, aus dem im Bereich des Schematismus und der Struktur musikalischer Sinn entsteht, kann als Grundgedanke vieler semiotischer Analyseansätze behauptet werden, so etwa bei Wilfried Gruhn (1989, S. 115): »die Differenz zwischen der tatsächlichen, kompositorisch definierten Oberflächenstruktur und den möglichen anderen, aus der Tiefenstruktur ableitbaren Oberflächenstrukturen [soll] als deren Bedeutung gelten. Verstehen vollzieht sich dabei im Bezug der wahrgenommenen Gestalten auf mitgedachte, virtuelle Alternativen.« Vgl. auch Nussbaum 2007, S. 112 f.

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Wege der schematischen Repräsentation

zustellen, mit dem die fortlaufenden Prozesse der Besonderung, Integration, Kontrastierung usw. erfaßt werden können, die den Prozeß der schematischen Repräsentation nicht nur zufällig begleiten. Daß eine voraussetzungslose, »immanente« Repräsentation zu wenig führt, hat sich gezeigt. Stattdessen ist vorausgesetzt, daß wir Schemata in die Repräsentation einbringen. Ihr Gebrauch wurde gegen ein nach festen Prinzipien verfahrendes Vereinfachen und gegen ein reines Identifizieren abgegrenzt, indem ich betont habe, daß die Spannung zwischen dem Schematisierten und seiner Schematisierung nicht einseitig aufgelöst werden darf und daß sich ein stets problematischer Zusammenhang von in ihrer ›Identität‹ flüssigen Momenten ergibt. Dies ist eine Erläuterung des Status und der Funktion der Schemata, die besonders auf die Logik des Repräsentationsprozesses gerichtet ist. Mit dieser Logik sind jedoch unterschiedliche Umgänge möglich, so daß die Erläuterung musikalischen Sinnes und seines Verstehens hier noch unterbestimmt ist. Deutlich geworden ist vor allem das prozessuale Moment der Repräsentation, demzufolge das Verstehen musikalischen Sinnes nicht in einem Feststellen liegt, sondern in einem Herstellen von Beziehungen, das die Umgestaltung der allgemeinen Schemata impliziert, die in diese Beziehungen eingebracht werden. Deutlicher werden muß noch das produktive Moment: das Moment der sinnhaften Verknüpfung. Seine Darlegung ist gefordert, wenn wir wirklich verstehen wollen, was es heißt, daß Musik sich in einem Nachvollzugsraum bewegt und daß diese Bestimmung durch die mögliche Anknüpfung eines Verhaltens bedingt ist. In den letzten Abschnitten spielte sich Verknüpfung innerhalb der Grenzen des Gebrauchs von als solchen verstandenen Schemata ab. Damit wurde ein sich stetig verschiebendes und neu verknüpfendes Netz von Schemata betrachtet. Man könnte annehmen, daß die Logik dieser Verschiebungen und Verknüpfungen in sich konsistent konzipiert werden kann. Dies wäre ein strukturalistischer, informations- oder systemtheoretischer Ansatz, der den Umgang eines Subjektes mit musikalischem Sinn in die Konsistenz dieser Vernetzungen auflöst. Der Prozeß des Verhaltens zu etwas und der Repräsentation erscheint hier als geschlossen; nichts tritt von außen zu ihm hinzu, und es wäre auch nicht einsehbar, was dieses Außen sein könnte. Ein anderer Ansatz würde umgekehrt vorgehen und versuchen, nach der Stelle der Vernetzungen und der damit zusammenhängenden Prozesse im Umgang und der Erfahrung eines Subjektes zu fra322 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Bezug zwischen dem Schema und dem Schematisierten

gen; damit wäre vorausgesetzt, daß der Sinn dieses Umganges und dieser Erfahrung nicht in dem Prozeß der Umbildung von Kategorien aufgehen. Der Prozeß des Sinnes hätte seinen Ort in jenen strukturellen Vernetzungen und Umbildungen, ohne aber mit ihm identisch zu sein. 23 Das produktive Moment des Sinnes und der Repräsentation wäre darin zu sehen, daß der Prozeß der musikalischen Repräsentation etwas einbezieht, was zuvor ›außerhalb‹ der Musik und der ihr angemessenen Kategorien und Schemata gestanden zu haben schien. Für beide Ansätze ist die Schlüsselfrage, wie das Subjekt der Repräsentation zu denken ist, das diese produktive Verknüpfung leistet. Um einer Antwort auf diese Schlüsselfrage näherzukommen, greife ich ein weiteres Mal den Begriff des Nachvollzuges auf und stelle ihn explizit ins Licht der Annahme, daß eine Funktion der Wechselwirkung in ihm steckt. Das bedeutet, daß einerseits der zu repräsentierende Gegenstand – die Musik – die Repräsentation bestimmt, indem sie Sinngehalte thematischer, schematischer und symbolischer Art trägt. Daß sie Sinngehalte trägt, bedeutet, daß ihre Repräsentation und Deutung nicht willkürlich verläuft, sondern diese Sinngehalte als ihre Gegenstände hat. Der Gegenstand, auf den die Repräsentation sich bezieht, ist aber nicht so verfaßt, daß er auf eine bestimmte Weise ›erkannt‹ werden könnte. Er erfordert vielmehr, daß die Repräsentation über das hinaus, was man als reinen Gegenstandsbezug fassen könnte, Verknüpfungen leistet, kraft derer der Gegenstand nicht nur gesehen oder gehört, sondern verstanden wird. Hier investiert die Repräsentation Kategorien, Schemata, produktive Leistungen der Deutung usw., und erlaubt es, durch diese Leistungen und Investitionen ein Verständnis von einem bloßen Nachmachen zu unterscheiden. Einem objektivistischen Verständnis würde dieser zweite Aspekt so erscheinen, als ob man sich vom Gegenstand entfernte. Aber der Wechselbezug dieser beiden Momente ist wesentlich. Um der Frage nach dem Subjekt näherzukommen, ist diese Wechselwirkung genauer anzusehen. Dazu greife ich zwei Theorien auf, die den Prozeß der Repräsentation der Musik unter den Titel des Nachvollzuges stellen und dabei auf unterschiedliche Weise die beiden Pole der beschriebenen Wechselwirkung gewichten. Daraus ergeben sich unterschiedliche Ansätze, das Subjekt der Repräsentation zu verstehen. Eine dieser Theorien ist symboltheoretisch und kogni23

Zu dieser Problemstellung vgl. Angehrn 2010, S. 44.

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Wege der schematischen Repräsentation

tionswissenschaftlich gegründet. Charles O. Nussbaum hat sie sehr detailliert ausgearbeitet. 24 Die zweite ist das am Begriff der Erfahrung und des Verstehens ausgerichtete Nachvollzugsmodell, wie es von Alexander Becker und Matthias Vogel entwickelt wird. Beide Richtungen teilen wesentliche Züge mit dem Modell, das ich in dieser Arbeit bisher aufgebaut habe. Wichtig ist aber, daß die Schwierigkeiten, die in ihnen zum Vorschein kommen, darauf hinweisen, wie das Begriffsfeld des Nachvollzuges und des musikalischen Sinnes weiter bereichert werden muß.

Aufgrund dieser Detailliertheit muß die Besprechung sehr selektiv ausfallen. Der dem Nachvollzug entsprechende Terminus ist bei Nussbaum »simulation«.

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o. Das kognitionswissenschaftlich orientierte Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum

Ein Grundgedanke und der Versuch seiner näheren Begründung kennzeichnen Nussbaums Theorie als Nachvollzugsmodell. Dieser Grundgedanke besteht darin, daß das Verstehen von Musik nicht auf das (wahrnehmende oder schlußfolgernde) Erkennen von Eigenschaften oder eventuell von symbolischen Bedeutungen zurückgeführt werden darf, sondern verlangt, daß das Subjekt eine Leistung einbringt, die als Unter-Begriffe-Bringen unzureichend beschrieben wäre und vielmehr in der Kreuzung oder Verknüpfung begrifflicher (oder noch vorbegrifflicher) Felder besteht. Diese Verknüpfung erschließt uns die Musik, und ihr Grund ist in einer leiblich basierten Tätigkeit zu suchen: »musical experience is fundamentally bodily, gestural, and simulational« (Nussbaum 2007, S. 141). Zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen der Tätigkeit der Simulation von Bewegungs- oder Verhaltensabläufen, der musikalischen Form und ihrer Erfahrung steigt er in das Feld hinab, das Kivy zur »black box« und Davies zum Grundgestein, an dem sich der Spaten der Analyse umbiege, erklärt haben, nämlich in das Feld der Grundlagen der Kognition. In Folge dieser Untersuchung kann die Erfahrung der Musik nicht mehr kognitivistisch-objektivistisch beschrieben werden, sondern erzwingt die Ausarbeitung eines Nachvollzugsbegriffes, der ›unterhalb‹ der begrifflichen und gegenständlichen Erkenntnis wirkt und sie bedingt, anstatt diese als begrifflich primär vorauszusetzen. Indem er diese Perspektive einnimmt, widerspricht Nussbaum den meisten etablierten Theorieansätzen der ›analytischen‹ Musikphilosophie. Mit einem vergleichbaren Zug hat bereits Plessner operiert und die ästhesiologische Analyse als Ausgangspunkt der Untersuchung musikalischen Sinnes verwendet. Es ist aufschlußreich, den Theoriekomplex ins Auge zu fassen, der bei Nussbaum die systematisch parallele Stelle einnimmt – die Stelle der Antwort auf die Frage, mittels welcher Qualitäten des Klanges und welcher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten wir die Musik repräsentieren, bevor die Frage angegangen wird, als was wir die Musik repräsentieren. 325 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum

o.1. Erster Schritt: Mentale Modelle auf Grundlage der Motorik Das in Nussbaums Darlegung grundlegende Moment der Repräsentation der Musik ist ihre Ordnung in ein Koordinatensystem (vgl. l.2.), so daß sie wesentlich als »a two-dimensional surface defined by an ordinate of pitch […] and an abscissa of time« erscheinen kann (Nussbaum 2007, S. 31). In diesem Koordinatensystem sind die für den hörenden Nachvollzug wesentlichen Informationen verortet, die damit vor allem die metrische und rhythmische Struktur wie auch tonale Zusammenhänge betreffen (vgl. ebd., S. 341, Anm. 37). 1 Offensichtlich befindet man sich damit auf dem Boden der schematischen Repräsentation der Musik. Nussbaums Vorhaben ist jedoch, zu zeigen, daß die Schematisierung durch Nachvollzug begründet ist und deshalb keine Repräsentation im formalistischen Sinne sein kann, sondern die Musik »as a symbolic system that carries extramusical content« (ebd., S. 1) erweist. Diesen zweiten Schritt betrachten wir im folgenden Abschnitt. Er wird durch einen ersten Schritt im Bereich des Vorbegrifflichen ermöglicht, demzufolge die grundlegenden Momente der Repräsentation der Musik in physiologischen Eigenschaften des Gehörs und vor allem in der Struktur der menschlichen »motor systems« liegen (ebd., S. 21). Auf die letztgenannte Struktur werde ich im folgenden eingehen. Vermittelt durch die Struktur der Motorik repräsentieren wir Musik vorbegrifflich in »mental models« (ebd.). Solche Modelle sind grundsätzlich Schemata, an denen sich die Wahrnehmung von Prozeßverläufen orientiert. Wichtig ist, daß sie sich dem Verlauf entsprechend zugleich fortbilden. Ein Modell ist keine fixierte Beschreibung einer Wahrnehmung oder Erfahrung, sondern die flexible ›Simulation‹ eines Sachverhaltes (vgl. ebd., S. 104). Der Gebrauch und die Bildung mentaler Modelle sind prozessual und wechselwirkend verfaßt. Die »mental models«, die den Nachvollzug der Musik leiten, entsprechen in Nussbaums Theorie formal den prototypischen BeHiermit ist eine wichtige Selbsteinschränkung von Nussbaums Theorie verknüpft. Ihm geht es darum, Repräsentationsvollzüge zu analysieren, wie sie für »the tradition of Western tonal art music since 1650« ›protoypisch‹ seien (Nussbaum 2007, S. 38–40). Prä- und posttonale Musik wie auch solche tonalen Kompositionen, die stark von symbolischen oder programmatischen Gehalten zehren oder weniger in der tonalen Zielgerichtetheit als in klangräumlicher Gestaltung aufgehen, verlangen Beschreibungen der musikalischen Repräsentation, die über Nussbaums Absicht hinausgehen.

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Erster Schritt: Mentale Modelle auf Grundlage der Motorik

stimmungen der Tondauern- und Tonhöhenstruktur, die wir ihm zufolge als eine Struktur erfassen, die durch die Über- und Unterordnung ihrer Elemente 2 und durch kontrastiende Abgrenzung bestimmt ist. Diese Erfassung erfordert ein mentales Modell, das in einem »action plan« besteht, der freilich nicht in die Tat umgesetzt, sondern »off-line« repräsentiert wird (ebd., S. 35, passim). Die Repräsentation der Musik besteht auf dieser Stufe in »off-line motor states that specify virtual movements through a virtual terrain« (ebd., S. 47): Die tonale und rhythmisch-metrische Struktur der Musik repräsentieren wir kraft ihrer »structural affinities« zu »hierarchies of motor control and action planning« (ebd.) als geordnete Bewegung, die dadurch strukturiert ist, daß sie auf einfache oder komplexe Weise Teilziele erreicht, auf Hindernisse stößt, Umwege macht, weitere Teilziele ansteuert, zu übergeordneten Zielen fortschreitet usw. Auf dieser Stufe der Repräsentation ist das Modell der Bewegung, das wir im Nachvollzug der Musik formen, »an abstract (paramorphic) analog representation that organizes temporal sequences of actual and virtual (imagistic) perceptual contents.« (ebd., S. 46) Dieses Modell ist eine Repräsentation von Bewegung überhaupt: Bewegung liegt hier in einer subjekt-objekt-indifferenten Schicht des Verhaltens und kann darum als die eigene Bewegung oder als die Bewegung eines Gegenstandes aufgefaßt werden (vgl. ebd., S. 49 f.), nämlich eines »musical virtual object«, indem wir das Bewegungsmodell auf die Vorstellung eines äußeren Gegenstandes übertragen, der die entsprechende Bewegungsweise vollzieht (ebd., S. 64). Für die weitere Untersuchung ist es wichtig, daß das abstrakte Modell der Bewegung ein kognitives Vehikel ist, das nicht selbst einen Erkenntnisgehalt darstellt, sondern solche Gehalte strukturiert. Wenn aus der Musik vermittelt durch motorische und Handlungspläne solch ein abstraktes Modell gewonnen wird, ist es erforderlich, in einem zweiten Schritt zu zeigen, welche Gehalte durch dieses Modell strukturiert werden. Zuvor möchte ich zeigen, wie sich Nussbaums Theorie des Zustandekommens einer nachvollziehenden musikalischen Repräsentation von Plessners systematisch entsprechender Theorie unterscheidet. Eine wesentliche Grundlage für Nussbaums Theorie ist die in Kap. d. diskutierte generative Theorie der tonalen Musik, die genau diese hierarchische Ordnung in den Mittelpunkt stellt.

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Das Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum

Ein erster Unterschied besteht darin, daß für Plessner die Ästhesiologie des Klanges – daß Klang Volumen, Raumhaftigkeit, Impulswert und Lagewert besitzt – die Möglichkeit der Tonalität und des Rhythmus erklärt. Für Nussbaums Theorie sind umgekehrt tonale und rhythmische Systeme, die die Eigenform – den Schematismus – der Musik begründen, Voraussetzungen für den Nachvollzug, da sie die »Information« (vgl. ebd., S. 31 f.) tragen, die die Modellierung in motorischen und Handlungsplänen motiviert; dieser Nachvollzug ist die ursprüngliche Weise, in der diese Art von Information aus der erklingenden Musik herausgeholt wird. Hieran knüpft sich ein Unterschied im Begriff des Nachvollzuges selbst. Plessner betonte, daß es sich um den Nachvollzug eines thematischen Sinnes handelt und daß thematischer Sinn, wie er etwa im Ausdrucksverhalten aufgefaßt wird, zu den ursprünglichen und grundlegenden Stufen des in der Schicht des Verhaltens vertrauten Sinnes gehört. Entsprechend zeigte sich der Nachvollzug als ausdrucksartig: im engeren Sinne, wenn er mit stimmlicher Äußerung und gestischer Bewegung in Beziehung gesetzt wird, und im weiteren Sinne, wenn er als eine Art von Spielbewegung erscheint. Die gestalthafte Bestimmtheit einer solchen Bewegung muß nicht durch tonale Hierarchie und Formen tonaler und rhythmisch-metrischer Geschlossenheit bestimmt sein, sondern kann auch auf Begriffe von Klangereignissen, Texturen oder mehr oder weniger statischen Klangraumgestaltungen zurückgreifen. Auf der Grundlage von Plessners Theorie ist auch posttonale Musik sinnvoller Gegenstand des hörenden Nachvollzuges. Der Begriff des Verhaltens, an den Nussbaum seine Theorie der Modellbildung anschließt, ist demgegenüber an zielgerichteter Bewegung und Handlung orientiert, die ja bei Plessner nur eine besondere Stufe des Verhaltens besetzt, nämlich die schematische. Besonders deutlich ist dies, wenn Nussbaum von einem »flowchart« schreibt, nach dem man beispielsweise ein Möbelstück zusammenbaut, und anschließend den Vergleich zum Musikhören zieht: »Musical experience can often be compared to assembling a complex structure by moving elements and their combinations around in the virtual acousmatic space« (ebd., S. 99). In Plessners Theorie ist thematischer Sinn deutungsoffen. Nussbaum behandelt dagegen die Stufe des Sinnes, die zielgerichtetes und also sinnmäßig geschlossenes Verhalten leitet, so, daß sie sich in einem zweiten Schritt Deutungen öffnet. Dies soll möglich sein, weil 328 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Erster Schritt: Mentale Modelle auf Grundlage der Motorik

die Schemata selbst abstrakt sind: Ihre Zielbestimmtheit und hierarchische Ordnung bleibt nur formal, nicht aber inhaltlich gewahrt. Darum sollen sie durch Vorstellungen virtueller Szenarien, Abläufe und Objekte mit quasi-bildlich konzipiertem Sinngehalt gefüllt werden können. Daß seine Theorie sich an das Vorbild zielgerichteten Verhaltens hält, führt zu der Schwierigkeit, daß auch der Nachvollzug von Ausdrucksbewegung oder von anderen nicht-zielgerichteten Bewegungszuständen – etwa die programmatisch angeleitete Vorstellung eines rinnenden Baches in der Musik – nach dem Muster von Handlungsplänen konzipiert wird (vgl. ebd., S. 64–66). Nussbaum müßte also in seiner Theorie Raum für zielindifferente Handlungsschemata schaffen. De facto gibt es diesen Raum, wie an seinen Beispielen zu erkennen ist. 3 Um diesen Raum zu schaffen, ist es aber nötig, die anfängliche Orientierung an der zielgerichteten, hierarchischen Ordnung von Bewegungen und Handlungen zu untergraben. Dies geschieht in Nussbaums Text unterschwellig: man bemerkt, daß die Modellbildungen, die er für die musikalische Repräsentation beansprucht, sich bald vom Paradigma des Möbelbaus oder der gerichteten Fortbewegung entfernen und große Ähnlichkeit mit Plessners und Schelers

Neben der eben angeführten Stelle s. z. B. ebd., S. 226–246. Auch anderswo unterstellt Nussbaum, unsere Vorstellung der musikalischen Bewegung enthalte Details wie »expansive/contracted, smooth/angular, and so on« (ebd., S. 47), von denen fraglich ist, wie sie aus der hierarchisch schematisierten und nicht vielmehr aus der von ihm nicht in Betracht gezogenen thematisch bewegten Klangstruktur herausgezogen werden können. Erst die letztere ist dafür verantwortlich, Klänge als raumhaft und in diesem Raum bewegt zu erfahren. Für diese Wahrnehmungsweise schlägt Nussbaum eine »›how possible‹ evolutionary speculation« vor, die auf einer »Deep Homology« beruht. Diese Homologie findet er zwischen der Struktur des Innenohres und derjenigen des Seitenlinienorganes der Fische, die beide die Rezeption von Druckreizen zur Aufgabe haben und also im Grunde Tastorgane sind; ferner bemerkt er, daß jenes von diesem abstamme. Hieraus seien die Lagewerte der Töne zu erklären: Denke man sich das in der Innenohrschnecke liegende Corti-Organ geradlinig aufgerollt – so wie seine Entsprechung beim Fisch geradlinig verläuft –, so ›berühren‹ hohe Frequenzen es an einer Stelle, die näher zum Gehirn liegt als die für geringe Frequenzen empfindlichen Stellen. Das Gehirn liegt beim Menschen aufgrund des aufrechten Ganges nicht vorn, sondern oben, darum würden hohe Frequenzen als hoch in einem Tonraum empfunden. (Ebd., S. 51–54 und S. 58 f.) Es ist fraglich, ob diese Verknüpfung evolutionärer Physiologie mit der Phänomenologie des Hörens eine bessere Erklärung leistet als die von Nussbaum als »much less direct and probably considerably less effective« (ebd., S. 55) bezeichnete akustisch-kinästhetische Verknüpfung in der Erfahrung der Stimme als subjektive Tätigkeit und objektiver Klang zugleich (vgl. h.2.).

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Das Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum

Begriff der psychophysisch indifferenten Auffassung und Produktion von Ausdruck gewinnen. Dafür ist es aber nötig, die Struktur der »Information«, die aus der Musik zu gewinnen ist und von der die Modellbildung ausgeht, anders zu verstehen als hierarchisch geordnet. Nussbaum gibt hierüber keine genaueren Aufschlüsse. Die hierdurch entstehende Lücke und das Schwanken in der Beschreibung, welche Art von Sinngehalten wir im Nachvollzug erfahren können, weist darauf hin, wie wichtig es für eine Philosophie der Musik ist, eine differenzierte Sicht auf die im menschlichen Verhalten zu veranschlagenden Stufen und Formen des Sinns und des Verstehens zu haben.

o.2. Zweiter Schritt: Exemplifikation, die Emergenz von Begriffen aus mentalen Modellen und eine weitere Metapherntheorie Auf der zweiten Stufe des Nachvollzugs der Musik werden mentale Modelle mit weiteren begrifflichen Feldern verknüpft. Die Weise der Verknüpfung bezeichnet Nussbaum mit einem von Nelson Goodman geprägten Terminus als Exemplifikation (in Nussbaum 2007 vgl. v. a. S. 21 und S. 91–94). Vermittels ihrer repräsentieren wir die Musik als etwas Außermusikalisches; anders gesagt: wir vollziehen sie als dieses Außermusikalische nach, stets im Bewußtsein der Offenheit dieses Nachvollzuges und seiner Wandelbarkeit im Lichte der Integration dessen, was wir nach und nach in der Musik hören. Nussbaum paßt den Begriff der Exemplifikation in die Theorie der »mental models« ein. Das noch offene Modell, das wir von der Musik geformt haben, ist die vermittelnde Instanz, durch deren Funktion die Musik etwas exemplifiziert: »musical exemplification is nothing other than the modeling function we considered« (ebd., S. 94), und zwar, indem das Modell eine Anleitung zur Vorstellung eines möglichen Begriffs oder eines ganzen Begriffsfeldes gibt: »A model […] models its target object by using structural properties it shares with that target object.« (ebd.) Exemplifikation ist also »modeling by way of shared properties« (ebd., S. 21). Diese Erklärung steht in engem Zusammenhang mit einer Metapherntheorie von anderer Art als die Substitutionstheorie (vgl. n.4.) und soll zugleich zur Erhellung der in Metapherntheorien stets umstrittenen Analogie- oder Ähnlichkeitsbeziehung dienen, die zwischen der Musik und dem in ihr Exemplifizierten bestehe: Diese Be330 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Zweiter Schritt: Exemplifikation und die Emergenz von Begriffen

ziehung wird dadurch produziert, daß eine vorbegriffliche Repräsentation der Musik aufgrund ihrer ›planmäßigen‹ Struktur einen Gehalt ›modelliert‹, der mit einem bestimmten Begriff verknüpft werden kann. Die Metapherntheorie, die hier ins Spiel kommt, wurde in den 1980er Jahren von George Lakoff und Mark Johnson4 entwickelt; Nussbaum bringt sie folgendermaßen auf den Punkt: »all human conceptual understanding, including the understanding of highly abstract concepts, is ›metaphorically grounded‹ in so-called emergent concepts of human kinesthetic and motor experience, including the concepts up/down, front/back, inside/outside, manipulative causality, and agency.« (ebd., S. 126)

In Bezug auf Musik läßt sich dieser Gedanke doppelt verwenden: Einerseits bilden wir vorbegriffliche Modelle mit der Struktur emergenter Begriffe von Raum- und Bewegungsrichtungen, Enthaltensein, Über-, Unter- und Folgeordnung, die die ursprünglichen Begriffe unseres Weltverstehens sein sollen. Alle Ereignisse und Tätigkeiten, die uns vertraut sind – »extending from quotidian movement in physical space, to agency and social interaction«, zu der nicht zuletzt die sprachliche Kommunikation und ihre Strukturen zählen (ebd., S. 125 f.) –, seien damit von vornherein nach emergenten Begriffen strukturiert. 5 Unter solchen Begriffen steht auch die Repräsentation der Musik. S. besonders Lakoff & Johnson1980; Lakoff 1987. Diese Strukturierung wird in der Theorie von Lakoff und Johnson selbst als metaphorisch bezeichnet. Daran kann man Kritik üben: erstens, indem man aufzeigt, daß der Bereich der Leiblichkeit, aus dem die strukturierenden und metaphorisch auf andere, für ›abstrakter‹ gehaltene Bereiche übertragenen Begriffe ›emergieren‹ sollen, überhaupt nicht aus sich heraus die ordnende und strukturierende Rolle erfüllen kann, die ihm zugeschrieben wird, wenn nicht in den Erfahrungen der Leiblichkeit selbst ein »gemeinsames Allgemeines« liegt, das seinerseits die einzelnen vorbegrifflichen Erfahrungen verbindet (vgl. Coenen 2002, S. 224–233). Was Nussbaum betrifft, genügt es allerdings, daß er einige primär lebensweltlich erfahrbare Grundbegriffe als Anfang des »modeling« setzen kann, ohne daß er sich darauf verpflichten müßte, eine bestimmte These über den allgemeinen Ursprung dieser Begriffe zu vertreten. Zweitens kann man die Kritik an Lakoff und Johnson fortsetzen, indem man sagt: Wenn ein ohnehin vorauszusetzendes »gemeinsames Allgemeines« in den emergenten Begriffen zum Vorschein kommt, ist die Verwendung solcher Begriffe für verschiedene Bereiche nicht metaphorisch, sondern nähert sich dem Unter-Begriffe-Bringen an (vgl. ebd., S. 230 f.; Hatten 2012, S. 91), indem gerade die Übereinstimmung mit dem Allgemeinen im Vordergrund steht. Infolgedessen wird die beschriebene Redeweise derart solide und elementar, daß die Verknüpfung, die sie zustandebringt, nicht kreativ und auslegend – wie es beispielsweise bezogen auf die Repräsentation thematischen

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Das Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum

Weil sie aber unter jenen emergenten Begriffen steht, weise die modellhafte Repräsentation der Musik in der Gegenrichtung kraft ihrer leiblich begründeten Strukturiertheit auf andere Bereiche weltlicher Vorgänge hin, deren Struktur für unser Verständnis auf die gleiche Weise begründet und modelliert ist. Die Metapher, mit der man über die Musik als Tätigkeit, Ausdruck, Rede oder Erzählung spricht, ist dieser Theorie zufolge nicht aus einem Aneinanderhalten zuvor schon bekannter Begriffe zu begründen. Vielmehr sei die sprachliche Metapher nur die Oberflächenschicht der »cognitive metaphor«, die wiederum der Prozeß sei, mittels dessen wir überhaupt Begriffe erzeugen, erwerben und strukturieren (vgl. ebd., S. 103; S. 123). Wenn musikalisches Verstehen über das »mental modelling« zu metaphorischer Rede führt, dann liege dies daran, daß es an der Weise teilhat, in der wir Begriffe und Begriffsfelder überhaupt gewinnen. Das musikalische »mental model« gebe ein Exempel dafür, wie wir etwas – kürzen wir es mit Y ab – begreifen können, nämlich, indem wir ein Modell von Y entwerfen. Diese Exemplifikationsbeziehung hängt eng mit der geforderten Wechselwirkung zwischen der Musik und ihrer Repräsentation zusammen. Die Musik exemplifiziert Y auf der Grundlage der Modellkonstruktionen im Nachvollzug. Umgekehrt deuten wir die Musik und ihren unmittelbaren Nachvollzug weiter nach unserer Kenntnis von Y aus, indem Y als Begriff genommen wird, der auf Objekte, die unter Y fallen, und auf die Musik, der folgend wir ein Y-haftes Modell entworfen haben, verweist. Dies sind Denotationen, die in der Gegenrichtung zur Exemplifikation verlaufen. Ein Wort »Y« kann beispielsweise als Sujet oder Titel gebraucht sein, denotiert damit Gegenstände, die unter Y fallen, und gibt so einen »Ausgangspunkt zur Erkundung des Exemplifizierten«, das weiterhin in der Musik zu finden ist (Mahrenholz 1998, S. 51). In diesem Wechselverhältnis ist Musik sowohl die Quelle als auch das Ziel metaphorischen Sprechens. 6 Sie ist das Ziel, wenn bereits bekannte Begriffe und BegriffsSinnes gefordert ist –, sondern unhintergehbar ist; sie mag bildlich erscheinen, aber ihre Bildlichkeit beruht auf selbstverständlichen Zusammenhängen, die wir nicht ›auslegend‹ hinterfragen können (vgl. Seel 1990, S. 256–258). Das Problem an Nussbaums Theorie musikalischen Verstehens, das ich im weiteren Verlauf herausstelle, kann dazu dienen, die so beliebte Metapherntheorie nach Lakoff und Johnson auf entsprechende Weise zu hinterfragen. 6 Mit dieser doppelten Beziehung befaßt sich vor allem Michael Spitzer (2004, S. 60– 91), um sie im Verlauf seines Buches musikhistorisch zu unterlegen.

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Zweiter Schritt: Exemplifikation und die Emergenz von Begriffen

felder – rezeptiv wie auch poetisch-produktiv in der Komposition – auf sie angewandt werden; sie ist die Quelle, indem aus ihr die Modelle bezogen werden, die kraft der »gestural, mimetic function« des Nachvollzuges die nichtbegriffliche Grundlage für die Emergenz und Konstruktion von Begriffsfeldern sind. Diese leiten wiederum mittels des Rückbezuges der an ihnen bereits bekannten Charakteristika die Wahrnehmung und Deutung der Musik weiter (vgl. Nussbaum 2007, S. 140 f.). Die Modelle, auf die das Verstehen der Musik in Nussbaums Darstellung zurückgreift, finden wir hauptsächlich einerseits in dem Bereich, den man als Klangrede bezeichnen kann. Dabei bezieht Nussbaum sich nicht, wie es häufig geschieht, auf mögliche Beziehungen zwischen dem Klang der Musik und dem Klang des stimmlichen Ausdrucks, sondern auf die ›Feldstruktur‹, die Musik und Sprache teilen, und zwar in Dimensionen, die auf der einen Seite von harmonischen und melodischen Elementarbeziehungen bis hin zu Verhältnissen umfangreicher Abschnitte einerseits, von Beziehungen zwischen Wörtern bis hin zur »conversational structure« und ihren Figuren des Zustimmens, Widersprechens, Ausweichens usw. reichen (vgl. ebd., S. 101–125 und S. 138 f.). Die für die Musik wie für die Sprache gültige Feldstruktur gründet darin, daß die Elemente des Feldes zueinander in Verhältnissen von »affinity/contrast and superordination/subordination« (ebd., S. 108) stehen, wobei die Affinitäten und Kontraste, die die Musik aufweist, jenen entsprechen, die im Fall der Sprache semantische Differenzierungen begründen, nämlich paradigmatischen Kontrasten. Im einfachsten Fall besteht paradigmatischer Kontrast zwischen einzelnen Tönen einer Leiter oder einzelnen Akkorden in einem harmonischen System (ebd., S. 112 f.). Stellt man sich vor, in einer Melodie oder Harmonie einzelne Töne durch andere zu ersetzen, so schafft man dadurch, wie Nussbaum meint, keine ›syntaktischen‹ Varianten. Vielmehr sei die Struktur der Varianz gleichartig mit derjenigen, die entsteht, wenn man in einem Satz Wörter durch andere Wörter austauscht, die die gleiche syntaktische Rolle spielen können, aber semantische Varianten oder Gegensätze mit sich bringen. Dies gilt nach Nussbaum auch für umfangreichere Strukturen; so führt er beispielsweise an, daß die harmonische Umdeutung einer Note im Übergang zwischen zwei Passagen das »mental model« eines »movement between semantic fields« aufrufe (ebd., S. 114) – die Vorstellung also, in der Musik ginge es nun um etwas anderes. 333 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum

Neben dem »modeling of semantic field structure«, das die barocke und klassische Epoche präge, spricht Nussbaum von einem zweiten Bereich der Modellbildung, den er als »scenario« beschreibt, welches mit virtuellen Objekten, Ereignissen und Verhaltensweisen ausgestattet wird, die die Gehalte des Nachvollzuges sind (ebd., S. 125 f.). Hier geht es darum, Modelle von »actions in physical space« aufzufassen (ebd., S. 131). In diesem Bereich ist Nussbaums Analyse allerdings verhältnismäßig kurz, so daß ich sie hier nicht weiter wiedergebe, um stattdessen ein Beispiel anzuführen, in dem einerseits klar wird, was er sich als mögliches Resultat dieses Nachvollzuges vorstellt, und andererseits die hauptsächliche Schwierigkeit seines Ansatzes deutlich gemacht werden kann. Zu Richard Strauss’ Symphonischer Dichtung Till Eulenspiegel schreibt er, ihre Aufführung sei »a representational token that enjoins the listener to implement a plan (offline), which puts him into certain active bodily states whose muscular effects are inhibited, effects that, if not inhibited, would eventuate in the sort of behaviors, including deliberate inhibition of action, that comport with a mischievous state of mind. We would immediately recognize these behaviors, which would most likely include facial expressions like smirks, winks, and twinkles of the eye as mischievous were we to witness a mime attempting to communicating without props Till’s doings to us […]. But in the musical case not only are there no props, there is no mime to witness: […] it is we ourselves who take on with our own bodies the miming or charadelike activity imaginatively or off-line« (ebd., S. 230).

Kurz gesagt: »we construct a set of mental models representing a scenario as the locus of mischievous doings« (ebd., S. 230 f.). Dies erinnert sehr an das Problem, das mit Verweis auf Levinson deutlich wurde (vgl. j.3.), als er komplexe Emotionen, Ironien und Parodien schon in einem einfachen, unmittelbar scheinenden Hören erkennbar werden ließ, das aus einer Mischung psychologischer Mechanismen und angelernter Reaktionen seine Sicherheit und ›Objektivität‹ gewinnen sollte. Den Realismus in Levinsons Sinne unterschreibt er zwar nicht, aber dennoch zeigt sich eine vergleichbare Gefahr, die darin erkennbar ist, daß in der Wechselbeziehung des Nachvollzuges zwischen der Musik und ihrer Repräsentation die eine Richtung dieser Beziehung viel stärker betont ist als die andere: Nussbaum erklärt vor allem, wie die Musik im Verbund mit basalen kognitiven Mechanismen wirkt und unsere Repräsentation steuert. Häufig betrachtet Nussbaum zwar Ausdrucks- und Gestaltbildungs334 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Erfahrung des Nachvollzugs in der naturalistischen Perspektive

phänomene im Lichte des mental-leiblichen Modellbildens auf erhellende Weise; aber in dasselbe Licht rückt er auch so komplexe Repräsentationen wie diejenige der »mischievousness« im obigen Beispiel oder gar der »idea of eternity« (ebd., S. 276). Können wir solche Repräsentationen auf der Grundlage einer naturalistischen Theorie, wie sie Nussbaum ja explizit – und mit häufig überaus interessanten und anregenden Resultaten – vertritt 7 , aber auf befriedigende Weise erklären? Seine Lösung ist es, anzunehmen, daß Ideen wie die der Ewigkeit sich mittelbar aus einer stimmungsartigen Vorstellung des ungehinderten Ablaufes unserer motorischen Pläne ergeben und mit der Musik, die ja aufgrund ihrer Immaterialität und Geordnetheit vorzüglich geeignet sei, in uns solche motorischen Vorstellungen zu bewirken, besonders eng zusammenhängen. 8

o.3. Die Erfahrung des Nachvollzugs in der naturalistischen Perspektive Am Ende ergibt sich – durchaus gewollt – ein erneuerter und besonders elaborierter Psychologismus, für den nicht der ›realistische‹ Bezug auf ein erfahrungsunabhängig zu bestimmendes Objekt, sondern unsere Repräsentationsprozesse entscheidend sind. Mit diesem Psychologismus verbunden erhalten wir ein Bild des repräsentierenden Subjektes, des Verhaltens, das seine möglichen Repräsentationsleistungen begründet, und dessen, was die Erfahrung eines solchen Subjektes sein kann. Die Erfahrung sucht Nussbaum »firmly within a descriptive, broadly Darwinian evolutionary theoretical framework« (ebd., S. 20) zu verorten. In solch einen Rahmen gehört freilich nicht das Bild des Subjektes, von dem etwa Plessner ausgeht, das seine Ästhesiologie bis in ihr Grundgestein hinein durchwurzelt und das für den Zweck der Klärung des Verstehensbegriffs so umrissen wurde, daß es ihm in einer bestimmten Weise des Verstehens um das Verstehen seiner selbst und seiner Weltbezüge geht (hierzu mehr in Kap. q.), sondern

Zu dieser Vorannahme s. Nussbaum 2007, Kap. 1. Einer der Vorzüge seiner Musikphilosophie gegenüber zahlreichen Texten der ›analytischen‹ Ästhetik liegt darin, daß er die empiristischen Vorannahmen, die diesen oft unbefragt zu Grunde liegen, umfangreich zu explizieren versucht. 8 Dies entfaltet er in Kap. 6; s. besonders S. 269 f. 7

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Das Nachvollzugsmodell von Charles O. Nussbaum

ein Verstehen, dessen Grundzug in »behaviors of representational tokens, both internal (›in the head‹) and external (public)« und ihrer »causal roles […] in the behaviors of representational systems« (ebd., S. 8) besteht. Das entsprechende Subjekt ist selbst ein Repräsentationssystem; es ist, zugespitzt gesagt, eine komplexe leibgebundene Sortiermaschine. Emotionen und Affekte gibt es in ihm als Repräsentationen seiner eigenen wohlgeratenen Funktion oder der Hinderung seiner Funktionen; die Freude über das gelingende Verstehen der Musik liegt in ihrer reibungslosen Aneignung – »its plan becomes our plan« (ebd., S. 253) –, und die oben in Frage stehende Idee der Ewigkeit reduziert sich auf einen bestimmten Eindruck vom Verlauf dieser Funktion. In diesem Zusammenhang wird der Unterschied zwischen dem Begriff der Deutung nachvollzogenen, offenen Sinnes und Nussbaums Nachvollzug als Bildung leiblich-kognitiver Modelle besonders deutlich. Während das Interesse am produktiven Prozeß der Deutung in der Möglichkeit liegt, dieselbe Musik immer wieder neu zu deuten und damit auch immerzu etwas Neues lernen zu können, stellt Nussbaum die Lust am wiederholten Hören dar, indem er sagt, es könne freilich nicht darum gehen, immer wieder die gleichen Wahrnehmungsdaten rezeptiv aufzunehmen. Dies sei langweilig. »But doing the same over and over again, even something as mundane as a challenging and varied daily exercise set, can maintain interest, because the interest lies in the doing.« (ebd., S. 216) Das heißt: Das System genießt seine pure Selbsttätigkeit, und diese ist sich immer gleich, auch wenn das Immergleiche in Nussbaums Augen darum nicht trivial ist, weil es immer neu sein können soll, wenn es auf leiblich basierten Aktionsplanbildungen beruht. Erinnern wir uns an die Puzzles und Kreuzworträtsel, die Kivy und Budd in ihrer formalistischen Theorie untergebracht haben (c.3.). Ihnen widerspricht Nussbaum, indem er sagt, daß die erfolgreiche Tätigkeit des begrifflich-kognitiven Systems, das herausfindet, was zusammenpaßt, nicht genügt, um die Freude an musikalischen Formen zu erklären. Das Zusammenpassen müsse immer wieder neu vollzogen werden können, und dies sei nur auf der vorbegrifflichen Ebene leiblicher Tätigkeit und des von der Musik aufgerufenen, zu dieser leiblichen Schicht gehörigen Nachvollzuges möglich. Aber wie bei Kivy und bei Budd geht es Nussbaum doch vor allem um das erfolgreiche Zusammenpassen; nur ist das System, in dem es geschieht, anders beschrieben. Es ist zwar nicht das Unter336 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Die Erfahrung des Nachvollzugs in der naturalistischen Perspektive

Begriffe-Bringen, das durch das Zusammenpassen beschrieben ist, sondern das Verknüpfen mit Begriffsfeldern und das Auffassen der Exemplifikation, aber diese Verknüpfung ist selbst nur eine Zugabe zu einer bereits vor ihr in ihren wesentlichen Momenten abgeschlossenen und zu einem passenden Ganzen gefügten vorbegrifflichen Erfahrung. 9 Der Prozeß des Deutens mag sich also fortspinnen, wie er will – dasjenige, wovon er ausgeht, ist in Nussbaums Theorie im einzelnen Fall stets schon fertig. Die Hoffnung, durch Nussbaums Theorie des Nachvollzuges etwas über den sinn-produktiven, sinn-performativen Aspekt der musikalischen Repräsentation zu erfahren, erfüllt sich damit nicht. Jenseits der Betrachtung bleibt damit das Subjekt, für das dieses Zusammenpassen Sinn ergibt und dem es also nicht nur zustößt, sondern das mit ihm umgehen kann. Dies ist der Mittelpunkt des Interesses in dem Nachvollzugsmodell von Alexander Becker und Matthias Vogel, das ebenfalls an zentralen Stellen mit der Wechselwirkung zwischen nachvollziehendem Subjekt und nachvollzogenem Gegenstand operiert, aber im Gegensatz zu Nussbaum den ersteren Pol betont.

Vgl. Nussbaum 2007, S. 8–20 zu der methodischen Annahme, daß es sich bei der begrifflich arbeitenden Interpretation der Erfahrung der Musik im wesentlichen um eine Explikation von etwas handle, das sich implizit schon ereignet habe, so daß der Nachvollzug der Musik als Y selbst gar kein wesentlicher Gehalt der Erfahrung der Musik ist. Bei Becker und Vogel wird sich gleich die gegenteilige Auffassung zeigen.

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p. Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von Alexander Becker und Matthias Vogel

p.1. Nachvollzug als Grundlage von Erfahrung Bereits auf der elementaren Ebene des Nachvollzuges von thematischem Sinn stellte sich die Forderung, das Hören von Musik nicht als eine Wahrnehmung in dem Sinne eines bloßen Aufnehmens von Sachverhalten, sondern als Erfahrung in einem stärkeren Sinne zu begreifen. Eine Erfahrung zeigt einen Wahrnehmungs- oder anderweitigen Erkenntnisgehalt nicht nur an, sondern in ihr ist er verknüpfbar mit einer Welt von Sinnbeziehungen, und zwar verknüpfbar in dem Sinne, daß er dem Wesen, das ihm, gegensinnig auf ihn bezogen, gegenübersteht, ein Verhalten bzw. eine Tätigkeit der Verknüpfung und Deutung nahelegt oder abfordert. Dem Leitfaden dieser Unterscheidung folgt auch die Theorie, die ich nun diskutiere. Für Alexander Becker ist Erfahrung der Schlüsselbegriff, der ein »bloße[s] Hören« (Becker 2007, S. 285) von einem verstehenden Hören zu unterscheiden erlaubt. Dafür, daß man von Erfahrungen sprechen kann, ist die zentrale Bedingung nach Becker, daß wir eine Erfahrung individuieren können (ebd., S. 283). Im Falle der Erfahrung der Musik ergibt sich das Problem, daß ihr Gehalt nicht von Anfang an begrifflich individuiert ist. Becker schlägt vor, daß er auf andere Weise individuiert ist, nämlich durch Nachvollzug, der eine Tätigkeit ist, in der wir den nachvollzogenen Gegenstand – so würde ich sagen – repräsentieren. Als einfachstes Beispiel für diese Tätigkeit nimmt Becker das Nachsingen (ebd., S. 285 f.): In ihm zeigen wir – jemandem oder uns selbst –, wie wir die Musik auf einer vorbegrifflichen Stufe verstanden haben; wir zeigen unser Verständnis, indem wir die Musik wiedergeben. Diese Wiedergabe beruht, von musikpraktischen Talenten abgesehen, auf unserem »musikalische[n] Vorstellungsvermögen« (ebd., S. 288). Die Gehalte dieser Vorstellungen verteilt Becker auf zwei Ebenen: »Form« und »Sinn« (ebd., S. 288 f.). Auf der Ebene der Form findet Becker den Nachvollzug in zwei Hinsichten möglicherweise vorbestimmt, nämlich durch »unbe338 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Nachvollzug als Grundlage von Erfahrung

wußt bleibende Prozesse der Gestalterfassung« und durch Kenntnisse formaler Konventionen (ebd. und S. 272 f.). Diese beiden Hinsichten geben dem Nachvollzug eine gewisse Richtung vor; wir können sagen, daß sie empfehlen, die Musik auf eine bestimmte Weise zu schematisieren. Jedoch vollenden sie den Nachvollzug nicht, denn sie verbleiben nicht im Unwillkürlichen, sondern werden »an die Oberfläche dessen [gehoben], was bewußt vollzogen wird« (ebd., S. 287). Hier zeigt sich ein wichtiges Verständnis des Vollzugs des Schematisierens: Obwohl dieser Vollzug unbewußt bleibende psychologische Mechanismen involviert, ist es doch nicht der bloße Ablauf solcher Mechanismen, durch den die Wahrnehmung geordnet wird. Vielmehr ist uns dieser Prozeß der Ordnung selbst bewußt und widerfährt uns also nicht nur, sondern unterliegt der Bedingung, daß wir ihn und seine Ergebnisse anerkennen können. Dann können der Ablauf und seine Ergebnisse aber nicht feststehen, sondern im Nachvollzug eine »Ordnung herzustellen oder zu finden setzt einen Spielraum von Alternativen voraus« (Becker & Vogel 2012, S. 28). Der strukturelle Sinn der musikalischen Elemente liegt nicht einfach vor: »welche akustischen Merkmale musikalisch wesentlich sind […], steht a priori nur selten fest. Musikalische Struktur muß selbst entschlüsselt werden.« (Kaden 1984, S. 197) Zu der Tätigkeit des ›Entschlüsselns‹ zählt, den Elementen Bedeutung oder Gewicht für den Zusammenhang der Musik zu geben. Hier beginnt der Spielraum der Alternativen. Becker verweist für das Zustandekommen dieses Spielraumes auf die Ebene des »Sinnes«, auf der man sich die Frage stellt, wie und warum die formal vorbestimmten oder im Rahmen der Schematisierung noch zu bestimmenden Elemente miteinander zusammenhängen, und auf der man diese Frage beantwortet, indem man beispielsweise »das Gehörte mit Hilfe einer anderweitig vertrauten Gestalt nachvollzieht: So kann der Verlauf einer Tonfolge dadurch Sinn gewinnen, daß man sie als eine Geste oder eine auf andere Weise in sich zusammenhängende Bewegung erfährt.« (Becker 2007, S. 289)

Er nennt ferner »rhetorische und narrative Modelle« als Leitbegriffe, die den Verlauf der Musik als sinnvollen Zusammenhang erscheinen lassen (Becker 2007, S. 290, Anm. 28). In seiner Theorie erscheinen diese Modelle weniger – wie etwa bei Nussbaum oder Levinson – als Resultate einer Anregung oder Wirkung der Musik, sondern als In339 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von A. Becker und M. Vogel

vestitionen eines Subjektes, das seine Wahrnehmungen ordnen und deuten will. Systematisch bewirken die vom Subjekt investierten Modelle Spielraum im Nachvollzug. Vogel bietet ein Gedankenexperiment und ein – wie sich zeigen wird, etwas mißverständliches – terminologisches Schema an, durch die genauer verständlich wird, inwiefern Beckers Ebene des »Sinnes« die Bedingung dafür ist, Spielraum im Hören zu haben, und damit auch die Bedingung dafür, die Musik verstehend zu erfahren. Das Gedankenexperiment stellt die Frage: Welche Elemente und Eigenschaften muß man in der Musik identifizieren können – und wie muß man sie identifizieren können –, um die Musik auf eine Weise spielen oder singen zu können, die davon zeugt, daß man etwas an ihr verstanden hat? Vogel stellt sich dabei einen Unterricht vor. Ein Schüler lernt ein Stück. Er ist ein sehr merkwürdiger Schüler, denn er ist in der Lage, Anweisungen zu folgen, die exakt die Tonhöhen, Tondauern, Lautstärkenverläufe und weitere Parameter angeben. Gibt man ihm eine Spielanweisung, indem man ihm ein Stück vorspielt, ist er dank eines ›phonographischen‹ Gedächtnisses in der Lage, das Vorgespielte genau wiederzugeben. Sagt man ihm aber: »Spiel fließender!«, »Mehr Agogik!«, »Laß es wie ein Echo verklingen« oder dergleichen, gelingt es ihm nicht, daraus eine Vorstellung zu gewinnen, wie er das betreffende Stück spielen soll. Man könnte sagen, daß dieser Schüler eine Art Roboter sei, der eine Programmieranweisung in »maschinensprachliche[r] Form« (Vogel 2007, S. 323) benötigt. Die Anweisungen, die dieser Schüler benötigt und die er zu befolgen imstande ist, sind rein schematisch. Rein schematisch können solche Eigenschaften der Musik bestimmt werden, die entweder von vornherein diskret in den Kategorien der musikalischen Eigenform bestimmt sind oder gleich physikalische Eigenschaften des Klanges sind. Diese nennt Vogel, sich an Scruton anlehnend, sekundäre und primäre Eigenschaften (ebd., S. 319). 1 Für sich genommen können sie so spezifiziert werden, daß Vogel führt weiterhin »tertiäre Eigenschaften« ein, durch die »Töne und Akkorde, Rhythmen und Melodien« bestimmt sind (Vogel 2007, S. 319 f.). Sie betreffen das, was bei Becker, abstrakt genommen, die Ebene der Form ist. Verwirrend ist, daß er meint, der roboterhafte Schüler sei in der Lage, auch die tertiären Eigenschaften wiederzugeben (ebd., S. 324). Man muß sich jedoch fragen, ob er überhaupt in der Lage ist, sie als Rhythmen und Melodien zu erkennen, wenn – wie ja eben diskutiert wird – ihr Zusammenhang und ihre Erscheinungsweise davon abhängt, wie man die Ebene

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Nachvollzug als Grundlage von Erfahrung

kein Spielraum bleibt. Ihre Spezifikation und Individuierung wird nicht im Nachvollzug vorgenommen, sondern nimmt die Gestalt des Textes an, in dem sie niedergeschrieben sind, oder die Gestalt einer Tonaufnahme. Jemand, der ohne Spielraum Musik hören oder repräsentieren würde, täte nichts weiter, als Tonhöhen, Tondauern und weitere, akustische Parameter zu identifizieren. Damit erfährt er die Musik nicht. In Vogels Gedankenexperiment erscheint anschließend eine weniger exotische Schülerin (ebd., S. 324 f.). Sie ist in der Lage, den nicht-schematischen Anweisungen zu folgen: Sie spielt die Musik fließender, agogischer oder wie ein Echo. Was hat sie getan? – Sie hat die im Notentext niedergelegten (sekundären) Eigenschaften der Klänge auf eine Weise realisiert, daß sie jenen Anweisungen zufolge gestaltet sind. Diese Gestaltung beruht auf einer Vorstellung, die sie sich von der Musik macht, und diese Vorstellung ist die Vorstellung des Sinnes der Musik. Als Vorstellung eines Sinnes ist sie die Vorstellung »integrierte[r] Einheiten« (ebd.); durch die Kenntnis dieser Einheiten kann die Erfahrung der Musik individuiert werden. Wenn eine Passage der Musik Einheit gewinnt, indem man sie im Spielen (oder auch im hörenden Nachvollzug) als Sinneinheit vorstellt, sagt Vogel, daß sie eine durch die Vorstellung jenes Sinnes individuierte »quartäre Eigenschaft« (ebd., S. 320) annimmt. Das Muster hierfür sind Ausdrucksqualitäten; Vogel nennt weitere »wahrnehmungsstrukturierende Modelle«, die darum ein Verstehen gewährleisten, weil wir mit ihnen »auf einer elementareren Ebene vertraut sind«, nämlich im Rahmen »kulturelle[r]« und »körperliche[r] Erfahrungen« (ebd., S. 327). 2 des »Sinnes« erfährt, die ja die Form bzw. die tertiären Eigenschaften integriert. Erfährt der Schüler diese Ebene nicht, so fallen die ›tertiären‹ Eigenschaften zu einem Aggregat von ›sekundären‹ Eigenschaften zusammen und bestehen nicht eigenständig als rhythmisch und melodisch. 2 Spätestens hier wird die Rede von Eigenschaften äußerst problematisch. Sie ist auf keinen Fall realistisch zu verstehen, denn »die quartären Eigenschaften […] sind genau jene, die die Wahrnehmung des Stücks jenseits bloß formaler Erwartungen strukturieren.« (Vogel 2007, S. 325) Damit sind sie keine Eigenschaften der Musik, sondern sie sind die Modelle des Nachvollzuges selbst. Vgl. Trivedi 2008, S. 53, der von »imagined properties« spricht, aber unbekümmerter annimmt, jene aus ›außermusikalischen‹ Gegenstandsbereichen entlehnten Eigenschaften schrieben wir der Musik aufgrund von unterschwellig empfundenen, in der Musik liegenden »resemblances« zu. Vogel und Becker sehen dagegen deutlicher das Problem, daß die Orientierung des Nachvollzuges an Modellen nicht so einfach von ›objektiven‹ Eigenschaften der Mu-

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Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von A. Becker und M. Vogel

Der Spielraum der Ordnung des Nachvollzuges kann nun so beschrieben werden, daß er sich in zwei Richtungen auswirkt. Was in der Musik schematisch gegeben ist (im wesentlichen Vogels sekundäre Eigenschaften), gibt von sich aus keine Bestimmung, zu welcher Einheit wir es integrieren sollen. Diese Bestimmung erhalten wir zum Teil durch psychologische Prozesse der Gestaltbildung und durch erlernte Konventionen, die die Strukturierung von Rhythmen, Melodien und Harmonien betreffen (Vogels tertiäre Eigenschaften). Bei nicht allzu simpler Musik eröffnen sich jedoch mehrere Möglichkeiten, die psychologisch und konventionell in unseren kognitiven Prozessen vorgeschlagenen Einheiten anzunehmen, zu suspendieren, weiter zu verknüpfen usw. Zwischen diesen Möglichkeiten herrscht auf der Ebene der tertiären Eigenschaften Unentschiedenheit. Eine Erfahrung der Form der Musik ergibt sich vollends erst dann, wenn Begriffe ins Spiel kommen, mit denen wir über diese Möglichkeiten der Formgliederung reflektieren können und die eine Entscheidung für die eine oder andere Möglichkeit nahelegen (Vogels quartäre Eigenschaften; Beckers Ebene des Sinns). 3 Ausgehend vom Text, von den psychologischen Mechanismen und den Formkonventionen gibt es einen Spielraum für verschiedene mögliche Nachvollzüge, die jene integrieren und ihren Ort in der Erfahrung bestimmen. 4 Diese Integration geschieht nicht auf einen Schlag, sondern fordert vom Hörer die »Suche nach gut angepaßten Denotaten, die man sich als einen iterativen Probiervorgang vorstellen könnte, in dem der Hörer immer neue Gedächtsik bestimmt sein kann. Entsprechend ist der Gebrauch des Wortes so weit, daß es beinah als Platzhalter erscheint und anzubietende Alternativen – Deutung, Modell, Paradigma, Repräsentationsweise – in diesem Wortgebrauch schon subsumiert sind. Wenn ich im folgenden der terminologischen Kohärenz halber ebenfalls von »Eigenschaften« spreche, ist diese Anmerkung mitzudenken. 3 Tertiäre Eigenschaften heißen so, weil sie auf den primären oder sekundären Eigenschaften auf irgendeine Weise aufbauen oder supervenieren. Offensichtlich ist aber ihre Abhängigkeit von quartären Eigenschaften, die eine bestimmte Realisierung tertiärer Eigenschaften anleiten, für das Verständnis ihrer Rolle wichtiger. Diese Rolle entspricht teils derjenigen der »sekundären Schematisierungen«, die in n.3. eingeführt wurden; »sekundär« hießen sie, weil sie auf nicht-schematischen Gestalten aufbauen, deren Rolle hier wiederum zum Teil Vogels quartäre Eigenschaften einnehmen. In dieser Hinsicht sind quartäre Eigenschaften explanatorisch primär für tertiäre Eigenschaften, sobald wir den Bereich musikalischer Gestalten verlassen, die ganz geläufig und konventionell nachvollzogen werden können. 4 Vgl. Becker 2007, S. 289–291; Vogel 2007, S. 324–327 und 332 f.

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Die Kontingenz der Erfahrung ihrem Gegenstand gegenüber

nisinhalte mobilisiert, u. U. sogar Vergleichseinheiten synthetisch konstruiert« (Kaden 1984, S. 196). 5

Die im hörenden Nachvollzug in Anschlag gebrachten Modelle sind also je nach dem Verlauf der Musik anzupassen, umzubilden und möglicherweise zu verwerfen und zu ersetzen. In Kadens Beschreibung sind die Bestimmungen der Repräsentation als Prozeß und Produktion gut wiederzuerkennen: Unterschiedliche Modelle – etwa Gestik, Gespräch, Tanz, dramatische Handlung, Vorstellung von Naturprozessen – werden fortlaufend an die Musik gehalten, und die Kontrastierung, Auswahl, Präzisierung und Verknüpfung der ausprobierten Modelle produziert aus diesen eine zusehends komplexe Darstellung der Musik in der Vorstellung des Hörers, die anschließend zum Moment einer detaillierten Analyse des betreffenden Stükkes werden kann. In der anderen Richtung – besonders gilt dies für die Aufführung als Repräsentation eines sinnvollen und verstandenen Textes – ist der Spielraum des Nachvollzuges so zu verstehen, daß der Sukzessionsbegriff, den wir gegen eine musikalische Passage halten, die ›tieferliegenden‹ Eigenschaften der Musik in gewissem Maße ent-schematisiert. Dies ist besonders für die Rhythmik einschlägig: Eine Reihe von auf dem Papier gleichen Notenwerten läßt, je nachdem, in welche Art der Bewegungsvorstellung wir sie umsetzen wollen, sehr gleichmäßige oder auch sehr ungleiche Realisationen zu; und von Aspekten wie der Dynamik oder der Artikulation ist ohnehin fraglich, inwiefern sie eigenständig individuiert werden können und nicht vielmehr als Eigenschaften gelten müssen, die so gut wie vollständig von den an die Musik angelegten Modellen tertiärer und quartärer Eigenschaften bestimmt werden.

p.2. Die Kontingenz der Erfahrung ihrem Gegenstand gegenüber – Versuche ihrer Bewältigung Becker und Vogel erläutern mit ihrem Modell einen Prozeß, in dem ein Subjekt durch die Verknüpfung mit ihm vertrauten BegriffsZu »Denotaten« vgl. in o.2. die Erläuterung der Wechselbeziehung zwischen Exemplifikation und Denotation. Den Denotaten entsprechen hier die möglichen quartären Eigenschaften bzw. die Deutungen der »Ebene des Sinns«, die die musikalische Struktur integrieren, indem sie dem Nachvollzug eine Orientierung vorschlagen.

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Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von A. Becker und M. Vogel

feldern zu einem musikalischen Verständnis kommt. Wie beide Autoren anerkennen, trägt das Modell aber eine zentrale Schwierigkeit in sich: Die quartären Eigenschaften, d. h. die Begriffe, die wir in das nachvollziehende Verstehen einbringen, stehen der Musik »gänzlich kontingent« gegenüber (Becker 2007, S. 291). Diese Kontingenz rührt daher, daß das betonte Erklärungsziel des Nachvollzugsmodells die Erfahrung des Verstehens ist. So aber fällt die Erfahrung des Nachvollzuges mit dem nachvollzogenen Sinn zusammen, und es schwindet die Objektivität des Sinnbegriffes. Verstehen scheint nur noch in der Kohärenz einer Erfahrung zu liegen und nicht im angemessenen Erfassen eines Gegenstandes, der selbst die Maßstäbe der Angemessenheit gibt. 6 Bei Becker und Vogel sind zwei Wege erkennbar, die zu einer Lösung dieses Problems führen sollen. Der erste Weg erscheint in gewissem Maße als Ausweichmanöver. Wenn die Frage nach dem Sinn des nachzuvollziehenden Gegenstandes, wie eben gezeigt, ins Leere zu laufen scheint, ergibt sich der »Vorwurf fehlender intersubjektiver Verbindlichkeit«. Dem entgegnet Becker: »Das allerdings – Allgemeingültigkeit zwar beanspruchen, aber nicht erzwingen zu können – ist ein allgemeines Merkmal ästhetischer Erfahrung« (Becker 2010, S. 18 f.). Diese Entgegnung ruft die Frage herauf, wie sich die im Grunde intuitive ästhetische Erfahrung, die sich im Gelingen des Nachvollzuges ergibt, zum auf Kunstkenntnis beruhenden Verstehen verhält. Im besprochenen Nachvollzugsmodell kann diese Frage in den Hintergrund gestellt werden, weil es durchaus möglich ist, daß die Gehalte der Kenntnis überhaupt nicht in die Erfahrung eingehen, aus deren Perspektive die Musik doch betrachtet werden sollte (vgl. Becker 2007, S. 305), so daß der Beitrag jener Kenntnisse nur aus der Perspektive der ästhetischen Erfahrung gesehen wird. Das Verhältnis zwischen dem musikalischen Sinn und der Erfahrung der Musik erweist sich so aber als komplexer, Für diese Kritik vgl. Kreis 2011, S. 89 f.; Hindrichs 2014, S. 188, Anm. 3. KlausErnst Behne überlegt auf ähnliche Weise, daß mit dem »Verstehen« von Musik eine Qualität der Erfahrung gemeint sein kann anstatt eines Urteils über einen Sachverhalt, der – wie eine sprachliche Mitteilung – auf eine bestimmte Weise verstanden zu werden fordert, und schließt daraus: »Die Formulierung ›Verstehen von Musik‹ wäre demnach nur eine mißverständliche Umschreibung eines an sich sehr stark emotional geprägten Prozesses, der aber durch diese Begrifflichkeit eine unangemessene kognitive Überhöhung erfährt. Vielleicht glauben wir deshalb oft, Musik zu verstehen, weil die individuellen Interpretationsprozesse, die an Musik herangetragen werden, subjektiv den Charakter von Eindeutigkeit tragen.« (Behne 1994, S. 181)

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Die Kontingenz der Erfahrung ihrem Gegenstand gegenüber

als es bisher schien, denn dann gibt es Aspekte des Sinns, die außerhalb der Erfahrung bleiben, wenn diese so bestimmt ist, wie Becker es getan hat. Der zweite Weg sucht zu spezifizieren, was der Gegenstand Musik dem Nachvollzug vorgibt, und damit den Objektpol der Wechselbeziehung des Nachvollzuges zu untersuchen, so daß dessen Modelle und Sukzessionsbegriffe der Musik nicht kontingent gegenüberstehen, sondern ihre Bestimmtheit teils aus der Musik gewinnen und die Musik als »Maßstab« für die Erfahrung gelten kann (ebd., S. 297). Es zeigt sich, daß es hierzu nötig ist, die Musik von vornherein zusätzlich zu bestimmen. Sie kann nicht ein Gegenstand der über Wahrnehmung und Nachvollzug gewonnenen Erfahrung sein, der in seinem Sein sonst nicht weiter qualifiziert ist, sondern sie muß – darauf laufen sowohl Beckers als auch Vogels Diskussion hinaus – in ihrer Gemachtheit erfahren werden. In Vogels Nachvollzugsmodell sind es die tertiären und quartären Eigenschaften, aus deren Erfassung sich das Verstehen der Musik ergibt, und zwar gerade darum, weil ihre Erfassung eine Tätigkeit des Nachvollzugs erfordert, in der wir bereits vertraute Begriffe an die Musik anlegen. Vogel setzt an dieser Stelle an, um zu zeigen, daß jene Eigenschaften der Musik eben nicht beliebig zugeschrieben werden, sondern von ihr insofern bestimmt sind, daß sie und das musikalische Hören zusammen in eine kulturelle Praxis gehören. In dieser Praxis lernt man, wie Musik gemacht wird, mit welchen pragmatischen Kontexten sie verknüpft sein kann und welche »paradigmatische[n] Interpretationen« es für sie bereits gibt; Vogel spricht von einer »Sozialisation in dieselben medialen Praktiken«. Die gemeinsame Sozialisation führt zu weitgehenden intersubjektiven Übereinstimmungen darüber, welche tertiären und quartären Eigenschaften – welche formalen Gliederungsweisen, Ausdrucksqualitäten und symbolischen Werte – einer bestimmten Musik zukommen, denn diese erweisen sich als kulturell konstituierte »transindividuelle Relationen zu Wahrnehmungen und Tätigkeiten« (Vogel 2007, S. 328–330). In diesem Zusammenhang ist die Musik selbst als Moment solcher Relationen produziert – im Gegensatz zu einer objektivistischen Auffassung, derzufolge die Musik so produziert wäre, daß ihr gewisse Eigenschaften innewohnten, die subjekt-, erfahrungs- und kontextunabhängig vorlägen. Dies ist ein wichtiges Ergebnis, das aber weiterer Ausführungen bedarf, die Vogel nicht leistet. Ohne diese Ausführungen sieht es aus, 345 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von A. Becker und M. Vogel

wie Gunnar Hindrichs anmerkt, als ob das Verstehen der Musik bedeute, »einfach nur eingeführte Praxen mitzumachen« (Hindrichs 2014, S. 188, Anm. 3), wenn es nicht willkürlich werden wollte. An diesem Problem hat die »Eigenschafts«-Terminologie ihren Anteil. In Verbindung mit der Rede von der Sozialisation in eine kulturelle Praxis drängt Vogels Text zu folgendem Gedanken: Wir verstehen Musik, wenn wir in der Erfahrung von ihr eine eingebürgerte Nachvollzugsweise so aktualisieren, daß wir in ihr beispielsweise eine bestimmte Ausdrucksqualität oder einen bestimmten sozialen oder historischen Topos hören, was wiederum heißt, daß wir eine bestimmte quartäre Eigenschaft erkennen, die den Nachvollzug anleitet. In diesem Nachvollzug weitet sich das Verstehen, indem die erkannte Eigenschaft mit dem weiteren Feld der eigenen, je präsenten Erfahrungen der Hörerin in Verbindung tritt.

p.3. Das Subjekt des Nachvollzugs: In der Praxis und über der Praxis Ein zweiter Bereich des Verstehens gerät aber aus dem Blick, wenn man weiterhin von »Eigenschaften« spricht. Es sieht so aus, als ob diese je nach Praxis stabil in der Musik vorlägen, ohne daß die Frage danach gestellt werden könnte, wie die jeweilige Eigenschaft in der Musik verwendet wird. Gerade bei Ausdrucksqualitäten ist diese Unterscheidung aber von Belang. Vogel gestattet es uns, gewissermaßen floskelhafte Wendungen zu erkennen und an sie Interpretationsversuche anzuknüpfen; schwierig wird es aber dort, wo solche Floskeln musikalisch reflektiert und uneigentlich gebraucht werden – dort also, wo ein mit einer kulturellen Praxis vertrauter Musiker den Blick reflektierend auf diese Praxis richtet. Diesen Blick nachzuvollziehen erfordert es, das musikalische Material, das er gebraucht, von der Form und von dem Sinn zu unterscheiden, die es im Werk gewinnt; und damit ist der Sprung aus der gängigen Praxis heraus gefordert. In Beckers Lösungsversuch für das Problem der Kontingenz der Modelle, die der Nachvollzug an die Musik heranträgt, erscheint diese Unklarheit in Bezug auf die praktisch und geschichtlich konstituierten ›Eigenschaften‹ der Musik erneut. Becker spricht allerdings nicht von Eigenschaften in einem einfachen Sinne, sondern von einem »Ideal« und von »bestimmte[n] Vorstellungen über die Beschaffenheit« des Gegenstandes der Erfahrung (Becker 2007, S. 299). 346 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das Subjekt des Nachvollzugs: In der Praxis und über der Praxis

Dieses Ideal ist das Zentrum, auf das die Erfahrung sich bezieht und das die Erfahrung leitet, so daß es beliebige und willkürliche Modelle, die Erfahrung zu gliedern, verbietet. Becker beschreibt dieses Ideal als die Eigenschaft (um weiterhin so zu reden) der Musik, Werk zu sein. Dieses Ideal leitet die Erfahrung dazu an, sich zu einem möglichst einheitlichen, »in sich geschlossene[n]« Zusammenhang zu bilden (ebd., S. 302). Im wichtigsten Fall ist es darin begründet, daß die Einheit des Werkes kompositorisch hergestellt worden ist und darum unter Rückgriff auf die kompositorische Idee oder den musikalischen Gedanken nachvollzogen werden kann; ferner ist der kompositorische Gedanke der Einheit zumeist durch die kulturellen Praktiken des Musikmachens und Musikhörens vermittelt, so daß man davon ausgehen kann, »daß Hörer innerhalb einer Musikkultur ihre Ideale im Umgang mit paradigmatischen Werken erwerben und aufgefordert sind, sich an deren technischer Verfertigung zu orientieren« (ebd., S. 304). Dieser Gedanke ist vertraut: es ist die Orientierung an der Technik und damit an der schematischen Seite der Musik und an der auf ihr beruhenden Textform, die dem Umgang mit Musik Sicherheit und Objektivität verspricht. Die Grenzen dieser Orientierung sind aber inzwischen ebenfalls vertraut; Becker spricht sie an, indem er sagt, daß der Versuch, über die Kenntnis des Zusammenhanges der »kompositorische[n] Verfahrensweise« zu einem Zusammenhang oder einer Einheit der Erfahrung zu gelangen, durchaus scheitern kann (ebd.). Die Kenntnis läßt die entstehende Erfahrung im Stich. Einheit und Zusammenhang der Musik sind damit problematisch und »von einer fundamentalen Spannung geprägt«: Einerseits sollen sie ein Ideal sein, an dem wir unsere Hörerfahrung ausrichten – denn so haben wir es gelernt. Andererseits entzieht sich uns die Erfüllung dieses Ideals, denn weder können wir einfach – kraft unserer Nachvollzugsmodelle – der Musik die Einheit überziehen: »dann wäre sie nicht so radikal unserer Verfügung entzogen« (ebd., S. 305), sondern ihre Erfahrung könnte durch willkürliche Setzung hergestellt werden; noch kann sie die Einheit der technischen Verfertigung sein: »dann würde der Rekurs auf die Verfertigung genügen, um die Form zu erfassen.« (ebd.) Eine Einheit der Erfahrung, die aus dem Bezug auf eine irgendwie gegebene Einheit der Musik gewonnen werden könnte, läßt sich nach Becker am ehesten »als eine Art von Zusammenhang« beschreiben, »die sich beiläufig aus etwas ergibt, das eine ganz andere, technische Art von Zusammenhang aufweist« 347 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das erfahrungsbasierte Nachvollzugsmodell von A. Becker und M. Vogel

(ebd.). Dies ist eine erfahrbare Einheit, die darum der Musik gegenüber nicht kontingent ist, weil sie dem Gemachten entspringt oder uns aus ihm heraus zufällt; selbst aber – es sei denn, sie ist trivial – kann sie nicht gemacht sein. Beckers Beschreibung dessen, was eine Erfahrung der zur Einheit zusammengefaßten Momente der Musik sein kann, erscheint treffend und geeignet, das Problem der Kontingenz im musikalischen Nachvollzug durch eine Art dialektische Aufhebung zu lösen: Dasjenige, worauf die Erfahrung sich richtet, ist nicht im Sinne eines »naiven Realismus« (ebd., S. 311) zu bestimmen, sondern eben als Ideal. In einer anderen Hinsicht aber ist auch Beckers Ergebnis nicht befriedigend, weil der Aspekt der musikalischen Produktion nicht umfassend genug bedacht ist. Dies führt dazu, daß manche Aspekte, die die Musik durch ihre Produktion mitbekommen hat, im Nachvollzugsmodell fehlen und vielleicht auch fehlen müssen, gerade darum, weil es ein auf die Erfahrung und deren Erläuterung zentriertes Modell ist. Wenn es aber gelingt, den Gegenstand der Erfahrung in seiner Gemachtheit umfassender zu beschreiben, gewinnt man eine Basis, auf der eine Erfahrung, Repräsentation oder Deutung ruhen kann, die ebenfalls umfassender beschreibbar ist. Dieser Gegenstand muß auf eine zum »naiven Realismus« alternative Weise beschrieben werden; noch ist unklar, wie diese Alternative genau aussieht. Das Gemachte – das Werk – und der Gedanke des Machens tragen in Beckers Darstellung vor allem schematische bzw. technische Züge, die auf einer »Musikkultur« und ihren Regeln, Mustern und Idealen beruhen. Zu diesen Zügen kommen, besonders bei Vogel betont, die pragmatischen Züge, die auf die etablierte Verwendung der Musik in bestimmten Kontexten zurückgehen und im damit vertrauten Hörer eine Assoziation oder eine Tendenz zum Mitmachen aufrufen. So wird zwar anerkannt, daß Musik wesentlich durch kulturelle Prozesse konstituiert ist, die weitgehend als Prozesse der Sinngebung verstanden sind. Diese Konstitution wird aber vor allem unter dem Aspekt des ›Sedimentierten‹ betrachtet: Man fragt, welche Möglichkeiten des Bezuges der Erfahrung es auf etwas gibt, das im Medium der Musik als schon Vorverstandenes vorliegt; oder man bemerkt, daß der Erfahrung, mag sie dem Hörer noch so sinnvoll erscheinen, mangels eines Bezuges auf Vorverstandenes und Sedimentiertes ein Halt am erfahrenen Gegenstand fehlt. Die Gemachtheit der Musik umfassender zu beschreiben erfordert es dagegen, auch zu betonen, daß das Machen der Musik über 348 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Das Subjekt des Nachvollzugs: In der Praxis und über der Praxis

den (technischen und symbolischen) Gebrauch des Sedimentierten hinausgehen und auf diesen Gebrauch reflektierend und verändernd eingehen kann. Reden wir von Sinn, so bedeutet das, daß der Sinn der Musik nicht allein im Gebrauch des Sedimentierten liegt, sondern darin, wie dieser Gebrauch geschieht – anders gesagt: wie der Gebrauch selbst gebraucht wird. So rückt der sedimentierte Sinn in ein anderes Licht und gewinnt einen weiteren, reflektierten Sinn. Diese Forderung knüpft daran an, wie der Prozeß der schematischen Repräsentation zusammengefaßt wurde, nämlich als Prozeß der Besonderung von Allgemeinem im Gebrauch (vgl. n.8.). Diesen Gebrauch hatte ich unter den Aspekt der Wechselwirkung gestellt und angenommen, daß sich je nach der Beschreibung dieser Wechselwirkung zwischen Repräsentation und Repräsentiertem, zwischen allgemeinen Begriffen und Modellen und den einzelnen Momenten des musikalischen Verlaufes eine andere Beschreibung des involvierten Subjektes ergibt. In Nussbaums Version ergab sich die Beschreibung eines verkörperten Informationsprozessors. Die Version von Becker und Vogel besprach das Subjekt unter dem Aspekt seiner Erfahrung, die aber Gefahr lief, ihrem Gegenstand gegenüber gänzlich kontingent zu werden, so daß sie an etablierte Praktiken der Deutung von Musik rückgebunden wurde, ohne daß ganz klar geworden wäre, wie die Beziehung zwischen etablierten Praktiken und individueller Erfahrung zu analysieren ist. Diese Beziehung ist, wenn sie nicht nur im Nachmachen besteht, ein Prozeß der Besonderung. Ein Subjekt erfaßt den Gegenstand seines Nachvollzuges als Besonderung der Modelle und Begriffe, die es anlegt. Der Sinn, den es erfaßt, ist dazu selbst als besonderer bzw. als besonderungsfähiger zu denken – andernfalls ist er ein nur allgemeiner Sinn, der begrifflich sprechend gebraucht wird, nicht aber notwendig nachzuvollziehen ist –; und dies kann nur der Fall sein, wenn der Gegenstand auf besondere und besondernde Weise gemacht ist und seinen Sinn eben dadurch gewonnen hat. Den Zusammenhang dieses Machens drückt der Zusammenhang der Begriffe des Werkes, des Materials und des musikalischen Gedankens aus; ihm müssen Repräsentation und Verstehen angemessen sein. Bevor ich diese Begriffe des musikalischen Machens und Denkens darlege, möchte ich allgemein den Begriff des Subjektes sowie die Begriffe von Sinn und Verstehen klären, die in jenem Machen am Werk sind.

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q. Das Subjekt

Zu Ende von Kap. n. wurde angesprochen, daß das Subjekt, das in einem interaktiven Prozeß des Nachvollzuges Modelle gebraucht, um den Verlauf der Musik zu fassen, und diese Modelle im Verlauf ihres Gebrauches umgestaltet, unterschiedlich konzipiert werden kann. Einen Pol der möglichen Subjektbegriffe hatte ich strukturalistisch, informations- oder systemtheoretisch 1 genannt; für ihn gab Nussbaums Theorie ein Beispiel. Der andere Pol war bislang nicht genau zu fassen. Ich werde der Übersicht halber – diese Benennung ist aber nicht alternativlos und sollte nicht mit zu viel Gewicht gelesen werden – von einem hermeneutischen Subjektbegriff sprechen, da er an Theorien anknüpft, die sich selbst einem »Hermeneutik« genannten Feld zuordnen. Er sollte es damit zu tun haben, daß die Erfahrung, die ein Subjekt sich selbst zuschreibt, im Mittelpunkt steht. In der Version von Becker und Vogel endete diese Schwerpunktsetzung noch in einer Unschlüssigkeit zwischen der Kontingenz der Erfahrung gegenüber ihrem Gegenstand und der Bedingtheit der Erfahrung durch eingelebte Praktiken. So wurde nicht deutlich, inwiefern im Nachvollzug von einer Erfahrung des Verstehens die Rede sein kann, deren Norm es ist, ihrem Gegenstand gerecht zu werden. Dazu muß man den Gegenstand so denken, daß er auf eine bestimmte Weise gemacht und gedacht ist. Hierzu wiederum ist einen Begriff des Subjekts nötig, das macht und denkt. Die These ist, daß das strukturalistische, informations- oder systemtheoretische Subjekt nicht in der Lage ist, die relevanten Begriffe des Verstehens, Denkens und Machens zu tragen. Es ist nicht in der Lage, etwas Besonderes im relevanten Sinne zu machen und zu verstehen; dieser Typ von Theorien kennt dieses Besondere gar nicht. Mit diesen Adjektiven charakterisiere ich eine idealtypische Position. Sie sollten nicht zu der Meinung führen, daß diese Position bezüglich des Subjektbegriffs de facto von einer Mehrheit von Strukturalisten, Informationstheoretikern oder Luhmannianern behauptet würde.

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Das Subjekt und sein Verschwinden in den Systemen seiner Vollzüge

Beide Subjektbegriffe können auf den Begriff des Sinnes zurückgreifen, der in Kap. k. als verhaltensbasiert dargestellt wurde; beide können auf die These zurückgreifen, daß der entsprechende Begriff des Verhaltens Bezüge auf die Dingwelt, auf die intersubjektive Welt und auf das Subjekt selbst involviert. Nur ein Begriff des Subjekts ist aber auch in der Lage, den dort nicht weiter ausgeführten Folgerungen aus der Forderung gerecht zu werden, daß es sich um das Verhalten im Medium des Geistes bzw. das Verhalten eines exzentrischen Wesens handelt. Wenn wir dies verstehen wollen, kommt es darauf an, den Selbstbezug des Subjekts genau zu untersuchen, den jeder Begriff der Erfahrung und damit auch der Erfahrung des Verstehens involviert. Sehen wir also, was das systemtheoretisch gedachte Subjekt alles kann, um festzustellen, was es schließlich nicht kann.

q.1. Das Subjekt und sein Verschwinden in den Systemen seiner Vollzüge Ein systemtheoretisch gedachtes Subjekt ist erstens in der Lage, sich zu Verhalten zu verhalten und insofern Verhalten so zu verstehen, wie es oben umrissen wurde: Es wählt aus äußeren Bewegungserscheinungen relevante Aspekte aus und ist also nicht platt empiristisch an die sinnliche Hülle gebunden, sondern stößt zur Idealität des Sinnes von Verhalten vor. Prinzipiell kann es diesen thematisch begreifen – dies hängt nur davon ab, den Beschreibungsrahmen für das Verhalten dieses Subjekt-Systems entsprechend zu bauen – oder durch den Gebrauch von generalisierten Schemata erfassen. Daß das beobachtete Verhalten Sinn hat, bedeutet, daß es sich nicht in seinem Vorliegen und seiner »Aktualität« erschöpft, sondern in Differenz hierzu demjenigen, der den Sinn auffaßt, einen Horizont von Möglichkeiten bietet, an es anzuschließen (vgl. Luhmann 1984, S. 100). Zweitens ist dieses Subjekt in der Lage, sich zu seinem eigenen Verhalten zu verhalten, und zwar unabhängig davon, daß dies in der Form bewußter Überlegung und Beurteilung geschehen müßte. Sein Verhalten ist vielmehr so verfaßt, daß an ihm offenbar wird, ob und auf welche Weise es sich fortsetzen kann. Sinn ist hier prozessual, insofern er nur als Möglichkeit der Anknüpfung von Verhalten verstanden werden kann; fällt diese Möglichkeit fort oder wird sie als erschwert erfahren, zeigt sich dem sich verhaltenden Subjekt eine Störung des Sinnprozesses (des Prozesses, sich zu etwas zu ver351 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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halten). Anders gesagt, bemerkt es, daß es versteht oder Schwierigkeiten hat, zu verstehen. Drittens kann diesem Subjekt zugestanden werden, daß es affektiv reagiert, je nachdem, wie die Prozesse des Verhaltens oder Verstehens verlaufen. Diese Reaktion gehört nicht zu den definierenden Merkmalen seines Verhaltens, ist aber empirisch im Verhalten von Subjekten gegeben und darum zu erklären. Die einschlägige Erklärung besteht darin, die Valenz des Affekts – seinen Charakter als Lust oder Unlust – als Evaluation seiner eigenen Verhaltensvollzüge zu beschreiben, die durch die Lust affirmiert (vgl. Vogel 2007, S. 359) und durch die Unlust als zu korrigierend oder zu vermeidend angezeigt werden. Affekte zeigen dem Subjekt bzw. dem (psychischen) System an, daß seine Verhaltensvollzüge scheitern, auf Schwierigkeiten stoßen, zusätzliche Bemühungen erfordern oder ungehindert dahinfließen. Mitgemeint ist der Bezug auf Dinge, Sinngehalte oder Subjekte, auf die das Verhalten bezogen ist. Insofern ist der Affekt eine Gestalt des Selbstbezuges in allen anderen Bezügen, »eine Selbstinterpretation des psychischen Systems im Hinblick auf die Fortsetzbarkeit seiner Operationen« (Luhmann 1984, S. 372). Das sich verhaltende Subjekt ist auf sich selbst bezogen, indem es erfährt, wie es um es und sein Tun steht. Besonders am zweiten und dritten Punkt kann die Differenzierung zwischen den beiden Sichtweisen auf das Subjekt ansetzen. Dazu ist genauer nach dem Selbst des Selbstbezuges und nach der möglichen Rolle des Affektes oder Gefühls zu fragen. Beginnen wir mit den Affekten. Zwei von ihnen spielen eine bevorzugte Rolle für die Untersuchung musikalischen Verstehens und für die hier beabsichtigte Differenzierung: die besondere Lust in »Erfahrungen, die in einem emphatischen Sinne Einheiten sind« (Vogel 2007, S. 330), und der Eindruck der Sinnlosigkeit und des Nicht-Verstehens. Jene Lust entspringt aus der traditionell als spezifisch ästhetisch bezeichneten Weise, einen Gegenstand als eine Einheit zu erfahren. Gemeint ist dabei eine nicht-triviale Einheit, nicht die Integration eines Gegenstandes unter Begriffe, über die wir bereits auf unproblematische Weise verfügen. Dies wäre eine kognitive Integration. Unter dem Aspekt des Nachvollzuges ist die Integration dagegen performativ und prozessual. Sie faßt nach und nach die Momente des Nachvollzogenen in Modellen zusammen, deren Struktur und Gebrauch dabei variabel ist. Hier erfahren wir nicht nur die Integration des Nachvollzogenen, sondern auch, daß diese Integration unsere ei352 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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gene Leistung ist, die die Momente des Nachvollzogenen in einen Wechselbezug mit den sie integrierenden Modellen bringt. Um die Leistung des nachvollziehenden und verstehenden Verhaltens nicht als trivial und damit als langweilig zu erfahren (vgl. ebd., S. 363), ist gefordert, daß der Gegenstand Aspekte zeigt, die noch nicht bekannt und geläufig und damit erst noch zu integrieren sind. Dies sind Aspekte offenen Sinnes. An ihrer Integration zeigt sich die Herausforderung, die die Leistung im Nachvollzug erst bewußt macht, weil diese »vor der Alternative des Gelingens und Scheiterns steht« (ebd.). Das Gelingen vor dem Hintergrund des möglichen Scheiterns zu erfahren ist die Quelle der fraglichen Lust, die das Vorliegen einer Erfahrung im emphatischen Sinn und damit unser Vermögen bestätigt, auf nicht-triviale Weise Momente eines Prozesses zu einer Einheit zu bringen. »Der Sinn eines Musikstück[s]« ist in dieser Hinsicht die »Form« des Nachvollzuges, kraft derer es zu einer solchen Erfahrung kommt (ebd., S. 333). Anders gesagt: Der musikalische Sinn liegt in der Möglichkeit, eine sich selbst als Leistung anerkennende tätige Integration anzuschließen. Es kommt nun darauf an, den Status der Offenheit des Sinnes und den Status des Scheiterns festzustellen. Vogel und Becker wie auch Luhmann lassen bemerken, wie das Subjekt, das mit der Offenheit und dem Scheitern umgeht, auf der einen Seite der Grenze bleibt, die ich anzeigen möchte. Von Adorno übernehmen Becker und Vogel einige Hinweise darauf, daß das Verstehen musikalischen Sinnes nicht in einem »sei es auch kreative[n] und intelligente[n]« Prozeß der Schematisierung aufgeht. Das ist so, weil im musikalischen Werk Momente offenen Sinnes auftauchen, die es mit »Intentionen« zu tun haben, die wiederum »eher nicht eine Sicht des Handelnden implizieren, sondern an eine Herkunft jenseits des kompositorischen Handelns gemahnen: Intentionen ›strömen ein‹, ›sie blitzen auf‹ […].« (Becker & Vogel 2012, S. 33.) Sie sind ungeregelt und unbeherrscht; man könnte sagen, daß sie Momente sind, die eine deutende Formung erst hervorrufen, in dieser aber nicht aufgehen können. Wichtig ist nun, wie Becker und Vogel die Herausforderung durch diese Intentionen deuten. Sie liegt darin, daß eine Struktur tätig (nachvollziehend) vergegenwärtigt werden soll, die, weil sie von solchen Intentionen mitgeprägt ist, für die Vergegenwärtigung »unendlich reich bestimmt« ist (ebd., S. 38). Diese Unendlichkeit scheinen Becker und Vogel vorwiegend so zu verstehen, daß sie die 353 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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»Funktion« und »Relevanz« (vgl. ebd., S. 41 f.) hat, uns ›unendlich‹ herauszufordern. Darum ist es möglich, daß die Leistung des Nachvollzugs sich nicht abschließen, sondern stets wieder auf etwas Unvorhergesehenes, noch nicht Integriertes treffen wird. Die Unendlichkeit ist hier das Reservoir von Überraschungen, die in Integrationsleistungen zu emphatischen Erfahrungen verarbeitet werden. Sie erscheint als Mittel der Selbstbestätigung eines »verstehende[n] Wesen[s]«, wobei Verstehen in der Entfaltung »der tätig-produktiven Strukturierung des sinnlich Gegenwärtigen« liegt (ebd., S. 42). Der Schwerpunkt liegt darauf, daß wir aus der unendlich reichen Bestimmtheit des Sinnlichen etwas herausgezogen und zur Einheit der Erfahrung gebracht haben. Er liegt nicht darauf, daß wir diese Einheit als problematisch kennen, weil wir jene Unendlichkeit als Problem kennen. Sie als Problem zu kennen ist nicht dasselbe wie sie als Reservoir von Möglichkeiten und Herausforderungen zu kennen. Auf vergleichbare Weise spricht Luhmann von der »endlose[n] Offenheit der Welt« unter dem Aspekt des Sinnes (Luhmann 1984, S. 96). Sinn muß stets – »endlos« – die Möglichkeit bieten, sinnhaftes Verhalten und Verstehen anzuschließen. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Setzung, daß man irgendetwas anschließt, und nicht auf dem problematischen Status dieses An- und damit auch Abschließens. Die herauszuarbeitende Differenz wird deutlicher, wenn wir nach dem Scheitern und dem Eindruck der Sinnlosigkeit fragen, denn hier erweist sich, was aus dem Subjekt oder dem Selbst wird, das in den nun scheiternden Prozessen selbstbezogen ist. Luhmann ist hierzu explizit. Im Gegensatz zum systemtheoretischen Sinnbegriff, der dadurch bestimmt ist, daß er Möglichkeiten des Anschließens bietet, sieht er einen »›hermeneutische[n]‹ Sinnbegriff«, für den »die ›Erfahrung der Sinnlosigkeit‹ formulierbar« werde. »Gerade die Soziologie« – und damit die »allgemeine Theorie«, an der Luhmann arbeitet – »muß sich jedoch außerstande sehen, diesen Sinnbegriff zu übernehmen.« Sie sieht sich nämlich gehalten, nach dem »Sinn der Sinnlosigkeit« zu fragen. Dieser zeigt sich als »Anomie« oder als Abweichung von den gewöhnlichen Möglichkeiten des Anschlusses, und man mag den Sinn dieser Abweichung – den Sinn des scheinbar Sinnlosen – darin sehen, daß er einen Defekt im System anzeigt, denn: »Für sinnkonstituierende Systeme hat alles Sinn«. Die Sinnlosigkeit ist in der Systemtheorie nicht denkbar, sobald sie es mit Systemen zu tun hat, die mit Sinn umgehen: Was die ›Hermeneutik‹ als sinnlos anspricht, 354 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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weil es isoliert, kontingent oder unzugeordnet sei, ist für ein sinnprozessierendes System überhaupt kein Gegenstand. Es wäre das Undifferenzierte. Wenn dies aber ausgeschlossen ist, hält Luhmann den Schluß für gerechtfertigt: »Wir können damit auch den Subjektbegriff aufgeben.« 2

q.2. Das Subjekt in den Systemen seiner Vollzüge und der Begriff der hermeneutischen Gestaltung Was wurde hier genau aufgegeben, so daß es möglich scheint, den Subjektbegriff im Ganzen aufzugeben? – Das System, das die Stelle des aufgegebenen Subjektbegriffes einnimmt, ist in der Lage, an Sinn anzuschließen; es ist in der Lage, sein Anschließen als mangelhaft festzustellen; aber das Nicht-Anschließen gibt es nicht. Es ist der ausgeschlossene Grenzfall. Wenn das systemtheoretische Subjekt überhaupt in der Lage wäre, zu ihm etwas zu sagen, während es sich von ihm abwendet – und das Abwenden setzte schon das unmögliche Verorten dieses Grenzfalles oder Un-Falles voraus –, dann würde es sagen: »Das bin nicht ich« – und es würde diesen Satz eindeutig sagen. Aufgegeben ist damit die Möglichkeit, das Scheitern und die das Scheitern bedingende Offenheit nicht abstrakt negativ zu lesen – als das, was dem Verstehen oder der Erfahrung entweder lediglich vorhergeht oder unverstanden übrigbleibt –, sondern als Problem, das das Verstehen und die Erfahrung der Art, die hier zu klären ist, auch in ihrem Gelingen kennzeichnet. Das Problem, das auch dann bestehen bleibt, wenn ein Anschluß von Sinn gelingt, liegt darin, daß es vor dem Akt des Anschließens etwas ›gibt‹, das ihm unverfügbar zufällt. Nun ist es vorstellbar, daß ein Subjekt angesichts des Scheiterns und derjenigen Aspekte der Offenheit, an die es nicht selbsttätig anschließen kann, sagt: »Das bin ich«. Das heißt für die Frage des Selbstbezuges, daß zum Selbst dieses Subjektes, das der systemtheoretische Blick nicht sehen kann, jene radikal problematischen Aspekte gehören. Die Differenz zum systemtheoretischen Selbstbezug liegt darin, daß in diesem ein Bezug nur zwischen gleichartigen Akten oder Prozessen besteht: Sprache bezieht sich auf Sprache, Handeln auf Han-

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Alle Zitate in diesem Absatz aus Luhmann 1984, S. 109–111.

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deln, Vorstellungen auf Vorstellungen, Bewußtseinsprozesse auf Bewußtseinsprozesse, und somit Sinn auf Sinn (vgl. Luhmann 1984, S. 59 f.). Das Selbst, das ich zu artikulieren suche, ist aber nicht das Netz solcher Prozesse selbst, sondern ihr Träger. Es ist dasjenige, für das diese Prozesse Sinn haben. Durch das System der Vollzüge des Verhaltens erfaßt das Subjekt den Sinn der (Innen- und Außen-) Welt, zu der es sich verhält; aber zugleich ist es die Quelle der Besonderheit dieses Sinnes. Diese Besonderheit liegt darin, daß er Sinn als anerkannter und angeeigneter ist. (Hiermit ist schließlich das Subjekt gemeint, nach dem vorhin (p.3.) gefragt wurde: das Subjekt, das durch seine Arbeit musikalischen Sinn als besonderen stiftet, der der Gegenstand der Verstehensversuche eines gleichartigen Subjekts ist.) Gegenseitig bedingen sich hier drei Momente: Sinn, der offen deutbar ist; der deutende Umgang, dem diese Offenheit als Problem gegenwärtig bleibt; und das Subjekt, das so verfaßt ist, daß es mit Sinn dieser Art umgehen kann. Hat man diesen Subjektbegriff nicht, so versteht man nicht, von welcher Art der offen deutbare Sinn ist; hat man diesen Sinnbegriff nicht, so versteht man nicht ganz, was dieses Subjekt ausmacht. Dies ist noch etwas näher auszuführen. Das Subjekt wurde, Plessner folgend, als exzentrisch beschrieben: Es geht in seinen weltbezogenen Vollzügen nicht auf, sondern diese Vollzüge sind ihm selbst gegenständlich. Es verhält sich zu seinem Verhalten und damit zu sich selbst. Neben dieser Gegenständlichkeit, die auch die systemtheoretische Sicht erfaßt, ist aber ein zweiter Aspekt der Exzentrizität zu bemerken: Es faßt die Vollzüge des Verhaltens, des Verstehens, des Ausdrucks usw. als seine Vollzüge auf. Damit ist nicht der Vollzug allein Gegenstand, sondern es selbst im Vollzug, und dieses Selbst ist nicht im Vollzug aufzulösen. Exzentrizität bedeutet darum nicht die Zentrumslosigkeit, die das Modell des Netzes u. dgl. heraufbeschwört, sondern spricht ein Zentrum an, das unfestgestellt ist und als Problem in Frage steht. Der Doppelaspekt im Begriff der Exzentrizität kann weiter so erläutert werden, daß er einerseits bedeutet, daß es dem Subjekt um etwas Allgemeines gehen muß. In seinem Selbstverständnis – um auf diesem Feld zu bleiben – sucht es sich als Person oder als Mensch zu begreifen. Dies ist eine Voraussetzung, die dadurch begründet ist, daß wir es mit Exzentrizität im Medium des Geistes zu tun haben. Geist fordert die Orientierung an einem Allgemeinen. Auf der anderen Seite des Doppelaspekts geht es dem Subjekt um sich als unvertret356 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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bares Einzelnes. (Vgl. Angehrn 2010, S. 356.) Die Spannung zwischen den zwei Seiten dieses Doppelaspektes können wir als Grund für das Problem der Besonderheit auffassen. Sie ist nicht bloß darum eine Spannung, weil im Begreifen im Medium des Allgemeinen stets etwas übrigbleibt, sondern diese Spannung wird nur dann verständlich, wenn beiden Seiten eine normative Kraft zugestanden wird. Das Integrieren ins Allgemeine ist ebenso eine Forderung wie die Rücksicht auf das (Noch-)Nicht-Integrierte. Letztere können wir als die Forderung des Subjekts verstehen, daß dasjenige, was es allgemein versteht oder in allgemeinen Handlungsformen tut, sein Eigen sein soll. Dies ist nicht schon durch das (fortlaufende oder sich vollendende) Zusammenpassen kognitiver oder handelnder Vollzüge gewährleistet. Eine ausgezeichnete Formulierung dieser Forderung stammt von Georg Misch. Er nennt sie das »Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen« (Misch 1994, S. 110). 3 Als unergründlich oder unfestgestellt ist das hier in Frage stehende Problem beschrieben. Als verbindlich ist es beschrieben, weil es nicht ein Rest vor dem begrifflichen Erfassen ist, den man liegenlassen könnte, sondern in seinem Verhältnis zur »Gedankenmäßigkeit« und damit zu ergründetem, gedeutetem und festgestelltem Sinn untersucht werden muß. Der Ort des Unergründlichen wurde bisher irgendwo im Subjekt behauptet. Misch legt ihn in etwas, das er »hermeneutische Gestaltung« nennt (Misch 1994, S. 502 u. passim); von hier kann eine genauere Erläuterung dieses Ortes ausgehen. Hermeneutische Gestaltungen sind Gegenstände im weitesten Sinne, in denen unergründlicher Sinn ausgelegt und repräsentiert ist. Da sie solchen Sinn tragen, sind sie für das Verstehen in der dargelegten Weise problematisch – offen deutbar – und zugleich verbindlich; sie sind Gegenstände, an denen wir unsere Repräsentation nicht auf beliebige Weise derart ausüben sollen, daß wir zu einer emphatischen Erfahrung kommen, sondern ihr Sinngehalt stellt eine Forderung. Daß es Gestaltungen mit solchem Sinn gibt, ist darin begründet, daß sie Gestaltungen durch und in Bezug auf Leben, genauer: Leben Nicht wenige, hier nicht im einzelnen dokumentierbare Einsichten hinsichtlich dieser Überlegung verdanke ich Schürmann 2011 und 2014. – Das als Misch 1994 zitierte Werk besteht aus Vorlesungsmaterialien der Jahre 1927 bis 1934; Plessner war mit Mischs Thesen wohlvertraut, so daß sie mit den Problemen, die hier anhand von Plessnerschen Begriffen dargestellt sind, in einem engen auch genetischen Zusammenhang stehen.

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im Medium des Geistes, sind. In hermeneutischen Gestaltungen geht es um eine »Selbstauslegung des Lebens« (ebd., S. 569), und zwar – um es zu wiederholen – nicht um eine Darstellung von Zuständlichkeiten eines sinnlich empfindenden Wesens, also von Reizen (vgl. ebd., S. 518 f.), sondern um die Repräsentation eines sinnhaften Bezuges, dessen Sinnhaftigkeit nur dadurch garantiert werden kann, daß ein lebendiges Wesen sich selbst in diesem Bezug sieht. Der Bereich hermeneutischer Gestaltungen ist also nicht von vornherein ein abgegrenzter Gegenstandsbereich, sondern durch eine Perspektive gekennzeichnet: die Perspektive der »Bedeutsamkeit […] vom Lebensbezug aus«, die uns weltlich Begegnendes psychophysisch indifferent als ausdruckshaft zeigt, so daß es uns, wie Misch auslegt, »anmutet« und anspricht (ebd., S. 513 f.) und wir uns selbst gegensinnig auf jene Gegenstände bezogen finden. Ein Beispiel, das Misch gibt, ist der unergründliche Lebensbezug auf das Wasser, dessen hermeneutische Gestaltung er vielfach an Goethes Gedicht »Der Fischer« exemplifiziert, unterschieden von naturwissenschaftlichen, rein verständigen Bezügen auf denselben Gegenstand (z. B. ebd., S. 511 f.). Wenn etwas eine hermeneutische Gestaltung ist, so kann es nicht gänzlich aus der Perspektive des Lebensbezuges oder des Ausdrucks herausgehoben werden. Hieran ist zu erkennen, daß das Problem der Besonderheit mit einer Beschreibung von Sinn verknüpft ist, die betont, daß dieser ein geistiges und zugleich leibliches Wesen betrifft, wobei die Leiblichkeit als Moment des Sinnbezuges dem ›rein‹ geistigen Verständnis nicht völlig transparent sein kann. Für vieles kann eine solche verständige Transparenz hergestellt werden. Gegenstände der belebten und unbelebten Natur – wie eben das Wasser – erscheinen uns ausdruckshaft, aber wir können auf andere Weise mit ihnen umgehen – nämlich schematisch –, ohne daß man sagen müßte, dadurch würde das Wesen jener Gegenstände verkannt. Gleiches gilt für Handlungsschemata oder für Institutionen, die wesentlich zweckhaft sind. Über sie kann man trefflich funktional und systemtheoretisch sprechen. Eigentlich hermeneutische Gestaltungen sind hingegen dadurch ausgezeichnet, daß sie »nicht bloß als Ausdruck verstanden werden, sondern selber Ausdruck sind« – »daß sie ein eigenes Selbst haben […] im Gegensatz zu selbstlosen Sachen.« (ebd., S. 556) Solche Gestaltungen oder Repräsentationen sind so zu verstehen, daß sie geäußert worden sind, um vielleicht nicht sich selbst, aber ein Selbst 358 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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prozessual und performativ zu äußern. 4 Darum sind sie verständlich nicht nur in dem Sinne, daß man irgendein Verhalten an sie anknüpfen kann, um sie beispielsweise zu gebrauchen. Bei hermeneutischen Gestaltungen haben wir es nicht nur mit »dem Hervorbringen von Gebilden, die an sich sinnhaft und verstehbar sind, [sondern] einem Hervorbringen, das als Zu-Verstehen-Geben gemeint ist«, zu tun (Angehrn 2010, S. 128); nicht nur mit der »faktische[n], sondern [mit der] explizite[n] Bildung und Darstellung von Sinn« (ebd., S. 179). Diese Äußerung wie auch ihr Verständnis stehen unter der Forderung, das Unergründliche des Lebensbezuges im Medium des Geistes nicht einzuebnen, sondern positiv als Verbindlichkeit zu nehmen. Die gerade beschriebene Konstitution hermeneutischer Gestaltungen entspricht einem Bedürfnis eines Subjekts, wenn es so gedacht wird, daß es Träger verbindlich unergründlichen Sinnes ist. Dieser Sinn ist lebensbezogen. Das Lebensmedium des Subjekts ist geistig. Der Sinn entspringt darum der Spannung zwischen der unvertretbaren individuellen Existenz und seiner Stellung in einer Welt allgemeiner Begriffe; zugleich bezieht er sich auf diese Spannung zurück und ist Sinn nur für sie. Das Subjekt ist nicht nur Träger oder Quelle, sondern auch Ziel jenes Sinnes. Das bedeutet, daß der Mensch sich selbst bestimmen kann und muß, und zwar nicht aus dem gänzlich Unbestimmten heraus, sondern darauf zurückgehend, daß der Mensch sich selbst als etwas – oder etwas in sich – vorfindet, das in seiner Bestimmtheit unbestimmt oder offen ist. Diese offene oder unbestimmte Bestimmtheit ist die Struktur des zu Deutenden. Sich zu deuten ist eine Forderung und Leistung, die verbindlich oder, stärker ausgedrückt, lebensnotwendig für ein Wesen ist, dessen Leben Geistigkeit und darum Selbstbewußtheit und Exzentrizität auszeichnen. Denn es steht sich, mehr oder weniger implizit, mit dem Anspruch gegenüber, sich das, was es tut und erlebt, anzueignen und den möglichen und offenen Sinn, den es in seinem Tun und Erleben aufgreifen kann, zu explizieren und damit, indem es ihn zu einem Sinn für sich und für seine Geistigkeit macht, in einem gewissen Sinn erst oder erneut hervorzubringen. Weil dieser Sinn lebensbezogen und darum nicht rein geistig durchsichtig ist, gehört er dem Bereich des Verhaltens im weiten Sinne an. Darum kann die Tätigkeit der Selbstdeutung nicht bloß durch Diese Formulierung sucht die Mehrdeutigkeit von Mischs Begriff »Selbstaussage« (Misch 1994, S. 564) zu erfassen.

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einen Blick nach innen geleistet werden. In der Selbstdeutung repräsentieren wir uns, aber nicht nur ›für uns‹ in einem strengen Sinne, demzufolge diese Repräsentation uns ganz innerlich sein könnte. Um uns verstehen zu können, müssen wir uns in Formen repräsentieren, die Sinn tragen können. Wenn Sinn aber etwas ist, das wir zuallererst aus der Schicht des Verhaltens heraus kennen, dann müssen die sinntragenden Formen Verhaltensformen sein und nicht Formen der bloßen Befindlichkeit. Sie müssen Ausdrucks-, Handlungs- oder Sprachformen sein. Als Selbstdeutung oder Selbstaussage konstituiert sind diese Formen hermeneutische Gestaltungen. Sie treten aber nicht aus dem sinnproduzierenden, deutenden Prozeß heraus, sondern sind selbst wieder Gegenstände möglicher Deutung. Die Doppelseitigkeit der Repräsentation, die einerseits das Repräsentieren eines Verstandenen in einem Gegenstand – etwa das Produzieren eines Kunstwerkes –, andererseits wiederum das Repräsentieren dieses Gegenstandes in einer Leistung des Verstehens bzw. der Deutung ist, zeigt sich an dieser Stelle. Daß wir uns zu einer geistigen Welt verhalten, die sowohl aus den von uns selbst hervorgebrachten als auch den von anderen produzierten einzelnen sinntragenden Formen besteht, ist nichts anderes als die Gegenseite der Selbstdeutung, die eben nicht ein Blick nach innen, sondern immer zugleich eine Deutung der eigenen Weltbezüge ist. So ist der Umgang mit Sinngebilden nicht zu trennen vom Umgang mit den eigenen Verstehens- oder Deutungsvermögen, die ja ihre Produktivität beweisen, indem sie auf einen an Gegenständen erscheinenden Sinn eingehen. Auf diese Weise pflanzt sich unergründlicher Sinn fort. Mit einem Sinngebilde in einen Prozeß der Deutung einzutreten ist darum nichts Gleichgültiges, kein bloßes Durchspielen von Regeln und Modellen, sondern es ist eine Tätigkeit, die von einem Subjekt getragen wird, das sich selbst als Ziel dieser Tätigkeit versteht. Insofern sie eine Tätigkeit des Deutens und Verstehenwollens ist, ist sie eine Tätigkeit, die Sinn für ein Subjekt produziert.

q.3. Unergründliches aussprechen: Noch eine Metapherntheorie Ich habe nun die Konstitution hermeneutischer Gestaltungen durch ihre Verknüpfung mit dem Begriff des Subjekts dargelegt. Bevor ich den Versuch unternehme, Musik als Produkt einer solchen Gestal360 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Unergründliches aussprechen: Noch eine Metapherntheorie

tung – in Differenz zu anderen Verständnissen ihrer Gestaltung – zu beschreiben, lohnt es sich, den Blick auf dasjenige ihrer Medien zu richten, dem die Aufmerksamkeit der Philosophie in besonderem Maße gegolten hat und das auch für Misch den Beginn seiner Darlegung ausmacht: auf die Sprache. Wenigstens anzusprechen ist dabei ein dritter Weg der Metapherntheorie nach den in den vorausgegangenen Kapiteln diskutierten. Georg Misch knüpft an eine lange Tradition der Erkenntnistheorie an, wenn er erklärt, daß diskursives Denken von Intuition getrennt werden kann. Sprache könne dagegen nur diskursiv sein. Aber ihr Diskurs sei von zwei Arten: Er sei rein diskursiv, wenn er bereits diskursiv Gedachtes aussagt, nämlich schematisch faßbare Zusammenhänge mit ihren distinkt benennbaren Elementen und ihren Grund- und Folgerelationen. Als zweite Art des Diskurses führt Misch die »evozierende« an. Sie tritt in Kraft, wenn wir »intuitiv Gewußtes […] durch Aussprache hervorrufen« (Misch 1994, S. 433). »Aussprache« ist hier terminologisch von »Aussage« unterschieden. Die evozierende Aussprache bedient sich verschiedener Mittel, über die Misch nicht im Detail Auskunft gibt. Zum einen kann sie ausführlich oder geradezu umständlich scheinen, wenn sie nach und nach versucht, das intuitiv Ausgemachte in seinen unterschiedlichen Aspekten und Momenten darzustellen. Sie umkreist hier das problematische Zentrum. Zum anderen kann sie versuchen, diese Aspekte und Momente verdichtet anzusprechen; dies ist der Weg zur Metapher. 5 Im metaphorischen Sprechen zeigt sich generell eine Inkongruenz zwischen dem Gegenstand, der metaphorisch bezeichnet wird, und dem Wort, das zur Bezeichnung herangezogen wird. Aus dieser Inkongruenz entspringt ein Sinn, der von keinem der beiden Pole allein getragen wird. Dieser Sinn ist das Besondere der Metapher. Er zeigt sich, insofern wir es nicht mit einer Umbenennung zu tun haben, die einen Gegenstand einem Begriff unterwirft, der etwas anderes zu bedeuten schien, sondern mit einer Umprägung des Allgemeinen, das das metaphorisch gebrauchte Wort mitbringt. Das metaphorisch Bezeichnete hält einen Widerstand oder Eigensinn aufrecht, der die allgemeine und gebräuchliche Referenz des Wortes suspendiert. Dieser Widerstand wird offensichtlich, wenn wir MetaDie folgenden drei Absätze übernehmen einige Anregungen aus Ricœur 1986 (S. 188–190; S. 224–228; S. 233–238).

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361 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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phern verstehen; und wo es diesen Widerstand nicht gibt, gibt es keine lebendigen, sondern nur tote Metaphern. In ihm äußert sich die Verbindlichkeit der Art von Sinn, die als unergründlich bezeichnet wurde. Umgekehrt müssen wir das Auszusprechende so erfaßt haben, daß wir ›sehen‹ oder es sich uns zeigt – dies ist die Stelle der Intuition, die Misch angesprochen hat –, daß es verknüpfbar mit dem Allgemeinen eines Begriffes ist. Sofern der Sinn des Auszusprechenden aber offen und unergründlich ist, weist er den Widerstand auf, aufgrund dessen er sich nicht durch diese Verknüpfung abschließt. Im metaphorischen Sinn wird eine Richtung der Verknüpfbarkeit des Auszusprechenden offensichtlich. Dies öffnet die Deutung des Auszusprechenden in Richtung des Feldes oder ›Netzes‹, in dem das metaphorisch gebrauchte Wort seine semantische Stelle hat. So entfaltet sich die Metapher weiter. Das Ausgesprochene gewinnt somit eine Form, unter deren Perspektive es zusammengefaßt wird; aber indem kraft seines Widerstandes andere mögliche Perspektiven und Zusammenhänge nicht abgeschnitten sind, ist die Möglichkeit dieser Perspektiven in der Metapher mitgefaßt und verdichtet. Zugleich mit dieser Verdichtung ergibt sich die Öffnung des üblichen allgemeinen Verständnisses des gebrauchten Wortes zu jenen Möglichkeiten hin; hiervon war schon die Rede. Diese Logik der Sprache, daß sie einerseits bestimmt und allgemein bezeichnet, andererseits der Besonderung zugänglich ist, macht es möglich, durch sie »die Perspektive einer durch Suspension von der deskriptiven Referenz befreiten Welt zu entfalten.« (Ricœur 1986, S. 225) Man sieht eine Welt aus der Perspektive des unergründlichen Lebensbezuges – nicht des ›Was-sie-ist‹, sondern des ›Wie-esist-zu-sein‹ oder, wie Ricœur (ebd.) schreibt, »eine[r] Seinsweise« – und der Verbindlichkeit seiner Offenheit; und man sieht dieses Leben im ausgesprochenen Bezug auf das ihm entgegenstehende und entgegenkommende Allgemeine. So erschließt die evozierende Aussprache für den unergründlichen Sinn eine Welt, und umgekehrt. Dieser Blick auf die Metapher unterscheidet sich von den beiden früher angeführten, indem er einerseits nicht davon ausgeht, daß wir in der Metapher bereits bestimmte Gegenstände aneinandergehalten fänden. Hier hätte die Metapher nur die Leistung, auf sonst nicht auffällige Merkmale hinzuweisen, die wir grundsätzlich auch ohne die Metapher erkennen könnten. Andererseits – dies betrifft die Theorie der »cognitive metaphor« – läßt er die Metapher sich nicht 362 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Unergründliches aussprechen: Noch eine Metapherntheorie

darin erschöpfen, uns auf der Grundlage basaler leiblicher Funktionen Ausdrücke für unsere Orientierung in der Umwelt zu reichen. Dies wären Metaphern, die uns wie von selbst zufallen und ihren Zweck darin haben, daß sie einfache Bilder für geistige Gebilde und Akte geben, welch letztere diese Theorie gern für ›abstrakt‹ hält. Gegen diese Problematizitätsreduktion stellt die dritte, eben skizzierte Auffassung von der Metapher die Behauptung, daß die Orientierung durch die Metapher ein Medium der Selbstdeutung oder Selbstaussage eines geistig sprachbegabten Lebewesens ist und die unaufhebbare Problematizität, Unfestgestelltheit oder Unergründlichkeit dieser Orientierung aufbewahrt. Was schließlich das Verstehen von Äußerungen betrifft, so ist es notwendig, auf die jeweilige Konstitution einer Äußerung aufmerksam zu sein, da die Sprache sowohl allgemeine Bezeichnungen als auch evokative Erschließungen leisten kann. Weil jene für den alltäglichen Umgang eine vorzügliche Funktion haben, fällt es leicht, darüber die Leistung der Evokation zu vergessen. Dies liegt daran 6 , daß evozierende im Gegensatz zu rein diskursiver Rede sich abnutzen kann; in anderen Worten: Metaphern setzen sich ab und werden zu einem feststehenden Sprachgebrauch. Einen evozierenden Diskurs als solchen zu verstehen erfordert es, den Prozeß der aussprechenden Gestaltung nachzuvollziehen und darum der verdichteten Perspektiven und Richtungen des ausgesprochenen Sinnes bewußt zu sein. Man produziert in gewissem Maße erneut die Besonderung des Allgemeinen, das die Elemente der Rede bezeichnen, indem man sie auf ihren Lebensbezug befragt. Dieser Bezug kann, da er unergründlich ist, nicht festgestellt sein. Das evozierend Ausgesprochene fordert stets eine Neudeutung und, wenn diese ausdrücklich werden soll, Variationen der Evokation. Vergißt man diese Variationen und den Charakter dieses Diskurses, einen Lebensbezug zu vollziehen, so findet man die zuvor evozierende Rede schal, flach und abgenutzt. Von diesen allgemeinen Erörterungen zum Begriff des Subjekts und seiner Selbstaussage steigen wir zurück zur Musik, ihrer Form und ihren Qualitäten, um nach und nach den Ort anzuzeigen, an dem jener Begriff des Subjekts bedacht werden muß.

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Vgl. zum folgenden Misch 1994, S. 534–545 und S. 551.

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r. Material, Gedanke und Werk

Empiristische Theorien verschiedener Spielarten betrachten die Musik und ihren Sinn ›realistisch‹, nämlich als Gegenstand der Wahrnehmung, den wir auf bestimmte Weise beschreiben können. Theorien kognitivistischer Tendenz betrachten das musikalische Verstehen als das Wahrnehmen ästhetischer Eigenschaften, die zumeist auf direkte und in schwierigeren Fällen auf kreativ metaphorische Weise benannt (aber eben nur benannt) werden können. Theorien psychologistischer Tendenz bis hin zu Nussbaums Simulationstheorie betrachten das musikalische Verstehen als flüssiges Funktionieren eines Wahrnehmungs- und Kategorisationssystems, dessen Resultate nicht unbedingt begrifflich gefaßt werden müssen – wenn doch, so können sie als Grundlegung für die zuvor genannten Kognitivismen dienen –, aber auf jeden Fall die verstehende ›Psyche‹ affizieren können. In ihrem Fall ist die Frage nicht so sehr, ob eine realistische Ontologie für die Musik anzunehmen ist; dafür erscheint das Verstehen der Musik als ein ›realer‹, naturalistisch faßbarer Prozeß. Nachvollzugstheorien betonen demgegenüber die Leistung des Subjekts, die erst die Integration der musikalischen Abläufe zu erfahrbaren Gestalten und zu einer erfahrbaren Ganzheit ermöglicht. Für sie ist der Gedanke entscheidend, daß der musikalische Sinn nicht in etwas objektiv Beschreibbarem liegt, das aus einer ontologisch realistischen Perspektive heraus faßbar wäre. Der Sinn der Musik ist vielmehr offen, und indem wir Nachvollzugsmodelle und Sukzessionsbegriffe mitbringen, erfahren wir Aspekte dieses offenen Sinns. Das Problem dieser Art von Theorie ist es jedoch, den Prozeß des Nachvollzugs nicht ins Willkürliche entgleiten zu lassen. Um diesem Problem zu begegnen, habe ich vorgeschlagen, von Repräsentation zu sprechen und zu betonen, daß diese zwar produktiv ist, aber von bestimmten Momenten der Musik ausgeht. Diese Momente sind ästhesiologisch und kulturell geprägt. Im Nachvollzug der Musik als Bewegung sind die ästhesiologischen Charakteristika des Klanges in 364 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

ihrem Bezug auf menschliches Verhalten bedingend. Symbolische Werte beruhen auf der im wesentlichen kulturellen, teils aber auch persönlich-idiosynkratischen Fixierung von Assoziationen oder auch von präzisen Bedeutungen an musikalische Elemente. Der Schematismus hat einerseits seinen Grund in den wiederum ästhesiologisch begründeten Möglichkeiten, Tonhöhen kategorial zu trennen und in Tonsystemen zu ordnen sowie Tondauern als Impulse aufzufassen, und andererseits in den kulturellen Praktiken, diese Ausgangsmomente zu Techniken des Musikmachens – zu Techniken der musikalischen Formgebung – zu ordnen. Diese drei Momente, die in der Musik liegen, sind die gegenständlichen und sinntragenden Bezugspunkte des Prozesses der deutenden Repräsentation, die sich mit ihnen in Wechselwirkung befindet, indem sie einerseits vorbestimmten Sinn aufnimmt, andererseits selbst Verknüpfungen mit vertrauten Begriffen anstellt, damit das Gehörte unter verschiedenen Perspektiven wahrnimmt und diese Perspektiven wiederum nach Maßgabe des Gehörten korrigiert. Kurz gesagt, erscheint die Repräsentation als (ästhetisches) Spiel. Offensichtlich hebt diese traditionsreiche Bestimmung des Umganges mit ästhetischen Gegenständen einen wichtigen Aspekt der Erfahrung des Subjektes hervor. Problematisch wird diese Bestimmung aber, wenn man meint, sie setze den Schlußpunkt hinter eine Untersuchung des musikalischen Sinnes und des musikalischen Verstehens. Am deutlichsten wird diese Problematik, wenn wir genau ins Auge fassen, daß die Pole der spielerischen Wechselwirkung auf der einen Seite ein repräsentierendes und deutendes Subjekt, auf der anderen Seite aber ein in seiner Gestalt und seinem Sinn ästhesiologisch und kulturell bestimmtes Stück Musik sind. Hier gibt es ein Ungleichgewicht. Eine umfassende und ausgewogene Theorie musikalischen Sinnes sollte auch an (oder hinter) die zweite Stelle dieser Wechselwirkung ein repräsentierendes und deutendes Subjekt setzen: das produzierende Subjekt und seine Tätigkeit, die im musikalischen Werk Gegenständlichkeit gewinnt. Der Sinn, der im Werk liegt, kann damit nicht mehr auf die ästhesiologisch ermöglichten und durch kulturelle Praktiken vermittelten Sinngehalte beschränkt werden, die ein hörendes Subjekt repräsentiert. Das Werk selbst ist die Repräsentation von Sinn, der seinen Ursprung im produzierenden Subjekt hat. Diese Repräsentation, die im Werk zu finden ist, ist ebenfalls produktiv und prozessual, und zwar unter der Maßgabe, daß sie eine Tätigkeit eines Subjekts ist, 365 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

das der Träger und das Ziel – dasjenige, für das die Repräsentation sinnvoll ist – dieser Tätigkeit ist. Für die Tätigkeit, die das Werk hervorbringt, sind die Ausgangsmomente, die zuvor behandelt wurden, Momente des Materials: desjenigen also, aus dem das Werk gemacht werden kann. Ich zeige im folgenden an, wie die unterschiedlichen ästhesiologisch und kulturell bestimmten Momente und Sinngehalte in den Begriff des Materials eingehen, um anschließend zu erläutern, daß dieser in Bezug auf die Formung des Materials zum Werk ein »Reflexionsbegriff« (Hindrichs 2014, S. 48) ist. Damit stelle ich die Frage »Was ist Material?« auf eine doppelte Weise: Erstens gehört zu ihr die Überlegung, welche Momente sich unter dem Begriff des Materials versammeln, und zweitens diejenige, was dieser Begriff nicht nur enthält, sondern auch selbst bedeutet. Anders gesagt, stelle ich die Frage nach den materialen Momenten des Materialbegriffs und danach die Frage nach seinem logischen Ort. Dieser logische Ort läßt sich nur in Beziehung auf die Begriffe der Form und des formenden Subjekts bestimmen, für die es Material ist. Klärend ist dabei die rückblickende Überlegung, was sich ergibt, wenn man die Momente der Musik, die in den Reflexionsbegriff des Materials eingehen, nicht unter dieser Perspektive bedenkt und damit den Begriff des Materials nicht ausreichend durchdringt. Den Formbegriff wiederum differenziere ich, indem ich ihn mit dem – nun endlich zu klärenden – Begriff des Gedankens verknüpfe.

r.1. Der Begriff des musikalischen Materials: Seine materialen Momente Material ist dasjenige, worauf das produktive Subjekt zurückgreift. 1 Diese breit angelegte Bestimmung umfaßt die unterschiedlichen Momente der musikalischen Repräsentation sowie die unterschiedlichen Ebenen von Komplexität, in denen diese Momente sich ausgestaltet haben. In der Ästhetischen Theorie führt Adorno den Begriff des Materials ein, um der »vermittelten Unterscheidung« zwischen »Form und Inhalt« gerecht werden zu können, die ja beide im Materialbegriff aufgehen. Material »ist, womit die Künstler schalten: was an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrungsweisen fürs Ganze sich ihnen darbietet: insofern können auch Formen Material werden; also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben.« (Adorno 1970, S. 222)

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Der Begriff des musikalischen Materials: Seine materialen Momente

Das Moment des Materialbegriffs, das wohl zuerst in den Sinn kommt, ist das Moment des musikalisch bestimmten Klanges. 2 Seine Tonhöhen und Dauern sind so gesehen das Grundmaterial für Melodien und Rhythmen – für die Formung musikalischer Bewegung und die unzähligen Techniken dieser Formung. Gemeint sind, um nur einige Beispiele zu nennen, die Techniken des harmonischen Satzes in den verschiedenen Epochen – von der frühen Mehrstimmigkeit bis hin zum Bigband-Arrangement –, Techniken der Anwendung von Begleitfiguren im homophonen Satz, Techniken der polyphonen Stimmführung, ferner die Techniken der Gliederung musikalischer Abschnitte in sich ergänzende Phrasen, die Entgegensetzung von Abschnitten usw., und in jüngerer Zeit die Reihentechniken und anderen Permutationen des Serialismus, die allesamt in mehr oder weniger formalisierter Weise erlernt werden können. All diese Techniken der Kompositionslehre – der Formung des Klanges – müssen selbst wieder als Material der Produktion eines Subjekts gelten, wenn dieses Subjekt sie eigenständig denkend verwendet. Sie bilden das schematische Material auf verschiedenen Ebenen der Formgebung, von der Zusammenfügung einzelner Töne bis hin zur Ordnung großer Abschnitte. Man kann etwa auf eine Rondo-, auf eine Tanz- oder Songform und selbst auf eine fast unerschöpflich traditionsreiche Gattung wie das Streichquartett oder das Solokonzert als Material zurückgreifen, indem man diese oder jene Konvention der Formbildung in der kompositorischen Arbeit aufgreift. Solche Formen sind nicht im Sinne eines verbreiteten Mißverständnisses als abstrakte Umrisse zu verstehen, die man mit Klangstoff füllen muß, sondern sie werden zu »materialen Formen« 3 , weil sie als Material für eine sinnvolle Arbeit an der Musik erkannt werden und Hier weiche ich verbal von Hindrichs’ Unterscheidung zwischen Material und Form ab, auf die ich mich im folgenden wiederholt beziehe. Hindrichs bezeichnet den Klang in seiner tonsystematischen Bestimmung und die musikalische, rhythmisch geordnete Zeit als »Kategorien« der Form der Musik (Hindrichs 2014, S. 230 f.): Sie machen Musik zu dem, was sie ist, und sind somit Kategorien ihrer Eigenform. Nach diesen Kategorien sind ferner die Musikwerke im einzelnen bestimmt. Aber es wäre ein Mißverständnis, sie als Form überhaupt zu bezeichnen: Sie sind die Form des Materials, insofern es musikalisches Material ist, aber noch nicht die Form des Werkes (vgl. ebd., S. 75). Die Reflexionsebene, auf der wir uns jetzt befinden, betrachtet alle Formbestimmungen als Material, die nicht aus der besondernden Arbeit des produktiven Subjektes selbst hervorgehen. 3 Dies ist ein Terminus Adornos; zur Erläuterung vgl. Danuser 2007, besonders S. 31 für den eben formulierten Gedanken. 2

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Material, Gedanke und Werk

darum selbst Träger und nicht nur Rahmen potentiellen Sinnes sein müssen. In diesen Hinsichten ist der Klang Material, insofern er der Träger der wesentlichen Qualitäten der musikalischen Eigenform ist: der Qualitäten der Dauer und der Tonhöhe also, die die primären Koordinaten der musikalischen Konstruktion abgeben. Er ist aber auch Material als Träger der stofflichen Qualitäten des Hörbaren überhaupt und, hiermit zusammenhängend, der Ausdruckswerte lautlich-stimmlicher Äußerung. Als Träger dieser Art von Qualitäten ist er mit bestimmten Wirkungen auf das Hören verknüpft, die über das kognitive Erfassen von Klangeigenschaften hinausgehen. Diese Wirkungen gehen grundsätzlich auf die ästhesiologisch begründete »Fern-Nähe«, auf die Eindringlichkeit des Klanges zurück, und reichen von der Auffassung des Klanges als Produkt von Stoffen und Kräften bis zum Nachvollzug seiner rhythmischen und melodischen Bewegtheit. Zum Materialstatus des Klanges gehört dieses Spektrum seiner Wirkungen: Wer mit Klängen arbeitet, arbeitet mit ihren Wirkungen und mit Nachvollzugsmöglichkeiten, also mit Habitus bzw. Gewohnheiten des Hörens und mit Assoziationen, die teils aus den elementarsten Qualitäten des Klanges entspringen, teils kulturell vermittelt sind, beispielsweise durch etablierte und ins unmittelbare Hören übergegangene Modelle des Nachvollzuges, in denen die Musik etwa als Tanz, als Rede oder als Gestaltung eines Naturereignisses erscheint. Damit geht es um unmittelbare Nachvollzüge thematischen Sinnes ebenso wie um die Fixierung der Deutung dieses Sinnes in Begriffen, die als sekundäre Schematisierungen bezeichnet wurden. Das gesamte Panorama der Ausdruckswerte, die scheinbar unvermittelt in der Musik liegen, zählt somit zum Material der musikalischen Arbeit. Als Material angesprochen sind damit die Weisen der versprachlichenden und der schematisierenden Repräsentation der Musik. In sie gehen ferner jene Momente ein, die »symbolisch« genannt wurden und die auf der konventionellen Festlegung einer Verknüpfung mit kulturellen Praktiken und Kontexten beruhen. Musikalisches Material sind also schließlich symbolisch repräsentierende Bezüge. Die zuvor öfter herangezogenen metapherntheoretischen Überlegungen zur Musik können vor dem Hintergrund des Materialbegriffs differenziert werden, besonders hinsichtlich der oft behaupteten Kreativität oder Erschließungsfunktion der Metapher. Im Bereich des Materials finden wir die etablierten Metaphern, die für 368 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der Begriff des musikalischen Materials: Seine materialen Momente

eine Praxis der Produktion von Musik und des Nachdenkens über sie die Funktion haben, Sachverhalte in der Musik zu bezeichnen. Was sie bezeichnen, ist zumeist schematisch – in den Noten – bestimmbar. Dies gilt für musiktheoretische Termini wie »Vordersatz« oder »Nachsatz«, die an die Sprachgrammatik angelehnt sind, wie auch für Ausdrucks- und Charakterbezeichnungen konventioneller Art; die Konventionalität läßt sich u. U. daran erkennen, daß es Anweisungen der Satzlehre, der Instrumentation usw. gibt, wie solche Charaktere hergestellt werden können. Der Ursprung solcher Metaphern, die mit ihrer Etablierung die Rolle des Bezeichnens übernehmen, wird gern unter Berufung auf Lakoff und Johnson im »cross-domain mapping« zwischen der Musik und allgemein bedeutsamen Bereichen menschlichen Lebens gesehen. 4 Der Quellbereich (»source domain«) für fast alle begrifflichen Welterschließungswerkzeuge ist nach Lakoff und Johnson in leiblichen Welt- und Selbstbezügen zu finden, die uns beispielsweise die Proto-Begriffe der vertikalen Koordinate im Raum, der Nähe und Entfernung zu einem Zentrum, der hierarchischen Unter- und Überordnung oder der Fortbewegung entlang eines Weges bereitstellen und anhand derer wir dann andere Bereiche wie eben die Musik erschließen. Als Quellbereiche wären – über Lakoff und Johnson hinaus – ferner die Sprache oder der subjektive Ausdruck zu nennen. Unter Bezug auf jene Quellbereiche entwerfen wir Metaphern, kraft derer uns sich etwas erschließt, das vorher nicht deutlich erkennbar war. Diese Ebene des Metapherngebrauchs ist vor allem dann interessant, wenn man grundsätzlich erforscht, woher wir die Begriffe haben, in denen wir Musik repräsentieren. Daß aber die oft beschworene Kreativität der Metapher hier eine Rolle spielt, mag bestritten werden, denn die eben umrissenen Metaphern gehören in den Bereich des musikalischen Materials: Insofern die verstehende Repräsentation der Musik jene Seite der intersubjektiv bestimmten Repräsentation hat, die wir uns aneignen und an die Musik anlegen können, ohne daß wir diese Repräsentationsformen selbst neu zu produzieren hätten, und die der Musiker als Techniken verwenden kann, ist sie Material. Die kreative, evokative oder erschließende Qualität, die in der Entstehung und in der einzelsubjektiven AneigIntensiv rezipiert wird diese Theorie z. B. von Zbikowski (2002), Spitzer (2004) und, wie gesehen, Nussbaum (2007).

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Material, Gedanke und Werk

nung der Metapher liegen mag, verliert sich aber in der Etablierung ihres Gebrauches. Darum ist es irreführend, die Metaphorizität in jeder Rede über Musik zu betonen. Der Ort, an dem die Metapher ihren neu erschließenden Wert entfaltet, ist anderswo zu suchen, nämlich dort, wo sie aus der Konfrontation des Materials mit einem entweder an anderen Stellen des Materials selbst als Potential liegenden oder mit einem durch die Reflexion auf das Material entwickelten Sinngehalt einen noch nicht etablierten, wiederum reflexiv und evokativ auszudeutenden Sinngehalt herausschlägt. 5 Besonders interessant ist dieser Vorgang dort, wo die Musik selbst etwas zu sagen scheint, was auf allgemeine Weise faßbar ist. Dies tut sie durch ihre konventionell-symbolischen Ausgangsmomente, etwa durch »topics«. Wenn diese Ausgangsmomente zum Material zählen und mit konkurrierenden, inkongruenten Momenten konfrontiert werden – mit weiteren »topics« oder mit selbst nicht konventionell-symbolischen Gestaltungen thematischen Sinnes, die einen spezifischen Nachvollzug anregen –, tritt der Fall ein, daß der symbolische Sinn nicht einfach funktioniert, sondern in seiner Funktion herausgestellt wird: »the listener is aware not only of the signification of the topic, but also of its function as a signifier.« (Liddle 2012, S. 241) Die Musik, die der Zusammenhang dieser Konfrontation ist, bedeutet nun nicht symbolisch, sondern sie bedeutet oder verweist auf ihre mögliche Bedeutung. Die vormals allgemeine Bedeutung wird aufgebrochen und durch die Konfrontation besondert; und dies ist die Struktur des Metapherngebrauchs. Diese Struktur kann in der Musik nur stattfinden, wenn man von der Möglichkeit des Aufbrechens und der Kontingenz der Bedeutung weiß. Der Sinn, der aus dieser konfrontierenden und häufig, wie Liddle (ebd., S. 243 f.) sagen will, romantisch-ironischen Struktur hervorgeht, liegt nicht allein im Material. Er eröffnet sich, indem scheinbar unpassende Momente des Materials in einen Bezug zueinander gestellt werden, und ist damit ein Sinn, der Reflexion über das Material voraussetzt, so daß dieses sich als »art and artifice simultaneously« (ebd., S. 242) zeigt.

Hieran arbeitet musikanalytisch vor allem Robert Hatten, der diese Konfrontation unter den Titel »troping« stellt. Für übersichtliche Einblicke mit kritischen Seitenblikken vgl. z. B. Hatten 1995 und 2012.

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Der Begriff des Materials als objektivistischer Begriff und als Reflexionsbegriff

r.2. Der Begriff des Materials als objektivistischer Begriff und als Reflexionsbegriff Die Frage nach dem logischen Ort des Materialbegriffs richtet sich darauf, was es bedeutet, daß die angeführten Momente – Töne und Tonsysteme, metrische und rhythmische Ordnungen, verschiedene Ebenen der Formgliederung, Gattungen, symbolische Gehalte – musikalisches Material sind. Eine noch naheliegende Antwort auf diese Frage wäre, daß sie gewissermaßen als Baustoffe vorliegen, aus denen Musik gezimmert werden kann. Das Material würde so als Menge vorliegender Gegenstände gefasst, d. h. objektivistisch. Dieser objektivistische Begriff genügt aber nicht den Anforderungen, die damit einhergehen, daß es das Material der Tätigkeit eines Subjekts sein soll, das vermittels des Materialgebrauchs Sinn produziert, denn das Material und die Tätigkeit, die ihm Form gibt, bedingen sich in ihrem begrifflichen Status gegenseitig. Hier gibt es einen Unterschied zwischen einer objektivistischen Auffassung von Material und Tätigkeit und einer solchen, die reflexiv heißen kann. Für eine objektivistische Auffassung ist Material bereits vor der Arbeit, die es formt, auf gewisse Weise bestimmt. Diese Bestimmungen hält die objektivistische Auffassung für wichtig – oder für die einzig vorhandenen. Baustoffe wie Holz, Stein, Metall, Leder haben, schon bevor sie verbaut werden, Materialeigenschaften wie Dichte, Elastizität, Belastbarkeit unter Zug und Druck, temperaturbedingte Ausdehnung oder Schrumpfung usw., und es sind diese Eigenschaften, auf die beim Verbauen Rücksicht zu nehmen ist. Ein solches Bild liegt objektivistischen Vorstellungen der Musik zugrunde. Die Eigenschaften des musikalischen Materials, die die Möglichkeiten, es zu verbauen, entscheidend bestimmen, werden dabei auf unterschiedlichen Ebenen der Geformtheit des Klanges gesucht. Besonders wichtig sind zwei manchmal miteinander verknüpfte Versuche der Grundlegung, die bereits angesprochen wurden: Versuche, das Tonsystem zu naturalisieren, und Vorhaben wie diejenigen Lerdahls und Raffmans, auf der Grundlage der ›(hör-)psychologischen Realität‹ bestimmter elementarer Klangverbindungen Bauvorschriften für die Musik zu erlassen (Kap. d.). Im weiteren Sinne folgen vor allem aus dem Aufbau des musikalischen Materials auf hörpsychologischen Fakten Theorien beispielsweise über Ausdruckseigenschaften in der Musik, die lediglich zusätzliche Ebenen psychologischer Prozesse, 371 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

unterschwelliger imaginativer Tätigkeiten oder kultureller Prägungen einschieben, um Eigenschaften der Klangwirkung möglichst ›objektiv‹ darzustellen (vgl. j.3.). In all diesen Fällen soll das musikalische Material Träger von unmittelbar faßbaren Eigenschaften sein. Die Arbeit am Material ist das Zusammenfügen der Eigenschaftsbausteine, wobei – ausreichendes Geschick und Kenntnis von Hörkonventionen vorausgesetzt – unter Umständen höherstufige, ›ästhetische‹ Eigenschaften emergieren, zum Beispiel Einheit(lichkeit), reizvolle Komplexität oder der Eindruck von Narrativität. Dieses Zusammenfügen ist das Komponieren in der Perspektive eines empiristischen Formalismus, dem es von diesem Standpunkt aus leicht fällt, die essentiellen Eigenschaften der Musik durch den Vergleich mit Teppichen und Kreuzworträtseln zu erläutern (Kap. c.). Oder die Arbeit am Material wird als Erforschen, Basteln und Probieren beschrieben. 6 Ihr Ausgangspunkt sind vorgefundene Klänge und Klangerzeuger – herkömmliche Musikinstrumente, beliebige andere Dinge und Stoffe und schließlich Aufnahme- und Wiedergabegeräte –, die auf systematisch-experimentelle oder auf improvisierende Weise manipuliert werden. Der Umgang mit den Ergebnissen dieser Forschungs- und Versuchsprozesse ist im wichtigsten Fall »phänomenologisch« (Barthelmes 2004, S. 351): Man horcht in die sich ergebenden Klänge hinein und stellt etwas über ihre Eigenschaften und ihre Wirkungen fest. Wenn das Basteln ein Basteln bleibt 7 , geht es wieder in die empiristische und formalistische Art des Komponierens über, indem es die entdeckten – und nun verfügbaren – Eigenschaften und Wirkungen des Klanges zusammensetzt. Dem Hörer wird entsprechend angeboten, den Reiz der Klänge und ihrer Verbindungen und Wirkungen mitzuerkunden. Die objektivistische Fassung des musikalischen Materials gehört Von diesem wichtigen Paradigma ästhetisch-künstlerischer Tätigkeit im 20. Jahrhunderts und seiner Verwirklichung in musique concrète, Klangkunst, Zufallskomposition und Audio-Design erzählt z. B. Barbara Barthelmes (2004). 7 An Barthelmes’ Geschichte ist die Frage zu stellen, ob die bei ihr genannten Musiker und Klangkünstler ganz im Basteln aufgehen, um sich von einem ›klassischen‹, etwas abstrakt gehaltenen Begriff des Geniekünstlers abzuwenden, oder ob sie nicht noch etwas mehr tun. Diese Frage lasse ich hier offen. Es geht mir nicht um eine systematische Abwertung des Bastelns und Probierens, sondern darum, zu überlegen, wo es im Empirischen verbleibt und wo es sich in einem weiteren Bereich der Sinnproduktion aufhebt. 6

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Der Begriff des Materials als objektivistischer Begriff und als Reflexionsbegriff

zu einer empiristischen Herangehensweise, die davon ausgeht, daß kompetente Hörerinnen einigermaßen eindeutig Zusammenhänge und Eigenschaften in der Musik auffassen können, weil sie sich gewisse Nachvollzugs- und Schematisierungsweisen angeeignet haben, und daß dieses Auffassen ein Vorfinden und Aufgreifen ist. Die erlernten Nachvollzugs- und Schematisierungsweisen werden als kognitive Werkzeuge verstanden, die auf die Musik angewandt werden. Im Basteln und Forschen werden diese Hörweisen auf zuvor unvertraute Klangqualitäten und rhythmische, melodische und harmonische Zusammenhangsbildungen erweitert, ohne daß man aber die Ebene des Aufgreifens verließe. Das objektivistisch verstandene Material steht somit der Komponistin wie auch der Hörerin als Gegenstand gegenüber, der mit seinen Eigenschaften, Verbindungen und Wirkungen präsentiert wird. Damit aber wird der Gehalt des Materialbegriffs nicht ausgeschöpft. Dieser Mangel kann mit einem Schlagwort bezeichnet werden: Um im Verstehen von Musik das Verstehen von intersubjektiv und auch subjektiv bestimmtem Sinn zu finden, muß das Material der musikalischen Werke »geistfähig« 8 sein. Es muß also der Arbeit, die mit dem Material umgeht, ein Potential für Sinn bereitstellen, und es ist nicht klar, wie die Eigenschaften der Klänge als solche genommen dies leisten könnten, wenn sie – wie es zumeist geschieht – als anonyme und ungeschaffene Eigenschaften gedacht werden, so wie jede beliebige andere Eigenschaft auch. Gunnar Hindrichs betont, daß das musikalische Material darum geistfähig sein kann, weil es eben nicht anonym, ungeschichtlich oder ›natürlich‹ – etwa im Sinne der Natur von Baumaterialien wie Holz-, Glas-, Stein- oder Metalltypen – ist, sondern weil es »selber immer schon etwas Geistiges, nämlich Menschengemachtes ist.« Die Arbeit mit dem so verstandenen Material ist also kein Verbauen von Elementen mit feststehenden Eigenschaften, sondern »die Auseinandersetzung mit dem Geist […], der sich als Material darbietet. In ihr wendet sich die Arbeit des Geistes auf bereits geleistete Arbeit des Geistes zurück – musikalische Arbeit ist Arbeit an musikalischer Arbeit. Kurz, die musikalische Arbeit ist Vollzug von Reflexion«. 9 Das Wort geht auf Hanslick (1854, S. 35) zurück; Hindrichs (2014, S. 49 f.) benutzt es auf betonte Weise, um die Forderung an den Materialbegriff zu benennen, die ich hier aufgreife. 9 Hindrichs 2014, S. 51; vgl. Adorno, GS 12, S. 39. 8

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Material, Gedanke und Werk

Dieser Hinweis ist entscheidend. In der Wortwahl, die ich vorgeschlagen habe, entspricht er der Betonung, daß wir es im musikalischen Verstehen mit musikalischer Repräsentation zu tun haben, und zwar mit einer Repräsentation von Sinn, der selbst auf der Repräsentation »musikalischer Arbeit« oder des musikalischen Gedankens (hierzu gleich) im Werk beruht. Diese Arbeit oder dieses Denken geht dabei mit den Sinnpotentialen um, die sich durch vorausgegangene Arbeit abgelagert haben, und weiß, daß die vorausgegangene Arbeit sie (mit-)konstituiert. Hier liegt der wesentliche Unterschied zum Beobachten, Regelfolgen, Basteln und Forschen – ein Unterschied, der festgehalten werden muß, auch wenn er sich in der Praxis leicht verwischt, nämlich wenn der Bastler ›ganz verstummt und lauscht‹ und damit zum Basteln und Beobachten etwas hinzukommen läßt. Eine Äußerung Schönbergs drückt diesen Unterschied prägnant aus. Der Violinist Rudolf Kolisch hatte Schönberg eine Analyse der Reihenkonstruktion eines von Schönbergs Werken geschickt. Dieser antwortete: »Das muß eine sehr große Mühe gewesen sein, und ich glaube nicht, daß ich die Geduld dazu aufbrächte. Glaubst Du denn, daß man einen Nutzen davon hat, wenn man das weiß? Ich kann es mir nicht recht vorstellen. Nach meiner Überzeugung kann es ja für einen Komponisten, der sich in der Benützung der Reihen noch nicht gut auskennt, eine Anregung sein, wie er verfahren kann, ein rein handwerklicher Hinweis auf die Möglichkeit, aus den Reihen zu schöpfen. Aber die aesthetischen Qualitäten erschließen sich von da aus nicht, oder höchstens nebenbei. Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist! Ich habe das dem Wiesengrund schon wiederholt begreiflich zu machen versucht, und auch dem Berg und dem Webern. Aber sie glauben mir das nicht. […] Für mich kommt als Analyse nur eine solche in Betracht, die den Gedanken heraushebt und seine Darstellung und Durchführung zeigt.« (Schönberg 1958, S. 178 f.)

Schönberg trennt die Analyse 10 des regelgeleiteten Bastelns von der Analyse dessen, was man sich dabei (musikalisch) gedacht habe. Um dieses Denken geht es im folgenden Abschnitt.

Zu dem besonderen Fall der Analyse von zwölftönig oder seriell gearbeiteten Werken s. die Diskussion in Holzer 2011, S. 324–365.

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Der musikalische Gedanke und der Formbegriff

Das Resultat der Arbeit zeigt sich im Werk. Erst von ihm aus ist es möglich, die Sinnpotentiale des Materials dieses Werkes zu erschließen sowie zu versuchen, den – so Hindrichs (2014, S. 264) – »unendlichen Streit« zu entscheiden, was überhaupt das Material des Werkes gewesen sei und was nicht. Im Vergleich mit der objektivistischen Deutung heißt das, daß nicht bestimmt erscheinende Eigenschaften von Klängen in der Arbeit an ihnen einfach wiedererscheinen, so wie die Eigenschaft einer gewissen Klangqualität oder auch diejenige, als Tonika zu fungieren. Für eine reflexive Deutung ist es nicht eindeutig, daß es diese Eigenschaften sind, die als Material und damit als Sinnpotential aufgefaßt worden sind. Sie geht vielmehr von einem spekulativ – also: ›überschauend‹ – zu nennenden Blick auf das Werk aus und sucht von hier aus zu differenzieren, welche Eigenschaften und Wirkungen der Klänge auf welche Weise gedeutet und dieser Deutung folgend ins Werk eingearbeitet worden sind.

r.3. Der musikalische Gedanke und der Formbegriff Die Deutbarkeit verändert den Status der ›Eigenschaften‹ des Materials. An ihnen ist das Potential für Sinn entscheidend. Dieses Potential liegt nicht einfach so vor, daß es eindeutig entziffert werden könnte. Es ist erst dadurch erschließbar, daß es ins Verhältnis zu anderen Sinnpotentialen gesetzt wird – durch ein unterscheidendes (diakritisches), ordnendes und verbindendes Verhalten ihm gegenüber, das wiederum daran anschließt, daß die vorausgegangene Arbeit am Material ebenfalls unterschieden, geordnet und verbunden hatte. Dieses Unterscheiden, Ordnen und Verbinden haben die Aspekte der Repräsentation geleistet, die bislang unterschieden worden sind. Das Unterscheiden, Ordnen und Verbinden, das hingegen das besondere Werk gestaltet, ist das musikalische Denken bzw. der Gedanke. Unterscheiden bedeutet die Entscheidung darüber, was ein musikalischer Klang ist und was nicht bzw. welche seiner Momente musikalisch relevant sind und welche nicht. Es geht um die Entscheidung darüber, wann eine Tonhöhe von einer anderen auf welche Weise zu unterscheiden ist: ob sie als Intonationsschwankung zählt oder als eine andere Tonhöhenkategorie, die einen anderen Tonnamen und ein anderes Noten- und Vorzeichen erhält; und es geht um die entsprechende Unterscheidung im Bereich der Tondauern. Ferner ist die Entscheidung angesprochen, welche Klang- oder Geräuschqualitäten 375 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

in die Konstitution des musikalischen Sinnes eingehen sollen, und damit die Entscheidung über den Einschluß oder Ausschluß des Bereichs der »Geräusche« oder eines Teils von ihm in den oder aus dem Bereich dessen, was musikalisch verarbeitet wird. 11 Es geht ferner um alle Unterscheidungen, die zwischen Elementen, Komplexen und Gestalten, die innerhalb dieser Bereiche gebildet werden, zu treffen sind, und schließlich um die Unterscheidungen der Sinnpotentiale, die an die Unterscheidung der sinntragenden Klänge geknüpft sind. Man denke – um nur ein Beispiel zu nennen – an die Unterscheidung zwischen Tongeschlechtern und Tonarten, die je nach Stimmungssystem (auch dies ein wichtiger Bereich der angesprochenen Unterscheidungsmöglichkeiten) auf andere Weise möglich ist, und zwischen den Charakteren, die infolgedessen den Tonarten zugeschrieben werden können. Das Ordnen betrifft die mehr oder weniger explizit geregelten Beziehungen der so unterschiedenen Kategorien und Elemente untereinander, die damit Träger einer Funktion innerhalb der jeweiligen Ordnung werden. Freilich wirkt das Ordnen auf das Unterscheiden zurück, denn die Unterscheidung der relevanten Funktionen innerhalb eines Klangsystems ist dadurch bedingt, wie dieses System als Ganzes verstanden wird. Die Ordnung der Polyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts weist einer bestimmten Klanggruppe oder einer Aufeinanderfolge von Klängen eine andere Funktion zu, als dieselben Klänge in einer kadenzharmonischen Ordnung im Sinne des 18. und 19. Jahrhunderts oder in der Harmonik des modernen Jazz haben können. Diese Ordnungssysteme selbst können aber nicht nur so aufgefaßt werden, daß sie geschichtlich einander ablösen; es kann die Entscheidung geben, mit ihnen so zu arbeiten, daß sie synchron in eine Beziehung der Unterscheidung treten, so daß man etwa durch den Rückgriff auf eine bestimmte Ordnung den Topos des ›Archaischen‹ repräsentiert. Die Leistung des Verbindens schließlich betrifft nicht nur Elemente, über die entschieden wurde, daß sie unter gleichartigen Kategorien stehen und damit zu Ordnungen der Harmonik, Melodik oder Rhythmik gehören, sondern sie ist die bereits ausführlicher bespro-

Vgl. Hindrichs’ Darstellung verschiedener Ansätze der Musik des 20. Jahrhunderts, gerade über diese letztere, grundlegende Unterscheidung innerhalb der Musik selbst neu zu entscheiden: Hindrichs 2014, S. 78–87.

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Der musikalische Gedanke und der Formbegriff

chene Leistung, über die Ordnungen gleichartiger Kategorien hinaus Verknüpfungen herzustellen (vgl. Kap. l., n.). Im Anschluß an diese Erläuterung des Unterscheidens, Ordnens und Verbindens und vor dem Hintergrund des Materialbegriffs kann man den von Schönberg angestoßenen Begriff des Gedankens (vgl. Kap. e.) besser fassen. Erinnern wir uns, daß Schönberg schrieb: »Der Gedanke ist die Herstellung einer Beziehung zwischen Dingen, zwischen denen diese Beziehung nicht ohne die Herstellung existiert.« (zit. nach Jacob 2005, S. 166) Über diese Herstellung der Beziehung, die der Gedanke ist, hieß es ferner, daß sie nicht nur lokal wirkt, sondern daß sie »die Totalität eines Stückes« bestimmt und daß sie die »Methode [ist], durch die das Gleichgewicht wiederhergestellt wird« (Schönberg 1976, S. 51). Der Gedanke stellt nicht nur einzelne Beziehungen her, sondern bestimmt die Gesamtheit der Beziehungen und damit auch den Sinn jeder vereinzelten Beziehung innerhalb dieser Gesamtheit. Da aber die Beziehungen, die er herstellt, mit unterscheidenden, ordnenden und verbindenden Deutungen der – geschichtlich, gesellschaftlich und auch im Laufe des Lebens des Einzelnen sich wandelnden – Sinnpotentiale des Materials Hand in Hand gehen, ist jede Gesamtheit der Beziehungen und damit jeder Gedanke, der sich im geformten Werk zeigt, einzigartig. Der Gedanke unterscheidet so ein Werk vom anderen, indem er dem Material eine jeweils andere Bestimmung gibt. 12 Diese logische Rolle spielt in einer weitverbreiteten metaphysischen Redeweise der Begriff des eidos oder der Form. So ist der Gedanke die Form des Werkes. Musikgeschichtlich ist festzustellen, daß »der Begriff [›musikalischer Gedanke‹] zunehmend zu einem Synonym des als diskreditiert angesehenen Formbegriffs wurde« (Jacob 2005, S. 129). Diese Formulierung ist aber noch ungenau: Das Wort »Synonym« verdeckt, daß der Formbegriff zum Begriff des Gedankens weiterentwikkelt wurde. Damit ist eine Differenzierung unterschiedlicher Formbegriffe möglich, so daß objektivistische und reflexive Verständnisse auseinandergehalten werden können. Mit einem Doppelgänger-Gedankenspiel nach Art der modernen Metaphysik kann man sagen: Wenn es zwei Werke gibt, die sich Note für Note gleichen, so ermöglicht es der Gedanke, der von einem bestimmten Standpunkt her das musikalische Material ausgedeutet hat, sie zu unterscheiden und als zwei Werke zu betrachten – und zwar aus den Werken heraus, und nicht im Sinn der Unterscheidung anhand von für sich genommen akzidentellen Bestimmungen wie Entstehungsort oder -zeit.

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Material, Gedanke und Werk

Ein objektivistischer Begriff der Form bezeichnet ein Schema, in das ein objektivistisch verstandenes musikalisches Material mit seinen bestimmten Eigenschaften eingefügt wird, was nach Handwerksregeln geschehen kann. Die Unzufriedenheit mit diesem in der musikalischen ›Formenlehre‹ lange verbreiteten Begriff der Form hat ihn, nicht nur in Schönbergs Augen, »diskreditiert« und zu seiner Ablösung und Umgestaltung eingeladen. Musikalisches Denken sollte sich nicht darin erfüllen, musikalisches Material in bekannte Formen zu ordnen. Selbst wenn dies geschieht – so greift ja Schönberg in seinen nach der Zwölftonmethode komponierten Werken sehr häufig auf ›klassische‹ Schemata und Ordnungsprinzipien zurück –, ist diese Form des Werks als Sonaten- oder Variationensatz nicht seine Form im starken Sinne, sondern soll ein Mittel sein, die ungewohnte Strukturierung des Tonsystems für die Hörerin faßlicher zu machen und so den Zugang zum Gedanken – zur Form des Werkes als individueller Ganzheit – zu erleichtern. Andere objektivistische Varianten des Formbegriffs standen zu Beginn unter den Titeln wahrnehmbarer und denkbarer Form der Musik zur Diskussion. Sie wurden mit Hilfe der Begriffe des Nachvollzuges und des thematischen Sinnes aufgelöst, um sie beide als prozessual und performativ zu fassen. Die Formen der Musik verhalten sich damit zum Wahrnehmen und Denken nicht als etwas Feststehendes und Feststellbares, sondern sie sind Formen, deren Momente nur durch ihren Bezug auf den deutenden, ordnenden und seinen Standpunkt verändernden Blick das sind, was sie sind. Die objektivistischen Versionen werden, wie ich im folgenden Abschnitt erläutere, zu Momenten eines reflexiven Verständnisses, das die problematische Einheit der Form des Werkes hervorbringt. In besonderen Fällen betrifft ein reflexives Verständnis auch den Bezug zwischen dem Spielen der Musik und der Partitur bzw. dem musikalischen Text. Einerseits kann man die Funktion des Textes darin sehen, daß er die gedachten Differenzierungen des musikalischen Materials in Schriftform einfängt. Dies ist eine herkömmliche Sichtweise. Andererseits zählt zu den Bestimmungen des geistfähigen musikalischen Materials, die das musikalische Denken aufgreifen kann, die Differenz zwischen schriftfähigen Formbestimmungen und klanglichen (im Grunde thematischen) Vorstellungen. An dieser Differenz weiterzudenken kann unter anderem zu dem Ansatz führen, das ›Unspielbare‹ zu schreiben – ein Vorwurf gegen sogenannte komplexistische Komposition. Der Textbegriff in solchen Werken unter378 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Der musikalische Gedanke und der Formbegriff

scheidet sich dann von einem Textbegriff, demzufolge es der Zweck des Textes sei, in Klängen repräsentiert zu werden. Sein Zweck ist es, die Differenz zwischen Geschriebenem und zu Spielendem oder Spielbarem zu bedenken. Dann gilt: »Viele Partituren Neuer Musik lassen sich weder als Kodifizierung musikalisch-klanglicher Vorstellungen eines Komponisten noch als Anweisungen zur Herstellung von Klängen hinreichend verstehen.« (Lippe 2013, S. 110) Der Bezug zwischen Text und Klang hat sich geöffnet: Es muß neu gedeutet werden, wie dieser Bezug konstituiert ist und was er für die Aufführung bedeutet. Der Reflexionsbegriff des geistfähigen Materials hat schließlich eine Implikation, die für das Folgende grundlegend ist. Adorno und Hindrichs schreiben davon, das Material berge eine »Tendenz«, einen »Eigensinn« oder »Forderungen«. 13 Dies liegt daran, daß es als geistiges Material eine geistige Tätigkeit erfordert hat, um eine Form zu gewinnen. Das Material hat eine ›Geistesgeschichte‹. Deshalb war von Sinnpotentialen des Materials die Rede sowie davon, daß die Arbeit mit ihm ein Deuten und Verstehen ist. Das Potential für Sinn, das das musikalische Material ausmacht, ist das Ergebnis geistiger Tätigkeiten der Repräsentation. Es ist deren Sedimentation. Diese Redeweise darf nicht so verstanden werden, als läge das Sedimentierte träge da. Als Geistiges oder Geistfähiges stellt es dem, der mit ihm arbeitet, Angebote oder Forderungen vor; es spricht ihn an und wird so verstanden, daß es beantwortet und weitergedacht werden soll. Wer mit ihm arbeitet, soll verstehen, daß im Material Entscheidungen über Unterscheidungen, Ordnungen und Verbindungen im oben angeführten Sinn aufbewahrt sind. Weil diese Entscheidungen die Äußerung von Sinn betreffen, arbeitet die Deutung dieses Sinnes und die Antwort auf ihn damit, daß sie jene Entscheidungen weiterdenkt – expliziert, variiert, hinterfragt oder auflöst. Durch dieses Weiterdenken gewinnt das Werk, das das Material reflektierend gebraucht, seine Form. Die in der Komposition tonsystematisch-kategorial bestimmten Formen des musikalischen Klanges können in dieser Hinsicht als Antworten auf die Ansprüche und auf die Geschichte des Materials oder, in anderen Worten, als Versuch der Lösung eines Problems, das das Material (dar)stellt, verstanden werden und gewinnen als solche ihre Geltung oder Schlüssigkeit. Weil aber das Material nur durch die als Antwort oder Lösung begriffene 13

Adorno, GS 12, S. 38 f.; Hindrichs 2014, S. 52–56.

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Material, Gedanke und Werk

Form des Werkes hindurch erkennbar ist und diese Antwort oder Lösung wiederum dem Hörer die Leistung der Repräsentation und Deutung abverlangt, kommt es zu dem »unendlichen Streit« darüber, was das Material gewesen sei. Daß der Materialbegriff nicht objektivistisch fehlgedeutet werden sollte, sondern ein Reflexionsbegriff ist, bedeutet vor diesem Hintergrund, daß der Materialbegriff nicht die logische Funktion hat, etwas Vorliegendes zu bezeichnen – Elemente und ihre Verbindungen –, sondern auf ein Moment eines Zusammenhanges verweist, der nicht aufgelöst werden kann, ohne daß seine Momente ihren Sinn verlören. Das Verständnis des Zusammenhanges bedingt das Verständnis der Momente. 14 Weil musikalisches Material nicht unabhängig von seiner Verarbeitung bestimmbar ist, kann es nie als bloßes Material vorliegen, sondern nur als bearbeitetes und geformtes Material. Der Reflexionsbegriff des Materials gibt uns endlich einen Standpunkt, von dem aus der jeweilige Ort zweier wichtiger Themenbereiche dieser Arbeit bestimmt werden kann: der musikalischen Eigenform, die zu Anfang diskutiert wurde, und des Ausdrucks.

r.4. Die musikalische Eigenform: Neuorientierung über ihre systematische Stelle Die musikalische Eigenform ist dadurch ausgezeichnet, daß musikalische Bewegung in einem musikalischen Raum stattfindet. Aufgrund der Möglichkeit einer als musikalisch bestimmten Hörweise ist Hörbares, das unter die musikalische Eigenform fällt, von nichtmusikalischen akustischen Ereignissen unterschieden, die als Akzidenzien physikalischer Ereignisse wahrgenommen werden und darum nicht selbst Raum und Bewegung besitzen, sondern Raum, Bewegung, Kraft und Stoff physikalischer Ereignisse anzeigen. Die scharfe ontologische Unterscheidung zwischen beiden Bereichen wurde vor allem durch Intuitionen über ihre Wahrnehmung gestützt. Zwei wahrnehmbare Phänomene trugen dabei besondere

Vgl. zu diesem wichtigen Begriff Hegel, WL I, S. 101 f. (entspricht S. 95 in der kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke, Bd. 21).

14

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Die musikalische Eigenform: Neuorientierung über ihre systematische Stelle

Bedeutung: die einigermaßen eindeutige und stabile Tonhöhe, die ein Klang hat, und das Regelmaß von Bewegungen und Klängen, das die Begründung für eine taktrhythmische Ordnung gibt. Infolgedessen lag es nahe, zu sagen (vgl. b.4.): Musik ist wesentlich nach Tonhöhen und Tondauern – melodisch, harmonisch und rhythmisch – bestimmt, und sie wird verstanden, indem wir diese Bestimmungen und ihre Beziehungen untereinander auffassen. Andere Bestimmungen – solche der Klangfarbe, der Dynamik, der Agogik – schienen demgegenüber unwesentlich zu sein und zu den wesentlichen Bestimmungen nur hinzuzutreten, weshalb man sie häufig »sekundäre Qualitäten« nannte. Später wurde jedoch in den Blick genommen, welche Beiträge die scheinbar sekundären Qualitäten des Klanges im tatsächlichen musikalischen Hören spielen, und zwar hinsichtlich der durch seine Erzeugung bedingten Stofflichkeit des Klanges, hinsichtlich seiner zeitlichen Ordnung und hinsichtlich des Hörens klingender zeitlicher Ordnung, die als Nachvollzug beschrieben wurde. Infolge dieser Untersuchung schien es, daß sich die scharfe Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen nicht halten ließ: Was unwesentlich und sekundär schien, nämlich das ›Stoffliche‹ des Klanges, machte für fast alle Musik, im besonderen genommen, ein wesentliches Moment und eine Bedingung ihres vollen Verständnisses aus; und was wesentlich schien, ließ sich nicht ›rein‹ auffassen, es sei denn, als Abstraktion. Der Reflexionsbegriff des Materials hilft, diesem Zwiespalt zu begegnen. Man kann nun sagen, daß die Ordnung der Tonhöhen und die Ordnung der Zeiten auf einer Leistung der Unterscheidung beruht, die uns wahrnehmungspsychologisch nahegelegt wird, nämlich auf der Unterscheidung zwischen Klängen und Geräuschen und zwischen regelmäßigen und unregelmäßigen oder undifferenzierten Zeitdauernverläufen. Wird diese Unterscheidung auf eine bestimmte Weise ontologisch gefaßt, nämlich als Unterscheidung zwischen Bereichen des Hörbaren, die durch mehr oder weniger meßbare Eigenschaften des jeweiligen Hörbaren – nämlich durch die meßbaren und hörbaren Unterscheidungen zwischen bestimmten und unbestimmten Tonhöhen und zwischen regelmäßigen und unregelmäßigen Abständen der Klänge, oder auch indirekt durch die meß- oder abfragbaren Reaktionen von Hörern – bestimmt ist, dann ist die so bestimmte musikalische Eigenform eine formale Eigenschaft eines objektivistisch begriffenen Materialbereiches. Ihre Begründung ist auf 381 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

verschiedene Weisen naturalistisch: physikalistisch oder psychologistisch. Entsprechend der obenstehenden Erläuterung des Materialbegriffs steht dieser Fassung einer Ontologie der Musik eine reflexive Fassung gegenüber. Sie begründet die Unterscheidung zwischen dem musikalischen und dem nichtmusikalischen Material reflexiv. Die zunächst sehr naheliegende wahrnehmungspsychologische Unterscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Reflexionsbegriffs des Materials nicht für sich gültig, sondern nur, indem sie als Unterscheidung anerkannt wird. Wer mit musikalischem Material arbeitet, arbeitet also mit Unterscheidungen zwischen musikalischen und nichtmusikalischen Klängen, zwischen musikalischen und nichtmusikalischen Zeitordnungen. Diese Unterscheidungen nimmt er aber nicht aus der ›Natur‹ des ›Gegenstandes‹ oder der Wahrnehmung, sondern er greift vorausgegangene Unterscheidungen auf und deutet und beantwortet sie. Daß diese Unterscheidungen zum musikalischen Material gehören, bedeutet, daß sie den Wert von Forderungen, Tendenzen oder Problemen haben. Diesen Wert können auch die Mechanismen der Wahrnehmung haben, sofern sie in die Entstehung musikalischen Materials eingegangen sind. Sie fordern also das musikalische Denken und Verstehen auf, die Unterscheidungen und ihre Grenzlinien nachzuvollziehen und zu hinterfragen. Dies gilt für die Künstlerinnen und für die Hörerinnen. Sie können nicht einfach ›formalistisch‹ hören, wenn sie die Musik verstehen wollen, und von vornherein entscheiden, welche ›Eigenschaften‹ die Aufmerksamkeit verdienen und vor welchen Eindrücken man sich dagegen zu hüten habe, sondern sie müssen für jedes Werk aufs Neue die Frage stellen können, was das Material und seine Grenzen gewesen seien, mit denen das musikalische Denken gearbeitet hat. Besonders prägnant wird diese Forderung an jenen Stellen der Geschichte des musikalischen Denkens, an denen Unterscheidungen und Tonordnungen, die durch eine selbstverständlich gewordene Wahrnehmung so nahegelegt wurden, daß sie als ›Natur‹ der musikalischen Klänge erschienen, in einer grundsätzlichen Weise reflektiert und negiert wurden. Mathias Spahlinger spricht eine solche Stelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, an der »das Ende des spezifisch musikalischen Materials« erreicht schien. Er erklärt weiter:

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Die musikalische Eigenform: Neuorientierung über ihre systematische Stelle

»Das ist die eigentliche Konsequenz, wenn Tonalität gekippt wird, daß alles, was klingt, und auch was nicht klingt, Material der Musik sein kann, weil dieses unspezifische Material keine formale Implikation enthält.« (Eggebrecht & Spahlinger 2000, S. 18)

Hier wird die Zweideutigkeit des Materialbegriffs deutlich: Die neue Musik scheint kein spezifisch musikalisches, sondern ein unspezifisches Material zu gebrauchen, das dem unreflektierten, abstrakten Hören keine Unterscheidung zur Verfügung stellt, ob es Musik höre oder nicht. Es wird deutlich, daß die Entscheidung, daß etwas Musik ist, sich nun nicht mehr auf diese Begriffe des Materials und des Hörens stützen kann. Stattdessen muß sie sich dem musikalischen Denken zuwenden und von dort aus nach dem Material dieses Denkens fragen. Dann zeigt sich, daß das musikalische Denken mit dem zuvor als spezifisch musikalisch erschienenen Material so umgeht, daß seine Ordnung durch Negation und Dekonstruktion bedacht wird, die das vormals für die Musik Unspezifische, Gleichgültige und Sekundäre mit einbeziehen und für diesen Einbezug Ordnungen entwerfen, die dem objektivistisch orientierten Hören als Unordnung erscheinen bzw., in Spahlingers Worten, »keine formale Implikation« zeigen. Und es erweist sich, daß dieses musikalische Denken sein Material als durch und durch gemacht erkennt (vgl. e.2.). Nun ist es, wie Spahlinger sagt, »ein Unterschied ums ganze, ob ich einer Konvention folge – und zwar völlig unbewußt und mit dem Zwang eines nicht beeinflußbaren und einfach ablaufenden Systems von bedingten Reflexen – oder ob ich mich zur Konvention verhalte.« (Eggebrecht & Spahlinger 2000, S. 21)

Von einer musikalischen Eigenform oder einem Spezifischen der Musik ist also nun auf reflexive oder dialektische Weise zu sprechen: Sobald die von Spahlinger angesprochene Schwelle erreicht worden ist, ist dasjenige, was die Ordnungen des Musikalischen in ihrer Unterscheidung vom (vormals) Nichtmusikalischen reflektiert, musikalisch. Wie Hindrichs betont, setzt diese Reflexion voraus, das, was zuvor als nichtmusikalisches Element oder als nichtmusikalische Ordnung erschien, auf die Ordnung des musikalischen Materials zu beziehen und gegen dessen Unterscheidungen und Ordnungen zu halten. Das vormals Nichtmusikalische erhält damit einen Ort, der in einem Verhältnis zum musikalischen »Tonsystem« steht. Hindrichs’ Rede von »Tonsystem« ist 383 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

»umfassender, als es ein eingeschränkter, aber auch eingeschliffener Gebrauch des Begriffes […] nahelegt. Sie [= die tonsystematische »Determination«] regelt nicht nur Tonhöhenverhältnisse, sondern alle Verhältnisse, in denen und aus denen der Klang besteht, bis hin zu Aufführungskonventionen, Spieltechniken und Rezeptionsbedingungen. Der Begriff ›Tonsystem‹ ist mithin wörtlich zu nehmen: Er bezeichnet den Zusammenhang (System) des musikalischen Klanges (Ton) in umfassender Hinsicht.« (Hindrichs 2014, S. 99)

»Musikalisch« ist damit die tonsystematische Bestimmung überhaupt. Zu dieser Bestimmung kann aber alles, was erklingt (»und auch was nicht klingt«, wie Spahlinger empfiehlt), in eine Beziehung gesetzt werden. Diese Beziehung, die das Musikalische ausmacht, beruht auf geistigen Akten. Damit wird erneut sichtbar, was es heißt, daß das musikalische Material als »geistig« verstanden werden muß.

r.5. Gedanke und Ausdruck: Ein Dilemma Eine zweite Klärung, die der Reflexionsbegriff des Materials für frühere Überlegungen dieses Buchs bringt, betrifft den Begriff des Ausdrucks. Dieser stand unter den Vorzeichen, sich in Wirkungen auf die Hörerin zu zeigen oder Erscheinung oder Imagination zu sein, bis es gelang, infolge einer ästhesiologischen Analyse den unmittelbaren Nachvollzug musikalischer Klänge mit einer Schicht des Ausdrucksverstehens zu verknüpfen und dort einen Ausgangspunkt für ein wesentliches Moment des verstehenden Hörens von Musik zu finden. Zu Beginn dieses Kapitels wurde erklärt, daß das gesamte Panorama der wahrnehmbaren Ausdruckswerte in der Musik in den Bereich des Materials fällt, jenen Bereich also, der verarbeitet wird und der vom Ergebnis und der Form der Arbeit reflektierend unterschieden werden muß. Es gibt aber eine Weise, von Ausdruck so zu sprechen, daß er nicht eine lokale Eigenschaft in der Musik, sondern die Form des Werkes betrifft. Er ist dann Ausdruck des Gedankens oder – den Begriff des Gedankens noch anders beleuchtend – Ausdruck der musikalisch arbeitenden Subjektivität. Dies kann man mißverstehen, indem man voraussetzt, daß ein Subjekt, das sich in Musik ausdrückt, dabei auf die konventionellen, unmittelbar erkennbaren Ausdrucksgestalten zurückgreifen muß. Was nicht unmittelbar als Ausdruck wahrgenommen wird, könne 384 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Gedanke und Ausdruck: Ein Dilemma

kein Ausdruck sein und darum nicht als Ausdruck gebraucht werden, behauptet diese Voraussetzung, die sich in empiristischen Musikphilosophien häufig findet (vgl. Kap. j.; k.4.). Dagegen steht Adornos reichhaltigerer Umgang mit dem Begriff des Ausdrucks. Adorno betont, daß Ausdruck in der Kunst aus der gesamten Haltung zur Arbeit mit dem Material entspringt, also auch und vor allem aus dem Umgang mit den konstruktiven Möglichkeiten in Absehung von symbolischen, Ausdrucks- und Wirkungspotentialen: »Wo Werke nicht durchgebildet, nicht geformt sind, büßen sie eben jene Expressivität ein, um derentwillen sie sich von der Arbeit und der Anstrengung der Form dispensieren […] Ausdruck ist ein Interferenzphänomen, Funktion der Verfahrungsweise nicht weniger als mimetisch. Mimesis ihrerseits wird von der Dichte des technische Verfahrens herbeizitiert, dessen immanente Rationalität dem Ausdruck doch entgegenzuarbeiten scheint.« (Adorno 1970, S. 174)

Diese Sätze tragen einiges herbei, was nicht nahtlos zum bisher Ausgeführten zu passen scheint. Dennoch haben sie mit ihm einen tieferliegenden Zusammenhang, den ich explizieren möchte. Wichtig sind zunächst die beiden entgegengesetzten Pole, die Adorno »mimetisch« und »technisch« nennt. Vereinfachend gesagt steht das Mimetische dem unmittelbaren und unreflektierten Nachvollzug nahe: Es ist diejenige Funktion des Verhaltens, ohne die es keinen verstehenden Umgang mit sinnlich gegenwärtigen Kunstwerken geben kann, weil sie diejenigen Aspekte des Sinnes erfaßt, die in den sinnlichen Stoff unvertretbar gebunden sind – die thematischen Sinngehalte, um Plessners Redeweise erneut zu gebrauchen. Die enge Verknüpfung zwischen dem Thematismus des Ausdruckssinns und seiner Auffassung in der Mimesis oder im Nachvollzug legt es nahe, diese Auffassung für überwiegend vorbegrifflich zu halten und eine entsprechende Weise der Produktion von Ausdruck zu behaupten: Ausdruck könne oder müsse ebenfalls vorbegrifflich, unreflektiert, ohne »Anstrengung der Form« und damit ohne Anstrengung des Gedankens gelingen. Der »technische« Gegenpol steht dagegen für den bei Adorno betonten, aber auch problematisierten Aspekt der rationalen subjektiven Leistung des Denkens. Seine Betonung ist gerechtfertigt, weil er eine Antwort auf die Frage gibt, wie mit dem geistfähigen Material der Musik umzugehen sei. Im Material finden sich symbolische Sinngebungen, Ausdruckspotentiale und eben die Techniken des Tonsat385 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

zes und der Formgebung abgelagert. Sie fordern von dem, der mit ihnen arbeitet, sie nicht zu ignorieren, sondern sie formend und reflektierend zu gebrauchen. ›Durchbildung‹ ist die Forderung, die die Geistigkeit des Materials an die Arbeit mit ihm stellt. Die Durchbildung durch erklärbare, der Rechtfertigung 15 fähige Technik ist in der neuen Musik in den geschichtlichen Stand des Materials selbst eingegangen und darf darum nicht hintergangen werden: Alles andere wäre die Vortäuschung einer verlorengegangenen Naivität und Unschuld. Wie aber dieses vernünftige technische Können bestimmt werden kann, ist ganz unklar; die Zuspitzung von Boulez’ Gedanken über die Beherrschung des musikalischen Materials hat eine Konsequenz gezeigt, die Adorno geläufig war und deren Problematik den Hintergrund des zitierten Abschnitts bildet. Diese Problematik liegt in der regelgeleiteten Beherrschung von etwas. Das musikalische Material wurde, so könnte man sagen, zu einem bestimmten Zeitpunkt so gedeutet, als fordere die Verbrauchtheit und Abgelagertheit seiner vormals geistigen, nun aber als bloße Konvention mitgeschleppten symbolischen und Ausdrucksgehalte deren Negation, indem man sie zu Zahlen reduziert – dem Verfügungsmaterial schlechthin für eine durch den Gebrauch lückenloser Regeln bestimmte Rationalität. Das geistige Material forderte, es als ungeistig geworden zu deuten und in kleinste Elemente zu zerschlagen, aus denen die musikalische Technik neu aufgebaut werden sollte. Wenn die Zahlenwerte aber alles sind, was vom musikalischen Material übrigbleibt, so fragt sich, woran das mimetische oder nachvollziehende Verhalten sich halten soll: Von der sinnlichen Oberfläche der Klänge scheint es ganz abgleiten zu müssen, um ins Bodenlose und Unwesentliche zu stürzen. Dann aber trennt sich die Kunst nicht mehr von der Technik und gibt sich auf. Für die Arbeit mit dem musikalischen Material ergibt sich unter dem Aspekt des Ausdrucks gesehen ein Dilemma: Entweder verfügt sie ganz und gar über ein Material, über das sie aber nur verfügen kann, weil sie es verdinglicht, also objektivistisch gefaßt hat. Dann ist der Ausdruck abgestorben. Oder sie hält sich an die Vorstellung subjektiven, unreflektierten, vorbegrifflichen Ausdrucks, kann aber nichts weiter tun, als die hergebrachten Ausdrucksweisen schein-naiv weiterzuverwenden. So verfällt sie einem Klischee von Ausdruck. In der Spannung dieses Dilemmas hat Ausdruck seinen Ort. Darum 15

Zur Rede von der Rechtfertigung bei Schönberg und Boulez vgl. e.1.

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Gedanke und Ausdruck: Ein Dilemma

nennt Adorno ihn ein »Interferenzphänomen«. Er macht das Dilemma, aber auch den Weg zu seiner – wenn auch nur möglichen, nicht vollendeten – Auflösung sinnfällig. In dem Versuch, die Auflösung dieses Dilemmas zu denken, erscheint der Unterschied zwischen einer systemtheoretischen und der hermeneutisch genannten Sicht auf den Umgang mit musikalischem Sinn erneut. Jene Sicht legt den Schwerpunkt auf den Verfall des Ausdrucks zum Klischee und brauchbaren Stilmittel und läßt die Versuche, sich besonders zu ihm zu verhalten – Versuche, denen wir uns im folgenden annähern wollen –, schon im Voraus wieder in ihrer künftigen Klischierung versinken 16 , da sie das Subjekt aufgelöst hat, das jene Versuche leisten könnte. Um dieses Verhalten fassen zu können, müßte sie den positiv problematischen Status der Sinngebung anerkennen, die in die Auflösung des Klischee-Problems eintreten muß; aber stattdessen wird die Bemühung um Ausdruck – wenn »Bemühung« überhaupt das richtige Wort sein kann – darauf ausgerichtet, daß sie etwas zustandebringen müßte, worüber ein Publikum unproblematisch kommunizieren könnte. Den Unterschied zwischen dem Klischee und der Besonderheit kann man aber in diesem Rahmen nicht denken. Luhmann (1995, S. 153) schließt daraus: »Wie soll das« – nämlich der Anspruch auf die Besonderheit – »wichtig sein, da man es ohnehin nicht prüfen kann?« Das Wort »wichtig« ohne weitere Qualifizierung zu schreiben ist aber nicht ganz ehrlich; gemeint sein muß: »wichtig für eine Systemtheorie« oder für ein Publikum, das sich selbst implizit systemtheoretisch versteht. Im folgenden denken wir über Künstlerinnen und Rezipientinnen nach, die wir noch anders zu verstehen versuchen. Ausdruck zeigt die Bemühung um eine, wie Adorno häufig anspricht, ›aufgeklärte‹ 17 Arbeit, die einerseits das fordernde Gewicht und die Problematik des Hergebrachten im Material kennt und andererseits weiß, daß ihre technisch beherrschte Intention keine Garantie hat, sich so zu verwirklichen, daß sie unzweifelhaft erkannt oder verstanden werden könnte, sondern unter dem Gesichtspunkt einer vorVgl. Luhmann 1995, S. 147; und methodisch vorbereitend zum Problem eines »psychischen Systems«, das als sozialisiertes ein ›Allgemeines‹ ist und sich doch als »Individuum« definieren will, Luhmann 1984, S. 360–362. 17 Z. B. Adorno 1970, S. 226: Künstlerischer »Gehalt« – eine Formulierung, die das Gewicht dessen hat, was ich unter den Titeln des Ausdrucks und des Gedankens bespreche – steht in »der Dialektik zwischen dem mimetischen Pol der Kunstwerke und ihrer Methexis an Aufklärung«. 16

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Material, Gedanke und Werk

begrifflichen, das Vermittelte und Reflektierte ins scheinbar Unmittelbare der Erfahrung zurückholenden Mimesis einen nicht ganz beherrschbaren, offenen Sinn zeigt. 18 Ausdruck im starken Sinne zeigt sich also nicht ohne die technische Durchbildung und Gestaltung – da er sonst ins Klischee zurückfällt –, aber er zeigt sich zugleich trotz dieser Durchbildung und schießt über sie hinaus.

r.6. Arbeit am Material als Arbeit am Tonsystem Adornos Sätze zum Ausdruck betreffen insgesamt den Zusammenhang zwischen der geistigen Leistung des Kunstschaffens und den Möglichkeiten und Forderungen des Materials. Dieser gespannte Zusammenhang ist dadurch bedingt, daß das Material gemacht und geistesgeschichtlich geworden ist. Die Untersuchung dessen, was »gemacht« heißt, und damit die Auffassung von der Arbeit am Material kann aber unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Ich möchte drei mögliche Schwerpunktsetzungen ansprechen. Der Schwerpunkt in Hindrichs’ Untersuchung liegt auf dem gedanklichen Aspekt in der Gemachtheit des Materials: darauf, daß das Machen vor allem im Unterscheiden und im tonsystematischen Ordnen liegt. Dieser Schwerpunkt ergibt sich daraus, daß Hindrichs den Begriff des autonomen musikalischen Kunstwerks entfalten will. Diese Autonomie ist darin begründet, daß das Kunstwerk als geistig geformtes Tonsystem gedacht wird und die Kategorien des Tonsystems in ihrem Zusammenhang einer Gesetzlichkeit folgen, die nicht von anderswoher abgeleitet werden kann, etwa aus der Akustik, der Wahrnehmungspsychologie oder den Gehalten von Sujets, die die Musik darstellen oder begleiten sollte. Musik als Kunstwerk ordnet Bestimmungen, die für heteronom gelten können, ihrer Autonomie unter: »Alle außermusikalischen Funktionen, für die es [= das musikalische Kunstwerk] in Betracht kommt, erfüllen Funktionen innerhalb seines autonomen Regelsystems.« (Hindrichs 2014, S. 66) Dies gilt auch für Bestimmungen, die man andernorts als die Natur des Klanges bezeichnt und von denen objektivistische Denkweisen behaupten, sie würden die Formung des musikalischen Kunstwerks vorbestimmen. Um sich von solchen Denkweisen abzugrenzen, spricht Hindrichs den Unterschied zwischen natürlichen, »vorhandenen« 18

Vgl. besonders Adorno 1970, S. 226 f.

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Arbeit am Material als Arbeit am Tonsystem

Klängen und Klängen der Musik als Unterschied der »logische[n] Gestalt« an (Hindrichs 2014, S. 18). Die Gemachtheit des musikalischen Materials steht bei Hindrichs also im Zeichen der produktiven – gemachten – Unterscheidung zwischen der Logik des musikalischen Klanges und anderweitigen Logiken. Die Arbeit am Material ist dementsprechend eine Arbeit an autonom tonsystematischen Ordnungen, die sie weiter differenziert, ihre inneren und äußeren Grenzen anders zu ziehen sucht, weitere Parameter der Ordnung einführt oder bisherige Parameter außer Kraft setzt; sie ist eine reflektierend konstruktive Arbeit. Diese Ansicht ist außerordentlich wichtig. Daß sie aber nicht der einzige Schwerpunkt bleiben sollte, läßt sich auf einem Umweg erkennen. Sie ist eine systemtheoretische Ansicht und fällt als solche auf Mängel zurück, die oben schon an dieser Gattung von Theorie aufgezeigt wurden und die ich gleich anhand einer alternativen Schwerpunktsetzung weiter erläutere. Zuvor möchte ich kurz die luhmannische Entsprechung zu der gerade besprochenen Betrachtung über das Machen anzeigen. Daß man Grenzen zieht, um einen Bereich auszusondern und einen anderen beispielsweise als Tonmaterial oder als bestimmte Kategorien innerhalb des Tonmaterials für den Gebrauch auszuzeichnen, wurde oben als eine der Grundbestimmungen der Geistigkeit des Materials bezeichnet; bei Luhmann (1995, S. 99 f.) heißt dies »Beobachtung«. Schließt man an Beobachtungen an, indem man einen Gegenstand nicht als irgendeinen, sondern genau als durch Beobachtung konstituierten Gegenstand auffaßt und also seine Grenzen und internen Ordnungen reflektiert, insofern sie hergestellt und gewählt worden sind, so vollzieht man »Beobachtungen zweiter Ordnung« (ebd., S. 94 f.). Sie sind »ein Unterscheiden von Unterscheidungen […] in [ihrem] operativen Gebrauch« (ebd., S. 101). Nebensächlich für die Gemachtheit des musikalischen Materials ist demgegenüber dasjenige, was man als Stoff der tonsystematischen Ordnungen bezeichnen kann, nämlich das Erscheinen des Klanges in einer Wahrnehmung, die zwischen dem Musikalischen und dem Nichtmusikalischen noch nicht differenziert hat – jenes Erscheinen, das daraufhin abgeklopft wurde, inwiefern es die Eigenform der Musik untergräbt und Anlaß gibt, darüber nachzudenken, wie die Formen der Ordnung, unter die wir Musik bringen, mit außermusikalischen Logiken zusammenhängen. In diesem Erscheinen haben die Klänge eine gestalthafte Ordnung, die noch diesseits des Machens 389 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

liegt und darum selbst nicht zur autonomen Form des musikalischen Kunstwerkes beiträgt. Sie sind zunächst etwas logisch (und ontologisch) Anderes. Für eine streng an der Autonomie des Tonsystems ausgerichtete Untersuchung und für eine diesem System immanente Reflexion über das Material können sie gar kein Gegenstand sein: »Wer Formen beobachtet, beobachtet mithin Beobachter, und dies in dem strengen Sinne, daß er sich nicht für ihre Materialität, ihre Motive, ihre Erwartungen oder ihre Äußerungen interessiert, sondern streng und ausschließlich für ihren Unterscheidungsgebrauch.« (ebd., S. 111)

Steht dieser Unterscheidungsgebrauch unter der Maßgabe, sich zu rechtfertigen, wie es die avancierte Komposition nach Schönberg fordert, und genauer: sich systemimmanent, nicht heteronom zu rechtfertigen, so hat er den Aspekt des Technischen: Er weiß, was er wovon unterscheidet, um dann darüber verfügen zu können. Wer die so gemachte Musik verstehend repräsentiert, beobachtet in zweiter Ordnung. Den musikalischen Gedanken zu verstehen und zu deuten, heißt dann, »die im Kunstwerk eingearbeiteten Formunterscheidungen, also die im Werk eingearbeiteten Beobachtungstechniken zu beobachten« (Lippe 2013, S. 109). Diese Ansicht stellt Kunstschaffen und Kunstverstehen in einen sehr engen, ›systematischen‹ Zusammenhang: »Die Herstellung eines Kunstwerkes hat […] den Sinn, spezifische Formen für ein Beobachten von Beobachtungen in die Welt zu setzen. Nur dafür wird das Werk ›hergestellt‹ […] und mit Indifferenz gegen alles andere ausgestattet« (Luhmann 1995, S. 115).

In diesem System gibt es einen besonderen Namen für die Gelungenheit des Kunstwerkes. Diese mißt sich ja daran, daß sie Beobachtungen zweiter Ordnung anregt, damit Unterscheidungsgebräuche in den Blick nimmt und ihre Explikation herausfordert und denjenigen, der diese Herausforderung annimmt, etwas bemerken läßt, was er zuvor nicht bemerkt hatte. Gelingt dies einem Kunstwerk, so ist es »interessant« (ebd., S. 143 f.). Wir wollen weiter sehen, wie man das musikalische Kunstwerk so denken kann, daß sich seine Qualitäten nicht im Interessanten erschöpfen.

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Arbeit am Material, vermittelt durch den Begriff der Repräsentation

r.7. Arbeit am Material, vermittelt durch den Begriff der Repräsentation Eine andere Schwerpunktsetzung hat sich bisher in dem vorliegenden Buch gezeigt. Das lag an der im Vergleich zu Hindrichs ungefähr umgekehrten Richtung der Untersuchung: Während Hindrichs einen Begriff voraussetzt – den des autonomen musikalischen Kunstwerkes –, um an seiner Entfaltung zu zeigen, daß sich mit ihm als »zentrale[m] Idealtypus« das »Prinzip der europäischen Musik selbst« entfaltet und er damit notwendig für das Verständnis der Musik in ihrer geschichtlichen Entwicklung ist (Hindrichs 2014, S. 23), habe ich mit empirischen und phänomenologischen Ansätzen begonnen, die von der unmittelbaren Erfahrung der Musik ausgehen, um zu zeigen, wo ihre Grenzen liegen und welche begrifflichen Mittel notwendig sind, um über diese Grenzen hinaus das Verstehen der Musik zu analysieren. Zu diesen Mitteln zählten zuletzt die Begriffe des Materials und des Gedankens. Der Materialbegriff löst die zuvor besprochenen Formen der Wahrnehmung, des Nachvollzuges und der Repräsentation aus ihrer scheinbaren Unmittelbarkeit und aus ihrer technischen und analytischen Verfügbarkeit heraus, so daß sie den Status von Gegenständen der musikalischen Reflexion bekommen. Neben die Grundsätze der musikalischen Eigenform, aus der sich tonsystematische Ordnungen aufbauen, trat als Schwerpunkt die ästhesiologische Analyse des Klanges: Sie sollte »die Bedingung der Möglichkeit der Musik schlechthin« erhellen, und zwar auf der Suche nach »material-apriorischen« Gesetzmäßigkeiten (Plessner, GS III, S. 236 und 238), die sich als Gesetzmäßigkeiten in der ›Natur‹ der Klänge zeigten – nicht jedoch in ihrer ›Natur‹ als physikalisch-akustische Ereignisse, sondern in ihrer Natur in Bezug auf eine stets im Rahmen möglichen Sinnes tätige Wahrnehmung. Die Überlegung war, daß diese Gesetzmäßigkeiten nicht gleichgültig gegen die systematischen Ordnungsmöglichkeiten sind, sondern daß sie als zu Ordnendes und zu Systematisierendes in diesen ästhesiologischen Bestimmungen ernst genommen werden müssen, mehr noch: daß sie auch die Bedingungen der Möglichkeit jener Ordnung sind. Somit lag der Schwerpunkt nicht so sehr darauf, die logische Unabhängigkeit der Ordnung musikalischer Klänge zu begründen, sondern auf der Überlegung, wie wir uns diese Ordnung verständlich machen: welchen Sinn wir ihr entnehmen und, von der Seite der 391 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

Künstlerin aus gesehen, welche Vorstellung von Sinn die Art und Weise bestimmt, in der sie die musikalische Ordnung gebraucht und verwandelt. Im Mittelpunkt dieses Umgangs mit musikalischem Sinn stand die Ausführung der Begriffe des Nachvollzuges und der Repräsentation. Sie vermitteln uns die Ordnung des Nachvollzogenen und Repräsentierten, und zwar auch die autonome tonsystematische Ordnung. Ich habe an vielen Stellen die Frage in den Mittelpunkt gestellt, welche Funktionen des Wahrnehmens und des Deutens diese Vermittlung erfordert, und versucht, diese Frage zu beantworten, indem ich ausgeführt habe, daß nicht nur die schematische Ordnung der tonsystematischen Kategorien die Ordnung des Nachvollzogenen und Repräsentierten ist. Die letztgenannte Ordnung ist stattdessen das Produkt einer Deutung offenen Sinnes, die Verknüpfungen zwischen dem Nachvollzug der Musik und anderweitig vertrauten, also außermusikalisch bereits vorbestimmten begrifflichen Feldern herstellt, etwa der Geste, der Rede, der Atmosphäre eines Raumes usw. Diese Verknüpfungen sind geistige Leistungen. Ich zögere aber, diese geistigen Leistungen umstandslos unter den Titel des Machens zu stellen und die Geistigkeit und Vernünftigkeit des durch Verknüpfung Gemachten wiederum zur Idee der tonsystematischen Ordnung zuzuspitzen. Dieses Zögern zu erläutern bereitet einige Schwierigkeiten; ich möchte einige Anhaltspunkte dazu geben. Während für Hindrichs die Arbeit am autonomen Kunstwerk in einem differenzierenden Denken innerhalb der Material gewordenen Tonsysteme besteht, habe ich hierfür die Begriffe der Deutung und Repräsentation in den Vordergrund gestellt. Deuten und Repräsentieren ist geistiges Tun (sprechen wir hier nicht vom »Machen«). Es greift auf etwas zu Deutendes und zu Repräsentierendes zu, indem es dieses differenziert, unterscheidet, ordnet und verknüpft, und gebraucht dabei gedankliche Strukturen, die Vorbilder für die herzustellende Ordnung sind. An diesen beiden Stellen – dem ›Stoff‹ des Deutens und Repräsentierens und seinen ›Werkzeugen‹ – wird die Konzentration auf das autonom Musikalische zweifelhaft, weil dort erstens das (Noch-)Nicht-Musikalische in das geistige Tun an der Musik eintritt und zweitens die Rede vom autonomen und spontanen Machen in Bezug auf das Material der Repräsentation eine Lücke läßt, in der unserem geistigen Tun etwas zustößt. Der erste Punkt spiegelt sich darin, daß die Form, die die Musik tatsächlich im Werk gewinnt, nicht nur das im Sinne eines Ton392 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Arbeit am Material, vermittelt durch den Begriff der Repräsentation

systems Gemachte als ihr Material begreift, sondern auch in unterschiedlichem Maße Spezifika der Klänge, die zunächst außerhalb dieser Systematik stehen und diese erst bedingen. Dazu zählen die ästhesiologischen Kennzeichen der in der Zeit erstreckten Voluminosität (»Schwellfähigkeit«) und des Impulswertes, die es möglich machen, von der musikalischen Bewegung im musikalischen Raum zu sprechen, so daß beispielsweise der Rhythmus und die Metrik der Musik nicht im Zählen aufgehen. Diese ästhesiologischen Spezifika können aber vormusikalisch in einer Weise begriffen werden, wie es bei den Kategorien der musikalischen Eigenform nicht möglich ist, da die letzteren sich nur innerhalb der Bestimmungen eines Tonsystems überhaupt ergeben. Jene hingegen sind ›stofflich‹ begreifbar. Sie sind Ausprägungen einer Ereignislogik der Klänge, die ihre Bedingtheit durch eine Welt außermusikalischer Ereignisse auch in der Aufhebung in eine tonsystematische Ordnung nicht verliert. Zu den ›Werkzeugen‹ des geistigen Tuns, das die produktive und prozessuale Repräsentation ist, zählen Verknüpfungen des Musikalischen mit lebensweltlich bekannten Begriffsfeldern. Wichtig sind dabei beispielsweise die Rede mit ihren rhetorischen und syntaktischen Momenten und Gliederungsprinzipien, das Feld der Gestik oder die Vorstellung des musikalischen Raumes als einer Repräsentation natürlicher Räume. Hindrichs äußert sich zu solchen Verknüpfungen im Rahmen seiner Besprechung musikalischen Sinnes, nachdem er feststellt, daß es eine erste und fundamentale Bestimmung des musikalischen Sinnes gibt, die er den »funktionalen Sinn« (Hindrichs 2014, S. 217) nennt und folgendermaßen zusammenfaßt: »Nach alldem besteht der musikalische Sinn eines Klanges darin, den Klang als etwas verständlich werden zu lassen. Das, als was der Klang verständlich wird, ist seine Funktion. Seine Funktion wiederum stellt den Klang in einen Bezug auf andere Klänge sowie auf den Gesamtzusammenhang des Werkes.« (ebd., S. 197)

Der funktionale Sinn liegt in der Bestimmung eines Klanges in seinen Bezügen auf andere Klänge. Darauf gestützt, daß auch der Begriff des musikalischen Sinnes zur Entfaltung des Begriffs des autonomen musikalischen Kunstwerkes gehören muß, sagt Hindrichs, daß Fälle, in denen wir Musik auf Außermusikalisches bezogen verstehen, so analysiert werden müssen, »daß das Außermusikalische, auf das sich Musik bezieht, nur aufgrund des funktionalen Sinnes der Klänge gegenwärtig zu sein vermag.« Der funktionale Sinn muß »die Grund393 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

lage [sein], auf der die anderen Sinne entstehen können«. Ist er nicht die Grundlage, dann haben wir nicht Musik vor uns, »sondern ein heteronomes Klangsignal.« (ebd., S. 217) Hindrichs breitet das Spektrum der möglichen außermusikalischen Bezüge aus, indem er das hermeneutische Modell des vierfachen Schriftsinnes in Anspruch nimmt. Um die Diskussion nicht zu kompliziert werden zu lassen, stelle ich die Differenzierung zwischen den drei »geistigen Sinnen« beiseite, die allesamt den Bezug der Musik auf Außermusikalisches oder des Textes auf Außertextuelles leisten (vgl. ebd., S. 218). Beispiele für außermusikalische Sinngehalte, als welche Musik verständlich werden kann, sind für Hindrichs unter dem Titel des »allegorischen Sinnes« »tönend bewegte Form«, »Trauer«, »Faust und Gretchen«, »passus duriusculus«, »Heldentum und anderes« und »de[r] gesamte Bereich der ›Weltanschauungsmusik‹« (ebd., S. 221); unter dem Titel des »tropologischen Sinnes« schreibt er: »Musik läßt sich aufgrund ihrer Verfahrensweise als Explikation einer bestimmten Rationalität verstehen; sie läßt sich aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit als Darstellung von Subjektivität verstehen; und sie läßt sich aufgrund ihrer rhythmischen Bewegtheit als Veranschaulichung des Lebendigen verstehen.« (ebd., S. 222)

Das Verhältnis solcher Sinngehalte zum innerhalb eines Tonsystems bestehenden funktionalen Sinn sei zum einen, daß der funktionale Sinn vorgeordnet und bedingend ist. Ohne ihn gebe es keine Grundlage, auf der die anderen Sinngehalte errichtet werden können und dabei musikalische Sinngehalte im Unterschied von heteronomen, beispielsweise signalartigen Bedeutungen sind. Andererseits leisten die »geistigen« Sinne einen eigenständigen Beitrag zum musikalischen Sinn im Ganzen. Hindrichs drückt das einmal aus, indem er von Kollisionen der unterschiedlichen Sinngehalte spricht: »Das Gefüge [des musikalischen Sinnes im Ganzen] muß keineswegs in Glätte dastehen. Die vier Sinne können sich ineinander verhaken und einander zuwiderlaufen, etwa wenn der allegorische Sinn eines Klanges, ein bestimmtes Gefühl zu zeigen, seinen buchstäblichen [= funktionalen] Sinn aus den gewohnten Bahnen wirft. Ihre Regelsysteme vermögen zu kollidieren.« (ebd., S. 224)

An anderer Stelle bemerkt er, der Bezug auf Außermusikalisches im »allegorische[n] Sinn eines musikalischen Klanges enthält die implizite Prämisse, unter der der folgerichtige [d. h.: funktional sinnvolle] Klang steht.« (ebd., S. 221) 394 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Arbeit am Material, vermittelt durch den Begriff der Repräsentation

In Hindrichs’ Darstellung scheinen die »geistigen Sinne« ein entbehrlicher Zusatz zu sein, weil der funktionale Sinn für sich allein die Musik bestimmt: Er kann bestehen, ohne in Konkurrenz zu anderen Sinngehalten zu stehen und ohne diese als »Prämissen« seiner Formung zu erfordern. Dagegen wäre zu fragen, ob nicht die Verhältnisse der Konkurrenz oder der Prämisse zur funktionalen Ordnung der Klänge gerade die Autonomie dieser Ordnung in Frage stellen, indem jene einen Einfluß auf diese haben, den zu betrachten notwendig dafür ist, die Funktion der Klänge überhaupt richtig zu verstehen. Der funktionale Bezug der Klänge aufeinander wird unter den Gesichtspunkten der »geistigen« Sinne transformiert, oder mehr noch: er wird im Sinne des musikalischen Gedankens geformt. Für Hindrichs liegt die folgende Antwort nahe: Die Autonomie des tonsystematischen Zusammenhanges wird durch prämissenhafte und andere Einflüsse in Form außermusikalischer Bezugnahmen nicht gestört, da letztere sich nur autonom-tonsystematisch artikulieren können. Die Kategorien dieser Artikulation stellt Hindrichs unter den Titeln des Klanges, der Zeit und des Raumes vor. Dasjenige, was – als außermusikalische Bezugnahme – die Bestimmungen innerhalb dieser Kategorien formt und transformiert, geht in der tonsystematischen Artikulation auf. Solche Bezugnahmen sind für das musikalische Denken ›Werkzeuge‹ – um das oben gebrauchte Hilfswort wieder aufzunehmen –, die in der Form des Werkes keine Spuren hinterlassen, die man erkennen können müßte. Die ›Werkzeuge‹ des musikalischen Denkens sind Krücken. Der eigentliche und seiner Natur nach keiner Krücken bedürftige Gang des musikalischen Denkens ist dagegen als Zugriff auf tonsystematische Ordnungen selbst zu verstehen. Hier stellt sich die Gegenfrage, ob es möglich ist, dies so zu denken: ob wir einen unvermittelten Zugriff auf diese Systeme selbst haben. Ich habe dafür argumentiert, daß dies nur in Grenzen möglich ist, nämlich in den Grenzen der primär schematisch gegebenen Kategorien der musikalischen Eigenform. Darüber hinaus denken wir die Form der Musik vermittelt: nämlich vermittelt durch die ›Werkzeuge‹ des Nachvollzuges der Musik als Bewegung und der Deutung dieser Nachvollzüge durch begriffliche (metaphorische) Verknüpfung. Viele dieser Nachvollzüge und Verknüpfungen gehen zwar als sekundäre Schematisierungen in die tonsystematische Ordnung ein. Wichtig ist aber, daß damit die Bedeutung dieser ›Werkzeuge‹ nicht erschöpft ist, sondern daß sie gerade dort wirken, wo es darum geht, 395 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Material, Gedanke und Werk

im Gebrauch des musikalischen Materials nicht etwas Sedimentiertes zu wiederholen, sondern etwas auszudrücken. Nachvollzug und begriffliche Verknüpfung wirken dort, indem sie den tonsystematischen, funktionalen Sinn als etwas verständlich werden lassen, das nicht im System der Klangfunktionen aufgeht. Der funktionale Sinn in Absehung von diesen Vermittlungen wäre somit nur eine Abstraktion, nicht die Wirklichkeit musikalischen Sinnes.

r.8. Arbeit am Material als problematischer Umgang mit Unverfügbarem Der denkende Zugriff auf die tonsystematische, nicht nur schematische Ordnung ist auf eine Weise vermittelt, die mit offenem, thematischem Sinn und seiner Deutung durch Schematisierung und Versprachlichung umgeht. Das Deuten und Vermitteln ist aber – und dies relativiert die Rede von der Gemachtheit – nicht durchweg beherrschbar und begründbar. Die Rationalität des Unterscheidens, Ordnens und Verbindens, die die Schlüssigkeit und Gültigkeit einer Ordnung musikalischer Technik und musikalischen Sinns gewährleisten soll, kommt an eine Grenze. Um diese Grenze und damit das geistige Tun am gemachten musikalischen Material genauer zu verstehen, wenden wir uns einer dritten Schwerpunktsetzung in der Untersuchung dieser Begriffe zu. Ein wichtiger Ausgangspunkt für Adornos Überlegungen zum Materialbegriff liegt in der Intuition, daß musikalisches Material – anders als totes Baumaterial – nicht stabil bleibt, sondern verfällt. In diesen Überlegungen ist ein Moment hervorgehoben, das für die Arbeit am Material negativen Wert hat: die Unverfügbarkeit. An verschiedenen musikgeschichtlichen Stellen sieht Adorno dieses Moment in besonderem Maße herausgestellt, so daß es nicht nur als Teil eines Stilwandels, eines Aus-der-Mode-Kommens, begriffen werden kann. Solche Stellen sind beispielsweise der Spätstil Beethovens und, in anderem Sinne, der »Expressionismus« (Adorno, GS 12, S. 47) Schönbergs und Bergs. Der erste Fall zeigt einen reflexiven Umgang mit bereits Gemachtem, der das Weitermachen im Sinne des Überkommenen unterbindet, so daß das Material aus der Verfügbarkeit herausrückt; der zweite Fall zeigt die Problematik der Unternehmung, bestimmte Sinngehalte technisch verfügbar zu machen – also die Unverfügbarkeit dieser Sinngehalte in der Arbeit am Material. 396 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Arbeit am Material als problematischer Umgang mit Unverfügbarem

In seinem Aufsatz »Spätstil Beethovens« weist Adorno darauf hin, wie Momente der Musik, die die Verbindung der Abschnitte und die horizontale und vertikale Einheit der musikalischen Bewegung gewährleisteten und damit ein natürliches Fließen und Fortgehen herstellten, aus ihrer scheinbaren Natürlichkeit herausgenommen werden. Dabei handelt es sich um ornamentale, füllende, überleitende, eröffnende oder schließende Elemente. Im Werk einer andernorts sehr persönlichen technischen Beherrschung des Tonsatzes oder bislang ungekannter »abgeschiedener Lyrik« gegenübergestellt verlieren diese Elemente die Funktion, eine ganzheitliche Gestalt herzustellen. Sie erscheinen vielmehr, indem sie diese Funktion nicht mehr erfüllen können, »kahl, unverhüllt, unverwandelt« als »Konventionstrümmer«, »Splitter« und »Stoffmassen«, von denen sich die formende Hand zurückgezogen habe. Daß den genannten Momenten der funktionale Sinn und damit ihre Formbarkeit abhanden kommt, liegt daran, daß die Einheit, zu der sie einmal beigetragen haben, für den Komponisten als etwas erscheint, das er nicht mehr ernsthaft machen oder denken kann. Die Fragwürdigkeit des eigenen Machens erkannt zu haben wird das Einheitsmoment des musikalischen Gedankens. Die vormalige, unverfügbar gewordene Einheit und die Mittel, sie zustandezubringen, erscheinen im Werk »unverwandelt«, weil sie von der Subjektivität verlassen worden sind, die nicht mehr machend, sondern nur noch das Machen verweigernd mit ihnen umgehen kann: »Die Gewalt der Subjektivität in den späten Kunstwerken ist die auffahrende Geste, mit welcher sie die Kunstwerke verläßt. Sie sprengt sie, nicht um sich auszudrücken, sondern um ausdruckslos den Schein der Kunst abzuwerfen.«

Sie werden paradoxerweise als Ungebrauchtes oder Unbrauchbares gebraucht. Wenn sie so erscheinen können, zeigt sich ihr Verfall und an ihm beispielhaft der mögliche Verfall aller zum Material gewordenen Momente der musikalischen Arbeit. Diesem Verfall gegenüber wird das Subjekt und sein Machen ›ohnmächtig‹. Das Subjekt gebraucht sie nicht nur als Zeichen eines Veralteten, aus der Mode Gekommenen, sondern es gebraucht sie mit dem Gedanken des Verfalls und der Ohnmacht überhaupt; Adorno möchte sagen: »im Gedanken an den Tod«. 19 Der ganze vorangehende Absatz bezieht sich auf und zitiert aus Adorno 1964, S. 14–16.

19

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Daß musikalisches Material auf diese Weise unverfügbar erscheint, erreicht seinen Höhepunkt zu der Zeit, in der der bisherige Garant musikalischen Zusammenhanges überhaupt – die Tonalität – fragwürdig wird und sich ›verbietet‹. Dann stellt sich besonders dringlich die Frage, was eine Leitlinie des musikalischen Denkens sein kann, wenn man dieses bisher natürlich und unverzichtbar erscheinende Ordnungssystem fortläßt. Zugleich stellt sich die Frage, wie genau die Fragwürdigkeit des tonal vermittelten Zusammenhanges eingesehen wurde. Ein Schritt in Richtung einer Antwort findet sich, vor dem Entwurf der Komposition mit zwölf gleichberechtigten Tönen, in der häufig ›expressionistisch‹ aufgeladenen freitonalen Musik; Adorno nennt hier insbesondere Schönbergs ›Dramen mit Musik‹ Erwartung und Die glückliche Hand. In diesen Werken sieht er die Musik von einem Gedanken des Ausdrucks regiert, der in seiner Funktion und Qualität kategorisch vom »romantischen« Ausdruck verschieden ist. Dieser sei »Schein der Passionen«, ein Moment einer dramatischen und narrativen Modellierung der Musik, die sich damit der Fiktion erzählender Texte annähert, was aber nur möglich sei, weil der »romantische« Ausdruck im Rahmen einer überlieferten, allgemeinen und anerkannten Tonordnung gestaltet ist. Dem solchermaßen der allgemeinen Verständlichkeit untergeordneten Ausdruck stellt er »unverstellt leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata«, »Körperzuckungen gleichsam, und [das] gläserne[] Innehalten dessen, den Angst erstarren macht«, gegenüber. Im Lichte der Psychoanalyse zeugen diese Regungen von einer Subjektivität, die ganz verschieden von der dem älteren Ausdrucksbegriff zugrundeliegenden Einheit der Person oder des Charakters ist. Sie sind, nach einer vieldeutigen Beschreibung Adornos, »Ausschlag negativer Erfahrungen«. Daß eine Erfahrung negativ ist, können wir so verstehen, daß in ihr die Grenzen der Möglichkeit des Verstehens und des Durchdenkens manifest werden. Damit zeigen sich in einer solchen Erfahrung im Subjekt selbst die Grenzen seiner eigenen Ganzheit: Es sind die Grenzen zwischen dem bewußten Verstehen und seinem triebhaften, unbewußten Anderen. Wenn das musikalische Denken sich darauf richtet, diese Subjektivität zu repräsentieren, so muß ihm die musikalische Ordnung, die kraft tonaler Bindung den subjektiven Ausdruck allgemein-verständlich gestaltet, falsch vorkommen. Es benötigt stattdessen eine Technik, die möglichst unvermittelt jenen Regungen negativer Erfahrung Raum gibt. Die vielschichtige und komplexe und zugleich »zum 398 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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Augenblick geschrumpft[e]« Gestalt, die den Klängen in Schönbergs ›expressionistischen‹ Werken gegeben ist, ist der Ansatz zu einer solchen Technik. Diese beruht auf »formale[n] Innovationen«, die nicht einem für sich stehenden konstruktiven Gedanken geschuldet sind, sondern »dem Durchbruch von dessen Wirklichkeit [= des qualitativ neuen »Ausdrucksgehalts«] [dienen].« 20 In der Folge dieser »Revolution des Ausdrucks« erkennt Adorno jedoch ein Problem, das wiederum im Licht des Verfalls und der Unverfügbarkeit steht. In Adornos Ohren zeigt sich dieses Problem in Alban Bergs Opern Wozzeck und Lulu. Sie fügen die revoltierenden Techniken der Repräsentation negativer Erfahrung in die »extensive Fülle und kontemplative Weisheit der Architektur« abendfüllender Bühnenwerke ein. Damit sieht es aus, als würden die nervösen, schockhaften Momente und »Impulse« zum Material der Konstruktion eines Werkes, für das sie sich zu wiederholbaren Leitmotiven gestalten lassen. Hier erhebt Adorno Einspruch. Wohl gelingt ein »Meisterwerk« der neuen Musiksprache. Aber gerade in diesem Gelingen wird der Gehalt, der Schönbergs expressive Techniken zu seiner Repräsentation gefordert hat, bildhaft, »beschwichtigt«, in ein »Schema der Verklärung« eingefügt. Die Technik der Fragmentierung, der harmonischen, melodischen und klangfarblichen Komplikation, verliert, indem sie das Material der Konstruktion einer »große[n] Oper« wird, die Direktheit des Gehaltes ausbrechenden Ausdrucks, der doch die Leitidee ihrer Entstehung war. Während die Technik verfügbar zu werden scheint, zeigt sich die Unverfügbarkeit des besonderen Sinnes, der ihr zugrundeliegt. Sie droht damit in ihrer Erfindung zu verfallen. Denn die ersten, radikalen Werke der neuen Musik, die jenem Sinn zu folgen suchen, »fordern den Begriff von Leistung und Werk selber heraus.« 21 Adornos Ausgangs- und Schwerpunkt in der Untersuchung der Gemachtheit musikalischen Materials und musikalischer Werke ist es, die Problematik bis hin zur Paradoxie dieser Gemachtheit herauszuheben. Erscheinungen des scheiternden oder verfehlten Umgangs mit Musik spielen dabei die wichtige Rolle, die Grenzen gelingender Umgänge deutlich zu machen, und zwar sowohl in Hinsicht auf die Rezeption von Musik als auch auf ihre Produktion. Die vorangegangenen drei Absätzen zitieren und verarbeiten Adorno, GS 12, S. 40–47. 21 Alle Zitate in diesem Absatz stammen aus Adorno, GS 12, S. 36–38. 20

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Material, Gedanke und Werk

Die erste Hinsicht stellt Adorno bevorzugt unter die Schlagwörter »Fetischcharakter« und »Regression des Hörens«. 22 Ich versuche, die psychoanalytische und marxistische Redeweise etwas weniger zu betonen und das, was Adorno beschreibt, in den Zusammenhang der bisherigen Untersuchung zu stellen. Dazu lohnt es, zwei Bemerkungen herauszuheben, mit denen er das verfehlte Hören charakterisiert. Die Hörer »hören atomistisch und dissoziieren das Gehörte, entwickeln aber eben an der Dissoziation gewisse Fähigkeiten, die in traditionell-ästhetischen Begriffen weniger zu fassen sind als in solchen von Fußballspielen und Chauffieren.« (Adorno, GS 14, S. 34)

Diese »Fähigkeiten« bestimmen den Zugang zur Musik: Der Hörer »identifiziert […] sich mit diesem [= dem »Schlager«], indem er ihn identifiziert« (S. 36). Das bedeutet, daß der Hörer seinen Umgang mit der Musik dadurch bestimmt, daß er etwas (wieder-)erkennt, und zwar unter Begriffen, die er als bestätigt und allgemein anerkannt vorfindet. Dabei will keine zunächst offene Erfahrung verstanden werden. Stattdessen läßt sich das Hören von kodifizierten und abstrakten Begriffen bestimmen, denen das Gehörte und das Hören von vornherein untergeordnet sind, so daß eine Erfahrung im hier relevanten Sinne gar nicht zustandekommt. Ein teils kognitives, teils affektives Reiz-Reaktions-Schema tritt an seine Stelle. Zu solchen Begriffen, die effektiv vorgeben, worauf es beim Hören von Musik ankomme, zählen in Adornos Augen die Namen der Stars gleichgültig welchen Genres. Die Anpreisung der Größe einer Sängerin, eines Dirigenten oder auch eines Komponisten der Vergangenheit läßt die Musik für den der Fetischisierung verfallenen Hörer zum Vehikel werden, an der Größe des Stars teilzunehmen, indem er weiß, daß er diesem zuhört (vgl. ebd., S. 31 f.). Diese Größe mißt sich nicht mehr ästhetisch, sondern am »akkumulierten Erfolg« (ebd., S. 21). 23 Die Teilhabe und Freude des Hörers gelten dem impliziten Wissen, daß er imstande ist, die Konventionen der Größe und Bedeutung der Musik anzuerkennen, und daß er dieses Anerkennen mit Diese Schlagwörter gehen in den Titel des Aufsatzes »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« (Adorno, GS 14, S. 14–50) ein, aus dem ich im folgenden einiges kommentiere. 23 Hierauf ist Adornos Vergleich mit dem Zuschauer von Fußballspielen und anderen Sportereignissen bezogen; dort wittert er dasselbe Verhältnis zu Stars und ihren Erfolgen. 22

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vielen anderen teilt. Die verbreitete Zugänglichkeit dieser Konventionen wird dadurch garantiert, daß sie auf »standardisierte[n] Muster [n] des Sinnlichen« und »isolierten Reizmomenten« (Zehentreiter 2013, S. 68 f.) aufbauen, die leicht erkannt werden können und darum verfügbar scheinen. Nach Ferdinand Zehentreiter, der Adornos »Fetischcharakter«Aufsatz übersichtlich kommentiert und weitergedacht hat, gehört zu den Leitbegriffen verfehlten Hörens auch die Spaltung zwischen Emotion und Intellekt. Musik wird mit dem Versprechen angeboten, »Emotion pur« zu bieten. Dieses Versprechen vertraut darauf, so verstanden zu werden, daß »Emotion pur« das Gegenteil zum Denken bedeute und daß sie gerade dadurch verfügbar wird, daß man Musik ohne zu denken, rein erlebend, verfolgen können soll. Musik und ihre ›emotionale‹ Rezeption erscheinen damit als definierte Räume definierter Erfahrungen (oder besser: Reize). Zehentreiter spricht vom »Einbezug des Irrationalen als Konsum-Objekt, pedantisch gepflegt wie ein Drei-Tage-Bart«, in den Raum planbarer Verfügbarkeit. (Ebd., S. 70 f.) Wesentlich für das so beschriebene Hören ist die Verfügbarkeit gewisser musikalischer Elemente wie auch die Verfügbarkeit des (wieder-)erkennenden Zugangs zu ihnen. Um verfügbar zu sein, müssen jene Elemente von ihrer geistigen, ein Verstehen fordernden Natur abstrahiert und als bloß wahrnehmbares Baumaterial gefaßt werden. In diesem Sinne schreibt Adorno (GS 14, S. 27), daß »das liquidierte Individuum wirklich die vollendete Äußerlichkeit der Konventionen leidenschaftlich zur eigenen Sache macht« – »liquidiert«, weil sein eigenes Erleben nur noch unter der Maßgabe steht, daß es »über das ohnehin Unausweichliche Bescheid weiß« (ebd., S. 26), ohne daß es zu einem Sinn durchzudringen sucht, der nur mit der Hilfe eigener Reflexion konstituiert werden könnte und darum nicht ›unausweichlich‹, sondern wesentlich auf ein Subjekt bezogen und damit nicht dinghaft ist. In der hier zuvor verwendeten Redeweise ist das Individuum darum liquidiert, weil es den Sinn seines Verhaltens durch den Anschluß an (intersubjektive) Verhaltensweisen außer ihm rein um des Anschlusses willen bestimmt, ohne zu fragen, was der Anschluß für es selbst bedeutet. Sein Verhalten zu einem musikalischen Werk oder zu musikalischen Praktiken steht dann nicht (mehr) im Bezug auf dasjenige Moment des Lebens, das als unergründlicher und unfestgestellter Sinn beschrieben wurde. Adorno und Zehentreiter beschreiben insgesamt ein objektivisti401 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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sches Hören, das durch »vollendete Beziehungslosigkeit« 24 gekennzeichnet ist. Die Reizmomente, in deren Wiedererkennen sich das Subjekt selbst gefällt, stehen in keiner Beziehung zu einer potentiell reflexiven Subjektivität, die danach fragen würde, was der in den musikalischen Elementen mitgeteilte Sinn und der Sinn jenes Identifizierens sein könnte. An der Stelle dieser Frage steht die Unmittelbarkeit vorzeigende affektive Besetzung des objektivistischen Hörens und die Identifikation des Subjekts mit ihm. Dieser Zusammenhang fällt unter den Titel »Verdinglichung«. Er betrifft die Richtung der Affekte – der Freude – auf das Zusammenpassen und Funktionieren; daher rührt Adornos Gleichsetzung des fetischisierenden Hörens mit dem »Chauffieren«, das sich durch die Lust an der funktionierenden Maschine und deren Beherrschung auszeichnet. Wie Zehentreiter (2013, S. 66 f.) bemerkt, wird an Adornos Analysen häufig überlesen, daß er damit keine ontologische Unterscheidung zwischen Arten von Musik oder, wie wir genauer sagen müßten, zwischen Arten von musikalischem Material zieht, auch wenn jenes Überlesen dadurch gefördert wird, daß Adorno oft zwischen Kunst und industriellen kunstähnlichen Produkten und damit zwischen ›höherer‹ und ›niederer‹ Kultur eine Trennlinie zu ziehen scheint. Dies ist aber nicht richtig. Die betreffende Unterscheidung ist eine Unterscheidung des Umganges mit Musik; eine Unterscheidung innerhalb des musikalischen Denkens, oder, wenn man »Denken« streng gebrauchen möchte, zwischen ihm und dem musikalischen Nicht-Denken. Letzteres zeichnet sich dadurch aus, daß es Musik so nimmt, wie sie vorzuliegen scheint, nämlich als verfügbares Material, an dem Momente des Verfallens oder Unbrauchbarwerdens lediglich in dem oberflächlichen Sinn bemerkt werden, daß sie veraltet oder schlicht alt erscheinen, und nicht in dem Sinn, daß sie etwas mitteilen, das hohl geworden ist und keiner Reflexion mehr standhält. Die Vorstellung, das musikalische Material sei verfügbar, geht Hand in Hand mit der Vorstellung, das aus ihm gemachte Werk sei transparent für die Intentionen dessen, der es gemacht hat. Es zu verstehen hieße darum, die Intentionen herauszulesen, mögen sie nun rein struktureller oder auch symbolischer, mitteilender Art sei. Ein solches Verstehen greift aber zu kurz oder geht in die Irre. Wenn das Material geistig ist und Forderungen stellt, hat es einen Eigensinn, 24

Zehentreiter 2013, S. 71; vgl. Adorno, GS 14, S. 25.

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Arbeit am Material als problematischer Umgang mit Unverfügbarem

der gegen jene machenden Intentionen steht, sofern sie einfach über das Material verfügen wollen. Der Eigensinn wird daran erkennbar, daß das Werk einen Sinn oder, wie Adorno gern sagt, einen »Gehalt« hat, der offensichtliche Intentionen untergräbt. Soll das Werk etwa pure Struktur sein, werden sich aufgrund des Eigensinnes des Klanges und seiner Wahrnehmung im Hören Strukturen, Kraftlinien und auch Ausdrucksgestalten zeigen, die über jene strukturelle Intention hinausgehen; soll das Werk durch Topoi und Ausdrucksgesten etwas erzählen oder darstellen, läßt das Material, insofern man es ernst nimmt, seine Geschichtlichkeit und Gemachtheit erkennen, aufgrund derer es zwar jene symbolhafte Darstellung möglich macht, aber zugleich zur Rückfrage nach dem Sinn des Gebrauchs zur Darstellung nötigt: zu in verschiedenen Hinsichten kritischen Rückfragen, die von in engerem Sinne kunstkritischen bis hin zu ideologiekritischen Überlegungen reichen. 25 Dies betrifft – darauf sei nur kurz eingegangen – ein verdinglichendes Verhalten auf der Seite der Produktion von Musik. Dabei ist nicht nur von der absichtlich mit Floskeln und Effekten arbeitenden Hitproduktion zu reden, sondern auch von ihrem scheinbaren Gegenteil, nämlich von dem Versuch, Effekt- und Floskelfreiheit durch konstruierende Determination zu erreichen. Adorno spricht zwar davon, daß die intensive Kenntnis technischer, konstruierender Verfahren eine Bedingung für das Gelingen musikalischen Denkens sei: »Der Stand der Technik präsentert sich in jedem Takt, den er zu denken wagt, als Problem: mit jedem Takt verlangt die Technik als ganze von ihm, daß er ihr gerecht werde und die allein richtige Antwort gebe […]. Nichts als solche Antworten, nichts als Auflösung technischer Vexierbilder sind die Kompositionen« (Adorno, GS 12, S. 42).

Nahe an dieser Bedingung setzt Hindrichs den Schwerpunkt seiner Ontologie des musikalischen Kunstwerks. Zugleich hält Adorno daran fest, daß die Lösung des durch den Stand der Technik gegebenen Problems nicht selbst technischer Art ist, da das Feld der technischen Probleme aus etwas Grundlegenderem herkommt, nämlich aus der Unverfügbarkeit herkömmlicher technischer Lösungen für Fragen des musikalischen Sinnes und des musikalischen Denkens. »Herkömmlich« wird dabei alles, was überhaupt 25

Vgl. Adorno 1970, S. 226–228, und hier die kurze Überlegung in Kap. m.

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Material, Gedanke und Werk

einmal als Lösung erschienen ist; das Beispiel von Schönbergs ›expressionistischen‹ Impulsen und Bergs Fortführung dieser Impulse in die Form der großen Oper mag diese Unverfügbarkeit illustrieren. Technische Lösungen, die auf der Entwicklung anwendbarer Verfahren der Komposition beruhen, gelten für Adorno vor diesem Hintergrund als Ausdruck einer verdinglichenden Art musikalischen Denkens, die gegen die möglichen Sinnbeziehungen zwischen musikalischen Elementen sowie zwischen ihnen und dem Subjekt, das an ihnen arbeitet, gleichgültig bleibt. Allein auf diese Weise Kunst schaffen zu wollen, verfalle dem »Äußerlichen und Mechanischen«, und »[k]lappernde Wahnsysteme sind bereit, jeden zu verschlingen, der arglos etwa die selbstgemachte Sprache als bestätigte sich vorgeben wollte.« (GS 12, S. 101) Dieses Komponieren übersieht, daß es an etwas arbeiten muß, das geistfähiges und darum nicht rein technisch verfügbares Material ist. Ich hatte gesagt, daß Hindrichs den Schwerpunkt seiner Musikontologie auf das systematische Machen legt. Es ist nur gerecht, darauf hinzuweisen, daß ein Moment der Unverfügbarkeit auch in seinem Werk wichtig ist, und es lohnt, zu sehen, wie er mit ihm umgeht. 26 So wie oben im Entwurf des Begriffs hermeneutischer Gestaltung das verbindlich Unergründliche des lebendigen Subjekts die Quelle war, aus der sich der Sinn solcher Gestaltungen speist, behauptet auch Hindrichs ein »Sinnlose[s] im Zentrum des Sinnvollen«, etwas, das all seine Deutungen nährt und doch fortwährend übersteigt. »Sinnlos« mag man als negativ formulierte Kehrseite eines Begriffs des offenen Sinnes lesen, denn absolut sinnlos kann es nicht sein, da es deutbar ist und der Deutung gegenüber normative Kraft hat. Im Falle des musikalischen Kunstwerkes hindert es dessen Sinn- und Funktionszusammenhang daran, kontingent in der Luft zu hängen, und gibt ihm ästhetische Notwendigkeit und Autonomie. Diese Rolle hat der Begriff des Gedankens inne; da er aber kein propositionaler Gedanke sein kann, sondern in das Werk, das er formt, und damit in dessen sinnliche Erscheinung gebunden ist, qualifiziert ihn Hindrichs zu jenem »Sinnlosen«. Als Gedanke aber bezieht er sich darauf, daß etwas ist. Dieses »ist« kann er nicht weiter propositional bestimmen. Er lautet darum: »Es ist der Fall«. So spricht man ontologisch. Der Hintergedanke der ontologiDie Diskussion der folgenden vier Absätze bezieht sich auf Hindrichs 2014, S. 225– 227 und 255–264.

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Arbeit am Material als problematischer Umgang mit Unverfügbarem

schen Rede ist: Musik spricht nichts aus; darum ist sie nur, ohne zu bedeuten, denn dies wäre ein Grund ihrer Heteronomie und Kontingenz. In diesem »ist« steckt die Unergründlichkeit und Unverfügbarkeit. Verschiedene seiner Aspekte zeigen sich »in der Geschichte seiner Interpretation« oder Repräsentation; aber der unergründliche Seinskern des wahrhaften Kunstwerkes bleibt ihnen gegenüber »immer ein Anderes«. Die Analogie, mit der Hindrichs ein solches gegen alle propositionale Auslegung anderes »ist« erläutert, liegt in metaphysischen und mystischen jüdischen Traditionen der Betrachtung des Gottesnamens, der jenes selbst Sinnlose im Zentrum allen uns zugänglichen Sinnes ist. Charakteristisch für das ontologische Sprechen ist es, daß es innehält und beharrt, sobald es auf das »ist« trifft. Hier liegt der Unterschied zu dem Umgang mit der Unergründlichkeit gerade im Verhältnis zur Musik, den ich vorschlage. Für diesen Umgang ist vom »ist« aus weiterzufragen: danach, wer oder was die Unergründlichkeit – und zwar im verbindlichen Sinn – in ein Seiendes hineingebracht hat; anders gesagt: was und wer das »ist« das sein läßt, das die Ontologie analysiert. Die Antwort darauf ist, daß das Sein mancher Gegenstände in ihrem Sinn liegt und darum in ihrem Bezug auf Subjekte, für die sie Sinn haben können. Der ontologische Weg scheint umgekehrt zu sein. So scheut Hindrichs zugunsten theologischer Analogien davor zurück, noch einmal ausdrücklich auf den lange vorher gebrauchten Subjektbegriff zurückzukommen. Stattdessen schreibt er, der Grund der Unergründlichkeit des Kunstwerkes liege im Material. Dieses ist an dem Ort, den ich nun kurz diskutiert habe, zu einer »Schicht« innerhalb des Werkes geworden, und jede Bemerkung über seine geistige, subjektive und intersubjektive Konstitution ist fortgefallen. Die Subjekte erschöpfen ihre Bedeutung für die Ontologie, wenn sie etwas gemacht haben, das nun »ist« und aus seinem Sein heraus das Weiterdeuten auffordert, aber nicht aus der Quelle seines Seins heraus. Rückbezogen auf den Begriff des Gedankens heißt das, daß der Gedanke in seiner nichtpropositionalen und doch nicht-leeren Weise da ist, ohne daß es für die Theorie über ihn darauf ankäme, daß jemand ihn dächte.

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r.9. Aneignung Wir haben vor dieser Bemerkung zu Hindrichs die rezeptive und die produktive Seite verfehlter Umgänge mit Musik in Augenschein genommen. Sie bilden die Grenze gelingender Umgänge. Adorno beschreibt die letzteren mit Vorliebe in paradox scheinenden, dialektischen Sätzen wie dem folgenden, mit dem er an die Beschreibung der Komposition als »Auflösung technischer Vexierbilder« anknüpft: »Aber zu solchem Gehorsam [gegenüber den Forderungen der Technik] bedarf der Komponist allen Ungehorsams, aller Selbständigkeit und Spontaneität.« (Adorno, GS 12, S. 42) 27 Dieser Ungehorsam ist wiederum – nicht ein Gehorsam, aber – ein Horchen auf dasjenige, was der Technik gegenüber selbstständig ist. Damit sind die Momente der Unergründlichkeit angesprochen. Im Gefolge Adornos meint man mit ihnen häufig Unbewußtes und Unwillkürliches, Leibliches und damit das Nicht-Geistige des doch im Medium des Geistes bewegten Lebens, das »dem rational konstruierenden kompositorischen Subjekt in die Parade [fährt] und erst auf diese Weise etwas unabsehbar Neues möglich mach[t].« Man kann anschließend sagen, daß jene lebendigen, unergründlichen und nicht durch und durch beherrschbaren und durchschaubaren Sinnmomente in dem Maße wichtiger werden, in dem auch die Fähigkeiten der Kontrolle und die Macht der Berechnung zunehmen, vor allem durch Technologien, die das Musikmachen zunehmend auf mechanischem und elektronischem Wege ermöglichen. (Vgl. Wellmer 2012, S. 222 f.) Zehentreiter weist darauf hin, daß es angemessen ist, das Problem des reflexiven Umgangs mit Musik aus der bei Adorno oft betonten Bindung an den Stand der Kompositionstechnik herauszulösen. Es sei nicht nur ein Problem des avancierten Kunstschaffens, auch wenn es sich dort besonders scharf abzeichnet, sondern ein grundlegendes Problem des Sinnes der Musik und der musikalischen Erfahrung. Nach einer unverdinglichten, ›authentischen‹ Erfahrung sei dann auch in den Bereichen zu suchen, die gegen die sich im Medium ihrer autonomen Tonsysteme entwickelnden musikalischen

Für weitere Ausführungen zu dieser Dialektik sei beispielhaft verwiesen auf Adorno 1970, S. 298–300 (in Begriffen der herkömmlichen, gattungsmäßigen, allgemeinen »Form« und ihres Zusammenhangs mit der Besonderheit des Kunstwerks) und, unter dem Gesichtspunkt des Stilbegriffs, S. 305–308.

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Aneignung

Kunstwerke als heteronom, Industrieprodukt oder Massenkultur erscheinen. Man solle dort beispielsweise unterscheiden »zwischen deformierter und gelungener Unterhaltung, allgemein: zwischen deformierter und artikulierter Kommunikation, wobei das Kriterium für Artikuliertheit nicht zusammenfällt mit künstlerischer Artifizialität« (Zehentreiter 2013, S. 72).

Der Begriff der Kommunikation hebt die Differenz zu einem Schema signalhafter Reize und der Reaktion auf sie hervor. Wenig später nennt Zehentreiter unter Berufung auf einen Versuch Adornos, analytisch an Beispielen einen guten von einem schlechten Schlager zu unterscheiden (vgl. Adorno 2006, S. 479–488), ein »Kriterium für Artikuliertheit«, indem er die Qualität der gelungenen Unterhaltungsmusik darin sieht, ein »[I]diom durch Nuancierung zu individuieren« (Zehentreiter 2013, S. 73). Artikulation und Nuancierung kommen nicht allein dadurch zustande, daß man die Eigenschaften der Klänge möglichst kleinteilig ausgestaltet. Sie sind vielmehr die Artikulation und die Nuancierung einer Kommunikation und eines Zu-Verstehen-Gebens – von Sinn-, Erfahrungs- und Lebensbezügen also, die durch die Artikulation nicht nur bestärkt und fortgesetzt, sondern ebensosehr kritisch befragt werden (vgl. Wellmer 2011, S. 10 f.). Es handelt sich nicht um die Nuancierung eines Materials, wenn man dieses denn abstrakt nähme, sondern um die Nuancierung des Umganges mit ihm. Darum ist auf der jetzigen Ebene der Reflexion die gelungene, authentische, dem Mitzuteilenden gerecht werdende Kommunikation weniger dort zu finden, wo man sucht, quasi unmittelbar und »affektiv […] die emotional sprechende Gebärde« in Anspruch zu nehmen, denn diese Gebärde und der Anspruch auf sie ist dort, wo man es mit geistig forderndem Material zu tun hat, nicht (mehr) verfügbar. Die Nuancierung der Mitteilung geschieht eher »durchs suchende Handeln, über den Aspekt, der sich niederschlägt im umformenden Umgang mit dem ästhetischen Apparat und dem darin vermittelten Materialbegriff« (Lachenmann 1996, S. 68). Diese Suche betrifft nicht nur die Eigenschaften von Klängen, sondern die Potentiale, durch sie etwas zu verstehen zu geben. Diese sind in der Überkreuzung ästhesiologischer und kultureller Momente begründet. Darum ist die Artikuliertheit der Musik nicht von einer Trennung in E und U abhängig, sondern kann – oder müßte – die Produktionen der Hochkultur und ihre Sinnbezüge nuancierend umformen und aufbrechen, indem sie auf 407 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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artikulierte Ausarbeitungen der sonst als populär bezeichneten Musik zurückgreift (vgl. Wellmer 2011, S. 21–23). Mit diesen Hinweisen kommen wir der Möglichkeit näher, den Fluchtpunkt möglicher Lösungen für das oben benannte Dilemma des Umgangs mit musikalischem Material zu benennen, dessen beide Seiten das Verwerfen des Verfallenen im Material durch eine Konstruktion, die jene Sinngehalte ignoriert, und der klischeehafter Gebrauch abgelagerter Sinngehalte waren. Verdinglicht erscheint dort der Klang in seiner schematischen Form, hier der symbolische und ausdruckshafte, verfügbar scheinende Sinngehalt. Der Weg aus diesem Dilemma sollte ein Denken, eine Arbeit, ein geistiges Tun am Material sein, das dessen geistigen Forderungen gerecht wird. Dieses Tun kann Aneignung heißen; und diese Benennung verdeutlicht das oben erwähnte Zögern, das Machen, das sich einerseits im Material abgelagert hat und andererseits an diesem weitermacht, allzu wörtlich zu nehmen. Aneignendes Tun hat den Charakter hermeneutischen Gestaltens, und dieses steht unter der Bedingung, wie am Beispiel der metaphorischen Leistung der Sprache zu bemerken war, daß sich ihm etwas als Möglichkeit der Gestaltung und Anknüpfung zeigt. Dieses Sich-Zeigen, ohne das Aneignung nicht gelingen kann, ist das unverfügbare Moment. Wenn die geistigen Akte des Unterscheidens, Ordnens und Verknüpfens von Momenten an einem Material unter der Idee seiner Aneignung stehen, und wenn dieses Material geistig und also sinnhaltig ist, dann gilt für jene Akte die Dialektik, die Adorno angesprochen hat, indem er sagte, daß der »Gehorsam« – die Angemessenheit des geistigen Tuns an die Forderungen des Materials – des »Ungehorsams« und der »Selbständigkeit« bedürfe (Adorno, GS 12, S. 42). Diese Dialektik gilt, weil Subjekt und Objekt in ihrem Verhältnis Quellen zusammen- und entgegenwirkender Normen sind. Wenn das Objekt nicht träges Baumaterial, sondern Element eines Mediums geistiger Gestaltung ist, so kann es nicht ganz der Herrschaft eines Subjekts unterliegen, sondern es stellt Forderungen. Ebensowenig kann sich das Subjekt vorgefundenen, für objektiv gehaltenen Normen unterwerfen und einfach weitermachen, wenn es die Forderung oder das Bedürfnis in sich trägt, das, was es tut, sich im starken Sinne anzueignen. Die Forderungen auf beiden Seiten entsprechen dem Verhältnis zwischen dem Unergründlichen im besonderen Subjekt, das seine Deutung verbindlich macht, und dem Unergründlichen der Sphäre hermeneutischer Gestaltungen, an die mit solchen Deutungen 408 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Aneignung

angeknüpft wird und die ihre Aneignung durch ein besonderes Subjekt verbindlich macht (vgl. q.2.). Kurz gesagt, sind die beiderseitigen Forderungen diejenigen nach deutender Gestaltung. Sie prägen den Sinngehalt, der gestaltet werden soll, und die Techniken und Materialien, in denen die Gestaltung stattfindet. Sowohl Sinngehalte als auch Gestaltungsmedien und -techniken sind darum Gegenstände der Aneignung. Im Rahmen dieser Dialektik kann das Subjekt die geistigen Akte, die unter die Idee der Aneignung fallen, nicht unbedingt und frei konstruieren und kontrollieren. Die gelingende Aneignung ist bedingt: sowohl auf der Seite dessen, was angeeignet wird, als auch auf der Seite des Aneignenden. Sie steht unter der Maßgabe, die Gegenstände und Sinngehalte zu durchdringen, anstatt sie kopierend zu wiederholen, auch wenn die Wiederholung ein hilfreicher Schritt zur Aneignung sein kann. Und sie steht unter der Maßgabe, daß das Subjekt in diesem Durchdringen früher oder später versteht, weiß oder erfährt, daß es damit sich selbst durchdrungen hat. Es hat durch seinen Nachvollzug – seine Mimesis, um ein bevorzugtes Wort Adornos aufzugreifen – sich etwas angeeignet und sich darin gefunden; es hat den Sinn des Angeeigneten mit dem möglichen Sinn seines eigenen ›Wie-es-ist-zu-sein‹, ›Wie-es-ist-sich-zu-verhalten‹ und, da das menschliche Verhalten ein geistiges, sich selbst notwendig deutendes und reflektierendes Verhalten ist, ›Wie-es-ist-zu-denken‹ in einer Deutung verknüpft – in einer Deutung jedoch, die, weil sie aus offenen Formen des Sinnes hervorgeht, endgültiger Fixierung entzogen ist und stets weitere Deutung fordert, wenn man sich wieder auf sie beziehen möchte. Hier zeigt sich die besondere Leistung des Ausdrucksbegriffs erneut. In der Kommentierung von Plessners Arbeit an diesem Begriff hatte ich versucht, zu zeigen, inwiefern Ausdrucksverhalten und Musik eine gemeinsame, interagierende Schicht des Verhaltens (und des Verstehens von Verhalten) zur Bedingung der Möglichkeit ihres jeweiligen Verstehens haben. Nun ergibt sich, daß die Aspekte der Repräsentation der Musik, die jene Schicht unmittelbaren Nachvollzugs als eines ihrer Ausgangsmomente haben, zu einem gelungenen Verstehen von Musik als besondere zusammentreten, wenn sie gemeinsam den Ausdruck als Form der Musik erfassen: als diejenige Form, die die Musik kraft einer Leistung bzw. eines Geschehens der Aneignung gewonnen hat. Diese Leistung stand oben unter dem Titel des musikalischen 409 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

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Gedankens. Wir sehen nun nach der Untersuchung von Adornos Überlegungen zum Ausdruck die spezifische Äußerungsform, die der musikalische Gedanke im günstigsten Fall gewinnt. Man kann ihn sich nicht als einfach niedergeschrieben denken. Vielmehr finden wir den musikalischen Gedanken im Werk ausgedrückt. Weil er an einem Material gearbeitet hat, das geistesgeschichtlich und ästhesiologisch bedingt ist, muß der Gedanke sich so ausdrücken, daß er auf alle Schichten der Subjektivität Bezug und Rücksicht nimmt. Die reflexive Leistung des musikalischen Gedankens zielt damit auf das Technisch-Konstruktive, das schematisch verfaßt und darum begrifflich explizierbar ist, wie auch auf das Vorreflexive, Thematische, dessen offener Sinn immer nur vorläufig geschlossen und expliziert werden kann. Das unkontrollierbare Ganze der einzelnen Entscheidungen, die er in diesen Prozessen der Reflexion fällt, bildet die Gestalt seines Ausdrucks. Das Offene und Unergründliche ist ein wesentlicher Zug menschlicher Subjektivität und Intersubjektivität. In Adornos Problemstellung wird dieser Zug mit Hilfe besonders eklatanter Manifestationen beleuchtet, deren Betonung man für überholt oder hyperbolisch halten mag. In den Beispielen zum Spätstil Beethovens und zu Schönbergs Expressionismus war diese Betonung deutlich. Sie kam dadurch zustande, daß Adorno die Schwierigkeiten der Aneignung und des Ausdrucks durch ein psychoanalytisches und oft betont pathologisches Vokabular hervorhebt. »Triebkonflikte«, »traumatische Schocks« und »reale[s]«, »unverklärte[s] Leid« (so z. B. in GS 12, S. 44 und 47) sind die nur in Grenzen verständlichen und nur in Grenzen ausdrückbaren, darum musterhaft unverfügbaren Momente im Subjekt an den Grenzen des Geistes. Das Problem der Aneignung wird in diesen extremen Fällen besonders spürbar. Es ist aber nicht von ihnen abhängig, sondern es ist ein Problem, das sich aufgrund der Struktur der Subjektivität überall dort stellt, wo ein Subjekt es mit offenem Sinn zu tun hat – überall dort also, wo es gilt, eine geistig konstituierte Umwelt zu verstehen und sich zu ihr zu verhalten. Dieses Überall ist der Horizont, in dem das Verstehen des spezifisch musikalischen Sinnes steht, mit dem dieses Buch begonnen hat. Die Forderung, musikalischen Sinn als einen auf spezifische und autonome Weise gestalteten Sinn zu begreifen, hat sich bis zum Schluß behauptet. Aber es wurde sichtbar, daß diese Forderung nicht aus eigener Kraft innerhalb des Systems Musik eingelöst werden kann. Dieser Versuch macht sie zu einem abstrakten Spiel, einer Bastelei 410 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Aneignung

oder verfällt der Technokratie. Um diese Forderung einzulösen, muß man das bedenken, was jenes autonome System trägt, und dies ist am Ende das Leben im Medium des Geistes, das die Klänge und die Gedanken, die sich in Klängen ausgedrückt haben, ansprechen. In seinem Horizont gewinnen die spezifischen Teilsinne, die die Systeme des Ausdrucks und des Verhaltens in sich zusammenhalten, jenen Sinn, der sie wiederum mit dem Menschen zusammenhält.

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Danksagung

Dieses Buch ist die sanft gekürzte Fassung der Dissertation, die ich im wesentlichen in den Jahren 2012–2014 verfaßt, im Januar 2015 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig eingereicht und am 30. Juni 2015 verteidigt habe. Ich möchte an dieser Stelle denjenigen Menschen danken, die besonders dazu beigetragen haben, daß diese Arbeit entstehen konnte. Andrea Kern hat mich als Doktorand aufgenommen, obwohl sie mich damals kaum kannte, und zielführend daran mitgewirkt, Förderung zu gewinnen und die Arbeit mit nicht allzugroßen Verzögerungen abzuschließen. Matthias Vogel hat sich sowohl zu Beginn dieses Promotionsprojekts wie auch zu seinem Abschluß als ermutigender Gutachter für es eingesetzt. Richard Scheringer hat gemeinsam mit mir über viele Monate hinweg Texte Helmuth Plessners gelesen und intensiv besprochen. Ohne seine Beharrlichkeit wäre es mir vermutlich nicht gelungen, hinreichend geduldig ein so sperriges Werk wie Die Einheit der Sinne zu studieren. Claus-Steffen Mahnkopf hat mich als Gast im Seminar seiner Kompositionsklasse aufgenommen und mir so zahlreiche Einblicke in das Werden der allerneuesten Musik und in das Nachdenken über sie von Seiten der Künstler selbst ermöglicht. Die Seminare, Oberseminare und Kolloquien Frauke Kurbachers, Pirmin Stekeler-Weithofers und des zu früh verstorbenen Klaus-Christian Köhnke waren Orte, an denen ich in aller Freiheit sehr viel für das philosophische Denken und das geisteswissenschaftliche Arbeiten lernen durfte. Meinen Eltern danke ich dafür, daß sie 2009 / 2010 die Anfangsphase dieses Projektes möglich gemacht haben. Die Universität Leipzig hat das Projekt von 2010 bis 2013 mit einem Doktorandenförderplatz unterstützt. Volker Schürmann danke ich für die freundliche Aufnahme als 413 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Danksagung

Mitarbeiter an der Deutschen Sporthochschule Köln und für die Freiräume, die er mir ließ, um mich auf den Abschluß der Promotionsphase vorzubereiten und die Druckfassung der Dissertation herzustellen. Die Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn-Bartholdy« in Leipzig und auch die Universitätsbibliothek Leipzig haben immer wieder meine Wünsche erfüllt, Neuerscheinungen zur Philosophie der Musik zu beschaffen, und mir so die Arbeit sehr erleichtert. Ich danke Lu und unserem Sohn Wolf, daß sie den manchmal zähen Fortgang der Arbeit mit Geduld verfolgt haben – und Wolf auch dafür, daß er es mir möglich machte, nicht wenige Seiten der hier verarbeiteten Literatur in Ruhe auf Spielplatzbänken durchzuarbeiten. Unserer Tochter Theodora gebührt Dank dafür, daß sie in ihren ersten zwei Lebensmonaten im Herbst und Winter 2014 so friedlich war, daß ich in dieser Zeit mit Leichtigkeit die einzureichende Fassung dieser Arbeit fertigstellen konnte. Köln, den 31. Mai 2017

Th. D.

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 14, 24–25, 30, 74, 107, 197, 270, 282, 287, 289, 310, 353, 366–367, 373–374, 379, 385–388, 396–404, 406–408, 410 Agawu, Kofi 75, 274, 291–292 Allen, W. Sidney 141 Anagnostopoulou, Christina 293–294 Angehrn, Emil 323, 357, 359 Ansermet, Ernest 81 Aristoxenos 140 Babbitt, Milton 98 Bach, C. Ph. E. 198 Barthelmes, Barbara 372 Beck, Hermann 264 Becker, Alexander 19–20, 324, 337– 347, 349–350, 353 Beethoven, Ludwig van 102, 107, 112–114, 116, 200, 205, 285–286, 288, 397, 410 Behne, Klaus-Ernst 344 Bent, Ian D. 273 Berg, Alban 286, 374, 396, 399, 404 Besseler, Heinrich 253 Bicknell, Jeanette 77 Bittner, Rüdiger 66–67 Blaukopf, Kurt 62 Blume, Friedrich 81 Böhme, Gernot 279–280 Bolzano, Bernard 62 Boulez, Pierre 98, 107–110, 113–114, 117–118, 386 Bourdieu, Pierre 196 Bradter, Cornelius 84, 87–89 Brahms, Johannes 105, 107, 286 Braun, Werner 285

Bruckner, Anton 151, 190, 247, 286 Budd, Malcolm 67, 73–74, 294, 336 Bühler, Karl 227 Cadenbach, Rainer 81, 140, 226 Cambouropoulos, Emilios 293–294 Chopin, Frédéric 151 Coenen, Hans-Georg 304, 331 Couperin, François 151 Dahlhaus, Carl 37, 51–52, 55, 57–58, 80, 82, 88–89, 92, 95, 100–101, 145–147, 155, 227–228, 264–265, 296, 311, 314, 317–318 Danuser, Hermann 367 Davies, David 17 Davies, Stephen 42, 127, 190–191, 200–207, 211, 228–229, 306–308, 325 Davis, Miles 133, 205 Dickie, George 305 Eggs, Ekkehard 304 Ehlotzky, Fritz 250 Feldman, Morton 133 Floros, Constantin 264, 285–287 Forchert, Arno 285 Forte, Allen 17, 273 Frisch, Max 202 Fuss, Hans-Ulrich 296, 299, 311 Gärtner, Markus 62 Georgiades, Thrasybulos 141, 144 Gerhard, Anselm 197 Grisey, Gérard 149

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Personenregister Gruhn, Wilfried 41, 321 Grüny, Christian 21, 47–50, 265, 267, 299–300, 315 Gumbrecht, Hans-Ulrich 279 Hamilton, Andy 17, 124–126 Hanslick, Eduard 14, 24–25, 27, 61– 62, 64, 75, 78, 96, 106, 203, 373 Hartmann, Nicolai 224 Haselböck, Lukas 151 Hatten, Robert 75, 268–269, 274, 291, 331, 370 Hausegger, Friedrich 197 Haydn, Joseph 74 Hegel, G. W. F. 14, 24, 26, 62, 195, 217, 380 Heidegger, Martin 221 Herder, Johann Gottfried 147, 152– 153, 156 Herrmann-Sinai, Susanne 43, 46, 137, 139 Hindemith, Paul 58, 81 Hindrichs, Gunnar 21, 24–25, 50–51, 81, 344, 346, 366–367, 373, 375– 376, 379, 383–384, 388–389, 391– 395, 403–406 Hoffmann, E. T. A. 264–265 Holliger, Heinz 150 Holzer, Andreas 374 Hönigswald, Richard 140, 144 Husserl, Edmund 315 Jacob, Andreas 106, 377 Jiránek, Jaroslav 274 Johnson, Mark 331–332, 369 Josquin Desprez 194 Kaden, Christian 271, 275, 339, 343 Kaltenecker, Martin 310–311 Kania, Andrew 17 Kant, Immanuel 14, 137 Kerman, Joseph 311, 320 Kiefer, Sebastian 133 Kivy, Peter 14, 37, 65–66, 68–78, 131, 161, 185, 188–195, 228, 294, 325, 336

Klein, Tobias Robert 93 Kolisch, Rudolf 374 Kramer, Lawrence 310 Kreis, Guido 344 Kretzschmar, Hermann 285 Kühn, Clemens 296 Kurz, Gerhard 304 Lachenmann, Helmut 150, 407 Lakoff, George 331–332, 369 Lasso, Orlando di 103, 194 Lerdahl, Fred 81–84, 86, 371 Levinson, Jerrold 67, 70, 127, 132, 198, 201, 206–213, 334, 339 Liddle, Jamie 370 Lippe, Klaus 379, 390 Loenhoff, Jens 220, 226 Luckner, Andreas 51, 53–55, 138, 239–240, 291 Luhmann, Niklas 351–356, 387, 389– 390 Madell, Geoffrey 81 Mahler, Gustav 71, 151, 205, 247, 287 Mahnkopf, Claus-Steffen 49, 58, 113–116, 118 Mahrenholz, Simone 271–272, 332 Matravers, Derek 17, 67, 198 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 213 Messiaen, Olivier 190 Meyer, Leonard 85 Misch, Georg 357–359, 361–363 Mittmann, Jörg-Peter 246 Monelle, Raymond 292–294 Morgan, Robert P. 318–319 Mozart, W. A. 74, 204 Murail, Tristan 149 Nattiez, Jean-Jacques 292 Neuwirth, Gösta 133 Newcomb, Anthony 71 Nietzsche, Friedrich 141, 154–155 Nussbaum, Charles O. 45, 321, 324– 331, 333–337, 339, 350, 364, 369

430 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Personenregister Ockeghem 131 Oerter, Rolf 87 O’Callaghan, Casey 43 Pfaff, Peter 66–67 Plessner, Helmuth 14, 27, 29, 126, 144, 159–175, 177–179, 186, 213, 215, 217, 219–225, 227, 230–234, 236, 238–241, 243, 245, 247–248, 250–251, 253–254, 259–260, 262, 270, 280, 325, 328, 335, 356–357, 385, 391, 409 Pople, Anthony 273 Predelli, Stefano 128 Primavesi, Patrick 147 Pryer, Anthony 62, 134 R.E.M. 187 Raffman, Diana 58, 82, 84–86, 89–90, 371 Rameau 151 Redmann, Bernd 98–99, 300–301, 303, 311 Reich, Steve 54 Reineke, Christian 106 Reti, Rudolph 98–99, 102, 107, 295– 296, 298, 314, 318 Ricœur, Paul 304–305, 361–362 Ridley, Aaron 62 Riemann, Hugo 74, 98, 100–101, 105–106, 111, 145 Rinderle, Peter 199, 201, 208 Robinson, Jenefer 69–71, 78, 180– 190, 195, 199, 208 Salzer, Felix 102–105, 111, 310 Samuels, Robert 93 Santini, Carlotta 141 Scarlatti, Domenico 151 Scheler, Max 217–219, 229, 329 Schelling, F. W. J. 141–143, 145, 152 Schenker, Heinrich 89, 98, 101–105, 111, 273, 299, 310, 314, 320 Schering, Arnold 285–286, 288 Schlenstedt, Dieter 260 Schmarsow, August 250

Schmelzer, Björn 131 Schmitz, Hermann 279 Schönberg, Arnold 14, 18, 98–99, 101, 104–109, 111–113, 116, 118, 197–198, 298, 374, 377–378, 386, 390, 396, 398–399, 404, 410 Schubert, Franz 151 Schumann, Robert 264–265 Schürmann, Volker 357 Scruton, Roger 46, 58, 62, 123–124, 126–127, 197, 199, 236, 263, 340 Seel, Martin 279, 332 Seidel, Wilhelm 140–143, 145, 147– 148, 151–152, 154–155, 158 Sève, Bernard 129–131, 134, 136, 139, 148 Sibley, Frank 65 Sichardt, Martina 316 Spahlinger, Mathias 382–384 Spitzer, Michael 75, 332, 369 Stekeler-Weithofer, Pirmin 321 Stephan, Rudolf 106 Stockhausen, Karlheinz 98 Stoffer, Thomas H. 87 Stollberg, Arne 153 Stolzenberg, Jürgen 198, 230 Straus, Erwin 165, 234 Strauss, Richard 334 Stumpf, Carl 163, 169 Tegtmeyer, Henning 278 Thomalla, Hans 148 Thorau, Christian 88 Tormey, Alan 178 Trivedi, Saam 306, 341 Vivaldi, Antonio 35 Vogel, Matthias 19–20, 324, 337–346, 348–350, 352–353 Wagner, Richard 22, 113–114, 131, 151, 153–156 Webern, Anton 194, 286, 374 Wellek, Albert 82, 85, 176 Wellmer, Albrecht 19–21, 58–59, 265, 281, 406–408

431 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .

Personenregister Werber, Niels 260 Wittgenstein, Ludwig 248

Zangwill, Nick 37, 61, 201 Zbikowski, Lawrence M. 369 Zehentreiter, Ferdinand 401–402, 406–407

432 https://doi.org/10.5771/9783495813386 .