Musica Panhumana: Sinn und Gestaltung in der Musik. Entwurf einer intentionalen Musikästhetik [Reprint 2018 ed.] 9783110841718, 9783110029420


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German Pages 377 [380] Year 1958

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Table of contents :
VORWORT
INHALT
Einleitung
I. Klangdimension
II. Noesis
III. Humanitas
IV. Ursprung
V. Ordnung
VI. Ganzheit
VII. Cusanischer Kreis
VIII. Läuterung
Verzeichnis der Abkürzungen für häufig genannte Werke
Anmerkungen
Namenregister
Sachregister
Notenanhang
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Musica Panhumana: Sinn und Gestaltung in der Musik. Entwurf einer intentionalen Musikästhetik [Reprint 2018 ed.]
 9783110841718, 9783110029420

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MUSICA

PANHUMANA

MUSICA PANHUMANA S I N N U N D G E S T A L T U N G IN D E R M U S I K

Entwurf einer intentionalen Musikästhetik von

LEOPOLD

CONRAD

W A L T E R DE G R U Y T E R & C O . vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuch= handlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. BERLIN

1958

© Copyright 1958 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35. - Alle Rechte, einschließe lieh der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vom Verlag vorbehalten. - Archiv=Nr. 133758. - Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlins Neukölln. - Printed in Germany.

VORWORT Im Jahre 1950, genau in der Mitte dieses kulturell nicht mehr durchlebten, einer antihumanen Automatisierung und Normierung zustrebenden Jahrhun= derts, hatte der Verfasser zum ersten Male Gelegenheit, öffentlich über die Grundzüge einer intentionalen, panhumanen Musikästhetik zu berichten1. Es war dies der Versuch einer Neuorientierung unseres Musikverstehens und Musikdenkens, eine Anregung, von den in unserer Musik allzu breit im Vor= dergrund stehenden technischen Erwägungen loszukommen und auf ein läu= terndes Schönheitsempfinden hinzulenken. Ein Versuch bleibt auch das vor= liegende Buch, schon deshalb, weil es abzuwarten gilt, ob die heutige Musik= weit gewillt ist, sich auf der humanen Verstehensebene der Musik einzufinden. Sie müßte bereit sein, bestimmte Kerngedanken mittelalterlicher Musikweisheit aufs neue zu vernehmen und diese für sich, freilich auf ihre Art, zu verwerten. Nichts Endgültiges will diese Zusammenfassung sein. Sie liefert lediglich die Methodik für ein neues ästhetisches Vorgehen, welches nach den vielfäl= tigen und oft gegensätzlichen Ansichten über Form und Wesen der Musik notwendig geworden ist. Es wird den Leser seltsam berühren, aus dem allge= meinen Geschichtsverlauf der Musik zu entnehmen, wie der Pendelschlag ästhetischer Grundhaltungen einst nach der Seite einer vorwiegend in der göttlichen Aufgabe ruhenden und von der Klangmaterie unabhängigen Kunst= auffassung ausschlug, in der nachmittelalterlichen Epoche die Gegenseite eines nach vielen Seiten sich anlehnenden und materieverbundenen Musikwollens erreichte und heute sich anschickt, von diesem Extrem sich wieder zu entfernen. Die unräumliche und unmaterielle Musikauffassung, für die das Verständ= nis fast verloren gegangen ist, wird hier nun aufs neue deutlich gemacht. Dabei wird sich immer wieder die Notwendigkeit zeigen, auf scheinbar am Rande liegende Dinge einzugehen. Denn in Wahrheit läßt sich das gestellte Thema, der musikalische Sinnausdrude und seine Gestaltung, nur gleichsam umkreisen, nur von phänomenologischen, philosophischen, mathematischen, biologischen und psychologischen Nachbarvorstellungen her beleuchten und so gleichsam mittels einer methodischen Umzingelung erreichen. Es wird daher manchen Leser überraschen, Fragen, die er bisher nie oder selten mit der Musik in Verbindung gebracht hatte, hier gründlich diskutiert zu finden. Nicht jeder ist sich dessen bewußt, daß teils mathematisch=physi= kaiische, teils experimentaUpsychologische Erkenntnisse das Feld der heutigen Musiktheorien beherrschen. Weil aber die Musikkenntnis an sich weder den Gesetzen der exakten Naturwissenschaften noch denen der kausalen Logik 1

Vortrag in der „Brücke", Hannover; Wiederholung 1 9 5 1 ebd.

6

VORWORT

untersteht, weil sie aber auch ebensowenig im Dämmer undurchsichtiger Ge= fühlsmeinungen schwebt, muß ein Denkergebnis angestrebt werden, welches über diese Gesetze und Meinungen hinausführt. Die rationalen und emotionalen Wege zu musikästhetischen Erklärungen reichen, obwohl sie für manche Ausdrucksformen zuständig sind, nicht aus. Auch das umfangreiche Buch Hans Mersmanns 2 hat, gerade wegen seiner vielen dankenswerten Aufschlüsse, letzten Endes die Grenze offenkundig gemacht, an die das beflissene Aufsuchen exakter Unterscheidungsmittel bezüglich Klangform und Klanggehalt heranführt. Ältere Theoretiker geben uns ergänzende, will= kommene Möglichkeiten des Eindringens in weitere musikalische Zusammen= hänge an die Hand, die hier ans Licht gehoben werden und deren unvermutete Übereinstimmung mit einigen, modernen Forschungsergebnissen überrascht. Die Grundhaltung der intentionalen Musikästhetik ist, wie das Wort sagt, eine zielende, unstarre,übergegensätzliche, sie ist eine „fühlende Stellungnahme" (Ernst v. Aster), Überschau über musikalisch=geistige Zusammenhänge weitester Art, ohne Einseitigkeit, ohne Bevorzugung rationaler Überlegung vor irratio= naler Empfindung noch umgekehrt, erwachsend aus der Berücksichtigung aller Ausdrucksweisen, die dem Menschen in bezug auf Musik zur Verfügung stehen. Ist diese Grundhaltung erst einmal gewonnen, so wird leicht deutlich werden, daß die Musik die seltsame Eignung besitzt, den Menschen in eine geistige Aufgeschlossenheit, ja in eine das Leben unmittelbar bereichernde Wachheit für Schönheitswerte hineinzuführen. Und zugleich wird offenbar werden, wie notwendig es sein wird, die Kenntnis uns fremder musikalischer Kulturen künftig sehr zu erweitern, um somit echten Musikwerten gerecht zu werden. Denn das Ineinanderspiel sämtlicher und seit je bestehender menschlicher Gaben, welche das Schöne wahrnehmen dürfen und schaffen helfen, bildet den Kern der übergegensätzlichen, intentionalen Musikauffassung. Die eingestreuten Musikbeispiele wollen nichts mehr als vorsichtige Hilfen zur Verlebendigung des Dargebotenen sein. Nur selten und nur unter be= stimmten Voraussetzungen ist es möglich, mit einem herausgetrennten Beispiel die Beziehungsvielfalt eines musikalischen Zusammenhanges zu veranschau= liehen. Wo getrennte Teile innerhalb einer Form vorliegen, wo eine klare Konstruktion ihre Bestand= und Wesensteile deutlich markiert, da lassen sich Beispiele leicht finden. Aber hier geht es darum, die ungetrennten und un= konstruktiven, die von der Klangmaterie unabhängigen, also auch nicht im Notenbild direkt ablesbaren Ereignisse begreiflich zu machen. Nicht ohne einige neue oder ungewohnte Wörter war diese Aufgabe zu bewältigen. Dennoch mögen Anregungen auch für das allgemeine heutige Musikleben, nicht allein für die Fachwelt, von ihm ausgehen. 2

Angewandte Musikästhetik. Berlin 1926.

INHALT Einleitung I. Klangdimension 1 . Auffassung 2. Empfindung 3. Erinnerung II. Noesis 1 . Erlebnis 2. Gesinnung 3. Phantasie

Seite

9 21 21 41 50 62 62 79 88

III. Humanitas 1 . Person und Individualität 2. Ethos und Entelechie

98 98 109

IV. Ursprung 1 . Harmonie 2. Melos 3. Stil

122 122 142 155

V. Ordnung 1 . Naturgesetz 2. Tonraum 3. Formlogik VI. Ganzheit x. Holoeidetik 2. Proportionalität VII. Cusanischer Kreis 1 . Ornamentaler Ausdruck 2. Semantischer Ausdruck 3. Diaphaner Ausdruck

169 169 181 193 207 207 229 249 249 263 287

VIII. Läuterung 1 . Übergegensatz 2. Wert 3. Innengültige Zeit

306 306 323 333

Verzeichnis der Abkürzungen für häufig genannte Werke

348

Anmerkungen

350

Namenregister

360

Sachregister

365

Notenanhang

369

,Zum

Genuß der Kunstwerke

Menschen

haben

eine unsägliche

alle

Neigung.' Goethe

.Die Schönheit

ist der Einklang

dem Zufälligen

und dem

zwischen Guten."

Simone Weil

EINLEITUNG Die nachmittelalterliche abendländische Musik hat sich mit zunehmender Ausschließlichkeit auf die Bahn des verstandesgelenkten, auf Form gestützten und in Verhältnissen denkenden ästhetischen Verstehens begeben. Nicht allein die motivische, mit musikalischen Keimgebilden arbeitende Bauweise der heute geläufigen Musikformen, auch die mit metrischen oder dynamischen Mitteln vorgehenden Kompositionsmethoden der verschiedensten Art, sie alle bleiben sich der Einzelvorgänge, die in ihnen stattfinden, durchaus bewußt und bedienen sich ihrer als formende Elemente. Die schaffenden Kräfte, die diese Musikwerke hervorbringen, wie auch die Verstehensbereitschaft, welche dem Hörer diese Musik erschließt, bewegen sich in den eingefahrenen Bahnen ästhetischer Normen. Ausgesprochen oder unausgesprochen sind sich Komponist und Hörer darin einig, daß innerhalb der Welt der Töne genau so wie in Bereichen an= derer zusammenpassender Dinge alles abgesteckt, aufgeteilt und ausgemessen werden müsse. Sie folgen gemeinsam bestimmten Ordnungsvorstellungen, welche, aus den Bezirken zweckrichtigen Denkens stammend, über die Musik ein Gitternetz normativer Maßstäbe und Begriffe ausbreiten. Die Musik, aus der Perspektive dieser zur Voraussetzung gemachten Nor= men gesehen, kann als normative Musik bezeichnet werden. Sie untersteht einer Gesamtheit von Formgeboten, sie erkennt konstruktive Richtmaße an. So läßt sich schließlich ihre Richtigkeit beweisen und überwachen. Ihr formaler und inhaltlicher Bestand ist auf ästhetische Elemente rückführbar. Der Kenner dringt in diese elementaren Musikvorgänge ein, benennt sie, ordnet sie, erblickt Varianten und Kontraste und vermag deren Zusammenfügungen logisch und kausal zu erkennen. Die Beweisbarkeit der ästhetischen Richtigkeit, die in den musikalischen Formen vorliegt, hat sich historisch gefestigt und ihre Überein» Stimmung mit den rationalen Ordnungsnormen durchgesetzt. Was bei der Herausbildung dieser ästhetischen Grundhaltung verlorenging, ist die im Mittelalter noch völlig heimisch gewesene musikalische Gestaltungs= und Verstehensweise, die weder aus der rationalen Betrachtung der Gegen» sätze und Ähnlichkeiten noch aus der Abgemessenheit normativer Strukturen ihre Gesetze herleitete. Diese Bewußtseinshaltung gründete sich nämlich auf einem nichtrationalen und von Maß und Zahl unabhängigen Kunstfundament, welches auch hinsichtlich der Musik als Wertträger anerkannt, in seiner Rea= lität empfunden und erlebt und durch Theorien gefestigt wurde. Daß dieses ästhetische Fundament im Mittelalter eine große Tragfähigkeit besaß, wurde später deshalb verkannt oder übersehen, weil alle hieraus erwachsenen Theo= rien nur sehr zerstreut auftauchen, weder zu einer verbindlichen Ästhetik ver=

10

EINLEITUNG

einigt wurden noch sich gegen die musikalischen Ansichten zahlenspekulativer Art, welche später mehr und mehr Verbreitung fanden, durchsetzen konnten. Im Urteil der Neuzeit sieht deshalb die mittelalterliche Musiktheorie, welche zugleich Musikästhetik und Musikphilosophie in sich vereinigte, so aus, als sei sie insgesamt eine teils mystische, teils religionsphilosophische Klang= allegoristik gewesen und habe mit ihren symbolischen Vorstellungen von einer „musica mundana" den klaren Erkenntnisfortgang gehemmt. Diese Ansicht ist lückenhaft und unzutreffend. Ihr fehlt die Einsicht in eine sehr bedeutende ästhetische Auffassungsweise, die während eines großen Zeitabschnittes abendländischer Musikentwicklung, von Augustinus bis Zar= lino ein gutes Jahrtausend überspannend, um einen Musikbegriff bemüht war, welcher sich von logischer Einseitigkeit freihält und sich an die Erlebnisganz= heit des Menschen wendet. Noch bei Johann Sebastian Bach steht der Mensch als ein gottgelenktes, nicht bloß selbstwollendes, normenprägendes Wesen im Mittelpunkt der Musik, letzte Haltung aus einer musikalischen und gläubigen Betrachtungsweise heraus, deren Ziel es war, diese humane Gottgelenktheit hinter dem Klangstoff der Musik und dessen rationaler Formung durch= schimmern zu lassen. Wir müssen uns heute dazu entschließen, ein uns ungewohntes, fast ver= sunkenes Musikbewußtsein, in welchem Eigenwille und Normbestrebtheit keinen selbständigen Platz einnehmen dürfen, aufs neue anzuerkennen. Eine Zusammenfassung dieser alten Einsichten und Bemühungen unter einer neuen übergeordneten Idee ist nunmehr mit Hilfe unserer sehr erweiterten Kenntnis über musikalische Ästhetik möglich geworden. Als solche Idee, welche Spann= weite genug besitzt, alle die teils psychologischen, teils ästhetischen, teils philo* sophischen Erträge aus den mittelalterlichen Musiktheorien unter sich zu fassen, zugleich der Geisteswelt jener Epoche innerlich nahestehend, ohne vor den heutigen Erörterungen verschlossen zu sein, bietet sich das Prinzip von der Übergegensätzlichkeit dar, wie es in der leibnizischen Philosophie zur Dar= Stellung kommt. Leibniz gelangt zu seiner übergegensätzlichen Denkweise, indem er hinter allen stofflichen Erscheinungen eine zwar geistige, aber irrationale Kontinui= tat 1 entdeckt. Seine Kontinuitätslehre ist einerseits den mittelalterlichen Ein= heitsanschauungen aufs innigste verwandt, andererseits verarbeitet sie neue Erkenntnisse dergestalt, daß auch ästhetische Überlegungen sich an sie an= schließen lassen. Leibniz spricht die Grundhaltung der Übergegensätzlichkeit einmal kurz so aus, daß die Welt „aus ohnendlichen Dingen besteht, die zu= sammen wirken", es sei „nichts so klein, noch so entfernet, welches nicht 1

vgl. Kanitz: Leibniz.

EINLEITUNG

11

etwas beytrage" 2 . Damit ist gemeint, daß sowohl Unmeßbares als auch Ding= haftes eine Wirkungseinheit ergeben können. In der Welt besteht außer den Größenordnungen der Dinge auch der nicht mehr meßbare Beitrag anderer Einwirkungen. In dieser Einheit von Unendlichkeit und Dinghaftigkeit, in dieser Einbeziehung entferntester, nicht mehr meßbarer Vorgänge in das gegenwärtige Sein sehen wir einen Grundzug des übergegensätzlichen Sinn= verstehens. Das unserer heutigen Denkgewohnheit Widerstrebende liegt darin, daß hier das Nicht=Meßbare seinen Rang vor dem Meßbaren, das Universelle vor dem Einzelnen, das Kontinuum vor der struktiven Form erhält. Auch das seelische Erlebnis, so gesehen, steht nicht von der rationalen Erfassung und vom Körpergefühl getrennt da, sondern sie allesamt entspringen aus einer primären und kontinuierlichen Einheit, die vor den raum=zeitlich begrenzten Einzelerlebnissen vorhanden ist. So erhebt sich der Übergegensatz auch über die gestaffelten Formen einer konstruktiven Musik. W a s wir nun insbesondere zu der Leibnizschen Kontinuitätslehre hinzu= fügen wollen, sind die Grundgedanken der Intentionalitätslehre Brentanos". Denn in das Unabhängigsein von meßbarer Größenordnung und die Innen= Wirkung auf weiteste Entfernung ordnet sich das ein, was Brentano das „inten= tional Seiende" 1 nennt. Dies besagt, daß die Vorstellungen des erlebenden Bewußtseins nicht allein eine geistig=seelische Ganzheit bilden. Es geschieht noch ein weiteres: ihnen kommt ein intentionaler, d. h. zielender Charakter zu. Nach Brentano bewegen sich Erlebnisse und Urteile in Richtung auf eine innere Vorstellung, wobei die meßbaren Verschiedenheiten der äußeren Wahr= nehmungsobjekte unwichtig sind. Wie sehr die Substanz der ästhetischen Erfassung von den wahrgenommenen Dingen unabhängig sein kann, erläu= tert Brentano einmal am Beispiel des Dreiklangs. Er stellt fest, daß das Wohl= gefallen an einem Durdreiklang nicht in der Tatsache des Hörens selbst beschlossen ist; andernfalls „müßte es doch sonst aus soviel Teilen bestehen, als der Akkord enthält und das Hören des Akkords unterscheiden läßt" 5 . Viel= mehr kommt hier eine „besondere Empfindung, die mit auftritt" zur Wirkung, ein ästhetisches Gefühl, das sich nicht auf die wahrgenommene sinnliche Tat= sache, sondern „auf etwas, was sich auf das Erscheinen derselben, d. h. auf das 2

zit. bei Kanitz ebd. S. 49.

3

Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Wien 1 8 7 4 .

4

Später dehnte Brentano

das „intentional

Seiende" auf das reine

Denken

aus; s. Kategorienlehre, nachgelass. Werk, hsg. v. A . Kastil. Leipzig 1 9 3 3 , S. 1 9 . 5

Franz Brentano: Psychologie. Leipzig 1 9 2 8 , III 58.

12

EINLEITUNG

darauf gerichtete Empfinden bezieht" 6 . Dieses gerichtete oder zielende Empfin= den nennt Brentano intentional. Noch ist unsere Gedankenkette nicht geschlossen. Beide Denkergebnisse, sowohl jene von Leibniz als auch diese von Brentano, würden im leeren Raum schweben ohne die Voraussetzung einer personalen Beziehungsweise. Obwohl nur am Rande ausgesprochen, bestehen jene Lehren auf dem Grunde einer vollmenschlichen Erlebnis» und Empfindungsbereitschaft, eines Beteiligtseins des Menschen als Person7. Jedes Gedanken= oder Gefühlserlebnis muß gelenkt sein von dem hellen Bewußtsein des Menschen, daß der Ausblick zu den ewigen Ordnungen, so unerkannt sie auch bleiben, ihn und seine Vernunft erst auf den Weg des Voranschreitens führt. So mündet endlich das kontinuierliche und intentionale Verstehen in die Metaphysik ein, denn das Personsein ist kein Objekt, sondern eine ungreifbare Wirklichkeit. Die Gründung seelischer und geistiger Erlebnisse auf dem menschlichen Personsein an Stelle der menschlichen Individualität ergibt den Anschluß an die mittelalterliche Erlebnisauffassung, wie sie sich auch bei den alten Musik= theoretikern bekundet. In selbstverständlicher Anlehnung an die Seelenlehre der aristotelischen Schule formuliert Augustinus, zuerst noch unabhängig von seiner Musikphilosophie, eine „intentio animi"8, welche besagt, daß eine inten= tionale Denkvorstellung den sinnlichen Einzelwahrnehmungen dann voraus= geht, wenn der Mensch aus einer inneren Vorstellungseinheit heraus empfindet und urteilt. Mit der Voraussetzung, den „hominem interiorem" 9 , den inneren Menschen als Ebenbild Gottes und Träger höherer Einsichten anzuerkennen, verklärt sich die augustinische „recta intentio" 10 , die wahre Gerichtetheit der menschlichen Empfindungswelt nach einem zugleich geistigen und seelischen Ziele. Diese intentionale Ansicht begegnet uns wieder in einem Musiktraktat des 10. Jahrhunderts11, wo eine „mentis intentio" als die ebenso dem Gefühl wie der Vernunft verbundene geistige Zielvorstellung dem Verstandeswissen ge= radezu gegenübergestellt wird. Sie taucht wieder auf als „der Töne innerer Sinn" 12 in der Musikanschauung Eriugenas und findet ihren letzten Widerhall ebd. III 18 u. 21. Das Wort Person hier im ursprünglichen Sinne verstanden, als Begriff vom Menschen, der durch das Hindurchtönen (personare) höherer Wissenseingebungen seinen besonderen Wert erhält. * zit. bei Eisler I 765. 8 De summa Trinitate XI 1. 1 0 ebd. I X 1 . 1 1 Regino von Prüm: Epistola de harmonia institutione, Gerbert: Scriptores I 232. 1 1 "omnibus (sonis) interior sensus"; De div. nat. 965. 8 7

EINLEITUNG

13

in dem „principium ex metaphysica" 15 der Musiktheorie Eulers, eines Zeit= genossen von Bach und Leibniz. So durchwandert die mittelalterlichen Jahrhunderte eine auch bei den Musiktheoretikern immer wieder auftauchende Denklehre, in welcher die Vor= Stellungen des Geistes und des Schönheitsempfindens völlig von der materiellen Tatsachenwelt hinwegstreben. Alle diese ästhetischen Ansichten, denen jede normative Ordnung als sekundär, jede nicht normative Vorstellungsganzheit hingegen als primär gilt, wurden von bestimmten aristotelischen Erkenntnissen getragen. Die Lehre vom Hypokaimenon, die von Aristoteles begründet wurde,14 handelt von dem, was unter dem Ganzen liegt, was dem Selbständig= Seienden dualitätsfrei innewohnt und vorausgeht, was als primäre Wirklichkeit v o r den objektiven Formen da ist und nur aus der Gesamtheit der Formen sich erschließen läßt. Sie erkennt in dem Stoff eines geformten Ganzen eine im Werdeprozeß befindliche, nicht als Seinsergebnis vorliegende Substanz. Mit ihr hat Aristoteles eine Anregung gegeben, die es gestattet, eine ästhetische Vorstellung auch ohne rationale Erkenntnismittel deutlich werden zu lassen. Diese Deutlichkeit gelingt freilich nur einem Denk= und Vorstellungsvermögen, welches rationale und irrationale Geistesvorgänge verschmilzt, einer Phantasie» und Bewußtseinseinheit, die, der Antike als Noesis vertraut, noch im Mittel» alter vielerlei Erlebnisweisen, auch die künstlerische, erschließen half. Um den Anschluß an unsere heutige Zeit zu gewinnen, sei hier einleitend mit der Gestaltlehre15 bekanntgemacht. Diese nämlich, für die Musik von noch kaum erkannter Bedeutung, stützt sich auf Voraussetzungen eben genannter Art. In unbeabsichtigter Weise angelehnt an die Gedankenkreise des Hypo» kaimenon und deren mittelalterlichen Fortsetzungen, unternimmt die moderne Gestaltlehre den Versuch, ein künstlerisches Werk als ein um Teilformen un= bekümmertes und von ihnen unbeeinflußtes Vorstellungsgebilde aufzufassen und zu verstehen. Die Gestalt ist, im Gegensatz zur Form, ein primärer Fund, ein aus erster und innerster Schau erwachsenes Vorhandensein, in welchem alle weiteren Entfaltungsmöglichkeiten schlummern. Die Gestalt bringt also „ein Urbild zur Darstellung, das in ihr enthalten ist, obgleich es als solches nicht unmittelbar in Erscheinung zu treten braucht"18. Die Gestaltlehre fordert ge= radezu eine „urbildliche Denkweise" 17 , weil nur mit ihr und nicht mit Hilfe der uns gewohnten rationalen zu den erstrebten ästhetischen Erkenntnissen gelangt werden kann. 18

Euler: Ten tarnen, Vorwort. Metaphysik VII 3; vgl. Eisler I 644. 15 Eine gute Einführung und Übersicht einschl. Literaturnachweis bietet Egon Brunswik: Prinzipienfragen der Gestalttheorie (in: Festsdir. f. K. Bühler). Jena 1929. 16 Wilhelm Troll: Gestalt und Urbild. Halle 1942', S. 3. " ebd. S. 12. 14

EINLEITUNG

14

A u f d e m W e g e a l s o d e r u r b i l d l i c h e n D e n k w e i s e erreichen w i r , n i c h t a l l e i n in der M u s i k , eine neue u n d fruchtbare Unterscheidung v o n F o r m u n d Gestalt. W a s n e n n e n w i r Form? D a s , w a s d e n inneren G e h a l t nach a u ß e n hin mit d e n materiellen u n d g r e i f b a r e n K u n s t m i t t e l n darstellt. A u s der

Formauffassung

e n t w i c k e l t sich f o l g e r i c h t i g d e r F o r m d u a l i s m u s m i t s e i n e n E n t s p r e c h u n g e n v o n Analyse und Synthese, von Formzerlegbarkeit und Formzusammensetzbarkeit. D e r F o r m b e g r i f f f ü h r t m i t sich d i e V o r s t e l l u n g v o n F o r m t e i l e n u n d Formele= menten

und

deren Bindungsgesetzen.

Er ist a u f

physikalisch=geometrische

W e i s e deutbar, eine naturwissenschaftliche Parallele, ein R a u m b e g r i f f .

Die

Form, die, auch hinsichtlich der M u s i k , i m R ä u m e existiert, u n t e r s t e h t

den

r ä u m l i c h e n K a u s a l g e s e t z e n . D i e m i t i h r sich b e f a s s e n d e M u s i k ä s t h e t i k

be=

achtet die A u f e i n a n d e r f o l g e v o n Einfall u n d V e r a r b e i t u n g , die

Entsprechung

v o n Form u n d Inhalt, das G e f ü g e des K u n s t w e r k e s aus dessen Keim= u n d B e w e g u n g s z e l l e n heraus. M i t den M i t t e l n der „ e x a k t e n D u r c h d r i n g u n g " 1 8 w i r d diesen Elementarzellen nachgespürt, w e r d e n die aufgedeckten Teile

ausein=

andergebreitet. G a n z a n d e r s v e r h ä l t es sich m i t d e r G e s t a l t a u f f a s s u n g . S i e g r ü n d e t sich w e d e r a u f D u a l i s m e n n o c h a u f N u m e r a l i s m e n , sie z e r t e i l t n i c h t , z ä h l t n i c h t u n d g e h t nicht v o n d e n E l e m e n t e n a u s . S t a t t d e s s e n v e r g e g e n w ä r t i g t sie a u f un= räumliche W e i s e die ästhetische G e s a m t e i n h e i t . D i e Zeitexistenz der

musi=

kaiischen Gestalt k o m m t dabei, abseits v o n physikalischen oder geometrischen G e s e t z e n , sinnvoll z u B e w u ß t s e i n u n d w i r d als unphysikalische D a u e r erkenn= bar. D i e u n m e ß b a r e n u n d weitreichenden B e z o g e n h e i t e n , die d e m

Ganzen

i n n e w o h n e n , w e r d e n nicht als P r o p o r t i o n e n , s o n d e r n als ein K o n t i n u u m e r f a ß t u n d erlebt. Hinzu kommt

ein sehr wesentlicher

Zug

der ästhetischen

Gestaltlehre,

d e n d i e F o r m l e h r e g a r n i c h t k e n n t , n ä m l i c h d i e R ü c k b e z i e h u n g e i n e r musi= kaiischen A u s s a g e auf den a u s s a g e n d e n u n d h ö r e n d e n M e n s c h e n als Person. W i e in der augustinischen „recta i n t e n t i o " die B e d e u t u n g v o n I n d i v i d u u m u n d P e r s o n u n t e r s c h i e d e n w a r , s o b e s t ä t i g t sich h i e r u n t e r e i n e m ä h n l i c h e n Blick= punkt, daß Personwerte

v o n individuellen

Werten

nur begleitet

sind.

Sie

s t e h e n , a u c h w o sie i n d e r M u s i k z u m A u s d r u d e k o m m e n , e i n e r a l l g e m e i n e n ä s t h e t i s c h e n G ü l t i g k e i t n ä h e r als d i e i n d i v i d u e l l e n u n d b e d i n g t e n , sie

sind

reiner, beglückender u n d strahlen jene W i r k u n g aus, die w i r allgemeinmensch= lieh o d e r p a n h u m a n n e n n e n d ü r f e n . Z w a r a u f d e n e r s t e n B l i c k w i l l es s c h e i n e n , a l s h ä t t e n e i n e K u n s t a u f f a s s u n g u n d eine individuelle Erlebnisweise

ihren

individuelle

unbestechlichen

W e r t , j a als g e b ü h r e i h n e n d e r P l a t z v o r j e d e r d u m p f e n R e g u n g e i n e s A l l = 18

M e r s m a n n : Ä s t h e t i k 722 (s. A n m . 1).

EINLEITUNG

15

gemeingefühls. Bei genauerem Zusehen aber zeigt sich, daß die Aufspaltung der Gefühle und Meinungen letztlich zu lauter Gegensätzen und Fremdheiten führt, daß anderseits aber jener fast konturenlose Stamm der noch nicht ver= ästelten Gefühle unendlich reich an Lebensströmen ist. Insbesondere ist es der Lebensquell ethischen Wollens, der dem egozentrischen Denken versagt ist, während er um so reicher sprudelt, je enger die Wechselwirkung verschiedener Menschen und Völker auch im künstlerischen Verstehen ist. Hier liegen unerschlossene Reichtümer eines nichtindividuellen Bewußt* seins. Wohl vermag sich das Individuelle einer klaren Logik zu bedienen, sich hinter ihr zu verschanzen oder sich mit ihrer Hilfe in den • Vordergrund zu drängen, je nach Zeitgeschmack. Doch die logischen Sicherheiten sind dem Musikverständnis logische Hürden, die, wir sehen es gerade heute in den modernsten Richtungen, nicht zu überwinden sind und den beabsichtigten Musikgenuß beeinträchtigen oder sogar vereiteln. So leicht, weil auf rein= menschlicher Ebene, das Personhafte sich begegnet, so selten und schwierig ist die geistige Begegnung von Individualitäten. Denn der individuelle Kunstaus= druck ist nur der logischen Erkenntnis zugänglich, er begrenzt den Blick auf die abgesteckten Felder in einem bestimmten Ich. Das Persönliche hingegen ist ein Ziel, welches alle geistigen und seelischen Anlagen in seine Richtung zieht und von allen Lebensbereichen aus zugänglich ist. Wie nahe man diesem Ziele kommt, hängt freilich von der personalen Erlebnisfähigkeit ab, welche keine Konstante ist. Deshalb werden die von persönlichen Werten erfüllten Musik= werke der großen Meister immer auf eine neue Art und Weise gehört, und es sinken manche musikalische Epochen in Vergessenheit, während andere, bereits vergessen geglaubte, wieder neu und aktuell ins Licht treten. Nochmals anknüpfend an die Gestaltlehre, sei auf zwei weitere in diesem Zusammenhang einzuordnende Geisteserträge der Neuzeit hingewiesen: auf die Ganzheitslehre 19 und auf die Husserlsche Lehre vom inneren Zeitbewußt» sein. Beide stützen die intentionale Ästhetik als tragende Säulen und ergänzen auf ihre Weise das leibnizische Übergegensätzlichkeitsprinzip. Die Ganzheitslehre untersucht die sinnvolle Einheit eines Geistes» oder Phantasiegebildes, ohne dabei ihren Ausgang bei Einzelfunktionen und Elementarteilen zu neh= men. Durch Husserl endlich werden wir mit einem von zählbarer Teilung freien Zeitbegriff bekanntgemacht, einer kontinuierlichen, irrationalen Zeit= Vorstellung also, die uns höchst bedeutsame Aufschlüsse über das nicht nor= mative Wesen musikalischer Gestaltung vermitteln kann. Bis hierher hat uns die Behauptung geleitet, daß den mittelalterlichen, von Rücksichten gegen Material und Form nicht beengten Ansichten über den 10 Zur Einführung in die Ganzheitslehre eignet sich die Aufsatzsammlung „Ganzheit und Form", hsg. v. Felix Krueger, Berlin 1932.

16

EINLEITUNG

Musikausdruck keine Fortführung beschieden war. Ist nun die nachmittelalter= liehe Musikästhetik ausschließlich die Bahn des individuellen, auf elementare und gegensätzliche Teile gegründeten Verstehens gegangen? Vermag eine in« tentionale, nicht auf Formung, sondern auf Gestaltung schauende Ästhetik in der Musik etwas Neues zu bringen? Beide Fragen müssen bejaht werden. Obwohl es in der neuzeitlichen musiktheoretischen Literatur vage ästhetische Hinweise gibt, welche eine subjektive innere Aussage oder auch einen geistig* objektiven Gehalt verkünden, kann doch nichts darüber täuschen, daß der Faden der Überlieferung zerrissen ist. Oder auch es begegnen uns musikalische Auslegungen, die von seelischen, von Herz zu Herzen gehenden, formunab= hängigen Eindrücken, anderseits solche, die von einer durch die Form bestätig« ten Gesamtkonstruktion sprechen. Solche Widersprüche, die nach Gutdünken das Schwergewicht auf die geistige oder seelische, logische oder gefühlsbe= stimmte, formale oder intuitive, subjektive oder elementarbedingte Einstellung legen, dringen nicht zur Kernfrage des panhumanen Musikverstehens vor. Der heutige Musikhörer hat gelernt, an die Musik auf dem Wege über ein solches gegensätzliches, rationales und konstruktives Erkennen heranzugehen. Indem er Form gegen Inhalt setzt, öffnet er sich die Tore für alle Arten dua= listischer Auslegung. Er braucht nur noch an Hand der Partitur die konstruktiven Teile herauszusondern, zu addieren oder zu subtrahieren, und schon hält er das musikalische Geschehen in der Hand. Es erscheint ihm als ein festes Gefüge, welches sich dem Auge ebenso zuständlich wie dem Ohre darbietet, stabil gleich einem physikalischen Aggregat. Solche Registrierversuche an der Musik haben zu dem uns heute geläu= figen Begriff von der musikalischen Form geführt. Die Methode, das klingende Musikstück gleich einer aggregathaften Vorlage zu behandeln, hat in den Jahrhunderten nach dem Mittelalter mehr und mehr ihren Niederschlag in unseren Musiktheorien und =ästhetiken gefunden. Musikalische Einzelphäno= mene wie Klang, Motiv, Kontrapunkt, Metrum und dergleichen wurden als spezielle Formerscheinungen hingenommen und durchforscht. Um aus solchen Betrachtungen systematische Lehren zu gewinnen, war die Naturwissenschaft als Helferin willkommen. Die heutige Musiksystematik arbeitet demzufolge mit physikalischen Begriffen wie Spannung, Bewegung, Kraft, Gewicht, Raum. Sie betont auf diese Weise die Vereinzelung innerhalb der Musikform. So werden mit Vorliebe in den musikalischen Erscheinungen alle Maße und Ver= hältnisse aufgezeigt, womit zugleich die inneren Vorgänge gedeutet und er» klärt sein sollen. Eine Legion von Musikausdeutern auf der naturwissenschaft* lieh gesicherten Basis normativer Ästhetik folgte nach und schreitet auf dieser Bahn weiter.

EINLEITUNG

17

Dennoch blieb die ganz anders geartete Ästhetik der mittelalterlichen Musiker nicht völlig vergessen. Der erste, der sich von dem kausalen Denkprinzip in der Musik klar abwandte, aus alter Musikproblematik neue Anregungen schöpfend, also auch mehr die ganzheitlichen als die periodischen Formbedin= gungen, mehr das musikalische Werden als das musikalische Sein betrachtend, war der im letzten Kriege gefallene deutsche Musikforscher Karl R o 1 a n 20. Er stellt die Musik nicht der Materie gleich, deren Elemente und Phänomene sich abspalten und neu konstituieren lassen, sondern er versteht sie als ein „Wechselspiel materieller Bedingungen und immanenter Gestalt" 21 , wobei die letztgenannte als eine gesamtgeistige und primäre Wirklichkeit ins Blickfeld tritt. Auch die Vielzahl tonstofflicher Objekte, die Tonphänomene, erscheinen bei Rolan außer in ihrem Netz formaler Beziehungen in einem „transphäno= menalen" Zusammenschluß. Damit rückt die musikalische Betrachtung aus der Sphäre der normativen Ordnung in die einer gestalteten Ganzheit und Kontinuität. Wie es im Verlauf der vorliegenden Darstellung durch das Symbol des cusanischen Kreises ver= anschaulicht wird, wirken die ungegenständlichen und intentionalen Zusam= menhänge mit den gegenständlichen und normativen ineinander und durch= einander, um die musikalische Schönheit hervorzubringen, — die erstgenannten als die ästhetisch reichhaltigeren, weil sie mehr sind als räumliche Gegenwart: sie sind Vergegenwärtigung und werden im inneren Zeitbewußtsein, in un= räumlicher Schönheit erlebt. Das Wort Schönheit wird hier mit Bedacht ausgesprochen. Es hat sich in den musikalischen Auffassungen der Neuzeit der Brauch gebildet, den Begriff Schönheit an den Begriff Ordnung anzulehnen, ja oft beide miteinander zu verwechseln. Jedoch das übersichtlich Geordnete ist ebensowenig zugleich schön, wie das Verworrene zugleich gedankentief ist. Ein richtig und klar durchge= führter mathematischer Prozeß vermittelt nicht Schönheit. Erst durch die nur intuitiv erlebbare Beziehungserfülltheit eines Kunstwerkes, erst durch den zurückbleibenden gesamtklanglichen Eindruck, der den Musikhörer auf kaum beschreibbare Weise durchzieht, erhält das musikalisch Schöne jenen geistigen und auch ethischen Zug, welcher der rationalen Stellungnahme entgeht. Der zurückbleibende Eindruck hebt das Musikerlebnis aus der direkt meß= baren Zeitsphäre heraus. Es tritt eine Zeitvorstellung in Kraft, die rückwirkend das musikalische Geschehen verwandelt, die aber schon im Musikwerk selbst, auf jenen Endeindruck hinzielend, sich kundtut. Dieses zugleich vorwärts und rückwärts belebende Zeitwesen will mit einem besonderen, dem Menschen 20 21

2

Seine auf S. 348 genannte Habilitationsschrift ist noch ungedruckt. ebd. S. 2 8 .

Musica P a n h u m a n a

l8

EINLEITUNG

mitgegebenen Zeitgefühl wahrgenommen sein. Wie das Musikhören an sich bereits ein menschlich tiefgreifendes Vorgehen, ein „zunächst rein anthro= pologisches Problem" 22 ist, so enthüllt sich auch das imaginäre Zeitgefühl als eine menschliche Gabe, als eine wunderbare Veranlagung, die einen von den Hervorbringungsmitteln nur fern noch abhängigen Gesamteindruck zu be= wahren vermag. Die hierbei ästhetisch so wichtige und wertvolle unphysikalische Zeit, die allen intentionalen Gestaltungszügen erst zum Dasein verhilft, wird aber in unserem Jahrhundert nicht mehr so lebendig erlebt, wie es sein könnte. Das äonische Zeitgefühl, wie Hedwig Conrad=Martius sagt, ist in unserer der= zeitigen Welt „eigentümlich verkümmert" 23 . Wir kennen von der Zeit nur noch ihren „Querschnittsinhalt", wir empfinden nur Zeitspannen, welche „ein in kleinsten Portionen dargereichtes Dasein" 24 fristen. Die Qualität der Werte= und Ausdruckskoinzidenz ist fürwahr „ein Aroma, und die Witterung der meisten Menschen ist zu stumpf, es wahrzunehmen" 25 . Es geht um die erneute Einsicht, daß bei der ästhetischen Gestaltung das primäre Zeitpanorama v o r der Stückung und Formung da ist, daß das Ungeschiedene erst, mittelalterlich gesprochen, „Unterschied und Zweiung be= dingt" 26 , nicht umgekehrt. Obwohl die Musik auch die Kategorie dualistischer und phänomenaler Begriffe kennt, wird sie doch wesentlich durch übergegen= sätzliche Inhalte mitbestimmt. Wir werden, ebenso wie es mittelalterliche Musikdenker bereits taten, einsehen, daß der die Elemente festhaltende Ver= stand zu dem kontinuierlichen Geschehen in der Musik sich so verhält „wie die Eule zum Tageslicht" 27 . Was über die Klangmaterie und die Klangdimension hinausweist, ist das Innewerden transphänomenaler Zusammenhänge nicht in der Klangformung, sondern in der Klanggestaltung, nicht durch Anlegen sichtbarer Maßstäbe, sondern durch Anerkennung der Autonomie des Werdens im musikalischen Erleben. Diese Einsicht ist historisch gesichert. Wir bewahren uns dadurch vor einer geschichtslosen Haltung, die uns leider in ästhetischen Fragen neuerdings häufig begegnet. Wir schöpfen aus der Überlieferung, die uns noch immer mit Erkenntnissen ausrüstet, mit Ideen, die, durch den Filter des heutigen Denkens gedrungen, uns hier zu einer neuen Haltung gegenüber musikalischen Werten anregen. 22

Helmut Reinhold: Z u r Problematik des musikalischen Hörens ( A f M w . Bd. 2 )

1 9 5 4 / S. 1 5 7 . 23 D i e Zeit. München 1 9 5 4 , S. 266. 24 ebd. 25 Eugen Rosenstock-Huessy: Heilkraft und Wahrheit. Stuttgart 1 9 5 2 , S. 26 Meister Eckhart; zit. bei Kanitz 3 1 . 37 Speculum musicum, u m 1 3 5 0 ; zit. bei W . G r o s s m a n n 76.

14.

19

EINLEITUNG

Wir kommen so zu einer Auffassung von der Tonkunst, welche alle Musik „in ihrer Totalität als Einheit zu begreifen" 28 wünscht. Sie zieht alte oder kulturfremde Musik nicht aus bloßer Wissensbegierde heran, sondern erkennt „die gesamte Musik, die in uns lebt und in uns zu leben berechtigt ist", voll an; „man möchte in dieser Totalität, in dieser genetisch zu verstehenden Ein= heit den Inbegriff der Musik erblicken" 28 . Es war zweifellos ein Gewinn, aus den Lehren der Naturwissenschaften geeignete kausale Gesetze und konstruktive Formeln zu entnehmen, um sie auf die Musik anzuwenden und dadurch ein architektonisches Denken in Klängen heraufzuführen. Es ist nun an der Zeit, für den Gewinn bereit zu sein, der sich ergibt, wenn hinter dem Auf und Ab der Stilepochen und der Bedingtheiten der nationalen Musikformen das Kontinuum eines ästhetischen Gehaltes aufgespürt wird. Während der rechnende Verstand, der heute nicht allein in den abendländischen Kulturen das Leben regiert, nur auf das Bedingte und Bestehende hinsieht, weiß die zahlenfreie und, wie Schiller sagt, „licht= helle" Vernunft mehr und anderes wahrzunehmen. Nikolaus Cusanus hat ein= mal gewarnt: „Der Mensch, der das Leben bloß sinnlich hinnimmt und die schöpferischen Kräfte der Vernunft nicht zu nutzen weiß, hat keinen Zugang zum Göttlichen" 29 . So unwahrscheinlich uns die Möglichkeit dünkt, inmitten eines technischen Zeitalters die unsinnlichen und unsachlichen Vernunftkräfte zu aktivieren, so gewiß sollte dies aber unsere wichtigste und schönste Aufgabe sein. Sie wäre imstande, aus dem „homo oeconomicus" einen an Wissen und Gefühl gleich reichen „homo in humanitate" zu machen. Die Parallelitäten der Musik mit der Rechenkunst sind zwar in vieler Hin= sieht aufschlußreich und erstaunlich, bergen aber nur einen geringen Teil der musikalischen Schönheitsgesetze. So gilt es denn, den anderen, nicht minder reichhaltigen Teil der Klangwelt zu durchforschen. Die Schönheit als zugleich geordneter und personaler Ausdruck, die Übergegensätzlichkeit laut Leibnizens Wegweisung als die „Überwindung aller Gegensätze durch Einschluß der= selben" 30 , das Verständnis für formale Vorgänge ohne Preisgabe der trans= phänomenalen Richtung des Denkens und Empfindens, die Unräumlichkeit des musikalischen Ereignisses, das kontinuierliche Ineinanderwirken der ursprüng= lich=panhumanen musikalischen Erlebnisweisen, — das sind die wichtigsten Vorstellungskreise, auf welche die intentionale Musikästhetik ihre Aufmerk= samkeit lenkt. 28 Thr. Georgiades: Musik und Sprache. Musik. Berlin und Heidelberg 1 9 5 4 , S. 2.



Das

Werden der

29

De beryllo; Schriften des Nik. v. Cues H. 2, S. 40.

50

Kanitz: Leibniz 9.

abendländischen

20

EINLEITUNG

Audi die jüngst erhobene Mahnung zum „aperspektivischen Denken" 3 1 findet hier ihren Widerhall; denn die Methode, wie man in der Musik zu einer unstarren Gestaltauffassung gelangt, wie man innerhalb der Musik= ästhetik von den naturwissenschaftlichen Denkgleisen abweicht, erwartet die Bereitschaft zu dieser Umstellung des Denkens. Dabei erweist sich der Indi= vidualhorizont des Einzelmenschen als zu eng. Die Kunst, aperspektivisch zu denken, ist keine individuelle, sie ist eine allgemeinmenschliche, ein Vermögen der Menschheit, welche dieses gleichsam zurückgibt an den Menschen als Person. Alles was der Mensch als Person zu erleben vermag, von Liebe, Ehrfurcht, Güte, Mitgefühl bis zu Zweifel, Mißtrauen und Dumpfheit, ist zwar als Ur= erlebnis einheitlich, in der personalen Erfahrung aber vielschichtig und bedeu= tungsreich. Nicht anders ist es mit dem Erlebnis der Musik. Enthält die Musik in Sinn und Gestaltung personale Werte, so teilen sich diese, obwohl urspriing= lieh und allgemeinmenschlich, nur mit, wo die Fähigkeit und Bereitschaft zu weitesten, nur noch gefühlten Erlebniszusammenhängen vorhanden ist. Die Tragweite und Tiefe einer solchen Fähigkeit ist in der Tat dazu ange= tan, unseren ästhetischen Vorstellungskreis zu vergrößern. Die Verstehens= bereitschaft muß, ohne daß das historische und das rationale Denken preis= gegeben wird, das metaphysische Denken mit einschließen. Hier liegen noch unerschlossene panhumane Werte, panhuman nicht in dem Sinne, als ob jeder erlebende Mensch als isoliert von Volk, Generation und Eigenkultur gemeint sei, sondern in dem Humboldtschen Sinne, daß die „Persönlichkeitsidee" nur in ihrer direkten Zugehörigkeit zur „Menschheitsidee" vorstellbar sei, daß sich „die Völkergeister in der Menschheit wechselwirkend durchdringen" 32 . So wird das ästhetische Erleben zu einem zugleich ethischen, die Vernunft= einsieht zugleich zu einer Bereicherung des Gefühls, das Eindringen in die über= gegensätzliche musikalische Aussage zu einem Musikverstehen, welches alle Menschen zu verbinden vermag und vielleicht wirklich einmal verbinden wird. 31 32

Gebser: Ursprung. Wilhelm von Humboldt: Ges. Schriften. Berlin 1907, VII 32 f.

I KLANGDIMENSION 1.

A U F F A S S U N G

D I M E N S I O N UND D I M E N S I O N I E R T H E I T DES K L A N G E S . Jeder Klang ist als akusti= sehe Erscheinung räumlich und zeitlich meßbar. Mit seinen Tönen und Obertönen steht er in einem bestimmbaren Bereich physikalisch faßbarer Dimensionen. So mannigfaltig er auch an Einzelerscheinungen sein mag, er läßt sich doch als akustischer Befund in einem Koordinatensystem darstellen. Dabei sind, wenn wir diesen Aufriß festhalten, die Raumlinie des aus mehreren Tönen sich sum= mierenden Klanges und die Zeitlinie des nach akustischen Gesetzen entstehen* den und verhallenden Klanges einander zugeordnet. Räumliche Struktur und zeitliche Ausdehnung liefern also klare Maßeinheiten für die Dimension, in welcher der Klang, wenn auch kurz, verweilt.

Auch psychologisch gesehen, besitzt der Klang eine bestimmte Dimensio= niertheit. Der Eindruck, den der Klang, sei er abgerissen oder gedehnt, kom= pakt oder dünn, hoch oder tief, beim Hörer hervorruft, kann sich mit der physikalischen Betrachtung so weit decken, daß die in der Physik gebräuch= liehen Fachworte wie Ausdehnung, Dichte, Umfang, Lage und dergleichen auch für die Charakterisierung des psychischen Eindrucks verwendbar sind. Ja, die Übertragung der physikalischen Dimension des Klanges auf den Bezirk der psychologischen Erfahrung ist so naheliegend, daß die Wörter, die zur Kenn= Zeichnung innerhalb realer Dimensionen dienen, wie beweglich, schwer, kurz, fein und dergleichen, von allen Völkern auch zur Kennzeichnung klanglicher Eindrücke herangezogen werden. Die Grenze, über welche hinaus jedoch keine physikalischen Begriff sent= sprechungen mehr statthaft oder richtig sind, verläuft da, wo der Klang seinen Dimensionscharakter verliert. So unbezweifelbar wichtig und auch richtig die Parallelitäten zwischen Klangbefund und Klangeindruck sind, so anfechtbar sind alle ästhetischen Unternehmungen, die aus diesen Parallelitäten den Boden für eine das Gesamtgebiet der Musik erfassende Theorie bereiten. Denn die Dimension des Klanges samt ihrer Entsprechung, der psychologischen Dimen= sioniertheit, sind Begriffe, welche aus logischen Erwägungen hervorgehen und deshalb auch nur logisch verstanden sein wollen. Die Musik besteht nun aber aus mehr als aus Logik. Weil jede musikalische Äußerung mit ihrem Verklingen verweht und damit aus dem physikalischen Meßbereich ausscheidet, wandelt sich ihre zuständliche Existenz in eine gedachte Existenz um. Die gedachte Existenz enthält zwar durchaus logische Dimensions=

22

I.

KLANGDIMENSION

begriffe und perspektivische Vorstellungen, daneben aber auch undimensionierte Erlebnisvorstellungen. A u s dieser Gegenüberstellung von Dimensionsbereich und Vorstellungsbereich der Klänge werden diejenigen musikalischen Werte deutbar, die nicht perspektivisch sind. Nichtsdestoweniger bietet sich der Di= mensionsbereich zunächst als fester Anhalt, von dem auszugehen ist, dar. Denn die reale Dimension der Klänge ist es, die in der Erlebnisvorstellung des Hörers modifiziert, d. h. sinngemäß umgewandelt wird. Über Art und Wirkung dieser Modifizierung entscheiden dann diejenigen Seelen* und Ge= dankenkräfte, die sowohl das logische wie auch das alogische Verstehen meistern: die A u f f a s s u n g , die Empfindung und die Erinnerung. Schon die Modifizierung ist an sich kein logischer Vorgang. Gleichwohl haben A u f f a s s u n g , Empfindung und Erinnerung ihren Ausgangspunkt in der realen Gegebenheit des Klanges. Bevor wir uns ihnen zuwenden, sind also die gegebenen Klangdimensionen daraufhin zu betrachten, wie weit sie die logU sehen Bindungen der Musik bestätigen und wo sie an jene Grenze gelangen, die innerhalb dessen, was wir als Musik bezeichnen, den Beginn anderer, aperspektivischer Regionen fühlbar machen. Die Meßbarkeit und die Dimensioniertheit der musikalischen Klänge lassen sich mit logischen Mitteln demonstrieren. Die Logik beweist an einem Klange seine vorliegende Beschaffenheit und führt von da aus das Verständnis weiter zu der konstruktiven Aneinanderreihung von Klängen. M a n kann noch weiter gehen und sagen, daß die dimensionale Form der Klänge im Prinzip mit der dimensionalen Form einer Klanganeinanderreihung übereinstimmt. Harmo= nische Architektur und formale Architektur sind unter diesem Blickwinkel gleich geartet. Mit anderen Worten: die Form einer Klangfolge und die Form eines Musikstückes stehen beide unter verwandten logischen Gesetzen. A m Beispiel einer Akkordreihe in der Durharmonik und eines Schemas der Rondoform läßt sich das etwa so veranschaulichen:

Dimensionale Formbindung (Rondo)

R

.

. .

1

Beispiel i

Dimensionale Klangbindung (Durharmonik)

1.

23

AUFFASSUNG

Die Auffassung des Hörers wird auf diese Weise von vornherein rational und konstruktiv geleitet. Es steht eine klare Logik gleichsam als Fahrtsignal am Anfang sowohl des harmonikal=kreisenden wie des formal=kreisenden Vor= gangs, wobei freilich zu betonen ist, daß hier kein echter Gedankenkreis, sondern nur ein Bogen mit deutlichen Anfangs=, Entsprechungs= und Endpunkten sich wölbt. Diese Beispiele lassen sich durchaus vermehren. Um nur noch eins zu geben, sei der frühen Sonatenform eine harmonikale Funktionsfolge zuge= ordnet. Die Sonatenform hat die Teile: Thema, Kontrastmotiv mit Schluß in der Dominante, Modulationsteil, Thema und Kontrastmotiv mit Schluß in der Tonika. •

Th

-

fipE•

K (D)

-

M

-

Th

-

K (T)

iip m 3p Beispiel 2

Beide Darstellungen sind innerhalb ihrer Bedeutungsgebiete richtig, und auf der Basis dieser Richtigkeit (die frühe Sonatenform zählte sogar die Takte ihrer Teile ab) entsprechen sie einander. Es bleibe hier nicht unerwähnt, daß auch für das Erlebnis solcher logisch fest geführten Musik das Hineinspielen von mancherlei nicht logischem und irrationalem Gefühlsanteil allenthalben zugegeben und nach verschiedenen Seiten hin gern und oft beleuchtet wird: etwa das momentane Aufgelegtsein des Musizierenden, die nach Neigung und Schulung unterschiedliche Begabung, die größere Anspannung beim Selbermusizieren als bei Zuhören, die Auffas= sungsvarianten, die durch den vortragenden Künstler vermittelt werden, die Gewohnheit einer bestimmten kulturellen Umgebung und einiges mehr. Dies alles aber bleibt immer gleichsam am Rande stehen. Mit Recht, denn der= gleichen Befunde liegen ja nicht in der Musik, nicht im Werk. Tatsächlich bildet die konstruktive und rationale Formlogik hier das ästhetische Zentrum. Will man wirklich dem logisch nicht faßbaren Wesensteil im Musikerlebnis näher kommen, dann muß dieser als ein zentraler Anteil deutlich werden, als tatsächlicher Quellgrund von entscheidender ästhetischer Bedeutung. Dies wird gelingen, sobald man davon ausgeht, daß sich das musikalische Verstehen aus logischen und alogischen Vorgängen zusammensetzt. Erst aus dem Ineinander^ wirken von Verstehen, Einfühlen und Auffassen ergibt sich ein musikalisches Gesamterlebnis. Daß in diesem Zusammenwirken der logische Verstand wichtig

I. KLANGDIMENSION

24

ist, bleibt unbestritten. Aber auch die alogische Intuition ist nicht minder wichtig; sie muß als ästhetischer Wert innerhalb der Gesamtbetrachtung auf ihren richtigen Platz gerückt werden.

VERSTEHEN, EINFÜHLEN, AUFFASSEN. Zunächst: was heißt verstehen? Grund* sätzlich versteht der Mensch nur die Musik, die er verstehen will. Es muß die Absicht da sein, den eigenen und individuell umgrenzten Erlebniskreis zu er= weitern und in den besonderen Erlebnisvorgang eines zunächst fremden Zu= sammenhanges einzudringen. Jedes echte Verstehen hebt die Beschränkung und das in sich selbst Ruhen des Individualerlebnisses auf. Das Verstehen ist, nicht allein in der Musik, „ein Wiederfinden des Ich im D u " 1 , ein Vorgang, welcher den Einzelmenschen aus sich heraus zu einer Begegnung mit anderen führt. Das Erlebnis eines solchen Verstehens kommt nicht von selbst. Es ist eine „unendliche Aufgabe" 2 , die eine seelische Aktivität erfordert. Das eigene Wollen muß im verstehenden Wollen aufgehen. Da der einzelne gewohnt ist, seine Individualität bewußt oder unbewußt als Maßstab anzulegen, gelingt dieses Verstehen, abgesehen von den Arten mystischer Versenkung, niemals restlos. Doch läßt sich der Eigenwille weitgehend unterordnen und dahin bringen, sich auf einen nichtindividuellen, nämlich einen personalen Weg zu begeben. Wo der individuelle Wille noch dominierend bleibt, ergreift das Ver= ständnis nicht das Wesentliche. Es kommt zu Mißverständnissen und Fehl= urteilen. Wird aber dem personalen Gehalt eines Musikwerkes nachgespürt, dann führt der Weg des Verstehens aus der individuellen Beengung heraus. Wie jedes Verstehen, so ist auch das musikalische Verstehen „Innewerden eines Zusammenhanges" 3 . Hier taucht, wie schon angedeutet, der nicht= logische Anteil eines ästhetischen Zusammenhanges, zugleich die Wichtigkeit des Unterscheidens zwischen dem Hörer als Person und dem Hörer als In= dividuum auf. Diese Eigenart des personalen Hörens und dieses Suchen nach dem alogischen Zusammenhang führt auf eine noch zu klärende Frage, die sich damit befaßt, wie in der Musik die äußeren und quantitativen akustischen Gegebenheiten als innere und qualitative Eindrücke anerkannt werden. Diese Anerkennung gründet sich sowohl auf den Erlebnis^ als auch auf den Denkvor= gang. Bei dem Erlebnis ist das intuitive Erfassen, beim Denken das rationale Erfassen bestimmend. 1

Wilhelm Dilthey; zit. bei Landgrebe: Dilthey 5 5 1 . ders., zit. ebd. 3 6 1 . 3 ders., zit. bei G. Störring: Die Frage der geisteswissenschaftlichen und v e r stehenden Psychologie. Leipzig 1 9 2 8 , S. 1 2 . 2

1.

AUFFASSUNG

25

Das rationale Erfassen ist durchaus nicht das einfachste und erste. Dennoch wird niemand bezweifeln, daß sich keine Schwierigkeiten einstellen, will man sich über sachliche Verbindungen und formale Einteilungen logisch klar werden. Nicht ebenso willig folgt der heutige Mensch der Behauptung, daß sich ebenso einfach das Verständnis für außerlogische Beziehungen und Verknüpfungen herstellt. Das soll noch in mehrfacher Hinsicht deutlich werden. Zunächst gilt es, daran festzuhalten, daß beim musikalischen Verstehen über rationale Er= kenntnisgrundsätze hinausgegangen wird, daß dem Werk ein Beziehungsgehalt innewohnt, der dem intuitiven Erfassen vorbehalten bleibt. Dieser Gehalt muß mit der Auffassungsgabe des Hörers korrespondieren, um das richtige Ver= stehen ins Leben zu setzen. Das Korrespondieren zwischen dem Sinn der Musik und der Verstehensbereitschaft des Hörers muß immer aufs neue erstrebt werden und läßt sich ständig verbessern. Wir nennen es das Sinnverstehen in der Musik, keine logische, sondern eine metaphysische Realität. Das Sinnverstehen ist also nicht etwas von vornherein Gegebenes. Es ver= wirklicht sich nur, wenn der Hörende vom individuellen zum personalen ästhe= tischen Erlebnis hingelangt. Das bedeutet beim Erlebnis beziehungserfüllter Musik, daß der Verstehende vom anschaulichen zum unanschaulichen Hören vordringt. Das anschauliche Hören ist für logisch proportionierte Musik zu= treffend, weil es sich an den Rahmen meßbarer Parellelen aus dem Reiche des Sichtbaren hält. Das unanschauliche Hören nimmt überdies noch die jenseits der Physik und der Logik eintretenden Ereignisse wahr, es dringt tiefer in das Reich des Hörbaren ein. Die anschaulichen Erkenntnisweisen sind die Vorstufen zu den unanschau= liehen. Damit ist gesagt, daß die volle musikalische Erkenntnis, das, was wir als das umfassende Verstehen einer Musik bezeichnen, auf die unanschauliche Vorstellung und Einsicht nicht verzichten kann. Zunächst die anschaulichen Vorstufen. Sie lassen sich unter zwei Begriffen zusammenfassen, dem der Ein= fühlung und dem der Auffassung. Die eine Vorstufe des Verstehens, bei der das individuelle Ich sich in den Vordergrund drängt, ist die Einfühlung, die andere, wobei die Aufmerksamkeit die individuelle Sinneswelt lenkt, ist die Auffassung. Man sagt bei der Einfühlung in eine Musik, daß man sich in eine andere Welt „hineinversetze". Damit wird die eigene individuelle Gefühlswelt als selbstbedeutender und fertiger Ausgangswert gesetzt. Beim Hineinfühlen oder Hineinversetzen machen wir von vornherein das Kunstwerk zu einem Korrelat unseres eigenen Gefühlszustandes, zu einer Mit= und Wechselbeziehung auf unser eigenes Zumutesein, kurz, wir empfinden es als ein „Abbild eigenen Ge=

26

I.

KLANGDIMENSION

mütslebens" 4 . Der Hörer stellt der Musik sein ganz bestimmtes Ich gegenüber, sein Eigenwille bleibt gleichsam eine Echowand für das Verständnis. Die Einfühlung ist also nur ein „Resonanzerlebnis" 5 , welches für die Ge= fühlsgesamtheit, die aus dem Musikwerk entgegenklingt, nur begrenzt offen= steht. Die Beteiligung der Aufmerksamkeit wird dabei nicht oder kaum be= nötigt, ja man kann sagen, daß die Einfühlung schon da ist, ehe die Aufmerk= samkeit einsetzt. Dennoch paßt sich die Einfühlung dem Gefühlsverlauf der Musik an. Sie hält mit dem zeitlichen Ablauf des Werkes Schritt und nimmt die Gefühlswellen des musikalischen Ausdrucks in den entsprechenden zeit= liehen Abschnitten in sich auf. So wechselt sie ihren Zustand innerhalb be= stimmter Zeitgrenzen. Da sie sich aber auch in den dargebotenen Klang= und Gefühlsverlauf hineinfühlt, da es ihr um eine Versenkung in die Klangmenge zu tun ist, kommen zugleich räumlich orientierte Empfindungen zur Wirkung. Der sich einfühlende Hörer nimmt das klangliche Geschehen als eine raum= zeitliche Erscheinung wahr. Klang und Werk werden als musikalische Dimen= sion erlebt. So wird die Musik mehr in ihrer klingenden Ausdehnung als in ihrer Sinn= einheit wahrgenommen. Die Einfühlung gibt nicht den ganzen Zugang zur Musik frei. Sie ist gleichsam das Vorgelände für das musikalische Gesamt= erlebnis. Einen ähnlichen Platz nimmt auch die Auffassung ein. Von ihr ist dann zu sprechen, wenn der Hörer dem auf sich zukommenden Klang seine ich= gelenkte Aufmerksamkeit entgegensetzt. Die Verstehensbereitschaft mag hier bereits größer sein, der ganze Vorgang nicht so stimmungsmäßig bedingt wie das Einfühlen. Jedoch auch hier verhält sich der Hörende autonom gegenüber dem autonomen Kunstwerk: zwei eigenrechtliche Ordnungsträger wollen mit= einander zum Einklang kommen. Man versteht unter Auffassung oft im besonderen die Einstellung des vor= tragenden Künstlers zu einem Musikstück und dessen Interpretation. Auffas= sung im allgemeinen aber meint das Verhältnis des Hörenden sowohl wie des Musizierenden zur Musik, ein Verhältnis, das die Brücke des Verstehens da= durch schlägt, daß die Originalität des Auffassenden und die Originalität des musikalischen Werkes sich einander anzugleichen versuchen. Dabei resultiert die Auffassung mehr aus einem begreifenden als aus einem einfühlenden Hören. Bei ihr dominiert das Bewußtsein über die Sinnes= und Gefühlswelt. Verglichen mit der sinnlichen und im Zeitablauf sich ändernden Einfühlung tastet die Auffassung mehr bestimmte formale und elementare Ausdruckswerte 4 H. Siebeck: Über musikalische Einfühlung (Ztschr. f. Philos. u. phil. Kritik, Bd. 127). Leipzig 1905, S. 2. 5 Hermann Ebbinghaus: Grundzüge der Psychologie. Leipzig 1911, II 414.

1.

AUFFASSUNG

27

ab. Sie gewinnt ihre musikalische Erkenntnis aus der Tätigkeit des Willens, wobei ihre Verbindung mit der individuellen Einfühlung nur lose ist. Erst wenn die Ich=Individualität des Hörers nicht mehr im Vordergrund steht, wird der Weg zum ganzen Verstehen frei. Einfühlung und Auffassung sind zunächst noch nicht vom Gesamtverstehen begleitet. Damit ist ausge= sprochen, daß es mit der Wahrnehmung der Form, ja selbst mit der Einfühlung in die inhaltlichen Vorgänge und mit der Auffassung derselben bei der Musik nicht genug getan ist. Es kommen Ausdruckswerte hinzu, die eine nicht in der Einzelfunktion zu findende Bedeutung haben, die verschieden weit aus der dimensionalen Klang= und Formerscheinung heraustreten. Was für Ausdrucks= werte das sind, aus denen das tiefer dringende Verstehen seine Ergiebigkeit holt, läßt sich, ohne den späteren Ausführungen vorzugreifen, am besten durch einen abermaligen Hinblick auf die Dimensioniertheit von Klang und Form erklären. Das Verstehen setzt bei dem einfachen Klang ein, welchen das Ohr als dimensionale Erscheinung, als etwas Ruhendes und Seiendes, als etwas physi= kaiisch Bestehendes, als eine räumlich=akustische Existenz aufnimmt. Das musikalische Hören nimmt die Wahrnehmung des Ohres entgegen und fügt ihr noch weitere Eindrücke hinzu, indem es den Einzelklang als ein stoffliches Gebilde mit Länge, Höhe, Tiefe und Dichte würdigt. Zur Länge wird die effek= tive Tondauer, zur Höhe werden die oberen oder aufwärtsstrebenden, zur Tiefe die unteren oder abwärtssinkenden Klangvorgänge zugeordnet. Zur weiteren Dimension der Dichte gehören Erscheinungen wie Klangbreite, Klangschwere, Klangvolumen und Klangfarbe. Hinzu kommt die schon erwähnte Dimension niertheit, die sich als Vergleich und Entsprechung zur Dimension im vorge= stellten Klanggebäude wiederfindet. Das musikalische Verstehen hält nun, vom Blickpunkt der Dimension und der Dimensioniertheit her, drei Klangerscheinungen auseinander: den Einzel= klang, die Klangfolge und die Klanggesamtheit. Sie alle haben einen verschie= denen Dimensionscharakter. Im letzten Fall, bei der Klanggesamtheit, haben wir es nicht mehr mit dem Klang als sinnlicher Erscheinung, sondern mit der Klanglichkeit als ästhetischem Ausdrucksmittel zu tun. Betrachtet man den Einzelklang, so steht er in dem klingenden Verlauf einer Musik wie ein Körper auf einer Ebene. Er ist ein statisches Gebilde. Seine ruhende Klanglichkeit besteht aus leicht wahrnehmbaren Tönekomplexen, welche als etwas physikalisch Bestehendes gehört und anerkannt werden. An= ders die Klangfolge. Sie nimmt sich, wenn man den Vergleich fortführen will, wie ein konstruktives, aus mehreren Körpern bestehendes Gebilde aus. Sie wird künstlich und kunstvoll gebaut, sie wirkt architektonisch. Ihre auf einer tonaHogischen Ebene sich aufrichtende Klanglichkeit bildet sich gemäß har=

28

I. KLANGDIMENSION

monischer und kompositorischer Folgegesetze. Deshalb unterliegt auch ihr Ver= ständnis gewissen Bedingungen, die je nach den musikalischen Bräuchen oder Vorschriften verschieden sind. Die Klanggesamtheit schließlich ist nicht mehr auf eine Ebene oder eine zweidimensionale Form rückführbar. Man könnte sie als ein integrales Gebilde bezeichnen, als einen Ausdruck, der etwas Ganzes und Vollständiges ausmacht. Sie läßt sich, einmal vorhanden, nicht mehr in Teile zerlegen. Sie reicht über harmonische Funktionen und formale Direktbeziehungen hinweg. Sie ist kein Summenergebnis, sondern ein Beziehungserlebnis. Hier tritt das Verstehen seine unabgrenzbare Aufgabe an. Wo der ein= fühlende oder auffassende Hörer nichts mehr wahrnimmt, da rundet sich dem Verstehenden der musikalische Eindruck ab zu einer Sphäre, die räumlicher und zeitlicher Abmessungen nicht bedarf. Über das individuelle Einfühlen und das logische Auffassen erhebt sich das nicht=dimensionierte Sinnverstehen. Während man bei der statischen und bei der konstruktiven Klanglichkeit noch mit rationalen Mitteln zum Ziele kommt, erfordert die Gesamtheit der Klangwerte eine besondere Art des Verstehens, eine unräumliche, bedeutungshafte, person= bezogene. Auch die Art des Hörens bereitet die jeweilige Verstehenstiefe we= sentlich vor. KLANGUNMITTELBARES UND KLANGMITTELBARES HÖREN. Unter den Arten des musikalischen Hörens hat bereits Hugo Riemann Unterschiede festgestellt. Er trennt passives und aktives Hören. Passives Hören ist bei ihm „willige Hin= gäbe an die Eindrücke" 6 , wobei die Gefahr besteht, daß der musikalische Fluß sich in eine Reihe von lose zusammenhängenden Einzeleindrücken auflöst. Dieses passive Hören ist gleichsam ein „verdecktes Hören" 7 , ein Hören ohne Bestimmungsmöglichkeit und ohne Erfassen klanglicher Beziehungen. Es geht mit der Einfühlung zusammen. Das aktive Hören nennt Riemann ein „scharfes Auffassen der kleinsten Gebilde und ihrer richtigen Beziehungen aufeinander" 8 . Die Aktivität des Hörens richtet sich dabei auf das „Verständnis der kleinsten Symmetrien" 9 . Hier tritt die Auffassung in ihre Rechte. Es teilen sich also dem Hörer eng= räumige Verhältnisse mit, die sich auf die musikalischen Einzelteile und deren formale Verflechtungen beziehen. Die Wachsamkeit des Hörenden geht auf die statische und die konstruktive Klanglichkeit aus, wobei sie bestrebt ist, an Hand der einzelnen Klangfiguren und Melodieeinheiten den architektonischen Bau des Musikstückes zu verfolgen. 6 7 8 9

H. Riemann: Grundlinien der Musikästhetik. Berlin 1 9 1 9 , S. 44. Otto W a l d a p f e l : Einfach-Wesentliches in der Musik. Dresden 1 8 9 8 , S. 1 0 . Riemann a.a.O. S 45. ebd. S. 45.

1.

AUFFASSUNG

29

Noch nicht berücksichtigt ist hierbei das Hören der gesamtklanglichen, inte= gralen musikalischen Gestalt. Offenbar muß sich noch eine dritte Art des Hörens benennen lassen, die sich aus der räumlichen Vorstellungswelt löst und in der Musik weder den rationalen noch den formlogischen Gehalt wahrnimmt. Diese Hörweise gibt es. Wir wollen sie die intentionale nennen, d. h. eine auf die innere Sinnwahrnehmung zielende und in das intentionale Verstehen un= merklich übergehende. Diese Art zu hören, statt vom Detail zum Ganzen vor= zudringen, hält sich außerhalb der klanglichen Dimension, indem sie die weitest= reichenden musikalischen Bezogenheiten primär erfaßt und von da aus jedes Einzelgefüge zum Verständnis bringt. Das intentionale Hören geht weniger auf das Erkennen der wechselnden Klangverbindungen als auf die Bedeutung der Zusammenhänge derselben, weniger auf die Wahrnehmung der kleinsten Symmetrien und Gegensätze als auf den Gesamtzug des Ganzen aus. Schon im Mittelalter wurde beim Gehörs= eindruck zwischen zwei Tatbeständen, zwischen dem als Dimension „vorge= fundenen", statischen Klangvorgang und dem in das Gefühlsleben „eindringen= den", nichtstatischen Erlebnisvorgang unterschieden10. Auch die Musikauffas= sung Augustins weist neben dem klangsinnlichen oder klangunmittelbaren Hören ohne Transzendenz auf das klangmittelbare oder „wissende" Hören 1 1 hin, in welchem jeder Grad von Transzendenz denkbar ist. Noch deutlicher unterscheidet Eriugena zwischen einer Musik, die in oder mit den Klängen wirkt und einer solchen, die sich „um die Klänge herumbewegt" 12 , die also mit den klangstofflichen Vorgängen nicht identisch ist. Das klangmittelbare oder intentionale Hören hebt die musikalischen Vor= gänge aus ihrer akustisch=zeitlichen Bedingtheit und Begrenztheit heraus. Da= mit wird das Musikerlebnis zu einem persönlichen Besitzwert. Der Hörer als Person, nicht sein musikalisches Empfinden allein, wird angesprochen. „Der Klang ist nicht eine Erscheinung, die man betrachtet, sondern ein Akt, den man vollzieht, eine Dauer, die man erlebt." 13 Deshalb gehört die grundsätzliche Ver= schiedenheit der physikalischen und der musikalischen Zeitdauer mit zu den charakterisierenden Unterschieden zwischen klangsinnlichem und intentionalem Hören. Der Vollzug des Hörens spielt sich in einer eigenen und besonderen Zeitsphäre ab. Er ist aus diesem Grunde keine bloße Empfindungssache, son= 10 Quintilian (offendere — intrare); zit. bei H. H. Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik. Würzburg 1.941, S. 20. 11 Heinz Edelstein: Die Musikauffassung Augustins. Phil. Diss. Freiburg 1 9 2 9 , S. 30. 12 "circa symphonias movetur"; De div. nat. 869. 13 Brelet: Temps musical I 68.

30

I.

KLANGDIMENSION

dem eine Angelegenheit der hörenden Gesamtperson. Bevor also das Neu= gehörte musikalischer Besitz wird, entscheidet über die Art des Hörens der personale Musikbesitz und die personale Musikeinstellung. Hier tritt die Frage auf, ob das Vordringen vom klanggebundenen zum klangungebundenen Hören einen besonders hohen Grad musikalischer Kenner= schaft erfordere, oder ob auch dem musikliebenden Laien die Möglichkeit ge= geben sei, anders als klangsinnlich, anders als klanggebunden zu hören. Unter der neubestärkten Tatsache, daß das musikalische Hören keine objektive Wahr= nehmung, sondern ein persönlicher Vollzug ist, weist sich das klangmittelbare Verstehen als ein geistiger Vorgang aus, der dem Menschen als geistiger Per= son überhaupt eigen ist. Weil das intentionale, klangmittelbare Hören den Klang nicht allein als sinnliche Erscheinung aufnimmt, sondern ihn überdies als Mittel gebraucht, um zu weiteren ästhetischen Ergebnissen vorzudringen, tastet das zugehörige klangmittelbare Verstehen den Gesamtkreis der Erlebens* und Erfassensfähigkeit des Hörers ab. Voraussetzung ist hierbei die ästhetische Erlebnislust der Persönlichkeit und die Veranlagung hierzu. Damit tritt die Frage, ob Laie oder Kenner, zurück hinter der Frage nach der personalen Fähigkeit zum geistigen Aneignen, zum Werterlebnis. Ohne hier auf die Wertungsgabe, die uns noch beschäftigen wird, einzu= gehen, sei nur auf das panhumane Grunderlebnis eines wertenthaltenden ästhe= tischen Sinngebildes hingewiesen. Sicher ist, daß von jedermann, sofern er sich dem ästhetischen Erlebnis nicht überhaupt verschließt, „Wertungen mannig= facher Art erlebt werden" 1 4 , daß also ein ästhetisches Sinngebilde auch als ein wirklicher Wert erlebt und erfühlt werden kann. Das klangunsinnliche Hören bereitet zusammen mit dem Wertgefühl das intentionale Verstehen vor. Verschiedene Wege stehen der Verfeinerung dieses intentionalen Hörens und Verstehens offen. Sowohl das sinnliche Hören wie auch das geistige Er= fassen sind bildungsfähig. „Mit dem Gehör prüfen wir die Größe der Inter= valle, mit dem Gedanken untersuchen wir die jeweilige Bedeutung derselben" 15 , so stellte bereits Aristoxenos fest. Sowohl das Wahrnehmen also von Größen^ Ordnungen wie auch das Erkennen von inneren Bedeutungen, das Hören von klanglichen Erscheinungen sowie das Hören von klangungebundenen Beziehun= gen sind allgemeinmenschliche Fähigkeiten. Josef Haydn hat einmal von einem seiner Instrumentalstücke gesagt, er habe darin einen musikalischen Ausdruck gefunden, „daß es dem Unerfahren= sten den tiefsten Eindruck in seiner Seele erwecket" 16 . Das Laientum hindert, 14 15 16

Robert Reininger: Wertphilosophie und Ethik. Wien 1 9 3 9 , S. 4. zit. bei R. Westphal: Aristoxenos von Tarent. Leipzig 1 8 8 3 , I 441. zit. bei C. F. Pohl: Josef Haydn. Berlin 1 8 7 5 , I 216.

1.

AUFFASSUNG

31

diesem Ausspruch zufolge, keinen Hörer daran, den Gehalt einer wertvollen Musik aufzufassen und zu empfinden. Diese ästhetische Einstellung Haydns war eine Überlieferung aus vielen Jahrhunderten, ein Erbe panhumaner Musik= gesinnung, die erst seit dem beginnenden 18. Jahrhundert Einbuße erlitten hat. Die musikalisch=stilistischen und die musikalisch=gesellschaftlichen Entwick= lungen der letzten Generationen haben eine eigentümliche Vernachlässigung und Zurücksetzung des musikalischen Laien mit sich gebracht und dadurch die unausgesprochene Haltung eingenommen, als sei dem Laien die Region echten Musikverstehens verschlossen. Diese sehr bedauerliche und zudem unrichtige Meinung hat bereits manche Schäden in der heutigen Musikkultur verschuldet. Freilich sind dem heutigen Laien unter den musikalischen Eindrücken die formal nicht dimensionierten zu ungewohnt, als daß er sie von den formal klar dimensionierten zu trennen vermöchte. Es kommt zunächst auf die Kunst des Unterscheidenkönnens an. Diese Kunst ist erlernbar. Wie ein Wanderer im Walde nur vielerlei Bäume, ein Förster aber in jedem Baum ein besonderes Lebewesen sieht, so hört der Laie in einem Musikstück nicht den melodischen Gehalt in seinem vielseitigen, vollen und besonderen Beziehungsreichtum. Er muß zunächst auf die verschiedenen Ausdrucksweisen, die in der Musik möglich sind, aufmerksam werden und sie unterscheiden lernen. Jeden gewonnenen Eindruck kann er dann je nach Veranlagung vertiefen, was noch nicht bedeutet, daß der Musikhörer sich einen höheren Grad fachlicher Kennerschaft er= werben müsse. Grundsätzlich ist das intentionale Hören, wenn auch allzu lange vernach= lässigt, jedem Musikfreunde möglich. Da es sich um ein personales Erlebnis handelt, liegen die Voraussetzungen dazu in der Person des Einzelnen, nicht in seinem Vermögen zu formaler Übersicht, sondern in seiner wertfühlenden Bereitschaft, in seinem Näherdringen an die klingende Gesamtgestalt, sie so von Mal zu Mal mehr ausschöpfend. Auch das rein formale Erfassen ist eine panhumane Verstehensmöglichkeit insofern, als es hierbei auf Verstandeseinsichten ankommt. Denn die musi= kaiische Form ist etwas mehr oder weniger Starres, etwas Vorsätzliches und Hingestelltes, dem eine logische Aufklärung angemessen ist. Die musikalische Form, die sich einerseits aus einer bestimmten musikalischen Tradition und anderseits aus einem bestimmten individuellen Entschluß des Komponisten ergibt, ist in erster Linie eine rationale und konstruktive Willensangelegenheit. Sie wird mit Recht gerne als musikalische Architektur bezeichnet.

UNTERSCHIEDLICHE DIMENSIONSERFASSUNG DURCH O H R UND A U G E . Archi= tektonische Gesetze sind anschauliche Gesetze, sind für das Auge und durch

32

X.

KLANGDIMENSION

das Auge erfaßbar. Die beiden Sinneswerkzeuge, das Ohr und das Auge, lassen durch Gegenüberstellung und Vergleich wichtige Schlüsse auf das musikalische Hören zu. Wie steht es mit dem Sehsinn? Er ist seinem Wesen nach ein geometrischer Sinn. Er ergreift die Form des anschaubaren Objektes in ihrer Unbeweglichkeit, weil er seiner Eigenschaft entsprechend jedes Objekt zunächst als unbeweglich ansieht. Ist Bewegung vorhanden, so muß das Auge aus jeder Bewegung des Objektes einen Einzelmoment herausgreifen, um der Form habhaft werden zu können. Der Sehsinn ist ein zerlegender, Teile ab= tastender Sinn. Im Gegensatz dazu ist der Hörsinn ein zusammenfassender und ver= schmelzender Sinn. Die Zusammenfassung und Verschmelzung geschieht aus der besonderen Anlage des physiologischen Einstimmens und Einschwingens heraus. Das Ohr vermittelt uns Stimmung in wörtlichem und in übertragenem Sinn. Es leitet aus den realen Frequenzen, ob Ton oder Geräusch, nur einen Teil weiter ins Bewußtsein, es ist, wie wir kurz sagen können, dilektiv, d. h. es wählt aus. So starr und konstruktiv der Blick vorgeht, so unstarr, weil di= lektiv, leistet das Ohr seinen Dienst. In die Auswahl, die beim Hören aus dem Meer der anflutenden Tonwelt getroffen wird, spielt die unwägbare persönliche Vorliebe mit hinein. Das alles ist nun für das Hören von Musik von noch größerer Bedeutung. Der Musikhörer wird das Laute nicht immer für groß und wichtig, das Leise nicht auch zugleich für gering und unbedeutend, das Kurze nicht immer für unausgedehnt halten. Die Wahlfähigkeit des Ohres besitzt überhaupt keine messenden Eigenschaften. Und weiter: während das Auge vom Objekt ent= fernt ist und sich in Gegenüberstellung befindet, kennt das Ohr keine Tren= nung, keinen Abstand und kein Gegenüber. Das Ohr unterliegt nicht dem Zwange, sich etwas Bewegtes als starr vorzustellen, um es in seiner Gestalt wahrnehmen zu können. Was strömt und verhallt, wird als Strom und Hall direkt wahrgenommen. Kein Schnitt trennt zwischen Hier und Dort. Die feine Abtönung wird nicht in Stufen oder Teile zerlegt, alles vollzieht sich fließend, zusammenhängend, kontinuitiv. Der Hörsinn erfaßt „das Werden selbst und steht mit ihm in unmittelbarem Einklang" 1 7 . So erkennen wir in der Tätigkeit des Ohres zwei Eigenschaften, die von derjenigen des Auges verschieden sind: die dilektive und die kontinuitive. Gerade den nichtarchitektonischen Charakter in der Musik, welchen das Auge als ungeformt und verwirrend ansehen muß, vermag das Ohr leicht aufzu= nehmen und zum Verständnis zu führen. Weil die Musik ein dauerndes Werden, ein dauerndes Klangwerden und Gestaltwerden ist, vermittelt das 17

Brelet: Temps musical I 72.

1.

AUFFASSUNG

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Ohr eine andere künstlerische Wirklichkeit und verursacht ein anderes ästhe* tisches Bewußtsein als das Auge. Gestaltete Musik ist eine „creatio continua" 18 , die man nicht sichtbar registrieren kann, sondern hörbar miterleben muß. Die Werdensgesetzlichkeit der Musik, die in den rationalen Formen freilich mini= mal, in der intentionalen Klanggesamtheit aber maximal in Erscheinung tritt, ist deshalb nicht reflektierend zu erfassen, wie ein Gegenstand, sondern nur als sinnreicher Mikrokosmos. Weder das musikalische Werden noch das musi= kaiische Hören hat etwas Punktförmiges oder Geradliniges, das sich zu einem konstruktiven, augenmäßigen Wahrnehmungsergebnis zusammenschlösse. Mit Hilfe dieser ungegenständlichen Hörfähigkeit dringt das „wissende" Hören 19 , das wir als intentional bezeichnen, in die Ungegenständlichkeit des klingenden Kunstwerkes ein. Die Werdensgesetze der Musik kommen durch den Mitvollzug des intentionalen Hörens zu Bewußtsein. Der Hörer fügt nicht gleich zu gleich und setzt nicht ungleich gegen ungleich. Er hört, sofern er darauf bedacht ist, mehr das Verbindende, das nicht klingt, als die akustische Front der Töne, die erklingt. Insbesondere das intentionale Hören geht darauf aus, sich durch die Klangfront gleichsam wie durch ein vielverschlungenes Gewebe hindurchzufühlen. Damit ist eine dritte Eigenschaft des musikalischen Ohres genannt, die dem Auge nicht zuteil ist: die Wahrnehmung der Klanghintergründe dank eines hier hineinspielenden Zeitbewußtseins. Das den Klang nicht als Objekt oder als Front nehmende musikalische Hören vermeidet jede Enge des Bewußtseins. Ein vorwiegend logisches Bewußtsein mit seinen Beweiskräften genügt wohl, um das klingende Objekt nahezubringen. Auch wird das Gefühlsbewußtsein dem Klangobjekt, je nach wechselnder Einfühlung, gerecht. Aber diese beiden Bewußtseinslagen fixieren nur Teile der Klangform. Das musikalische Gesamt= hören hingegen folgt nicht ästhetischen Teilgesetzen. Es hat ein durchaus eigenes Gesetz, welches aus einem unphysikalischen Zeitbegriff heraus dem ästhetischen Werden als Sinnganzheit nachspürt. So wird der gehörte Eindruck gleichsam umkreist, gleichsam durchstoßen, mit einer ungewissen Dauer aus= gestattet. Es ist dabei gleichgültig, ob wir als Zuhörer nur die Empfangenden sind oder als Interpreten die Musik wiedergeben. Hören und Musizieren verlangen das gleiche musikalische Verstehen. Ja, in beiden Fällen fühlen wir uns „einem Schaffenden ähnlich" 20 . Tatsächlich ist viel schöpferisches Selbertun in den beiden Arten und Weisen, wie man die Musik erfaßt, im Wiedergeben und im Hören. Bezüglich des Hörens wird das oft unterschätzt. Denn wer auf den 18 19 20

3

vgl. Eisler I 240. Augustinus, vgl. S. 29. Geza Révész: Einführung in die Musikpsychologie. Bern 1946, S. 165.

Música Panhumana

I. KLANGDIMENSION

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Vorstufen des musikalischen Hörens verharrt und den Hauptfaden, falls er vorhanden ist, durch das reiche Klanggewebe nicht verfolgt, wird auch zum klangungebundenen Hören und damit zum vollen Sinnerlebnis keinen Zugang finden. Im allgemeinen jedoch lebt im Menschen eine Tätigkeitsfreude und eine Sehnsucht nach vollkommener Gestaltung des Lebens, die auch in der musi= kaiischen Kunst sich auslebt und der wir die herrlichen Früchte der Volksmusik und des Volksliedes, schließlich der Musikkultur überhaupt verdanken. Die personale und geistige Anteilnahme hebt das musikalische Hören auf eine panhumane Stufe. Das Wirksamsein und das Wirkenwollen, das ja dem Menschen innewohnt, leitet auch in der Musik vom Hören zum geistigen Aneignen hin. „Der Geist besitzt nichts, als was er tut." 2 1 Vom Selbermusi= zieren und vom Selbstbestrebtsein beim Hören her füllt sich der geistige Ge= winn aus zu einem personalen, einem durch die Vielfalt der Intervallgrößen, Klangflächen und motivischen Zäsuren hindurch und von der äußeren Form zum „reinen Wesen" 2 2 gelangenden. Vom Entlanghören an der Klangfront bis zum Hindurchhören durch die Klanggesamtheit erstrecken sich die Grade pan= humanen Musikhörens. Das Hindurchhören ist höchste Aktivität, die es dem Hörer gestattet, innerhalb eines Musikwerkes immer neue Bezirke zu ent= decken und eine immer bessere und schönere Überschau zu gewinnen. Das Hören als Hindurchhören ist intentionale Tätigkeit und Ausstrahlung, die sich mit der des schaffenden Künstlers in der Tat vergleichen läßt, nur ist sie unangespannter, gelassener, ein Widerschein des schöpferischen Gestaltens. Was passives und aktives Hören nicht vollbringen, das gewährt das inten= tionale Hören: das Erlebnis der Beglückung, welches der hörende Mensch bei einem hohen musikalischen Kunstwerk empfindet. Denn ein und dasselbe Musikwerk kann jeweils unsagbar verschieden sein, je nachdem, zu welcher Hörweise der Aufnehmende bereit ist. Daß die geistige Teilnahmslosigkeit gegenüber künstlerischen Werten ein Vergnügen sei, ist Selbsttäuschung. Das oberflächliche Erlebnis gewährt nicht die Steigerung des Glücks, die der Mensch sucht. Die läuternde Wirkung der Musik ist zwar eine panhumane Wirkung, kommt aber nur dem zustatten, der seine Personwerte zu den musikalischen Ausdruckswerten in unmittelbare und selbstbestrebte Wechselbeziehungen bringt. GESCHMACKSFRAGEN IN DER MUSIKÄSTHETIK. Die Steigerungs= und Len= kungseigenschaft des Hörens und des Verstehens verdankt ihr Dasein den 21

Schiller: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. 1 7 9 5 . Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie (Ib. f. Phil. u. phän. Fschg. I. 1 ) . Halle 1 9 1 3 , S. 1 2 . Bei Brelet: (Temps musical 420) wird sehr treffend „reine F o r m " mit „ A k t i v i t ä t " gleichgesetzt. 22

1.

AUFFASSUNG

35

genannten dilektiven und kontinuitiven Tätigkeiten des Ohres, fühlenden Tätigkeiten also. Hier spielen die Fragen des Geschmacks mit hinein. Da all= gemeine Geschmacksrichtungen sich an den Wandel der Mode anzulehnen pflegen, sind Geschmacksurteile nur an diejenigen Eigenheiten des musikali= sehen Hörens gebunden, die nicht zu tieferem Verstehen hinführen. Nur die leicht beeinflußbaren Seiten des Gefühls sind an der Bildung des Geschmacks= urteils beteiligt. Da aber in den verschiedenen Zeitabschnitten immer wieder andere Gefühlskonstellationen geschätzt werden und in den Vordergrund ge= langen, ändern sich auch die jeweiligen Geschmackseinstellungen. Schon im Speculum Musicum 23 wird die Geschmacksfrage gestreift: ein Volksstamm habe „je nach Sitte und Geschmack" seine Freude am Wohlklang der Musik. In der Tat ist der musikalische Geschmack umweltabhängig. Zu den Gefühls= tönungen kommen rassische und stammesartliche Varianten hinzu, gar nicht zu reden von publizistisch verbreiteten Kunstzielen und Geschmacksströmun= gen, wie sie in unserer Zeit so häufig anzutreffen sind. Der musikalische Geschmack erstreckt sich demnach auf den dimensionalen Klang. Statt der tiefreichenden Bewußtseinsteilnahme der hörenden Person ist nur ein rationaler Gedankenkreis dabei beteiligt. Die individuellen und noch dazu wechselnden Einstellungen halten den Geschmack aus den panhumanen Verstehensgrundsätzen heraus. Ja er hat selbst in ein und derselben Person, innerhalb der weiten Skala vom Mißbehagen bis zur Befriedigung, keinen festen Platz und macht die ästhetische Gefühlshaltung dessen, der sich von ihm leiten läßt, unsicher, unstetig, flach. Der Geschmack gehört dem Individuum, nicht der Person an. Wenn er jedoch, wie Schiller sagt, von „Mäßigung und Anstand" 2 4 geleitet wird, kann er die Vorstufe zu einem intentional=ästhetischen Verstehen bilden. Denn be= herrscht von Mäßigung, gibt der Geschmack dem Verstehen eine gewisse Stetigkeit, gelenkt von Anstand, bereitet er die richtige Einfühlung vor und übernimmt die wichtige Aufgabe, „der Einbildungskraft gefällig zu sein" 25 . Doch das völlige Eindringen, das reife personale Erlebnis, ist nicht Sache des Geschmacks: untersteht er doch dem Gebot, daß er sich „nicht an dem Inhalt vergreife" 25 . Deshalb muß es das Ziel bleiben, vom Geschmacksurteil zum Werturteil fortzuschreiten. Geschmacksrichtungen lassen sich aus Umwelts= und Erziehungseinflüssen vielfältig begründen. Anderseits steht das Geschmacksurteil im Kausalzusam= menhang mit der individuellen Erlebnis» und Denkweise und bewegt sich auf der Ebene des subjektiven Willens. So durchkreuzen sich in musikalischen Ge= 23 24 25

3'

um 1 3 2 0 ; vgl. G r o ß m a n n : Spec. mus. 62. Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten. 1 7 9 6 . Schiller: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. 1 7 9 5 .

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I. KLANGDIMENSION

schmacksfragen auf seltsame Weise außer=individuelle und betont individuelle Vorstellungskomplexe. Die musikalische Ästhetik kann sich deshalb keines* wegs mit dem Geschmacksurteil begnügen. Sie muß auf Schönheitswerte aus» gehen. Fragt sie nach diesen, ohne aber auf Geschmacksprobleme zu verzichten, so wird offenkundig, daß sich in ihr sowohl ethische als auch psychologische Erfahrungen vereinigen müssen. Hierin liegt auch der Grund dafür, daß ästhe= tische Resultate in jedem Zeitalter neu überprüft werden müssen und daß veränderte Voraussetzungen eine neue Sicht erheischen. Die Voraussetzungen aber ändern sich eben durch das unvermeidliche Mitspracherecht des Ge= schmackes in ästhetischen Dingen. Die Ästhetik, die Lehre von der Wahrnehmung und Erkenntnis des Schönen, wendet sich zunächst den äußeren Formen der Kunstwerke zu. Will sie das Schöne in allen seinen geistig=seelischen Wirkungen aufzeigen, dann darf sie aber nicht vor der Front der Formen haltmachen. Eine isolierte formale Er= Schließung wird dem Schönen, welches dem Kunstwerk als Ganzem inne= wohnt, nicht gerecht. Wir sahen schon, daß die übergegensätzliche Gesamt= bedeutung einer Musik sich in der formalen Gliederung nicht darbietet, viel= mehr auf ihre Weise gehört sein will. Sie muß von der ästhetischen Betrachtung mit umschlossen werden. Da diese intentionale Erlebniseinheit mehr als eine individuelle, nämlich eine personale Angelegenheit ist, gehen psychologische Voraussetzungen mit ästhetischen Hand in Hand. Zunächst die ästhetischen Grundfragen. Nach den Versuchen mit einer philosophischen „Ästhetik von oben" (Hegel, Fechner) und einer empirischen „Ästhetik von unten" (Hogarth) hat sich gezeigt, daß auf diese Weise nur die Formen und Mittel der Kunstwerke, die sogenannten phänomenalen Gegeben^ heiten erfaßt werden. Zum ästhetischen Zentrum, wo sich Schönheit und Sinn= gerichtetheit vereinen, dringt man so nicht vor. Der Schönheitsbegriff wäre zu eng gefaßt und auch zu sehr an den Geschmacksbegriff gekettet, wollte man nur die meßbaren und sichtbaren Formverhältnisse berücksichtigen. Das Klang= hören mit seiner Fähigkeit, nicht=meßbare Verhältnismäßigkeiten wahrzuneh= men, fordert für die Musik ein transphänomenales ästhetisches Gesetz. Es zeichnen sich hier bereits neue Gesichtspunkte ab: das transphänomenale Schönheitserfassen begegnet sich mit dem übergegensätzlichen Verstehen. Einen weiteren Beitrag liefert die Einsicht, daß die ablesbaren Tatsachen, seien sie durch die musikalische Form oder durch den momentanen Eindruck gegeben, nicht entscheiden. „Das Ästhetische ist nicht bloß eine Tatsache, sondern ein Wert." 2 6 Damit tritt die werteerkennende Einstellung in die Ästhetik ein. Sie würdigt außer den im zeitlichen Klangablauf merkbar sich ablösenden 26

Johann Volkelt: S y s t e m der Ästhetik. München 1 9 2 7 , S. 24.

1.

AUFFASSUNG

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Momenteindrücken und außer den im Verstand fundierten Wahrnehmungen den überzeitlichen Wertgehalt der Musik, welcher, von der mittelalterlichen Ästhetik bereits beachtet, mannigfach in Erscheinung tritt. Weder die aus der Formbetrachtung sich ergebenden rationalen noch die aus den Momenteindrücken ableitbaren gefühlsbetonten Vorstellungen füllen also den Kreis der musikalischen Ästhetik aus. Es kommen hinzu: die über= gegensätzlichen, intentionalen, wertenden und klangmittelbaren Vorstellungen, mit denen erst der ästhetische Gesamtgehalt durchleuchtbar wird. Schiller nannte diese Art ästhetischen Verständnisses ein solches, welches „den Men= sehen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt" 27 . Auf die Musik angewandt, heißt das, daß der Hörer von den Verhältnis= maßen der Klangdimension unabhängig wird. Solange noch die formlogischen und architektonischen Gesetze der Musik die Aufmerksamkeit allein auf sich lenken, kann es nicht verwundern, daß sich die ästhetische Betrachtung in Einzellehren wie Formalästhetik, Ausdrucksästhetik, Inhaltsästhetik, Intervall= ästhetik, Gefühlsästhetik u. dgl. mehr aufspaltet. Die phänomenalen Gegeben= heiten und Verhältnisse der Musik lassen sich in diesen Sonderlehren zwar kausal erschöpfen, aber das musikalische Kunstwerk „ist nicht ein Haufen wirkungskräftiger Eigenschaften" 28 ; es liegen viele seiner Eigenschaften außer= halb der nachweislichen Folge von Ursache und Wirkung, außerhalb der kau= salen Logik. Das Fürsichnehmen ästhetischer Einzeltatsachen führt zum Ästhetizismus. Der Beurteiler läuft dann Gefahr zu vergessen, daß in jedem echten Kunstwerk eine Hinwendung zum Mitmenschen beschlossen liegt. Die weitere Folge ist die, daß ästhetizistische Vereinseitigung alles Schöne für im Grunde unnötig und überflüssig ansieht. Es bildet sich der Irrtum, das künstlerische Schönheits= erlebnis sei ein Selbstzweck. In Wahrheit ist es jedoch ein Teil des mensch= liehen Daseins. Es erscheint erst dann als abgetrennt und für sich bestehend, wenn der Empfangende bei der nur rationalen oder nur gefühlsmäßigen Wahrnehmung stehenbleibt, blind für den personalen und verbindenden Glanz des Kunstwerks. In der Musik wollen außer den vorliegenden ästhetischen Einzelzügen auch die im Hindurchhören aufschimmernden intentionalen Ge= samteigenschaften gewonnen sein. Zu dieser Unterscheidung von Zügen phänomenaler und intentionaler Ästhetik kommt noch ein letzter Gedanke hinzu, der in dem Grundsatz, daß „ein amoralisches Kunstwerk keinen reinen ästhetischen Eindruck hervorrufen kann" 2 9 , ausgesprochen liegt. Damit hört die Ästhetik vollends auf, einen Zu= 27 28 29

U b e r die ästhetische Erziehung des Menschen, 2 7 . Brief. 1 7 9 4 . Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Leipzig und Berlin 1 9 2 4 . V I N . H. S 0 e : Christliche Ethik. München 1 9 4 9 , S. 286.

265.

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I.

KLANGDIMENSION

stand der künstlerischen Form aufzuweisen. Sie ist nun gedacht als eine Me= thode des ganzheitlichen Erkennens, die bis an die Grenze vordringt, wo sich an die Frage nach dem Schönen die nach dem Guten anschließt. Wir sahen, daß das formale Erlebnis entweder den Verstand oder das Gemüt beschäftigt und nicht den Kreis der vollen Lebenswirklichkeit ausschreitet. Der mehr als for= male und mehr als phänomenale Eindruck hingegen ist eine volle und ein= dringliche Wirklichkeit, er bildet keine Provinz innerhalb des Seelenlebens, er schafft auch kein Land Utopia, welches vor der Wirklichkeit nicht stand= hielte. Die ethische Gedankenrichtung zieht durch die Bereiche des Lebens und die der Kunst. Sie läßt das Kunstwerk zu einer Geist und Seele, Leben und Empfinden zugleich ansprechenden Schöpfung werden (s. Anm. 2). Diese in= tentionale Durchdringung, an welcher der Mensch als Person beteiligt ist, macht das ästhetische Erlebnis deshalb tief und bereichernd.

D E R SCHÖNHEITSIMPERATIV. Damit ist eine neue Blickweite gewonnen, eine Ästhetik, die sich aus den kausalen und phänomenalen Bemühungen her= aus wagt. Es wäre ja nicht möglich, ein musikalisches Erlebnis immer wieder zu erneuern oder sogar zu vertiefen, wenn die ästhetische Wirkung kausal ab= lesbar wäre. Das musikalisch Schöne ist hundertfältig abgestuft. Es gibt un= zählige Grade ästhetischen Eindringens und Empfindens. A n die kausale Rich= tigkeit als Ausgangsstufe des Schönen schließen sich Zwischenreiche verschie= den intensiver Intentionalität und übergegensätzlicher Zusammenhänge an, und der höchste Bereich ästhetischer Schönheit ist zugleich ein Reich ethischer Wertschätzung.

Wir kehren nun zu dem Begriff der künstlerischen Schönheit wieder zurück; denn eine panhumane Musikästhetik muß darauf hinzielen, den Schönheits= begriff von seiner formalen Einengung zu befreien und ihn über die Stufen ethischer Auffassungen weiterzuführen. Die Eigenart musikalischer Schönheit in ihrer vollen Bedeutung liegt darin, daß sie über die Wirklichkeit der fron= talen Klangmittel hinweg in die Wirklichkeit der nichtformalen und trans= phänomenalen Inhalte hineinreicht. Für diese Inhalte läßt sich eine eigene Ge= setzmäßigkeit finden: keine physikalische, sondern eine durchaus ohrenmäßige, dimensionslose, gedankliche. Sie waltet in den angestrebten Innenvorstellun= gen, nicht in den vorliegenden Dingen. „Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff, sondern vielmehr ein Imperativ." 30 Solange sich das musikalisch Schöne auf formale Schemata bezieht, klammert es sich an begrenzte Erfahrungen an. Es muß aber, will es volle Geltung haben, gleichbedeutend sein mit einer geistigen 30

Schiller: Brief a n K ö r n e r v o m 2 5 . 1 0 . 1 7 9 4 .

1.

AUFFASSUNG

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Forderung und Bereitschaft zu einem Erleben, welches die Gefühls* und Denk» weit auszuweiten imstande ist. Die geheime Forderung, die also dem Schönheitsbegriff innewohnt, sagt aus, daß weder mit der Vereinzelung noch mit der Vereinheitlichung in bezug auf die Form alles getan sei. Das einfühlende Verstehen neigt dazu, die formalen Ausdruckselemente zu vereinzeln, das verstandesmäßige auffassende Verstehen ist befähigt, dieselben zu vereinheitlichen. Die Gefühlsästhetiker versuchen, die im Kunstwerk sich offenbarenden Gefühlselemente auseinanderzuhalten und für sich zu deuten; die Verstandesästhetiker sind bestrebt, die logischen Zusammenhänge nachzuweisen und sich an der Form als einer rationalen Auf= bauleistung zu erfreuen. Beide jedoch erfüllen nicht den Schönheitsimperativ: sie begnügen sich mit dem Erlebnis künstlerischer Seinsgegenwart, welche in diesem Falle so geartet ist, daß man sie teils als Naturschönheit, teils als Symbolschönheit ansprechen darf. An der Naturschönheit sind in erster Linie begleitende Gefühle des Wahr= nehmenden beteiligt, Gefühle, durch die das jeweilige Erlebnis mitbestimmt wird. So wird die Schönheit, die wir an einer Blume wahrnehmen, ergänzt durch ein Gefühl der Bewunderung; denn unausgesprochen bewundern wir dabei das rätselvolle Werk eines geahnten Schöpfers. Der Unterton von Bewunderung, der immer mitschwingt, läßt den Schönheitseindruck fortdauern. Aber alles Naturschöne ist auch vergänglich und zerbrechlich, und dadurch, daß unser Wissen von dessen zeitlicher Begrenztheit und unsere Bewunderung, die zeitlich unbegrenzt ist, ineinanderfließen, erhält diese Art Schönheitserlebnis etwas seltsam Widerspruchsvolles. Die innere Zustimmung des Menschen mit den Formen der geschaffenen Welt gibt dem Naturschönheitsempfinden zwar einen panhumanen Charakter, aber die Arten dieses Empfindens, soweit sie sich auf die Erlebnisse der Ver= Wandlung und des Ereignisses beziehen, sind doch individuell verschieden. Anders steht es mit dem Schönheitseindruck geometrischer Verhältnisse, wie sie ja auch in einigen Formen der Natur vorkommen. Hier verwandelt sich nichts, hier ereignet sich nichts. Die Symmetrie als eine solche sichtbare Form wohlabgewogener Verhältnisse läßt sich an Kristallen und an Schneesternen beobachten. Diese Wahrnehmung ruft einen von unterschiedlichen Empfindun= gen fast freien, bei allen Menschen gleichartig anzutreffenden Schönheitseindruck hervor. Doch das ebenmäßige und in einfachen Zahlenverhältnissen angebbare Zusammenstimmen der Teile ist nicht das allgemeine Kennzeichen der Natur» Schönheit; vielmehr treten die offensichtlichen und starren Symmetrien als Natur= eindruck durchaus zurück hinter den verborgenen, lebenden und die vitale Ge* fühlswelt erregenden Schönheitssinn.

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I. KLANGDIMENSION

Denn Schönheit ist nicht dasselbe wie Symmetrie. Schönheit ist Leben, Sym* metrie ist Rechenkunst. Das Schöne in der Natur erfreut uns, weil es mit Wachstum und Blüte innerlich eins ist, das Symmetrische beeindruckt als ge= formtes Zahlengefüge. Über den Kunstwert der Zahl wird noch manches zu sagen sein. Immerhin ist auch in der Naturschönheit, weil sie ja von den Dingen her und durch die Dinge bestimmt wird, manches Zahlenwunder ent= halten, wobei der Eindruck auf den Menschen durch erkennbare Gefühlsan= klänge charakterisiert wird. Alles in allem also ein Teilerlebnis, welches auch in der Musik seine Entsprechung findet. Auch die Symbolschönheit erschließt nur eine Seite des musikalischen Schönheitsempfindens. Der Komponist schafft in Melodien und Klängen musi= kaiische Symbole für die Stimmung oder die Haltung oder den Inhalt, welche er ausdrücken will. Er läßt zwar immer Neues entstehen, doch halten alle neu= geschaffenen Ausdruckssymbole eine unerläßliche Verbindung mit den schon vorhandenen, überlieferten aufrecht. Musikalische Symbole lehnen sich an den geschichtlichen Gang an, sie sind Zeugnisse eines mehr oder weniger wechsel= vollen „Symboldenkens" 3 1 . Wäre es anders, so könnten sie eben als Symbole nicht verstanden werden. Die Nähe und Eingängigkeit der symbolischen Form= Schönheit hat aber den Nachteil, daß sie in dimensionierter Befangenheit stecken bleibt. Denn es geht hierbei das Bestreben des Tonkünstlers darauf aus, mög= liehst klar, fast wie mit Worten, sich verständlich zu machen. Er prägt be= stimmte musikalische Wendungen, ja er sucht geradezu der Wortdeutlichkeit nahezukommen. Dem Vorteil, daß der Komponist begriffliche Musikelemente in logischer Gliederung darbietet, steht der Nachteil gegenüber, daß die Ver= ständlichkeit solcher Musik, ähnlich der einer Sprache, sich auf einen begrenz= ten Kreis von Zuhörern beschränkt. Die symbolische Schönheit ist zu plastisch, zu fest umrissen, zu augenmäßig, als daß sie für das musikalische Hören umfassend genug sein könnte. Wie es im 18. Jahrhundert bereits ausgesprochen wurde, gibt sich diese Ausdrucks^ gliederung so, daß „der Zuhörer daraus, als ob es eine wirkliche Rede wäre, den Trieb, den Sinn, die Meinung und den Nachdruck, mit allen Ein= und Ab= schnitten, völlig begreifen und verstehen kann" 3 2 . In dem Als=ob liegt bereits eine Schwächung der totalen Sinnwiedergabe, die noch augenfälliger dadurch wird, daß die Formgebung sich frontal, nach Ein= und Abschnitten, vollzieht. Der Abschnittsreichtum innerhalb der Klangformen, durch die symbolischen Wendungen bedingt, verursacht ein logisch zusammengesetztes, ein — wie das Wort sagt — kom=poniertes Musikwerk, das sich zwar durch Formelvielfalt auszeichnet, aber wiederum allerlei Formelwillkür unterliegt. Das Wesen dieser 31 32

Arnold Schering: Das Symbol in der Musik. Leipzig 1 9 4 1 , S. 1 3 0 . Johann Mattheson: Kern melodischer Wissenschaft. 1 7 3 7 , Kap. 4.

2.

EMPFINDUNG

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tönenden Symbol= und Formelwelt ist „nicht zeitlos, sondern zeitgebunden, und ihr Verstandenwerden reicht nur über beschränkte Zeitläufte" 33 . Die euro= päische Musik des 18. Jahrhunderts, die es in symbolschönen Formen zu gro= ßem Reichtum gebracht hat, ist ein Beweis dafür, wie sehr diese Art musikali= scher Schönheit verblaßt und wie wenig sie, abgesehen von den größten Meisterwerken, als panhuman gelten darf. Weder bei den symbolerfüllten noch bei den naturschönen Formen der Musik darf das Verständnis des Hörers stehenbleiben. Es wäre sonst ein Halt vor dem Zugang zum intentionalen Sinngefüge eines musikalischen Kunst= Werkes, für welches das Ohr noch weitere Möglichkeiten des Aufnehmens hat, solche, die über vitale, gefühlsbestimmte und konstruktive Schönheiten hin= ausreichen und zu nicht=kausalen Zusammenhängen vordringen. Die der Musik eigentümliche übergegensätzliche und akausale Schönheit verknüpft, um eine Wendung Schillers zu gebrauchen, „die zwei entgegengesetzten Zustände des Empfindens und des Denkens" 34 . Mit dieser Vereinigung von Empfindung und Gedanken, von Dimension und Nichtdimension wird das Verständnis des Hörers einer höheren und ungeteilten Schönheit inne.

2.

EMPFINDUNG

G E F Ü H L UND E M P F I N D U N G . Die musikalische Empfindung ist, als Sinnes= empfindung genommen, nicht mehr als ein Augenblickseindruck, eine flüchtige organbedingte Angelegenheit. Sie wird an das Bewußtsein weitergegeben, auf dem Wege von Meldungen, die den „Charakter von Signalen" 35 haben, die also zunächst nicht von Gefühls= oder Gedankenwertenbegleitet sind. DieTonempfin= dung als solche ist demnach ein physischer Vorgang, der sich aus Eigenschaften und Zuständen akustischer Dinge herleitet. Doch die Einzelempfindung ver= harrt nicht unverändert im Bewußtsein. Sie wandelt sich von Moment zu Mo= ment. Sobald der Klangreiz, der die Empfindung verursachte, vorbei ist, ist zwar auch die Sinnesempfindung verschwunden, aber sie erzeugt sich augen= blicks eine ihr gleiche Erinnerungsvorstellung.

Diese innere Vorstellung, die mehr Erinnerung als Empfindung ist, zeigt sich bereichert durch einen besonderen zeitlichen Charakter. Das Eingebettet= sein der Musikvorstellung in dieser unphysikalischen Zeitregion löst die an= fängliche Sinnindifferenz der Empfindung auf und eröffnet alle Möglichkeiten intentionalen Verstehens. Und dieses weist gerade in der Musik jenen eigen* 33 Arnold Schering: Carl Phil. Em. Bach und das redende Prinzip in der Musik (Vom musikalischen Kunstwerk). Leipzig 1949, S. 235. 34 Uber die ästhetische Erziehung des Menschen, 18. Brief. 1794. 35 Hans Langendörfer: Leitfaden der Psychologie. Bonn 1947, S. 40.

I.

42

KLANGDIMENSION

tümlichen Zeitcharakter auf. Die Zeitbeschaffenheit der Empfindung verdient unser forschendes Interesse; denn „Dauer der Empfindung und Empfindung der Dauer sind zweierlei" 36 . Die der physischen Gegenwart angehörende Empfin= dung wird so zu einer neuen Empfindung „mit sich stetig veränderndem zeitlichen Charakter" 36 umgewandelt. Sie erhält einen Dauerwert, der mit in die innere Vorstellung eingeht und beim ästhetischen Erlebnis eine wichtige Rolle spielt. Unter musikalischer Empfindung ist nun endgültig diese mit besonderen Zeit= und Erinnerungswerten erfüllte Empfindung zu verstehen. Sie begnügt sich nicht damit, den Hörer zur Teilnahme zu wecken oder, wie Kant sagt, zu „affizieren" 37 , sondern geht ganz in die lebendige Vorstellungswelt ein und aktiviert diese. Schon bei einfachen musikalischen Vorgängen kann sich die wirkungsbestimmte sinnliche Empfindung in eine nicht mehr allein kausal verstehbare seelische Empfindung verwandeln. Empfindung wird so zur „Emp= findnis", wie man im Zeitalter Goethes sagte. Sie entwächst der Dimension. Empfindung heißt Insichfindung. Der Musikhörer, der übergegensätzlich hört, macht dieses Wort in seiner ganzen Bedeutung wahr. Er findet in sich Bezüge zum Leben, nicht zum individuellen, sondern zum personalen. Er emp= findet den Personwert der Musik. Die musikalische Kunst ist gerade diejenige, welche am vollkommensten „die Empfindungen des Lebens wiederholt" 38 , weil sie ästhetische Werte ins Geistige ausdehnt und in ihrer vom physikalischen Zeitbegriff losgelösten Eigenart die aus dem Leben einströmenden Gefühle aufnimmt und die aus ihr herausklingenden Gefühle wieder dem Leben zuführt. Musikalische Empfindungen und musikalisches Gefühl gehen ineinander über. Die sinnliche Empfindung ist ortsbestimmt, die musikalische Empfindung hat nur noch eine schwache und unwesentliche Ortserinnerung, das musika= lische Gefühl hat diese gar nicht mehr. Man hat das musikalische Gefühl deshalb einen „wandelnden Schatten" 39 genannt. Es ist gegenstandslos, nirgends haftend. Da die Musik auch keine gegenständliche Bindung braucht, vermag sich durch sie die gegenstandslose Gefühlswelt unmittelbar auszusprechen. Freilich handelt es sich in der Musik niemals um ein einzelnes Gefühl, sondern immer um eine Gefühlsmehrheit. Es können dadurch unendlich viele Arten von Überlagerungen und Überschneidungen entstehen. Sogar entgegen* gesetzte Gefühle finden sich zuweilen in der Musik vereinigt. Ein berühmt ge= 36

Husserl: Vorlesungen 376. „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung" (zit. in Grimms Wörtb. III 433). 38 Busoni: Entwurf 28. 39 Ernst Roth: V o m Vergänglichen in der Musik. Zürich 1949, S. 34. 37

2.

EMPFINDUNG

43

wordenes Beispiel dafür, ein Musikstück, in welchem widerstreitende Gefühle zugleich ausgedrückt werden, findet sich in der Gluck=Oper „Iphigenie auf Tauris". Orest singt die Worte: „Die Ruhe kehret mir zurück", und die Musik gibt, dem Wortlaut entsprechend, die Ruhe wieder, läßt aber zugleich auch die Unruhe erkennen, von der Orest innerlich gepeinigt wird 40 .

Beispiel 3

Sei die Gefühlssumme nun in sich ausgeglichen oder nicht, immer stellt sie einen „seelischen Gesamtton" 41 her, welcher für das betreffende Musikwerk charakteristisch ist. Der Gefühlsgesamtton ist mehr als die Summe der ein= zelnen Gefühle und läßt sich nicht definitiv erfassen. „Gefühl ist wie Farbe" 42 . Auch eine Farbenzusammenstellung kann man nur ungenau beschreiben, aber sehr gut in ihrer Gesamtheit künstlerisch darstellen und wiedergeben. Ebenso wird ein Gefühlskomplex musikalisch erweckt, obschon sein Gesamtton sich der kausalen Begründung entzieht. Ihm ist kein sprachlich eindeutiger Begriff (s. Anm. 3) zuzuordnen. Gleichwohl haben alle die unnennbaren, durch Musik erweckten Gefühle volle Realität, sie besitzen „dieselbe Wirklichkeit wie jene ebenfalls unnenn= baren, die, von nicht=musikalischen Reizen angeregt, täglich, stündlich unsere Seele durchkreuzen" 43 . Die Gefühle in der Musik sind keine Illusion, denn sie sind keine Trugwahrnehmungen. Die Behauptung, jede Kunst sei „spielender Schein" (Kant) oder „Wille zum Schein" (Nietzsche), war musiktheoretischen Erkenntnissen nur hinderlich und hat sowohl Hörer wie auch Komponisten wie auch Ästhetiker zu Irrtümern verleitet. Der Hörer eines Musikstückes tut nicht so, als ob er ein Gefühl habe, sondern er fühlt und empfindet wirklich. Eine Als=ob=Einschränkung entsteht erst bei der rationalen Aufteilung der Form, 40 Gluck äußerte sich zu der Berechtigung der Sechzehntelbewegung in den Bratschen: „Orest lügt, er hat seine Mutter erschlagen". Vgl. H. J. Moser: Gluck. Stuttgart 1940, S. 294. 41 Othmar Sterzinger: Grundlinien für Kunstpsychologie. Graz 1938, S. 261. 42 Albert Wellek: Gefühl und Kunst (Neue psychol. Stud. 14/1939). S. 7. 43 Arnold Schering: Musikalische Bildung. Leipzig 1 9 1 9 , S. 80.

I. KLANGDIMENSION

44

die trotz sachlicher Handhabung der Teile ein Gefühl zum Erscheinen brin= gen soll. Jede heitere oder ernste, erregte oder liebliche, besinnliche oder kraftvolle Empfindung, die von der Musik erweckt wird, ist durchaus lebensecht. Es ist nur die Frage, wie eng sich dieses G e f ü h l auf einzelne klangliche Episoden beschränkt oder wie weit es sich auf das musikalische Gesamterlebnis ausdehnt. Die Unsicherheit in dieser Frage hat die neuzeitliche Musikentwicklung der Meinung unterworfen, daß die logische Durchkonstruktion der Form als geistige Leistung ein erstrebenswertes Ziel, jeder Gefühlsausdruck ohne diese rationale Überwachung hingegen ein A b w e g sei. In Wahrheit jedoch ist Geist ebensowenig gleichbedeutend mit Logik, wie Gefühl etwa gleichbedeutend mit Un= logik sei. Vielmehr sind Gefühl und Geist durch eigentümliche Übergangs* bezirke miteinander verbunden. Diese Übergangsbezirke gehören zum Wichtigsten in der musikalischen Ästhetik. A u f sie spielt Busoni an, wenn er von „ G e f ü h l im großen" 4 4 spricht und dieses mit einem von ihm nicht näher erläuterten ökonomiebegriff gleich* setzt. Er versteht darunter die Empfindung und Fähigkeit, „größere Strecken als Teil eines noch größeren Ganzen zu hören" 44 . Dieses „ G e f ü h l im großen" dehnt sich auf jene geistigen Übergangsbezirke aus. Es befaßt sich nicht mit einzelnen Gefühlswallungen, vielmehr bezieht es das bereits Gehörte und das schon Vorausgeahnte als Ganzes in sich ein. Nicht der A f f e k t bestimmt hier das Gefühl, sondern die weitreichenden musikalischen Zusammenhänge. Es findet ein „teleologisches Zusammenwirken des Bewußten mit dem Unbewuß= ten" 4 5 statt, also ein zielendes und durchaus lebendiges Wirken. Das busonische „ G e f ü h l im großen" geht demnach über die gegenwartsgebundene Klang* dimension völlig hinaus. Es schafft eine geistig=seelische Einheit, die, da sie gegenwartsfrei ist, sich zu einer neuen ästhetischen Wirklichkeit erhebt. Es ist ein Hindurchzielen durch die Gesamtgestalt des musikalischen Werkes. Das Besondere dieses Gefühles wird klar, wenn man die verschiedenen Gegenwartserlebnisse zwischen A f f e k t und Stimmung zu unterscheiden ver* sucht. Die Grade der Gegenwartsgebundenheit im musikalischen Gefühl lassen sich folgendermaßen bezeichnen:

44 45

a. A f f e k t

(kurz und intensiv)

b. Gefühlsanflug

(kurz und nicht intensiv)

c. Erregung

(andauernd und intensiv)

d. Stimmung

(andauernd und nicht intensiv).

Entwurf 28. Johannes Volkelt: System der Ästhetik. München 1927, II 224.

2 . EMPFINDUNG

45

Zur zeitlichen Dauer tritt die Intensität. Die Art beider entscheidet über die jeweilige Gefühlshaltung. Der Gefühlsanflug oder das Gefühlsartige bleibt an der Oberfläche der Gefühlswelt und huscht vorbei. Dagegen kann der musikalische Affektausdruck dank seiner Intensität sich zu besonderer ästhe» tischer Bedeutung steigern. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Erregung und Stimmung: der musikalische Stimmungsausdruck kann nur bei längerer Zeit» dauer zum Erlebnis werden, packender und eindringender ist hingegen die Erregung oder Emotion. Auch Gefühlsausmaß und Gefühlstiefe sind zweierlei. Das Ausmaß an Ge= fühlen der Erwartung, Entspannung, Verhaltenheit, Überraschung u. dgl. kann beim Anhören etwa einer tänzerischen Musik beträchtlich sein, erreicht aber nicht die Tiefe einer Seelenregung, die von einer gestalteten Musik ausgeht und das Herz ergreift. Tiefdringend ist ein Gefühl nur bei dem personalen Erlebnis, beim klangmittelbaren Hören einer Musik, wobei sich zugleich mit der Gefühls» resonanz ein geistiger Eindruck einstellt. Denn die reine Gefühlsresonanz ist zwar eine lustvolle und insofern eine der Tiefenregion zugängliche, aber sie hat auch einen individuellen, zumindest einen der panhumanen Ästhetik sich entziehenden Charakter. Lust und genießendes Wohlgefallen stemmen sich dem intentional gestalteten und auch so zu verstehenden Musikwerk mit ihrem „Charakter des Zustandhaften" 48 entgegen. Die Musikpsychologie ist bisher über Gegensatzformeln wie Lust=Unlust oder Wohlgefallen=Unbehagen nicht viel hinausgelangt. Da aber in solchen Gegensatzpaaren die Gefühle nur als „Zustandserlebnisse" 47 , als noch körper» haft oder triebhaft gebundene Empfindungen dargestellt werden, führt diese Begriffseinengung nicht zum Verständnis der Bedeutungsfülle des Gefühls» lebens. Ein hiermit vergleichbarer Gegensatz zwischen sinnlich geformter und gedanklich geformter Musik, der Dualismus von sensualistischer und ab= strakter Musikauffassung führt auf gleiche Weise zu einer falschen Grenz» setzung innerhalb der Gefühlswelt. Gerade das musikalische Gefühl ist nicht zuständlich oder braucht es doch nicht zu sein. Die Empfindungen, die sich durch intentionales Hören einstellen, zeichnen sich ja dadurch aus, daß sie sich aus den akustischen Gegebenheiten und den physikalischen Zeitgrenzen her» auslösen und daß sie integrale, kontinuierliche, alle Gegensatzpaarigkeit hinter sich lassende Klangdimensionen erschließen. Die Gefühlsgesamtheit erschöpft sich nicht im Streben und Widerstreben, vielmehr ist sie auf das Weiterführen eines ästhetischen Erlebnisses, sofern dieses sich dazu eignet, gerichtet. Gefühlserlebnisse haben also, ungeachtet 48

H a r t m a n n : Ästhetik 69. M a r t i n Keilhacker: Entwicklung Regensburg 1 9 5 0 , S. 1 3 . 47

und

Aufbau

der

menschlichen

Gefühle.

46

I. KLANGDIMENSION

dessen, daß sie in ureigenen Gefühlskreisen beginnen, den Wesenszug, „auf etwas hinzuweisen, was sie ihrer unmittelbaren Wirklichkeit nach nicht sind" 48 . Diesen Hinweisecharakter nennen wir intentional. Die Gerichtetheit des musikalischen Gefühls läßt das klangungebundene Ver= stehen eines Musikstückes Zustandekommen. Noch mehr: sie lenkt ihren Weg auf das Feld der Gedanken. Der übergegensätzliche Klanggehalt wird immer zugleich seelisch und geistig empfunden; denn „der Reichtum der Gefühle entfaltet sich auf einer Skala, in der das unterscheidende Moment der Gedanke ist" 49 . Mit diesem geistigen Beteiligtsein wird der intentionale Zug, der Weiter= Aug gleichsam nach einer Wegweisung, in der Gefühlswelt spürbar. Dem musikalischen Gefühle kann also auch der musikalische Gedanke durchaus angehören. Er ist eine besondere Auswirkung der Gefühlsgerichtet= heit. Er schafft Zusammenhänge, wenn auch unanschauliche und nichtratio= nale. Diese Gedanken sind mehr empfunden als gedacht, sie entstammen der Gefühlswelt als eine „Wirkung der Seele, wodurch wir uns bewußt sind" 50 . Damit reicht die Skala der Gefühle vom flüchtigen Augenblickseindruck bis zur lange nachwirkenden Bewußtheit, die den Beteiligten erfüllt und sogar dessen Lebensanschauung zu färben vermag. Mit seiner Gefühlsgedanklichkeit schafft das Musikempfinden eine Atmosphäre, welche die Person in sich trägt und in der sie lebt. So verwandelt der gehörte musikalische Gedanke ein individuelles Gefühl in ein überindividuelles. Abgesehen jedoch von der Intentionalität können Gefühlskreise auch in ihrem eigensten Ausdrucksgehalt eine überindividuelle Steigerung erfahren. Hier jedoch zeichnen sich gar bald die Grenzen ab, welche die Region des künstlerischen Geschmacks kenntlich machen: etwa wenn eine allgemeine Zeiteinstellung der Neigung huldigt, aus den verschiedenen Schichten des Ge= fühls eine Art zu bevorzugen und ihr die Vorherrschaft einzuräumen. Man erinnere sich an das Frömmigkeitsgefühl in der Minnesängerzeit oder an die Rührseligkeitsstimmung in der Epoche der Empfindsamkeit. Solche mehr oder weniger ausgeprägte Gefühlsdiktaturen spiegeln sich dann jeweils in den Künsten wider 51 . Beide Erscheinungen, die Bevorzugung eines Gefühlskreises, welche immer wechselt, und das Beteiligtsein eines intentionalen Denkens, welches den vor= 48

Robert Reininger: M e t a p h y s i k der Wirklichkeit. W i e n 1 9 3 1 , S. 3. Giovanni Gentile: Philosophie der K u n s t (übers, a. d. ItaL). Berlin S. 1 3 8 . 49

1934,

50 Christian W o l f f : V e r n ü n f t i g e Gedanken von den K r ä f t e n des menschlichen Verstandes. Halle 1 7 3 6 , S. 1 1 . 51 Für die M u s i k entstehen daraus die zahlreichen Probleme der W i e d e r g a b e und der A u f f ü h r u n g s p r a x i s .

2. EMPFINDUNG

47

liegenden Gefühlsausdruck gestaltend durchdringt, haben zur Folge, daß bei miteinander vergleichbaren Musikstücken verschiedener Meister ein sehr ab= weichender Ausdruck widergespiegelt wird. Es lassen sich in den Werken man= eher Komponisten oft einander ähnliche Wendungen antreffen. Dennoch ist der Gefühlsgehalt solcher Stellen ganz verschieden empfunden worden, und den Nachschaffenden und Nachempfindenden bietet sich der Reiz des Ver= suches, die Rangordnung einer ehemaligen Gefühlsfolge aufs neue zum Er= lebnis werden zu lassen. Hierbei zeigt sich, daß auch der Empfindungswert solcher vergleichbarer Melodiezüge durchaus verschieden ist.

JMifearti

Beispiel 4 a Mozart: „Komm lieber Mai"

Beispiel 4 b Meistersinger 2. Akt, 3. Szene

Mit der Suche nach dem jeweils individuellen Gefühlsausdruck kommt man hier nicht weiter. Es ist eben der Gefühlskreis immer wieder ein verschiedener, ein aus anderen Gefühlsfolgen hergeleiteter, und ebenso zieht der musikalische Gedanke, der dem Gefühlsausdruck verschwistert ist, seine eigene Bahn. Auch die Betrachtung formaler Gesetze sagt nichts über die Gefühlskonstellation aus. Andere Beispiele hingegen lassen sich finden, in denen die Schöpfungen durchaus verschiedener Meister etwas ganz und gar Ähnliches bedeuten. Das trifft ein, sobald einfache Elementargefühle zugrunde liegen. Hierüber wird noch in einem anderen Zusammenhang zu sprechen sein.

GEMÜT UND TEMPERAMENT. Zunächst reihen sich die Elementargefühle einem seelischen Lebensbezirk ein, welchen wir Gemüt nennen. Hier ist sogleich ein wichtiger Unterschied zu machen: die einfachen und deutlichen Elementar* gefühle, die einen verhältnismäßig geringen Bestandteil im Gemütsleben bilden, weichen ab in ihrer Bedeutung von den anderen und zahlreicheren, die von körperhaften Empfindungen durchzogen sind und immer undeutlich bleiben. Beiden ist zwar gemeinsam, daß sie gleichsam die Vorform für ästhetische

48

I. KLANGDIMENSION

Auffassungen und Anschauungen bilden; denn jede Art von ästhetischem Be= wußtsein liegt, nach einem Worte Kants, „im Gemüte bereit" 52 . Aber die ver= worrenen und undeutlichen Elementargefühle behalten Merkmale ihrer Sinnes= herkunft bei, ihnen mangelt jede intentionale Eigenschaft. So konnte Goethe mit Recht das Gemüt als ein dem Scharfsinn entgegengesetztes Wesen bezeich= nen 53 . Wegen dieser Sinnesgebundenheit und meist nicht=elementaren Vielfalt bleiben die Gemütsreflexe individuell gebunden, sind also musikalisch nicht allgemeinverständlich. Eine stimmungsartige Gemütsverfassung, welche im Einzelmenschen entsteht und verschwindet, findet von sich aus keinen An= Schluß an die geistige Gefühlswelt und bleibt, im Gegensatz zur intentionalen Gefühlsregung, nur eine Art „Untererregung der jeweiligen Gefühlslage" 54 . Musik mit ausgesprochenem Gemütsausdruck enthält also weniger Ge= fühle als „Gefühlsspuren" 55 . Die undeutliche Erregung des Gefühls hält Ver= bindung mit dem Gegenständlichen, findet aus diesem Grunde nur eine in= dividuelle Resonanz und setzt sich aus Spuren verschiedener Anregungsur= sachen zusammen. Die musikalische Gemütsstimmung beweist wie jede an= dere immer ihre Abhängigkeit von Umweltverhältnissen. Die seelische Beteiii* gung ist zwar anhaltend, aber flackernd und unstet, ihr kommt keine ästhe= tische Allgemeinbedeutung zu. Die Spuren des Gefühlsausdruckes sind zu flach, um über jähe Umschwünge und individuelle Unmotiviertheiten erhaben zu sein oder aus diesen einen künstlerisch nachhaltigen Eindruck erstehenzulassen. Dennoch reihen zwei Möglichkeiten die Gemütsbewegungen in den Kreis der panhumanen Ästhetik ein. Einmal ist der Anschluß einer musikalischen Gemüts= Stimmung an ein bedeutendes musikalisches Gefühl keineswegs ausgeschlos= sen. Es hängt vom Gestaltungswillen und von der Gestaltungsgabe des Kom= ponisten ab, ob eine Gemütsstimmung in eine reines, verfeinertes ästhetisches Gefühl hinübergeleitet wird. Zum Beispiel ruft Weber im „Freischütz" bei der Vertonung der Wolfsschluchtszene die Stimmung des Schaurigen und Gruse= ligen hervor, zugleich aber gelingt ihm ein weitzügiger Gestaltungsausdruck, der den flüchtigen Stimmungsrausch hineinhebt in das Gefühl von etwas Menschlich=Bedeutsamem. Zum anderen gibt es gemüthafte Gefühle, denen eine elementare Verständ= lichkeit zukommt. Diese werden auch mit elementaren musikalischen Mitteln, mit gegenstandsnahen Klangerscheinungen hervorgerufen. Zu ihnen gehören Gemütsempfindungen, wie sie das Rauschen des Wassers oder das Wispern 52

zit. bei H. Schmidt: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart 1 9 2 1 ° , S. 108. ebd. 64 "subexcitement of the affective conative disposition"; McDougall: Outline of Psychology. 1 9 2 3 . 55 McDougall ebd. 53

2.

EMPFINDUNG

49

des vom Winde bewegten Laubes erwecken. Sie sind in sich selbst ruhend, deutlich, allgemein eingängig. Die meisten impressionistischen Werke verwer= ten solche einfachen Grundstimmungen. Die Musik kann in der Ausgeglichen= heit einer einzigen solchen Gemütsstimmung etwas ästhetisch Befriedigendes, ja mitunter 56 etwas künstlerisch Vollendetes erreichen. Sobald hingegen ein Komponist klanglich so formt, wie ihm innerhalb einer bestimmten Frist gerade zumute ist, da erscheint die Unberechenbarkeit und individuelle Zu= fälligkeit, mit der seine Gemütsstimmung wechselt, im Kunstwerk wieder und tritt als zufälliger Wechsel des Klangausdrucks, als individuelles Formungs= produkt, dessen statische Klangdimensionen blockweise aneinandergereiht wer= den, zutage. Es ist ja nicht nur das Idyll, sondern auch die Unruhe, nicht nur das Beharrende, sondern auch das Unvermutete in der Stimmung enthalten. Das Zumutesein eines Einzelmenschen ist immer wechselvoll und muß in musikalischer Formung zu einem Ergebnis führen, welches außerhalb des pan= humanen Verstehens liegt und, wie besonders beim Expressionismus, einer ästhetischen Vereinzelung zusteuert, welche die adäquate Einfühlung un= möglich macht. Die Gemütsschichten mit ihren Gefühlsspuren, die Gemütsfarben, die we= gen ihrer individuellen Abkunft bunt und gegenwartsgebunden in den musi= kaiischen Ausdruck eintreten, werden durch das Temperament, gleichfalls einer individuellen Anlage, weiterhin unterteilt. Das Temperament ist eine kaum veränderliche Konstante des Gemütes, eine seelische „Stimmungsbreite" 37 des Einzelwesens. Doch der Einfluß des Temperamentes macht nicht ein Ge= fühl, sondern einen Gefühlspluralismus konstant. Deshalb wirken sich inner* halb der temperamentgegebenen Stimmungsbreite mannigfache Erregbarkeiten der Individualgefühle und des Ablaufs derselben aus. Es gibt zwar stimmungsbetonte Temperamentkomplexe, die bei vielen Menschen ähnlich sind; doch diese Komplexe sind es nicht, die bei tempe= ramentbürtigen Gemütsstimmungen in der Musik vorherrschen. Vielmehr er= hält der musikalische Ausdruck eines Komponierenden, Improvisierenden oder Wiedergebenden, welcher sich dem Gewoge der Temperamentslagen überläßt, eine durchaus individuelle und dimensionierte Form. Der temperamentoffene Musikausdruck ist ein architektonischer, ein wägbarer, ein aus Einzelstim= mungen zusammengebauter, eine höchst subjektive ästhetische Erscheinung. Über die Klüfte des Verstehens, die sich bei Äußerungen solcher musikalischer Temperamentseingebungen auftun, führen keine allgemein gangbaren Brücken hinüber, weil das Gefühl hier weder in einer elementaren Empfindung verharrt 66 67

4

vgl. Musikbeispiel Nr. 42. Ernst Schneider: Psychologie der Person. Stuttgart 1 9 4 7 , S. 1 7 5 .

Música Panhumana

I. KLANGDIMENSION



noch durch geistige Zusammenhänge die unebenen Reibungen aufhebt und entindividualisiert. Was nun an seelischen Erlebnissen in größerer Unabhängigkeit von Gemüt und Temperament, außerhalb von Gefühlsgraden und »stufen sich im Musik« hörer abspielt, das ist eine besondere Belebung von Empfindungen dergestalt, daß diese Belebung durch geistige Eigenschaften gefördert und wachgehalten wird. Es sind ganz bestimmte geistige Eigenschaften, die hierbei eine Rolle spielen, solche nämlich, die eine Empfindung in die Wirklichkeit der sicheren Vorstellung heraufholen und sie darin bewahren. Von ihnen ist die für das musikalische Erlebnis wichtigste die Erinnerung: sie befindet sich gleichsam in der Schwebe zwischen intuitivem und rationalem Denkvermögen. Sie schlägt die Brücke über das bunte Gewoge der Gefühlsfarben zu einer panhumanen Musikempfänglichkeit hinüber.

3. E R I N N E R U N G BEWUSSTSEIN, AUFMERKSAMKEIT UND WILLE. Das klangungebundene, den Klang nur als Mittel, nicht als Eigenziel aufnehmende Musikverstehen ver= dankt sein Dasein einer Abstimmung der Gedanken», Empfindungs= und Gefühlszonen untereinander. Wird der Denkvorgang allein rational gelenkt, so kommt eine solche Abstimmung nicht zustande. Wie notwendig sie jedoch für eine umfassende Ästhetik der Musik ist, sprechen schon die alten Theo= retiker aus, indem sie deutlicher als die neuzeitlichen darauf hinweisen, daß die sinnvollen Vorgänge in der Musik nur „dem zusammenschauenden Geiste verständlich"58 werden. Bei Augustinus, dessen Musikanschauung wir kennen, ist von der „Sehkraft der Seele"59 die Rede als von einer inneren Fähigkeit, welcher außer der seelischen Gaben insbesondere auch Erinnerungskräfte inne= wohnen. Dieses Zusammengehen von geistigen und seelischen Kräften bringt dank der Einwirkung des Gedächtnisses die „innere Gesamtschau des Geistes" 60 zustande.

Das Bewußtsein, das bei der Musik tätig ist, beschränkt sich also keines^ wegs auf Verstandeskräfte. Jede ästhetische Bewußtheit ist eine differenzierte und vielschichtige; in ihr wirken Bewußtsein, Aufmerksamkeit, Wille und Erinnerungsvermögen zusammen. Sie fördert musikalische Ergebnisse aus der reinen Gefühlssphäre in die geistige Wahrnehmungssphäre hinein. Auch die 58 59 60

" s o l o mentis contuitu vix comprehensible"; Eriugena: D e div. nat. 965. "acies a n i m i " ; D e summa Trinitate X I 8. "in conspectu mentis"; ebd. X I V 6.

3.

ERINNERUNG

51

unbewußten Vorgänge sind also im ästhetischen Bewußtsein mit enthalten. Der zusammenschauende Geist verfügt über mehr als Logik, er beherrscht auch das Gefühl, um es in seine ästhetischen Erlebnisse einströmen zu lassen. Es gibt deshalb einen eigentümlichen Grenzbezirk, welcher verschieden groß ist, über den das Gefühl aus dem Unbewußten hinweg ins Licht des Bewußtseins rückt. Eine genaue Grenze läßt sich nicht ziehen. Sicher ist nur, daß zwischen „unbemerkten Empfindungen" 61 , die noch nicht zum Gegenstand der inneren Wahrnehmung geworden sind, und den immer bekannten und bewußten Empfindungen, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet, zu unter* scheiden ist. Weil dieser Grenzbezirk mit zur Wahrnehmung hinzugehört, spielen gerade in der Musik jene unbemerkten Empfindungen eine höchst wichtige Rolle. Sie sind es, die durch das intentionale Hören immer wieder aufs neue und auf neu zu erlebende Weise in den ästhetischen Gewinn hereinge= sammelt werden. Sie erfüllen und bereichern das musikalische Auffassen und machen es gegenwartsfrei. Den von den Gefühlen unabhängigen Bewußtseinsbereich nennen wir den logischen. Er ist nicht eigentlich produktiv, er „beleuchtet nur wie der Mond" 62 . Er stellt das von der Phantasie geschaffene nach Gesetzen der Richtigkeit dar; die anderen, nichtrationalen Gesetze finden in ihm keinen Platz. Zum logischen Denken gehört das musikalische Formdenken, welches in ästhetische Dua= lismen einmündet und sich in ihnen fortbewegt. Dieses Denken wird charak= terisiert durch die Vorstellung einer elementaren Ordnung, wie sie sich im Reiche der Zahlen widerspiegelt und wie sie von daher wiederum in die Musik eintritt. Das mehr als logische, das intentionale Verstehen hingegen beansprucht viel weitere und ausgedehntere Bewußtseinsbezirke. Das Hereinwehen ent» fernter und noch so leiser Gefühlsvorgänge und =bewegtheiten erwirkt gerade» zu eine Bewußtseinsausweitung. Auch die unbemerkten und nur undeutlich gefühlten Empfindungen streben in den Bewußtseinsbereich mit hinein. Sie alle schaffen hier eine fließende Verbindung zwischen dem Unbewußten und dem Begrifflich=Klaren. Während dem nur logischen Musikverstehen mit seiner dualistischen Ästhetik eine dimensionierte Begriffswelt zur Verfügung steht, dringt das alogische Verstehen in die unräumliche Vorstellungswelt der Bezogenheiten und Bewegtheiten ein. Innerhalb des Stroms der Gefühle, die sich beim Musikauffassen umwan= dein in Vorstellungen und Begriffe, vollbringt das logische Bewußtsein vor allem die Leistung der Auswahl. Die Freiheit der Wahl gestattet es dem 61 62

4"

Theodor L i p p s : Leitfaden der Psychologie. Leipzig 1 9 0 9 3 , S. 83: Friedrich Hebbel: Tagebuch; zit. b. E. Schneider a.a.O. S . 36.

I. KLANGDIMENSION

52

Bewußtsein, nachdem es das Kontinuierliche der Gefühlseindrücke zum Still= stand gebracht hat, beim Auffassen ein und desselben Musikstückes immer neue Varianten in den Vordergrund zu rücken. Bereits das einmalige Auf= nehmen einer Musik, das Angehörthaben ist kein stehenbleibendes Ergebnis gleich dem einer Rechenaufgabe. Vielmehr bildet sich die erste Moment= empfindung um oder kann sich umbilden in eine reichere Empfindungsgesamt= heit. A n dieser Umbildung hat das Bewußtsein seinen Teil. Eine solche Steuerung des intentionalen Strömens der Gefühle, die an die untere Schwelle der Bewußtheit noch hinabreicht, nennen wir Aufmerksamkeit. Mit ihrer Hilfe werden Gestaltvorgänge in der Musik von dem Hörer ständig neu erschlossen. Dabei ist die Aufmerksamkeit in zwei Richtungen tätig. In einer gegenwartsgebundenen, welche sich auf den Momenteindruck richtet, und in einer gegenwartsfreien, welche eine Mehrheit von Eindrücken zu er= fassen weiß. Die letzte, die man zum Unterschied von der Gegenwartsauf= merksamkeit auch die vergegenwärtigende nennt, wurde mit ihrer zusammen= fassenden Eigenschaft schon erstaunlich früh in der Musikästhetik erkannt. Bereits Aristoxenos, der sich neben den logisch=konstruktiven und statischen Zusammenhängen in der Musik auch den nichtJogischen und nicht=statischen zugewandt hat, nennt die Aufmerksamkeit die „erste Grundbedingung" beim Hören und betont dabei, daß sie außer beim Einzelklang auch bei der „Musik insgesamt" 83 zur Wirkung komme. Nicht minder beachtenswert spricht Au= gustinus über das erst heute uns wieder klar werdende Ganzheits=Hören: dank der besonderen Fähigkeit im musikalischen Aufmerken kann jeder „alles und stets das Ganze" 64 hören. Die vergegenwärtigende Aufmerksamkeit ist es, die an der Bewußtseins» ausweitung des Musikhörenden teilhat. Dieser vermag dann mehr als die frontale Selbständigkeit der Formteile, nämlich die Nichtselbständigkeit aller Einzelformen zu erfassen und zu empfinden. Ein solches ganzheitschaffendes Aufmerken fällt dem Ohre leichter als dem Auge, denn die Fähigkeit dazu ist im Gehöre stärker ausgebildet. Jedoch unser heutiges Ohr ist darin nicht sehr geübt. Es hat sich sehr dem Objektgriff des Auges angepaßt. Zu dem Zusammenhören von dem, was im Augenblick erklingt, mit dem, was bereits erklungen ist, kommt das Vorausahnen dessen, was noch er= klingen wird, als dritte Komponente. Dieses Erwarten und Behalten als Angelegenheit der vergegenwärtigenden Aufmerksamkeit trifft mit der wahrnehmenden Gegenwartsaufmerksamkeit zusammen. Das Früher und das Später verschmelzen in der Aufmerksamkeit des musikalischen Hörens. Sie 63 64

zit. bei R. W e s t p h a l : Aristoxenos von Tarent. Leipzig 1 8 8 5 / 9 3 , I 4 4 1 . " t o t u m audit unus . . . et quotquot venerint totum a u d i u n t " ; Sermones 28,4.

3 . ERINNERUNG

53

heben mit ihren intentionalen, keineswegs logisdien Voraus* und Rückbezogen= heiten die Selbständigkeit des Einzelklanges auf. Die Lenkung der Aufmerksamkeit vom Bewußtsein her geschieht durch den Willen. Denn es muß die Absicht, die Neigung oder der Wunsch vorhan= den sein, die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten. Der Wille geht über die bloß triebartige Einstellung zum Musikerlebnis hinaus und aktiviert die Auf= merksamkeit im ästhetischen Sinne. Ohne die Kraft des Bewußtseins bleibt das Wollen ein Wünschen, untergeordnet unter Stimmung und Temperament. So nimmt der Wille auch beim Musikauffassen eine „Mittelstellung"85 zwi= sehen den Gefühlen und den Gedanken ein, ja bleibt noch dem Gefühl so nahe angehörig, daß er nicht allein dem Bewußtsein sondern auch dem Unter= bewußtsein mit untersteht.

D A S MUSIKALISCHE ERINNERN. Die unbewußten Gedanken und Gefühle wurden wegen ihrer besonderen Bedeutung für das intentionale Musikver= stehen bereits erwähnt. Sie gehören nicht einem eigenen und abgrenzbaren Organe des Menschen an; denn völlig Unbewußtes gibt es nicht in unserer Seele66. Vielmehr bilden sie den Teil des Bewußtseins, welcher von der Auf= merksamkeit und vom Willen nicht immer direkt durchdrungen und mit Beschlag belegt werden kann.

Musikalische Eindrücke haften zunächst mehr oder weniger deutlich im Bewußtsein. Sie sinken gleich oder allmählich in den unbewußten Bezirk hinunter. Aus diesem Unterbezirk, dem Unterbewußtsein, können sie, sobald wir uns auf sie besinnen, wieder heraufgeholt werden. Audi das, was wir ver= gessen nennen, ruht und bleibt im Unterbewußtsein. Aus der Gewißheit der Verbindungsbeziehungen zwischen dem bewußten und dem unbewußten Denken, was für die Musikästhetik gleichbedeutend mit bewußtem und unbewußtem Hören ist, leitet sich ein weiteres Haupt= merkmal des intentionalen Musikverstehens her. Weil nämlich die Aufmerk= samkeit des Hörens eine andere ist als die des Sehens, fließen beim Hören in besonderem Maße die Kräfte der Erinnerung, welche der unbewußten Seelen= tätigkeit entstammen, in diejenigen der Gegenwartswahrnehmung hinein. Die zeitungebundene Hörvorstellung und der momentane Hörbefund ergeben somit eine Einheit, welche mehr oder weniger intentional ausgerichtet ist. 65

Hans Driesch: Grundprobleme der Psychologie. Leipzig 1 9 2 9 2 , S. 3 1 . Heinz Zimmermann nennt deshalb das Unterbewußtsein einen „ G r e n z b e g r i f f " (Die Überwindung der Leib-Seele-Theorie. Neue dt. Forschgn. A b t . Phil., Bd. 2 1 ; 1 9 3 7 , S. 40). 66

I. KLANGDIMENSION

54

Die Hörvorstellung, die aus dem Zusammenwirken von aufmerkenden und empfindenden Kräften entsteht, wird durch die Erinnerung, die sich aus un= bewußten Kräften speist, maßgeblich bestimmt. Die Erinnerung „geht vom Bewußten zum Unbewußten hin und her" 67 . Mehr dem Unbewußten zuge= wandt ist der Vorgang, bei dem wir etwas behalten, mehr dem Bewußten, wenn wir uns etwas merken. Das Merken ist ein absichtsvoller Verstandes» V o r g a n g , bei dem der Wille sowohl verbinden als auch trennen kann. Das Behalten hingegen ist ein vom Willen nicht gelenkter seelischer Vorgang, welcher einen Eindruck als etwas Ganzes aufnimmt und wieder aufleben läßt68. Durch dieses Erfassen eines Eindruckes ohne Rücksicht auf alle Einzelheiten wird die Erinnerung zu etwas Produktivem. Sie ist keineswegs bloß reproduk= tiv, sachlich wiedergebend, etwa einem Filmstreifen vergleichbar. Vielmehr stellt sie eine persönliche Leistung dar, welche in zielender Weise einen ästhetischen Erlebnisbesitz formt. Alle Ereignisse, und diejenigen künstle» rischer Art besonders, machen deshalb einen „Aspektwandel" 69 durch: sie verändern sich je in dem Maße, wie sie auf ihrem Gang durch das Gedächtnis an dem Personwert des betreffenden Menschen Anteil gewinnen. So tief auch viele Gedächtniseindrücke im Unbewußten ruhen, so wenig auch solche unbewußten Vorstellungen, solche „vom Gedächtnis verborgenen Erkenntnisse"™, wie Leibniz sie nennt, in der momentanen Gegenwart zur Wirkung kommen, so dicht ist doch das Gewebe, welches verschiedenzeitliche Bewußtheitszustände ihrem Werte und ihrer Bedeutung nach miteinander verbindet. Gerade diejenigen Vorstellungen, die einer verschiedenen Zeitlage oder Zeitstufe angehören, sind ja in der Übergegensatzlehre Leibnizens zu innerer Deckung gebracht. Der Gegenwartseindruck, „erfüllt mit Zukunft und beladen mit Vergangenheit" 71 , hält, zwar nicht nach meßbaren aber nach wertenden Grundsätzen, Verbindung mit einer ausgedehnten Erlebnissphäre, welcher er sich kontinuierlich einordnet. Bei dieser Einordnung können Un= ähnlichkeiten und Veränderungen in einzelnen das Bild des Ganzen nicht gefährden. Daher ist es in der Musik möglich, eine Melodie auch mit großen Ver= änderungen wiederzuerkennen. Sofern der melodische Grundbestand vor= handen bleibt, stören veränderte Einzelheiten, ja behindert eine weitgehend abgewandelte Erscheinungsform den Gesamteindruck keineswegs. Im Gegen= 67

Henri Bergson: Die seelische Energie (übers, a. d. Franz.). Jena 1 9 2 8 , S. 1 1 5 . vgl. Konrad Zeller: Bildungslehre. Zürich 1 9 4 8 , S. 58 f. 69 " . . . changent d'aspect en cheminant le long du passé"; Eugène Minkowski: Le problème du temps vécu (Recherches phil. V ) . Paris 1 9 3 5 / 3 6 , S. 70. 70 zit. bei Ilse Döhl: Leibniz als Entdecker des Unbewußten (3. Beih. z. Z e n tralbl. f. Psychotherapie). Leipzig 1 9 4 1 , S. 10. 71 Leibniz; zit. ebd. S. 20. 68

3.

ERINNERUNG

55

teil, die musikalische Erinnerungsfähigkeit des Hörers wird dadurch besonders angeregt. Die Klangerscheinung des musikalischen Gedankens, die Abfolge und Ausgestaltung der dem Hörer vorgetragenen Idee, kurz der „Themen* prozeß" 72 wird in der Erinnerung als etwas Einheitliches wahrgenommen, trotz einer in den Einzelheiten sehr verschiedenen Darstellung. Dies bedarf eines kurzen Eingehens; denn gerade das thematische Fort= schreitungsprinzip in der Musik offenbart das Hineinspielen unbewußter Zu= sammenhänge in das gegenwärtige und bewußte Klangerlebnis. Statt iden= tischer Notenbilder, die das Auge als zusammenhängend erkennt, gibt es melodische Strukturen, die nicht notenmäßig identisch sind und dennoch das Ohr von ihrer inhaltlichen Gleichgerichtetheit, von ihrer „Strukturkonsistenz"" überzeugen. Auch auf dem Papier lassen sich solche Konsistenzen, solche Gleichheiten bei äußerer Ungleichheit entdecken. Doch hier täuscht das Auge den Hörer. Wo der Blick, der die „kalkulierte Form" 74 aufsucht, nicht oder nur mühsam musikalische Zusammenhänge erkennt, nimmt das Ohr innerste musikalische Übereinstimmungen wahr. Solche Übereinstimmungen können sich über ver* schiedene Sätze eines Musikstückes ausdehnen. Es sei hier ein Beispiel Retis7D zitiert, welches zwei Themen aus dem B=Dur=Quartett op. 1 3 0 von Beethoven, nämlich das Anfangsthema des 3. Satzes

und das bereits vorhei; erklungene Thema aus der Einleitung zum 1 . Satz,

Beispiel 5 b

einander gegenüberstellt. Die Erinnerung, welche zwar unbewußt aber real und mit zwingender Wirksamkeit vorgeht, verbindet hier für den Hörer musikalische Ereignisse, die, obwohl sie zeitlich weit auseinanderliegen, wegen 72 73 74 75

Rudolf ebd. S. ebd. S. ebd. S.

Reti: T h e thematic process in music. N e w Y o r k 1 9 5 2 . 193. 234. 235.

56

I. KLANGDIMENSION

ihrer Konsistenz einen geschlossenen Eindruck zurücklassen (s. Anm. 4). Die musikalische Erinnerung enthüllt hier ihre doppelte Eigenart, nicht allein Ein= drücke zu verwandeln, sondern auch neue Aspekte eines erklungenen Themas mit dem Gehörten in Beziehung zu bringen. Das eigentümlich Musikalische und nur der Musik so restlos Gelingende an diesem Erinnerungsvorgang liegt darin, daß er sich nicht logisch vollzieht, also auch nicht nach logischen Gesetzen erfaßbar ist. Diese Art des Erinnerns ist intentional, nicht rational. Wird in einer konstruktiven Form ein rational erkennbares Gesetz übertreten, so zeigt sich das an Fehlern, welche sich auch rational im einzelnen nachweisen lassen. Wird in einem übergegensätzlichen Gefüge ein intentional auffaßbares Gesetz verletzt, so treten ästhetische Män= gel auf, welche, da sie den Ganzheitseindruck zerstören, sich nur an Hand der Zusammenhangskonsistenz nachweisen lassen. Dieser nichtrationale Nachweis war dem Mittelalter etwas durchaus Vertrautes. M a n war stets bereit, neben den rationalen auch die irrationalen Klänge und Klangverbindungen anzuer= kennen. Diese „irrationabiles sonos", die im Unterbewußtsein erlebt werden, schreibt bereits Hucbald der ästhetischen Erinnerung zu, einer Erinnerung, deren Verbindung mit den Urteilskräften sich „durch Übung und Scharfblick"" 5 verfeinern lasse. Im Altertum war es Aristoxenos, der in der Koppelung von gegenwarts= gebundenem und gegenwartsfreiem, oder, wie wir sagen, vergegenwärtigen* dem Hören, von Wahrnehmung und Gedächtnis ein musikästhetisches Funda= mentalgesetz sah 77 . Später bekräftigt Isidor von Sevilla in einem Musik= traktat 78 die eigentümliche musikalische Leistung des Erinnerns: „Der sinnlich wahrnehmbare Ton entflieht in die Vergangenheit, bleibt aber dem Gedächtnis eingeprägt". Das Zusammen von Fliehen und Bleiben, das Verschmelzen der wahrgenommenen und der erinnerten Eindrücke führte schon früh zu einer irrationalen A u f f a s s u n g von der Musik, die mit ihrer Bewertung und Einbe= Ziehung unbewußter Erlebnisvorgänge eine gesicherte ästhetische Einstellung schuf, die jedoch in der Neuzeit nicht wieder aufgetaucht ist (s. Anm. 5). Will man diese ehemalige Musikauffassung verstehen, so muß man sich darüber klar werden, daß die Erinnerungskräfte tatsächlich auf ästhetische Weise wirksam werden, und daß sie im übergegensätzlichen Musikverstehen eine keineswegs rationale Bedeutung haben. D a s musikalische Erinnern ist 76 Hucbald: Harmonica institutio; um 910: ". . . ita his subintellecto dedicant soni, etiam et ipsos interdum irrationabiles sonos horum diiudicat exercitata sagacitas" (Gerbert: Scriptores I 108). 77 vgl. Westphal a.a.O. I 20. 18 um 600; Gerbert: Scriptores I 20.

3.

ERINNERUNG

57

zunächst das Bewußtsein von etwas soeben Wahrgenommenem™. Nach dem Verklingen der wahrgenommenen Eindrücke tritt das Gedächtnis in Tätigkeit. Gedächtnis nennen wir die Fähigkeit, sich an etwas zu erinnern. Durch das Gedächtnis ist dem Musikhörer die Möglichkeit gegeben, einesteils sich an melodische Einzelheiten zu erinnern, anderseits mit einer erinnernden Ver= gegenwärtigung das Große und Ganze eines Musikwerkes, worin die Einzel= heiten eintauchen, vor die innere Vorstellung zu bringen. Die einzelnen Töne einer Melodie oder eines Klanges, die akustisch ent= fliehen und verschwinden, sind nicht spurlos vorbei. Es geschieht mit ihnen etwas Seltsames. Sie bleiben nicht so, wie sie im Gegenwartsmoment sinnlich wahrgenommen wurden, sondern sie werden von der Erinnerung umgewan= delt. Es treten alle Töne mit Hilfe der Erinnerung in eine neue Zeitregion ein, sie werden gleichsam „zeitlich zurückgeschoben"80. Die erste Ton= und Klang* empfindung wird im Bewußtsein „modifiziert" 81 . Aus der physikalischen Klangdimension wird eine unphysikalische, aus der zeitlich meßbaren eine zeitlich nicht meßbare. Dank dieser neuen, durch die Erinnerung gegebenen Zeitbestimmtheit wird überhaupt der Begriff Melodie erst möglich. Wenn also die Töne der Melodie akustisch nacheinander verklingen, bleibt doch in uns das Vermögen, die Gestalt der Melodie als Gesamteindruck zu behalten und wiederzufinden. Die Melodietöne vereinigen sich im bewußten und unbewußten Erinnern zu dem, was sie sein sollen: zu einer sinnvollen musikalischen Gestalt 82 . Das sinnvolle, erinnernde Wiederfinden der Melodietöne ist ein Akt der Gegen= wart; doch nicht die Töne sind dabei Gegenwart, sondern die Melodieganzheit. Der Hörer hat die Melodie dann nicht als Klang, sondern als Erlebnis, sie ist nicht gegenwärtig, sondern vergegenwärtigt. Das Wiederfinden ist ein Wiedererinnern. Das vergegenwärtigende Wie= dererinnern unterscheidet sich vom bloßen Erinnern dadurch, daß es in sich zugleich ein Erinnern und ein Erwarten enthält 83 . So besitzt auch die musi= kaiische Wiedererinnerung sowohl ein Voraushören wie auch ein Zurückhören. Man kann sie zwar trotz ihrer zeitungebundenen Realität assoziativ=psycholo= gisch erklären; aber solche phänomenologischen Ansätze treffen nur einen Teil der musikalischen Auffassung. Der Vorgang des musikalischen Wiederer= innerns wird nämlich nicht durch Assoziationen von Einzelphänomenen be= 7 9 Husserl nennt das Erinnern, welches mit dem Jetzt noch zusammenhängt, das „primäre Erinnern". Vorlesungen 399. 8 0 ebd. S. 374. 8 1 ebd., der Terminus stammt von Brentano. 8 2 Der Gestaltbegriff wird noch im einzelnen erläutert, s. u, S. 217 und 288. 8 3 vgl. Husserl: Vorlesungen 397.

58

I. KLANGDIMENSION

stimmt, sondern er ist ein übergegensätzliches Wahrnehmungserlebnis. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die Musik als ein außerhalb rationaler Logik stehendes Ereignis, „immer taucht die Helle ihrer Gegenwart unter in die Dunkelheit der Vergangenheit und Zukunft, in das Ungewisse unseres Zurückdenkens und Erwartens" 84 . Das Zugleich verschiedener Erinnerungs» Vorgänge läßt das musikalische Ereignis entweder als konstruktiv oder als transparent erscheinen, d. h. es wird entweder auf phänomenologische oder auf intentionale Weise gedeutet. Davon wird noch genauer die Rede sein. Das Erwarten in der Musik, das Erlauschen des Kommenden ist bedingt von Erinnerung und Gegenwart. Aber auch Erinnerung und Gegenwart werden beeinflußt durch die Erwartung. Also je nachdem, wie und was der Hörer erwartet, kommt ihm etwas anderes zu Gehör und ins Bewußtsein. Doch nicht allein die individuelle Einstellung und das individuelle Zumutesein des Hörers spielt hierbei eine Rolle, vielmehr bestätigt sich das Zusammenspiel von Wahr» nehmung und Gedächtnis, der Charakter des „zeitlich Zurückgeschobenseins" 85 in den melodischen und klanglichen Vorgängen, als etwas überindividuell Gegebenes. Es ist gegründet im ästhetischen Zeitgefühl. Diese Veranlagung des Einzelnen, seine in der Erinnerung liegenden Fähigkeiten des Voraus= hörens und Zurückhörens zu aktivieren, ist freilich verschieden. Grundsätzlich jedoch sind sie immer vorhanden. Die Möglichkeit, Musik in konstruktiver wie auch in transparenter Weise zu verstehen und zu erleben und die ver= borgen liegenden Beziehungen zwischen dem zeitungebundenen Voraus* und Zurückhören, zwischen dem musikalischen Noch und Schon ästhetisch aufzu= fassen, ist durchaus eine panhumane. Die sinnliche Klangdimension, die beim Gegenwartseindruck entsteht, verwandelt sich durch die Erinnerung in eine unsinnliche und zeitungebundene. Aus dem dimensionalen Hören mit seiner statischen Anlehnung an die phäno= menale und formale Klangfolge entsteht das nicht=meßbare und nicht=statische Hören. Indem verklungene Töne innerlich weitergehört, kommende geahnt und diese mit jenen in Beziehung gesetzt werden, hat der Hörer das Erlebnis eines selbst weitentfernte Teile erfassenden ästhetischen Gesamteindrucks. Das Gedächtnis, das dieses Erlebnis ermöglicht, heißt deshalb mit Recht „ganzheitstiftend" 86 . Es eint alle geistigen, nicht allein die V e r s t a n d e s * und willensgelenkten, sondern auch und hier in besonderem Maße die aus dem Gefühlsbereich hervorquellenden Fähigkeiten. Überdies spielen noch lebens= gesetzliche Zusammenhänge, also Grundcharaktere des organischen Lebens, mit hinein. 84 85

86

Brelet: T e m p s musical I 2 3 6 . s. o. S. 57. H a n s Driesch: Wirklichkeitslehre. Leipzig 1 9 3 0 ® , S. 1 6 1 .

3.

ERINNERUNG

59

Augustinus charakterisiert die inneren Verbindungen von Gedächtnis, Einsicht und Wille treffend als ein „lebens= und geistbezogenes Einssein" 87 . Hier ist das Hinzutreten von Werten des organischen Lebens klar ausge» sprechen. Ähnliches begegnet uns bei Meister Eckhart, welcher feststellt, „daß das Verstehen ein Bestandteil von dem Leben der Seele sei, nämlich ver= nünftiges Leben; . . . in diesem Leben sind alle Dinge eins und alle Dinge zusammen . . ." 88 . Dieses Hineinwirken des Lebensbezuges und die dadurch entstehenden Ganzheit wird noch in einem anderen Zusammenhang deutlicher werden. Nun ist aber nicht zu übersehen, daß gewisse Eigentümlichkeiten des musikalischen Erinnerns mehr den Sinnesfähigkeiten als dem Verstände zuge= wandt sind. Da diese den musikalischen Eindruck, der im Bewußtsein entsteht, wesentlich mitbestimmen, seien deren formende Eigenschaften hier wenig» stens gestreift.

ANSCHAULICHKEIT DER KLANGVORSTELLUNG. Die Vielzahl von Empfindung gen, die in der sinnlichen Klangdimension zustande kommt und von derWahr= nehmung zusammengefaßt werden, bilden einen bewußten und bemerkten Vorgang. Gesellt sich die Aufmerksamkeit, die das Wichtige und Besondere hervorhebt, hinzu, so entsteht eine musikalische Vorstellung, in welcher sich Sinnliches und Bewußtes seltsam mischen.

Obwohl aus dem Nicht=mehr=Sein der momentanen sinnlichen Wahrneh* mung ein erinnerbares Doch=noch=Sein in der Vorstellung wird, bleibt eine bildhafte innere Anschaulichkeit erhalten. In der Vorstellung vereinigen sich somit sinnliche und gedankliche Eindrücke, also Anschaulichkeit und Begriff= lichkeit. Anschaulichkeit ist nicht gleichbedeutend mit Bildhaftigkeit, sondern durchmißt alle Bezirke vom Unmittelbar=Bildhaften bis zum Nicht=mehr=Bild= haften, so daß in dieser letzten Anschauungsweise alle Farben und Formen, Töne und Klänge keine Übereinstimmung mit der ersten Gegenwartswahr= nehmung mehr aufweisen. In dieser Sphäre des Nicht=mehr=Übereinstimmens gehen die durch Ohr und Auge vermittelten Erlebnisse sowie Geschmacks=, Geruchs= und Tasteindrücke ineinander über. Es ist eine bekannte Erscheinung, daß bei ästhetischen Eindrücken oft nicht ein Sinn allein und dessen entsprechende Empfindungen angeregt, sondern zugleich die Empfindungen eines anderen Sinnesgebietes mit ausgelöst werden. So können es z. B. die den Klang hervorbringenden Musikinstrumente sein, 87 " M e m o r i a , intelligentia et voluntas . . . non sunt tres vitae sed una vita, nec tres mentes sed una m e n s " ; D e summa Trinitate X , n . 8S zit. bei Ernst von Bracken: Meister Eckhart und Fichte. W ü r z b u r g 1 9 4 3 , S. 5 4 7 .

6o

I. KLANGDIMENSION

deren Erinnerungsbilder mit den musikalischen Erinnerungen verschmelzen. Man denke etwa an die Posaunen und Tuben im Schlußteil von Bruckners g. Sinfonie. Es können aber auch fast unkörperhafte Bildvorstellungen beteiligt sein. Das ist z. B. der Fall, wenn ein Hörer des C=Dur=Präludiums aus dem i . Teil des Wohltemperierten Klaviers an Sakuntala erinnert wird 89 , was freilich keineswegs mit der Vorstellung Bachs übereinstimmen kann. Hingegen beschreibt Richard Wagner 00 in seinen programmatischen Erläuterungen zum Lohengrin=Vorspiel, und damit ist die Übereinstimmung mit der Ursprungs= V o r s t e l l u n g g e s i c h e r t , folgendes: dem verzückten Blicke scheint im Beginne „sich der klarste blaue Himmelsäther zu einer wundervollen . . . Erscheinung zu verdichten; in unendlich zarten Linien zeichnet sich . . . die wunderspen= dende Engelschar ab, die . . . aus lichten Höhen sich herabsenkt.. . Entzückende Düfte wallen aus ihr wie goldenes Gewölk hernieder". Farben, Linien, Düfte und Bewegung gehen hier ungeschieden in= und nebeneinander und berühren noch kaum die Schwelle des Bewußtseins. Diese letzte Art einer fast unsinnlichen Anschaulichkeit, die im Gegensatz zu Sinneseindrücken frei von Gegenwartsbegrenzung und Zeitmaß ist, trägt zu dem eigentümlichen Charakter der inneren musikalischen Vorstellung bei. Aus ihr leiten sich ganz allgemein solche Bezeichnungen wie die Höhe und die Tiefe des Tonreiches, die wiederum ebenso allgemein hell und dunkel genannt werden, her. Mitunter ist die Veranlagung zur anschaulichen Gehörvorstellung individuell besonders ausgeprägt. E. Th. A. Hoffmann 81 hat über die Durch= mischung von Farben und Tönen in seiner eigenen Klangvorstellung ausführe lieh berichtet. Er wählte Tonart und Modulation je nach der Tonartfarbe, die er für die Komposition für passend hielt. Auch bei Schubart 92 finden sich über= raschende Bekenntnisse über eine Durchdringung verschiedener Sinnenreize. Manche Klänge will er mit „einem Mädchen vergleichen, weiß gekleidet, mit einer rosaroten Schleife am Blusen", oder er empfindet, wohlgemerkt nicht dank des charakteristischen Eindrucks eines Musikwerkes, sondern lediglich aus dem unmittelbaren Klang= und Gehörseindruck heraus, einen „Triumph in der Schwierigkeit, freies Aufatmen auf überstiegenen Hügeln". Im allgemeinen aber sind die sinnvermischenden oder synästhetischen Vorstellungen nicht so deutlich; sie liegen auf dem Zwischenfelde zwischen den bewußten und den unbewußten Eindrücken. Damit erhalten sie einen Platz, welcher an logisch=bildliche Vorlagen und Gegebenheiten lediglich an= grenzt. Deshalb ist auch die Zuordnung verschiedener Sinneseindrücke zu 89 90 91 92

zit. bei M o s e r : Musikästhetik 1 2 5 . Gesammelte Schriften und Briefe. Leipzig o. J., Bd. 9 S. 59. Paul G r e f f : E. T h . A . Hoff mann als Musiker. Köln 1 9 4 8 , S. 1 0 3 f. Schubart: Ideen 3 7 8 (s. A n m . 6).

3 - ERINNERUNG

6l

ein und derselben ästhetischen Äußerung, auch wenn sie nur halb deutlich geschieht, nichts Ungewöhnliches. Wie elementar und ursprünglich diese Syn= ästhesie beim musikalischen Hören ist, beweisen u. a. die altindischen Ton= artengesetze. Sie überliefern eine Tonartenkennzeichnung nach Farben 93 : weiß, scheckig, braun, schwarz, dunkelblau, hochrot, hellgelb. Daneben sind be= kanntlich in allen Ländern klangbegleitende Sinnesempfindungen wie spitz, breit, grell, dumpf und ähnliche geläufig. Das Ineinandergehen von Anschaulichkeit und Gedanklichkeit macht die musikalische Vorstellungswelt zu einer logisch, physiologisch und physikalisch nicht erklärbaren. Dennoch ist ihre Gesetzlichkeit erstaunlich und umfassend. Für sie gilt die augustinische „acies animi", die Sehkraft der Seele, in welcher nicht allein das Gedächtnis mit seinen unbewußten Eigenschaften beherbergt ist, sondern welche diese Eigenschaften mit ihren modifizierenden Erinnerungs= V o r s t e l l u n g e n , mit allem, „was sich aus dem Gedächtnis in den Gedanken des sich Erinnernden abprägt" 94 , unmittelbar gegenwärtig macht. Hier auch vermag die mittelalterliche „visio", die Schau, die dem seelischen Erlebnis vielfachen Zustrom liefert, unsere Ästhetik zu bereichern und um die Anschaulichkeit der Klangvorstellung herum alle starren Konturen zu entfernen. So tritt zur bewußten Kombinationsfähigkeit die unbewußte, zur sinn« liehen Klangdimension die kaum noch sinnliche und die nicht mehr sinnliche. Obwohl verschiedene musikalische Ausdruckssphären erkennbar und unter» scheidbar sind, brauchen sie doch nicht unverbunden nebeneinander zu be= stehen. In der Tiefe der musikalischen Vorstellung vermögen die verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungen einander zu berühren und ins Gedächtnis einzu= gehen. „Je tiefer der Wert eines Bewußtseinsinhaltes sinkt, desto leichter ver= schwindet letzterer unter der Schwelle." 98 Das unbewußte Erinnern mit seiner Tiefe und seiner Zeitungebundenheit nennt auch solche ästhetische Bewußt= seinsinhalte sein eigen, welche einerseits an die klare Einzelwahrnehmung, anderseits an die höchst differenzierte Vielschichtigkeit eines undeutlichen Gefühlskomplexes angrenzen. Die Weite dieser inneren Vorstellungswelt lenkt nunmehr unsere Betrachtung auf solche Zusammenhänge von Denken und Fühlen im musikalischen Erlebnis, die in den elementarischen Methoden der neuzeitlichen Musiktheorien trotz ihrer sehr wesentlichen Bedeutung keine Berücksichtigung erfahren haben. 93

Erwin Felber:

Die indische M u s i k der vedischen und der klassischen Zeit

(Sitzungsber. d. kais. A k a d . d. W i s s . Bd. 1 7 0 ) . W i e n 1 9 1 2 , S. 70. 94

A u g u s t i n u s : D e summa Trinitate X I 8.

95

C a r l G u s t a v J u n g : Ü b e r psychische Energetik und das W e s e n der Träume.

Zürich 1 9 4 8 , S. 268.

62 II NOESIS 1.

ERLEBNIS

LEBENSGESETZLICHE ERFAHRUNG. Aristoteles erläutert neben den seelischen Empfindungen und den geistigen Vorstellungen die Noesis 1 , worunter er das zugleich fühlende und urteilende Erkennen, die Gabe, zusammenhängende Erlebnisse als Einheit zu erfassen, versteht. Die Noesis führt, nach seiner Lehre, auf zwei Wegen zur höchsten Einsicht2: der eine geht über das theore= tische, der andere über das praktische Erkennen. Das theoretische Erkennen bedeutet reines Erfassen, das praktische Erkennen willensgelenktes Erfassen der Wahrheit. Beide Erkennensweisen jedoch sind in der fühlend=urteilenden Noesis noch ungeschieden. In ihr ist das Würdige mit dem Richtigen, das Löbliche mit dem Notwendigen vereint, mit ihr gelangt man im ästhetischen Erlebnis zu einer „besten Haltung", die wiederum erkennbar wird im „eigentümlichen Werk" 3 , im gestalteten ästhetischen Ausdruck.

Bei Plotin findet sich dieser Gedankenkreis, insbesondere mit Berührung der ästhetischen Ergebnisse, aufs neue und noch eingehender durchdacht. Plotins noetische Erkenntnis erschaut immer „Teil und Ganzes zugleich" 4 , örtliche Trennungen und meßbare Ausdehnungen sind dabei unwichtig und sekundär. Erstrangig hingegen ist das „übergeistige Gute", welches zunächst als „der Seele Licht= und Leitspur" erscheint5, dann erst Form annimmt und dem Intellekte greifbar wird. Das schön wirkende Ganze nennt Plotin deshalb „farbreich", „leuchtend" oder „strahlend", ja er scheut vor Vergleichen mit der Welt der stabilen Dinge so sehr zurück, daß er selbst Form mit Lichthaftigkeit gleichsetzt. Nach Plotin ist lange Zeit von der Noesis nicht mehr die Rede. Unter den neueren Denkern begegnet uns dieser Begriff erst bei Husserl wieder. Er wird hier vor allem vom intentionalen Blickpunkt aus behandelt. Das intentionale Erlebnis erhält hier durch die Noesis seine sinnvolle Einbeziehung in die Lebensgesamtheit. Die Erkenntnis, die den Sinngehalt eines solchen Erlebnisses wahrnimmt, nennt Husserl eine noematische. Unter Noema wird dabei der Erlebnisgehalt und eine gewisse Fertigkeit des Gedankens verstanden. Noe= 1

sprich noesis; (gr.) noein = denken, zielend erkennen.

2

deshalb auch " d i a n o i a " ; vgl. Walter Bröcker: Aristoteles. Frankfurt 1 9 3 5 , S. 3 2 .

3

zit. bei W . Bröcker ebd.

4

zit. bei Katharina M a c h a : Geistige Schönheit bei Plotinos. Phil. Diss. Bonn 1 9 2 7 , S. 26. 5

zit. ebd. S. 3 7 u. 52.

1 . ERLEBNIS

63

matisch ist der „mehrfältige Sinn" 8 , der zwischen Erlebnissen und Gedanken den tiefsten Zusammenhang herstellt: er erfaßt in der Kontinuität des Erlebens die bleibende, auch vom Kunstwerk ausgehende menschliche Bedeutung. Es leuchtet ein, daß in der Musik die Noesis, ihrem Wesen als besondere ästhetische Veranlagung entsprechend, zu tiefgehender Wichtigkeit wird. Der Hörer, der zu noetischem Verständnis hinstrebt, nimmt den kontinuierlichen Bestand trotz „wechselnder Charakterisierungen" 7 und trotz verwehender Klangerscheinungen wahr. Die bewußten und die unbewußten Wirkungen der Musik werden durch die Noesis und in ihr in Einklang gebracht. Das inten« tionale Erlebnis wird dabei auf besondere Weise als kontinuierlich empfunden, als ein „beliebig fortgehender Wahrnehmungszusammenhang" 8 , welcher auch als solcher zu Bewußtsein kommt. Wenn die Noesis eine kontinuierliche und sinnvolle „Identitätseinheit" 9 zu erkennen vermag, so ist diese Erkenntnis keine rationale, sondern eine schauende, vergegenwärtigende, ganzheitschaffende. Das neomatische Er» kennen nimmt den „fortlaufenden einstimmigen Anschauungszusammen» hang" 1 0 wahr, und dieser ist niemals räumlich zu verstehen. Er entspringt einer unräumlichen ästhetischen Vorstellung. Deshalb sind die Beziehungs» Verhältnisse dabei nicht an den Formteilen oder überhaupt an den künstle» rischen Mitteln ablesbar. Die Möglichkeit des Menschen, etwas so zu erleben, daß sowohl gedanklich als auch gefühlsmäßig ein sinnvoller und lebensbezogener Zusammenhang zu Bewußtsein kommt, ohne daß die stabile Form als erstes Erkenntnismittel her= angezogen wird, gehört zu den Grundgesetzen des ästhetischen Verstehens. Sie ist dem Wechsel der Kultur» und Generationsunterschiede nicht unterwor» fen. Von ihr weiß Plato zu berichten, daß sie das Reich des inneren Lichtes im Menschen ausmache, etwas, das zugleich Vergangenheit und Gegenwart ist. Noesis also, nachdem sie, wie Plato sagt, empfunden hat und indem sie er= kennt, ist „Ursache des Wissens und der Wahrheit während der Erkenntnis" 1 1 , ein Denken mit Einschluß zeitgelösten Empfindens. • Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, neu hsg. v. W . Biemel. H a a g 1 9 5 0 , I 2 1 9 ; zu dieser Mehrfältigkeit gehören „Leistungen des B e ziehens, Zusammengreifens, der mannigfachen Stellungnahmen des Glaubens, V e r mutens, W e r t e n s u s w . " . 7 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie (Jb. f. Phil. u. phän. Fschg. 1 , 1 ) 1 9 1 5 , S. 1 9 7 . 8 ebd. S. 1 8 3 . 9 ebd. S. 2 7 1 . 10 11

Husserl: Ideen (Haag) a.a.O. III 85.

Julius Stenzel: D e r Begriff der Erleuchtung Berlin 1 9 2 6 , S. 2 4 7 .

bei Piaton. (Die A n t i k e Bd. 2 ) .

64

II. NOESIS

Die besondere Art dieses Erlebens und Erkennens eines inneren und schönen Zusammenhanges liefert unserer Ästhetik einen tragenden Grundstein ihres Gebäudes. Da hier an das Denken und Erkennen sich das Erlebnis als Gleich* wert anlehnt, fordert der Begriff Leben nunmehr seine Beachtung. Denn auch das, was dem Leben eigentümlich ist, durchwandert den Bereich der Noesis. Was ist dem Leben eigentümlich? Die Lebensgesetze, die wir allem Lebendigen ablauschen, sind der Noesis zugehörig und erhalten damit eine überraschende Gültigkeit auch im ästhe= tischen Bereich. Das Leben als ein seelisch bewegtes Ereignis besitzt eine „un= geteilte Kontinuität" 12 , welche auf ein Ziel hinläuft, so daß alles scheinbar Stabile und Ruhende nur aus dem Strom des Lebensganzen heraus zu ver= stehen ist. Diesen ungeteilten Strom ergänzt ein „innerer Antrieb" 1 3 , welcher die Richtung gibt und hält, welchem wir keinen Umfang anmessen können und welcher mit seiner Kontinuität nicht in den gegenständlichen und körper= liehen Dingen direkt sichtbar wird. Sinn und Wert eines zielvollen Geschehens, sei es biologischer oder ästhetischer Art, ist Darstellung einer lebensgesetz= liehen Gerichtetheit, welche zuerst Antrieb ist und deshalb und von da aus die Fülle der Form=Inhalt=Bedeutungs=Einheit erst ermöglicht. Wie erscheinen nun Unteilbarkeit, Umfanglosigkeit und Ungegenständlichkeit des Lebens und wie laufen deren Parallelen in der Musik? Leben ist ein sinnerfüllendes Kontinuum, es „heißt auf ein Ziel abgeschnellt sein, auf etwas zuwandern" 14 . Das Hinauszielen über die Gegenwart ist ein Lebensgesetz, das sich überall offenbart. In der Sinnbestrebtheit liegen zugleich Wertmöglichkeiten (s. Anm. 7) begründet. Deshalb ist das Leben etwas Un= meßbares, ein letzter Begriff, hinter den wir nicht zurückgehen können. Die unteilbare, arationale und aformale Kontinuität des Lebens, die sich ja aber jederzeit in teilbaren und stückhaften Umwelterscheinungen zeigt, gleicht einem Flusse, in den das Ufer hineinscheint und der, nach Heraklits berühm= tem Worte, immer derselbe scheint und doch nicht ist. Lebensgesetze wie Wachstum, Anpassung und Entfaltung sind Beweise dafür, daß die Erforschung des Lebens auch außerhalb rationaler und kausaler Seinsbezirke sich bewähren muß. Mit zeitlich teilender und auf Kausalität blickender Abmeßbarkeit läßt sich das Leben nicht erfassen. Schon die Ent= faltungsvorgänge des Lebens gehen weder logisch noch kausal vor sich, brin= gen es aber dennoch „zu immer höherer Wirksamkeit" 1 5 . Diese arationale und unteilbare Wirksamkeit zeigt sich auch in der Musik und stattet diese mit 12 13 14 15

Henri Bergson: Die seelische Energie (übers, a. d. Franz.). Jena 1928, S. 12. ebd. S. 18. Ortega y Gasset; zit. bei Ph. Lersch: Seele und Welt. Leipzig 1941, S. 28. Bergson a.a.O. S. 18.

1 . ERLEBNIS

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einer nicht materiellen, intentionalen Dauer aus, welche zu dem flüchtigen Klangeindruck in scheinbarem Widerspruch steht. Das, was nicht flüchtig ist und dennoch wirkt, läßt sich weder im einzelnen noch überhaupt durch Unter= suchung an der Materie, etwa experimentell, erfassen. Das Experiment versagt dem Leben wie auch der Musik gegenüber. Es er= faßt immer nur einen Ausschnitt. Musikalisch hebt das Experiment nur einen umgrenzten, kurzen Klangeindruck heraus und läßt die tiefer wirkenden Zu= sammenhänge und Antriebe notwendigerweise außer acht. Die Beweisbarkeit herausgelöster Einzelvorgänge ist ein rein physikalisches Anliegen. Akkord= Verbindungsgesetze und Vorschriften über die Abfolge einzelner Töne sind Ergebnisse physikalistischen Denkens. Sie kommen, ebenso wie das experi= mentelle Vorgehen bei Lebensvorgängen, dem Wesentlichen nicht nahe. A u s dem Widerpart der Einzelbeobachtung und der experimentellen Herauslösung, nämlich aus der Kontinuität erwächst dem Leben sein zeitloses Wirk= und Bildegesetz. Als kontinuierlich erweist sich auch die Zeitungebunden= heit seelischen Erlebens, und von hier aus bestätigt sich insbesondere die Un= getrenntheit von Seele und Geist. Ein seelisch=geistiges Erlebnis ist eine lebens= gesetzliche Ganzheit, denn der Geist, wie eine alte Einsicht sagt, „ist als ganzer lebendig" 1 8 . Klar taucht hier der Ganzheitsbegriff im Zusammenhang mit der biologischen Frage auf. Dieses seelisch=geistige Kontinuum des Lebens ist eine Eigenschaft, die nur der Mensch besitzt. Das ästhetische Kontinuum der Musik wird dem inneren Ohr gewahr als seelische Zusammenraffung des im Klang erscheinenden Ausdrucks. Beide Arten von Kontinuität, die lebensgesetzliche und die musikgesetzliche, wollen auf ihre Weise wahrgenommen sein. Sie sind allein dem „aperspektivischen Denken" 1 7 zugänglich; denn die höhere Wirksamkeit des Lebendigen ist keine physikalische Wirkung, welche sich kausal im Raum vollzieht. Sie ist unräum= lieh und darf deshalb aperspektivisch, d. h. eben nicht perspektivisch genannt werden. Auch hier ist der Vergleich mit der physikalischen Wertwelt aufschluß= reich. Die Perspektive hilft innerhalb der Ordnung von Gegenständen, sie verdeutlicht den zuständlichen Zusammenhang von Einzeldingen. Die aperspek= tivische Denkweise hingegen zielt auf die Bedeutung statt auf den Zustand eines Zusammenhanges. Sie bewährt sich auch in ganz allgemeinen Vorstel= Jungen. Wer zum Beispiel auf Jahre seines Lebens zurückschaut, dem ergibt sich keine rationale Perspektive, sondern es erscheinen ihm die erfüllten Jahre und die bedeutungswichtigen Zeitspannen länger als die unerfüllten und 18 "sicut ergo mens tota mens est, sie tota vivit"; Augustinus: De summa Trinitate X 4. 17 Gebser: Ursprung.

5

Musica P a n h u m a n a

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II.

NOESIS

bedeutungslosen. Ähnliches geschieht beim inneren Überdenken und Nach» erleben eines Musikwerkes: die werttragenden Züge gewinnen an Bedeutung, unabhängig von ihrer zeitlichen Dauer, ihrem Umfang und ihrer Anordnung. Leben und Musik sind aperspektivisch, sie sind gerichtet, zielend, nicht umkehrbar. Ihr zeitungebundenes Wachsen und Werden zeigt sich in der Eigenart ihres Seins. Bringt man die lebensgesetzlichen Parallelen zur Musik auf eine kurze Formel, so kann man sagen: „Das Sein der Musik wird be= stimmt aus den Gesetzen ihres Werdens" 18 . Diese Gerichtetheit des musikali= sehen Gesamteindrucks, dieses immerwährende Hinstreben zum Gesamtsinn wird so in engste Beziehung zum Lebensprinzip gesetzt und allen statischen und rationalen Gegenstandsbeziehungen enthoben. Das lebendige Sein läßt sich an begrenzten Dingen nachweisen, das leben= dige Werden nicht. Auch die Musikerkenntnis erschöpft sich nicht in gegen= ständlicher Betrachtungsweise (s. Anm. 8). Selbst die rein physiologischen Voraussetzungen des Musikhörens verselbständigen nicht eine kausale Auf= einanderfolge dinglicher Erscheinungen. Wie Helmholtz 19 nachwies, ist das Ohr ein hochempfindliches Organ mit registrierbegabten Teilen von unter= schiedlicher Feinheit. Doch der Physiker Helmholtz verschloß sich nicht vor der unphysikalischen Einsicht, daß diese empfindlichen Korpuskeln das Musik= hören weder ausmachen noch begründen; denn der einzelne Ton, der ja in der Regel Obertonschwingungen besitzt, kann bereits eine musikalische, also seelisch=sinnvolle Angelegenheit sein. So wird auch die Unterscheidung von Tonpsychologie und Musikpsychologie 20 in dem Augenblick zur bloßen Wort= klauberei, sobald man sich darüber einig ist, daß die formgesetzlichen und rationalen Bestandteile in der Musik nicht wichtiger sind als die lebensgesetz= liehen und irrationalen. Wenn ein Ton einem musikalischen Zusammenhang angehört, dann ist er Musik. Erweist sich der zuständliche und physiologische Befund schon beim Hören nicht als maßgeblich, so ist er es bei den vielfältigen lebensähnlichen Vorgän= gen der Musik noch weniger. Die Werdensgesetze der Musik kommen nicht immer zu logischer Bewußtheit. Sie können zum bewußten Verständnis erhoben werden, „obgleich ein solches Verständnis weder für die Erfindung noch für das Gefühl des Schönen nötig ist" 2 1 . Das Musikverstehen und Musikhören zeigt sich damit, ähnlich den Lebensvorgängen, von physiologischen Bedin= gungen zwar begrenzt, aber nicht durch sie bestimmt. 18

Rolan 10. Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Braunschweig 1 8 6 3 . 20 So bei Kurth: Musikpsychologie. 21 H. v. Helmholtz, ebd. (6. Aufl. 1 9 1 3 ) S. 589. 19

1.

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ERLEBNIS

Die Merkmale der Lebendigkeit, die man der Musik zuerkennt, sind nicht nur mit dem menschlichen Gemütsleben und Temperament allein in Ver= bindung zu bringen — was ja eine überwiegend individuelle Bindung bedeuten würde —, sondern sie bezeugen einen umfassenden, geistig=seelischen Zusam= menhang. Denn das musikalisch Schöne ist nicht etwas formal und phänomeno= logisch Begrenztes, ist kein statisches Sein. Selbst wenn einzelne Teile sich in der Vorstellung oder beim augenblicklichen Hören als strenge Form erkennen lassen, so können sie doch, Organismen gleich, ihren Lebenszusammenhang mit dem Ganzen bewahren und ihre Werdensimpulse, sofern das Musikwerk darauf angelegt ist, auf wechselnde und aperspektivische Art weiterschwin= gen lassen.

M U S I K UND KÖRPERBEWEGUNG. Das Lebendige der Musik korrespondiert mit der Lebendigkeit des Menschen, das musikalisch Natürliche mit der mensch= liehen Natur. Die Musik übt deshalb auf die körperliche Natur des Menschen einen direkten Einfluß aus. Die Lebensnähe der Musik und die Lebensfülle des Menschen treffen am sichtbarsten im Tanz zusammen. Musik und Tanz sind deshalb seit Urzeiten miteinander verschwistert: die Bewegung als eine sichtbare Veränderung verstanden. Die momentanen Körperbewegungen im Tanz zeigen sich als eine Ausdrucksweise der momentanen Anregungen, die von der sinnlich=frontalen Klangdimension der Musik ausgehen. Ein durch= gehender, Geist und Seele zugleich beschäftigender Zusammenhang ist hier also nicht von vornherein gegeben. Insbesondere die Affektgefühle, die ja die Tanzbewegungen zunächst erwecken, sind körperlich gebunden. „Die körper= liehen Vorgänge werden damit zu wesenhaften Begleiterscheinungen seelischer Vorgänge, aus denen sie unmittelbar abgelesen werden können." 22 Diese Un= mittelbarkeit gab Anlaß zu mancherlei Erkenntnissen über die direkten Aus= druckserscheinungen des Seelischen im Körperlichen 23 . Die körperliche Natur nimmt die seelischen Erregungen auf, sie steht mit der durch ästhetische Er= lebnisse beeinflußten seelischen Natur in mehr oder weniger direktem Zu= sammenhang.

Das Wort Natur, das hier auftaucht, ist demnach nicht gleichbedeutend mit dem Wort Stoff. Vielmehr muß in der Natur neben ihrer äußeren Beschaffen heit auch ihre Anlage, ihr Wandlungswille, ihre erhaltende und strebende Kraft 22

Martin Keilhacker: Regensburg 1 9 5 0 , S. 1 6 . 23

Entwicklung

und

Aufbau

der menschlichen

Gefühle.

vgl. hierzu die Arbeiten von O. R u t z und G . Becking, die allerdings nicht unwidersprochen geblieben sind und die schon deshalb einer Ü b e r p r ü f u n g bedürfen, weil die motorischen Funktionen, die teilweise v o m Körperbau zur M u s i k hinleiten, automatischer A r t sind (s. A n m . 9). 5"

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II. NOESIS

gesehen werden. Die Natur als beseelte Natur steht nicht im Gegensatz zum Geist, beide finden sich unter einem übergegensätzlichen Prinzip vereint. Das wird besonders bei der Betrachtung des Spielausdrucks in der Musik zu be= achten sein, weil dort die Klangnatur zwar im Vordergründe steht, sich aber keineswegs einer Hereinnahme in geistige Ausdruckszusammenhänge wider= setzt. Die Neigung, Natur und Geist als unverträgliche Widersacher anzusehen, ist sehr verbreitet. Sie hat bereits im spätantiken und im christlichen Denken immer mehr zugenommen und schließlich zu einer so einseitigen Auffassung des Naturbegriffes geführt, daß selbst ein spezieller Naturforscher wie Bern* hard Bavink solche Einseitigkeit als eine „Fehlentwicklung" 24 unserer geistigen Kultur bezeichnet hat. Die beseelte und belebte Natur findet durchaus ihren Übergang zum Geiste. Sie hat ihren Widerschein auch im direkten Ausdruck der Musik, sofern dieser sich nicht mit klangstofflichen Konstruktionen begnügt. Weil das seelische und lebensgesetzliche Kontinuum in der Natur seit langem keine genügende Beachtung mehr findet, neigt insbesondere der abend* ländische Mensch dazu, die Begriffe natürlich und schematisch oder auch na= türlich und übersichtlich=geordnet einander gleichzusetzen. Er beraubt sich da= durch der Möglichkeit, innerhalb der einmal hervorgebrachten und über= lieferten Kunst jenen Werken gerecht zu werden, in denen ein intentionaler Sinnausdruck als etwas Transphänomenales und dennoch Natürliches wahr= genommen werden will. Aber auch zu außereuropäischer Musik, bei welcher kein technisierter Naturbegriff anregend oder formend dahinterstand, ver* sperrt er sich den Zugang. Der europäische Mensch pflegt in der Musik das natürlich zu nennen, wofür er eine Entsprechung in der stofflichen, meßbaren und konturierten Natur vorfindet. So nimmt es nicht wunder, daß er Schön= heitswerte allerorts aus naturgegebenen Größenordnungen ableitet, ja schließ* lieh unter naturgegeben etwa das gleiche wie geometrisch versteht. In der Architektur ist die gegliederte Konturenordnung angebracht und offensichtlich. Sie kann es freilich auch in der Musik sein. Es werden z. B. in den akustischen Verhältnismaßen bei der Oktav, der Quint und der Quart Zahlen* werte entdeckt, die mit den im physikalischen Raumgitterbau der Kristalle vor= handenen übereinstimmen. Gibt man der Versuchung nach, hieraus musik= ästhetische Folgerungen zu ziehen, so wird die ordnende Zahl „als gleichbe* rechtigt" 25 dem klingenden Ton beigegeben. Man kann an Hand eines kristal* 24

Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Zürich 1 9 4 9 , S. 696. Hans Kayser: Akroasis. Die Lehre von der Harmonik der Welt. Stuttgart 1 9 4 7 , S. 1 7 ; vgl. auch Otto Kleinhammes: Die Quadratur des Kreises aus dem Geist der Musik. Wangen i. Allgäu 1949, S. 23 f.; hier werden auch sphäroidische und harmonische Dimensionsverhältnisse aufgezeigt und verglichen. 25

1 . ERLEBNIS

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lographischen Tonzahlenschemas die musikalischen Klangvorgänge unter= suchen. Jedoch die lebendige Kontinuität des musikalischen Ausdrucks ist nicht schematisch und nicht offensichtlich, sie entzieht sich dem Zahlenschema und der Meßbarkeit. Kristallkunde und Musikkunde unterscheiden sich grund= sätzlich durch ihre verschiedene Naturauffassung. Die musikalische Natur ist nicht Stoff und Schema, sondern Seele und Leben. Die physikalische Nachprüfbarkeit der Obertonerscheinung sowie der Zwei= und Mehrklangsverhältnisse hat immer wieder die Gefahr heraufbe= schworen, und tut es auch heute noch, die eigentümlich kontinuierliche Leben= digkeit des sinnbestrebten musikalischen Ausdrucks zu verkennen und diesen nach Prinzipien der Teilbarkeit und einer logisch richtigen Zahlenschematik zu erklären oder zu begründen. Die Logik der kristallographischen Zahlen= Verhältnisse und ihre ausgeklügelte Musikentsprechung führt jedenfalls vor Augen, daß mit ihr ein falscher Naturbegriff auf die Musik angewandt ist. Nicht einmal die naturgebundene Körperbewegung, die durch Musik ausgelöst und im Tanz verräumlicht und veredelt wird, zeigt der Musikästhetik einen Weg, die eigentümliche Lebendigkeit der Musik richtig zu erkennen. Denn tänzerische, musikalisch geführte Körperbewegung ist anatomisch zerglieder= bar, ihre Form ist „ein Abbild der überall in der Natur greifbaren Kristalli= sationserscheinung" 26 . Deshalb sagt auch die Kausalgebundenheit körperlicher Reflexe und Bewegungen nichts über die unstofflichen Klangzusammenhänge aus. Zweifellos gibt es kristallisationsähnliche Erscheinungen in der Musik. Das sind diejenigen Formelemente, die sich dem Auge in einem bestimmten und abgegrenzten Ausmaße darbieten. Auch die körperlichen Bewegungen werden durch Nervenfunktionen und anatomische Bedingungen räumlich umgrenzt. Will man aber Gemütsspannungen und Muskelspannungen als voneinander abhängig ansehen, so hat man sich damit keineswegs den rhythmischen Ge= setzen, welche die Musik beleben, genähert. Die Lebensgesetzlichkeit der Musik ist eine andere, als wir sie in der musikbedingten Körperbewegung beobachten. Sie braucht zwar nicht auf mechanische und kausale Bedingungen zu verzichten — insoweit also kennt sie kristallinische Formen —, aber sie kann sich auch völlig von ihnen befreien. Diese Freiheit ist nun keineswegs gesetz= los: es ist die Freiheit ganzheitlicher Zusammenstimmung. HOLISMUS. Wie schon gesagt, lassen sich kausale Bedingungen und Er= scheinungen experimentell nachweisen. Ein Experiment, z. B. ein musikpsycho= logisches, legt zwei Seiten eines Geschehens dar, Ursache und Wirkung. Dar= aus ergibt sich eine dualistische Erklärungsweise, die an die lebensgesetzliche 28

Rudolf von Laban: Gymnastik und Tanz. Oldenburg 1926, S. 45.



II. NOESIS

Kontinuität der Musik nicht heranführt. Die Biologie, die Lehre v o n den Lebensgesetzen, war dazu berufen, als erste Wissenschaft sich davon abzu= wenden, die Beobachtung und Erklärung des experimentell nachgeprüften Ge= schehens als ausreichend anzusehen. A n die Stelle der älteren Bestandteils^ theorie tritt seit etwa 1930 die holistische 27 Biologie, welche die Lebensvor= gänge nicht aus den stoffgebundenen Einzelteilen und deren analysierbaren Wechselwirkungen heraus erklärt, sondern aus einer primär vorhandenen Ganzheit, die den sukzessiv sich darbietenden Erscheinungen innewohnt. Dieser bedeutsame Schritt führte von der dualistischen Auslegung zunächst der Lebensgesetze weg. Der Verzicht auf die gewohnte dualistische Methode erwies sich also als möglich. Nur schwach jedoch war das Echo, welches dieser Verzicht auch in anderen Wissenschaftszweigen hervorrief. Es soll nun hier der Vergleich der klanglichen A b f o l g e in der formgebundenen musikalischen Motivik mit der Entwicklungsmechanik in den körpergebundenen biologischen Vorgängen, so wie die Bestandteilstheorie sie darlegt, einige wichtige Parallelen aufdecken. D a n n wird der Schluß als berechtigt erscheinen, daß die holistische A u f f a s s u n g auch auf die Ganzheitsbildung der Musik anwendbar ist. U m diesen Vergleich nicht in die Breite auszudehnen, sei nur darauf hin= gewiesen, daß der biologische Organismus Zellen, Gewebe und Organfunktio= nen besitzt. Das Musikwerk, bestandteilstheoretisch gesehen, hat Motive, Mo= tivgruppen, Harmoniefunktionen und bestimmte Formverhältnisse. Hier wie dort jedoch ist die Gesamtgesetzlichkeit und =wirksamkeit nicht eine Summe aus diesen genannten Faktoren. W i e der biologische Holismus sich auf den Grundsatz einer ganzheitlichen Erfassung der Lebensvorgänge stellt, so muß ein musikalischer Holismus entsprechenderweise auf die Übergeordnetheit eines Sinnzusammenhanges, von welchem alle Einzelbildungen ihre musika= lische Wirkung empfangen, hindeuten. Die Zusammenhangsprinzipien in der Musik darf man, so gesehen, als organisch bezeichnen. So führt der Blick auf die Biologie zu dem Ergebnis, daß aus dem Blick= winkel des dualistischen Erkennens und Urteilens noch viele Eigentümlich= keiten der Musik dunkel bleiben. W o h l kann die Zergliederung eines Musik= Werkes über die Form der Einzelbestandteile und deren Bauprinzipien Auf= Schluß geben, nicht aber über den letztgültigen Zusammenhang und Total= eindruck. Als Zergliedern oder Analysieren bezeichnet man in der Musik das 2 7 v o n h o l o s (gr.) = g a n z ; b e g r ü n d e t durch Jan C h r i s t i a a n S m u t s ; s e i n B u c h : D i e holistische W e l t (Berlin 1938) erschien z u e r s t in engl. Sprache ( L o n d o n 1925). F o r t f ü h r u n g e n durch A d o l f M e y e r - A b i c h : I d e e n u n d Ideale der b i o l o g i s c h e n Erk e n n t n i s ( L e i p z i g 1934) u n d : D i e Idee des H o l i s m u s (in S c i e n t i a , J u l i h e f t 1 9 3 5 ) ; e b e n f a l l s 1925 erschien v o n R. W o l t e r e c k : B i o l o g i e als G a n z h e i t s f o r s c h u n g ( D i e Erde, H. 3).

1.

ERLEBNIS

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Vorgehen, welches eine Form durch Aufzeigung und immer weitere Teilung ihrer Bauabschnitte auf einen motivisch oder harmonisch prägnanten Einfall zurückzuführen sucht. Mit Hilfe der Analyse läßt sich also über die formale Struktur eines Musikstückes Klarheit gewinnen. Sie ist der Inbegriff der „ex= akten Durchdringung" 28 . Jedoch erweckt sie den Eindruck, als seien die mehr oder weniger kleinen Einzelformen in jedem Falle der Lebensquell für das Ganze. Ja noch mehr: die Analyse ist überhaupt nur möglich nach der still= schweigenden Voraussetzung, daß das Musikganze ein Ergebnis der analysier= baren Teile sei. Ein solches Eingehen auf einzelne und kleinste Bestandteile ist ein allge= meines Kennzeichen des nachmittelalterlichen Zeitalters. Wie die Physik und die Biologie in Sezierungstechnik und mikroskopischer Anatomie bis in atomare Untersuchungen hinein Erstaunliches geleistet haben, so versuchten auch Musikästhetik und Musiktheorie in ähnlicher induktiver Richtung fortzuschrei= ten. Die musikalische Formenlehre und die Stilistik bemühen sich, in das elementare Formgeschehen einzudringen. Sie verfahren dabei grundsätzlich analytisch. Die aus dieser Verfahrensrichtung entsprossene Musiktheorie stellt Vorgänge und Veränderungen von einem Ton zum anderen und von einem Akkord zum anderen in den Mittelpunkt der Betrachtung. So ergibt sich aus dem formalen, stilistischen und theoretischen Analysieren heraus ein räumlich orientierter Formenaufriß, eine Musikmorphologie, in der die Form als Kom= bination ihrer Bestandteile erschlossen wird. Diese Methode hat sich freilich erst seit etwa 250 Jahren erfolgreich durch= gesetzt. Vorher wurde das musikalische Werk im Sinne des „toto simul con= spectu" des Mittelalters in seiner Rundheit und Geschlossenheit angesehen und beurteilt. Wenn auch analytische Formbetrachtungen schon früh ein= setzten, so verdrängten sie doch nur allmählich den ästhetischen Einheits= aspekt. Noch im 18. Jahrhundert wagte Schiller, sich gegen die aufkommende analysierende und auf die elementare Materie gerichtet Auffassungsweise auf= zulehnen. Er bezeichnete den, der an einem Kunstwerk nicht das Ganze als das primär zu Bewertende ansieht, als einen Menschen, der entweder mit dem Verstand oder mit den Sinnen aufnimmt: „nur für das rohe Element empfäng= lieh, muß er die ästhetische Organisation eines Werkes erst zerstören, ehe er einen Genuß daran findet, und das Einzelne sorgfältig aufscharren, das der Meister mit unendlicher Kunst in der Harmonie des Ganzen verschwinden machte" 29 . Das rohe Element tritt als Gegenstand und Ziel der analytischen Ästhetik in Erscheinung. Geht man auf das musikalische Motiv als künstlerischen Kern= 28 29

M e r s m a n n : Musikästhetik 7 2 2 . Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 1 7 9 5 , 22. Brief.

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gedanken zurück, so hat man einen elementaren Formteil vor Augen, der durch Wiederholungen und Gegensätze mit Aneinanderfügungen und Übergängen zu einem musikalischen Formgebäude, einer klanglichen Summenbildung hin= führt. Aber der musikalische Einzelteil, der autonome Geltungsansprüche er= hebt oder dem solche zugebilligt werden, bleibt stets etwas elementarhaft Einzelnes, ja Vereinzeltes, und seine Vereinzelung wird auch durch formale Bindungen und Kontrastierungen nicht aufgehoben. Im Gegenteil, er wird da= durch gekräftigt. Musikalische Strukturen, die sich auf Grund einer Analyse eindeutig erkennen lassen, schmälern den Hörer um das, was Musik an in= nerer Gesetzmäßigkeit zu bieten vermag. Da allerdings, wo Summenbildungen bestehen, sind Verhältnismaße und Rechenwerte am Platze, und die Ästhetik darf sich mit musikalischer Kristallographie zufriedengeben. Analytische Ästhetik ist immer dann berechtigt, wenn von vornherein darauf verzichtet werden kann, den inneren Gesamtverlauf und die lebens= gesetzliche Ungegenständlichkeit einer Musik erschließbar zu machen. Diese letzte Aufgabe hingegen übernimmt die holistische Ästhetik. Das Mittelalter, das diese Aufgabe sehr wohl kannte, verwendet dafür den Begriff „visio", die Schau. Diese betrachtet nicht die Form nach ihren Einzelteilen, wie sie etwa im Notenbild vor uns ausgebreitet liegt, sondern die andere Form, die „im Vorstellungssinn des Schauenden entsteht" 30 . Diese Form, richtiger gesagt, diese Gestalt (sensum formatum) ist nicht das Ergebnis zusammengebauter Elemente, vielmehr ist ihr „etwas Geistiges beigemischt" 31 . Sie ist von der stofflichen Vorlage ebenso weit unabhängig wie vergleichsweise das organische Leben von seinen anorganischen Bestandteilen. Damit begegnen wir abermals dem Organismusbegriff, den wir hier kurz definieren müssen. Was eine Kontinuität, die von innen nach außen wirkt, entstehen läßt, be= zeichnen wir als ein organisches Gebilde. Organisch heißt also alles, was außer einem analysierbaren und elementaren System noch schöpferische oder zie= lende Kräfte in sich birgt. In Organismen wirken „verborgene Kräfte und ge= heime Gesetzmäßigkeiten", sie lassen eine Eigengesetzlichkeit, „in welcher das anorganische Geschehen nicht entfernt aufgeht" 3 2 , erkennen. Ein solches un= berechenbares Kräftesystem ist ein „Zentralprodukt", ein „Zusammenfluß von organischen Tätigkeiten, in welchem jeder einzelne Bestandteil sein eigen= tümliches Leben verloren hat, um mit dem Ganzen zu leben und zu der 30

"visionis illius . . . f o r m a qua fit in sensu cernentis"; A u g u s t i n u s : D e summa Trinitate XI 5. 31

" h a b e t admixtum aliquid spiritale"; ebd. Hermann Bantzmann: N a t u r und Entfaltung organischer Gestalten. H a m b u r g 1 9 4 8 , S. 9. 32

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ganzen Lebenssumme seinen Anteil beizutragen" 33 . So ergibt sich statt einer klaren Ordnung eine geheime Geordnetheit. Unter organischer Geordnetheit müssen wir, im Gegensatz zur anorganischen und zuständlichen Ordnung, ein „gerichtetes Geschehen" 34 verstehen. Sie hat ein inneres Ziel. Die organischen Einzelvorgänge sind wohl kausal und zweckdienlich, der Gesamtvorgang hingegen ist akausal und sinngerichtet. Mit dieser Gerichtetheit im organischen Geschehen verschwindet auch der wissen= schaftlich so oft zugespitzte Leib=SeeIe=Gegensatz. Legt man die holistische Einstellung in der Musik zugrunde, so hebt sich auch hier entsprechenderweise der Form=Inhalt=Dualismus auf. Die Teilung der Musik in ein physikalisches und ein nichtphysikalisches Sein, welche noch heute zu nicht enden wollenden Mißverständnissen führt, hat schließlich die physikalistische und analytische Ästhetik hervorgebracht. Warum ist nun das Ordnungsdenken gegenüber der Vorstellung von einer zielenden Geordnetheit so viel mehr verbreitet? Ein Außen und ein Innen in der Musik zu unterscheiden, ist das Kenn= zeichen der dualistischen Formbeurteilung. Damit wird die Form als etwas Technisches und der Inhalt als etwas nicht Greifbares und nicht Diskutables angesehen. Die Technik genießt in unserem Jahrhundert die größte Wert= Schätzung. Sie blickt auf die Brauchbarkeit des Einzelteiles, auf seine prak= tische und handwerkliche Verwertung. Die Brauchbarkeit eines musikalischen Motivs läßt sich technisch erläutern: sie erschöpft sich in einem begrenzten, affektbestimmten und klangdimensionalen Ausdruck. Dahingegen bewegt sich die vermeintlich nicht diskutable inhaltliche Gesamtvorstellung in einer un= begrenzbaren, gesamtseelischen und zeitungebundenen Sphäre. So erhält die Realität der Form den Vorrang der technischen Bestimmtheit. Die Realität des Inhaltes hingegen, die sich einer technischen Lagebeschrei= bung entzieht, wird erst bei der holistischen Einstellung anschaubar und geht dann freilich mit der Formrealität eine organische Einheit ein. Der dualistische Gesichtspunkt verhindert diese organische Gesamtschau. Denn jedes Heraus= lösen einer motivischen Wendung aus dem Ganzen macht das Einzelteil anorganisch. Holistisch gesehen liegt aber der Einzelausdruck in den Total= beziehungen eingebettet, er ist nichts ohne diese. Es ist eine Aufgabe, die musikästhetische Organismusanschauung heute wieder vertraut zu machen. Die organismischen und holistischen Gestaltprin= zipien stimmen mit der ästhetischen Schau, wie sie das Mittelalter kannte, überein; richtiger gesagt, beide ergänzen einander. Ist der Standpunkt erst 3 3 Charles Louis Dumas: Anfangsgründe der Physiologie (übers, a. d. Franz.). Göttingen 1807, S. 316. 3 4 E. 5. Rüssel: Lenkende Kräfte des Organischen. Bern 1945, S. 91.

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erreicht, daß man die Schau der erkennenden Vorstellung und die Gerichtetheit des geistig=seelischen Erlebnisses in Übereinstimmung bringt, wie es die antike Noesis bereits verwirklichte, dann muß man die analytische Aufteilung eines Musikwerkes als Aufsplitterung empfinden, auch dann, wenn die Logik des rationalen Verstehens an sich befriedigt ist. Der organische Zusammenhalt in einem intentional gestalteten Musikwerk ist ein lebensgesetzlicher, kein logi= scher. Das Herstellen einer Ordnungsform mündet ein in kompositorische Technik, und je technisierter die Musik ist, um so normativer wird ihre Aus» drucksform; denn jede Technik schafft sich ihre Normen. Normative Formgrundsätze sind isolierend, sie bedürfen einer holistischen Einordnung. Andernfalls drängt sich die dualistische Formtechnik in den Vor= dergrund, und die Folge ist, daß einerseits die musikalische Form der ratio= nalen Betrachtung überlassen und anderseits der musikalische Inhalt als vitale Seelenbewegung aufgefaßt wird. Darf man aber auf die noematische Ganzheit des Verstehens verzichten? Gelangt man zu einem ebenso befriedigenden Er= gebnis, wenn man die Form als ein technisches Werk und das seelische Erlebnis als einen vitalen Ausdruck für sich betrachtet? Es wäre doch denkbar, daß man der künstlerischen Form durch rein tech= nische Analyse und dem künstlerischen Ausdruck, der sich lebensvoll und organisch kundtut, durch vitalistische Betrachtung gerecht werde. Erkennt doch die Lehre des Vitalismus eine nicht berechenbare Wirkkraft, eine „force hyper= mecanique" 35 an, die gemeinsam mit der Klarstellung der technischen Struktur eine erschöpfende Ästhetik zustande bringen müßte. Kann die vitalistische Auslegung des musikalischen Inhaltsgeschehens das zusammenknüpfen, was die rationalistische Auslegung des Formgeschehens aufteilte? Diese Frage muß mit Hilfe der Musikpsychologie, die sich mit dem un= berechenbaren Anteil der Seele am musikalischen Erlebnis befaßt, beantwortet werden. Da der Vitalismus vorgibt, das Seelenleben als weiträumige, nicht mechanische Lebenskraft zu beobachten, scheint es nahezuliegen, mit einer vitalistischen Musikpsychologie das Gegengewicht gegen die rationalistische Formästhetik zu schaffen. Die Frage lautet, ob die seelischen Vorgänge als parallellaufend zu dem formalen Ergebnis angesehen und zu gegenseitiger Deckung gebracht werden können.

VITALISTISCHE MUSIKPSYCHOLOGIE. Meine Seele ist „die unbewußte Grund= läge meines bewußten Erlebens" 36 . Der Psychologe weiß von ihrer besonderen 35 Charles Louis D u m a s : Principes de Physiologie. Paris 1 8 0 0 — 1 8 0 4 (dt- Übers. Göttingen 1 8 0 7 ) S. 3 1 0 . 36 H a n s Driesch: Grundprobleme der Psychologie. Leipzig 1 9 2 9 2 , S. 58.

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Tiefe, die er das „kollektive Unbewußte" 37 nennt. Diese unbewußte Tiefe ist, anstatt ruhend oder inaktiv zu sein, „anhaltend beschäftigt mit der Gruppie= rung und Umgruppierung seiner Inhalte" 38 . Als solche Bestrebungsgesamtheit und Empfindungstätigkeit reicht die Seele von der Schwelle der Bewußtheit bis zur Tiefe der kollektiven Unbewußtheit. Die Tiefe enthält das Allgemein= menschliche des Seelenlebens, die Urgefühle, die allen Menschen gemeinsam zu eigen sind. Von hierher rührt eine der Möglichkeiten panhumanen Musik= verstehens. In dieser seelischen Tiefenregion ruhen Gefühle der Entschlossen= heit, der Mattigkeit, der Behaglichkeit, des Trostes, der Beklemmung, des Ju= bels und ungezählte andere und ähnliche beisammen. Die Musik vollbringt das Wunder, zwischen diesen tiefsten, durchaus verschiedenen Empfindungen und dem ästhetischen Streben nach bewußter Gestaltung mit Leichtigkeit eine Verbindung zu schaffen. Die Urgefühle haben in der Tat die Möglichkeit, mit geistigen Vorstellun= gen eine Verbindung einzugehen. Sie machen dann die Seele ichfrei. Hier zeichnen sich also Unterschiede zwischen Individuum und Person ab. Wenn der Mensch als Individuum sich der tiefen Gefühlsregion überläßt, dann wer= den die reinen und freien Gefühle durch eine Zwischenregion von färbenden Stimmungsreflexen beeinflußt; der Mensch als Person hingegen kennt Tiefe und innere Gefühlserlebnisse, die nicht stimmungsbedingt sind: das Seelische ist bei ihm nicht eingeengt in „Binnenhaftigkeit" 39 , es stellt freie Begegnungen und Verbindungen her und bleibt nicht unbedingt in sich selbst befangen. So gibt es also Wünsche und Stimmungen, welche am Gegenständlichen und In= dividuellen haften; jedoch ist es der Seele grundsätzlich möglich, „über sich selbst hinauszukommen" 40 . Sobald sich seelische Empfindungen an geistige an= schließen, wird die kontinuierliche und, wie wir dann sagen, hochgesinnte Ziel= strebigkeit erkennbar, die aus dem Unbewußten heraus tätig in die Welt tritt. Liebe, Besorgnis und Opfermut gehören zu solchen Gefühlen, mit denen das Sein der Seele über das Individualerlebnis hinweg einem anderen seelischen Sein zu begegnen vermag. Dank dieser Begegnungen hat die Seele an höheren Wirklichkeiten teil. Sie ist panhumaner ästhetischer Erlebnisse fähig. Das individuelle Seelenleben kreist in sich selbst. Zwar ist auch der indi= viduelle Wesenszug der Seele kontinuierlich und „ganzmachend", „ein Etwas, das gleichsam die Gesamtheit meines vergangenen, gegenwärtigen und zu= 37 Carl G u s t a v J u n g : Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten. Zürich 1 9 4 5 4 , S. 1 2 . 38 ebd. S. 1 2 . 39 Philipp Lersch: Seele und W e l t . Leipzig 1 9 4 1 , S. 1 4 . 40 ebd. S. 4 3 .

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II. NOESIS

künftigen bewußten Erlebens durchdringt" 41 . Aber individuelle Seelenerleb= nisse sind wegen ihres Stimmungsbeitrages weder kollektiv=unbewußt noch frei von Binnenhaftigkeit. Ein personales Seelenleben hingegen besitzt eine Art von „Weltunmittelbarkeit" 42 , welche teils aus unbewußten Strömungen herausfließt, teils mit geistigen Kräften, ohne Stimmungsfärbung, in Einklang steht. So lebt eine psychische „intentionale Kraft" 1 3 auf, welche im wahrsten Sinne eine personale Eigenschaft ist und von individuellen und rassischen Unterschieden hinsichtlich der Erlebnisfähigkeit unberührt bleibt. Die unmittelbare und intentionale seelische Kraft ist keine räumlich wir= kende oder räumlich vorstellbare Kraft, sondern untersteht einem Zeitgesetz. Hier laufen die Geleise seelischen Erlebens und musikalischen Erlebens inein= ander. Denn alles musikalische Vorstellen, Zielen und Erinnern ist zeiterfülltes seelisches Geschehen. Die Seele läßt in der Gegenwart das Künftige und das Vergangene, je nach den Erlebniszusammenhängen, ineinanderfließen. Auch bei musikalischen Erlebnissen macht die Seele diese zeitspeichernden Fähig= keiten wirksam. Beim transphänomenalen Hören ist der musikalische Eindruck ein intentionaler und klangunmittelbarer; er ist bereits so, wie er bald sein wird, und noch so, wie er soeben war. Er hat eine seelische „Daseinsbreite" 44 , deren Voraussetzungen allerdings nicht in jedem Falle gegeben sind, das heißt, daß sie nur dank dem überzeitlichen und in gewissem Sinne schöpfe^ rischen Hören dessen, der die Musik aufnimmt, entsteht. Schon dieser erste Überblick zeigt, daß eine Entsprechung oder Ergänzung von vitalen und formalen Ausdruckselementen nicht gelingen kann, wenn es sich um intentionale und kontinuierliche statt um individuelle und summierende Ausdrucksgebungen handelt. In der Tat, das seelische Erleben summiert nicht. Ästhetische Erlebnisse, die in der Daseinsbreite des personalen seelischen Seins eingebettet sind, stellen keine summativen Ergebnisse sinnlicher Affekte und keine Reihenfolge momentaner Eindrücke dar. Die Tiefe und die Gerich= tetheit sind Eigenschaften der seelischen Kontinuität, sie befreien aus der indi= viduellen Binnenhaftigkeit. Solange der musikalische Hörer sich von stim= mungsbedingten Momenteindrücken hinreißen läßt und sich dem Auskosten seines individuellen Eindrucks hingibt, treten die musikalischen Teilerlebnisse zwar rasch und akzentuiert ein, aber das Erlebnis wird nicht Bestandteil seiner Person. Ist dagegen das zeitungebundene und ganzmachende Verstehen be= 41

H a n s Driesch: a.a.O. S. 60 und 5 7 . Philipp Lersch: a.a.O. S. 4 3 ; die Begriffe Weltunmittelbarkeit und T r a n s z e n denz werden da einander gleichgestellt. 43 Landgrebe: Dilthey 3 x 7 . 44 Edith Stein: Endliches und ewiges Sein. Louvain und Freiburg 1 9 5 0 , S. 39. 42

1.

ERLEBNIS

77

teiligt, so ergeben sich Erlebniszusammenhänge, welche in seelische Tiefen reichen und die ästhetische Erfahrung des Hörers bereichern. Es darf nicht wundernehmen, daß dem Menschen unseres Jahrhunderts diese Erkenntnis wiederholt werden muß, ihm, dem mit Recht der Vorwurf gemacht wird, daß er seelischer Tiefenerlebnisse in echt personaler Weise kaum noch fähig sei, daß ihm, namentlich als Angehörigem der westlichen Kulturen, die Welt der Seele „ein fremdes Land geworden ist, in dem er sich nicht auskennt" 45 . Die mittelalterlichen Theoretiker, die sich nicht auf die nor= mative Erkenntnis und auf eine stückbezogene Ästhetik beschränkten, wußten, daß die Form des Kunstwerkes im Sinne der aristotelischen forma formans als das Ergebnis des Herausfließens aus einer vorher bestehenden einheitlichen Idee und Seelenvorstellung anzusehen sei. Ihnen war das seelische Erlebnis ein echtes und reales Gesamterlebnis. Ihre auf alle Wissenszweige, also auch auf die Ästhetik ausstrahlenden Weisheiten besagten, daß die Form nicht nur ein statisches Sein habe, sondern auch ein intentionales, daß in ihr Sein und Ziel übereinstimmen. Meister Eckhart drückt das folgendermaßen aus: „Die Form, und sie allein, gibt durch sich selbst Sein, welches Sein, sage ich, die Absicht und das Ziel aller K u n s t . . . ist" 46 . Mit forma formans ist also mehr als die ruhende und visuelle Erscheinungsform gemeint, sie enthält auch noch ein Ziel oder, wie es an anderer Stelle heißt, eine primäre „Angelegtheit und Kraft in Richtung auf ihre Gestaltung" 47 . Unmeßbar weit reicht der Blick über das Land der Seele. Er wird nicht behindert durch Materie, wenngleich sich in ihr der seelische Ausdruck ab= bildet; denn sie besitzt kein selbständiges und von sich zur Form drängendes Sein. Er sieht im Stoff, sofern dieser Träger von Gestaltausdruck ist, eben diesen Gestaltausdruck entelechial vorgeformt. Jeder Gestaltausdruck ist im Stofflichen innerlich angelegt. Die Form, so wußte noch das Mittelalter, „bringt nichts Äußerliches an die Materie heran" 48 . Eine spätere vitalistische Psychologie, welche die Lebensvorgänge als Ordnungselemente in den Mittel= punkt rückt, unterstellt die seelischen Gegebenheiten den stofflichen Ord= nungsgesetzen. Wir müssen aufs neue einsehen, daß auch das musikalische Erlebnis nicht nur aus Auffassen, Fühlen, Wollen und Vorstellen besteht, sondern noch durch ein ganzheitliches Streben, durch eine intentionale Kraft vervollständigt wird. Das Zusammenfassende, das in diesem ästhetischen Erleben liegt, das, wodurch 45 K o n r a d Zeller: Bildungslehre. Umrisse eines christlichen Humanismus. Zürich 1 9 4 8 , S. 228. 46 47 48

zit. bei E. von Bracken: Meister Eckhart und Fichte. W ü r z b u r g 1 9 4 3 , S. 1 6 . "potentia inchoationis f o r m a e " ; A l b e r t u s M a g n u s , u m 1 2 5 0 ; zit. ebd. S. 2 2 . A v e r r o e s , u m 1 1 7 0 ; zit. ebd. S. 22.

78

II. NOESIS

„das Auffassen des Ganzen die Interpretation des Einzelnen ermöglicht und bestimmt" 49 , zeigt sich als ein durchaus unstoffliches und im Personsein geistig fortgeführtes Bestreben. So mündet die seelische Gerichtetheit ein „in die geistigen Ausprägungen und Ausstrahlungen der Persönlichkeit" 50 . Denn um das Sein der Musik aus den Gesetzen ihres Werdens herzuleiten, bedarf es einer seelisch=personalen, nicht einer seelisch=vitalen Einstellung. Versucht man also, sich der Lebensgesetzlichkeit der Musik von einem vitalistischen Standpunkt aus zu nähern, so gelangt man musikästhetisch in die Sackgasse der Form=Ausdruck=Parallelität und kommt von der Zweigleisig' keit nicht los. „Aller Vitalismus ist und bleibt ein Dualismus" 51 . Denn für die vitale Lebensauffassung ist das Leben nicht etwas aus geistigem Antrieb Gelenktes, sondern etwas in unreflektiertem Daseinsgefühl Fortbestehendes. Die inneren Antriebe, die ins Geistige münden, kennt sie nicht. Sicherlich vermag ein Lebensschwung, der zwischen Entspannung und Kraftaufwand, zwischen Ruhe und Bewegtheit alle Grade durcheilt, die Lebensstimmungen eines Menschen zu beflügeln. Doch zieht das vitale Lebensprinzip, welches sich nun mit diesen Graden befaßt, eine Trennungslinie zwischen seelischen Empfindungen einerseits und geistigen und charakterlichen Bestrebungen anderseits52. Wird dieses Prinzip in der Musikästhetik aufs Schild gehoben, so bleibt die „pralle Lebenskraft" 53 des Vitalismus als zu einseitige seelische An= regung, und die Gefahr ist naheliegend, die Musik „als Manifestation über= dimensionaler Lebensmächtigkeit" 54 anzusehen und zu erklären. Weil die Einbeziehung geistiger Zielstrebigkeit dem Vitalismus nicht mög= lieh ist, haftet ihm trotz allen Elans ein tiefer Skeptizismus an. Das Vitale kann im Geistigen aufgehen, nicht aber umgekehrt. Deshalb darf ein an sich lebens= voller Musikausdruck, der aber nicht in die Sphäre übergegensätzlicher Er= lebniszusammenhänge gelangt, eine lediglich „pure Vitalität" 5 5 genannt werden. Er bleibt stoffgebunden. Er bewegt jene „Lebensgeister", die man als feinste Blutteilchen, welche „die Eigentümlichkeit haben, daß sie sehr klein 4 9 Wilhelm Dilthey; zit. bei Jaensch-Grünhut: Uber Gestaltpsychologie (Manns Pädag. Mag., H. 1262). 1929, S. 20. 5 0 Robert Heiß: Die Lehre vom Charakter. Berlin 1949, S. 32. 5 1 Adolf Meyer-Abich: Naturphilosophie auf neuen Wegen. Stuttgart 1948, S. 147. 5 2 vgl. Ursula Steiff: Nietzsches Philosophie des Triebes. Würzburg 1940. Bei Nietzsche sieht man, wie sich vitalistisches Denken „gegen die moralische Deutung des Daseins" sträubt. 6 3 Siegfried Borris: Beiträge zu einer neuen Musikkunde. Berlin 1947, H. i , S. 60. 5 1 ebd. S. 69. 5 5 Danckert: Ursymbole 26.

2.

GESINNUNG

79

sind und sich wie die Teile der Flamme einer Fackel sehr schnell bewegen" 56 , angesehen hat. Der vitale musikalische Ausdruck haftet, weil er jeweils durch einen Affekt begrenzt ist, gleichsam am Boden. Der Mensch vermag aber als Musikhörender oder Musikgestaltender sich über die emotionalen und vitalen Ausgangsbezirke zu erheben; „er überspringt die empirischen Grenzmarken" . Ob die musikalische Form zustandsgebunden ist oder nicht, ob sie überall Teilgrenzen innerhalb ihrer selbst ziehen darf oder nicht, das läßt die holisti= sehe Ästhetik erkennen. Sie billigt jedem organischen Gefüge seine Eigen» gesetze zu. Innerhalb dieses Organcharakters ist das Fortschreiten von Einzel= empfindungen zur Gesamtform die eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit bringt die Priorität des Ganzen vor dem Einzelnen zur Gewißheit. In dem letzten Falle muß das musikalische Erlebnis auch vom Standpunkt der Psycho= logie aus als etwas Ganzes, worin einzelne Gefühle zwar erkennbar aber nicht voneinander trennbar sind, anerkannt werden. Die seelische Wirklichkeit er* weist sich also, je nach dem Grade des intentionalen Erlebens, als gleichge= richtet mit den auf Bedeutung und Wert zielenden Gefühlen, welche in das übergehen, was wir Geist nennen.

2.

GESINNUNG

G E I S T UND SEELE. Nikolaus Cusanus nennt es das Amt der Seele, sich geistig zu erhellen. Unter Geist versteht er die „Koinzidenz von Endlichem und Unendlichem" 58 . Dieser Zusammenfall von etwas scheinbar Unverein= barem wird möglich dank der lebendigen Kontinuität der Seele. EinKontinuum trennt nicht die kollektiven von den geistigen Gefühlen. Es bleibt die Möglich* keit, daß ein seelisches Erlebnis kontinuierlich von geistiger Gerichtetheit durchdrungen wird. Um diese durchdringende Gerichtetheit des Geistes zu symbolisieren, hat Cusanus zur Figur des Kreises gegriffen. In der Kreislinie liegt der Gedanke der Unendlichkeit gleichnisartig dargestellt. Alle auf ihr gedachten seelischen und sinnlichen Empfindungen werden eben durch sie un= endlich verbunden. Mit ihr tritt der unendliche Einheitskreis, der „circulus unitatis infinitae" zutage. Zugleich ist damit etwas Geistiges gedeutet; denn „der Geist ist eine Kraft, welche alles auf ihre Weise in sich einbezieht" 59 .

Gleich Aristoteles, der die Unterscheidbarkeit, doch nicht Trennbarkeit von Geist und Seele lehrte, galt das Einswesen von Geist und Seele im Mittelalter, begründet in der Zielkraft des Geistes (s. Anm. 10), als bestimmend für alle 56 57

58 59

Cartesius; zit. bei Pfrogner: Musik 178. Hans-Jürgen Baden: Der Standort des Menschen. Hamburg 1950, S. 15.

Schriften des Nik. v. Cues, H. 9 S. 72. ders., Id. de mente, cap. III, 5.

So

II. NOESIS

Wissensgebiete. So bezeugt Robert von St. Victor, der auch f ü r die Musik» theorie Bedeutung hat 60 , daß Geist und Seele nicht etwas Verschiedenes, sondern „ein und dasselbe" 6 1 seien. Damit spielt die Bedeutung der Noesis auf das musikästhetische Gebiet hinüber. Nikolaus von Cues geht über diese aristotelische Ansicht insofern noch hinaus, als er der geistigen Vernunft den Vorrang gibt, weil sie alle gegensätzlichen Vorstellungen und Empfindungen vereinigt, ja „die Gegensätzlichkeit erst aus dem Unendlichen hervortreten läßt" 82 . Den ihm vorangegangenen mittelalterlichen Musiktheoretikern kam es auf die noetische Gesamtschau an. Ihnen lag es fern, formale Erscheinungen der Musik allein von technischen Gesichtspunkten aus zu betrachten. Jedes musikalische Erlebnis wurde als geistiges und vielbezogenes Erlebnis gewür= digt. Auch die oft auftretenden Untersuchungen über die physikalische Be= schaffenheit der Musikvorgänge gliederten sich in dieses philosophische System ein. Schaffen sowie Aufnehmen von Musik galten als supranaturale Erschei= nungen des Seins: alles durchlebte Sein ist vom „Lichte der intelligencia agens" 6 3 durchleuchtet. Auf diese Weise verschmolzen Ethik und Ästhetik zu einer Einheit, die umfassend genug war, auch die geistigen Ausdruckssphären der Musik f ü r die Beurteilung zugänglich zu machen. Abermals bewegen wir uns im Gedankenkreis dieses Zeitalters, das fern von der Beschränkung auf eine naturwissenschaftliche Basis seine ethischen und ästhetischen Erkenntnisse in ein überaus vielmaschiges Gedankennetz einflechten konnte und deshalb uns soviel zu sagen hat. Auch der Blick auf die künstlerische Form löste nicht allein ästhetische Fragen aus. Immer waren Intellekt und Schau, waren Geist und Seele ein ungetrenntes Paar. Mit dem aktuellen Befund einer Form hob sich von A n f a n g an „stets die virtuelle Bedeutung der Form" 6 4 unweigerlich vor das innere Beobachtungsfeld. Hand in Hand mit dieser Betätigung der Noesis im antiken Sinne vollzog sich die Eingliederung des Erlebten in die religiöse Welt: von aller Kunstäußerung ging eine Transzendenz aus, die man als dem höchsten Geist zugehörig empfand. Folgerichtigerweise steht mit dieser noematischen Seins= und Lebensauf= fassung die geistliche Haltung der alten und mittelalterlichen Musiker im Einklang. Ihre musikalische Ästhetik ist mit der Religion durch die Ethik verknüpft. Sie sehen die Transzendenz des menschlichen Geistes zwar nicht 60

1 2 . Jahrh.; vgl. Pietzsch: Klass. d. M u s i k 70 f. zit. bei Eisler I 486. 62 zit. bei E. H o f f m a n n : N . v. Cues. Z w e i V o r t r ä g e , Heidelberg 1 9 4 7 , S. 20. 63 A v i c e n n a : D e anima, u m 1 0 2 0 ; zit. bei E. v. Bracken a.a.O. S. 269. 64 Helmut Beumann: W i d u k i n d von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschr. u. Ideengeschichte d. 1 0 . Jhs. W e i m a r 1 9 5 0 , S. IX. 61

2. GESINNUNG

8l

als in den göttlichen Geist eingehend, aber als ihm gegenüberstehend, sie ist auf ihn bezogen, wenn auch nicht ihm gleich (s. Anm. 1 1 ) . Diese Bezogenheits= Gegenüberstellung macht in der Tat das eigentümliche Wesen des Geistes aus. „Eben dieses Von=Gott=her und Zu=Gott=hin bezeichnet das Geheimnis des Geistes." 65 Auch die musikästhetischen Einstellungen, die sich auf den Vorrang geistiger Transzendenz vor allen wechselnden Gemütsempfindungen gründen, sind geistig in diesem nicht logischen, sondern metaphysischen Sinne. Die Tragkraft dieser ästhetischen Einstellung, die eben wegen ihres geistig=noe= matischen Charakters zugleich eine religiöse ist, läßt sich bis zu Bach hin un= trüglich erkennen. Wo stehen wir heute? Daß ein seelischer Melodieausdruck zugleich ein geistiger sein kann, daß zum andern ein geistiger musikalischer Ausdruck nicht gleichbedeutend sein muß mit rationaler Formgebung, ist erst in jüngster Zeit und nur tastend wieder zu Bewußtsein gebracht worden. Noch liegt der Weg vor uns, jene alten Erkenntnisse mit neueren ästhetischen Einsichten zu verbinden, wobei als Leitstern der Gedanke zu dienen hat, daß die „trans= phänomenale Gerichtetheit" 66 in bestimmten musikalischen Werken lenkend über allen anderen Ausdrucksqualitäten steht. Hierauf wird zurückzukommen sein. Zunächst halten wir fest, daß die Fähigkeit zum geistig=seelischen Erkennen, die mittelalterliche „virtus con= templativa", auch in der Musik sich zu bewähren vermag, ja unter bestimmten Gegebenheiten sich bewähren muß. Notwendigerweise führt die Bemühung, den geistigen Gehalt in der Musik zu erfassen und zu benennen, auf das Aufspüren dieser kontemplativen Fähigkeit, die einst in soviel reicherem Maße den Menschen gegeben war. Sobald wir vom Geist reden, lenkt sich der Ge= dankengang zurück in die Geschichte und in die Überlieferung, in welcher der Geist geworden ist. Ohne seine Geschichte können wir den Geist nicht ver= stehen, „nur in der Tradition und an der Tradition kann er sich entfalten" 67 . Das ist es nicht allein. Geistige Werte sind auch immer Offenbarungswerte. Mag man sie nun unter religiösem Aspekt sehen oder nicht, sie treten nur in Verbindung mit dem Menschen als Person und damit in Verbindung mit den höchsten Tugenden auf. Seitdem berichtet wurde, daß Christus „mit dem Geiste gesalbt" 68 ist, lehnen sich auch unsere Vorstellungen vom Geist als 65

Heinrich V o g e l : Christologie. München 1 9 4 9 , S. 330. Rolan 90. 67 Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. H a m b u r g 1 9 5 5 , S. 320. 68 Irenaus: „Jesus . . . unctus est a patre S p i r i t u " ; zit. bei T h . Rüsch: D i e E n t stehung der Lehre v o m Heiligen Geist. Zürich 1 9 5 2 , S. 1 0 1 . 65

6

Musica Panhumana

82

II.

NOESIS

Logos 69 im nichtreligiösem Sinne an die Vorstellungen vom Heiligen Geist dennoch unmittelbar an. So und nicht anders weisen die mittelalterlichen Musiktheoretiker den Geistgehalt der Musik auf. Eriugena wendet sich des= halb in einer seiner Schriften der zur Kontemplation anregenden Erscheinung zu, daß eine vielstimmige Musik, nachdem sie Sinne und Empfindung ange= regt hat, im Geiste des Hörers fortlebt, und preist diese „wunderbaren und unauslöschlichen Eigenschaften"70 der Musik, die man einsehen und erkennen soll. Während nur in großen Zügen die mittelalterliche Einheit von Klang, Geist und Seele hier angedeutet werden kann, darf dem musikalischen Gedanken, der doch im Verein mit dem Gefühl das ästhetische Werk hervorbringt, ein näheres Eingehen gewidmet sein. Ihm können wir durchaus mit den Denk= mittein unserer Zeit näherdringen. Einige neue Ergebnisse liegen bereits vor. Ein französischer Aufsatz, der dieses Thema berührt, hebt jene Vorgänge in der Musik, die nicht statuarisch=formal sind, hervor und bekennt sich grund= sätzlich zu der Auffassung, daß aus einer lebensgesetzlichen und organischen Sicht heraus „eine unlösliche Verbindung zwischen dem Klang und jenen Begriffen, mit denen unser Denken das musikalische Werden organisiert und beherrscht" 71 , gesehen werden kann. Das Denken, auch das musikalische, soll sich also auf einen Werdevorgang anstatt auf einen Seinsbefund richten. Diese Einstellung gestattet nun bemerkenswerte musikästhetische Einblicke.

D E R MUSIKALISCHE G E D A N K E . Es ist tatsächlich eine Frage des musikalischen Denkens, weniger des Empfindens oder der Phantasie, wie der Klangausdruck aus der vorher bestehenden Geist=Seele=Einheit heraus seine Gestalt findet. Die Intentionalität der inneren Vorstellung vereint das musikalische Werden und das musikalische Sein zu einem Ganzen. Es muß demnach der musikalische Gedanke bereits von dieser Intentionalität durchdrungen sein.

Man hat den musikalischen Gedanken bezeichnet als einen solchen, der „ausschließlich dem Bereich der Musik angehört, nur mit musikalischen Mitteln dargestellt werden kann, der mit seiner Darstellung im musikalischen Mate= rial, mit seiner tonsprachlichen Figur identisch ist, von ihr nicht abgetrennt werden und außerhalb des musikalischen Bereiches nicht angetroffen, bezeich= 69

D e r antike und frühchristliche Geistbegriff ist bereits sehr w e i t f a s s e n d

seiner Einbeziehung

von logos

(Denken,

Sinn),

sophia

(Weisheit, W i s s e n )

mit und

d y n a m i s (Kraft, T u g e n d ) . 70

" . . . mirabiles ineffabilesque eorum virtutes contemplabitur". D e div. nat. IV.

71

Gisèle Brelet:

M u s i q u e s exotiques et valeurs permanentes

(Revue philos. N r . 1—3). Paris 1946.

de l'art

musical

2.

GESINNUNG

83

net, definiert, ja mit den Mitteln der Wortsprache nicht einmal benannt werden kann" 72 . Diese Definition ist dahin zu erweitern, daß der musikalische Gedanke durchaus mehr sein kann als seine tonsprachliche Figur. Er ist, falls er mehr ist als unmittelbarer und selbstgenügender Klang, eine zugleich gedankliche und seelische Vorstellung, die auf mittelbare und umfassende Weise sich an die Person des Hörers und nicht nur an dessen klangliche Einfühlung wendet. Schon das musikalische Symbol weist über seinen dimensionalen Klangraum hinaus. Noch mehr der intentional=musikalische Gedanke: er ist zielend, kontinuierlich und durchaus nicht visuell im Notenbild, also im Material, er= schöpfend dargestellt. Nur unter bestimmten Voraussetzungen setzt sich der musikalische Gedanke aus zählbaren Tönen und Takten zusammen und zeigt sich klar abgegrenzt. Sobald er Vorhergehendes und Nachfolgendes in sich einbezieht, wird sein Vorstellungsbereich immateriell. Es dominiert dann eine übergreifende Sinn= einheit über die klanglichen Einzelphänomene, so daß das Ganze nicht als formal zerlegbar und quantitativ, sondern als „transphänomal" und „qualitativ einmalig" 73 aufgefaßt werden muß. Verhielte es sich anders, so wäre das Finden und Gestalten des musikalischen Gedankens für den Komponisten nicht eine so langwährende und durchzudenkende Angelegenheit74, wie sie es tatsächlich ist. Richard Wagner hebt in einem seiner Aufsätze die Einheit von Empfinden und Denken als Vorbedingung für die „Gestaltung des kundzu= gebenden Gedankens" 75 treffend hervor. Diese Gefühls= und Gedankeneinheit stellt das musikalische Schaffen von Werken, welche nicht von vornherein für eine klar dimensionierte Raumform bestimmt sind, in eine arationale Zeitregion. Diese nicht ohne weiteres greif= bare musikalische Zeitgesetzlichkeit gilt auch dann, wenn ein blitzartiger Einfall als das nunmehr greifbare Ergebnis einer Inspiration, deren zeitlicher Anfang sich im Unbestimmbaren verliert, zutage tritt. Ein musikalischer Gedanke ist nicht dasselbe wie ein musikalisches Thema, es sei denn, er ist rein ornamentaler Natur. Im allgemeinen ist er entweder ein Form= oder ein Gestaltgedanke, also formgebend oder sinngebend. Er läßt das, was den Menschen als Individuum bewegt, entweder deutlich werden oder, indem er es sublimiert, zurücktreten. Thema nennen wir den Einfall dann, 72

Ernst Krenek: Über neue Musik. Wien 1 9 3 7 , S. 26. Rolan 29. 74 V o n Mozart berichtet, daß er auch in Geselligkeit und bei froher Laune musikalisch „tief denkend zu arbeiten" pflegte. „ E r w a r immer guter Laune, aber selbst in der besten sehr nachdenkend", so schreibt Sophie Haibl, Mozarts Schwägerin (s. H. Abert: W . A . Mozart. Leipzig 1 9 2 4 , II 120). 75 Oper und Drama. 1 8 5 1 . 73



84

II. NOESIS

wenn er einer Komposition unverkennbar vorangesetzt oder aus deren Verlauf herausgehoben wird. Er tritt gegenständlich und mit individueller Färbung hervor, kehrt wieder oder wird motivisch verarbeitet. Der musikalische Ge= danke hingegen ist ungegenständlicher Art, nicht direkt räumlich abgrenzbar und gehört dem „von allen Beimischungen individueller Art gesäuberten Denken" 7 6 an. Es lassen sich drei Arten des musikalischen Denkens unterscheiden: eine dem Ornament raumgebende Art, eine auf Form und Themenbildung gerich= tete Art und eine gestaltende, unräumliche Art. Als Beispiel f ü r eine ornamentale Klangvorstellung mag folgende Klang= flgur gelten:

Beispiel 6. Mozart: Fantasia Hier trägt jeder Ton einzeln und gleichwertig dazu bei, eine ornamentale und bandförmige Tonreihe entstehen zu lassen. Die Töne stehen, fast objektiv, fest im Räume ihrer metrischen Abmessung. Für themaartige Gedanken, die subjektiv ordnend und formend vorgehen, mit Schwerpunkt auf übersicht= licher Erledigung und zusammenfassender Endgültigkeit, lassen sich folgende Beispiele anführen:

b»j-re Ijf' Beispiel 7. Lortzing: Undine

Beispiel 8. R. Strauß: Till Eulenspiegel

Eine individuelle Gefühlsvorstellung ist hier jeweils verdichtet zu moti= vischer Prägnanz. Die Töne haben verschiedenes melodisches Gewicht. Laut= stärke= und Tempounterschiede werden wichtig, aber immer durchaus im Rahmen einer festbegrenzten Ausdehnung, einer Klangbildfläche. 78

Theodor Litt: Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie. 1950, S. 17.

München

2.

GESINNUNG

85

Das nächste Beispiel gelte als Beleg für ein subjektfreies musikalisches Denken, wobei das persönliche Empfinden sich in die Sphäre der Allgemein* gültigkeit erhebt und der musikalische Gedanke den Charakter des Raum= ungebundenen, Überbrückenden, Immerweiterweisenden annimmt:

JV'^ijniniiMji

11 hi niyj1

n1

Der musikalische Gestaltgedanke fliegt über den abgrenzenden Motiv= bereich hinaus, er verläßt die Ebene klangbildlicher Verstandesform, ohne jedoch die Beziehung zu seelischen Empfindungen zu verlieren. Er ist weder gegenständlich noch ornamental noch Zelle oder Gruppierung in einer Fläche. Er ist aber auch nicht absolut. Er ist übergegensätzlich und kontinuierlich. Verabsolutierendes Denken leistet der Verstand, der Intellekt. Mit intellek= tuellen Gedanken bringt der Komponist nur eine logisch geordnete Form her= vor, eine „Maske der Ordnung" 77 . In der Musik rationalisiert der Intellekt= gedanke alle Klangvorgänge und setzt anstelle des Erlebnisses die meßbare Form und das Gitterwerk rechnerischer Übersichtlichkeit. Der ästhetische In= tellekt trennt, unterscheidet, wägt ab und stellt gegenüber, während der inten= tionale Gedanke verbindend, beziehend und wertend ist. Man kann diesen sinnbildenden musikalischen Gedanken auch einen meta= physischen nennen. Leonhard Euler, einer der letzten Erben mittelalterlicher Denkungsart, räumt in seinem Musiktraktat der Physik und der Metaphysik, trotz ihres verschiedenen Anteils am musikalischen Geschehen, die gleiche Berechtigung ein. Wenn er auch bemüht ist, die Klanggesetze vom Akustischen her zu erforschen, so betont er, der Physiker, doch, daß „vielmehr von der Metaphysik her" 7 8 das andere, nicht rationale Bildeprinzip der Musik zu ge= W i n n e n sei.

Ernst Jünger: Strahlungen. "alterum principium... ex metaphysica potius est petendum"; Tentamen, Vorwort. Hält man dem die heutige Musikästhetik und die heutige Musiktheorie gegenüber, so sieht man mit Staunen, daß beide physikalischer denken als dieser Physiker. 77

78

86

II. NOESIS

Die geistige Überschaubarkeit, die andere Inhalte erfaßt als der ordnende und bauende Wille, enthebt den musikalischen Gedanken der Bildhaftigkeit im engeren Sinne. Die Thema=Vorstellung hingegen ist bildhaft, perspekti= visch. Sobald der Komponist hinter seinen musikalischen Einfällen die ord= nende Form gleichsam als ein Fertigprodukt aufstellt, leitet ihn das Bestreben nach augenmäßiger Richtigkeit. Bei der musikalischen Darstellung wird dem= gemäß die Ordnung kleiner oder großer Motivgruppen „dem Sehapparat des Menschen angeglichen"' 8 . Das nennen wir Perspektive. Die nicht perspektivische Art des musikalischen Denkens zeigt sich als raumungebunden, als intentional. Hierbei wird aus dem Bewußtsein, in wel= ehern musikalische Gedanken vorzufinden sind, zu deutlicherer Vorstellung, zur Bewußtheit vorgedrungen. Der Komponist vermag dann das allmählich Werdende bereits zu erkennen. Offensichtlich sind solche Vorstellungen ganz und gar mit Gesinnungs= und Charakterwerten durchdrungen, nicht allein beim Komponisten, sondern auch beim Hörer, wo diese Einschmelzung ge= hörter musikalischer Gedanken den umgekehrten Weg nimmt. Dieser noetische Gesamteindruck ist, beim klingenden Kunstwerk, weit davon entfernt, nur unbewußte Geltung zu haben; er ist höchst real, ergreifend, zupackend,bildend. GESINNUNG UND CHARAKTER IN DER MUSIK. Von da aus lassen sich auch die ethischen Auswirkungen großer Kunstwerke begreiflich machen. Der Komponist geht mit einem bestimmten seelischen und geistigen Verhalten an sein Werk, er wendet sich mit stellungnehmender Gesinnung an seine Zuhörer. Nicht nur wildbachartig dringt in den musikalisch Schaffenden die Intuition ein, muß sie doch durch die Schleusen seiner ästhetischen Willensdisposition und Gesinnung hindurchgehen. „Der Dichter ist nicht das Strombett, wohin= ein das Wasser steigt, das die Erde aufwühlt, jäh die Dämme zerbricht und die Felder überschwemmt." 80 Er vermag das Unbeherrschte und Maßlose von sich zu weisen, sich selbst zu lenken, zu wandeln, zu läutern.

Den Griechen, denen bereits im Altertum die ethische Einstellung in der Musik etwas Vertrautes war, galt die Gesinnung als ein Teil der geistigen Anlage, durch die jedes Schaffen, auch das musikalische, hindurchgehen muß. „Alles, was geschieht oder gewährt wird, geht von der geistigen Gesinnung aus" 8 1 . Zwar kannte ihre Musik auch den gefälligen 82 und den stürmisch= 79

Bernhard Schweitzer: V o m Sinn der Perspektive. Tübingen 1 9 5 3 , S. 1 9 . Giovanne Gentile: Philosophie der Kunst (übers, a. d. Ital.). Berlin 1 9 3 4 , S. 246. 81 In diesem Ausspruch Senecas (non quid fiat aut quid detur sed qua mente) ist die stoische Gesinnungshaltung auf eine kurze Formel gebracht. 82 In den homerischen Epen gilt die M u s i k nur als angenehme oder vornehme Unterhaltung. 80

2.

GESINNUNG

8/

wilden, den dithyrambischen Ausdruck, doch diente sie auf andere Weise wiederum der Katharsis, der Heilung und Läuterung. Wegen dieser läuternden Werte wurde seit Dämon die Ausübung der Musik staatlich überwacht, damit ihre guten Wirkungen dem Allgemeinwohl zugute kämen und ihr volks= bildendes Ethos gefördert würde. Die hohe Bewertung der Gesinnung im Hinblick auf ästhetische Werke behielt auch das Mittelalter bei. Augustinus legt deshalb Wert auf die „salubritas", die Heilsamkeit der Worte und Werke: Schaffende und Lehrende können keine geistig=ästhetischen Wirkungen er= zielen, „wenn nicht die Gesinnung beteiligt ist" 83 . Denn die künstlerische Wirkung achte nicht zunächst auf formale Dinge, sondern auf das „reine Herz" 84 . Bildhaft sagt Augustinus einmal, daß die Gesinnung die ästhetischen Formen „ausglühe" 85 , daß deshalb Form= und Stilfragen nicht das Primäre sein dürften. Insbesondere die Musik solle „heilsame Erfahrung" 8 6 spenden. Tue sie das, dann brauche der Hörer sich nicht mit der kunstvollen Melodik zu beschäftigen, vielmehr könne ihn diese gleichsam zum Fluge erheben. Noch im 14. Jahrhundert heißt es, wenn über musikalische Komposition berichtet wird, nicht die Musik „finden" sondern die Musik „wissen" 87 . Das geistige Inbild besteht bereits vor dem Finden und Schaffen der Form. Was heute dem Musikleben ständige Gefahr bedeutet, die Vereinseitigung in Kon= struktivismus bis in die Manieriertheit hinein, das verhütete damals der ästhetische Wurzelboden der Gesinnung. Das innere Wissen von einem Mu= sikwerk nimmt, vom Komponisten her gesehen, die ganze klingende Aus= drucksabsicht voraus und schließt sie ein, während das Finden wie das Erfinden Schritt für Schritt vor sich geht. Es ist klar, daß ein gesinnungsgeprägtes Schaffen, ein im genannten Sinne wissendes Musizieren, wobei „der Geist mit dem Seelenleben sich auseinandersetzt" 88 , sich bis in den musikalischen Stil hinein auswirken muß. In der anderen, Schritt für Schritt die Form erfassenden und erobernden Musikvorstellung kommt eine andere geistige Anlage zum Zuge: der Charak= ter. Obwohl auch in dem individuellen Charakter Geist und Seele gemeinsam eindringen, unterscheidet dieser sich doch wesentlich von der heilsamen und das Ganze vorausnehmenden Wesensart der ästhetischen Gesinnung. Denn der Charakter ist keine eindeutige Größe, er ist „etwas Relatives und Fließen* 83

De catech. rud. IX 1. "cor castum", ebd. 85 "excoquat"; zit. bei J. Balogh: Augustins alter und neuer Stil (Die Antike Bd. 3). 1927, S. 364. 86 "experimentum salubritatis", Confessiones X 50. 87 vgl. A. Schering: Vom musikalischen Kunstwerk. Leipzig 1949, S. 33. 88 Werner Danckert: Stil als Gesinnung (Bärenreiter-Jb. 5). Kassel 1929, S. 29. 84

88

II.

NOESIS

des" 89 . Er kann sich ändern, ja er pflegt sich zu ändern. Anhand des Charak= ters vermögen wir die Begriffe Person und Individuum deutlicher zu unter* scheiden. Individuelle Charakterwerte gelten zwar als ästhetische, doch nicht als richtunggebende Werte. Richtungswert hat die Gesinnung. Der Charakter kennzeichnet lediglich die Art und Weise, wie der Mensch seine Triebkräfte mit seiner Gesinnung in Einklang bringt. Jedem Charakter sind umwelthafte Einflüsse beigemischt. Der Charakter „bildet sich in dem Strom der Welt" 80 . Seine Bildung bleibt immer Wand= lungen unterworfen. Er ist überdies nicht frei von körperlichen Abhängig* keiten. Auch in der Musik spiegeln sich solche körperlich=charakterlichen Verbindungsmerkmale. Hier jedoch berühren diese einen intentionalen Aus= druck nicht (s. Anm. 1 2 ) . Denn der Charakterausdruck lehnt sich im Gegensatz zum Gesinnungsausdruck ganz an bestehende Formen an, das heißt, er ist nicht rein produktiv. Er liebt, vielleicht weil er selbst wandlungsfähig ist, ein vorhandenes ästhetisches Prinzip, ein festes Formgehäuse, um damit schalten und walten zu können. Der Wille ist dabei sehr vordergründig. Alles Charakteristische ist etwas Individuelles. Die Eigentümlichkeit der höheren, also der über=individuellen ästhetischen Werte liegt aber darin, daß sie die Einzelperson überdauern, daß sie nichts bloß Charakteristisches ent= halten und daß sie durch den gesinnungsbewußten menschlichen Geist, also durch Personenwerte fortgeerbt werden. Sie lassen letzten Endes „die Person* lichkeit als den höheren Zweck erscheinen" 91 . Das Formdenken wie die charak* terlichen Einstellungsweisen unterliegen Wandlungen. Das andere Denken, das nicht auf die Form als gegebenes Prinzip blickt, sondern, statt Propor= tionenwahrnehmung, eine Gefühls= und Gedankeneinheit entstehen läßt, bleibt als noetische Wesensfähigkeit sich selber gleich. Die währende und bleibende, die heilsame Denkart ist eben eine andere als die willensgelenkte Denkart, von der zu lösen uns heute so schwerfällt. Statt in der Musikbetrachtung vorgefaßte Prinzipien zu handhaben, muß hinter die rationale Wahrnehmung zurückgegangen werden. Hier treffen wir auf das ungeschiedene Zusammenwirken von Gesinnung und Phantasie, auf den ästhetischen Bereich ohne Maßabsicht und ohne Vereinzelung. 3.

PHANTASIE

D E R E I N F A L L . Will man einen Unterschied zwischen dem musikalischen Gedanken und dem musikalischen Einfall machen, so kann man sagen, daß der Einfall mehr aus dem Reiche der Phantasie, der Gedanke mehr aus dem 89 90 91

Emil Brunner: Der Mensch im Widerspruch. Zürich 1 9 4 1 3 , S. 3 1 1 . Goethe: Tasso I. Michael Wittmann: Die moderne Wertethik. Münster 1940, S. 94.

3.

PHANTASIE

8g

Reiche des Bewußtseins hervordringt. Die Ganzheit der musikalischen Vor= Stellung, von der bisher oft die Rede war, ist nicht anders vorstellbar als in der Phantasie. Sie ist der Bereich des noch nicht Bekannten, ein Feld der Seele, wo Wissenserfahrungen und Lebensgesetze gegensatzlos zusammentreffen. Mit der Phantasie vermag der Mensch Wirklichkeiten aufleuchten zu lassen, die bisher übersehen worden waren oder überhaupt noch nicht sichtbar ge= wesen sind. In ihr findet jenes Innewerden, jenes unmittelbare Schauen neuer geistiger Wirklichkeiten statt, welches wir Einfall oder Intuition nennen. Die Intuition ist durchaus nichts „Magisches" 82 . Sie ist die Lösung einer zwar unbewußten doch geistigen Aufgabe, wobei Gefühle und Gesinnungen mit hineinfließen. Der Einfall ist ein Endvorgang aus vielen, unnennbaren, vorangehenden Erlebniseindrücken und Willensrichtungen. Er kann intentio= nal sein oder nicht. Ist er es nicht, dann enthält er keine Ganzheitsvorstel* lungen, ist formal und spiegelt in seiner Erscheinungsform entweder nur momentane Gefühlszustände oder greifbare Symmetrien wider; in beiden Fällen ist er eine Art Köder, an welchen sich nach und nach und Stück um Stück ein längeres Tongebilde anreiht. Auch hierbei spielt die Phantasie eine wichtige Rolle, doch wirkt sie nicht intentional ausrichtend. Anders der intentionale Einfall. Er tritt nicht eher aus der Phantasie ins Bewußsein über, ehe nicht auch das Werk als Ganzes in der Phantasie vorgebildet ist. Er „zeigt" sich als Teil eines Ganzen und nicht ohne das Ganze. Die intentionale Fähigkeit der Phantasie, eine ästhetische Gesamtvorstel= lung mit zugleich geistiger und seelischer Bedeutung entstehen zu lassen, hieß im Mittelalter eine „virtus ideativa" 93 , wörtlich übersetzt: Fähigkeit urbild= licher Gestaltung. Demgemäß wurde auch in der mittelalterlichen Musiktheorie der ideative Einfall des Komponisten als eine überwiegend geistige, also ur= bildliche, nicht etwa abbildliche Vorstellung gewürdigt. Eriugena spricht von einem „inneren Sinn" 94 , der die Seele ebenso mit Phantasie wie mit Urteils= gaben ausstattet, was insbesondere den urbildlichen und zeitungebundenen Bezogenheiten der Musik zugute kommt. Auch Isaak von Stella lenkt die Aufmerksamkeit auf das „phantasticum animae" 95 , auf die ideenbildende Phantasie der Seele, die auf das Schöne gerichtet ist, nicht nur sinnenbefriedi= gend oder nur logisch korrekt, sondern die geistig=seelische Gesamtanlage des Menschen erfreuend. Die Phantasie galt also als eine Quelle geistiger Urbilder, als ein Born nicht nur gefühlsbetonter, sondern auch in einem umfassenden Sinne geistig=ästhetischer Einfälle. Die metaphysischen Werte der Musik 92 93 94 95

D a s Gegenteil behauptet K u r t h : Musikpsychologie 3 1 . Eisler II 4 2 5 . " s e n s u m interiorem"; D e div. nat. S. 825 u. 965. Eisler II 4 2 5 .



II. NOESIS

wurden damit auf allgemeingültige Weise den meßbaren und analysierbaren Werten gegenübergestellt. Für den phantasiearmen Menschen freilich bleibt diese ideative und zeitlich ineinsgewirkte Klanggestaltung leer und sonderbar. Er nimmt das „geistige Gesicht" 96 einer Musik nicht wahr. Er hält sich an das Elementare, was gerade in einem intentional gestalteten Werk das Unwichtige ist. Die geistig=seelische Anteilnahme ist, vom Hörer aus gesehen, eine personhaft bedingte Sache der Auffassung. Nicht der Wille, sondern die Phantasie soll in Tätigkeit gesetzt werden, damit der Hörer außer der formalen Anlage auch den organischen Zu= sammenhang wahrnimmt und versteht. Die individuelle Auffassung macht vor dem Geistesreich der Phantasie halt und legt den ästhetischen Eindruck auf eigentümliche und spezielle Weise aus. Aber auch der Komponist, der seine Phantasie unter die rationale Form stellt und sich in den Grenzlinien individueller Gefühle verstrickt, gerät in Abseitigkeit und Weltfremdheit. Obgleich reine Gefühlserlebnisse sich in all= gemeingültiger Weise klanglich ausdrücken lassen 97 , so hat doch die Phantasie als virtus ideativa den Vorzug, unbewußte Wertvorstellungen einbeziehen zu können und damit die musikalische Ausdruckssphäre unbeschreiblich zu ver= größern. Die Vereinigung der richtunggebenden Gesinnung mit dem phantasie= erfüllten Einfall liegt im ersten musikalischen Entwurf vorbereitet. Der Entwurf „sieht" das Ganze. Es kommt das Können des Künstlers hinzu, um dieses Ganze zu realisieren. Sehr schön hat Cusanus im Gleichnis vom Glasbläser diesen Vorgang, bei dem der ästhetisch Gestaltende eine primäre Vorstellung direkt äußert, veranschaulicht: „Er bläst seinen Atem hinein, in dem sowohl der Entwurf als auch das Können liegt. Wären das bloße Können und der Ent= wurf des Glasbläsers nicht in seinem Atemhauch dasselbe, dann käme kein solches Glas zustande." 98 Hier wird deutlich, wie die Ganzheit des Entwurfes in der Phantasie alle Einzelheiten vorausnimmt. Der ästhetische Gestaltungs= Vorgang ist keine rationale Schaltfolge. Cusanus nennt das, was er hier als Atem symbolisiert, an anderer Stelle „intuitio mentis" 99 , geistige Schau. Das intuitive Ganzheitsbild in der Phantasie war einer der Kerngedanken auch der mittelalterlichen Musiktheoretiker, der in verschiedenen Wendungen Ausdruck findet. Hier sei nur diese Wortprägung von der ästhetischen Innen= schau, von dem verwirklichenden Atemhauch dem musikalischen Einfall zu= 96

Johannes Volkelt: S y s t e m der Ästhetik. München 1 9 2 7 , I 2 7 5 .

97

vgl. o. S. 75.

98

Schriften des N i k . v. Cues H . 1 0 S. 77. Id. de mente, cap. 1 5 .

99

3.

PHANTASIE

91

geordnet. Anschaulich genug, denn so erkennen wir den organischen Einfall nicht als klingenden Baustein des musikalischen Motives, sondern als klang= werdende Idee, die zwischen Form und Inhalt nicht von vornherein unterscheid det. Ihre Gesetzmäßigkeit ist eine innere, die sich ohne Normen herausbildet. Keine individuelle Willkür, keine berechnenden Änderungen dürfen diese Bildung beeinträchtigen. Das Schaffen aus der ineinswirkenden Phantasie besitzt unerschöpfliche Möglichkeiten neuer musikalischer Klangganzheiten, bei denen die unmittel= baren oder sinnlichen Klangdimensionen aufgehoben, gleichsam imaginär sind. In der Phantasie waltet, so darf man sagen, eine „imaginäre Architektur" 100 , die nicht zeitlich=räumlich, sondern zeitlich=aperspektivisch zu gestalten ver= mag. Diese imaginäre Architektur hat von den geläufigen architektonischen Gesetzen die räumlichen und, schwer vorzustellen, die abmessenden von sich abgestreift. Jedoch lenkt man die Gedanken etwa zu einer ägyptischen Königs= Pyramide oder zum Olympieion in Athen, so erweist sich, daß die Vorstellung, obwohl architektonischer Art, sich aller Ausdehnungsmaße enthebt und nur den inneren Begriff eines ästhetischen Eindrucks aufleben läßt. Dieser Inbegriff, den auch die Musik vermitteln kann, ist nicht von räumlicher, sondern von zeitlicher Art, genauer gesagt, von zeitfreier Art. Denn auch die Zeit wird hier nicht gemessen, nicht gestaffelt, vielmehr in der Zusammenschauung der In= tuition frei erfaßt. Dieser Zusammenschau werden wir uns nun zuwenden. Sie gleicht genau dem Atemhauch des Glasbläsers, der alle Einzelzüge in zeitungebundener Zu= sammenraffung in sich enthält. Sie ist auch eine Gabe menschenmöglicher geistig=seelischer Wirksamkeit und Gesinnung. Sie entsteht aus personaler Schau. Deshalb tritt sie dann ins Leben, wenn sie Ausdruck der ganzen Per= sönlichkeit ist. Mozart bekannte einmal, daß er den ganzen Tag mit seiner Musik umgehe, daß er geradezu in ihr drinstecke. „Sie wissen", schrieb er an seinen Vater, „daß ich gern spekuliere, studiere, überlege". 101 Das durchdrin= gende Überlegen, nicht das normative Formen, ereignet sich in dieser Zusam= menschau der Phantasie.

HOLOEIDETISCHES MUSIKSCHAFFEN. Die innere musikalische Vorstellung, in der auf zeitlich und räumlich nicht abgemessene Weise das musikalische Wer= den und das musikalische Sein ineinander verschmelzen, ist schauartig, ganz= 100

Wilhelm Waetzold: Schöpferische Phantasie. Wiesbaden 1 9 4 8 , S. 2.

101

Die Briefe Mozarts, hsg. v. L. Schiedermair. München 1 9 1 4 , I 238.

92

II. NOESIS

heitlich und intentional. Wir nennen diese Zugleichheit holoeidetisch102. Der Musikhörer erlebt sie in ähnlicher Weise wie der Komponist, nur daß seine ästhetische Vorstellung sich anschließend an das Hörerlebnis bildet, während beim Komponisten diese vor dem Klangausdruck da ist. „Als lebendiges Emp= finden entstand die Musik im Geiste des Komponisten, und in lebendiges Empfinden, seelisches Geschehen setzt sie sich beim Hören direkt wieder um." 103 In beiden Fällen ist der holoeidetische Eindruck nicht allein einem Bild* anblick, sondern auch einem Lebensvorgang vergleichbar. Ein unräumliches seelisches Erlebnis vermag hier zeitliche Aufeinanderfolgen zusammenzuziehen. Auch hier kann wieder an mittelalterliche Kenntnis angeschlossen werden. Die „coincidentia finiti et infiniti" des Cusanus, der Zusammenfall von etwas zeitlich Begrenztem und etwas zeitlich Unbegrenztem findet in der holoeideti= sehen Vorstellung eine musikästhetische Entsprechung. In der Phantasie ist es möglich, eine intentionale musikalische Vorstellung sowohl als ganzen Ein= druck wie auch zugleich mit den auftretenden Einzelformen zu erfassen. Jedoch ist diese Koinzidenz nicht gleich etwas Fertiges, sondern zunächst etwas Wer* dendes, ja sie legt ihren Werdecharakter niemals ganz ab. Es ist nützlich, die Komponisten selbst über diese Koinzidenz, dieses In= erscheinungtreten eines in sich differenzierten und dennoch zeitlich geschlos= senen Eindrucks zu hören. Sehr anschaulich bezeugt von den neueren Kom= ponisten Hans Pfitzner, daß er von einer „greifbaren, in sich schon vollendeten Einheit" 104 ausgehe, daß aber die Einzelausprägungen noch nicht zugleich da seien. Pfitzner erklärt das an einem Beispiel: „Ich kann einen Gedanken im Kopf haben, irgendeinen, zu einem Brief, einem Aufsatz, zu irgendeinem Geistesprodukt, welches durch Worte aufgezeichnet wird; und ich brauche noch nicht ein einziges Wort davon zu wissen. Ich kann aufs genaueste wissen, was es ist, und es kann lange dauern, bis ich das erste Wort zu seiner Auf= Zeichnung finde". Das gleiche gelte in sinngemäßer Übertragung für seine Musik. Diese eigentümliche zeitliche Koinzidenz ist ein Merkmal der intentionalen Vorstellungs= und Ausdrucksweise. Der ganze Gedanke ergreift das ganze Werk. Sein Werden geht ineins mit dem Werden des geplanten Musikstückes. Beethoven schildert das folgendermaßen: „Ich trage meine Gedanken lange, oft sehr lange mit mir herum, ehe ich sie niederschreibe . . . und da ich mir 102 holos (gr.) = ganz; eidos (gr.) = Idee, innere Vorstellung. Das Wort soll nur für den Bereich der Musik mit den hier zugehörigen besonderen Erlebnismerkmalen gelten. 103 Hugo Riemann: Grundlinien der Musikästhetik. Berlin 1 9 1 9 , S. 18. 104 zit. bei F. Gatz: Musikästhetik in ihren Hauptrichtungen. Stuttgart 1929, S. 5 1 2 f.

3-

PHANTASIE

93

bewußt bin, was ich will, so verläßt mich die zugrunde liegende Idee niemals. Sie steigt, sie wächst empor, ich höre und sehe das Bild in seiner ganzen Ausdehnung wie in einem Gusse vor meinem Geiste stehen, und es bleibt mir nur die Arbeit des Niederschreibens" 105 . Ähnliches wissen wir von Bach, dem die Sinneinheit und Sinnganzheit eines Werkes innerlich vorschwebte, bevor er die Einzelheiten in Angriff nahm, weil er die Musik „im Geiste vor sich sieht und nur noch in bestimmten Werten ausführen muß" 106 . So entstehen Musikwerke, die tatsächlich aus einem Gusse sind und deren Nahtlosigkeit beweist, daß nicht einzelne momentane Ausdrucksimpulse nach einem Formschema aneinander gefügt werden, sondern daß etwas Lebens= artiges primär da ist und Gestalt gewinnt. Es gibt ein Wort Schopenhauers, womit er sich, auf rein gedanklichem Gebiet, zu dieser Schaffensweise bekennt : „In meinem Geist entsteht ein Werk . . . Ich weiß nicht, was zuerst und was zuletzt entstanden ist" 107 . Dieses lapidare Bekenntnis, angewandt auf das musikalische Denken, kennzeichnet das holoeidetische Schaffen kurz und treffend. Ein Komponist, der sicherlich am aufschlußreichsten über seine Nie= derschriften aus der abgerundeten inneren Vorstellung heraus hätte berichten können, war Mozart. Doch er beschränkt sich auf Andeutungen hierüber, etwa wenn er berichtet, daß ein Präludium während des Aufschreibens der dazugehörigen Fuge entstand 108 , oder daß er darauf achtgibt, immer „bei der idée" 109 zu bleiben. Lediglich auf dem Wege der Überlieferung ist eine seiner wichtigsten Äußerungen 110 erhalten. Das musikalisch Gedachte, heißt es da, errege seine Seele. „Da wird es immer größer, und ich breite es immer weiter und heller aus, und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geist übersehe und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern sogleich alles zusammen." Und weiter: „Aber das Überhören, so alles zusam= men, ist doch das beste". Ähnlich wie bei Mozart, bei dem so der erste Schaffensakt bereits „auf einen Zug ein fest gestaltetes und gegliedertes Tonbild hervorrief" 111 , pflegte es bei Haydn zu sein, der nicht eher etwas niederschrieb, bis er in der inneren 105

Briefe und Gespräche, hsg. v. M . Hürlimann. Zürich 1946, S. 200. Albert Schweitzer: Joh. Seb. Bach. Leipzig 1928®, S. 1 9 5 . 107 zit. bei H. Pfitzner: Uber musikalische Inspiration. Berlin 1940, S. 45. 108 Die Briefe Mozarts, a. a. O. II 164. ' 1 0 9 ebd. I 1 9 5 . 110 A u f Grund mündlicher und schriftlicher Überlieferung, bereits von Goethe erwähnt, von Friedrich Rochlitz um 1 8 4 0 aufgezeichnet; vgl. A . Schurig: W . A . Mozart. Leipzig 1 9 1 3 , II 295. 111 Hermann Abert: W . A . Mozart. Leipzig 1 9 2 4 6 , II 1 2 5 . 106

94

II. NOESIS

Vorstellung „seiner Sache gewiß" 112 war. Die erste aufflammende Idee liefert so einen musikalischen Mikrokosmos, dessen Einzelzüge sich nach und nach immer klarer abzeichnen. Die geistig=seelische Ganzheit erscheint als das Pri= märe. Man kann dieses holoeidetische Überhören, unter der notwendigen Ein= schränkung, mit dem inneren Überschauen beim Schachspiel vergleichen. Von berühmten Schachspielern ist bekannt, daß sie ein ganzes Spiel mitsamt allen Zügen und Gegenzügen, Kombinationen und Überraschungen blitzartig über= denken können. Die Phantasie beweist auch hier ihre zeitungebundene Vor= stellungsgabe. Die Koinzidenz der inneren Vorstellungen beim Erleben oder Nacherleben einer musikalischen Gestaltung ist also oft genug bestätigt. Dennoch findet sie in der Zeit nach dem Mittelalter keine Beachtung. Denn die Spätzeit der Musik= theorie geht vom Detail, von kleinformatigen Baugesetzen aus. Sie vermag die musikalischen Gleichzeitigkeitsgesetze mit ihren Folgerungen nicht zu würdi= gen. Früher hingegen war die „similitudo in mente artificis" 113 , die Gleiche zeitigkeit ästhetischer Vorstellungen im Geiste, durchaus bekannt. Unter der Gleichzeitigkeitsschau eines differenzierten Gedankens, ohne den kein Teil denkbar ist, wurden ganz allgemein das Ganze (totum) und die Teile (frag= menta) zu einer geschlossenen Aussage ineinandergerückt. Augustinus ging bereits in dem Durchdenken dieses Prinzips sehr weit. Er stellte fest, daß die innere Vorstellung nicht überhaupt und an sich ganzheitlich sei, sondern daß sie jeweils in sich dann als ganzheitlich in Erscheinung trete, wenn die geistige Anlage zielend sei. Er macht auf diesen Unterschied im Zusammenhang mit der „recta intentio" 114 aufmerksam: der Geist wisse nicht an sich das Ganze, doch könne er „als ganzer", weil er sich „in seiner Ganzheit" 115 kennt, etwas wissen und erfassen. Das holoeidetische Wissen erfaßt also ein bestimmtes, nämlich intentionales Vorstellungsfeld. In der Neuzeit ist eine solche Klarheit über die intentionale Phantasie= tätigkeit nur bei einigen Musikern, nicht aber bei den Musiktheoretikern, selten bei den Philosophen anzutreffen. Tschaikowsky schreibt in einem Brief folgendes: „Der Kern des künftigen Werkes entsteht plötzlich, ganz unerwar= teterweise. Wenn der Boden günstig ist, d. h. wenn man zur Arbeit gestimmt ist, fängt der Kern an, mit unglaublicher Kraft und Schnelligkeit Wurzeln zu schlagen, kommt aus dem Boden heraus, zeigt Stengel, Blätter und Zweige 112

zit. bei Karl Geiringer: Josef H a y d n . Potsdam 1 9 3 2 , S. 1 5 3 .

113

Bonaventura, u m 1 2 5 0 ; zit. bei J. Schmidt-Görg: 1 9 4 6 , S. 1 1 . 114 115

M u s i k der Gotik. Bonn

D e summa Trinitate IX 1 .

" n o n dico totum seit, sed quod n o v i t " ; D e summa Trinitate X 3 u. 4.

seit,

tota

seit";

und:

"tota

se

igitur

3- PHANTASIE

95

und trägt endlich Blumen" 1 1 6 . Dieses ungewollte, aber von Anfang an ganze Dasein eines musikalischen Kerngedankens ist auch für Richard Wagner oft der Ausgangspunkt eines Werkes. Er schreibt einmal:„ Ähnlich (wie im Flie= genden Holländer) verfuhr ich im Tannhäuser und im Lohengrin; nur daß ich hier nicht von vornherein ein fertiges musikalisches Stück . . . vor mir hatte, sondern das Bild, in welches die thematischen Strahlen zusammenfielen" 117 . Auf diese strahlenartige holoeidetische Wirksamkeit eines Gestaltgedankens geht nun auch die neuere Philosophie ein. Hier ist es namentlich Husserl, welcher in der „regionalen Eidetik" 1 1 8 , in der Bildvorstellung einer zeitunge= bundenen Gedankensphäre die Möglichkeit sieht, daß „so reichhaltige und vielverzweigte Erkenntnisse" sich abrunden und verständlich werden, ohne daß deren Vielschichtigkeit mit rationalen Mitteln geformt wird. Husserl kommt von da aus zur „Transzendenz des Eidetischen" 119 : das Bildartige unter= steht schließlich keiner räumlichen Kategorie mehr. Dies läßt sich nirgends besser verständlich machen als in der Musik. Für die musikalische Holoeidetik, die ja ebenfalls der sachlichen Formerkenntnis völlig widerstrebt (s. Anm. 1 3 ) , ist hier eine weitere Anregung zu einpr ihr gemäßen richtigen Wahrnehmung gegeben.

NACHEINDRUCK UND VORAUSEMPFINDUNG IN DER PHANTASIE. Der Vergleich der holoeidetischen Klangvorstellung des Hörers mit derjenigen des Tondidi= ters läßt sich nunmehr aufschlußreicher anstellen. Die holoeidetische Vorstel= lung beim Komponisten ist vor dem fertigen Werke da. Sie ist präexistent. Sie bedingt die wachsende Ausgestaltung des ganzen Werkes. Die holoeidetische Vorstellung beim Hörer hingegen stellt sich nach dem Erklingen des gesamten Werkes ein. Sie ist reexistent. Sie ergibt sich als Neuerstehung der tondichte= Tischen Vorstellung, sie ist nicht Bedingung, sondern Wirkung des Gesamt= Verlaufes. Außerdem ist sie, im Gegensatz zur präexistenten, nicht einmalig. Sie kann sich beim wiederholten Hören erneut bilden. Ihre Reexistenz ist wandelbar.

Präexistenz und Reexistenz eines musikalischen Gesamteindrucks stehen nicht in einem festlegbaren Verhältnis zueinander. Daß sie übereinstimmen, ist ein Idealfall. Im allgemeinen ist der Grad der Übereinstimmung verschieden 116 zit. bei J. Bahle: Eingebung und T a t im musikalischen Schaffen. Leipzig 1 9 3 9 , S. 347. 117 zit. ebd. S. 305. 118 Ideen zu einer reinen Phänomenologie (Jb. f ü r Phil. u. phän. Fschg. I, 1 ) Halle 1 9 1 3 , S. 1 9 . 119 ebd. S. 1 1 1 .

96

II. NOESIS

hoch; er wird um so geringer sein, je mehr die Musik einen detaillierten und individuellen Gefühlsausdruck oder eine Aneinanderreihung solcher zum Er= klingen bringt. In diesem Falle vollzieht sich die Angleichung des reexistenten Eindrucks an den präexistenten nur Zug um Zug und bleibt ebenfalls individu= eilen Schwankungen unterworfen. Anders verhält es sich bei intentional ge= stalteter Musik. Hier bleibt der präexistente Eindruck in entscheidender Weise f ü r den reexistenten führend und sinngebend. Es geschieht eine „Lenkung der Wahrnehmung" 1 2 0 , eine Lenkung in dem Kunstwerk und durch das Kunstwerk. So wollte auch Busoni die holoeidetische Einheit als das heile Ergebnis einer richtigen Lenkung verstanden wissen. Er nennt es Unversehrtheit: „ D a s musi= kaiische Kunstwerk steht vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklun= gen, ganz und unversehrt d a " 1 2 1 . Die Umstände, unter denen die beiden sich ergebenden Eindrücke übereinstimmen, sind aber erst dann gegeben, wenn die Hörerlebnisse, „ungeachtet dessen, daß sie selbst in einem Urerlebnis einge= bettet sind", die Eigenart haben, „auf etwas hinzuweisen, was sie ihrer un= mittelbaren Wirklichkeit nach nicht sind" 1 2 2 , kurz, daß sie intentional sind. W o die unmittelbare Wirklichkeit eines Musikeindrucks vorliegt, ist die Teil= barkeit, ja das sofortige Aufteilen der Form die Folge. Ist der Musikeindruck hingegen ein mittelbarer, ein nicht vorliegender, ein zielender, so ist er gegen= wärtig „in der Art eines noch ganz unbestimmt Gedachten" 1 2 3 . Die Unversehrt* heit des Gesamteindrucks ist dann gewährleistet. Handelt es sich also um klangliche oder melodische Details, so sind diese lediglich „Kristallisationspunkte der Wahrnehmung" 1 2 4 , deren momentane und dimensionierte Formung die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Kommt es jedoch darauf an, alle Einzelklänge völlig im Rahmen eines großen Zusammen* hanges zu hören, so hilft nicht das punktartige Aufnehmen ins Bewußtsein. Hier gewährt das intentionale Verstehen die Möglichkeit, eine dargebotene Sinnganzheit panoramaartig zu überschauen. Das Erlebnis einer musikalischen Sinnganzheit läßt sich, vom Komponisten aus gesehen, mit dem Eindruck eines Wanderers, der sich von ferne einem Waldrand nähert, vergleichen. Was diesem zuerst in den Blick fällt, ist ein be= stimmbares und einmaliges, aber noch nicht detailliertes Gesamtbild. Beim Näherschreiten zeichnen sich dann allmählich die einzelnen Konturen der Bäume und Büsche ab. Den umgekehrten Weg geht die Phantasie des Hörers. Sie steht zunächst gleichsam vor den einzelnen Bäumen, tritt dann rasch zurück 120 121 122 123 134

Hartmann: Ästhetik 59. Entwurf 23. Robert Reininger: Metaphysik der Wirklichkeit. Wien 1931, S. 3. ebd. S. 3. Hartmanni Ästhetik 60.

3.

PHANTASIE

97

und vereinigt bei zunehmender Entfernung alle Einzelheiten organisch zu einem geschlossenen Gesamtbild. Was hier für den organischen, den Raum zu= sammenraffenden Eindruck des sich entfernenden Auges gilt, das ist in über= tragener Weise für das musikalische Ohr zutreffend. Die akustisch=zeitliche Dauer eines Musikstückes, die als Addition sämtlicher Klangzeiten anzusehen ist, wird in der das Klangpanorama überschweifenden Hörvorstellung integral» zeitlich, gegenstandslos. Alle musikalischen Zeitpunkte und Zeitverläufe sind bei der ganzheitlichen Vorstellung, sei sie nun vor oder nach dem Erklingen da, in einer Zugleichsphäre zusammengefaßt. Da bei der intentionalen Nachempfindung alle räumlichen und zeitlichen Zahlenwerte entfallen und die frontale Klangwirkung, man möchte sagen, pa= radoxerweise den Hörer nicht anrührt, begegnet uns hier die „Vermittlung des Unsinnlichen" 125 , eben die Ganzheit des präexistenten Eindrucks. Es liegt etwas eigentümlich Befriedigendes und Beglückendes in einem solchen Musikerlebnis, wenn alle Einzelausdrücke in einer Totalbeziehung eingeschmolzen sind, ein Eindruck, der von noch so eindringlichen Affekt= und Stimmungsdarstellungen nicht erreicht wird. „Das Nachgefühl dieser Musik ist wirklich bezaubernd", schreibt Hugo von Hofmannsthal über einen ähnlichen Gesamteindruck; „alles so leicht und licht, bei all dem großen, reinen Ernst. Ich freue mich über die Maßen" 1 2 0 . Die Eindrücke der Freude und der Reinheit sind mit dem der musikalischen Ganzheit seltsam verschwistert. Diese Tatsache wurde in den vergangenen Musikepochen bedeutend lebhafter empfunden als heute, ja sie fand, wie es etwa die oben erwähnte similitudo=Vorstellung beweist, in der Ästhetik ihren entsprechenden Niederschlag (s. Anm. 14). Daß heutzutage die Beziehungslosigkeit zwischen der ästhetischen Vorstel» lungswelt des Schaffenden und der des Hörenden als ein spürbarer Mangel zutage tritt, hat mit seinen Grund in dem überwiegend formalen und individu» eilen Musikdenken. Der heutige Mensch sieht die Welt in Teilen, und so sieht und hört er auch jedes Kunstwerk. Er sieht allerorts Gegnerschaften und wittert sie auch zwischen Akkorden und Tonereignissen. Sein Spürsinn ist aber ver= bildet; denn die Musik kennt nicht bloß abgegrenzte individuelle und gegen» sätzliche Gruppen, sie möchte auch nicht immer ihr Ganzsein gegen die Zerteil» wand einer falschen Höreinstellung anfluten lassen. Der präexistente und der reexistente Eindruck können also nur in dem intentionalen Gesamtsinn einer Musik konvergieren. Jede andere Formabsicht läßt dem individuellen Empfinden und Auffassen beiderseits Spielraum, ja 125 126

7

Hartmann: Ästhetik 6 1 . Brief an Richard Strauß v. 27. 3. 1 9 2 6 über die Helena-Musik.

Musica Panhiimana

9

S

III.

HUMANITAS

kann zum Auseinanderklaffen beider Eindrücke führen. Musikalisches Gestak ten und musikalisches Erleben verlieren allein bei der intentionalen Einstellung ihre Getrenntheit. „Die zwei Pole, Gestalten und Erleben, die Verschiedenes zu sein scheinen, bilden bei näherer Betrachtung eine Einheit, in der eines das andere bedingt und einschließt." m Diese nähere Betrachtung muß sich jedoch darauf richten, ob und wieweit das „gehörte Bild", wie es bei Beethoven heißt 128 , die sinnvolle musikalische Ganzheit, als zielender Gesamtausdruck verstanden wird. Der alles einschließende musikalische Eindruck ist kein vager und zerstreu= ter, sondern ein gestalteter und gesammelter. Es gibt diffuse, undeutliche, ne= belhafte Gedanken, deren Grenzen im ästhetischen Ausdruck auch räumlich und zeitlich verschwimmen. Doch die musikalische Gesamtvorstellung gehört nicht zu diesen, sie ist zielklar, lebensvoll und besitzt ein erinnerbares, aperspek= tivisches Panorama, ein Noema, welches ein sinngemäßes Verstehen möglich macht. Die Angleichung von Vorausempfindung und Nacheindruck hat so un= endlich viele Möglichkeiten, daß die Erlebnisfähigkeit des Hörers, seine Er= lebnisfähigkeit als Person, sich immer wieder steigern läßt. Daraus nun ergibt sich die Wichtigkeit der Anteilnahme, die der Hörer überhaupt dem Kunstwerk entgegenzubringen in der Lage ist. So weitet sich das Blickfeld aus in die all= gemeinmenschliche Sicht auf das ästhetische Sinnverstehen der musikhörenden Person. III HUMANITAS 1. P E R S O N

UND

INDIVIDUALITÄT

PANHUMANES MUSIKVERSTEHEN. Weil die Musik sich nicht allein auf die klangliche Dimension beschränkt und sich als ästhetischer Ausdruck auf ein geistig=seelisches Kontinuum auszudehnen vermag, gelangt sie, wie wir schon sahen, zu ihrer allgemeinmenschlichen Bedeutung. Sie kann ihre dimensionale Objekthaftigkeit in verschiedenen Graden abstreifen. Wird ihr Ausdruck aber undimensional, dann taucht sofort die Frage auf, ob und wie ein Musikhörer sich dieses ästhetische Erlebnis zu eigen machen kann. „Musik ist ja nicht Klang an sich, sondern ein auf den Menschen bezogener Klang." 1 Was bringt der Mensch mit, um diese verborgenen Bedeutungen und Werte sich zu er= 1 1 7 Alexander Truslit: Gestaltung und Bewegung in der Musik. Berlin-Lichterfelde 1938, S. 16. s. o. S. 93. 1 Jacques Handschin: Die berühmten Musiker (hsg. v. J. Lacroix). Genf 1946, Einl. S. 16.

1.

PERSON UND INDIVIDUALITÄT

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schließen? Jeder Klang und jeder Klangzusammenhang sollen ja nicht bloß gehört, sondern auch als Klangwert und Zusammenhangswert erlebt werden. Insbesondere fragt es sich, wie die über die jeweils objektiven und dimensio= nalen Klanggrenzen hinauszielende Musik verständlich wird. Der Mensch erlebt eine intentionale klangliche Gestaltung nicht als Indi» viduum, sondern als Person. Innerhalb des Individualerlebnisses bleibt die Dinglichkeit der Musik fortbestehen, sie gelangt nicht zu der komplexen Wechselwirkung, bei der die objektiven Klänge mit den hundertfältigen Mög= lichkeiten, vermittels derer der Mensch seinen Kontakt und seine Auseinander Setzung mit der Menschheitswirklichkeit stündlich erneuert, sich ineinander schlingen. Die personalen Züge hingegen beherbergen gerade diese, es sind diejenigen, die jeder Mensch mit seinen Mitmenschen gemeinsam hat. Nicht die Urgefühle, in denen ein reiner Stimmungsausdruck unmittelbar widerhallt, kommen hier zur Wirkung, sondern das geistige Aufnehmenkönnen, das Hin= über= und Herüberreichen, welchem die gegenständliche Mitteilung nicht ge= nügt, die Selbstlenkung des geschichtsbewußten Menschen, die Verarbeitung der Wirklichkeit anstatt der Hinnahme der Dinglichkeit, seien es auch nur Klänge. In der Antike gab es Musik von unzweifelhaft überindividuellem Charakter. Vom alten Griechenland ist bekannt, daß dort die Musik teils gefühlshaft= spontan, teils kosmomorph war, das heißt, sie galt dem All und der Allgottheit und nahm sich deren Gesetze, so wie man sie kannte oder zu kennen glaubte, zum Vorbild. Auf gleiche oder ähnliche Weise wußten auch andere antike Kulturen ihre Musik mit kosmischer, über den Menschen hinausweisender Bedeutung zu erfüllen. Erst viel später wurden die Künste ausgesprochen an= thropomorph, den Menschen mit seinen Besonderheiten nachbildend und seinen individuellen Wunschbildern nachgehend. Die altgriechische, alle Kunsttheo= rien lange bestimmende Ansicht, daß „die gesamte Menschheit miteinander verwandt" 2 sei, ließ die menschliche Existenz als etwas Uberindividuelles in den Werken aller Künste widergespiegelt erscheinen. Aristoxenos war der erste, der dementgegen die Rechte des individuellen und vorwiegend subjektiven Hörens und Formens in der Musik geltend machte. Er trug jenes Prinzip, das den Menschen als das Maß aller Dinge ansah, in die Musik hinein und bahnte damit einer dualistischen Ästhetik folgenschwererweise den Weg. Auch die alte chinesische Musik, um nur dies noch als Beispiel anzuführen, wollte mehr als Lust und Laune des Menschen klingbar machen. Drei Jahr= hunderte vor Christus wird erläutert, daß die Regeln der Kunst zwar mensch= 2

Theophrast (um 300 v. Chr.), so auch die Sophisten und die S t o a ; vgl. Joh. M e w a l d t : D a s Weltbürgertum in der A n t i k e (Die A n t i k e Bd. 2). Berlin 1 9 2 6 , S. 1 8 2 f. T

III. HUMANITAS

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lieh seien, daß aber „die Klarheit des Ewigen" in den Tönen walte; es lasse die Musik „die Taten der Menschen widerklingen und fügt sich doch den Ord= nungen des Himmels ein" 3 . Die Musik will mit ihren Klängen würdig „dahin= strömen ins Unendliche". Sie ist nicht angewiesen auf das gebändigte oder ungebändigte Wesen des einzelnen. In den Folgezeiten wurde nun nicht allein die Würde, sondern auch die Würdelosigkeit des Menschen als ästhetisches Thema gewählt. Neben dem Humanum kehrte sich das Individuum in der Musik mehr und mehr hervor. Ja das Absinken von der überindividuellen Ebene ging in allen Künsten bis zur Verzerrung und endlich in der Neuzeit bis zur zynischen Karikierung des Menschen. Wo bleiben die Stimmen, welche den Menschen nicht als bestim= mendes Maß, seine von Dualismen erfüllte Individualität nicht als Richtschnur in ästhetischen Dingen anerkennen wollen? Man kann der Frage nach dem humanen Beitrag des Menschen und nach der Art und Weise, wie sich dieser auf ästhetischem Gebiet zeigt, nicht mehr ausweichen. Allerdings tritt uns heute an Stelle des Gefühls kosmischer Verbundenheit die Forderung nach reinmenschlichem Verhalten, nicht allein in der Musik, entgegen. Wie ist dieses Verhalten, im Sinne humaner Lebensbereicherung, zu verstehen? Man hat den Menschen ein fragendes Wesen genannt: Kampfplatz erhe= bender und erniedrigender Vorstellungen, suchender Geist, hin und her ge= worfen zwischen Ja und Nein, zwischen Glück und Leid, aber auch Auftrags* empfänger eines Höheren, sofern er sich davor nicht verschließt, unfertig aber zielklar, sich seiner Richtung bewußt. Von der Entscheidung, ob im Menschen die überindividuellen und zielenden oder die individuellen und zwiespältigen Anlagen angesprochen werden sollen, muß auch die Musik ausgehen. Sie formt individuelle Erlebnisse oder gestaltet Erlebniszusammenhänge höherer Art. Diese letzten gehören einer humanen oder, noch stärker betont, einer pan= humanen Vorstellungswelt an. Eine als Panhumanismus bezeichnete philosophische Lehre 4 der jüngsten Zeit hat einen überindividuellen Menschheitsbegriff zu ihrem Mittelpunkt ge= macht. Es wird darin versucht, die geistige Welt des Menschen, auch in bezug auf ästhetisches Erleben, in ein panhuman verstehbares System zu bringen. Dabei wird absoluter Geist mit „unendlicher Menschlichkeit" 5 in Parallele ge= setzt. In der Tat zeigt sich in dieser Denkrichtung, wie das Humanum in ein Panhumanum hineinwächst. Aber es taucht auch die Gefahr auf, daß durch 3 T s c h u a n g - T s e : Dichtung und Weisheit (übers, v. H. Stange). Inselbüch. 1 9 5 4 , S . 47. 4

Gerhard Kränzlin: D a s S y s t e m des Panhumanismus. Stuttgart 1 9 4 9 .

5

ebd. S. 5 u. öfter.

1.

PERSON UND INDIVIDUALITÄT

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die Verabsolutierung des Geistes, hier in Anlehnung an Hegel, die Ursprünge liehe geistig=seelische Einheit beeinträchtigt wird. Denn sobald die Kontinuität des geistigen Lebens und Erlebens als von der Kontinuität der seelischen Ge= staltungskräfte losgelöst betrachtet wird, erscheint auch das geistig=ästhetische Vermögen des Menschen als absolut, spezifisch und individuell. Besser vielleicht als ein solcher spezifischer Panhumanismus läßt sich ein ethischer Panhumanismus mit der musikalischen Ästhetik in Verbindung brin= gen. Diesen hat Nikolaus Cusanus mit seinem Begriff von der „unendlichen Aufgabe des Menschen" 6 vorgezeichnet. Die ethische Zielstrebigkeit ist hier mit dem ganzheitlichen Verstehen, Schaffen und Wollen des Menschen vereint. Die Koinzidenz von Sein und Werden hebt das ästhetische Erlebnis aus dem subjektiven Bereich heraus. Der gerade der Musik eigentümliche Vorstellungs» bereich wird durch diese mittelalterliche Betrachtungsweise nicht allein erhellt, sondern auch in den ethtischen Gedanken der überindividuellen und allgemein» menschlichen Erlebnishöhe, der Humanitas, einbezogen. Überhaupt hat der Humanitasgedanke das ganze Mittelalter hindurch auch die ästhetischen Ansichten bestimmt. Nicht als äußere Menschenfreundlichkeit, sondern als ethische Zielvorstellung wurde er, seit Sokrates, durch Hutten und Erasmus neu belebt, zu einem Bestandteil der abendländischen Kultur. Die Humanitas, noch von Wieland als „unsere größte Angelegenheit" und als Emp» findungswert von „möglichster Selbstveredelung" 7 gepriesen, fand in manchen philosophischen Darlegungen ein allzu enges Gehäuse. Sie muß und will sich in tätigen Formen realisieren. Die Musik vermag die Humanitätsidee in sich aufzunehmen und sowohl durch ihr Nacherlebnis als auch durch ihre mannig= fachen soziologischen Bindungen wirksam werden zu lassen. Die Geschichte der Musik, die alte wie die neue, zeigt, daß infolge der wechselnden gesell» schaftlichen Bedingungen und Gegebenheiten die Hörer zwar nicht immer für das Humanitaserlebnis in der Musik aufgeschlossen waren, daß aber, wie etwa in der Schütz=Zeit, auch eine Hörergeneration durchaus eine Musik, in welcher „Ichtum und Wir=Gefühl auf die seltsamste und notwendigste Weise" 8 ver» schmolzen sind, entgegenzunehmen bereit ist. Ja eine solche Musik darf eine „hochgeistige Wiedergabe" 9 beanspruchen, denn die geistige Seite der Musik wendet sich immer denen zu, die neben den wandelbaren und modischen ästhetischen Formen auch jene künstlerischen Gestaltungen wahrnehmen, die weder den Menschen als Individuum noch die Menschen als Masse ansprechen, sondern die einen überindividuellen Sinn zum Ausdruck bringen. 6 7 8 9

D e apice theoriae; Schriften des N . v. Cues H . 9. zit. bei H. W o l f f h e i m : Wielands Begriff der Humanität. H a m b u r g 1 9 4 9 , S. 169. Hans-Joachim M o s e r : Heinrich Schütz. Kassel 1 9 3 6 , S. 1 2 . ebd. S. 4 0 1 ; im Z u s a m m e n h a n g mit dem Hohenlied v o m Jahre 1 6 2 9 .

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III. HUMANITAS

KONVERGENZ DES ERLEBENS. Je klarer es ist, daß die intentionalen Gesetze der Musik zu den Merkmalen der Humanitas gehören, desto deutlicher tritt der antihumane Kurs der Musik in der Neuzeit, von einigen Genieleistungen abgesehen, in Erscheinung. Der Antihumanismus gewinnt immer dort Raum, wo der Panhumanismus an Raum verliert. Die sachliche und formale Geschick* lichkeit, die in allen Zweigen der Musik denkbar größte Fortschritte gemacht hat, steht auf dem Boden ästhetischer Logik, die sich rein dimensionaler For= mungsmittel bedient. Diese Formungsweise dient aber nicht dem panhumanen Verstehen, sondern sie weicht ihm aus. Man macht es sich zu leicht, wenn man einfach behauptet: „Musik ist in ihrem Ausdruck allgemeinverständlich; sie ist es nicht für den Musiker allein, sie ist es für den menschlichen Gemein* sinn" 10 . Die Musik ist das alles nicht von vornherein, sie kann es aber sein. Man muß zwischen dem individuellen und dem panhumanen Ausdruck unter= scheiden. Der eine wie der andere ist aufsuchbar oder anzustreben.

Zunächst will die Frage beantwortet sein, wie der Mensch sich zu der Auf* gäbe stellt, in der Musik solche panhumanen Züge ästhetisch zu erleben. Ein cusanischer Satz lautet: „Alle Mittel des Menschen sind endlich, seine Auf* gäbe ist aber unendlich" 11 . Die Aufgabe wird hier vonCusanus als eine ethische hingestellt. Durchaus im mittelalterlichen Sinne kann das musikalische Erlebnis als ein zugleich ethisches und ästhetisches angesehen werden. Nimmt man es als ein rein ästhetisches, so sind die Unterschiede in den menschlichen Gefühls* haltungen unnennbar zahlreich. Erkennt man es aber als ein ethisch=ästheti= sches an, so wird die Möglichkeit des panhumanen Verstehens, die „konveigente Gleichgerichtetheit des Erlebens" 12 in einem allgemeingültigen Sinne so* gleich offenbar. Die geistige Seite des musikalischen Geschehens und Erlebens läßt die Menschen gleichsam vor Antritt einer gemeinsamen Aufgabe einander begegnen. Die Erlebnisweise der einzelnen Menschen konvergiert auf einer höheren, panhumanen Ebene, auf der das Trennende sich mehr und mehr ver* liert. Hier erweist sich die Aufgabe auch des ästhetischen Erlebens in der Tat als eine unendliche: sie läßt immer neue Bereicherungen erhoffen, doch nicht als ein gegenwärtiger und objektiver Bestand, sondern als eine zu vergegen* wärtigende und zu erfüllende Verwirklichung. Das geistige Verstehen von Musik erscheint somit als eine geistige Auf* gäbe. Das elementare Verstehen, sagten wir, basiert auf elementaren Gegeben* heiten. Beide Möglichkeiten, wohlgemerkt, sind panhuman. Sie gehen beide von bestimmten Ausdruckswerten aus, deren Bestimmbarkeit jeweils auf ver* schiedene Weise anschaulich zu machen ist. Zweierlei panhumane Ausdrucks* 10 11 11

Moritz Hauptmann: N a t u r der Harmonik und der Metrik. Leipzig 1 8 7 3 3 , S. 6. Docta ignorantia, Iib. 3. Rolan 7 5 .

a.

PERSON UND INDIVIDUALITÄT

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werte lassen sich demnach unterscheiden. Die einen bestehen in seelischen Ur= gefühlen, in Empfindungen, welche von individuellen Stimmungsmischungen weitgehend gereinigt sind und nur einfache und unmittelbare Aussagen dar= stellen. Die anderen zeigen sich als geistige Bezogenheiten, die zwar auch unmittelbar, aber nicht einfach sind. Sie gehen primär dem musikalischen Ganzen voraus und schließen jede klangliche Erscheinung in eine aperspek= tivische musikalische Vorstellung ein. Die erstgenannten folgen Formgesetzen, die sich auf die gegenwartsgebundene Darstellung abgegrenzter Klangphäno= mene beschränken und nach denen melodische und klangliche Komplexe mehr oder weniger sprunghaft aneinandergereiht werden. Bei den anderen dagegen gelten Gestaltungsgesetze, die auf eine Vergegenwärtigung des Ganzen hin= zielen und in denen die Töne und Klänge keine selbständige und phänomenale Bedeutung haben, vielmehr sich in die Weitzügigkeit des musikalischen Ge» dankens völlig einfügen. Für die panhumane Verständlichkeit des musikalisch ausdrückbaren reichen Gefühls wie auch des absichtslosen musikalischen Spielens und Ornamentierens braucht es nicht weitausholender Beweise. Anders steht es mit der Klärung der musikalischen Bezogenheiten und Gerichtetheiten, für die das allgemeine Ver= ständnis fast abhanden gekommen und in der neuzeitlichen Ästhetik keine Berücksichtigung mehr antreffbar ist. Es muß im Menschen, neben seinem Kollektiv=Unbewußten, auch sein „transzendentales Ich" 13 aufs neue gewür= digt werden. Damit ist hingewiesen auf die Gabe, daß der Mensch mit seiner Erfahrung über den Bereich der direkten Wahrnehmung hinwegzuschreiten vermag. Das rationale Denken, dem auch die phänomenalen Ausdruckswerte unterstehen, vollzieht sich in direkten und festliegenden Formen, welche seit jeher ästhetisch behandelt wurden und werden. Dagegen treten die seelisch* geistigen Vorstellungen in immer wieder neuen, von jeglichem Formmaterial unabhängigen Konstellationen zutage. Zu solchem Neuoffenbaren und Neu= werden kommt es aber nicht durch eigenwillige individuelle Antriebe oder durch kombinierende logische Erwägungen. Vielmehr treten hier die über= individuellen Möglichkeiten des panhumanen Schönheitswertens und =empfin= dens in Aktion. Das Schönheitserlebnis aus transzendenter Erfahrung ist panhuman. Denn dieses ist etwas durchaus Bewußtes, wenn auch eine Bewußtheit, die nicht an der Oberfläche liegt, die statt dessen einem umfassenden Sinn= und Lebens* Z u s a m m e n h a n g , den wir Geist nennen, angehört. Geistiger Besitz ist aber panhumaner Besitz. „Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, wenn nicht der Geist des Menschen, der in ihm ist?" (1. Kor. 2 , 1 1 ) Die geistige 13 Theodor 1 9 5 0 , S. 1 8 .

Litt:

Geschichtswissenschaft

und Geschichtsphilosophie.

München

104

III. HUMANITAS

Beschaffenheit, die uns als tiefer und zielender Gehalt auch in künstlerischen Leistungen begegnet, weil sie sowohl das Bewußtsein als auch die Phantasie durchdringt, bewirkt, daß der Mensch „in grenzenlosem Fortschritt begrenzter Seinszustände sich einem letzten Ziele zubewegt" 14 . Der Geist des Menschen, zielend und ganzheitschaffend, bringt in der Musik einen diesen Eigenschaften entsprechenden Ausdruck hervor. Die transzendente geistige Richtung meidet das begrenzte Einzelphänomen, den aggregathaften Klang, die undifferenzierte Zuständlichkeit, den ausschnitthaften und räumlichen Musikausdruck. Diese ästhetische, von der geistigen nicht getrennte Erlebnisweise „strebt aus der Stückhaftigkeit in die Ganzheit wie auch aus der Undifferenziertheit in die Differenziertheit" 15 . Das panhumane Erlebnis musikalischer Gestaltetheit ist also ein sehr umfassendes, klärendes und auf jenen Wesenszug des Menschen gegründetes, welcher als „hominis essentia" des Mittelalters, als das geistig Eigentliche des Menschen schon einmal sehr tief das Denken einer Geschichts= epoche beeindruckte. Sobald rationale und sachliche Abmachungen über einen musikalischen Ausdruck Herrschaft gewinnen, ist dem panhumanen Verstehen eine Schranke vorgelegt. Solche nüchternen Abmachungen auf einem ästhetischen Gebiet wie etwa der Musik sind durchaus nichts Seltenes. Sie sind viel häufiger hinsicht= lieh formaler Regelgebundenheit und viel verbreiteter hinsichtlich eines sche= matischen Gebrauches, als man gemeinhin glaubt. Was mit schematischem Gebrauch gemeint ist, wird deutlich, wenn man auf die von jedem ästhetischen Panhumanismus abgewandte Beschränkung, auf bestimmte, meist zu Symbo= lismen erstarrte Musikvorschriften blickt. Einen extremen Fall, wo die Musik sehr weit unter die Botmäßigkeit einseitiger Übereinkünfte gezwungen wird, zeigt die Musik zu den tibetanischen kirchlichen Mysterien 1 ®. Hier erhält jeder Sänger und jeder Instrumentist eine bestimmte liturgische Aufgabe, die er in Übereinstimmung mit seiner Musik zu erfüllen hat. Dabei entstehen Zu= sammenklänge und musikalische Gebilde, welche das Ergebnis nicht musi= kaiischen Denkens, sondern kultischen Brauchtums auf Grund einzelner ritueller Schritte und Bewegungen sind. Ähnliche Beispiele bietet die siamesische Musik, insbesondere die Theater= musik. Diese liefert seit unzähligen Generationen genaue musikalische Ent= sprechungen für die Bühnenhandlungen der Sänger und Tänzer. Es gibt eine besondere Musik für das Schreiten, Sitzen, Stehen, Grüßen, Marschieren, Siegen oder Verzweifeln. Man kennt eine Melodie des Ärgers, der Hoffnung, 14 Giordano Bruno; zit. bei Fr. Heinemann: Odysseus oder die Z u k u n f t der Philosophie. Stockholm 1 9 3 9 . 15 Rolan 1 3 9 . 16 vgl. Gisèle Brelet: Musiques exotiques (Revue philos. 1 — 3 ) . Paris 1 9 4 6 , S. 74.

1.

PERSON UND INDIVIDUALITÄT

105

des Schmerzes, der Liebe und andere mehr zu allen Tanzformen. „Ein gebil= deter Siamese kann von der Orchestermusik mit geschlossenen Augen den Gang des Dramas abhören." 17 Solche bewußte Abmachungen, die eine gewisse spezielle Bildungsstufe oder Vertrautheit voraussetzen, lassen sich auf die Formen und Vorgänge der Musik beliebig weit ausdehnen. Doch sind gerade die logischen Form= und Baugesetze, abgesehen von rein ornamentalen Bil= düngen, im Grunde musikfeindlich. Denn eine zu solchen Aufgaben gezwun= gene Tonkunst wird letzten Endes nur ein „künstliches Esperanto", nur eine „unorganische, willkürlich ersonnene Zeichensprache" 18 genannt werden dürfen. Die Entwicklung in der abendländischen Musik, die sich von der geistigen Ausdrucksgestaltung immer mehr entfernt und zur individuellen Konstruk= tion, zur formalen Regelgebundenheit hingewendet hat, ist noch keineswegs abgeschlossen. Audi unsere heutige Musik wandelt unter Gesetzen, deren Logik und Physikalistik sich vom panhumanen Verstehen ungewollt entfernen. Zu welchen Ergebnissen diese Entwicklung führt, das läßt sich beispielhaft am Schaffen eines Alexander Skrjabin 19 ablesen. Dessen Werke wiesen anfangs einen ausgeglichenen und zarten Charakter auf, gerieten aber später in kon= struktive Klügeleien und in eine abstruse Klangmystik hinein. Seine letzten Werke zeigen einen trostlosen, entnervenden, teils krankhaft sensiblen, teils formal konstruierten Endzustand. Statt Sinnerfülltheit und Erlebniswert bietet solche Musik nur eine unverbindliche Individualauffassung. Als Gegenstück dazu mag man das Werk Händeis ansehen. Es befinden sich darunter Musikstücke mit zweifellos panhumanen Ausdruckqualitäten. Über eine Händeische Komposition schreibt sein Biograph Chrysander: „Denn als die personifizierte Einfachheit und Ursprünglichkeit . . . berührt dieser Tonsatz diejenige Saite der menschlichen Empfindung, deren Schwingung überall, wo ein echt menschliches Gefühl waltet, gleich ist." 20 Das einfache menschliche Gefühl wird hier transzendiert, indem sich die Musik aus dem Feld der schematischen Logik herausbegibt und sich an den Menschen als geistige Person wendet. Schon einem Gluck hatte der Gedanke vorgeschwebt, eine „ f ü r alle Völker geeignete Musik" zu schreiben. Die vorklassische Musik, weder temperamentsgefärbt noch mit individuell=formalen Absichten beladen, hatte in der Tat einen oft unbegrenzten Kontakt bei allen Hörern. Sie besitzt als Verständnisgrundlage eine Sinnvorstellung, die innerhalb jedes Werkes die 17 18 19

A l i c e Ekert-Rotholz: S i a m hinter der Bambuswand. Frankfurt 1 9 5 3 , S. 1 8 1 . Danckert: U r s y m b o l e 62.

vgl. W a l t e r Georgii: Klaviermusik. Zürich 1 9 5 0 2 , S. 508. Friedrich C h r y s a n d e r : G . F. Händel. Leipzig 1 8 6 7 , III 4 3 ; über den T r a u e r marsch im Oratorium Saul. 20

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III. HUMANITAS

Einzelwendungen ineinanderbindet und eine holoeidetische Geschlossenheit als Gesamteindruck hinterläßt. Damit erfüllt diese Epoche eines der Gesetze, die für eine Musica panhumana, wenn man eine von jedwedem einseitigen Form= und Denkprinzip freie Musik so nennen will, anzuerkennen sind: sie ist zugleich auf seelischen und auf geistigen Ausdruck bedacht und läßt, cusanisch gesprochen, beide auf einer unendlichen Kreisbahn ineinanderschwingen. Es kennzeichnet den panhumanen musikästhetischen Standpunkt, daß er nicht allein von der Plattform allgemeiner Erlebnisgleichheit, die auf Elementar= empfindungen beruht, zugänglich ist, sondern daß er, fern von jeglicher Massenästhetik, dem Menschen als Person eine Orientierung zu musikalischen Werten mit allen Differenzierungen und Verfeinerungsmöglichkeiten darbietet.

PERSONALES UND INDIVIDUELLES HÖREN. Die betonte Hochschätzung der Individualität und des individuellen Empfindens begann in der Renaissance= epoche aus richtigen und durchaus wertvollen Erkenntnissen heraus, doch sie geriet mehr und mehr in eine positivistische Richtung hinein. Aus Hochschät= zung wurde Überschätzung. Dem alten Satz von der Unauslöschlichkeit des individuellen Wertes (individuum est ineffabile) mangelte schon die Gerichtet= heit der personalen Existenz, es fehlt darin der Gedanke, daß der Mensch „immer unterwegs" sei, gleichsam „eine Brücke von der Natur zur Welt Gottes" 21 . Der Personenwert ist keine gegebene Größe, er ist differenziert, er füllt die nicht abgrenzbare Erlebnisweite des Menschen aus. Die Überliefe= rung des mittelalterlichen und vormittelalterlichen Menschenbildes, das schon nicht gleichmäßig ungetrübt durch alle Zeiten leuchtet, verblich endlich im kalten Licht eines von Philosophie und Politik zugleich geförderten Positivis= mus. Nach dem Versuch der Bewahrung und Reinigung durch Giordano Bruno in seinem Begriff der „reinen Person", der Selbst=Lenkung des Menschen von der Vereinzelung fort zur Humanitas, mahnt uns die Überlieferung zur ehr= liehen Bemühung, auf allen, auch den künstlerischen Bereichen des Lebens die personale Lebensmöglichkeit zu ergreifen.

Die Ichperspektive ist das Gegenstück zum reinen personalen Verhalten. Sie schränkt das Musikverstehen ein auf den Bereich des nur Individuellen, welcher sich in den musikalischen Phänomen als gegenständlich und zeitge= bunden erweist. Das Personsein aber ist ein Erlebnis geistiger Verbundenheit, eine ursprüngliche und zielende Ganzheit. Es macht die Musik aperspektivisch erlebbar. Die Person erkennt andere und höhere Schönheitswerte als das Individuum; denn „je stärker das Personhaft=Eigene in einem Menschen wird. 11

W o l f g a n g Trillhaas: V o m W e s e n des Menschen. Stuttgart 1 9 4 9 , S. 100.

1.

PERSON UND INDIVIDUALITÄT

107

desto mehr tritt in ihm das naturhaft Individuell=Eigene zurück" 22 . Deshalb auch gibt es Musikformen, denen einerseits die Autonomie des Individuums das Gepräge gibt und deren individuelle Aussage nicht allgemeinverbindlich ist, anderseits solche, die aus einer aperspektivischen Vorstellung heraus ent= standen und von allgemeingültiger Übermittelbarkeit sind. Hier drängt sich von einer anderen Seite her das schon erwähnte Prinzip auf, welches als personales oder individuelles Hören in die Musik auf so grundsätzlich verschiedene Weise hineinspielt. Das individuell=Eigene nämlich kommt beim Musikhören da zum Durchbruch, wo die Temperamentslagen an= gesprochen werden. Je absichtlicher von Seiten des Komponisten das Indivi= duelle betont wird, um so ichgebundener wirkt sich das Hören und Verstehen aus. Auch das ästhetische Bestreben nach übersichtlicher und geordneter Form ändert nichts an der gefaßten Ichperspektive. Die Begrenztheit des Umfanges individueller Ichwelt wird hier zur Gefahr. Wo aber wird dem heutigen Musikhörer die Ordnungsbestimmtheit individuellen Denkens erlassen? Schei= nen nicht die Grundpfeiler der musikalischen Formen geometrisch erhärtet und durch Gerüste ichperspektivischer Absichten untereinander verbunden zu sein? Es ist eine alte Erfahrung: was man aufbauen kann, kann man auch ab= bauen. Je gebauter ein Kunstwerk ist, um so mehr reizt es zum Abbau. Das geometrische Prinzip im Zusammenhalt der Teile verlangt zum Nacherlebnis nicht den ganzen Menschen, es beteiligt nicht das personale Vollgefühl, es verhindert die „optimale Selbstvollendung" 23 , die, wie Humboldt sagt, eine übernationale Angelegenheit ist. Hier wölbt sich von der Form zum Geist, von der Komposition zur Huma» nitas ein bemerkenswerter Bogen. Teilen, so sagt ein alter Spruch, und Unter= werfen folgen aufeinander. Vom Zerspalten zum Zerstören ist nur ein Schritt. Die Mechanisierung der Kunst und die Versklavung der Menschheit gehen deshalb auf unsichtbare Weise Hand in Hand. Ob jemand im rationalen Triumph ein künstlerisches Werk aufbröckelt oder ob er innere Bindungen zwischen Menschen, seien sie völkischer, ständischer oder sonstiger Art, auf= löst, — es ist derselbe Vorgang. Nur das Unspaltbare ist das Heile. Organisch Gewachsenes verträgt keine Aufspaltung, keine Zertrennung. Deshalb ist das Humanum auch ein Pan= humanum, es will als etwas Ganzes und für alle gewürdigt und gelebt werden. Wie leicht gelingt „der Sprung von der Persönlichkeits: zur Menschheits= idee" 28 , wenn nur der Erlebniskreis der Persönlichkeit weit genug gefaßt wird. 22 23

Emil Brunner: Der Mensch im Widerspruch. Zürich 1 9 4 1 3 , S. 330.

Wilhelm von Humboldt; zit. bei K. M u h s : Geschichte des abendländischen Geistes. Berlin 1 9 5 4 , S. 1 1 1 .

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III. HUMANITAS

Die Engfassung der persönlichen Teilnahme ist uns heute geläufiger. Die Wissenschaften helfen dabei, und die Künste zeigen den Weg. Ähnlich wie es für die Beurteilung gegebener Tatsachen und festliegender Denkgewohnheiten ein positivistisches System gibt, so läßt sich auch das Darstellen und das Auf= nehmen geformter Musik in ein positivistisches System einordnen. Es sei nochmals zusammengefaßt: die Konstanz der geometrischen und rationalen Musikform gründet sich auf den sinnlich und direkt wahrnehmbaren Klängen und Klangzusammensetzungen. Demgegenüber erhalten die wechselnden Beziehungsvorstellungen der musikalischen Gestalt ihr Leben aus einer über= individuellen und nur indirekt wahrnehmbaren Substanz. Also gibt es auch in der Musik eine positivistische, auf bewußten Gegebenheiten aufbauende und eine andere, von der metaphysischen Erfahrung des indirekten und klang= mittelbaren Hörens ausgehende Ästhetik. Diese beiden Form= und Auffas= sungsprinzipien müssen auseinandergehalten werden. Es wurde bereits klar, daß die abendländische Musik in ihrer nachmittel= alterlichen Entwicklung den individualisierenden Weg beschritten hat. Grund= verschieden von ihr ist deshalb, um ein Beispiel zu nennen, die Musik der östlichen Kulturen. In diesen Ländern wirken Jenseitsglaube und religiöse Haltung jeder Art von Vereinzelung entgegen. Nicht etwa, daß hier der Typ dem Individuum voransteht, sondern es erhält hier die Musik jenseits von Schablone und Typologie (s. Anm. 15) ihr Leben aus einem universalen Seelen= empfinden. Typ und Person sind im Osten fast reibungslos ineinander ver= schränkt. In der abendländischen Vorstellung von der Persönlichkeit hingegen liegt eine starke Tendenz zur Vereinzelung. Feststeht, daß dem Menschen bei einer lebensvollen Mitweltverbundenheit eine „transpersonale Bedeutung" 24 zukommt. Diese transpersonale Bedeutung blieb in der fernöstlichen Musik erhalten. Sie könnte sich auch in der abendländischen Musik erneuern. Anti=individuelle Musik ist immer panhuman verständlich, beruhe sie nun auf ornamentalen Zügen, auf seelisch=ursprünglichem Ausdruck oder auf gei= stiger Gesamtgestaltung. Reine Formen einer Musica panhumana lassen sich deshalb in den bestehenden Musikschätzen durchaus erkennen. Die Möglich^ keit hierzu war bisher kaum gegeben. Erst wenn man auch in der Musik die Ganzheit personaler Erlebniszusammenhänge anzuerkennen weiß, dann ist die ästhetische Ausgangsbasis für die tatsächliche Erkenntnis panhumaner und überindividueller Musik gewonnen. In einer arabischen Schrift über Ästhetik aus dem 10. Jahrhundert heißt es: „Die Vollendung bei der Kunst ist das Ähnlichwerden mit dem Schöpfer"; 24

W i l l i a m Stern: Studien zur Personwissenschaft. Leipzig 1 9 3 0 , I 60.

2.

ETHOS UND ENTELECHIE

109

der Künstler soll mit seinem Werke „zum göttlichen Grundgesetz" 25 vordrin= gen. Aus der gleichen Einstellung heraus verglich Johannes Eriugena den „inneren Sinn" 26 , worin sich Geist und Phantasie vereinen, sowie die seelisch^ geistige Kontinuität der Musik mit der Stetigkeit des Weltprozesses und stellte den Begriff einer unstofflichen „perpetuitas" auf: das Ausgehen von Gott und die Rückkehr zu ihm als den bleibenden Zug im echten musikalischen Kunst= werk. So fremd und scheinbar abwegig es auch dem heutigen Musikkenner erscheinen mag: die Frage nach der Musik und dem musikalischen Hören läßt sich nicht beantworten, ohne zugleich die Frage nach dem Menschen und nach der Humanitas zu stellen. Denn die personale Bewußtheit des Menschen ist der archimedische Punkt, von dem aus alles als sinnlos oder sinnvoll gewertet wird. Die qualitative Wertung kann über das quantitierende Verfahren nur dann Herr werden, wenn der musikempfangende Mensch als hörende Person und nicht als hörendes Individuum gelten darf. Das Hindurchhören anstelle des Anhörens gelingt erst bei der anerkannten Beteiligung des ganzen Menschen. Dann ist der ästhetische Genuß nicht ein zufälliger und stimmungsbe= dingter, sondern ein ethischer und richtungsbewußter, der überindividuelle Gültigkeit hat. Die ethische Komponente in der Musik ist zwar irreal, aber auf dem Wege über die Ästhetik greifbar. Die antike griechische Musikwelt gibt uns das unwiderlegbare Beispiel.

2. E T H O S

UND

E NTE LECH I E

ARISTOTELISCHE ENTELECHIE. Der musikalische Ethosbegriff, wie ihn die griechische Antike kannte, war nicht von einer religiösen Grundlage abgeleitet. Seine Geltung beruhte vielmehr auf seiner „gemeinschaftsbildenden Macht im Dienste der antiken Polis" 27 . Bereits Dämon bringt um 450 v. Chr. eine theo= retische Abhandlung über den ethischen Wert bestimmter melodischer Fü= gungen und beschreibt die daraus sich ergebende erzieherische Nutzanwen= dung. „Die Töne einer zusammenhängenden Melodie", so heißt es bei ihm, „bringen in Erwachsenen und Knaben ein Ethos zum Entstehen, wo es noch nicht vorhanden, und lassen es hervortreten, wo es bisher im Innern verborgen war" 28 . Aristoteles, etwa hundert Jahre später, schreibt, daß es insbesondere 25

zit. bei Friedrich Dieterici: Die Logik und Psychologie der Araber. Leipzig

1868, S. 96 f. 2,3 27

"sensum interiorem"; s. o. S. 89. Hermann Abert i. d. Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwiss. Bd. 1 9 ; 1925,

S. 397.

2 8 zit. bei Pauly-Wissowa: Realenzyklopädie der klass. Altertumswiss., Stichwort Dämon.

110

III. HUMANITAS

die Rhythmen in der Musik seien, die „dem Ethos der Seele eine bestimmte Qualität verleihen" 29 ; denn von ihnen gingen gröbere oder edlere Wirkungen aus. Doch nicht rhythmische oder melodische Teile allein sind es, denen eine solche geradezu staatspolitisch wichtige Wirkung zukommt, sondern die be= wegende Ursache ist, wie der Aristotelesschüler Aristoxenos zusammenfassend feststellt, „die Musik insgesamt" 30 . Damit ist der Anschluß an die alte Lehre des Parmenides bewahrt, welche besagt, daß alles Bestehende durch feste und umfassende Verbindung geeint ist, modern ausgedrückt, daß die Zusammen* hänge bei organischen oder ideellen Seinsformen etwas übergeordnet Ganzes seien. Aristoxenos kommt am Schluße seiner ästhetisch=ethischen Ausfüh= rangen zu dem Ergebnis, daß die Gesamtempfindung des Hörers einem Gesamtausdruck in der Musik entspreche. „Das Gesagte wird genügend dar* tun", heißt es da, „daß weder die Harmonik noch die Rhythmik noch irgend= eine andere Kunstübung, die einen Teil der Musik bildet, a n s i c h ausreicht, das Ethos der behandelten Kunstformen zu erkennen" 31 . In Parallele zu der Art und Weise, wie Parmenides jedes organische Gebilde als „holonpan", als überall ganz ansah, beurteilt Aristoxenos das musikalische Kunstwerk als eine geistig=sinnliche Einheit, die auf Gefühl und Gesinnung des Menschen eine lebensvolle Gesamtwirkung ausstrahlt. Die Bewertung der Musik im alten Griechenland geschah aus einer gesamt* qualitativen Schau. Abgesehen von einzelnen motivischen Wendungen, denen gleichfalls eine gewisse ethische Auswirkung zuerkannt wurde, sind es vor allem die Melodien mit ihren Tonarten und Typengängen (nomoi), die eine bestimmte geistig=seelische Bedeutung in sich tragen. So empfahl Plutarch 32 den Musizierenden, dorische Melodien vor den lydischen zu bevorzugen, weil „wir eher eine härtere als eine weichere Lebensart wählen, . . . eher zur Be= wunderung als zur Geringschätzung neigen". Piaton 33 bezeichnet die dorische Tonart als würdevoll und ernst, die lydische als weichlich, die phrygische als erregend, die mixolydische als klagend, die äolische als ritterlich. Auf den Weg, wie die ethisch=ganzheitliche Auffassung der Melodik ge= nauer zu verstehen ist, führt Aristoteles mit seiner musikästhetischen Energe= tik. Es wird darin unterschieden zwischen äußerlich Bewegtem und innerlich Bewegtem. Das äußerlich Bewegte bezieht sich auf die akustischen und physio= 29

zit. bei D . P. W a l k e r : D e r musikalische Humanismus. Kassel 1 9 4 9 , S. 1 7 . zit. bei R. W e s t p h a l : Aristoxenos von Tarent. Leipzig 1 8 8 3 , I 439. 31 R. Westphal a.a.O. I 484. 32 zit. bei J. Handschin: D e r Toncharakter. Zürich 1 9 4 8 , S. 3 5 2 . 33 so Boetius über die M u s i k a u f f a s s u n g Piatos; zit. bei H. J. M o s e r : M u s i k a lischer Zeitenspiegel. Stuttgart 1 9 2 2 , S. 1 8 f. 30

2 . ETHOS UND ENTELECHIE

III

logischen Erscheinungen, das innerlich Bewegte betrifft die geistigen und ge= fühlsmäßigen Empfindungen. Das eine sind Bewegungen, das andere ist Bewegtheit. Bei seiner musikalischen Energetik kommt es Aristoteles „nicht auf die Bewegung der Töne, vielmehr auf die durch die Töne im Innern des Menschen ausgelöste Bewegtheit an" 34 . Die räumliche Bewegung und die un= räumliche Bewegtheit gelangen wiederum in zwei entsprechenden Seinsformen zur Auswirkung. Bei Aristoteles heißen sie, nach mittelalterlichem Sprach= gebrauch, forma formata und forma formans. Wir können sie, mit Beziehung auf die Musik, als geformtes Seinsgebilde und gestaltetes Sinngebilde be= zeichnen. Das musikalisch geformte Sein zeigt sich in seinen direkt zutage tretenden Einzelheiten und Verbindungen. Das musikalisch Sinnvolle hin= gegen ist durch die gleiche, zielsetzende Kraft charakterisiert, wie sie in der lebendigen und organischen Natur waltet, durch eine energetische Bewegtheit und Gestaltbestrebung. Hierfür hat Aristoteles ebenfalls einen neuen Begriff geprägt, den der Entelechie35. Die Entelechie hat niemals als ein ausgesprochen musikästhetischer Begriff gegolten, doch öffnet sie das Verständnis für das antike musikalische Ethos. Zunächst schließt sie jeden Form=Inhalt=Dualismus von vornherein aus. Die Entelechievorstellung geht davon aus, die Idee zugleich als formende Kraft zu sehen. Jede durch Entelechie geprägte Form ist zugleich „auch das Wesen des Dinges, darüber hinaus sein Endzweck und die Kraft, die diesen Endzweck ermöglicht" 36 . Entelechie ist Sinnverwirklichung, also nicht abschließend, son= dern alle lebensvollen und seelischen Vorgänge in eine zeitlich nicht begrenzte Zukunft hineinweisend, ja sie macht das zukünftige Ziel für alle inneren und äußeren Vorgänge zur Voraussetzung. Da sie nicht Bewegung, sondern Bewegt= heit ist, schafft sie eine nichtstatische Form. Melanchthon brachte das auf die kurze Formel: „Entelechie ist bewegte Sinnerfüllung" 37 . Ein moderner Erklärungsversuch stellt in scheinparadoxer Weise den Satz auf: „Sie ist etwas, das sie erst werden soll, und wird immer zu dem, was sie schon ist" 38 . Damit ist gemeint, daß die Entelechie einen Gehalt besitzt, der sich ständig erneut. Man könnte es auch biologisch ausdrücken: Entelechie ist ein Kerninhalt mit stetiger Selbstaufladung, ein vorfühlender Lebenskeim. Innerhalb des musikalischen Gestaltungsprinzips läßt sich die Entelechie= Vorstellung in der Weise verwerten, daß sie die organische Ausprägung eines 34

P a u l y - W i s s o w a a.a.O., Stichw. M u s i k .

35

entelecheia

36

Philosophen-Lexikon, hsg. v. W . Ziegenfuß. Berlin 1 9 4 9 , I 42.

37

"entelechia id est agitatio", zit. bei Eisler I 3 4 4 .

38

(gr.)

=

Seinsbestrebheit, zielsetzende F o r m k r a f t (s. A n m .

16).

Friedrich Kaulbach: Philosophische Grundlegung zu einer wissenschaftlichen Symbolik. Meisenheim 1 9 5 4 , S. 29.

III. HUMANITAS

112

bestimmten Musikgedankens klären hilft. Sie ist, musikalisch gesehen, die geistige und geschlossene Innenform, die Bewegtheit des melodischen Aus= drucks, eine bestimmte, zwar transphänomenale, aber durch vielfädige Be= zogenheiten realisierte Gestaltidee. Weil sie eine reine Zielvorstellung ist, entspricht sie, wenn auch auf einer anderen Denkebene, der Intentionalität und deren ästhetischen Gestalterscheinungen.

KALLOKAGATHIA. Während der Entelechiebegriff noch dem Mittelalter be= kannt war, lebte das Prinzip der Kallokagathia 39 , welches ebenfalls zur Er= klärung des musikalischen Ethos dienen kann, nur im Hellenentum. Auch dieses Prinzip ergibt sich aus einer Verschmelzung von ethischen und ästhe= tischen Vorstellungen, doch ist es mehr allgemeiner Art als das der Entelechie, mehr die Lebensführung und damit auch das künstlerische Schaffen über= haupt betreffend, als direkt auf die tatsächliche Gestaltung eines Kunstwerkes beziehbar. Kallokagathia verwirklicht sich dort, wo das Äußere eines Kunst= Werkes oder einer Handlungsweise als schön und nützlich und zugleich deren Inneres als gut und vollkommen sich erweisen.

Die Hochschätzung und Verlebendigung dieser Auffassung führte bei eini= gen antiken Philosophen zur Gleichstellung von Schönheit und Wahrheit. Dieser Gedanke liegt um so näher, als ja innerhalb der ästhetischen Schönheit immer die Dualität des Ausgeglichenen mit dem Unausgeglichenen, des Fer= tigen mit dem Unfertigen oder gar Häßlichen, also die Mannigfalt des Wahren fortbesteht. Die griechische Leitvorstellung des Schönedlen war so allgemein, daß auch die Präexistenz eines musikalischen Kunstwerkes in den Gedanken seines Schöpfers von dem Kallokagathiagrundsatz gleichsam durchtränkt sein sollte. Das Schöne und zugleich Gute steht als Ziel vor dem künstlerischen Werke und wohnt ihm intentional inne. So kommt eine allgemeine Gültigkeit eines musikalischen Erlebnisses zustande, welches sich nicht mit der statischen und begrenzten Form begnügt und in die geistigen und personalen Bezirke der Gesinnung einmündet. Während heute sich die Musik der abendländischen Kulturen zunächst vom Klangsinnlichen her versteht, nicht zu reden von den neuesten Versuchen eines formalen Konstruktivismus, herrscht in der Antike ein „überklanglicher Musikbegriff" 4 0 , der eine Geist=Gefühls=Einheit voraussetzt und außer seinem

40

S. 9.

kallokagathia (gr.) = das Schönedle. Heinz Edelstein: Die Musikauffassung Augustins. Phil. Diss. Freiburg 1 9 2 g ,

2 . ETHOS UND ENTELECHIE

113

Erlebniswert einen Gesinnungswert besitzt. Hier offenbart sich die Kalloka= gathiabedeutung für die hellenische Musik. In Übereinstimmung mit der Be= merkung Kants, das Interesse an der Schönheit sei „jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele" 41 , bildet das seelisch empfundene Gute den selbstverständ= liehen Anteil an der griechischen Musik. Ihre Einzelstruktur ergab sich aus einer klaren Grundvorstellung, von der die Musik ausging und die sie in den Hörern wiederum zu erwedeen hatte. Auch das musikalische Werk mußte „holonpan" sein. Freilich gab es Lieder von impulsiver Ausdruckskraft und drastischer Unmittelbarkeit der Motivik, Tanzstücke mit wiederkehrenden und aneinandergereihten Form= teilen. Doch die musikalische Ethik der Griechen wandte sich an solche Kunst= werke, die in überklanglicher Weise etwas primär Ganzes darstellten, die nicht aus Stückhaftigkeit heraus zu einem Werk zusammenwuchsen. Es sollte die entelechiale Bewegtheit einem übersubjektiven Ausdrucksbestreben entstamm men. Der überklangliche Wert und Gehalt der altgriechischen Musik wurde auch deutlich empfunden, ja vom Komponisten gefordert. Die Klanggebunden* heit gab dionysische, die Klangungebundenheit ethische, apollinische Aus= druckswerte. Diese klangungebundene, ganzheitlich=ethische Musik stand im Range der aristotelischen forma formans: ein Gebilde, dessen Sein sich nur aus einem immer neuen, noematischen Werden erklärt, ein Werk, dem ein geistig=seelisches Kontinuum, ein primärer Ausgleich von Gegensätzen inne= wohnt. Bei Aristoteles findet sich noch an anderer Stelle ein Hinweis, wie die primäre Übergegensätzlichkeit verständlich zu machen sei. Er beschreibt im ersten Kapitel der Physik das seelische Erlebnis als ein Bild (eidos), welches zugleich dem Erlebenden sich als ein Ziel (entelecheia) dargibt 42 . Er setzt demnach Bild und Entelechie einander gleich: eine Vereinigung von seiendem und werden= dem Eindruck im Erlebnis, von Sinnesauffassung und Geistesauffassung. Hier liegt in einfachster Form die Beweisgrundlage für eine musikalische Ethik vor. Weil aber diesem Ergebnis unser klangdimensionales Verständnis nicht nahe= kommt, fällt es uns schwer, den Geist dieser Musik nachzuempfinden. Diese Welt alter Tonkunst ist mit einer Wirkungsweite begabt, die von den Griechen gern mit der des Kosmos verglichen wurde. Die kosmische und seelische Weite der Musik wurde überhaupt in der antiken Kultur lebhaft empfunden. „Die Musik gilt nichts durch das, was sie ist, aber um so mehr 41

Kritik der Urteilskraft I § 42.

42

vgl. M a x W u n d t : Untersuchungen zur M e t a p h y s i k des Aristoteles. Stuttgart 1 9 5 3 , S. 9 1 . 8 Musica Panhumana

114

III. HUMANITAS

durch das, was sie bedeutet." 43 Das Schöne mußte weitreichend und bedeutend sein. So konnte das Kallokagathia=Ideal charakterlich, pädagogisch und poli= tisch, im Sinne der antiken Polis, unmittelbar der Verwirklichung nahegebracht werden. Zugleich trat neben das politische das kosmopolitische Ideal: der dem Kos= mos zugehörige Mensch soll das Schöne an sich und das Gute an sich zu seiner ganz menschlichen Aufgabe machen. Die Ästhetik erkannte und förderte eine Begegnung des Humanen und des Kosmischen. Von hier aus zweigt sich ein lebensfähiger Impuls ab, der, wie wir gleich sehen werden, auch aus anderen Kulturen zu uns dringt.

SPHÄRENHARMONIE UND MUSIKETHIK. Die Musik als kosmomorph aufzu= fassen, war nicht allein den Griechen eigentümlich. Eine altchinesische Über= lieferung sagt: „Die Musik ist die Harmonie des Himmels und der Erde", und: „Die Musik erhält ihre Wirkungskraft vom Himmel" 44 . In gleichem Sinne schildert eine altindische Sanskritstelle die kosmische Weite der Musik, indem sie deren Bedeutung für die menschliche Person als Verbindung zwischen Gott und Mensch, einer Opfergabe vergleichbar, hervorhebt. Sie lautet: „Der Klang entsteht aus einem Opfer und ist selbst ein Opfer, dessen ununter= brochene Darbringung den Kosmos erschafft und weiterhin erhält" 45 . Auch im alten Ägypten wurde die Musik als von ethischen Wirkungen beseelt und von kosmischen Bedeutungen erfüllt empfunden; erst in den späteren Dy= nastien drängte sich die Magie vor die Ethik, doch blieben kosmische Beziehungen lange formbildend.

Angeregt durch das eigentümliche Ineinanderwirken von Bewegung und Bewegtheit, durch die Doppelheit von meßbar=zeitlicher und kosmisch=zeit= licher Struktur der musikalischen Vorgänge, auch nicht ohne Beeinflußung durch ägyptische Philosophie, entstand bei den alten Griechen die Vorstellung von der Sphärenharmonie. Denn die gemessen=zeitliche, also raumzeitliche Struktur ist nichts anderes als der in Zahlen angebbare Klang= und Formbau. Die Vermutung von Klängen in den unerreichbaren kosmischen Höhen wurde bestärkt durch die Übertragung der geradezu wunderbaren akustischen Zah= lenverhältnisse, wie sie Pythagoras entdeckte, auf die kosmischen Erscheinun= gen. Die Verhältniswerte 2 : 1 , 3 : 2, 4 : 3 usw. für Oktav, Quint, Quart usw. 43 Hermann A b e r t : Die Stellung der M u s i k in der antiken Kultur (Die A n t i k e Bd. II). Berlin 1 9 2 6 , S. 1 5 1 . 44 zit. bei Marius Schneider: Die historischen Grundlagen der musikalischen Symbolik (Die Musikforschg. H. 2/3). 1 9 5 1 , S. 1 4 2 . 45 zit. ebd. S. 1 3 9 .

2.

ETHOS UND ENTELECHIE

115

glaubte man in den Sternenbahnen wiederzuerkennen, und es bildete sich nach Pythagoras die Meinung, daß „das ganze Weltgebäude sich nach musikalischen Verhältnissen drehe und bemesse" 46 . Es galt als gesichert, daß für Menschen unhörbare Harmonien die kosmischen Sphären durchtönten. Außer den zahlen= mäßigen Übertragungen und Vergleichen war aber die Übereinstimmung von Sternenwelt und Musikwelt dadurch gegeben, daß die Musik mit einem über= persönlichen Gehalt, mit einer ethischen und, wie Eriugena es ausdrückte, einer „zu ihrem Schöpfer zurückkehrenden Schönheit" 47 erfüllt war. Die kosmischen und göttlich=überirdischen Bindungen der Musik wurden in keiner der alten Kulturen angezweifelt. Überall findet sich die Auffassung, daß die Klänge einer irgendwie gedachten Sphärenharmonie mittels Saiten oder mittels der menschlichen Stimme nur nachgeahmt würden. Boethius geht so weit, die einzelnen Töne in bestimmter Weise den Sternen und ihren Bahnen zuzuordnen48. Die Ägypter waren der Überzeugung, daß die einzelnen Tage der Woche „zu der Himmelsordnung in musikalischem Verhältnisse" 40 stehen. In der Spätantike beschreibt Philo von Alexandria „die harmonische Bewegung der Gestirne", deren „nach den Gesetzen vollkommener Musik geordnete Reigentänze" in der Seele ein „Verlangen nach geistigem Schauen" 50 erwecken. Noch Ficinus ruft die Erinnerung an die Musik, „mit der die Him= melskörper und Himmelssphären eine wunderbare Harmonie hervorbringen", zurück, weil er überzeugt ist, an dieser Art Musik „habe unsere Seele teil= gehabt" 51 . Im ganzen Mittelalter galt die „musica coelestis" als die verborgene Harmonie, welche der Leib=Seele=Übereinstimmung des Menschen und den Klang= formen der Musik ihre Innenharmonien spendet. Diese ferne Himmelsmusik gehörte durchaus dem eigentlichen Musikbereiche an, nicht etwa, daß man ihr außerhalb der hörbaren Musikgattungen einen Platz anwies52. Im Zusammenhang hiermit Musik lange lebendig. Thomas schaft immer auf ein Gutes (ad die allgemeine Grundhaltung 46

blieben auch die ethischen Vorstellungen über von Aquino beteuert: „Wie daher die Wissen= bonum) ausgeht, so auch die Kunst" 53 . Das ist in der Musik des europäischen Mittelalters.

Jacques Handschin: Ein mittelalterlicher Beitrag harmonie ( Z f M w . ) . 1 9 2 7 , S. 1 9 7 . 47 zit. bei Handschin: Eriugena 3 2 5 . 48 vgl. H a n s Engel: M u s i k der Völker und Zeiten. 49 Dio C a s s i u s ; zit. bei P f r o g n e r : M u s i k 28. 50 zit. ebd. S. 59 u. 60. 51 im 1 5 . Jh.; zit. ebd. S. 1 4 6 . 52 " I n t e r (!) M u s i c e species coelestis vel divina Großmann: Spec. mus. 74. 53 S u m m a theologica, u m 1 2 6 0 . Dt. T h o m a s - A u s g . 8°

zur Lehre von der Sphären-

H a n n o v e r 1 9 5 2 , S. 6 1 .

reponitur M u s i c a " ; Salzburg, S. 1 4 9 .

zit.

bei

Il6

III. HUMANITAS

Aribo Scholasticus, um nur einen als Beispiel noch anzuführen, schreibt: „Ethisch oder auch moralisch ist die Musik, weil sie, wie oben gesagt, ihre guten Wirkungen auch bei fehlendem Kunstverständnis ausübt"54. So ange= sehen, im ethischen und reinmenschlichen Sinne, besteht die Musik fort, weil sie sich kosmisch einordnet. Ihre allgemeine Wirkung gilt als „Eigentum der Menschheit"55, nicht bloß eines bevorzugten kunstgelehrten Standes. Noch in der Zeit der europäischen Klassik vernehmen wir einen Nachhall dieses Glaubens in und durch Musik, wenn in einem Schillerschen Gedicht an die kosmische Harmonie, an „der Monde heiligen Gang, welche still gemessen schreiten im melodischen Gesang . . . " , an dieses „holde Maß der Zeiten"56 erinnert wird, welches sich bis in die Seele des Einzelnen, auch ohne besonderes Kunstverständnis, mitteilt. Von dieser menschlich=kosmischen Einstellung her fällt die Überprüfung des gegenwärtigen Musiklebens ernüchternd aus. Denn wenn man ein pan= humanes Verhalten ansieht als ein solches, das dem Mitmenschen personale und ethische Werte zugesteht, so wird ersichtlich, daß die Jahrhunderte der Neuzeit mit ihrem individualistischen Kurs sich von panhumanen Zielen und von ethischer Aktualisierung ihrer Musik sehr weit entfernt haben. Zwar wird dem sittlichen Verhalten, da es durch Gesetze geleitet wird, der Fortbestand gesichert, aber das ethische Empfinden verschwindet vor der Alleingeltung eines rigorosen Nützlichkeits= und Zweckstandpunktes. Denn ethisches Empfinden hat seinen Urtrieb nicht im Handeln, sondern im Denken, es kommt nicht aus dem Verstände, sondern aus der Vernunft, nicht verschieden nach völkischen Ordnungsvorschriften, sondern allgemeinmenschlich als ein unver= änderliches, überpersönliches und über die Gegenwart hinausreichendes Ziel. Für ein musikalisches Ethos sind die Anknüpfungsfäden aus der Überlieferung so gut wie zerrissen. Wohl werden ethische Einstellungen noch heute als zugehörig zur Menschenwürde angesehen und ihr Fehlen als menschenun= würdig empfunden, doch steht die musikalische Ästhetik erneut vor einem Anfang, wenn sie das ethische Empfinden für ein Kunstwerk mit allem Wert= und Gütegefühl wieder nahebringen will. Die Frage, ob die Ästhetik dieses Ziel überhaupt verfolgen soll, läßt sich immerhin stellen. Die Antwort ergibt sich aus dem Wesen der musikalischen 54

M u s i c a , um 1080. Gerbert: Scriptores II 2 2 5 . " p r o p r i u m quidam humanitatis e s t " ; Regino von P r ü m : Epistola de harmonia institutione, um 900. Gerbert ebd. I 2 3 5 . 56 Schiller: D a s Eleusische Fest. 55

2.

ETHOS UND ENTELECHIE

117

Gestaltqualität, welche in sich zielgebend ist. Ohne dieses Innenziel bleibt die Form nur Gehäuse für irgendein logisches oder gegensätzliches System. Daß die Form auch eine andere Aufgabe haben kann, will heute kaum einleuchten. Zumindest beschäftigt dieser Fragenkreis niemanden. Es sind die Fragen, die zur Musikethik hinführen. Die qualitative Auffassung von der musikalischen Gestalt und die damit verbundene ethische Einstellung fordern die Beteiligung des Menschen als ganze und verantwortliche Person. Die entelechiale Gestaltungsweise der antiken Musik wandte sich an die holoeidetische Auffassungsbereitschaft des Hörers und ergriff den ganzen Menschen. Bis ins Mittelalter hinein blieb so das Musikerlebnis als Gesinnungserlebnis wirksam. Das Gute, das aus einer primären Wertempfindung heraus den melodischen Ausdruck mitgestaltet, konnte „dank einer wunderwirkenden und geheimnisvollen göttlichen Kraft" 5 7 immer wieder den Hörer im ethischen Sinne beeindrucken. Der heutige Mensch ist erstaunlich weit von dieser Erkenntnis abgerückt. Wo nicht die stoffliche Behandlung klaren formalen Anhalt bietet, fällt es schwer, zu einem ästhe* tischen Sinn und von da zu einer musikalischen Ethik zu gelangen. „Hie kann nicht sein ein böser Mut, wo da singen Gesellen gut, —" das war Luthers Überzeugung 58 . Daß die Musik mehr als den Verstand und mehr als das Gefühl beschäftigt, ist dann möglich, wenn sie aus einer ganz* heitlichen und ethischen Idee heraus ins Leben tritt und dieser Idee gemäß verstanden wird. Wo immer die Musik ausgeklügelt, auswüchsig, albern, tri« vial, unbeherrscht, überrumpelnd, verstiegen, frivol, gebastelt oder verschroben ist, läßt sich weder eine intentionale noch eine ethische Gestaltung erkennen. Erst die melodische entelechiale Kraft hebt die Musik aus der klangdimensionalen Form heraus und regt, jenseits nüchterner Logik, den Geist und die Gesinnung an. FORTSCHRITT, ENTWICKLUNG, ENTFALTUNG. Die vorstehende Betrachtung über die ethische Stellung der antiken Musikwelt fordert vielleicht den Einwand heraus, die Musik habe sich seitdem durch mancherlei Fortschritte in eine andere Richtung weiterentwickelt, diese Überlegungen seien überholt und für unsere heutige Musik nicht zuständig. Fortschritte sind in der Tat auf einigen technischen Gebieten der Musik, z. B. der Notation und des Instrumentenbaues seit langem zu verzeichnen. Die Musik an sich jedoch kennt keinen Fortschritt. Sie kennt nur Reife, also Entfaltung dessen, was bereits kernhaft und wesen» haft vorhanden ist. Selbst im Hinblick auf neue satztechnische und formale 57 58

Ägidius von Z a m o r a : A r s musica ( 1 3 . Jh.); Gerbert: Scriptores II 3 7 3 . Vorrede auf alle guten Gesangbücher. 1 5 3 8 .

1x8

III. HUMANITAS

Methoden ist der vielgepriesene Fortschritt fragwürdig. Die Bereicherung und Ausweitung der musikalischen Mittel kann man zwar einen Fortschritt nennen, aber ist dieses zugleich ein Fortschritt der Musik? Man müßte denn in der Art, Musik zu hören, und in dem künstlerischen Ausdruck eben als Ausdruck einen Fortschritt wahrnehmen, was unmöglich ist. Statt auf Entwicklung muß auf Entfaltung gesehen werden. Entwicklung tritt im Fortschritt zutage, Entfaltung in der Reife. Entwicklungsformen gibt es in der Musik allenthalben: man spricht von Entwicklung der Sinfonie aus der Sonate, des Dur=Moll=Systems aus den Kirchentonarten, der Fugenform aus dem Ricercar u. dgl. m. Auch die modernen Tonalitätssysteme entwickelten sich durch logische Weiterführung oder Abzweigung aus dem vorhandenen Bestand. Etwas anderes ist es, wenn der Bestand selbst eine innere Verfeinerung oder Zusammenraffung durchmacht. Hierin tun sich Entfaltungsmerkmale kund, denn sie zeigen eine bessere oder feinere Darbietung eines ursprünglich gemeinten Inhalts. Jede Entfaltung ist allein im innermusikalischen Geschehen verankert. Sie geht zugleich verfeinernd und verdichtend vor. Sie setzt sich nicht über historisch Gewesenes hinweg, sondern sucht dessen Wesen noch näher zu kommen. Eine Entfaltung wird darum nie aus formaler Perspektive heraus erkenn= bar; denn der Formgedanke, wie wir ihn gewöhnlich anwenden, lenkt auf visuelle oder direkt definierbare Maßverhältnisse im dinglichen Ausdruck hin. Veränderungen, die an ihnen ablesbar sind, geben nicht ohne weiteres Ein= blick in die Substanz, die sich, wenn überhaupt, nicht mit diesen ändert. Ent= faltung zeigt im Grunde nie etwas Neues, sie wechselt die Konturen, aber nicht das Wesen. Die musikalische Entfaltung ist deshalb niemals primär auf Form bedacht. Sie ist entelechial, den Hörer auf überindividuelle Weise be= eindruckend, sie zielt, mit anderen Worten, nach „einer tieferen Bewußtwer= dung des Lebens, als die bloß materielle Folge der Veränderungen sie gibt, aus denen sich die Routine des täglichen Lebens zusammensetzt" 59 . Eine routineartige Formbehandlung kann in der Tat zu einer Entwicklung hinführen, niemals zu einer Entfaltung. Formale Entwicklung ist rational, musikalische Entfaltung hingegen beschäftigt alle Erlebnisschichten, nicht allein die rationale. Audi die Antriebe zu solch einer Entfaltung sind höchst umfas= send, jeder Routine abgewandt, menschlich bedeutsam und überdies uralt. Dessenungeachtet muß man bei Riemann 00 von „rohesten Anfängen" der Musik im Altertum lesen und darf deshalb nicht überrascht sein, wenn er 59 80

Paul Brunton: D a s Oberselbst (übers, a. d. Engl.). Zürich 1 9 5 3 2 , S. 1 8 8 . H u g o Riemann: Geschichte der Musiktheorie. Berlin 1 9 0 8 , S . 470.

2.

ETHOS UND ENTELECHIE

119

behauptet, es gäbe „eine fortgesetzt fortschreitende Entwicklung" in der euro= päischen Musik bis zu ihrer „sublimsten Vergeistigung im 1 9 . Jahrhundert". Das Gegenteil steht merkwürdigerweise in dem Buche von Wolff=Petersen 81 , wo die Überzeugung von einem unaufhaltsamen „Verfall des Musikalischen" dargelegt wird. Eine dritte, scheinbar vermittelnde Auffassung vertritt Paul Bekker 82 : Kunst kenne „keinen Aufstieg, keine Höhe, keinen Abstieg, nur eine unaufhörliche Wandlung", wobei sie geistig immer auf derselben Ebene stehen bleibe. In Wahrheit ist die Entfaltung der Musik ein innerer, vermutlich unend= licher Reifeprozeß. Alle Ansichten über eine fortschrittliche, rückläufige oder stillstehende Wandlung sind verschiedene Denkergebnisse aus dem gleichen Versuch, ursächliche Zusammenhänge in historischen oder kulturellen Leistun= gen zu erkennen. Es war ein verführerischer Gedanke, daß das Kausalgesetz der klassischen Physik auch für geistige und künstlerische Dinge Geltung ha= ben könne. Vorgänge innerhalb eines Kunstwerkes jedoch, die dessen Substanz betreffen, sind ebenso akausal und anti=naturwissenschaftlich, wie, im großen gesehen, historische Ereignisse; denn sie beruhen letztlich in der Gesinnung und im ethischen Bewußtsein. In der musikalischen Entfaltbarkeit, in der Reife, Klärung und Läuterung der ästhetischen Absicht herrschen keine Kausalbezüge. Entfaltungsvorgänge gehen nicht stetig und schrittweise, sondern unstet und sprunghaft vor sich. Zersetzungserscheinungen treten auf, werden überwunden. Auch das Personsein des Menschen entfaltet sich über Jahrtausende, es ist wandelbar. Ebenso verändert sich in der Musik, von S e i t e n des Hörers aus gesehen, das Soll an Erlebnisfähigkeit und an Erlebnisweise. Es gibt „keine unwandelbare Auto= nomie des musikalischen Erlebens" 63 . Doch alles dies geschieht ohne Berechenbarkeit, ohne offene Oberflächen= formierung. Innerhalb des Wandels und der Entfaltung wird Fremdartiges und Widersprechendes auf akausale Weise einbezogen, assimiliert. Das Ent= faltungsgeschehen ist wie Meeresleuchten: die Dunkelheit macht es heller. Gleich einem unsichtbaren organischen Vorgang bleiben Innenwirkungen des ästhetischen Erlebens unter Tage, sich selber gleich, aber sie können ausge= dehnter werden, angereichert, differenziert. Diese Wandlungen werden von der transphänomenalen Ästhetik aufgespürt. 61 D a s Schicksal der M u s i k von der A n t i k e bis zur G e g e n w a r t . Breslau 1 9 2 3 , S . 242. 62 Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen. Berlin 1 9 2 6 , S. 8. 63 Rolan 5 1 .

120

III. HUMANITAS

Die Differenzierung und Weitung des musikalischen Bewußtseins ist ein Entfaltungsvorgang mit dem Ziel gesteigerter Allgemeinverbindlichkeit und übergegensätzlichen Gesamtausdrucks. Musik gehört dann zur persona haften „Entfaltung einer inneren Welt" 6 4 . Sie durchdringt den Hörer als ein Wert. Wer von Entwicklung spricht, meint, daß alles später Kommende wert= voller sei als alles früher Dagewesene. Wer von Entfaltung spricht, erkennt die Wertanlage in den Ursprüngen und sieht deren entelechiale Verwirklichung. So ist ein zwar immer dagewesenes, aber wandlungsfähiges Kunsterlebnis anzu= erkennen. Diese genetische Erlebnisweise nun geht für jederlei Ausdruck in der Musik ihren eigenen Reifeweg. Daß tatsächlich ursprunghaft alle unterscheidbaren Sphären des Musikaus= drucks vorhanden sind und ihrerseits nur der Entfaltung bedürfen, davon wird im folgenden die Rede sein. Zuvor aber ist noch dem naheliegenden Ein= wand zu begegnen, daß der Versuch, eine ethisch=entelechiale Komponente im Musikausdruck zu sehen, sich auf keiner praktisch brauchbaren Grundlage bewege, sondern einer unkritischen, vielleicht gar mystischen Haltung ent= springe und deshalb nur einen kleinen Kreis von Musikfreunden beschäftigen könne. MUSIK UND METAPHYSIK. Zunächst ist die geschichtliche Bedeutung des ethischen Musikschaffens für die weitaus größten Kulturepochen verbürgt. Wir hatten im Überblick diese Musiklandschaften und Epochen kennengelernt. Da= vor, ausgehend vom erlebnisgeprägten Bewußtsein, welches einen weiteren Umfang besitzt als das kritisch=rationale Bewußtsein, waren wir zu den Wir= kungen, die die Musik auf Lebensgefühl und Gesinnung des Hörers ausübt, hingelangt. Diese Wirkungen sind zwar nicht kausal, jedoch zweifellos real. Sie werden vom Hörer verstanden, nicht weil sie aus normativer Übersichtlich* keit, sondern weil sie aus lebensgesetzlicher Gestaltkraft entspringen. Wie aber verhält es sich mit der mystischen Haltung?

Das Bestreben des Mystikers, ein unmittelbar göttlich=kosmisches Dasein zu verspüren und zwischen seinen seelischen Empfindungen und dem kosmi= sehen Leben eine Einheit herzustellen, scheint einem ethischen, irrationalen Ziel der Musik verwandt zu sein. Denn nicht allein die differenzierende Innenwelt der Phantasie, auch die Versenkung des Mystikers hat ethische Ziele. Nun wird aber von der mystischen Phantasie und von der Versenkung ins eigene Gemüt das Gefühlsleben in einem Maße mit Beschlag belegt, wie es das ethische Musikerlebnis nicht kennt, ja es behindern würde. Während dort das Ziel ist, ein absolutes Sein zu erleben und darin aufzugehen, bleibt hier der gedank= M

W o l f g a n g Trillhaas: V o m W e s e n des Menschen. Stuttgart 1 9 4 9 , S. 3 7 .

2.

ETHOS UND ENTELECHIE

121

liehe Gehalt auf die melodischen und klanglichen Bezogenheiten rückführbar und an diese gebunden. Die äußeren Formen werden in der Musik nicht zu= gunsten innerer Verhältnisse preisgegeben, vielmehr bestätigen sich, intentio= nale Gestaltung vorausgesetzt, die einen durch die andern. Äußere und innere Wirklichkeit sind beide vorhanden und werden, zum Unterschied von der mystischen Haltung, beide erlebt. Die eine Wirklichkeit ist rational, konstruk* tiv und nachprüfbar, die andere umfaßt alles, was „nicht durch eine einfaAe Formel zusammengefaßt werden kann" 6 5 . Zweifellos gibt es eine mystische Art, Musik zu erleben 66 . Jedoch diese führt an den ethischen und entelechialen Eigenschaften der Musik vorbei. Der see= lische Bezirk, in dem auch das Nicht=Konstruktive und das Nicht=mehr=Sinn= liehe ästhetisch empfunden wird, ist kein mystischer, sondern er heißt, seit Aristoteles, ein metaphysischer. Als metaphysisch wurden noch im Mittelalter die nicht rationalen Gestaltgesetze der Musik voll anerkannt. Das Reich der Musik wurde, wie wir sahen, so weit gefaßt, daß selbst die Himmels= oder Sphärenmusik, die nicht einmal mehr metaphysisch, sondern irreal ist, noch dazugehörte. Die Lösung von allem Äußerlichen, wie sie das mystische Erlebnis verheißt, geht andere Wege als die Abkehr vom Stofflichen beim metaphysischen Musik= verstehen. An der inneren Gewißheit eines geistigen Gehaltes in der Musik und an dem sicheren Erlebnis dieser Gewißheit sind bewußte und erinnernde Kräfte führend vor den stimmunghaften Gefühlen beteiligt. Diese Kräfte machen die Werdensgesetze der Musik zu einer Realität, welche vom Hörer erlebt wird, ohne daß er sich mystisch in sie versenken müßte. Das meta= physische Musikverstehen verdankt der Hörer einer unsystematischen geistigen Schau. „Das Sehenkönnen des Geistes übertrifft sein Fassenkönnen", heißt es bei Cusanus 67 . Das heißt, die eidetische Schau verschafft den metaphysischen Werten einen Vorrang vor denen des Verstandes. So offensichtlich, wie das mystische Erlebnis das Ich als Person ausschaltet, so gewiß zielt das metaphysische Musikverstehen gerade auf das Person= erlebnis hin und will dieses steigern. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied. Die geistige Schau, die dabei einsetzt, mag der heutigen abendländischen Kultur nicht mehr geläufig sein, sie zeigt nichtsdestoweniger eine entscheidende ästhe= tische Wirkung, welche weder mystische noch magische noch auch rationale Kennzeichen trägt. Was die mittelalterlichen Philosophen eine „effulguratio" 65 8 5 Henri Bergson: Denken M e i s e n h e i m 1 9 4 8 , 5. 46. 66 67 68

und schöpferisches

vgl. S. 2 7 6 f. Schriften des Nik. v. Cues I X 66. vgl. Eisler I 2 9 8 .

Werden

(übers,

a. d.

Franz.).

122

IV. URSPRUNG

nannten, einen gleichsam aufleuchtenden Gedankenkreis von bildhafter Ge= schlossenheit, das kennzeichnet, übertragen auf die Ästhetik, auch das musi= kalisch=organische Gesamtverstehen. Es war schon die Rede von der blitzartigen Vergegenwärtigung eines Musik= gedankens. Vergegenwärtigung und Gegenwart sind zwei Seinsweisen, die, so kompliziert es auch scheinen mag, von vornherein und selbstverständlicher^ weise in einem gestalteten Musikausdruck zugleich bestehen und zugleich wir= ken. Diese Zugleichheit würde, im Falle eines Versuches, Hauptgegenstand einer Metaphysik der Musik sein, wobei die effulguratio=Philosophie hilfreiche Dienste leisten könnte. Hier sei nur auf den wesentlichen Gedanken hinge= wiesen, daß die metaphysische Schau, zumal sie ein Ereignis außerhalb des meßbaren Orts= und Zeitbereiches ist, den Kern des nicht individuellen und nicht kausalen ästhetischen Eindrucks bildet. Im ersten Augenblick ist man versucht, einen solchen Eindruck für weit hergeholt und nicht leicht erreichbar zu halten; denn man könnte meinen, der einfache und ursprüngliche Mensch empfinde nur individuell und denke nur kausal. Doch das ist durchaus nicht der Fall. Gerade auf Grund seiner Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit war das metaphysische Musikverstehen seit je geläufig. Schon vor Jahrhunderten gehörte die Musik zu den „res metaphysicales" 69 . Nur auf Grund dieser Er= fahrung darf sich die intentionale Musikästhetik eben eine panhumane nennen. Auch da, wo der musikalische Ausdruck nicht systematisch, nicht normativ geformt ist, kann er als tiefreichende und lebensvolle Gestaltung auf ursprüng= liehe Weise verstanden werden. Die Möglichkeit, eine sinnvolle Gestaltung in der Musik von einer weniger sinnvollen oder gar sinnleeren zu unterscheiden, ist grundsätzlich, also auch in der frühesten Musik, vorhanden und läßt sich für die ästhetische Erkenntnis von Anfang an verwerten.

IV URSPRUNG 1.

H A R M O N I E

PRIMITIVKUNST UND ÜBERLIEFERUNG. Ein Klangbewußtsein gibt es schon im ursprünglichen Musikerlebnis. Wir wissen von einem unbekümmerten und spielerischen Schlagen, Blasen oder Streichen, um Töne hervorzubringen, auch von einer absichtsvollen musikalischen Kundgabe, die einen bestimmten Kunst» ausdruck will. Nur scheinbar stehen diese beiden Ausdrucksarten getrennt ein= 69 "res metaphysicales,... m a n n : Spec. mus. 76.

ad has igitur musica se extendit"; zit. bei G r o ß -

1.

HARMONIE

123

ander gegenüber. In Wirklichkeit verhält es sich so, daß diese Gegensätzlich* keit zwischen beiden hervorgekehrt und betont werden kann, daß sie aber auch weitgehend aufzuheben geht, so daß zwischen Absicht und Spiel keine Tren= nungslinie mehr ziehbar ist. Hinzu kommt, daß das ursprüngliche Klangbe= wußtsein auch zu einer abstrakten, also weder spielenden noch individuell ausdrucksbetonten Leistung, zu einem Gestaltwerden im Klangsein fähig ist. Fest steht jedenfalls: soweit überhaupt Einblick in musikalische Ursprünge möglich ist, lassen sich alle musikästhetischen Ausdrucksweisen von der vor= individuellen bis zur über=individuellen erkennen. Für uns ist in diesem Zu= sammenhang wichtig, daß der Mensch, sobald er zu ästhetischem Schaffen in der Lage ist, auch die Anlage offenbart, seine geistig=humane Haltung künst= lerisch wiederzugeben und mitzuteilen. Sowohl die Ornamentik als auch der konstruktive Ausdruck und auch der Sinnwert der Musik stehen also dem ursprünglichen Verständnis nahe und er= halten von da her ihre ästhetische Rechtfertigung. Die Ausführungen über die entelechiale Gestaltung der Musik haben bereits glaubhaft gemacht, daß jede innere Entfernung vom Ursprungsausdruck eine ästhetische Fehlentwicklung ist. Blicken wir auf die Frühzeit der Musik zurück, so wird erkennbar, daß ornamentale Gesänge, etwa bei Stammesfeiern, und ekstatischer Jubel mit ab= sichtlicher Gefühlshingabe, wozu Frühlingsfeiern und dergleichen Anlaß ga= ben, in der Musik vorhanden waren. Daneben geht bereits bei primitiven Menschen „das Ahnen überpersonhafter Ordnung" 1 in die ästhetische Sphäre über. Diese Dreigerichtetheit der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten stattet die ästhetische Grundanlage mit einer nicht ausschöpfbaren Reichhaltigkeit aus. Das wichtigste Mittel, um sich einen Begriff von den musikalischen Ur= Sprüngen zu machen, sind Rückschlüsse, die uns die Primitivkulturen unserer Gegenwart erlauben und die eine brauchbare Gewähr für Richtigkeit bieten. Neben verschiedenartigen, ältesten Überlieferungen stehen uns also Vergleiche offen, die sich aus dieser Kenntnis der Verhältnisse noch lebender Primitiv* Stämme ergeben. Da treffen wir zunächst auf das regelmäßige Taktschlagen durch Hände= klatschen, eine meist spielerische und dazu einförmige Betätigung. Diese wird hie und da durch Schlaginstrumente unterstützt und abgewandelt. Durch das Gleichmaß einschließlich der Abwandlung ergibt sich eine erste musikalische Symmetrie, die aber „kein geplantes Schema" 2 ist, die vielmehr aus dem ab= sichtslosen Spiel mit Tönen, Klangabständen und Tonabständen sich ergibt. Symmetrische Hebung und Senkung der Stimme, begleitet oder unterbrochen 1

Fritz Kern: Der Beginn der Weltgeschichte. München 1 9 5 5 , S. 1 2 4 . Robert Lachmann: Die Musik der außereuropäischen Natur- und völker (HdMw.). 1 9 2 9 , S. 8. 2

Kultur-

124

IV. URSPRUNG

durch taktgleiche Schläge: das ergibt eine Art Klangornament, einen unsidit= baren Tönezierrat von bedeutungsflacher Gleichförmigkeit. Ein anderer Ausdruck entsteht, sobald das Wort mit seinem bestimmten und hinweisenden Inhalt hinzutritt. Wenn etwa Frauen und Mädchen auf Madagaskar „ein eintöniges Lied" 3 anstimmen, welches Krankheitsdämonen verscheuchen soll, und dazu Trommeln, Gitarren und Flöten erklingen, dann geht die Klangerzeugung auf einen Zweck aus: sie will als Zauber wirken. Dergleichen Zaubergesang oder Zaubergetön gibt und gab es bei allen Völ= kern. Aber nicht nur im Chor, auch der einzelne selbst kann seine Gefühls= lagen in dieser Absicht musikalisch steigern. Dabei verschwindet unausbleib= lieh das spielerische Gleichmaß. Ein freies Tempo rubato gestattet das Heraus= singen der eigenen Stimmung, sei es „Ausdruck eines zu höchster Spannung angesammelten und fessellos sich entladenden Affektes", sei es „Ausdruck gerade einer ruhevollen Haltung" 4 . Die Jamana im Feuerland steigern, „mit leisem Summen beginnend" 5 , allmählich die Stimmung ihrer Andachtsfeiern; ein Nachbarvolk hingegen kennt das „wehmütig ausklingende Abendlied" 5 als gemeinsame Musik. Nicht allein zu Steigerung oder Verhall im Stimmungsgewoge, sondern auch zu einer bewußten Musiksprache führt der absichtsbewegte Ausdruck hin. So entwickelt z. B. der Ewestamm der Sudanneger eine klare Trommelsprache. Sie zeichnet sich durch bestimmte Klang= und Dämpfungsunterschiede aus". Ebenso deutlich will die Regenpfeife der Basuto auf den Fidschi=Inseln einen Vorgang bekunden oder eine Naturgewalt beschwören. Auch das Rezitieren der Tataren und Turkmenen, bei denen Töne zwischen Singen und Sprechen auf verschiedenen Helligkeitsstufen gebraucht werden, gehört zu den Arten primitiver Musiksprache. Das Unterscheiden von laut und leise mit allen Zwischengraden spielt hier bedeutungsvoll mit hinein. Aus der Sage wissen wir, daß man im germanischen Wotansglauben den Durchzug des „wilden Heeres" mit bald geheimnisvoll stiller, bald brausender und dröhnender Musik vernahm 7 , gewaltig anschwel= lend, überwältigend und dann leise verebbend, beruhigend. Alles Summen und Raunen, alles Gepfeife und Gerassel, alles Wispern und Dröhnen wird gern von Anfang an in den kultischen Dienst gestellt. Von den Medizinmännern 3

Reisebericht; zit. bei H. J. M o s e r : Dokumente der Musikgeschichte. W i e n 1 9 5 4 , 5. 1 1 . 4 Lachmann a.a.O. S. 7. 5 Fritz Kern a.a.O. S. 1 2 7 u. 1 7 7 . 6 vgl. Willi Pastor: D i e M u s i k der N a t u r v ö l k e r und die A n f ä n g e der europäischen M u s i k (Zschr. f. Ethnologie, Jg. 42). Berlin 1 9 1 0 , S. 659. 7 W e r n e r Danckert: W e s e n und U r s p r u n g der T o n w e l t im M y t h o s ( A f M w . XII 2) S. 98.

X.

HARMONIE

125

im Süden bis zu den heiligen Hainen im Norden erschütterte die Klang= und Geräuschmagie die Herzen primitiver Menschen. Das hinzutretende Wort lenkte den Musikausdruck auf die Bahn verschiedener Gedanken und Gefühle, heiliger oder erregter. Um 1500 v. Chr. wird in Ägypten die Göttin Hathor mit einem Pharao abgebildet, wozu eine Inschrift erläutert: beide „schütteln das Sistrum und rezitieren"8. In der alten griechischen Sage singt Orpheus „das dunkle Lied" vom uranfänglichen Chaos, unterstützt von den Klängen seines Saitenspieles. Selbst ohne Instrument beeindruckt die durch Stimmklang er= höhte, halb deklamierte, halb gesungene Sprache. In der Älteren Edda9 singt Wotan ein zaubermächtiges Lied vor Wala: „Das Wecklied begann er der Weisen zu singen . . . sprach die Beschwörung, Bescheid erheischend, bis gezwungen sie aufstand, Unheil kündend." Der finnische Held Lemminkäinen weiß durch Lieder10 mancherlei hervor= zuzaubern: _ . T .... „Ferner sang noch Lemminkäinen, sang er noch und zaubert' ferner bloßen Sand zu schönen Perlen, Steine, daß sie ganz erglänzten, Bäume, daß sie rot sich färbten, Blumen von des Goldes Farbe." Die Zaubermacht, welche Helden und Götter besaßen, war bei allen Völ= kern von Musik umwoben. Der Wunsch nach Steigerung des eigenen Kön= nens und die Furcht vor der ewig drohenden, unerforschlichen Naturmacht begegnen sich dabei im Klang. Dieser Klang nun gewinnt Eigenwert. Kaum hat der primitive Mensch die Kunst der Klänge entdeckt, so findet er hin zu einer Kunst des Klanges: ein inhaltvoller und zur Ausage getriebener Klang= ausdruck deutet und versöhnt ihm das Erschauernde und das Gräßliche, macht es ihm zum Vertraubaren und Heilenden. Der Urmensch wird Künstler, um, selbst magisch wirkend, sich der fremden magischen Macht zu erwehren. Aus seiner „Welt numinoser Phantasie" 11 heraus sieht er sich dem Numen, dem göttlichen Walten, gegenübergestellt. Dieser Urschauer, der ihn ergreift und der später zur Einsicht in die göttliche Existenz wird, ist unvergänglich: ebenso ist es auch die magische Ausdruckswelt der Musik. Zu der spielerischen und der magisch deutenden Ausdruckswelt gesellt sich diejenige, die sich vom Willens* oder Naturanlaß unabhängig macht. Die Kunst 8 9 10 11

Pfrogner: Musik 10. ebd. S. 15. ebd. S. 18. Rudolf Otto: Das Gefühl des Überweltlichen. München 1932, S. 7.

126

I V . URSPRUNG

des Klanges, einmal entdeckt, kann des ornamentalen und des sprachlichen Anhaltes entbehren und bedient sich seiner eigenen Gesetze. So kann es geschehen, daß z. B. aus einem nicht mehr durch Zweck oder Absicht oder Gefühl gebundenen Trommelrhythmus, den einige Negerstämme pflegen, sich „eine von rhythmischem Eigenleben erfüllte Stimme" 12 bildet. Der künstlerische Stoff reizt nicht allein als Stoff, sondern dient dazu, ein inneres Bestreben zu er= füllen. Dieses Innenstreben zwingt den künstlerischen Stoff unter seine Herr= schaft. Es entsteht das, was wir Stil nennen. Bereits der primitive Mensch, geistig nicht ohne Regsamkeit, beschreitet den Weg „von einer naturhaften Darstellung zu immer stärkerer Stilisierung, zu größerer Abstraktion" 1 3 . Er bewältigt und übersieht geistig die vorhandenen Kunstformen, biegt sie, kürzt sie ab, dehnt sie aus, schafft ein vorgeschautes Ganzes. Musik kommt als eigene Leistung zum selbständigen Ausdruck. „Das Ganze erscheint als ein von vornherein einheitliches konstruk= tives Gebilde" 14 . Abweichungen vom Naturspiel und von der direkten Sprach= vorläge rechtfertigen sich nun aus der Totalität ihres Eigenausdrucks heraus. Tatsächlich sind aus der Frühzeit der Geschichte diese verschiedenen Aus= drucksbereiche der Musik überliefert. Da ist der „mächtig dröhnende" Klang 1 5 , wie ihn Homer nachschildert nach der alten Sage, welche davon berichtet, wie ein Mensch das erste Musikinstrument aus einer großen Schildkrötenschale mit darübergespannten Saiten schuf. Hier gilt deutlich der Klang als Eigenwert, als Erwecker von Gefühlen. Bei einem anderen Volk ist es die Klangpracht der Instrumente, welche die „schreckliche Pracht" des Tempels 16 durchtönen und neben ihrem Stimmungsgehalt vor allem ornamental wirken. Es ist hier sogar eine vielstimmige Pracht, ein Mehrklangornament, welches als schmückender Wert zur Feierergänzung und Verherrlichung dient. Bei einem anderen Beispiel wiederum ist von geistiger Ordnung die Rede, von wörtlich genannter musi= kalischer „Gestaltung" 1 7 , die auf die sinnvolle Kundgabe eines musikalischen Gehaltes hinzielt. Solche Gestaltung vermag sich durch ihre Stilisierung, die wir vielfältig belegt finden 18 , sehr weit von den Naturformen zu entfernen. Diese drei Ausdruckssphären der Musik bleiben durch die Geschichte hin= durch erkennbar. Ihre Bevorzugung wechselt. Der rein klangliche und der rein 13

Lachmann a.a.O. S. 1 1 . Herbert Kühn: Der Aufstieg der Menschheit. Frankfurt a. M . 1 9 5 5 , S. 46. 11 ebd. S. 48. 15 Homerische Hymnen, hsg. v. A . Weiher. München 1 9 5 1 , S. 65. 16 Sumerische und akkadische Hymnen, übertr. v. A . Falkenstein und W . v. Soden. Zürich 1 9 5 3 , S. 1 3 5 . 17 Homerische Hymnen, ebd. S. 1 1 3 ; s. u. S. 2 1 8 . 18 vgl. H. Kühn a.a.O. S. 45 f. 13

1.

HARMONIE

127

spielerische Ausdruck lassen sich allenthalben leichter erkennen als der geistig gestaltende Ausdruck, der nur selten rein hervortritt. Er pflegt sich mehr oder weniger eng an eine jener beiden Ausdrucksarten anzulehnen. So wissen wir, daß es in der altindischen Musik 1 9 eine verfeinerte Kunstform gab, die aus dem Klangausdruck des Sprechgesanges heraus entstanden war und dessen beson= dere Ausdruckselemente zum Teil beibehielt. Die aus dem alten China über= lieferten, zur Abstraktion neigenden Kunstformen dagegen lassen ihre Her= kunft aus der ornamentalen Klanglust erkennen. A n ihnen, den chinesischen Musikbeispielen, wird besonders offenkundig, wie bis zum vielstimmigen Mehrklangerlebnis hin die geistige Durchgestaltung sich der vorhandenen Ausdrucksweisen bedienen kann und diese durchdringt. M U S I K ALS KLANGWERT ODER ALS SINNWERT. Der Klangwert ist es, der sich schon in den musikalischen Anfängen als ästhetischer Wert abhebt. Er zeigt sich im Spiel mit den Klängen, er zeigt sich im Ausdruck durch den Klang, er zeigt sich aber auch da, wo der Klang als Mittel genommen wird, um eine Ausdruckstotalität zu schaffen. Hier, in einem stilisierenden und geistig selb= ständigen Bereich, wollen wir ihn Sinnwert nennen. Alles, was musikalisch hervorgebracht wird, äußert sich also teils als Klangwert und teils als Sinnwert.

Jeder reine Klang bleibt zunächst ein Teil der äußeren Umgebung, bleibt ein Klangding, so sehr er auch stimmungsvermittelnd wirkt. Das läßt sich beim ausdrucksbeladenen Klang noch deutlicher verspüren als bei der spiele= rischen Klangornamentik. Alles Ornamentale hat von vornherein nicht die Absicht, in unser Inneres einzudringen, während der Wunsch nach klang= lichem Gefühlsausdruck die Diskrepanz zwischen dem stofflichen Klangvorgang und dem seelischen Klangerlebnis auszulöschen versucht und gerade da= durch diese oft erst recht deutlich macht. Die wirkliche und völlige Übereinstim= mung der seelischen Empfindungen mit dem klanglichen Ausdruck wird erst bei der geistigen Gestaltung erreicht. Hier endet alles äußerlich Meßbare, zumindest wird es unwesentlich. Der Überblick über das Können der musikalischen Frühzeit ergab eine musikästhetische Dreiheit, in der das Bestreben nicht zu übersehen ist, Stim= mungseindrücke, zu denen auch Zauberspruch und Angstbekenntnis gehören, wiederzugeben und schließlich zu einer musikalischen Eigengestaltung hin= zufinden, diese zu vertiefen und zu verselbständigen. Diese letzte Ausdrucks= weise zielt auf den Sinnwert der Musik, die anderen zielen auf den Klangwert. Der Klangwert kommt da zur Geltung, wo die musikalischen Mittel in einer Weise eingesetzt werden, daß einmal die Erzeugung der Klänge, zum andern 19 Erwin Felber: Die indische M u s i k der vedischen und der klassischen Zeit (Sitzungsber. d. Kais. A k a d . d. Wiss. Bd. 1 7 0 ) . W i e n 1 9 1 2 , S. 9.

128

IV. URSPRUNG

aber und noch weit mehr die erzeugten Klänge selbst den ästhetischen Aus» druck kundtun. Der Klang an sich, in den der Hörer hineinhorcht und dem er seine Empfindungen anvertraut, stellt dabei den ästhetischen Erlebniswert dar. Es genügt der Klang, teils mit seinem eigenen Nachhall, teils mit seiner meist anzutreffenden Bereicherung durch gleichzeitige andere Klänge, um einem ur= sprünglichen Ausdrucksverlangen zu dienen. Dieser Ursprungsausdruck ist es, welcher später in der Lehre von der Harmonie vielseitig verfeinert wird. Auch der Sinnwert zeichnet sich beim einfachsten musikalischen Erlebnis ab, nämlich dann, wenn der Klang nur der Weg ist, dessen der Spieler sich bedient, um sich einer unsinnlichen und überindividuellen Aussage zu nähern. Auch hierbei darf von Harmonie gesprochen werden, von einer Art Urharmonie; denn die Antike verstand ja unter Harmonie die innerste Ge= schlossenheit eines ästhetischen Ausdrucks, die Identität von Ethik und Ästhe= tik, die übergegensätzliche Einheit der Empfindung und des Gedankens. Im Sinnwert zeigt die Musik ihre personhafte, ihre überindividuelle Wirkung. Wie ist es nun mit der weiteren Anwendung dieser Unterscheidung von Sinn= wert und Klangwert in der Musik? Hilft sie bei der Beurteilung von musikali= sehen Werken, die uns in der Musikgeschichte der Völker begegnen? Dürfen wir uns auf „gewisse überlieferte Vorstellungen von Formen, Zwecken und Per* sönlichkeitswerten" 20 berufen? Formen und Zwecke sind leicht ersichtlich. Sie bestehen in der Ausprägung jeweiliger, noch so einfacher Kunstwerke, in der Bestimmung dieser Werke innerhalb der Stammes* und Volksgebräuche. Hin= gegen treten die mindestens ebenso wichtigen Persönlichkeitswerte weder phä= nomenologisch durch die Form noch teleologisch durch die Zweckaufgabe in Erscheinung. Dennoch sind auch diese Wertvorstellungen mit ihrem klangstoff= lieh unabhängigen Charakter durchaus ursprünglich. Sie zielen auf das in uns Vorhandene, während die Klangwerte und ihr stofflicher Ausdruck durch das um uns Vorhandene, durch Instrumente und hinzutretende gefühlserregende Umweltsituationen angeregt werden. Vielleicht erscheint die Berechtigung, in einem Frühstadium der musika= lischen Kunst von Wertausdruck zu sprechen, als zweifelhaft. Doch was auch in der Frühzeit an Musik lebendig gewesen sein mag, eines ist sicher, daß die Verschiedenheit des Klangausdruckes erlebt wurde, ja daß der Musizierende, der selber diese Verschiedenheit hervorbrachte, sie bewußt empfand. Anders wäre die Ausdrucksverschiedenheit nicht möglich. Es liegt in der Tatsache des menschlichen Aufstiegs überhaupt begründet, daß in den kulturellen Leistun= gen, also auch in den ästhetischen, eine lenkende, langsam wirkende Wert= 20 Arnold S. 1 4 3 .

Schering:

Einführung in die K u n s t

der G e g e n w a r t .

Leipzig

1920,

1.

HARMONIE

129

Vorstellung verborgen ist, eine Art humane Leistungsökonomie, die das best» mögliche Schaffen mit den vorhandenen Mitteln anstrebt. Einfache Klang» mittel standen zu Gebote. Die sichere, wenn auch allmähliche Entfaltung der künstlerischen Gaben und die Freude an der ästhetischen Leistung sorgten da» für, daß mit dem Schönheitsgefühl auch der Schönheitswert erlebt wurde, ähnlich wie es mit der Heilighaltung und dem Heiligkeitswert der Fall war.

H A R M O N I E UND K O N S O N A N Z . Um nun den Begriff der Harmonie, der sich aus dem Klangwert direkt ergab, weiter zu verfolgen, überstreift unser Blick die ästhetischen Erscheinungen und Ergebnisse, die sich an die Ursprungs» leistungen anschließen. Sogleich weitet sich der geschichtliche Kreis dessen, was unter Klangausdruck und tönender Form, w a s unter Musik überhaupt zu ver= stehen sei, ins kaum Übersehbare. Der noch kaum erkannte musikalische Sinn» wert bleibt einige Jahrhunderte lebendig. A n f a n g s lediglich empfunden, später in Worten genannt, wird ihm ein eigentümliches Schicksal zuteil. Noch Eriugena pries in der Musik vor allem „das die Töne Verbindende" 2 1 , nicht die Folge von Ton zu Ton, sondern das, was sich zwischen den Tönen ereignet und das Ganze belebt und beseelt.

Mit dem Ausklang des Mittelalters versank dieses Aufnahmevermögen f ü r den inneren und personalen Sinnreichtum der Musik. Die Klangwerte traten allein ins Licht. Das Hindeuten und Ausdeuten, die energische Aus» drucksbekundung als Nachklang der Musiksprache und das träumerische Ver= sinken als Nachklang der Musikmagie beanspruchten Vorzugsrechte. Richard Wagner schließlich nannte die Musik „Wahrtraumdeuterei" 2 2 . Er traf damit zweierlei: die undeutlichen, stimmungsartigen Gefühlserlebnisse, die sich in= nerhalb der klanglichen Dimension wiedergeben lassen, und die bedeutungs» bestimmten, als wahr geltenden Klangwerte der Musik. So wurde schließlich das Wort Harmonie gleichbedeutend mit Ausgleich dieser Kontraste. Im Wider» spiel und Zusammenfassen von Gegensätzen erschöpfte sich fortan die musi» kaiische Harmonik. Davon, die primäre Qualität der Klänge, der Intervalle oder der Melodie» gesamtheit zu bewerten, rückte die abendländische Musikentwicklung mehr und mehr ab. Obwohl vom Ursprung her qualitative Klangverhältnisse in der Musik vorhanden waren, ging insbesondere die nachmittelalterliche Harmonie» lehre den Weg des quantitativen, also des physiologischen und physikalischen Erkennens. Das Zeitalter der Entdeckungen setzte sich fort in einer auch die Ästhetik in Besitz nehmenden Vorliebe f ü r stoffliche und nachprüfbare Grund» 21 23

Handschin: Eriugena 32g. Die Meistersänger von Nürnberg, 3. Akt 2. Szene.

9 Musica Panhumana

IV. URSPRUNG

1



lagen. Inmitten dieses einseitigen Verlaufes schrieb warnend der Physiker v. Helmholtz, daß das Harmoniegewebe „ein Produkt künstlerischer Erfindung und keineswegs durch den natürlichen Bau oder die natürliche Tätigkeit unse= res Ohres unmittelbar gegeben sei" 23 . Er warnte vergebens. Statt dessen setzte sich die physikalische Klangdeutung immer mehr fest. Sie fand in der Ober= tonlehre und den mit ihr verwandten Theorien eine mathematische Stütze. Man kann die harmonikale Theorie des Engländers Walter Odington um 1300 als den Ausgangspunkt dafür ansehen, daß dem Durdreiklang als gültiger Konsonanz eine Sonderstellung eingeräumt wurde. Die Durharmonik stabili= sierte sich dann durch Dunstable, Zarlino und andere und erhielt schließlich durch Jean=Philippe Rameau um 1720 ihr unanfechtbares Monopol. Die euro= päische Harmonik zeichnet sich seitdem durch ein quantitierendes Verfahren aus, gestützt auf die Berechnungen der Obertonreihe. Die Verhältnisse der Schwingungszahlen dienen dabei zur Erklärung der Konsonanz. So hat sich die Harmonik als „Technik einer bestimmten historischen Geschmacksrich= tung"24 herausgebildet. Dabei wurden die wertgerichteten Eigentümlichkeiten des Sinnausdrucks so weit vernachlässigt, daß schließlich eine Lehre, worin die musikalischen Vorgänge auf „Bewegungs=, Raum= und Materiephänomene"25 zurückgeführt werden, die Oberhand gewinnen konnte. Dies sei für unseren Überblick im großen genug. Wir sehen, daß die Har= monik wichtiger Eigenheiten beraubt worden ist, intentionaler Züge, die ihr ursprünglicherweise zugehörig sind. Harmonik erfaßt ja die Gesamtheit des Stimmengewebes, sie ist Gesamtstimmigkeit, während bekanntlich Mehrstim= migkeit als Polyphonie bezeichnet wird und etwas anderes bedeutet. Die Har= monik knüpft sich, ebenso wie die Rhythmik, eng an die Melodik als den Kern des muskalischen Geschehens an. Beide, Harmonik und Rhythmik, kommen nur ausnahmsweise für sich allein zur Geltung. Dennoch lassen sich ihnen bestimmte Eigenwerte nicht absprechen. Diese Eigenwerte der Harmonik liegen in der Freiheit des Musizierenden, sich vermittels der Zusammenklänge, also abgesehen vom Melodischen, in den verschiedenen Ausdrucksbereichen der Musik zu bewegen. Er vermag also auch die Sphäre des geistig=totalen Ausdrucks zu durchstreifen, wo diejenigen Werte beheimatet sind, welche nicht durch Bewegungs= oder Materiephänomene allein zu verstehen sind. Weil jedes phänomenale Herantreten an die Harmonik raumgebunden bleibt, versperren sich solche Versuche den Zugang zu den nicht=räumlichen Ausdrucksbezirken. Sie gelangen zu einer einseitigen, schließ» 23 24 25

Die Lehre von den Tonempfindungen. Braunschweig 1865, S. 587. Jacques Handschin: Der Toncharakter. Zürich 1948, S. 218. Kurth: Musikpsychologie 21.

1. HARMONIE

131

lieh sogar stagnierenden räumlichen Musikauffassung. Am offensichtlichsten ist die Raumgebundenheit bei dem theoretischen Vertikalschnitt durch einen Akkordaufbau, wobei mit Hilfe von Obertonberechnungen und Grundtonüberlegungen die Gliederung eines Klanggebildes festgestellt wird.

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Beispiel 10. Hindemith: Unterweisung im Tonsatz. Seite 58

Hier darf mit Recht von einer „Phänomenologie aller Akkorde" 29 ge= sprochen werden. Aber auch die „horizontale Harmonik" 27 ist, im Widerspruch zu ihrer Be= nennung, nicht frei von vertikaler Statik, denn sie verwendet die Gesetze architektonischer Formung, um mit ihnen direkte Beziehungen nachzuweisen.

Beispiel 11. H. Wolf: „Schon streckt ich aus"

So sehr auch bei diesem Beispiel die gleitende Eigenart der Klänge ein Fortstreben anzudeuten scheint, regiert doch auf nachweisbar funktionsharmo= nische Weise die As=Dur=Tonart. Alles ist im logisch=architektonischen Sinne geordnet und festgehalten. Blickt man vergleichsweise auf die frühgotische Epoche der europäischen Musik zurück, etwa auf die Musik zur Zeit Philippes 26 27

S. 58. 9'

Paul Hindemith: Unterweisung im Tonsatz. Mainz 1940, I 129. Hans Mersmann: Die moderne Musik seit der Romantik (HdMw.). 1927,

IV. URSPRUNG

132

de Vitry, so läßt sich eine ganz anders geartete Weite des harmonischen Flusses erkennen.

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Beispiel 12. Machaut: Motette „Trop plus"

Hier kann von einer Materialharmonik nicht die Rede sein. Wer aus dem Notenbild, hier freilich ein ungenügender Ausschnitt, irgendwelche harmo= nischen Quantitäten herauszulesen glaubt, verkennt die zugrunde liegende ge= gensatzfreie und unphysikalische Klangvorstellung. Das später einsetzende Streben nach ausschließlich logischer Ordnung in den harmonischen Gesetzen sollte der Musik ein Aussehen geben, welche;, auch bei denen, die neuerdings diese Gesetze umgestürzt und mit einem negativen Vorzeichen versehen haben, sehr nüchterne und scholastische Züge aufweist. Die Harmonik wird immer dadurch eingeengt, daß man teils akustisch mit dem Blick auf den Einzelakkord, teils konstruktiv im Hinblick auf die Akkordver= bindung an sie herangeht. Jedoch die harmonischen Grundlagen der Musik sind eigentlich keine materiellen und quantitativen Grundlagen. Die „Forde= rungen des Materials" 28 , die gerade heute sehr überschätzt und vereinseitigt werden, schieben die Forderungen nach den Innenbindungen verhängnisvoll beiseite. Die Eingleisigkeit der nachmittelalterlichen Harmonik spiegelt sich auch in der Konsonanzauffassung wider. Schauen wir zurück, so begegnet uns eine noch dem ursprünglichen Konsonanzempfinden sehr nahestehende Auffassung bei Aristoxenos. Sie ist in der Weite ihrer Sinngrundlage beispielgebend. Aristoxenos bezieht in seine muskalischen Betrachtungen sowohl die ver= standesmäßige „Klangerklärung" als auch die das Gefühl angehende „Klang= erscheinung"29 ein. Er lehnt sich damit an seinen Lehrer Aristoteles an, welcher Paul Hindemith a.a.O. S. 184. Paul Marquard: Die harmonischen Fragmente des Aristoxenos. Berlin 1868, S. 287. 28

29

1.

HARMONIE

133

die Konsonanz erstens eine „ O r d n u n g " von bestimmten Verhältniszahlen, zum andern eine „Mischung" 3 0 aus gegenüberstehenden Tönen nennt. Hier zeigt sich die Einheit von logischer und organischer, von mathematischer und unkon= struktiver Konsonanzdeutung. A l s Klangmischung oder Klangerscheinung soll die nicht sachlich geordnete, wohl aber in ihrer ästhetischen Kontinuität rich= tige Harmonik verstanden werden. Damit steht auch die noch heute rätselhafte Erscheinung der „Metabole" in der altgriechischen Musik in Zusammenhang. Die harmonische Metabole war eine Art klanglicher Umschwung innerhalb einer melodisch=harmonischen Gesamtheit, eine mit dem Gefühl wahrnehmbare Wende, die nicht die Tonart oder den Nomos, wohl aber die Richtung des Empfindens änderte. Harmonische Ereignisse solcher A r t gehören keiner tonartlichen Theorie an. Sie lassen sich weder aus der Intervallberechnung noch aus einem melodisch=stimmlichen Ord= nungsprinzip erklären oder herleiten. Aristoxenos behandelt die Metabole in dem letzten seiner elf Kapitel 31 , nachdem er über Tongeschlechter, Klangformen, Tonregionen und Tonarten (Tonleiterversetzungen) in den vorher= gehenden Kapiteln alles Wichtige gesagt hat. Die Metabole ist demnach keine harmonische Ordnungsänderung, sondern eine harmonische Richtungsände= rung, ein intentionaler Klangvorgang, wie ihn in dieser Weise die europäische Musik nicht mehr kennt. Die Klangerscheinung im aristoxenischen Sinne ist der zeitungebundene Ausdruck einer harmonischen Kontinuität. Hier gibt es keine statische Theoreti= sierung. Auch die Konsonanz wird von dieser Kontinuität eingehüllt und unterliegt einer unstatischen Bewertung. W e n n Adelard von Bath 32 um 1105 sich bemüht, den Begriff musica armonica von mathematischen und zerlegen= den Erörterungen fernzuhalten, und ihn nur unter größerer geistiger Schau betrachtet, so lebt darin das Bewußtsein weitester Zusammenhänge, die später von Eriugena und anderen noch genauer beschrieben wurden. Die kontinuier= liehe Reichweite der Harmonik veranlaßte bereits Jahrhunderte früher Gau= dentius 33 , neben konsonierenden und dissonierenden Klängen noch eine dritte Art, die er „paraphonierend" nennt, anzuerkennen. Diese Konsonanzauffas= sung ist nicht bloß räumlich=vertikal, sondern auch intentional. Sie kennt neben dem Momentquerschnitt beim klanglichen Hören, der zu unserer späteren 30

Paul M a r q u a r d : D i e harmonischen Fragmente des Aristoxenos. Berlin 1868,

S. 238. 31

übersichtlich z u s a m m e n g e f a ß t

stoxenianers

Kleonides

(Programme

bei d.

Karl v o n Prov.

Die

Harmonik

des

Brandenburg).

Jan:

Landsberg

a. d. W.

Ari-

1870, S. 6 f. V o n jenem Schlußkapitel des aristoxenischen W e r k e s sind leider nur Bruchstücke erhalten. 32

vgl. Pietzsch: Klass. der M u s i k 1 1 4 .

33

um 400, vgl. P. Marquard a.a.O. S. 252.

134

IV. URSPRUNG

Akkordlehre geführt hat, auch die nicht=statischen Bezogenheiten des harmo* nischen Geschehens. Keineswegs war der antiken Musik die mathematische Berechnung der Zu= sammenklangverhältnisse fremd. Die pythagoreische Schule, zu der Ptolemäus und Euklid gehörten, verstand sich auf die Zuordnung der Konsonanzen zu den Zahlenproportionen gemäß den Längen der schwingenden Saiten. Nach ihnen waren konsonierende Klänge solche, in denen die Schwingungen der Einzel= töne zueinander in den einfachsten Verhältnissen stehen, zum Beispiel 2 : 3 bei der Quint, 3 : 4 bei der Quart. Von ihnen auch leitet sich das Vorrecht alles mathematisch Nachprüfbaren in der Musik vor dem mathematisch nicht Nachprüfbaren her. Seitdem begann, zunächst zögernd, später immer entschiedener, die Festigung des harmonischen Blickpunktes auf reine Ordnungs= kategorien. Zarlino, der den euklidischen Standpunkt noch mit der unphysi= kaiischen Musikästhetik im Sinne des Aristoteles zu vereinen wußte, steht auf der Schwelle zu jener räumlich=sachlichen Harmonik, die dem jüngeren Abendland einen neuen Weg vorzeichnen sollte. Im Jahre 1 7 2 2 veröffentlichte Jean Philippe Rameau, in den Spuren Euklids wandelnd, seine bis ins einzelne genauest durchdachte Abhandlung über die harmonischen Zusammenhänge unseres Tonsystems 34 und schenkte damit dem musikalischen Abendland gleichsam eine Schalttafel für sämtliche Akkord= kontakte und Akkordverlegungen, eine tabellarische Ordnung der harmoni= sehen Funktionen. Den Weg dieser euklidisch=pythagoreischen Musiktheorie weiter verfolgend, richtete sich das Interesse der Theoretiker nunmehr auf den musikalischen Einzelvorgang. Die Weite des Blickfeldes, die vor Zarlino noch das Musikwerk als Ganzes mit seinen nichtphänomenalen Zügen zu umfassen vermochte, schrumpft zusammen auf die Betrachtung des Funktions= und Modulationsgeschehens innerhalb kleiner Partien. Die Frage nach Dissonanz oder Konsonanz von Klängen wird auf das Gleis der vertikal=harmonischen Methode geschoben. Die rätselvolle Erscheinung der Konsonanz, isoliert ange= strahlt von der Zahlenklarheit akustischer Erwägungen, verliert endlich ihre ursprünglichen Klangwerte und scheint nicht mehr anders als mit Hilfe einer „Chemie der Zweiklangspannungen" 35 erklärbar zu sein. In Wahrheit ist das klangliche Geschehen zwar akustisch berechenbar, nicht aber in diesen Berechnungen enthalten. Wie wenig will es beispielsweise be= sagen, „die" Quint e—h auf Grund ihrer Obertonverhältnisse als klare Kon= sonanz darzustellen: man mache sich nur einmal die Mühe, die Obertonüber= 34 35

„ T r a i t é de l'harmonie", dazu später: „ C o d e de musique pratique".

Ernst Barthel: Wesensanalogie und W e s e n s g e g e n s a t z der Farben und T ö n e (Farbe-Ton-Forschungen Bd. 3). 1 9 3 1 , S . 3 0 0 .

1.

HARMONIE

135

schneidungen für den Fall, daß das e von einem Waldhorn und das h von einer Klarinette geblasen werden, zu untersuchen. Aber noch mehr: viel aus= schlaggebender als die Obertöne sind die Differenztöne 36 für die Konsonanz oder Dissonanz von Zweiklängen. Dazu kommt, daß auch die seelische Ein» Stellung des Hörers mit täglich und stündlich verschiedenen Klangerinnerungen sich als gleichwichtig zur Seite stellt. Es ergibt sich somit eine tabellarisch nicht mehr faßbare, unendliche Vielfalt der Konsonanzerscheinung, worin außer räumlichen Zahlengrößen auch alle nicht=räumlichen Gegebenheiten hineinspielen. Die mathematische Berechnung des sogenannten Konsonanzgrades 37 ergibt zum Beispiel, daß dieser bei einer großen Sekund derselbe ist wie bei einem Quartsextakkord. Auch daraus ist ersichtlich, wie wenig hier mit Mathematik gedient ist. Die Konsonanz ist ebenso wie die Dissonanz kein akustischer Zu= stand, sondern ein musikalisches Erlebnis. Das euklidische Musikdenken, wel= ches alle musikalischen Beziehungen auf Klangzustände und funktionale oder logische Verknüpfungen zurückführt, erkennt zwar an, daß der vertikal ge= sehenen Konsonanz seelische Einstellungen anhaften, wie das etwa bei der Rie= mannschen „Auffassungsdissonanz" 38 berücksichtigt wird, doch gerade des= halb dreht es sich im Kreise des Widerspruchs: das phänomenologisch Ange= gliederte, der seelische Eindruck, gilt zugleich als Drehpunkt der Gesamt* erscheinung, welche physikalisch angelegt ist. Um sich aus diesen Irrtümern zu befreien, ist es richtiger und auch dem Ursprünglichen näher, das Konsonanzproblem als eine vielfältige, klanglich» seelische Sinnerscheinung anzusehen, als „ein Gestaltproblem, eine Frage des Zusammenhanges" 39 . Denn in der Tat ist weder der Konsonanz noch der Dissonanz auf phänomenologische Weise beizukommen. Versucht man es trotzdem, so macht, wenn man konsequent vorgeht, die unbestimmbare Grenz= linie zwischen Konsonanz und Dissonanz alle sachlichen Ergebnisse zunichte. Nur wenn man diese Konsequenz umgeht, lassen sich regelsichere Schein* Ordnungsgesetze aufstellen. Gibt man jedoch zu, daß der Konsonanzgrad oder Dissonanzgrad eines Klanges nicht von den klangeigenen Tönen allein, son= dem auch von den Nachbarklängen abhängt, dann ergibt sich die Notwendig» keit, jede harmonische Einzelausprägung in den harmonikalen Gestaltungs= gang einzubeziehen und von daher zu beurteilen. „Nur durch den Vergleich mit einem anderen Intervall vermögen wir zu bestimmen, ob ein gegebenes 3 8 vgl. Hans Sandig: Beobachtungen an Zweiklängen (Neue psychol. Studien H. 14). 1939, S. 126 f. 3 7 Geza Revesz: Einführung in die Musikpsychologie. Bern 1946, S. 91. 3 8 Hugo Riemann: Musikalische Logik. 1873. 3 9 Werner Danckert: Claude Debussy. Berlin 1950, S. 91.

i36

IV. URSPRUNG

Intervall konsonanter oder dissonanter ist als der andere." 40 Die Klänge (A) bis (G) im Verlauf des folgenden Beispiels, die nach der funktionellen Har= monielehre als dissonant zu gelten haben, stellen sich innerhalb ihrer weiteren Umgebung als überwiegend konsonant dar.

Beispiel 1 3 . Bartok: M i k r o k o s m o s N r . 1 4 0

Als fest bestimmbare Konsonanzerscheinung, als Nullwert der Dissonanz, gibt es nur einen einzigen Klang: den der Oktav. Er kommt in der Musik fast aller europäischen und außereuropäischen Länder als Konsonanzwert vor. Die Oktav ist die Wiederkehr des Gleichen auf einer neuen Ebene, ein seltsames und nur in der Musik auftretendes ästhetisches Ereignis. Die beiden Töne ver= schmelzen zu einem vollkommen reibungslosen Klang. Alle anderen Tonverschmelzungen (s. Anm. 1 7 ) sind historisch und ethnologisch wechselnden Einstellungen unterworfen. Zusammenklänge aus zwei und mehr Tönen lassen sich durch phäno= menologische Beurteilung nur zum Teil erfassen; denn sie gleichen in Wahrheit einer „Brücke, die sich nicht aus ihren Tonpfeilern summiert" 41 . Analytisch erschöpfend lassen sich nichtssagende Schulbeispiele untersuchen; im differen= zierten Kunstwerk bedeutet jeder Zusammenklang etwas Neues. Er klingt auf im Rahmen einer Gestaltidee. Hält man ihn fest, isoliert man ihn, so gehen seine unräumlichen Bezogenheiten verloren. Es lassen sich dann zwar leit= 40 41

Kurt Blaukopf: Musiksoziologie. Köln 1 9 5 0 , S. 3 5 . Barthel a.a.O. S. 299.

1.

HARMONIE

137

tonbedingte Auflösungstendenzen und aus Zusammenballung und Schwere motivierbare „Gravitationen" 42 konstatieren, doch damit ist wenig für die Musik gewonnen.

D A S MEHRKLANGERLEBNIS. Abschließend sei die musikalische Harmonie nochmals auf das ursprüngliche Mehrklangerlebnis zurückgeführt. Dieses Klangerlebnis, bei dem mehr als nur eine Stimme zur Wahrnehmung kommt, war uns als eine gefühlshafte, als eine ornamentale oder auch als eine selb= ständig=totale Erscheinung begegnet. Einen schönen Hinweis auf die ganzheit= liehe Klangvorstellung, die den Sinnwert des Klanges bewußt sowohl von na= turgegebenen Vorbildern als auch von eigenen Affektgefühlen freihält, dafür aber eine geistig=seelische Innenordnung anstrebt, gibt uns der altchinesische Dichter Tschuang=Tse 43 : „Ich nenne es nicht feines Gehör, wenn einer seine Natur den Tönen unterordnet, mag er es auch zu noch so großen Künsten bringen . . . Was ich feines Gehör nenne, heißt nicht, auf äußerliche Klänge lauschen, es heißt allein, der Stimme seines Innern lauschen". Noch erhabenere Worte findet er bei dem Gedanken, daß dieses tönende Menschenwerk zugleich „die Klarheit des Himmels" enthält: die alles umfassende Musik läßt „die Taten der Menschen widerklingen und fügt sich doch den Ordnungen des Himmels ein" 44 .

Dieses deutliche Empfinden einer eigenen und sinnvollen Klarheit der Musik, nicht einer Ordnung im engeren Sinne, eher eines ganzheitlichen Hör= bildes, bildete sich seltsamerweise nicht aus, sondern zurück. Erst heutzutage wagt sich hie und da ein Musikästhetiker hervor, der eine ausgesprochen ganzheitliche Einordnung der Einzelklänge fordert. Auswirkungen der philo= sophischen Ganzheitslehre dürften hier den Anstoß gegeben haben. Doch ist die leicht gestellte Forderung nach einer musikalischen Ganzheitsbesinnung bisher ohne brauchbare Antwort geblieben. Sie hat weniger zu einem Er= gebnis als vielmehr zu einer Verwirrung geführt (s. Anm. 18). Auch das bereits erwähnte Bekenntnis zum harmonischen Gestaltproblem ist nicht mehr als ein Bekenntnis, solange nicht reale Anleitungen erkennbar sind; solche wurden zuerst von Karl Rolan in seiner transphänomenologischen Ästhetik vorbereitet. Die uns geläufige und noch immer grundlegende Funktionsharmonik mit ihrer vertikalen Klangbeobachtung hatte zu einem greifbaren wenn auch 42 43

Kurth: Musikpsychologie 1 8 1 . um 300 v. Chr., Dichtung und Weisheit (übers, v. H. Stange). Inselbüch. 1 9 5 4 ,

S. 3 1 . 44

ebd. S. 47.

IV. URSPRUNG

einseitigen System geführt. Mehrklänge werden nach Zahlengesetzen geordnet. Es entbehrt nicht der Komik, wenn man das folgende, ernstgemeinte Verslein liest, welches, einer Harmonielehre45 entnommen, dem Schüler die schärfste Dissonanz vor Augen führen soll: ,Die Dissonanz kat' exochen sollst du jetzt leiblich vor dir sehn. / / Dann erscheint der Vierklang f—a—c—d, derselbe, der längst in der Jazz= musik als wohltuende Konsonanz, die ohne weiteres schlußfähig ist, gilt. Der hier auftretende Ineinanderschub von Quint und Sext läßt sich eben nicht als Addition, als Eigenfunktion ästhetisch beurteilen. Das Mehrklangerlebnis kann niemals errechnet werden. Bei jeder kon= struktiven Klangbeurteilung bleibt zuviel ungesagt, als daß die Rechnung aufginge. Es ist das andere Erlebnis, nicht die andere Beschaffenheit, was beim Mehrklang gegenüber dem Einzelklang die Anteilnahme des Hörers erweckt. Das Zusammenklangerlebnis ist dafür entscheidend, ob ein Klang als Mißklang empfunden wird oder nicht. Und dieses uralte Erlebnis gibt uns noch immer Rätsel auf. Von dem ganzheitlichen ästhetischen Prinzip, das für dieses Rätsel eine Lösung anbietet, wird noch zu reden sein. Hier soll zunächst das Beispiel eines Mehrklanges dazu dienen, das harmonische Problem im einzelnen zu erläutern. Folgende Töne

Beispiel 14

sind im Zusammenklang gemäß den heute in Europa gültigen Musiktheorien eine Dissonanz. Dennoch ist dieser Klang von niemandem, der ihn je hörte, als dissonant empfunden worden. Es ist der Gesamtklang eines Glodcen= geläutes mit dem Glockenakkord c—es—f—g, einschließlich der wichtigsten Summtöne: Unteroktav und kleiner Terz48. Obwohl dieser Klangeindruck ein einmaliger ist und nicht in einem musikalischen Zusammenhang steht, kommt durch seine Wiederholung eine einfache Art horizontalen Hörens zustande. Dieses einfache Beispiel zeigt ein echtes Harmonieerlebnis. In ihm ertönen die glockenharmonikalen „Melodieführer" 47 inmitten des Spiels der Terzen. 45 Felix Draeseke: D i e Lehre von der Harmonik, in lustige Reimlein gebracht. Leipzig 1 8 8 6 , S. 67. 46 Christhard M a h r e n h o l z : Z u r Glockenfrage (Musik und Kirche). Kassel 1 9 4 8 , H . 1 / 2 , S. 2 1 . 47 Peter Griesbacher: Glockenmusik. R e g e n s b u r g 1 9 2 7 , S . 1 3 .

1.

139

HARMONIE

Hinzu kommen neben anderen, die Resonanz= und Nachhallerscheinungen, die bei allen Intervalltönen verschieden sind. Welche harmonische Vielfalt! Innerhalb des Klangprismas verwundern uns seltsame Reibungen von Schlag* ton, Grundton und Prim, Reibungen, die auch bei einigen Obertönen ähnlich wiederkehren. Sie zwingen das Ohr, den scheinbar stehenden Simultanklang eben nicht als ein Momentgeschehen, wie es etwa das Notenbild darstellt, aufzufassen, sondern als etwas Weiterbewegtes, was gerade dem Glocken* geläute eigentümlich ist. Das harmonische Klangerlebnis der Glockenmusik ist uralt. In Asien wurde ein Steinplattengeläut gefunden, welches ein Alter von mindestens 4000 Jahren hat und einen machtvoll=schönen Klang erzeugt48. In Altchina dürfen wir mit Sicherheit auf eine musikalische Verwendung bestimmter Glockentöne schlie= ßen (vgl. Anm. 19). Glockenartige Musik ist auf der ganzen Erde verbreitet. In ihr vollzieht sich der Übergang vom Geräusch zur Musik mit einem um so höher stehenden Ergebnis, je berufener derjenige ist, der das Geläut in Bewe= gung setzt; denn die Art des Ingangbringens hat viel Einfluß auf die schwin* gende Harmonie. Man ist versucht, von den asiatischen Steinglocken bis zu dem indisch* malaiischen Gamelanorchester eine innere musikalische Verbindung zu ziehen, deren Besonderheit eben darin liegt, daß hier die Freude am momentanen Klangeindruck sich mit dem Erinnerungsvermögen an das bereits Verklungene gleichwertig mischt.

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Beispiel 34 Jeder Ton also besitzt vier Arten von Nachbarbeziehungen, die dann metrisch oder rhythmisch beliebig ausgeformt werden. Im Grunde ist ein solches Kompositionsprinzip nur die Zuendeführung der nachmittelalterlichen Formungs= und Ordnungsabsichten. Überall heftet sich der Blick auf geometrische Ordnungsvorgänge mit ihren Linien und Quer= linien, mit Energien und Affinitäten. Zwischen den einzelnen Tonfiguren walten die Energien als Druck oder Spannung, Gleichgewicht oder Zahlen= maß. Klangaffinitäten stellen sich als formale Entfernungen unters Maß. Auch alle sonstigen ästhetischen Auffassungen von heute, mögen sie auch unter sich verschieden sein, sind Ergebnisse einer strengen, logischen Übertragung außer= musikalischer, meist physikalischer Erkenntnisse. Die Logik des physikalischen Denkens, die nach Zarlino in die Musik einbrach, hat das quantitative Ver= fahren vor dem qualitativen Bewerten nach vorn gebracht. Der musikalische Einzelklang, der als hörbarer Vorgang und im Notenbild sichtbar mit seinen Nachbarklängen in direkter Beziehung steht, unterliegt der exakt ordnenden Betrachtung. Der Hörer, der doch eine mit ganzheit= lichem Empfinden begabte Person ist, wird lediglich als ein mit einem be= stimmten Quantum logischen Denkens ausgerüstetes Individuum angesprochen. Damit ist „die Materie selber, der Stoff, aus dem die Musik entsteht, ihre Töne und Zusammenklänge zum Ausgangspunkt gemacht und nicht wie bisher der in der Geschichte sich wandelnde Mensch" 3 . Zwar wird der Gesamt= eindruck, den ein Musikwerk hervorruft, nicht bestritten, doch halten sich die darauf bezüglichen ästhetischen, besser gesagt, ästhetisierenden Bemerkungen 2 Im Original zuerst Grundreihe ( „ G r u n d g e s t a l t " ) , dann K r e b s der U m k e h r u n g , Krebs der Grundreihe und deren Umkehrung, jeweils die z. und 4. Form transponiert. 3 W i l h e l m F u r t w ä n g l e r : Gespräche über M u s i k . Zürich 1 9 4 8 , S. 1 1 7 .

1.

NATURGESETZ

173

in vorsichtigen, oberflächlichen Gleichnissen. Man verläßt sich auf die Ord= nungsregeln: sie bewerten nicht, sie erfassen eine quantitative, also unwider= legliche Formdarstellung. Notwendigerweise ist innerhalb einer materialistischen Formdarstellung das Werten widersinnig. Wenn man Akkordverbindungen nach Formgesetzen und Tonverbindungen nach Maßgesetzen beurteilt, so kann eine Verbindung glatter, konsequenter und richtiger sein als eine andere, sie steht aber außer= halb gesamtmenschlicher, ethischer oder seelischer Wertung. Die Feststellung von Folge= und Wirkungsrichtigkeit ist eine physikalische Maßnahme. Auch eine Kolbenbewegung in einem Motor kann sich von einer anderen nur in der Wirkung unterscheiden, sie kann widerstandsloser und damit zweck= mäßiger sein; der Unterschied ist keiner des Wertes, sondern einer des Zweckes. Auch hier wieder zeigt sich, wie sehr es darauf ankommt, was man unter Musik verstehen will: ob man in ihr die kunstreiche Zusammenfügung ein= zelner Ausdruckskomponenten nach einem formalen System oder die Ver= dichtung von Empfindungen und Vorstellungen nach einem zielgerichteten und organischen Prinzip sieht. Die letzte Jahrhundertwende „erfand die Formel: das Zweckmäßige ist an sich schön. Das war ein grandioser Irrtum" 4 . Das Zweckmaß liefert der Musik nur einen Scheinstil. Wenngleich niemand in Abrede stellt, daß die Natur= beschaffenheit des instrumentalen oder vokalen Klangmaterials einen Einfluß auf Form und Stil eines Werkes ausübt, so sind doch technische Überlegungen niemals im eigentlichen Sinne stilbildend. Sie regen auch keine intentionale Darstellung an. Sicherlich trägt die Naturbeschaffenheit der Klänge dem Hörer wie dem Komponisten manche Augenblickempfindung, manchen Formeinfall entgegen. Jedoch nicht von vornherein sind bei der Entstehung eines Kunst* W e r k e s Ordnung und Form, oft jedoch Ordnungsgefühl und Formsinn das Primäre. Wer sagen darf, daß „die Technik niemals einen Stil schafft" 5 , der steht auf dem Boden einer antiphysikalistischen Ästhetik. Die wahrhaft im= materielle Musik beginnt erst jenseits des akustischen und mathematischen Sachverhaltes. Im euklidischen Fahrwasser, worin die Statik des Seins als erste Antriebs= kraft anerkannt wird, treibt die Musikästhetik einem unzureichenden Hafen zu. Es fehlt dort die Dynamik des Werdens mit all ihren Zeitgeheimnissen, welchen die Zeitkunst der Musik ihr tieferes, unkonstruierbares Leben ver= dankt. Zwar ist das euklidische Denken nicht falsch, aber einseitig. Es stellt dem musikalischen Hörer ein kompositionelles Bild der Musik vor Augen, worin sich eine Anzahl tönender Elemente wie unter physikalischer Einwir= 4 5

Theodor Heuß: Stadt der Z u k u n f t (Universitas H. 2). 1 9 5 6 , S. 1 2 1 . Heinrich W ö l f f l i n : Renaissance und Barock. München 1 9 0 8 3 , S. 97.

V. ORDNUNG

174

kung zusammenfügt. Eine ästhetische Beurteilung kommt dann etwa zu fol= gendem Wortlaut: „ . . . der thematische Einfall jedes Satzes treibt aus der in ihm gestauten Kraft heraus energisch bewegte Linienzüge, die sich wiederum spannen, verstricken, steigern, zur Ruhe kommen . . . Darin liegt Form und In= halt des Satzes: in den Gleichgewichtsverhältnissen zwischen den Wellenzügen von Spannung und Lösung der linearen Energie" 6 . Hier wird das musikalische Ereignis als Vorgang und Wirkung gesehen: der Vorgang tritt in Klanglinien, Wellenzügen und Spannungsbewegungen zutage, die Wirkung, bestehend aus Einzelverhältnissen von Wiederholungen, sichtbaren Abschnitten und dergleichen, wird an Stauung oder lockerer Fügung abgelesen. In der Tat sind Vorgänge und Wirkungen bereits am elementaren Klanggefüge erkennbar. Jedoch werden diese unwesentlich, sobald der aku= stische Klang als gehörte Klanglichkeit in einen musikalischen Zusammenhang eintritt. Dann ist nicht mehr die zuständliche Betrachtung von Vorgang und Wirkung am Platze. Wann dies eintritt, läßt sich zunächst danach beurteilen, ob der Ton als direktes Mittel zur Formherstellung gebraucht wird oder ob er als sekundär zurücktritt hinter seine Klanglichkeit. Ein musikalisch brauchbarer Ton ist prinzipiell etwas anderes als ein musi= kalischer Ton, ebenso wie Ordnungsgesetze etwas anderes sind als Gestalte gesetze. Es mangelt in keinem unserer heutigen Musikbücher an physikali= sehen Ordnungsbegriffen wie Kraft, Spannung, Gewicht, Angleichung, Um= kehrung, Reaktion, kinetische Potenz, lineare Struktur. Aber die logische Exaktheit hat nur scheinbar ästhetische Beweiskraft. Die strenge „Analogie zur Physik" 7 , wie sie wörtlich gefordert wird, legt sich auf einen Ausschnitt der Musik fest, auf ihre Ordnungsgesetze. Sie sieht die Musik nur als „Kräfte= spiel" 8 , als räumliche Dimension. Man will „ f ü r die Herauslösung der Kräfte das Gesetz in den Elementen" 9 suchen und beweist damit eine naturwissen= schaftliche Denkweise. DIE

METHODE

DER NATURWISSENSCHAFTLICH

ORIENTIERTEN

ÄSTHETIK.

Der

Zeitpunkt, an dem der Herrschaftsanspruch der physikalischen Ordnungs* gesetze in der Ästhetik allgemein anerkannt wurde und ein Umschwung ein= trat, so daß die transphänomenalen Werte nicht mehr berücksichtigt und statt dessen die elementaren Strukturen in den Blickpunkt gerückt wurden, läßt sich ziemlich genau bestimmen. Es war die Zeitepoche um Galileo Galilei, als 8 Friedrich Blume; zit. bei K . L a u x : M u s i k und Musiker der Gegenwart. Essen 1 9 4 9 , S. 24. 7 Kurth: Musikpsychologie 34. 8 ebd. S. 98 u. ö. 9 M e r s m a n n : Ästhetik 6 1 .

1.

NATURGESETZ

175

die Naturgesetze ihre mathematische Form erhielten und das organische Na= turbild endgültig durch das méchanische ersetzt wurde. Die aristotelische Na= turphilosophie wich vor der galileischen Naturwissenschaft. In dieser Zeit schwenkte auch die Musikästhetik um in eine qualitätsfreie, analysierende und funktionelle. Die Zarlinoschen „Istitutioni", noch vor 1600 verfaßt, geraten nach der Jahrhundertwende unter die Perspektive einer neuen W i s s e n s c h a f t ^ liehen Haltung. Auf allen Gebieten des Denkens bricht eine Epoche an, die alle Vorgänge als meßbar, vertauschbar und kausalbedingt zu sehen lernt. Die Gedanken über die ethischen und entelechialen Gestalteigenschaften, die seit Aristoteles Jahrhunderte überdauert hatten, verblassen vor den bestürzend neuen Forschungsergebnissen über die äußeren Formen der Natur. Johannes Kepler stellt den Satz auf: ubi materia ibi geometría. Leibniz spricht die folgenschwere Behauptung aus, Musik sei „eine verborgene arithmetische Übung der Seele" 10 . Zur gleichen Zeit lesen wir als neues Kunstbekenntnis: „Die Música ist eine Mathematische Wissenschaft, welche uns durch die Zahlen zeiget den rechten Unterschied und Abtheilung des Klanges" 1 1 . Allenthalben bahnt sich ein Umdenken des bisher für richtig Gehaltenen an. Alles Denkbare und Empfindbare, also auch die Musik, wird den Naturgesetzen unterstellt. Wo noch an der alten seelisch=geistigen Ganzheitsschau festgehalten wird, wie sie Giordano Bruno 12 aufs neue zum Mittelpunkt des Denkens zu machen versuchte, da scheinen sie überholt zu sein. Die neuen chemo=physikalischen Grundwissenschaften übernehmen die Führung. Durch Cartesius wird schließlich die Trennung von Gedanken und Wirk= lichkeit, von Empfindung und Ereignis systematisch vollzogen 13 . Er verkündet die ontologische Andersartigkeit von Bewußtsein (res cogitans) und Außen= weit (res extensa), zweier Reiche, die beide endlich und begrenzt, aber von= einander geschieden sind. Diese Trennungslinie rückt einerseits die Sphäre der inneren Vorstellungswelt, anderseits die Sphäre des realen Ablaufs sachlicher Vorgänge auseinander. Das neue Denkergebnis erkennt also zweierlei Reali= täten statt einer zusammenhängenden an und läßt in den Abgeschlossenheiten der Bewußtseins» und Seelenwelt alles Denken und Empfinden binnenhaft kreisen. Von nun an gehen Philosophie und Ästhetik durch die Schule der mathe= matischen Physik. Damit wandelt sich auch in der musikästhetischen Erkennt* 10

" m ú s i c a est exercitium arithmeticae occultum"; Epist. ad div. I 1 5 4 . A n d r e a s Werckmeister: M u s i c a e mathematicae Hodegus curiosus, 1 6 8 6 ; zit. bei R. D a m m a n n : Z u r Musiklehre des A . Werckmeister ( A f M w . X I , 3 ) . 1 9 5 4 , S. 209. 11

12 Sein H a u p t w e r k „ V o n der Ursache, dem Prinzip und dem E i n e n " entstand um 1 5 8 0 . 13 Die "Meditationes de prima philosophia" erschienen 1 6 4 1 .

176

V.

ORDNUNG

nis eines von Grund auf: die Methode. Kircher und Mersenne sind die ersten Wortführer. Dieser verlangt vom Musiker vielseitige wissenschaftliche Kennt= nisse, vor allem „quelques uns de Méchanique" 14 , jener führt die Berechnung der akustischen Obertöne ein 15 . Die Musikästhetik prüft den Klangstoff und die formale Vorlage. Man sucht die greifbare Äquivalenz zum seelischen Ein= druck oder Ausdruck. So wird eine „Substantialität" 16 , wie der neue Ausdruck hieß, gewonnen, welche als nüchterne Realität nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung sich der Durchforschung darbietet. Die neue ästhetische Methode geht von der Dinghaftigkeit der Tonwelt aus und sieht ihre Hauptaufgabe in der Analyse der Form. Das Musikwerk in seiner Begrenztheit und Abgeschlossenheit steht auf der einen und das genau zugehörige seelische Erlebnis auf der anderen Seite: zwischen beiden wird ein Wechselwirkungs= und Entsprechungsverhältnis angenommen. Ein solches an die Klangmaterie und an die reale Zeitspanne angelegte Verhältnismaß läßt sich more mathematico definieren. So haben das galileische Naturbild und die cartesianische Denkweise auch in der Musikästhetik eine völlig neue Lage geschaffen. Die meßbare Zeitskala und die logisch=tabellarische Ordnung nehmen hier fortan den Platz ein, den die mittelalterliche Ganzheitsschau mit ihren inneren Gesetzmäßigkeiten inne hatte. Folgerichtigerweise führt die physikalistische Methode an die Dinghaftig= keit auch von Klang und Rhythmus heran. Sie beleuchtet die klangliche Er= scheinung für sich, nachdem sie deren Verbindung mit dem vielschichtigen seelischen Erlebnis gelöst hat. Das heißt: die Wirklichkeit der Erscheinung tritt n e b e n die Wirksamkeit der Phantasie. Diese gilt folglich als ebenso wert= frei wie jene. Die ästhetische Analyse befaßt sich deshalb nicht mehr mit Werten, sondern mit Objekten. Wo sie ansetzen soll, da müssen alle objekt= freien Beziehungen zur Seite geräumt sein. Der Blick richtet sich allein auf den Klang als Gegenstand und auf die Klangverbindungen als Additionen. Die Methode des analytischen Denkens schafft in der Musik eine neue Raumordnung. Jedem Ding wird sein Platz zugewiesen. Das Bestreben, alle realen Vorgänge in die Schaltfolge von Ursache und Wirkung einzugliedern, setzt die Musik in eine neue Perspektive. Musik ist nunmehr fixierbarer Zeit= ablauf. Am Beispiel der Tonalität läßt sich dieser Umschwung im ästhetischen Zeit= denken anschaulich machen. Als das Mittelalter zu Ende ging, lenkten die Tonalitätsfragen mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf einzelne Teile und Verbindungen. Bislang war die gesamttonale Bindung der Melodik jeweils 14 15 16

Traité de l'harmonie universelle. Paris 1 6 2 7 . M u s u r g i a universalis. R o m 1 6 5 0 . vgl. Ernst v. A s t e r : Geschichte der Philosophie. Stuttgart 1 9 3 5 , S. 1 9 5 .

1.

NATURGESETZ

177

als deren Sinn und deren Bedeutung vorgegeben. Deshalb war vor 1500 die Tonalitätsfrage noch nicht von struktivem Interesse. Nachher dagegen zeich= nen sich die Erscheinungsformen der Tonalität in der Motivik und in den Akkordverbindungen räumlich ab. Es wird Gegenstand formaler Überlegung, was für Tonstufen und Klangbeziehungen jeweils zu wählen sind. Die Tonali= tät greift in die Direktbeziehungen von Ton zu Ton und von Akkord zu Akkord ein, sie schafft periodische, engzeitliche Strukturen. Grundsätzlich also war der „tonus directaneus" in der Pentatonik oder in der Gregorianik etwas völlig anderes, als es später der Grundton in den Akkordtheorien sein sollte: während dieser ein Ordnungsträger für einen tonal exakt konstruierten Bau ist, war jener ein Bedeutungsträger eines unräumlichen und vorgegebenen Me= lodiegebildes. Die quantitative Methodik, die alle späteren musikalischen Vorstellungen und Theorien beherrscht, hat in der neueren Komposition zu dem geführt, was man treffenderweise als „musikalische Alchimie" 17 bezeichnet hat. Damit ist das ordnende und teilende Bewußtsein der musikalischen Formgebung genau angesprochen. Denn die additive Konstruktionskunst des Komponisten beruht auf denselben naturwissenschaftlichen Prinzipien wie die der Chemie. Auch ist es kein Zufall, daß im Zusammenhang mit moderner Musik so oft vom Experiment die Rede ist. Das Experiment ist eine logische Versuchsreihe chemischen oder physikalischen Charakters. Experimentale Methoden in der Ästhetik gleichen also Laboratoriumsmethoden. Durch Experimentieren lassen sich mathematische Grundlagen innerhalb festliegender Vorgänge nachweisen. Von dieser Experimentierfreude bleiben neuerdings auch seelische Bereiche nicht verschont. Die quantitative Einstellung findet deshalb in der heutigen Psychologie, vor allem in der Experimentalpsychologie, ihre Stütze. Den Versuch, seelischen Ereignissen „seelenmechanisch" 13 beizukommen, unternimmt die mathema= tische Denkmethode in der Psychologie. Sie geht auf psycho=physische Mo= mentanfunktionen, auf die sogenannten Reflexe aus. So wird ein Tatbestand gefunden, auf dessen Beweisbarkeit und Kausalzusammenhang sich weiter aufbauen läßt. Die Methoden gleichen sich: in der Psychologie ist der Reflex die kleinste bestimmbare Einheit, von wo aus die weiteren Zusammenhänge abgeleitet werden; in der musikalischen Formästhetik bildet das Motiv als Affektausdruck die kleinste bestimmbare Einheit, aus der sich die weiteren Bildungen nachweisbar ergeben. Reflex und Motiv, beide als Ergebnisse von 1T 18

12

Th. W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. Tübingen 1949, S. 35. Erich Jaensch: Über Gestaltpsychologie (Manns Päd. Mag.). 1929, S. 6.

Musica Fanhumana

178

V. ORDNUNG

„Reizeffekten" 19 geradezu tabellarisch erfaßbar: sie enthüllen Entsprechungen zwischen psychischen Ursachen und psychischen Kundgebungen. Beiden auch ist ein ablesbares „psychomotorisches Tempo" 2 0 eigen, welches auf kleinem Raum sich als meßbar erweist. Muß nicht dieses Entsprechungs= und Summendenken, welches die Musik als ein klangliches Aggregat ansieht, notwendigerweise zu ästhetisch gesichert ten Formulierungen führen, wenn sogar die Psychologie, die Lehre vom Seelen= leben, ihre Ansichten nach naturwissenschaftlicher Methode untermauert? Müssen die Musikästhetiker nicht glauben, was die Psychologen verkünden? Im Seelenleben, so behaupten diese, wird der Instanzenweg naturgegebener Tatsachen durchschritten. Sie betrachten die Vorgänge des Innenlebens als „Naturvorgänge, welche nicht nur in jenem Innenleben, sondern zugleich auch in allen Erscheinungen der gesamten Natur" 2 1 gleichartig sind. Und liefert die Psychotechnik, die mit seelischen Analysen arbeitet, nicht den Beweis dafür, daß mit Hilfe des naturwissenschaftlichen Denkens in die seelische VorsteU lungswelt, weil man diese als materieartig ansehen darf, eingedrungen wer= den kann? Die Musikästhetik hat sich in der Tat auf diese sachliche Bahn der Beweis= führungen begeben. Sie hat die allgemeine und allmähliche Umstellung vom organischen auf das mechanische Naturbild mitgemacht. Ihr lag an einer Neu= begründung auf der Basis detaillierter, mechanischer und beweisbarer Ord= nung. Was die mittelalterlichen Theoretiker und auch Komponisten von den späteren unterscheidet, ist die verschiedene Methode des musikalischen Den= kens. Wo früher ein metaphysischer Musikbegriff das musikalische Schaffen und Verstehen lenkte, da orientiert sich die Neuzeit nach kausalen Begrün= düngen.

KAUSALES UND AKAUSALES MUSIKDENKEN. Je genauer wir die naturwissen= schaftliche, auf Kausalität gegründete Denkweise in der Ästhetik erkennen, um so richtiger können wir die andere, nicht auf Kausalität gegründete Denk= weise und ihre Erscheinungsweise in der Musik würdigen. Das kausale Denken wirkt sich ästhetisch so aus, daß die Materie des Klanges und die begrenzte Form des Einfalls als die zusammenfügbaren Elemente der Musik angesehen 1 9 Peter Hofstätter: Einführung in die quantitativen Methoden der Psychologie. München 1953, S. 16g. 2 0 Willi Enke: Die Psychomotorik der Konstitutionstypen (Ztschr. f. angew. Psychologie Bd. 36). Leipzig 1930, S. 283. 2 1 E. A. Bernhard: Psychologische Vorgänge betrachtet als Bewegungen (Bibl. f. Phil. Bd. 23). 1923, S. 27.

1.

NATURGESETZ

179

werden. Der Komponist weiß dabei, schon im 18. Jahrhundert, die Musik „dergestalt einzurichten und abzumessen", daß Seelenlage und Tonordnung einander entsprechen; ging er dieser musikalischen Entsprechung nach, so er= hielt er „eine Einsicht in das Verhältnis zwischen der Ursache und der Wir= kung" 22 . Diese klaren Proportionen kehren nun in der äußeren Anlage eines Musikwerkes wieder. Seit der Klassik wird die so gewonnene formale Ordnung des Kunstwerkes nach seiner baulichen Gliederung mit den Bauteilen Thema, Gegenthema, Durchführung, Verarbeitung usw. erkannt und beschrieben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In logischer Fortführung der klassischen Ästhetik, unter deren Sicht jede Form ausnahmslos über einem klaren Ordnungsgerüst errichtet zu sein schien, stellt auch die nachklassische Ästhetik die konstruktiven und summierenden Formelemente in den Mittelpunkt. So liest man beispielsweise über ein Stra= winskysches Werk, der Komponist setze sich hierin „in einem scharfen dia= lektischen Prozeß mit seinen motivischen Bestandteilen auseinander", die Taktfolge lasse sich „wie ein arithmetisches Würfelspiel" 23 aufdecken. Das stimmt zugleich mit dem Bekenntnis Strawinskys überein, wenn er sagt, der Kom= ponist bringe sein Werk „Glied um Glied, Masche um Masche" als eine „Kette von Entdeckungen" 24 hervor. Kausalität ist „das Prinzip des Grundes in der Zeit" 25 . Anders ausgedrückt ist sie der ersichtliche Zusammenhang einer Kette von sich gegenseitig be= gründenden Erscheinungen innerhalb einer zeitlich meßbaren und teilbaren Frist. Das Kausalitätsprinzip besagt, daß jede dingliche Veränderung als Aus= Wirkung von einem vorhergehenden ursächlichen Vorgang anzusehen ist. Diese Kausalbindung, angewandt auf die Musik, stattet das Kunstwerk mit einer arithmetischen Richtigkeit aus, die sich in der formalen Strenge überzeugend widerspiegelt. Es sind die intervallischen und metrischen Strukturen der Motive, welche das ursächliche Maschengeflecht bilden. Sie lassen weitere, zum Teil veränderte, zum Teil wiederholende Vorgänge abrollen. So kann man in den musikalischen Formen „Teilverläufe kausaler Zusammenhänge" und im melo= dischen Ablauf „energetische Vorgänge" 26 wahrnehmen. Die Erkenntnis richtet sich damit auf direkte und sichtbare Beziehungen und leitet das musikalische 2 2 Daniel Webb: Observations on the Correspondence between Poetry and Music. London 1769; zit. bei Pfrogner: Musik 224. 23

Herbert Eimert: Strawinskys Dumbarton Oaks (Melos H. 9). 1947, S. 248.

24

Igor Strawinsky: Musikalische Poetik. Mainz o. J., S. 33. Aloys Riehl; zit. bei E. Spranger: Lebensformen. Halle 1927, S. 82. Kurth: Musikpsychologie 74.

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Denken in kausalitätsbewußte Bahnen. Es sind dieselben Bahnen, die sich auf dem Gebiet der Naturwissenschaft; als verläßlich erwiesen haben. Ein Musikwerk, so gesehen, gleicht einem Gebirgsmassiv. Der Geologe weiß ein Gebirge nach Form, Eigenart, Zusammensetzung und Entstehung physikalisch zu erklären. Er denkt kausal. Der Musikbeurteilende, der ebenso kausal denkt, sieht im Musikwerk ein Kräftespiel mit Höhen und Tiefen, mit Spannungen und Ballungen, mit Kleinstrukturen und deren sichtbaren Zu= sammenfügungen, mit Anfangsenergien, die „ihren Kraftzustand wechseln" 27 und den formalen Raum erfüllen. Die musikalische Form erscheint massiv, ihre Teile aneinandergepaßt, der Klang als bald dichte, bald gedehnte Materie, der Gesamtbau als sekundäres Ergebnis kleiner Einzelursachen. Was dabei übersehen wird, sind die akausalen und primären Inhalte der Musik. Zwar ist es ein Verstandesbedürfnis des Menschen, alle Ereignisse kausal zu erklären, doch lebt in ihm ebensosehr das Vernunftverlangen, die Vorgänge, in die er sich gestellt sieht, aus seinem eigenen Innern heraus zu erklären. Er unterscheidet deshalb Sinngemäßheit und Zweckmäßigkeit. Das erste leitet sich von Erfahrungen aus der psychischen Ungebundenheit, das zweite von solchen aus der kausalen Stufenfolge her. Das kausale Denken ist ein mathematisches und stoffgebundenes Denken. Dem steht das intentionale Denken als ein organisches und stoffunabhängiges gegenüber. Beide kommen in der Musik, jedoch auf verschiedene Weise, zu ihrem Recht. Die kausale Einstellung sieht in der Gegenwart das Gegenständliche und Statische. Sie pflückt also aus der Musik Einzelstrukturen heraus, die sie als aggregathaft ansieht. Das maschenartige Formen eines Musikwerkes im Sinne Strawinskys ist ein solches kausales Formen. So folgerichtig dieses auch ist, so führt es das Musikverstehen und das Gefühl für musikalische Schönheit doch nur auf eine, eben auf die konstruktive Bahn und negiert die ebenbürtige Realität anderer. Das akausale, in seiner Wirkung nicht minder bedeutsame Musikverstehen geht auf eine unmathematische Schönheitserkenntnis aus. Ebenso wenig, wie der Schönheitswert im allgemeinen sich auf die Wahrnehmung geometrischer Verhältnisse beschränkt, braucht auch das musikalisch Schöne nur die sachliche und konsequente Zusammenfügung der klanglichen und melodischen Elemente zu enthalten. Der Schönheitseindruck ist mindestens ebenso akausal wie kausal, ebenso vielschichtig wie frontal. Immerhin heben die Kausalbeziehun= gen, die im Räume der musikalischen Form verhanden und nach Ursache und Wirkung hin ablesbar sind, eine bestimmte Seite des Musikverstehens ins Licht. 27

Kurth: Musikpsychologie, S. 34.

l8l 2. T O N R A U M BEWEGUNG UND SPANNUNG. Die Ansicht von der räumlichen und dimensio= nierten Form in der Musik hat vor allem über den Tonraum und die darin möglichen Elementarereignisse Klarheit geschaffen. Seitdem sidi die Meinung gebildet hatte, daß andere ästhetische Prinzipien als solche, die im naturwissen= schaftlichen Denken fundiert sind, nicht diskutabel seien, drang folgerichtigem weise die logische Systematisierung in alle Einzelheiten der Musikbetrachtung ein. Begriffe wie rhythmische Bewegung, intervallische Spannung, Gleichge= wicht der Form, melodische Energie und ähnliche gelten in diesem Theorie= bereich als ästhetische Münzen von konstanter Valuta. Hier sei nun die Auf= gäbe gestellt, dieser Geltung der logisdien Systematisierung die Geltung der unräumlichen Intentionalität gegenüberzustellen. Wir müssen also fragen: ist jene Valuta wirklich konstant?

Bewegung ist keineswegs ein eindeutiger Begriff. Physikalische und musi= kaiische, dingliche und empfundene Bewegung sind etwas durchaus verschie= denes. Die physikalische Bewegung ist an den Raum gebunden, sie hat eine räumliche Erstreckung. Auch wird sie nach zeitlichen Abschnitten genau be= messen. Wirkt eine Kraft auf die Bewegung ein, so ergeben sich Proportionen, deren mathematische Errechenbarkeit im Impulsgesetz festgelegt ist. Die musi= kaiische Bewegung dagegen ist unräumlich. Ihre zeitliche Dauer ist nicht fixier= bar. Sie kann sich zwar rechnerisch richtigen Proportionen unterwerfen, muß es aber nicht. Sie ist eine empfundene, keine dingliche Bewegung. Gerade die Proportion, die bei der materiellen Bewegung eine wichtige Rolle spielt, hat in der musikalischen Bewegung eine ganz andere Bedeutung. Davon wird noch die Rede sein. Die Bewegung der Töne und Klänge, trotz der Mög= lichkeit, sie akustisch zu erfassen, kann nicht nach naturwissenschaftlichen Erfahrungen allein beurteilt und verstanden werden. A n eine unphysikalische Bewegung dachte Helmholtz, als er schrieb: „Die Tonbewegung ist allen Be= wegungen körperlicher Massen überlegen" 28 . Es trägt zur begrifflichen Klärung bei, wenn man zwischen Bewegung und Bewegtheit unterscheidet. Bewegung ist sinnliches, Bewegtheit seelisches Er= eignis. Der naturwissenschaftlich forschende Mensch lenkt sein Augenmerk auf die Bewegung. So pries Anaximander, der Schüler des Thaies, die ewige Bewegung als den Urgrund aller Dinge. Seitdem hat die Naturforschung nicht geruht, die Bewegung als einen Hauptträger des Kausalgeschehens zu beschrei= 28 Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen. Braunschweig 1 9 1 3 8 , S. 4 1 5 . Daß aber auch er nicht ganz frei ist v o n der Übertragung physikalischer Gesetze auf musikalische V o r g ä n g e , beweist eine andere Stelle (S. 5 9 7 ) , w o er behauptet, daß die musikalische Bewegung die „Eigentümlichkeiten der Bewegung im R a u m nachahmt".

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ORDNUNG

ben und sie als eine Reihe von räumlich veränderten Positionen der Berechen= barkeit zugänglich zu machen. Dem ästhetisch erlebenden Menschen hingegen ist berechenbare Bewegung im Raum gleichgültig. Er empfindet insbesondere die musikalische Bewegtheit als unräumlich und zudem zeitlich nicht fixierbar. Sie gilt ihm nicht als ein Sehding, sondern als ein Hörerlebnis, welches statt der Richtigkeit der Zahlenproportion die Richtigkeit der Kontinuität aufweist. Die Bewegtheit in der Musik geht, wie Riemann schon andeutete, auf „Bewegungen der Seele" zurück und ist deshalb „durchaus gegenstandslos" 29 . Solange man hingegen eine Melodie als eine bewegte Tonreihe, von der man einzelne Momentaufnahmen machen kann, ansieht — eventuell auch nach ihrer Beschaffenheit ansehen muß —, nimmt man die Bewegtheit nicht wahr. In solchem Falle werden die Melodietöne gezählt, ihre momentane Länge ge= messen. Aber in Wahrheit mißt man dabei nicht die musikalische Zeit, sondern deren gegenständlichen Ersatz. „Mit diesen nebeneinandergesetzten Moment= aufnahmen hat man einen praktischen Ersatz der Zeit und der Bewegung, welcher sich den Erfordernissen der Sprache anpaßt, um sich später der Berech= nung darzubieten; aber das ist nur eine künstliche Rekonstruktion: die Zeit und die Bewegung sind in Wahrheit etwas anderes."30 Was sind also musikalische Zeit und musikalische Bewegtheit? Die Be= sprechung der musikalischen Zeit sei hier übergangen. Ihr wird ein be= sonderer Abschnitt gewidmet. Die musikalische Bewegtheit ist leichter erkenn= bar. Sie ist Ergebnis einer aperspektivischen und ungegenständlichen Musik= Vorstellung. Um die Ungegenständlichkeit dieser Bewegtheit mit der aggregat= haften und punktartigen Bewegung von Tönen zu vergleichen, halte man folgende Beispiele einander gegenüber:

Hugo Riemann: Grundlinien der Musikästhetik. Berlin 1919, S. 31. Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden (übers, a. d. Meisenheim 1948, S. 26. 29

30

Franz.).

2.

183

TONRAUM

Beispiel 35. Händel: Tenor-Arie aus „Josua"

Hier interessiert nicht das Detail, sondern der Gesamtzug einer melodischen Vorstellung. Der große Zusammenhang, den die musikalische Bewegtheit schafft, ist in dem Ausschnitt hier keineswegs enthalten; er setzt sich weiter fort. Dennoch macht dieser kurze Ausschnitt kenntlich, daß die vielen Töne im einzelnen keine für sich stehenden Klangwerte besitzen. Ihre Gesamtheit allein ist Träger der inneren Bedeutung. Anders verhält es sich in diesem Beispiel:

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Beispiel 36. Schumann: „Schmetterling"

Die Töne haben hier bestimmte Raumpositionen. Ihre konstruktive An= Ordnung ist offensichtlich. Die Übereinstimmungen in den Motivbewegungen sind genau beachtet und für die Form verwertet worden. Die Proportionen sind engräumig und im einzelnen wichtig. Alle Entsprechungen werden als Bewegungen hörbar. Die Evidenz der Bewegung, in der Körnigkeit der Motivtöne realisiert, be= sitzt eine geometrische und deshalb beweiskräftige Raumgebundenheit, die der unmathematischen Bewegtheit freilich fehlt. Da diese sich dem Raum und seinen Maßen entzieht, ist sie eher virtuell als aktuell. Die virtuelle Bewegtheit besteht in der Bewegungsphantasie des Menschen, wo sie innerlich mitempfun= den aber nicht tatsächlich ausgeübt wird. Der Zuschauer bei einem Tennisspiel, der die Bewegungen der Spieler mitempfindet, aber nicht ausübend erlebt, hat immerhin einen aktuellen und räumlich kontrollierbaren Anhalt. Der Hörer einer Musik nimmt die musikalische Bewegtheit jedoch nur durch das Ohr auf, unräumlich, virtuell. Zwar vermag auch er einzelne Melodieteile als etwas fest Umrissenes, etwas Statisches zu verstehen. Oft wird das von der Musik= form so gefordert. Und Statisches mit Statischem aneinandergereiht liefert ein summatives Ergebnis, einen Bewegungseindruck. Anders ist der Bewegtheits= eindruck: er kommt durch weitzügige Zusammenhänge der musikalischen Aus= sage zustande und wird auch so verstanden. Die Zusammenhänge der musikalischen Bewegtheit sind akausaler Art. Sie beweisen, daß der Geist nicht nur zusammenhängend denken, sondern auch zusammenhängend empfinden kann. Diese Einsicht ist alt. Augustinus spricht, in bezug auf Musik, von einer vielgliedrigen Bewegtheit, die er „commixtus motus" nennt und die er mit dem Atmungsvorgang, der ja auch nicht rational geschieht, vergleicht. In ähnlicher Weise findet die beziehungsreiche Bewegt= heit in der Musik, oft in Analogie zu Lebensgesetzen und Lebenserscheinungen gesehen, in anderen mittelalterlichen Musiktraktaten Erwähnung. So schreiben

2. TONRAUM

185

über die Bewegtheit der Seele in ihrer Wechselwirkung mit der Bewegung der Töne der burgundische Abt Odonius von Cluny (um 900) und der englische Mönch Johannes Cottonius (um 1100). Ein letztes Mal wird dieses Problem durch Cusanus aufgegriffen. Er betont ebenfalls nicht die rationale Beweisbar* keit, sondern die aperspektivische Geistigkeit der Bewegungserscheinung, wenn er sagt: „Ohne Geisteshauch gibt es keine Bewegung . . . Mit Hilfe der Be= wegung bringen alle Künstler zustande, was sie wollen" 3 1 . Der Geisteshauch der musikalischen Bewegtheit und seine ästhetische Er= kenntnis wurde später durch die physikalische Bewegungsauffassung verdeckt. Überdies wurde der physikalische Spannungsbegriff noch hinzugezogen. Von Spannung in der Musik ist die Rede, sobald die Melodietöne als „Punkte einer Klangoberfläche" angesehen werden, als eine räumliche Klangpunktfolge, welche sich „in einer gewissen Elastizität" 32 darstellt. Die Melodie, als eine elastische Klangoberfläche verstanden, scheint mit flächen= oder raumhaften Bewegungen gänzlich ausgefüllt zu sein. Zu dieser nicht immer zulässigen Konsequenz in der Anwendung des Flächen* und des Raumbegriffs tritt dann der generelle Irrtum, es sei die Gestaltung von Musik „schlechthin Gestaltung der Bewegung" 33 . Allenthalben gewöhnt sich die heutige Zeit daran, sich in der Musik „die Bewegung als Äußerung der innewohnenden Kraft" 3 4 erläutern zu lassen. Auf so gewonnenen Grundsätzen läßt sich zwar eine naturwissenschaftlich orientierte Ästhetik aufbauen, doch führen diese Theorien nur in die enge Straße der musikalischen Formgesetze hinein. Das weitere Einmünden in die Bahn des musikpsychologischen Reflex=Prinzips ist dann vollzogen, wenn „Bewegungsimpulse" 35 einzelner Töne experimentell an Versuchspersonen erforscht werden. Überhaupt begünstigt die ästhetische Blickrichtung auf den Einzelton und auf den motivischen Einzelkomplex die physikalistischen Ansichten über Musik. Es gelten dann melodische Vorgänge, in denen man eine Spannung erkennt, als gleichgeartet allen stofflichen Vorgängen von spannungshafter Elastizität. Sicherlich gibt es auch eine seelische Spannung, ein Gespanntsein der Gemüts= Stimmung, einen Zustand der Erwartung. Doch davon ist in der Analyse, welche die Front der Klänge nach physikalischen Gesichtspunkten unterteilt, nicht die Rede. In der Physik bezeichnet man die Spannung eines elastischen Körpers als einen Zustand, in welchem seine Teilchen durch Außenkraft verschoben 31 32 33 34

Schriften des Nik. v. Cues X 77. Kurth: Musikpsychologie 8. Alexander Truslit: Gestaltung und Bewegung in der Musik. Berlin 1938, S. 45. Ernst Bücken: Geist und Form im musikalischen Kunstwerk (HdMw.). 1929,

S. 34. 35

A . Truslit a.a.O. S. 46.

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sind; diese Teilchen kehren, bei Wahrung der Elastizitätsgrenze, nach Auf= hören der Krafteinwirkung in die Ausgangslage zurück. Analogerweise wird nun versucht, das Auf und Ab des Melodieganges, wie es sich in den einzelnen Tönefolgen darstellt, als eine Spannungserscheinung, hervorgerufen durch den konstruktiven Willensakt des Komponisten, zu erklären. Die völlige Verräumlichung der Musik ist dabei Voraussetzung. Die Ästhe= tik erkennt dann „druckhafte Spannungen" 36 an, sie untersucht elastische Klangfelder, in denen sich die „Spannungskraft aller in einem Musikstück sich entwickelnden Linien" 37 auswirkt. Die Melodie löst sich in sichtbare Teile auf, zwischen denen sich Spannungsmöglichkeiten „durch streng symmetrische Lagerung der einzelnen Teile und Überbetonung der Proportionalität" 38 er= geben. Die Motive gruppieren sich, und innerhalb der Gruppen werden Inter= vallspannungen zwischen den Tönen abgelesen. Die grundsätzliche Verschiedenheit dieser Gruppen= und Linienspannung vom seelischen Spannungsbegriff leuchtet ein. Jede seelische Spannungslage ist erfüllt von Ungewißheit, ist ein Gefühl besonderer geistiger Aktivität, eine Empfindung von seelischer Anstrengung, welche froh oder unfroh, abwartend, vorandrängend oder befürchtend sein kann. Es kann sich hierbei ein „Lö= sungsgefühl" 39 einstellen, oder es bleibt ein Hangen und Bangen in schwe= bender Pein. Die seelische Gespanntheit ist also nicht unbedingt ein Wert. Sie kann auch ein Unwert sein, unangenehm, ängstigend, hemmend, nieder* drückend. Anders geartet ist die physikalisch gesehene Elastizität der Intervallspan= nungen. Sie ordnet einzelne Ton= und Klangverhältnisse, welche auf „tiefver= borgenen Bewegungs=, Raum= und Materiephänomenen" 40 beruhen. Diese Ord= nung ist nur dann ein Unwert, wenn sie rechnerisch nicht stimmt. Sonst aber ist sie von vornherein ein Wert, nämlich ein Zahlenwert. Sind die Teile richtig geordnet, dann liegt der Wert der Form in der Symmetrie des Spannungsab= laufes. Es sind räumliche oder geometrische Werte, die so in der Musik auf= tauchen und greifbar werden. GLEICHGEWICHT DER FORM UND ENERGIE DER MOTIVGRUPPE. Sucht man den Klangausdruck weiterhin verstandesmäßig von der Klangmaterie her zu ver= stehen, so drängen auch das Gleichgewicht der Form und die Energie summier= ter Einzeltöne in die ästhetische Betrachtung hinein. Das Gleichgewicht der 36 37 33 39 40

Kurth: Musikpsychologie 1 8 3 . Otto von Irmer; zit. bei K. Laux a.a.O. S. 24. Hans M e r s m a n n : Die moderne Musik ( H d M w . ) . 1 9 2 7 , S. 1 9 9 . Hermann Ebbinghaus: Grundzüge der Psychologie. Leipzig 1 9 1 t 3 , II 3 3 9 . Kurth: Musikpsychologie 2 1 .

2. TONRAUM

187

Form tritt dem naturwissenschaftlich geschulten Betrachter im Zusammenhang mit Bewegungsphänomenen entgegen. Ausgangspunkt ist der „Bewegungs= ausgleich", welcher darin besteht, „daß gewissen angespannten Verlaufs= formen auch ein ausgleichendes Gegenspiel entspricht" 41 . Die Verschiebungen und Vereinigungen von Tönen werden den Verschiebungen und Ver= einigungen physikalischer Teilchen gleichgestellt. Die Musik befindet sich somit in dem labilen Zustand eines Aggregates. Die Physik spricht von Gleichgewicht, sobald verschiedene Energien mit gleichem Potential vorhanden sind; bei Potentialverschiedenheiten zeigt sich das Gleichgewicht gestört. Zur Musik mit ihren metrischen Akzenten und ihren Tonlängen und =kürzen lassen sich von hier aus logische Vergleiche durchaus ziehen. Die Elemente gelangen dann „durch sich selbst zur Erscheinung" 42 : sie bestimmen den Form= räum, vermitteln dessen Proportionen, werden Akzentträger und stellen me= trische Gewichtsverhältnisse her. Diese physiko=musikalische Gleichgewichtsvorstellung ist quantitativ. Zu= sammengedrängte Einzelteile auf kleiner Fläche und die zerstreute Gleichzahl auf großer Fläche stehen im Gleichgewicht. Diese Zahlenverhältnisordnung wird zum ästhetischen Wert erhoben. Wertträger sind sogenannte tonliche und klangliche Energien. Dabei bleibt die musikalische Gleichgewichtsordnung rein konstruktiv, eine meßbare Abwägung. Das Gleichgewichtsprinzip ist ein Anordnungsprinzip. Der Komponist ver= mag das stoffliche Gleichgewicht der Klangmaterie „durch Kombination gege= bener Formeln abzuwandeln" 43 . Die ausgleichende Hand des Komponisten ist sichtbar: was auf bemessenem Raum dargestellt und aufgeschrieben ist, bietet sich als Stoff für weitere Kombinationen an. Das konstruktive Gleichgewicht ist also ein formales, hergestellt in und mit der Form, sei diese nun klein oder umfangreich. Die gleichsam gewogenen Musikabschnitte bieten sich nun als Baustoff für fast alle Formen, bis zur Sonatenform und über diese hinaus, an, ja es entsteht mit Hilfe dieser sich an die Materie haltenden Gleichgewichts* Ordnung eine „konstruktive Symphonik" 4 4 . Diese klammert sich folgerichtiger» weise an die gegebenen tonlichen Einzelstrukturen mit all deren raumgrup= pierten Spannungen und Bewegungen. Sie vermag in der Tat zu bauen, bringt aber vorwiegend die eine Möglichkeit, nämlich die der mathematischen Struk= tur, zur Anwendung. Auch die Elementarkräfte oder, wie es heißt, Energien der addierten Motive und Motivgruppen ändern daran nichts. 41

42 43 44

Kurth: Musikpsychologie 272. H. Mersmann a.a.O. S. 46. ebd. S. 1 1 . ebd. S. 28.

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Errechenbare Energie ist formale Energie. Selbst wenn ästhetisch von „in= neren Kraftbewegungen" 1 5 gesprochen wird, wobei die Bewegung, wie schon gezeigt, auch den Augen durchaus erkennbar bleibt, befinden wir uns auf physikalischem Boden. Der Ton erscheint erfüllt mit „verhaltenen Energie* formen" 4 6 . Diese Energie ist statisch. Sie macht den Ton zu einem klanglichen Zeitpunkt, zu einem Augenblicksstadium innerhalb von Kraftvorgängen. Der energieerfüllte Ton „ist A u f f a n g u n g durchflutender oder gestauter Kraft" 4 0 , Objekt einer Kräfteordnung, äußerer und anschaulicher Erscheinungswert. Energie als Maß schränkt die Musik auf ihre konstruktive Form ein. Sie ordnet und mißt die Tonvorgänge. Damit spiegelt sich in der Musikästhetik der physikalische Lehrsatz von der Umwandlung der Energie auf Grund kau= saler Einwirkung wider. Denn die Energie ist das Maß f ü r den Betrag an Kausalität, der von einer systematischen Verbindung abgegeben oder emp= fangen wird, sie ist eine Wirkungsbeziehung zwischen den Elementen. Die energetische Ästhetik löst analogerweise die Musik in ihre Elemente auf und zeigt direkte, engräumige Tonbeziehungen und Kraftrichtungen. Die Energie wird somit innerhalb der motivischen Elemente und motivischen Gruppen ablesbar. Es bleibt die Frage, ob und wieweit ein solches Gleichgewichts* und Energie* prinzip auf die musikalische Kunstform allgemein anwendbar ist. M a n kann es da zugestehen, wo tatsächlich die Form spezifische Maßverhältnisse zeigt, wo ein augenfälliges Gleichgewicht in engräumigen Töneverhältnissen vor= herrscht.

Beispiel 37. Beethoven: Bagatelle op. 33 Nr. 2 Hier werden von der Energie des ersten Taktes die folgenden drei Takte gespeist, ordnet sich die Motivik in Raumgruppen, ist ein offensichtliches Gleichgewicht gewahrt. Ist aber damit die Analyse erschöpft? Es kommt fol= gende Überlegung hinzu: will man die seelische Kraft, den in Tönen darge= 45 46

Kurth: Musikpsychologie 214 (s. Anm. 25). ebd. S. 215.

2. TONRAUM

stellten Anschwung eines seelischen Erlebens als Energie bezeichnen und diese Energievorstellung musikästhetisch beleuchten, so muß man zunächst zwischen klanglicher und melodischer Energie unterscheiden. Das unmittelbare Erlebnis eines klanglichen Ausdrucks hat tatsächlich eine raumzeitliche Dimension, hier läßt sich der physikalische Energiebegriff bis zu einem gewissen Grade analog anwenden. Anders liegt dies beim melodischen Ausdruck. Denn dieser ist bald räum= lieh, bald unräumlich. Es kann ihm einerseits eine Konstruktion zugrunde lie= gen, aber anderseits ist er bei intentionaler Gestaltung nur zeitganzheitlich, holoeidetisch zu verstehen. Demnach wäre intentionale melodische Energie nicht eine elementare Energie, welche sich aus Teilen zusammensetzt oder durch Analyse zugänglich zu machen ist. Tatsächlich zeigt sie sich in der Musikform nur auf indirekte Weise; sie ist einem anderen Zusammenhang, keinem physi= kaiisch anschaulichen, zugehörig. Diese unformale Energie, die nicht ordnungherstellend, sondern organisch und lebensgesetzlich wirkt, wohnt der aristotelischen forma formans inne. Mitsamt dieser Begriffsverwandtschaft in Vergessenheit geraten, wurde sie in der neueren Zeit erst durch Herder wieder dem Bewußtsein nähergerückt. Herder bezeichnet sie als „Kraft der Seele", als „Besonnenheit", als ein seelisch» geistiges Zentrum, welches dem Menschen eine „innere Sprache" schenkt47. Von ihr geht der physikalisch nicht erklärbare Ausdruck, die Musiksprache, deren Begriffe v o r der Form existieren, aus. Herder weckt den Sinn für „Schwebe» und Zwischentöne, für das Unnennbare, Dunkle" 48 , welches trotz seiner Geheimnisse die Möglichkeit schafft, den Schlüssel zu fremdem Aus= druck,zu finden. Es ist gleichsam ein seelischer Innenraum, der diese unformale Energie beherbergt und sie als unkonstruierbaren Ausdruck nach außen sendet. Als einer inneren Ausdruckskraft hat auch Bergson dieser Energie seine Aufmerksamkeit zugewandt. Er nennt sie „énergie spirituelle" 49 . Auch hier schlummert im Grunde der forma=formans=Begriff: ein akausales Zusammen= wirken geistiger und seelischer Vorstellungen. Die Musikästhetik steht vor der neuen Aufgabe, sich dieser Begriffe zu bedienen. Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen formaler und unformaler Energie, wenn man die eine als gegenständlich und die andere als zielend auf= faßt, wie es bei Dilthey geschieht. Hier ist die seelische Energie „eine An= Spannung und Richtung auf einen Zielpunkt", also im eigentlichen Sinne 47 48 49

zit. bei H . S a l m o n y : D i e Philosophie des jungen Herder. Zürich 1 9 4 9 , S . 1 3 8 . zit. bei W . D o b b e k : Herders Humanitätsidee. Braunschweig 1 9 4 9 , S. 1 7 . Henri B e r g s o n : L'énergie spirituelle. Paris 1 9 2 0 .

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V. ORDNUNG

entelechial. Sie schafft lebensgesetzliche Zusammenhänge, ist „Realisierung von etwas, das noch in keiner Wirklichkeit war" 5 0 . Diese innenwirkende und un= räumliche Kraft setzt statt des Seins das Werden, statt des konstruktiven den organischen Zusammenhalt. Sie überspannt Zusammenhänge, welche, schein= bar entfernt, durch Ziel= und Erinnerungsvorstellungen verwoben sind. In der Melodik wirkt sich das so aus, daß die einzelnen Töne nicht gegenständlich und abschnittsweise gehört werden, sondern kontinuierlich und in einem nicht abgeteilten Zusammenhang. Über die Einzelerscheinungen hinweg flutet und besteht das schwebende Geben und Nehmen, die unformale Energie. Die direkt räumliche Energie zwingt, da sie eine naturwissenschaftliche und systematische Wirkungsbeziehung darstellt, die Musik in die sichtbare Logik der Form. Dieses Raumbild, angewandt auf Klang und Harmonik, hat zwar seine musikalische Berechtigung, doch, wie sich zeigen wird, beschränkt sich diese Berechtigung auf bestimmte gegenständliche Erscheinungsformen. D E R HARMONISCHE KLANGRAUM. Im Räume sind sowohl die Großformen wie auch die kleinsten Teile örtlich bestimmbar. Jedes Objekt im Räume hat seinen Platz und seine Begrenzung. So objektiviert und begrenzt der Raum auch den Klang. Musikalische Vorgänge, die räumlich gesehen werden, sind also ortsgebundene und streckenhaft begrenzte Vorgänge. Klangfolgen in räumlicher Ordnung und in dimensionaler Auffassung ordnen sich als Stoff in ihre Umgebung ein. Diese Auffassung von einer bewußten Raumgebunden= heit des harmonischen Geschehens haben wir von der Seite der Klangdimen= sion her bereits kennen gelernt. Es bleibt nun noch der Überblick über den Klangraum als Formelement.

Der Verstand, der räumlich denkt, erblickt in der Musik örtliche Objekte, nicht zeitliche Erscheinungen. Der logische Verstand braucht kein musisdies Verhältnis zur Zeit, ja er versteht die Zeit im Grunde gar nicht; was er be= greift, ist „nur ein Schatten der wahren Dauer" 5 1 . Der Verstand denkt räumlich: er kann erfassen, überlegen, auseinandersetzen, unterstellen, ordnen, begren= zen, vertauschen und umkehren. Er geht perspektivisch zuwege. Richtet er sich auf die musikalische Harmonik, so sieht er allein ihre perspektivische Form, ihre Ordnung, ihre Einteilung. Diese Teile kann er mischen. Er läßt eine promiskuive, das heißt eine nach ordnenden Gesichtspunkten gemischte Klang= form entstehen. Wo das Raumdenken des Verstandes die Musik einteilt und diese Teile wie Objekte handhabt, entsteht die Promiskuität der Form. 50

zit. bei Landgrebe: Dilthey 326. Henri Bergson: Denken und schöpferisches W e r d e n Meisenheim 1 9 4 8 , S . 43. 61

(übers, a. d.

Franz.).

2.

TONRAUM

Die verstandesmäßige Klärung des Raumbegriffes war und ist das Anliegen der Musikästhetik der Neuzeit. Es wird mit Begriffen wie Gewicht, Funktion, Abstand, Abgrenzung und dergleichen argumentiert. Die Klänge werden in einen gedachten Raum hineingestellt. Dieser Klangraum ist stabil. Schon die Tonleiter entspricht einem physikalischen Raumausschnitt: sie ordnet ihre Elemente nebeneinander wie Leitersprossen. Ein Abstand innerhalb der Leiter tritt auch in verschiedenen Lagen stets mit den gleichen Abmessungen auf. Ähnlich ist der Takt räumlich gegliedert: er teilt gleiche Strecken ab und re= gistriert gleichbleibende Abstände. Damit sind zunächst die musikalischen Elemente als klangräumliche Fundamente festgelegt. Die weitere Entwicklung geht folgerichtigerweise dahin, die Harmonie als „das räumliche Prinzip in der Musik" 52 anzusehen. Klangteil und Raumteil werden zueinander in Parallele gesetzt. So kann schließlich die klangliche Existenz eines Dreiklanges dasselbe bedeuten „wie die Länge des räumlich dargestellten Bewegungsausschnittes"53, das heißt, drei Töne durchmessen eine Strecke im Verlauf eines Bewegungsvorganges. Die Ereignisse der Har= monie gelten dabei als „Räume des Harmonischen"54, als Raumklangerschei= nungen, die sich innerhalb ihrer bestimmten Dimension bewegen. Als solche gewinnen sie auch auf die Formwerdung direkten Einfluß. Sie besitzen Dichte und Gewicht. Zum Beispiel läßt sich die Continua=Melodik der barocken Baß= führung als ein lineares Gebilde ansehen, auf dem das harmonische Geschehen lastet, welches, überdacht von der Diskant=Melodik, seinen eigenen und be= stimmten Raum einnimmt. Eine Verfeinerung dieser Raumvorstellung ist möglich. Sie dringt bis zum seelischen Erlebnis von etwas Räumlichem vor, worin das Gegenständliche kaum noch greifbar ist. An dieser Grenze gibt der musikalische Raum seine Stabilität auf. Es wird dann zwar noch ein klangliches Volumen wahrge= nommen, aber nur als „Räumigkeitserlebnis"55. Der scheinbar objekthafte und dimensionale Klang läßt in dieser irrationalen Vorstellung eine innere Gesamte struktur zurück, welche alle statischen Elemente durch neue Beziehungsverhält= nisse völlig umwandelt. Der enge Geltungsbereich der Raumbedingungen wird aufgenommen in den größeren Geltungsbereich der weiten und instabilen Klangzusammenhänge. Die rationale Bemühung und Begrenzung, die dem Raumdenken anhaftet, völlig auszuschalten, ist eben das Ziel des intentionalen Klangverstehens. 52

C u r t Sachs: Kunstgeschichtliche W e g e zur Musikwissenschaft. A f M w . I, 458.

53

Erhart Ermatinger: Bildhafte M u s i k . Tübingen 1 9 2 8 , S. 48.

54

Ernst Bücken: Geist und Form im musikalischen K u n s t w e r k ( H d M w . ) . S. 1 5 1 .

55

Danckert: U r s y m b o l e 3 1 .

192

V.

ORDNUNG

Wie ist nun der formal=harmonische Klangraum beschaffen? Er entsteht einerseits durch motivisch=melodische Kontraste und anderseits durch das Auseinanderhalten von klanglich begrenzten Abschnitten. Er schafft auf diese Weise „gleichsam akustisch=optische Drehpunkte" 58 , die als bleibendes Merk= mal dieses Raumes fortbestehen. Das Ohr hört dabei promiskuiv: die einzel= nen Form= und Klangteile sind merklich getrennt, sie bilden ein Nebenein= ander, welches bleibt. Die musikalischen Konturen, die jeweils Anfang und Ende haben, sind räumlich abgestuft. Sie erscheinen kompakt, abgerundet, für sich stehend. Die Klänge ruhen statisch und objekthaft im Raum; die Bewe= gung kommt als Akzidens hinzu. Das musikalische Geschehen zeigt sich dem Stoffe nach akustisch, der Bewegung nach optisch. Auch hier wird deutlich, wie dem Ohre Aufgaben des Auges zugewiesen werden. Der Blick, der die äußere Dingwelt ordnet, nimmt jedes Objekt in seiner unbewegten Form auf. Die Bewegung wird dabei erst sekundär durch das Denken erschlossen. Das Gehör dagegen verhält sich grundsätzlich anders. Es bringt uns „nicht in Gegenüberstellung zur Außenwelt, welche sich objekt= haft in Abstand und Trennung von uns befindet" 57 . Es vermag zwar Abschnitte wahrzunehmen, richtiger gesagt, Einschnitte, aber es nimmt auch auf dilektive Art die tönende Bewegtheit als eine Bewegungsganzheit auf. Es braucht nicht die Fronten der Klänge abzutasten, ja es ist bei einer gleichzeitigen Vielzahl von Tönen oft nicht dazu in der Lage. Das Ohr durchschneidet nicht, wie der Blick, den kleinsten Zwischenraum zwischen Objekt und Objekt. Es kann den Klangeindruck, unräumlich aufgefaßt, direkt zum Räumigkeitserlebnis werden lassen. Das Hören von Klängen kann rein kontinuierlich geschehen. Es beruht mehr auf einer Zeit= als auf einer Raumvorstellung. Der Bewegungseindruck, auch beim überwiegend harmonisch=klanglichen Geschehen, braucht nicht ak= zidentell zu sein. Er kann auch primär sein. Dies ist beim intentionalen Hören der Fall. Die Gegensätze sind deutlich: der immaterielle Ausdruck lebt in der Zeit, der materielle im Räume. Wie das Auge die gegenständliche Bewegung erkennt, so nimmt das Ohr die ungegenständliche klangliche Bewegtheit auf. Die Zeit, nicht die physikalische, sondern die musikalische, wird beim Hören lebendig und vergegenwärtigt. Jedoch in dieser Richtung verfeinerte sich die klangliche Raumvorstellung und das Musikhören der nachmittelalterlichen Generationen nicht. Das sach= liehe Raumdenken im optischen Klangraum gewann die Oberhand. Physika» lische Begriffe fundieren seitdem auch in der Harmonik eine physikalistische 58 67

E. Bücken a.a.O. S. 154. Brelet: Temps musical I 70.

J.

FORMLOGIK

193

Auffassungsweise. Formbildende Kräftevorgänge, promiskuive Strukturgrup= pen, aphoristische Motivik und objektgebundene Harmonik gelten noch heute als die wichtigsten Bestandteile der Musik. Was dabei meistens vergessen wird, ist, daß diese Teile, allein oder auch zusammengenommen, „ebenso= wenig Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind" 58 . Die dinglichen und sachlichen Vorgänge in der Musik sind tatsächlich wächsern und statisch. Es gibt viel Sachliches in der Musik. Aber erst dann, wenn das sachliche und räumliche Denken den Kurs der Musikästhetik über= haupt bestimmt, droht Gefahr, alle nicht sachlichen und nicht räumlichen Eigenschaften der Musik gänzlich im Dunkel zu lassen und über die Formlogik die Gestaltgesetzlichkeit zu vergessen.

3.

FORMLOGIK

KADENZ. Die sachliche Beurteilung der Musik bedient sich, wie wir sahen, des Raumdenkens. Jede Konstruktion, die in einen gegebenen Raum hinein= gestellt wird oder diesen Raum beherrscht, muß sich ein sachliches Urteil gefallen lassen. Sachlichkeit, angewandt auf Fragen der Kunst, ist gleich= bedeutend mit der Tendenz, das Verständnis von Kunstwerken auf dieselbe Stufe wie die rationale Bewältigung und Leichtfaßlichkeit der Alltagswelt zu stellen. Die Stabilität und Leichtverständlichkeit alles Sachlichen — denn das Schwerverständliche bezeichnen wir nicht als sachlich — auf die Musik zu übertragen und die Welt der Dinge mit der Welt der Phantasie gleichzusetzen, ist eine Verlockung, welcher das logische und physikalische Denken nur zu gerne folgt. Die Folge davon ist, daß die Ortsgebundenheit der Sachen der= gestalt in der Musik wiedergesucht wird, daß die klanglichen und melodischen Vorgänge als ortsgebunden anerkannt und hingenommen werden. Selbst eine Folge von Tönen oder Klängen, die doch abläuft, wird in ein statisches Maß eingespannt. Ein Musterbeispiel solch einer sichtbaren Konstruktion von Har= moniefolgen auf statischer Grundlage ist die Kadenz. Kadenz heißt Quintfall. Sie ist ein engräumiges harmonisches Gefälle um und in Richtung auf den Tonikadreiklang. Während in der mittelalterlichen Musik der Concentus und der Accentus einander lange Zeit die Waage hielten 59 , stattete der accentische Gesangstil nach und nach die Finalis, den End= und Grundton, mit harmonischem Schwergewicht aus. Je mehr durch den Gang der Geschichte das reichblühende concentische Melos, in den Sequenzen Busoni: Entwurf 15. Im Concentus wurden selbständige Melodien, im Accentus formelhafte, fast rezitativische Gesänge vorgetragen. 58

89

13

Musica Panhumana

194

V.

ORDNUNG

fortlebend, zurückgedämmt wurde 60 , um so deutlicher bildete sich die Verti= kalstrebung und tonikale Gewichtsverlagerung im wortnahen Gesänge aus. Bis zur musikalischen Frühklassik hin festigte sich dieses Verhältnis zwischen horizontaler Melodik und vertikalem Klang in der begonnenen Weise, so daß schließlich ein fast architektonisches Quintgefälle den ganzen musikalischen Verlauf steuerte. Die Kadenz wurde zur Bindung und Ordnung der musika= lischen Gedanken, zur Perspektive eines räumlichen Formens. Die Kadenzordnung ist eine logische Ordnung, welche tonräumliche Be= herstellt. Audi andere logische Ordnungen von Ton= und Akkord= folgen sind tonräumlicher Natur, unabhängig davon, ob sie die Tonalität befestigen oder diese preisgeben. Alle solche Ordnungssysteme sind, sachlich gesehen, der Kadenzordnung ähnlich und betreffen nicht die Tonalität. Denn Tonalität und Kadenz sind zweierlei.

Ziehungen

Die Bindung der Tonalität ist gefühlshaft, die der Kadenz ist rational. Die gefühlshafte tonale Bindung ist ein panhumaner Besitz der Musik. In der griechischen Antike war es der Mittelton (mese), der, wie Aristoteles sagt, „wie ein Band der Töne" 6 1 wirkte. In der mittelalterlichen Musik erwies sich das tonale Beziehungsgefühl an der Chormusik und an den liturgischen Sprech* gesängen, wo der Grundton und der Reperkussionston musikalische Pole bildeten und dem Melos mehr „Haltung und Ziel" 62 als Ordnung und Eintei= lung gaben. Sehr deutlich als rein gefühlsmäßige Angelegenheit zeigte sich die Tonalität bei der Vortragsweise der Psalmodie: die Stimme hielt den tonus currens ein und berührte nur bei Einschnitten des Sprechtextes andere Ton* stufen. Bei der Kadenz und den ihr verwandten logischen Harmonieordnungen handelt es sich nun weniger um ein Gefühlszentrum als um einen korrekten Rahmen, in den die Abfolge der Klänge eingeordnet wird. Die „Flächenhar= monik" 63 , die sich das örtliche Anheften der Harmonien auf die Bahn des musikalischen Verlaufes zum Gesetz macht, geht mehr auf die zweckmäßige als auf die sinngemäße Form aus. So rationalisiert und versachlicht, stützt sich unsere Harmonik auf ein nüchternes System von Halb= und Ganztönen, welches in der Tat als ein „Koordinatenkreuz im Tonfelde" (H. J. Moser) an= gesehen und benannt werden kann. Die Kadenz bedient sich der gewählten Tonalität und macht aus ihr ein Medium im Sinne des Fallgesetzes: die Ka= 60

U m 1 5 7 0 schränkte Pius V . die Sequenzen auf 5 ein. zit. bei H. v. Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen. Braunschweig 1 9 1 3 6 , S. 396. 62 Marius Schneider: Die A r s nova des 1 4 . Jahrhunderts. Wolfenbüttel o. J., S. 3761

63

Ernst Pepping: Stilwende der Musik. Mainz 1 9 3 4 , S. 35.

3-

FORMLOGIK

195

denzbewegung steht unter Einfluß der tonalen Schwerkraft, bleibt aber durch= aus meßbar. Die Systeme der Tonreihe und der Tonleiter (s. Anm. 26) werden dabei als Ergebnis akustischer Berechnungen zugrunde gelegt. Es bieten sich die Frequenzwerte der Töne und die Zahlenwerte der Intervalle als ein koordina= tenhaftes Gerüst dar, als Maßnormen, mit denen man musiktechnisch zu Werke gehen kann. Die Tonreihe beruht in der Tat auf der Berechnung der richtigen Schwingungszahlen. Jedoch hat die Tonleiter mit den Zahlenwerten der zuge= hörigen Frequenzen gar nichts zu tun. Sie ist in erster Linie eine historische Erscheinung. Wollte man dieDur=Tonleiter mit folgenden Frequenzzahlen ihrer Töne wiedergeben64: c' d' e' f' g' a' h' c" 261,63 — 293,66 — 329,63 — 349,23 — 392,00 — 440,00 — 493,88 — 523,26, so wäre das rechnerisch richtig, aber musikalisch ein Irrtum. Denn diese An= gäbe betrifft einen Ausschnitt aus der Tonreihe. Die Tonleiter hingegen beruht nicht auf einem Zahlenwert, sondern auf einem Sinnwert. Sie hat Charakter= eigenschaften, Grundtonwahl, Modulationsgang. Nur scheinbar reiht sie die Töne nebeneinander auf, in Wirklichkeit stellt sie Zusammenhänge her, denen mit Sachlichkeit und Logik nicht beizukommen ist. Diese Einsicht überraschte bereits jenen Theoretiker, der mit humorvollen Versen unser auf den Tonleiter= tönen logisch aufgebautes Harmoniesystem zu entwickeln versuchte und der bei dem sachlichen Vergleich von Ober= und Unterdominant mit ihrer paralle= len Terz=Quint=Bauform ins Stocken geriet. Seine Worte seien als Kuriosum hier angeführt65: „Die Quint zu finden, uns nicht quält: von C abwärts ist F zu schauen. Die große Terz doch, dir wird grauen, von C abwärts ist As, nicht A! — Haha, mein Sohn, wie wird dir da?!" Die nüchterne Gleichsetzung von dem, was als sachlich gleichgeformt er= kannt und dem, was als musikalisch verwandt empfunden wird, führt in die Sackgasse der realistischen Ästhetik. So setzt die Kadenz, indem sie bestimmte Eigenschaften der Tonalität stabilisiert, Raumbeziehungen an die Stelle von Zeitbeziehungen. Auch duldet sie Baßtonfundamente, auf denen Akkorde errichtet werden. Jedoch die Naturgegebenheit des Raumes mit ihren Sach= maßen erstreckt sich in einer anderen Dimension als die raumlose Zusammen= schau der musikalischen Phantasie. Deshalb ist auch die Tonalität mehr als 64

G e z a R e v e s z : Einführung in die Musikpsychologie. Bern 1 9 4 6 , S. 36. Felix Draeseke: Die Lehre von der Harmonia in lustige Reimlein gebracht. Leipzig 1 8 8 6 , S. 7. 65

13°

V. ORDNUNG

eine elementare Tonsumme: sie lenkt auf Verwandtschaften der Klänge hin, sie ist aperspektivische Ausgangsbasis für ein zielvolles Klingen und Hören. Deshalb auch sind „die tonalen Grundwerte Symbole des Stilwillens, ist die Tonordnung Formung des Willens: nichts in der Musik ist Naturgeschenk—" m . Die Kadenz benutzt die tonalen Werte als umsetzbaren Baustoff. Sie bannt das tonale Empfinden in eine sachliche Ordnung. Ein Kadenzierungsprinzip, wie immer es beschaffen sein mag, ist die Algebra der Musik. Es ist stets dort vorherrschend, wo die Klänge und Beziehungsgesetze auf realistische Weise die ästhetische und tonale Auffassung bestimmen. Jedoch, anders gesehen, ist Tonalität auch dann vorhanden, wenn keine realistischen Verbindungs= und Maßbeziehungen bestehen (s. Anm. 27). Man kann sie als eine „in sich gleich= artige Wärmezone" 67 bezeichnen, worin alle Vorgänge, auch die entferntesten, gefühlsartig, jedenfalls nicht realistisch, als zusammengehörig empfunden werden. REALISTISCHE ÄSTHETIK. Real ist wirklich; realistisch ist wirklichkeitsein= schränkend, dergestalt, daß eine realistische Auffassung die frontale Außen= seite der Wirklichkeit für die Gesamtwirklichkeit hinnimmt. Der Realismus in der Ästhetik entspricht annähernd dem Positivismus in der Philosophie: er streift das Metaphysische ab, wendet sich nüchtern der Aufeinanderfolge und den Entsprechungen der Objekte zu und betrachtet alle Vorgänge mit Hilfe des rationalen Bewußtseins. Die cartesianische Wende, von der auch die Mu= sikästhetik im 1 7 . Jahrhundert erfaßt wurde, wirkt sich bis in die Gegenwart aus. Sie möchte noch immer jede künstlerische Aussage in der Gleichung Ding plus Inhalt gleich Form einfangen. Was ihr gelingt, ist die Prägung realistischer Formulierungen für die verräumlichte Musik. Zweifellos spielen Raum und Verhältnismaße, wie wir sahen, in der Musik eine wichtige Rolle. Doch in der Verallgemeinerung liegt der Fehler.

Die Frage nach formalen Direktverbindungen in der Musik läuft not= wendigerweise auf eine positivistische Ästhetik hinaus. Das räumliche Sein der Musik ist ein stoffliches Sein. Musik, die sich „im Raum von Tonarten" bewegt, die als „eine ins Riesenhafte erweiterte Kadenz" 68 angesehen werden kann, hält formal dem realistischen Blicke stand. Sie ist, soweit sich die Tren= nung ihrer Einzelteile logisch und glatt ausführen läßt, konstruktiv. Der Komponist schließt, bevor er an die Arbeit geht, gleichsam einen Vertrag mit seinem Tonraumpartner, der Kadenz. Er geht auf eine positivistische Weise vor, indem er rechnend zur Form gelangt und den Zufall mit Hilfe der Kon= 66

68

Ernst Pepping a.a.O. S. 42. Oskar Loerke: Joh. Seb. Bach. Berlin 1 9 5 0 , S. 36. Wilhelm Furtwängler: Gespräche über Musik. Zürich 1 9 4 8 , S. 1 1 8 ff.

3 . FORMLOGIK

197

struktion ausscheidet. Das ist realistisch. Die Form wird in harmonische Räume eingeteilt, sie wird ein euklidisch bestimmbares Raumgebilde. Mehr auf der Grenze vom wahrnehmenden zum vorstellenden Musik= empfinden steht ein reales, nicht realistisches „Ortsgefühl" 69 , ein mehr empfundenes als bewußtes Raumerlebnis, welches dem Hörer eine „Bestimmt» heit der Orientierung während des ganzen Verlaufes des Stückes" 69 zu ver= mittein vermag. Hier waltet kein cartesianisches Denken vor. Es ist durchaus möglich, daß beim Hören ein Ortsgefühl aufkommt, welches den Klang nicht als begrenztes Formelement auffaßt, sondern ein Klanglichkeitserlebnis wach* ruft. Der Raum, der gehört wird, wechselt hinüber in die Kategorie der Zeit. Der gesehene Raum hingegen, der ruhende und trennbare Teile zeigt, ist der Raum des Auges, er bleibt in der Kategorie der örtlichen Statik. Dieser realistische musikalische Raum bietet sich als bereitstehende Form für die Motive und Motivgruppen dar. Der Hörer, auf die logische Form= gruppierung einmal aufmerksam gemacht, zwingt sich selber zu einem rea= listischen Hören. Auch der in dieser Weise aufmerksame Komponist behandelt die Musik durchaus realistisch und perspektivisch. Mit allen elementaren und ordnungsbildenden Formteilen gibt sich ihm ein „Vokabular von harmonischen und melodischen Wendungen" 70 als eine Schar dienstbarer Geister an die Hand. In simplen Fällen genügt eine Art von Motivmontage, von harmonischer Feinmechanik, um melodische Strecken und klangliche Teile mosaikartig wie ein musikalisches Legespiel mit freilich zahllos vielen Zusammensetzmöglich» keiten zu ordnen. Das ist der Zustand einer ästhetischen Realistik, in welcher die zunehmende Autorität rechnender Ordnung, der Zahlenordnung, sich durchgesetzt hat. Schon hier sei aber bemerkt, daß die Zahl in der Mathematik eine ganz andere Brauchbarkeit eröffnet als in der Musik. Zwar leistet sie den Nachweis von Summen, stellt also Zusammenhänge her, aber sie besitzt an sich keine Kontinuität. Bergson hat bereits darauf hingewiesen, daß man fälschlicher» weise der Zahl eine Ausgedehntheit zugesteht, weil man sie in beliebig viele Teile zerteilen kann. Wohl schließt jede Zahleneinheit eine Mannigfaltigkeit ein, jedoch darf diese Summeneinheit nicht über die „Diskontinuität der Zahl" 7 1 täuschen. Es behagt dem realistischen Denken, auch in ästhetischen Fragen mit Zahlen aufwarten zu können. Das grub in die nachmittelalterliche Musik Spuren ein, denen hier bereits nachgegangen wurde. Die stimmungslose Kühle der Mathematik und der Mechanik fand beson= ders in der Neuzeit den Zugang zur Musik. Es verbündete sich der Geist der 69 70 71

Wilhelm Furtwängler: Gespräche über Musik. Zürich 1948, S. 129. Ernst Roth: Vom Vergänglichen in der Musik. Zürich 1949, S. 60. Henri Bergson: Zeit und Freiheit (übers, a. d. Franz.). Jena 1920, 5. 64.

V.

ORDNUNG

Musik mit dem Geiste der Technik. So entstanden schließlich Kompositionen, deren rhythmisch=melodische Motorik an „Wasserleitung und Nähmaschine" 72 erinnern.

pgi |li t PF PW ' fJ- i èà

3g

Solo-V.

mare, ma no» f

Beispiel 38. Strawinsky: Violinkonzert in D, 1. Satz

Eine so realistische Klangmathematik stellt sich als bewußte äußerliche Raumordnung dar. Sie begünstigt eine immer weitergehende physikalistische Musikdeutung. Von der „Ästhetik auf realistischer Grundlage" 13 bis zu den „modernen Obertonanbetern" 74 erstehen der Musik zahllose Normgeber, welche weder dem Gefühl noch dem Verstände Rätsel aufgeben. Das künst= lerische Material wird lediglich bausteinartig verwendet. Wie weit die Konsequenz des realistischen Ordnungsdenkens gehen kann, wird in der bildenden Kunst augenfällig. Die Architektur entwirft das „Bau= kastenprinzip" 75 , welches nur rechtwinklige Raumaufteilungen anerkennt. Es entstehen Häuserformen, die den Beschauer anmuten „wie Schnellzugswagen, die vergessen haben, auf der Horizontalen weiterzugleiten" 76 . An die Stelle des durch Wert und Schönheit Eigentümlichen tritt das Sachlich=Normale, das aus Ernst Krenek: Uber neue Musik. Wien 1937, S. 12. Titel eines Buches von J. H. v. Kirchmann. Berlin 1868 (s. Anm. 28). 74 Jacques Handschin: Der Toncharakter. Zürich 1948, S. 179. 75 Ludwig Hilberseimer: Großstadtardiitektur. Stuttgart 1927, S. 47. 7 6 Wilhelm Hausenstein: Was bedeutet die moderne Kunst? Leutstetten b. München 1949, S. 63. 72

73

3.

FORMLOGIK

199

dem Bedarf heraus Aktuelle. So formiert sich ein Geist der Konstruktion und der Geometrie, der mit Hilfe von Synthese und Analyse seine Werke schafft, wobei die Welt der Empfindungen negiert wird; denn allein „Ordnung und Exaktheit sind Bedingung" 77 . Auch dieser Ordnungsbegriff steht freilich, wenn man so will, auf dem Grunde einer seelischen Haltung. Es ist eine Haltung, die sich mit der Allein= herrschaft einer eindeutig auf Stoffberechnung und Stoffbehandlung ausgehen= den Stilauffassung begnügt. Es ist aber ein Unterschied, ob ein Material ge= formt oder ob in und mit einem Material geformt wird. Die Alleinherrschaft eines materialbeschränkten Stils wurde in der Malerei mit der Bezeichnung „Autismus" 78 versehen. In ihm sind zwei Züge dominant: das Ausweichen vor überlieferten Vorbildern und das Abgrenzen eines individuellen Stilbezirkes. Autistisch, selbstherrlich, panhumaner Verbindlichkeiten ledig, verobjektiviert dieses Kunstprinzip einen Ausschnitt aus der malerischen Vorstellungswelt. Da die Begriffe Gesamtvorstellung und autistische Vorstellung einander wider= sprechen, bleibt der Autismus innerhalb des realistischen Zeitgeschmackes der Überlegene. Dennoch kann der Allgemeinverständlichkeit ein Feld übrigbleiben. Kehren wir zur Musik zurück. Auch in ihr hat eine autistische Tendenz die Oberhand gewonnen. Die Allgemeinverständlichkeit, die der Realismus anstrebt, ruht in der Objektivierung der Form. Es teilt sich hierbei der aufs Objekt gerichtete Verstand dem Verstände des anderen Menschen mit. Der Rest, der in perso= naler Vernunft= und Gefühlsaussage bestehen müßte, fällt von vornherein weg. Zwar läßt sich der künstlerische Stoff von der Formlogik allein und willig bearbeiten. Wo jedoch der Klangstoff der Musik als reales Bearbeitungsmate= rial behandelt wird, tritt ein objektiviertes Ergebnis zutage, welches den schein= baren Vorteil hat, über die Subjektivität des Künstlers nichts mehr auszu= sagen — ein trügerischer Vorteil, weil der Nachteil der einseitigen Verstandes= existenz nicht zu übersehen ist. Musik als realistische Ausdrucksform ruft „die Liquidation des Subjektes in der objektiven Ordnung" 79 herbei. Diese Ordnung ist, weil stoffgeprägt, allgemeinverständlich. Die Musik ist dann Formträgerin, nicht Sinnträgerin. Sie mißt Quantitäten. Jedes Intervall ist gleichberechtigt, sein Gefühlswert wird eliminiert. Die melodischen Teile haben Elementarwert, sie sind ver= tauschbar, kombinierbar. Die kleinformatige Struktur will in diesem Zu= sammenhang immer realistisch, niemals intentional verstanden sein. 77 78 79

Le Corbusier: Städtebau (übers, a. d. Franz.). Stuttgart 1929, S. 34. Walter Winkler: Psychologie der modernen Kunst. Tübingen 1949, S. 105. Th. W. Adorno a. a. O. S. 17.

ZOO

V. ORDNUNG

Wenn das Subjektive, das Personhafte so weit ausgeschieden ist, daß das Klangphänomen nur als Stoff interessiert, nur als körnige Materie, welche sich der Handhabung geschmeidig anpaßt, hat der Komponist die äußerste Grenze realistischer Einstellung erreicht. Auch diese Einstellung noch liefert an sich brauchbare musikalische Möglichkeiten. Sie gehört, als absichtlose Freude am Material, zum ästhetischen Grundbestand der Musik. Sobald jedoch durch eine absichtlich realistische Perspektive die Sicht auf andere Möglichkeiten ver= weigert wird, gibt sich die musikalische Form nur als logische Konstruktion und weiter nichts zu erkennen.

ATONALITÄT. Ein logisches System in der Ästhetik müßte, entsprechend dem eigentlichen Wortsinne 80 , bedeuten, daß die durchdringende und beseelte Vernunft als Mittel dient, ein künstlerisches Werk voll und ganz zu verstehen. Jedoch die Philosophen haben das Wort Logik so gebrauchen gelehrt, daß es die verstandesmäßig zwingende und schlüssige Denkweise bezeichnet, das rationale Vorgehen mit Hilfe einbahniger Gedanken, die kritische Richtigkeit in der Aufeinanderfolge und Verbindung von Begriffen. Dieses Vorherrschen eines sachlichen Kausalgefüges in der Logik hatte einst Goethes Erstaunen erweckt, weil man vorgeblich, um den logischen Vorschriften Genüge zu tun, einen Denkzusammenhang erst „auseinanderzerren, vereinzeln, gleichsam zer= stören" 81 müsse, um dessen Richtigkeit einzusehen. Auch die Musiktheoretiker haben eine, sagen wir, auseinandergezerrte Logik innerhalb der feststellbaren Beziehungen der musikalischen Form aus= gebreitet. Die heutige Zeit mit ihrer klaren Realistik hat sich sehr weit auf dieser Ebene musikalischer Logik vorgewagt, so weit, daß sie bereits als eine Epoche „hochstilisierter Verarmung" 82 gebrandmarkt wurde. Eine Verarmung hinsichtlich des Gebrauches der künstlerischen Mittel oder der Anwendungs= bereitschaft augengerechter Präzision, ja auch hinsichtlich der Offenheit der Hörer für das Verständnis formaler Strukturen muß jedoch bestritten werden. Im Gegenteil, die Logik der Form wurde noch nie höher bewertet als heute. Nur insofern diese Bewertung den Widerhall des Menschen als Charakter und Person ausschaltet, kann von Verarmung gesprochen werden. Denn die noe= tische Erlebnisvielfalt ist in der Tat preisgegeben. Technische Einfalt gibt das Gerüst: der Einzelklang gilt gewissermaßen als Zähleinheit, welche sich addieren läßt; mehrere Zähleinheiten zusammengenommen ergeben die Mo= tivik, eine auf einen engen klanglichen Raum beschränkte Tongruppe. Diese 80 81 82

logos (griech.) = W o r t , Gedanke, Sinn, Vernunft. Dichtung und Wahrheit, Kap. 6. Th. W . A d o r n o a.a.O. S. 1 0 5 .

3.

FORMLOGIK

201

realen Klangobjekte stehen im formalen Mittelpunkt, sie besitzen ästhetisches Gewicht, seien sie auch nur gleichsam „gestutzte, primitivistische Muster" 83 , die sich einem Konstruktionsschema einpassen. Dieser ganz merkwürdige Hang zur konstruktiven Ordnung, der unsere Gegenwart geradezu behext, kommt nicht unvorbereitet über uns. Er zeigt sich, wenn auch noch milde, in den ersten rationalistischen Bestrebungen des Abendlandes. Auf ästhetischem Gebiet ist es die schon einmal erwähnte zeichnerische Perspektive, die mit Augenpunkt und Raumlinien ein neues künstlerisches Sehen einleitet. Die „visio perspectiva" gebot der bisher freien Phantasie Einhalt. Der Flug der Phantasie stieß an Grenzen an, zwang sich in Bahnen, von denen jedermann sich merken mußte, daß sie an das wahre Sein der Dinge heranführten. Dies war, vor gut vierhundert Jahren, der Anfang des Versuches, „zwischen die Dinge und dem Betrachter den täuschenden Schein der Perspektive" 84 zu legen. Als ob nicht eine aperspektivische Kunst min= destens die gleiche Möglichkeit hätte, das wahre Sein der Dinge zu deuten! Aber es mußte die strenge mathematische Linien= und Gedankenführung sein, welche, ausstrahlend auf die anderen Künste, immer strengere und berechne* tere Methoden zu Ansehen brachte. Heute ist die Frage nach dem überblickbaren Formvorrang das musikalische Tagesgespräch. Eine demgemäße Ästhetik, welche die logische Notwendigkeit einer perspektivischen Ordnung zum Bau= und Hörprinzip erwählt, hat in der Zwölf=Ton=Theorie Form gewonnen. Hier zeigt sich die Musik von ihren Ele= menten her stückweise und perspektivisch rationalisiert. Ausgangspunkt ist nicht der Klangwert, sondern die akustische Existenz des Tones. Mit Hilfe der Intervalle einer mathematisch temperierten Skala formiert sich die Aneinan= derreihung der Töne und die Übereinanderschichtung der Mehrklänge auf logisch=rechnerische Weise. Physikalisches und musikalisches Fundament stehen im gleichen Range. Diese Theorie kennt „keine Toniken, Dominanten, Subdominanten, Stufen, Auflösungen, Konsequenzen, Dissonanzen mehr" 85 . Statt melodischer Probleme werden technische Probleme gelöst. Hier wird die andere Problemstellung, der andere Standpunkt für die zu wählende Methode, die Veränderung des musikalischen Denkens hinsichtlich perspektivischer Überprüfung auf dem äußersten Vorposten sichtbar. Die musikalischen Elemente addieren sich rechnerisch über dem Generalnenner realistischer Kriterien. Der Komponist baut sein Tonwerk aus Einzelteilen zusammen „wie einen Explosionsmotor oder ein Rundfunkgerät" 86 . Es wurde 83 84 85 86

T h . W. A d o r n o a. a. O. S. Bernhard Schweitzer: V o m Josef H a u e r ; zit. bei H. H. H. H. Stuckenschmidt ebd.

98. Sinn der Perspektive. Tübingen 1 9 5 3 . S. 1 1 . Stuckenschmidt: N e u e M u s i k . Berlin 1 9 5 1 , S. 1 4 8 . S. 1 6 1 .

202

V.

ORDNUNG

schon gezeigt, daß eine wechselnde, für das Werk jeweils festgelegte Kombi= nation von zwölf Tönen, die Zwölfergruppe, als Ordnungsschema gilt. Aus dieser stabilen Reihenfolge, die auch nach geometrischen Gesetzen abgewandelt werden darf, ergeben sich dann kleine Tongebilde, die „Formzellen" 87 der Kom= Position. Ein Zentralton, auch auf kurze Strecken, wird vermieden. Alle Töne stehen ihrer Bedeutung nach in einem indifferenten Gleichgewicht. Kein Ton oder Zusammenklang hat vor anderen Tönen oder Zusammenklängen eine musikalische Vorrangstellung. Auf diese Weise wird „alles auf die Materie zusammengezogen" 88 . Der Gefühlswert der Tonalität entschwindet. Die musikalische Sinngebung liegt ausschließlich in der Logik der Form. Mit der richtigen und nachprüfbar ge= nauen Ordnung und Formung der Elemente hat der Komponist seine Aussage getan. Hier wird nur die glasklare, intellektuelle Arbeit gewogen. Aus dieser einseitigen, mit welchem Vorzeichen auch immer versehenen Realistik heraus durfte die Behauptung sich hervorwagen, der Blick in die Musik sei „durch Klänge verhängt" 89 . Nur so konnte sich die Meinung bilden, daß nicht der Klang, sondern die Willens= und Verstandesregung zur Musik hinführe. Der Irrtum liegt darin, daß dabei musikalische Form und musikalischer Klang so angesehen werden, als gäbe es eine Invarianz des musikalischen Er= lebens. In Wahrheit variiert das Musikerlebnis durchaus, es ist nicht konstant. Während Willensdynamik und Affektausdruck durchaus in ein festes ästhe= tisches Gefüge zu bannen sind, während Zahlenverbindungen sich als konstant erweisen, bringen geistige Gestaltungsgabe, noetische Hörbereitschaft und persönliche Reife eine unendliche Varianz in das ästhetische Erlebnis hinein. Der realistische Ästhetiker erblickt immer wieder eine Äquivalenz zwischen Ton= und Klangform einerseits und Ausdrucks= und Formwillen anderseits. Ihm geht es nicht um die Prävalenz oder Präexistenz einer primären Gesamt= Vorstellung. Begeben wir uns auf die panhumane Urteilsbasis, dann ist die realistische Aussage, trotz der Vollkommenheit ihrer Logik, unverständlich. Das scheint ein Widerspruch zu sein; denn Logik ist, wie wir sahen, eine allgemeinmensch= liehe Denkqualität. Jedoch die musikalische Form darf nicht so behandelt werden, als sei sie ein Aggregat von perspektivisch zu sehender Klangmaterie. Sie ist mehr. Der Klang, als Frequenz, ist zwar ein Objekt im Räume. Der Klang jedoch, der Musik sein will, ist ein Vorgang in der Zeit. Wenn auch die Raumvorstellung in der Musik unabweislich ist, so besteht doch ebenso die 87 A r n o l d Schönberg; zit. bei Bücken-Völckers: Geschichte der M u s i k . Stuttgart 1 9 5 1 , S. 3 3 9 . 88 Herbert Eimert: Lehrbuch der Zwölftontedinik. W i e s b a d e n 1 9 5 0 , S. 6. 89 Ernst K u r t h ; zit. bei P f r o g n e r : M u s i k 3 5 9 .

3-

FORMLOGIK

203

ursprüngliche Möglichkeit, daß sich die Musik aus der räumlichen Dimension herausbegibt. Eine Musik, die sich mit Vorsatz an die Starrheit der Dimension und an die Korrektheit der Logik anklammert und die auf jeden anderen Be» ziehungsgehalt verzichtet, steht auf ästhetischem Niemandsland. Die Arbeit des Komponisten ganz auf Formlogik und Konstruktion einzu= stellen, war das Ziel Arnold Schönbergs. Er ging dabei zwar keineswegs „bis zur vollständigen Loslösung von der Wirklichkeit" 90 ; denn seine geometrische Formung der Musik ist so realistisch wie nur möglich, indem sie Distanzen und Bewegungen benutzt und Verbindungen umkehrbar und rückläufig be= handelt. Nur ist diese Wirklichkeit nicht die des Geistes, sondern die des Ver=> standes und der Naturbeobachtung. Es ist keine vergeistigte, sondern eine rationalisierte Musik. So entsteht ein Vakuum melodischer Bedeutungen und musikalischer Symbole, welches den ästhetischen Irrtum, die Logik der Form verbürge die Allgemeinverständlichkeit der Musik, erschreckend aufdeckt. Ge= rade von dieser neuzeitlichen ästhetischen Basis her zeigt sich die Dringlichkeit, die echten panhumanen Möglichkeiten der Musik zu klären. Das logische Denken führt in der Musik nicht zu neuen Erkenntnissen. Was es hervorbringt, sind Formen zellenhafter Gefühlsreflexe, räumliche Gebilde, auf welche räumliche Gesetze anwendbar sind. Die Form, die so entsteht, ist, auch wenn sich viele Stücke und Teile aneinanderreihen, im Grunde engräumig (s. Anm. 29). Wird der Klang als Material genommen, so ist er musikalisches Element, welches wohl durch Addition, nicht aber dem Sinne nach zu be= reichern ist. Alles hängt von der Methode ab: wird ein Ordnungsgesetz ver= folgt, welches logisch und rational ist, dann spricht sich der Sinngehalt allein in den musikalischen Elementen und in den Richtigkeitsregeln 91 , nach denen diese Elemente gruppiert werden, aus. Musik nach solchen Ordnungsgesetzen, die außer der Form auch das Ton= material logisch handhaben und die zugleich alle tonalen und gefühlsmäßigen Zusammenhänge negieren, heißt seit Josef Hauer atonal. Dieses Wort be= zeichnet den Gegensatz von tonal: anstelle von organischen Bindungen inner= halb der Tonalität treten streng logische Ordnungsäußerungen in Kraft. Dem Maße der logischen Strenge entspricht das Maß der künstlerischen Form. Die Form basiert auf rationalen, also nicht auf musikalischen Erwägungen. Allein daran, daß die atonale Musik, ausgesprochen oder unausgesprochen, es zur 00

so Ernest A n s e r m e t in dem S a m m e l w e r k : Die berühmten Musiker, hsg. v. J. Lacroix. Genf 1 9 4 6 , S. 28g. 91 vgl. V i k t o r K r a f t : Mathematik, Logik und Erfahrung. W i e n 1 9 4 7 : „ D i e logisdien Gesetze sind, richtig verstanden, gar nicht Erkenntnisse, sondern Regeln oder Definitionen, welche überhaupt erst festsetzen, w o r i n richtiges, d. i. logisches Denken besteht" (S. 1 0 2 ) .

204

V. ORDNUNG

Bedingung macht, Dur= und Molldreiklänge zu vermeiden, wird offensichtlich, mit welcher Entschlossenheit man klangliche Erinnerungszentren, auf die sich die musikalischen Einzelvorgänge beziehen könnten, ausschaltet. Die Formen und Arten atonaler Musik sind nichts weiter als Spitzenleistun= gen eines ästhetischen Bemühens, in der Musik die werdensgesetzlichen und kontinuierlichen Zusammenhänge fallen zu lassen und statt dessen die logi= sehen und kristallinischen Gesetzmäßigkeiten auszuwerten. Es handelt sich also um ablesbare Zahlengesetze. Gerade der moderne Mensch gibt sich gerne der Meinung hin, die Zahl sei wie überall, so auch in der Musik, beweiskräftig. Sie ist es aber nicht, vor allem dann nicht, wenn die Zahl bloß als Ausdruck eines quantitativen und formlogischen Denkprinzips benutzt wird.

LOGIK UND SACHLICHKEIT DER FORM. Der Gang der Geschichte, der dazu geführt hat, in der Mathematik das „Prinzip der vollendeten Sachlichkeit" 92 zu erblicken, hat uns auch in der Musik die Hochschätzung einer entsprechen den Ordnung gelehrt. Sicherlich, die sachliche Ordnung auch in der Ästhetik ist in ihrer Weise folgerichtig. Die musikalische Formlogik ist ein historisches Ergebnis. Ihre Anfänge lassen sich schon in gewissen mittelalterlichen Bestre= bungen erkennen, welche darauf ausgehen, die Töne in der Musik als form= bare Dinge und Mengen anzusehen. So erweist sich zum Beispiel Marchettus von Padua als Schrittmacher einer rationalistischen Ästhetik, indem er erklärt, die Musik sei eine Wissenschaft, welche „aus Zahlen, Verhältnissen, Mengen, Verbindungen und Zusammenklängen" 93 bestehe. Auch der nach ihm lebende Johannes de Grocheo gehört zu denen, die in der Musik ein Mittel, „womit der praktische Verstand seine Tätigkeit entfaltet oder darlegt" 84 , hochschätzten. Später, unterbrochen durch die Epoche des Humanismus und der Mystik, strö= men dieser realistischen Musikauffassung immer mehr Anhänger zu. Ein Satz wie dieser: „Die Mathematik ist das Herz und die Seele der Musik" 9 5 , wurde um 1740 mit Überzeugung ausgesprochen.

Die letzte Etappe der realistischen Ästhetik, die in die Gegenwart hinein* reicht, gab sich den Namen Neue Sachlichkeit. Ganz bewußt ging man allem Gewachsenen, allem organisch Tiefwurzelnden aus dem Wege. Die musika= lische Form wurde als Fläche, die Harmonik als Ordnung, das Melos als Ele= mentargefüge beschrieben. Die musikalische Sachlichkeit will „den Fluß der 92

Theodor Litt: Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie. München 1 9 5 0 , S. 1 8 . 93 Lucidarium in arte musicae planae; um 1 3 4 0 . Gerbert: Scriptores III 67. 94 95

um 1 4 0 0 ; zit. bei Pfrogner: M u s i k 1 3 3 . Lorenz Christoph Mizler: Der musikalische Staarstecher.

3-

FORMLOGIK

205

Elemente" 98 , preist die gebrauchsfertige Gegenständlichkeit, krönt das tönende Material, weil es in sich stoffliche Gesetze enthält, die wiederum beim formalen Bau sich wiederholen lassen. Damit wird die Form nicht als Ergebnis des Ausdrucksstrebens, sondern des Ordnungsstrebens erreicht. Die Musikform wird aus ihren Elementen heraus sachlich und architektonisch festgelegt, gleichsam ausbetoniert. Es be= ginnt die Hochflut moderner Zweckmusik. Film und Rundfunk stellen passende Aufgaben. Der formende Wille geht allein in einer Richtung vor: in der sach= liehen Festlegung der formalen und motivischen Architektur. Die Zweckformen der Tanzmusik beginnen diejenigen Überreste zu versteinern, die aus roman= tischer und aus negro=amerikanischer Herkunft noch Lebendigkeit besaßen. Die Weiterbildung des originalen Jazz versandet in Modeströmungen, deren banale Formen sich geschäftstüchtig nach vorne drängen. Die volkstumsfeindliche neu=sachliche Richtung zieht aber ebenso auch zweckfreie Musik in ihr Gefolge. Zwar gibt es seit jeher formgebundene Musik, wie Volkstänze, Etüden, Märsche und andere, deren Formen sich zugleich mit ihren Zwecken stabilisiert haben. Aber aus der Blickrichtung der Sachlichkeit wird die ganze Reichhaltigkeit des musikalischen Ausdrucksstrebens unter die Enge einer gegebenen Form gestellt. Solche musikalische Formenprägung ist gleichsam musikalische Zivilisation: sie bedeutet eine straßenmäßige Erschlie= ßung der musikalischen Kunstlandschaft. Doch die Weite jenseits der Straßen bleibt unbemerkt. Die Marschroute der Sachlichkeit hat auch ihre Vorzüge. Einmal gibt sie den Ausblick frei auf die Erkenntnis der nichtsachlichen Musikzusammenhänge, zum andern wird eine Besinnung erzwungen; denn aus dem sachlichen Ord= nungsstreben heraus ergeben sich zwar immer neue Ordnungsformen, aber diese vielen Möglichkeiten für neue Experimente zeigen sich nur dann, wenn die Musik verräumlicht und vergegenständlicht wird. Gerade die Gegenwart ist angefüllt mit Experimenten, um neue formale Anlagen hervorzuholen. Jedoch die Neuheit des Experiments erschöpft nicht den ursprünglichen Gehalt der Musik. Vor dem Hörer, der eine sachlich=logische Klangform nicht als Erlebnis aufnehmen kann und ja auch nicht soll, ersteht diese Kunst als Erscheinungsform eines technischen Verfahrens. Eine so realistisch geformte Kunst ist profanierte Kunst 97 . Wenn die praktische Verfügbarkeit der klang= liehen Elemente die formgebende Richtschnur abgibt, dann schrumpft dieÄsthe= tik zusammen auf einige profane Thesen sachlicher Formgesetze. Der Hörer muß solche Musik mehr lesen als erlauschen, er muß sie zerlegen können, ehe er etwas mit ihr anfangen kann. Es genügt dabei der geringste Aufwand 95 97

H a n s M e r s m a n n : D i e moderne M u s i k ( H d M w . ) . 1 9 2 7 , S. 1 9 2 . vgl. Wilhelm K a m i a h : D e r Mensch in der Profanität. Stuttgart 1 9 4 9 , S. 1 4 f.

zo6

V.

ORDNUNG

seelischer Anteilnahme. Das ist ästhetische Profanität. Denn die Anstrengung des Verstandes ist dabei nur Mittel zum Zweck, nämlich zum Nachweis der formlogischen Richtigkeit, entgegen dem Endziel des künstlerischen Ausdrucks, welchem eine unvergleichlich größere und weitere Seelenregion anvertraut ist. Noch in anderer Hinsicht ist die realistische Verengung des musikalischen Denk* und Formprinzips bedenklich. Für Einsichten in einige zahlenlogische Zusammenhänge ist derjenige Verstand ausreichend, den man als gesunden Menschenverstand bezeichnet hat. Die Redensart vom gesunden Menschen» verstand hat sich als Richtmaß für Dinge der nüchternen Alltagswelt verbreitet. Jede übersichtliche Regelform und =norm wird vom gesunden Menschenver= stand als richtig anerkannt. Gesund heißt hier mäßig, ordnungsgerecht, nach keiner Seite hin übertrieben. Jedoch sind gerade die intentionalen musika= lischen Werte solche, die über die existentielle Klangform hinausragen und sich nicht mit der Kargheit der Mittel decken. Das Mengenmaß und das Zweckmaß, die beide der Verstand anlegt, sind ungeeignet für nicht=gegenständliche ästhetische Bildungen. Teile, die sich aus meßbaren Elementen zusammenschließen, sind addierte, aber nicht im Musik= gedanken zusammengeschlossene Teile. Bei einem kompositorischen Ordnungs= prinzip, in dem die Logik primär und realistisch eingesetzt wird, sind die Formteile zwar auf sachliche und plausible Setzweise verbunden, aber innerlich und musikgedanklich unverbunden. Dabei tritt der musikalische Aphorismus als Formprinzip auf. Das zweckbewußte und aphoristische Schaffen mit seiner nicht zu widerlegenden Logik verschafft sich überall da Ansehen, wo die Sach= lichkeit der Methode als Hauptwert gilt. Die Folge aber ist, daß auch das Hören sich umstellt und gleichsam aphoristisch, nach Normen des gesunden Men= schenverstandes, sich vollzieht. Auf diese aphoristische Hörweise ist heute die Unterhaltungsmusik und Tanzmusik europäischer Prägung, die neuerdings ganz ungewöhnliche Verbrei= tung gefunden hat, zugeschnitten. Sie wendet sich an das, was man einen gesunden Musikverstand nennen könnte. Mit ihrer plakatartigen Motivik, die sie in den Vordergrund stellt, summiert sie ihre melodischen Teilfiguren nach den Regeln der Formlogik. Motorische Reize einer wenig variierten Metrik treten hinzu, um eine entsprechende motorische Reaktion beim Hörer zu er= wecken. Die Elemente des musikalischen Ausdrucks werden nach fertigen Formgesetzen aneinandergefügt, so daß sie leicht begreifbar dastehen. Es ge= nügt hier simple Formlogik, um ein Musikstück herzustellen. In der ästhetischen Welt der personalen Werte stellt die präzise Formlogik aber nur einen Wert unter vielen anderen dar. Sofern rationale und perspek= tivische Werte sich nicht mit organischen und aperspektivischen Werten auf übergegensätzliche Weise verbinden, zerfällt die Form in ihre Elemente. Sie

1.

HOLOEIDETIK

207

„hört sich stückweis' an" (Mozart). Das Primat des Bewußt«Sachlichen ver= drängt die Kontinuität ästhetischer Erlebniszusammenhänge. Die musikalische Gegenwartslage zeigt alle Merkmale dieses zerstückenden und sachlichen Form* prinzips. Durch Einsicht in die organisch=entelechiale Gestaltung der Musik könnte hier ein Ausgleich gefunden werden. Diese Einsicht leitet sich aus dem unerhörten Reichtum vergangener Kulturleistungen her. „Die Zerstückung kann nicht mit dem Gleichen, also auch mit Zerstückung, bewältigt werden, sondern nur mit dem ganz und gar Anderen"08. Das Andere ist durchaus nichts Neues. Es beruht in der ästhetischen Bereitschaft, weitzügige, also nicht bloß logische musikalische Zusammenhänge zu vergegenwärtigen. Der geistige Reichtum, den dieses Zusammenhangserlebnis gewährt, war einmal unser. Wir müssen uns an die sinnvolle Zusammengehörigkeit von Naturgesetz und Phan= tasie, von Form und Gestalt, von Ordnung und Ganzheit aufs neue erinnern. VI GANZHEIT 1.

HOLOEIDETIK

V I E L H E I T , S T R U K T U R I E R T H E I T , E I N H E I T . Der alte Satz von der Einheit in der Mannigfaltigkeit, angewandt als Wertmaß für ein Kunstwerk, entstammt dem rationalen Denken. Er muß mit Vorsicht gebraucht werden. Denn das Ord= nungsgefüge, welches innerhalb einer Mannigfaltigkeit durch Wahrung eines bestimmten Einheitsprinzipes entsteht, kann ein höchst simples, unkünstle= risches, vor allem aber ein musikalisches sein. Der Begriff Einheit ist nicht von vornherein mit dem Begriffe Wert gleichzusetzen. Namentlich in der Musik gibt es ästhetische Werte, Schönheitswerte, die sich nicht aus dem Vorhanden* sein einer rationalen Einheit herleiten. Die Einheit eines Kunstwerkes wird aus Beziehungen, Verhältnisrichtigkeiten, Strukturen, Summierungen und kon= struktiven Abmessungen innerhalb der Vielheit der Form ersichtlich. Dagegen sammeln sich die gefühlsmäßigen Richtigkeiten, die Bezogenheiten bei Ent= sprechungsungleichheit, die intentionalen Sinnzusammenhänge und trans= phänomenalen Werte unter der ästhetischen Vorstellung einer Ganzheit.

Vielheit, Strukturiertheit, Einheit und Ganzheit sind also zu unterscheiden. Die ersten drei Formbegriffe liefern sich willig der sachlichen Erkenntnis aus. Sie enthalten eine formale Architektonik, ein Mischungs= und Ablösungsver= hältnis der Teile, welches wir promiskuiv genannt haben. Die Ganzheit hin» gegen verlangt zu ihrer Erkenntnis ein ungewohntes Eindringen, ein 98 Max Piccard: Die Atomisierung in der modernen Kunst (Festschr. f. W. Hausenstein). München 1952, S192.

VI.

208

GANZHEIT

Hineindenken, welches sich zum Teil neuer Begriffe bedienen muß. Sie weist weder einfache Verhältnisse noch zählbare Strecken auf. Diesem uneinfachen Prinzip soll nun nachgegangen werden. Die Vielheit, um mit dem leichtest Erkennbaren zu beginnen, vermittelt, sobald sie geordnet ist, einen ästhetischen Eindruck von ornamentaler und promiskuiver Schönheit. Die Getrenntheit der Einzelpartien wird zwar durch die Logik der Anordnung überbrückt, aber nicht aufgehoben. Den verschie= denen Teilformen bleibt ihre Eigenberechtigung erhalten, ja diese Eigenrechte machen den Reiz der ästhetischen Vielheit aus. Der musikalische Raum ist in

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HOLOEIDETIK

209

klangliche und motivische Facetten zerlegt. Die Melodik zeichnet sich Strich für Strich in den musikalischen Vordergrund ein. Während hier das Gefühl entscheidend mitspricht, stellt sich die Struk= turiertheit als ein mehr intellektuelles Ergebnis dar. Mit Hilfe rationaler Ob= jektivität gelangt der Komponist zur Form. Ihn interessiert weniger das Klang= detail als die Diszipliniertheit der Anordnung. Sein künstlerischer Wille kon= zentriert sich auf den Bau und die Aneinanderfügung der Teile. Die Dimension der Form wird flächenhaft behandelt. Das ästhetische Erlebnis ruht in arith= metischen Beziehungen und übersichtlichen Verteilungen. Die Form ergibt sich als eine musikalische Summe aus den strukturklaren einzelnen Entsprechungs» teilen.

Beispiel 40. Clementi: Sonate op. 26 Nr. 2 14

Musica Panhumana

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VI. GANZHEIT

Die Klarheit der Struktur steht auch in der formalen Einheit voran. Doch kommen in einem musikalischen Einheitsgefüge die gefühlvollen und tempe= ramentbetonten Gemütsbewegungen ebensosehr zu Wort. Energiegeladene Vorstellungen stehen einander kontrastreich gegenüber, verträumte Stimmun= gen werden in einem abgemessenen Klangraum festgehalten. Jederzeit diktiert ein bewußtes und synthetisches Ordnen die Form, in welcher nunmehr alle Ausdrucksarten von der zartesten Ruhe bis zum schroffen Stimmungsum= schwung Platz haben.

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Beispiel 4 1 . H a y d n : S o n a t e in cis-Moll

Allerdings gibt die musikalische Einheit als Formkategorie noch keinen absoluten Wertmaßstab an die Hand. Ein Einheitsprinzip läßt sich in einer sinfonischen Form ebensogut nachweisen wie in einem schülerhaften Musik= stück, in einer Zwöftonkomposition ebenso wie in einer klassischen Sonate;

1.

HOLOEIDETIK

211

denn die ästhetische Einheit gründet sich auf direkte Raumvorstellungen. Der Betrachter, der nach analytischen Erfahrungen die Form zerlegt, gelangt immer zu positiven Ergebnissen: zu Abmessungen im Gleichgewicht der Teile, zur Klarstellung der formalen Konstruktion, zur Übersicht über die richtige An= Ordnung der Gegensätze. In der musikalischen Einheit sind alle Gegensätze räumlich gestaffelt. Oft herrschen fast geometrische Akkord= und Raumbeziehungen zwischen den Nachbarteilen. Während bei der geordneten Vielheit der Zusammenhang nur durch lose und gefühlsmäßige Verknüpfung, bei der Strukturiertheit durch die distributive Reihung kurzer Einfälle hergestellt wird, verfügt die konstruktive Einheit über räumliche Verbindungsmöglichkeiten, die sehr mannigfach sind. Zusammenhalt und Begrenzung, Einzelformung und Verklammerung sind Be= zugspaare, mit denen die formale Einheitsordnung sich als Raumordnung mani= festiert. Die formale Einheit ist diejenige Formart, die uns in der Musik am meisten begegnet. Sie hat sich insbesondere in der abendländischen Musik durchge= setzt, weil ihr diejenige Eigenschaft angehört, die in der Neuzeit so sehr an Vorliebe gewonnen hat: sie besteht aus Kausalverknüpfungen. Das bedeutet, sie besitzt logische Übersichtlichkeit und beweisbare Konsequenz in der Art und Weise, wie die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Teilen aus= geglichen werden. Die Formteile sind zuweilen durch kaum merkliche Fugen voneinander getrennt, zuweilen besitzen sie einen hohen Grad von Isoliertheit. Der primäre Einfall schlüpft in die kleine Raumfigur des Motivs. Von da grup= piert sich die Form nach vereinheitlichenden Gesichtspunkten weiter. Gegenpol gegen die Zerfaserung der Melodik bildet der Gesetzeszwang der statischen Formeinheit. Das Motiv, von dessen Prägnanz schon die Rede war, tritt hier als Mittel und Material zur Schaffung der Einheit auf. Es steht in einem so mar= kanten Kontrast zur musikalischen Ganzheit, daß seine Bedeutung hier noch= mals, nun aber aus der Perspektive der Formeinheit, beleuchtet werden muß. D E R STRUKTURWERT VON M O T I V UND INTERVALL. Der Wert, den das Motiv im Hinblick auf die Form besitzt, ist ein Strukturwert. Er kommt in vollem Umfang in der strukturierten Form zur Geltung, wirkt sich aber ebenfalls sowohl auf die Vielheit wie auch auf die Einheit aus. In der Einheit vollbringt er die meisten Wechselwirkungen zwischen den Einzelteilen, während er der Strukturiertheit die ganze Form liefert.

Aus der Reihe der Möglichkeiten sei hier ein impressionistisches Beispiel ausgewählt. Die Musik des Impressionismus stellt den Strukturwert des Motivs in den Vordergrund. Sie bedient sich einer meist sehr isolierten Motivik. Farbartige Klänge oder Tongruppen sind dabei Ausgangspunkt und Kausal* 14°

212

VI.

GANZHEIT

träger der formalen Entwicklung. Ein Einzelgedanke, in engem Klangraum dar= geboten, gebiert die Form, die allerdings nicht ohne Verstandesüberwachung bleibt.

Beispiel 42. Debussy: Vorspiel zum Nachmittag eines Faunes

Immer ist die musikalische Strukturiertheit motivgenetisch: die räumliche Konstruktion wächst aus dem Motiv heraus. Nicht viel anders verhält es sich mit der musikalischen Vielheit: das Motiv erobert sich von vornherein den Vordergrund. Bei der Einheit gehen motivgenetische und proportionierende Formung Hand in Hand. Sobald die Motivik den formalen Raum aufgliedert, ist das Einheitsgefüge die ästhetische Hauptsache. Dieses hingegen gilt als nebensächlich in der den Raum negierenden Ganzheit; denn diese entsteht nicht aus Strukturelementen. Die Entstehung der Ganzheit geht also den genau umgekehrten Weg. Der Strukturwert des Motivs ist ein direkter Gegenwartswert, kein in= direkter Zeitwert, von dem noch die Rede sein wird. Die Töne innerhalb eines Motives sind „Gegenwartstöne" 1 , vorwiegend dingliche Erscheinungen. Im aperspektivischen Ausdruck gibt es „Nichtgegenwartstöne", welche einen in= direkten Zeitwert besitzen und undinglich erlebt werden. Die Gegenwartstöne wenden sich an die momentane Aufmerksamkeit des Hörers. Sie wollen als direktes Sein, fast ohne Vergangenheit oder Zukunft, ohne erinnerndes oder voraushörendes Beziehen verstanden werden. Daß sie innerhalb einer be= stimmten Ordnung wiederkehren, ist eine Angelegenheit des rationalen Form= aufrisses, eine Sache der Formarchitektur. Die kleinste Einheit des Motivs, das Intervall, gewinnt damit an Interesse. Es gibt Typologien für die verschiedenen Intervalle. Beispielsweise wird der Ausdruckscharakter der steigenden Quart speziell betrachtet und ihm „das Gepräge der Bestimmtheit, Sicherheit, Tatkraft" 3 zugebilligt. Die Oktav gilt als 1 Hans Conradin: Die Tonreihe als Bewußtseinserscheinung. Phil. Diss. Habil. Zürich 1948, S. 46. 2 Arnold Schering: Musikalische Bildung und Erziehung zum musikalischen Hören. Leipzig 1919, S. 42.

1.

213

HOLOEIDETIK

„zu den stark aufregenden Intervallen" 3 gehörig und ähnliches mehr. Solche Intervalltypologien haben nur auf engstem Räume Berechtigung. Je weniger ein Musikstück proportional, je mehr es intentional gestaltet ist, um so be= deutungsloser wird der Eigencharakter des Einzelintervalls. Die Innenbindungen der Melodik, die durch Zeitwerte, also keineswegs durch Raumwerte charakterisiert sind, enthalten zwar auch den Intervallaus= druck, doch dominiert er nicht. Er erhält von jenen Bindungen her seine musikalische Bedeutung. Deshalb ergeben sich oft ganz verschiedene Wirkun= gen, für die nicht das Intervall als solches verantwortlich ist. Die Unterschiede lassen sich leicht deutlich machen:

Beispiel 43. Wagner: Meistersinger, 3. Akt 5. Szene

Beispiel 44. Schumann: Kinderszenen: Träumerei

Wenn der Quartsprung in dem ersten Beispiel tatsächlich einen spezifischen Raumvorgang, einen Ansprung, ein Fürsichsein aufweist, so liegt dasselbe Anfangsintervall im anderen Beispiel völlig in der weitgedehnten Gesamtheit des Melos eingebettet, kein Anschwung oder Hinaufschwung, sondern ein zartes Pendeln, mit welchem die Melodik anhebt, durch Rüdebeziehungen enträumlicht. Die Technik der sogenannten motivischen Verarbeitung ist nur möglich in vielheitlichen, strukturierten und einheitlichen Formen. Es ergibt sich dabei das Bild, daß Motive oder Melodieteile an jeder Stelle des Musikstückes in ihren originalen oder in erkennbar abgewandelten Formen anzutreffen sind. Es sind phänomenologische Vorgänge. Die sichtlichen Elemente der Melodik und der Harmonik, die das Thema einer solchen Musik bilden, taudien immer wieder auf und werden immer aufs neue miteinander verbunden. Die Inter= valle liefern dazu reiches Formmaterial. Sie lassen sich wiederholen, ver= ändern, summieren, aufreihen. Die Summierungstechnik gehört zu den genannten motivbestimmten For= men. Während die Ganzheit, weil sie nicht summiert, sich auch nicht im eigent* 3 Arnold Schering: Musikalische Bildung und Erziehung zum musikalischen Hö= ren. Leipzig 1919, S. 48.

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VI. GANZHEIT

liehen Sinne definieren läßt, stehen die anderen Formbegriffe einer Definition offen. Ein ästhetisches Summenobjekt ist dann gegeben, wenn es aus seinen verschiedenen Teilen hergestellt ist, „ohne daß infolge der Zusammensetzung einer der Teile sich ändert" 4 . Zwar finden in den musikalischen Summen* formen Veränderungen der Teile statt, aber nicht weil die Teile sich unter dem Einfluß der Gesamtform ändern, sondern weil die Änderung der Teile erst die gewünschte Form ermöglicht. Die summierende Technik ist bei der Gestaltung einer musikalischen Ganz= heit unmöglich. Von diesem Gegenpol aus läßt sich das neue Gelände nun= mehr erschließen. Dort arbeitet an Hand der motivischen Intervallreihung und =gruppierung das rechnerische und streckenhafte Verfahren. Die Motive, ja oft sogar die Intervalle tragen und steuern die Form. Hier fügt sich die ungeome* irische und jede Gruppierung möglichst ausschließende Gestaltungsweise nie= mals in die Maßnorm einer Strecke. Die ganzheitliche Verstehensart wandelt den Strukturwert der einzelnen Intervalle und Motive oft völlig um. Es eröffnet sich die Sphäre des von vornherein kontinuierlichen ästhetischen Ausdrucks. GANZHEIT UND GESTALT. Der Versuch, die ästhetische Ganzheit in Kürze zu erklären, kann bestenfalls zu einer Andeutung führen. Wenn beispiels= weise das „Zusammensein von Idealität und Körperlichkeit" 5 als Haupteigen= Schaft der Ganzheit genannt wird, so bedarf bereits der Begriff Körperlich* keit des Zusatzes, daß darin keine Strukturiertheit herrschen darf. Auch ist nicht das Zusammensein von Gegensätzen charakteristisch; denn die Gegen* sätzlichkeit spielt sich auch in einem Einheitsgebilde frei aus. Zum Zusammen= sein von Gegensätzen kommt hier das Zusammenwerden derselben hinzu.

Gehen wir zunächst davon aus, daß die Ganzheit wegen ihrer hinzutreten* den Eigenheiten die größte ästhetische Reichhaltigkeit besitzt. Sie bedient sich der Einzelteile nicht in der Weise, daß sie sich auf diese stützt oder von diesen Anregungen empfängt. Sie ist nicht motivgenetisch. Was hinzutritt, ist das Herausbilden aller einzelnen Melodiezüge vom Ganzen her. Eine künstlerische Gesamtvorstellung bildet als Erlebnisinbegriff den Ausgangspunkt und steht wiederum als Ziel vor dem inneren Ohre des Hörers. Inbegriff und Ziel kom* men zu innerer Deckung. Vielheit ist verbindend, Strukturiertheit ist ordnend, Einheit ist bauend, Ganzheit ist zielend. Das ganzheitliche Musikwerk ist die gleichsam fädier= artig ausgebreitete Projektion einer einzigen, kernhaften inneren Vorstellung, 4

Handbuch der Psychologie, hsg. v. D . Katz. Basel 1 9 5 1 , S. 85. Friedrich Kaulbach: Philosophische Grundlegung zu einer wissenschaftlichen Symbolik. Meisenheim 1 9 5 4 , S. 25. 6

X. HOLOEIDETIK

215

eines musikalischen Gedankens, der nicht zu verstehen ist, ehe nicht auch der letzte Ton erklang. Dieses völlige Verwobensein, das Vor= und Zurückzielen aller Teilausdrücke läßt sich auch an einem zeitlich kurzen Musikstück be= obachten.

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Beispiel 45. B a c h : Kleines P r ä l u d i u m

Um nur ein Kriterium der vorliegenden Innengeschlossenheit zu nennen, sei auf die Sechzehntelbewegung vor dem Schlüsse hingewiesen: sie wird vor= bereitet durch die (wenn auch längst verklungenen) Praller, bringt also durch= aus keine Überraschung, was sie ja auch nicht soll, und erfüllt weiterlebend den äußerlich ruhigen Gang der Schlußtakte. Das zugleich ausgehaltene Baß=F

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VI.

GANZHEIT

schlägt den Erinnerungsbogen zu dem Orgelpunkt des Beginns. Schon dieser eine Durchblick durch die Form macht ein vollkommenes, inneres Hin= und Zurückweisen unzweifelhaft. Die formale Steigerung von der Vielheit bis zur Ganzheit liegt also in der Steigerung der Intentionalität. Wo diese nicht beabsichtigt ist, kann auch eine vielheitliche oder strukturierte Form durchaus vollkommen sein. Die Werthöhe der Ganzheit überragt jedoch die der anderen Formen dadurch, daß sich hier ein entelechiales Gestalten bekundet. Diese Art zu gestalten entspringt nicht allein einem naiven oder sentimentalischen, einem apollinischen oder diony= sischen Erleben, sondern sie greift überdies in geistige Bereiche hinein, die mit gefühlshaft feinen Differenzierungen mehr bieten als nur logische Denkvor= gänge. Es ist die Eigentümlichkeit entelechialen Wirkens, daß nichts Abge= schlossenes und Fürsichstehendes zutage kommt. In dem ganzheitlichen Musik» gebilde walten Verstrebungen weitreichender Bezogenheiten. Und diese sind nicht rational, aber intentional. Die dadurch sich ergebende Sinnfülle ist zwar überaus reich, doch nicht verwirrend reich, sie ist in ihrem Gesamtzug so gerichtet, daß sie einem panhumanen Musikerlebnis aufgeschlossen bleibt. Der Lehrsatz, daß eine Ganzheit mehr sei als die Summe ihrer Teile6, gilt nicht so ausschließlich hier, wie er von der Ganzheitspsychologie aufgestellt zu werden pflegt. Er trifft zumindest auch für die Einheit, wenn nicht auch noch für andere Formarten zu. Fast immer kann man sagen, daß beispielsweise der sechste Takt eines Musikstückes mehr ist als nur der sechste Takt, weil die Erinnerung an die vorangegangenen Takte noch nachklingt. Es kommt jedoch darauf an, wie diese Erinnerungswerte ästhetisch fruchtbar gemacht werden. In einem intentional angelegten Musikstück ist zum Beispiel der erste Takt viel mehr ein Warten auf das, was noch kommt, also ein Zeitwert, als ein hinzunehmender Jetztvorgang, also ein eigener Klangwert. Der Grad dieses Eingebettetseins der phänomenalen Klangvorgänge in der musikalischen Zeitvorstellung ist mit ausschlaggebend für die ganzheitliche Gestaltung. Aber das ist noch nicht alles. Zweierlei kommt hinzu: erstens eine besondere Kontinuität, für welche der Zeitsinn empfänglich ist und in welcher noch andere musikalische Zusammenhalte zur Geltung kommen. Zweitens die Proportionalität innerhalb des Ganzen, die sich von der Proportion und deren Berechenbarkeit grundsätzlich unterscheidet. Die genannten Grundeigenschaften gelangen nicht immer in gleich hohem Maße zum Klingen. Schon die Einbettung der Einzelvorgänge in die Zeitempfin* dung ist mehr oder weniger intensiv. Die Verschiedenheit dieses Grades kann 6 vgl. Walter Ehrenstein: Einführung in die Ganzheitspsychologie. Leipzig 1954, S. 1 2 u. ö.

1. HOLOEIDETIK

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als Gestaltbestrebtheit bezeichnet werden. Bei der musikalischen Vielheit ist die Gestaltbestrebtheit am geringsten; sie begnügt sich mit der Aufteilung der Elemente innerhalb einer äußerlich gegebenen Form. Die musikalische Struk« turiertheit formt zwar nach einem etwas umfassenderen Ordnungsprinzipe, doch sind in ihm keine organischen oder lebensgesetzlichen Beziehungen ent= scheidend. Audi in der musikalischen Einheit ist die Gestaltbestrebtheit nicht so vollkommen, daß die Vereinzelung von Formteilen völlig vermieden würde; im Gegenteil, der Hörer soll die vorkommenden Kontraste als solche und um ihrer selbst willen erleben. Erst in der musikalischen Ganzheit beziehen sich alle Phasen so unumgänglich aufeinander, daß Ähnlichkeiten und Kontraste sich kontinuierlich fortsetzen, nur aus ihrer Gesamtheit zu verstehen sind und nur in ihrer Gesamtheit den ästhetisch beabsichtigten Ausdruck bilden. Gestaltbestrebter und formbestrebter Ausdruck sind demnach verschieden. Während sich die Form durch logische und gefühlshafte Konstruktion aus= zeichnet, bietet die Gestalt außerdem und überwiegend einen alogischen Zu= sammenhalt. Das gestalthafte Gefüge ist längst nicht so festgelegt wie die formale Ord= nung. Dies scheint ein Widerspruch zu sein. Denn gerade die musikalische Gestalt ist es doch, die sich von der ersten, vagen Vorstellung an im Kern und im Umriß vorhanden zeigt, während die Form erst ein Ergebnis des be= wußten, meist summierenden Schaffens ist, also labil genug. Jedoch fußt die Freiheit der Gestalt nicht auf der ästhetischen Fehde zwischen Unordnung und Ordnung, die schließlich durch den rationalen Formwillen und durch die Form= kraft des Komponisten entschieden wird, sondern auf der völlig unräumlichen Phantasievorstellung vom innermusikalischen Werden. Der musikalische Ge= staltgedanke ist ein wachsender und werdender, dessen Gesamtumriß holoeide= tisch gefühlt und gesehen wird. Er ist zwar nicht ungegliedert, aber uninter= essiert an einer logischen Aufeinanderfolge, lediglich dem Reifestreben eines entelechialen Organismus vergleichbar. Wenn keinerlei additive Konstruktionen mehr ein Musikwerk durchsetzen, wird die Gestaltbestrebtheit zum Gestaltsein. Deshalb nennen wir ein ästhe= tisches Gebilde, welches die Aufgabe hat, Träger einer einzigen und durch alle Einzelausprägungen hindurchleuchtenden Bedeutung zu sein, eine Gestalt. Eine musikalische Gestalt ist mit Hilfe der Klänge zwar in sich gegliedert, kann aber nicht in Elemente zerlegt werden, ohne ihrer Bedeutung und damit ihres Sinnes verlustig zu gehen. In einem Form=Kunstwerk sind elementare Gebilde vorhanden, die untereinander in Funktion treten. In einem Gestalt« Kunstwerk hingegen wird der innere Zusammenhang durch weiteste Bezogen» heiten hervorgerufen, welche zuerst da sind und an welche sich klangliche Einzelerscheinungen gleichsam nur nebenbei anschließen.

218

VI.

GANZHEIT

Die musikalische Form tritt mit allen ihren Strukturen gut erkennbar zu= tage, sie hat ein sichtbares Dasein. Die musikalische Gestalt hat nur ein inten= tionales Dasein, dessen Wirklichkeit statt im Räume sich im zeitlichen Werden enthüllt. Die Gestaltwahrnehmung verlangt deshalb auch ein unräumliches Musikverstehen. Dort hält sich die Wahrnehmung an einen faßlichen Unter= grund, hier gleitet sie gleichsam an einem vorstellbaren Übergrund entlang. Einheit und Strukturiertheit wollen geformt, Ganzheit will gestaltet sein. Der Unterschied läßt sich etwa erklären an dem Unterschiede zwischen Park und Landschaft: das eine Mal herrscht die geometrische Form, das in Zahlen ausdrückbare Maßverhältnis vor; das andere Mal dominiert das lebendige Wachsen, dessen Schönheit sich im jahreszeitlichen Wechsel, in einem nicht festlegbaren Ort= und Zeitgeschehen offenbart. Gestaltung und Formung sind uralte ästhetische Begriffe. In einer Hymne an Dionysos 7 aus dem 5. Jahrhundert v . C h r . heißt es: „. . . niemals vermocht' ich süßen Gesang zu gestalten, wenn je ich deiner vergäße." Das griechische Wort, das hier gebraucht wird 8 , weist unverkennbar auf Gestaltung, nicht auf Formung hin. Die griechische Ästhetik kannte den Unter» schied zwischen gestalteter und geformter Ordnung schon sehr früh. Er wurde in der aristotelischen Philosophie gefestigt und, wie wir an dem Begriffspaar forma formans und forma formata bereits sahen, ausgedeutet. Die Gestaltung als ästhetischer Begriff beherbergt schon deshalb einen Ur= sprungskern, weil bei ihr, wenn man sie denken und sich vorstellen will,'eine „urbildliche Denkweise" 9 erforderlich ist. Damit ist gesagt, daß in einer organi= sehen Gestaltung stets mehr enthalten ist, als was sich der bloß sinnlichen Beobachtung darbietet. Der ganze Umkreis eines Grundwillens, das Streben nach Entfaltung, das numinose Gefühl eines weiten, kaum einfangbaren Er= lebnisses, ein ohne Zeitschachtelung wiedergegebener Eindruck, das alles findet sich in einem primär gedachten Bild, einem Urbild, „obgleich es als solches nicht unmittelbar in Erscheinung zu treten braucht" 10 . Die Gestalt, sowohl die ästhetische wie die organische, hat diesen nachfühlbaren Ursprung, der dann in dem fertigen ästhetischen Gestaltsein lenkend bleibt und seine Selbständige keit beibehält. 7

Homerische H y m n e n , hsg. v. A . Weiher. München 1 9 5 1 , S. 1 1 3 . " k o s m e s a i " meint ein Ordnen und Gestalten nach einem bestimmten, v e r schönenden, o f t auch erhabenen P l a n ; kosmetas, der Weltordner, w a r ein Beiname des Zeus. 9 W i l h e l m T r o l l : Gestalt und Urbild (Die Gestalt H . 2). Halle 1 9 4 2 , S. 1 2 . 10 ebd. S . 3 . 8

1. HOLOEIDETIK

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Diese weitgehende Selbständigkeit des Ganzen innerhalb der Gestalt ge= genüber der weitgehenden Selbständigkeit der Einzelteile innerhalb der Form blieb auch in der mittelalterlichen Ästhetik eine gesicherte Erkenntnis. Ein= gehend schreibt Augustinus über die ästhetische Beschaffenheit der ganzheit= liehen Gestalt 11 . Da diese nicht aus Einzelteilen zusammengebaut wird, nennt er ihren Entstehungsgrund die geistige Schau (visio). Nicht die körperliche Form also stellt hier das Wesentliche dar, sondern die primäre Schau, welche der innere Sinn des Schauenden (sensus videntis) als Ganzes hervorbringt. Die Ursprungsnähe der fertigen Gestalt, ihre panhumane Grundeigenschaft wird noch besonders betont, wenn Augustinus behauptet: wer ein ästhetisches Ge= bilde als im wesentlichen oder primär körperlich ansieht, der wird „seiner selbst entfremdet" 12 . Das rein Menschliche tritt im höheren Sinne erst ins Leben, wenn wir von der körperhaften Klangform „zur unkörperlichen Sinngestalt voranschreiten" 13 . Wir erkennen auch hieraus, wie sehr die ästhetische visio und die ethische humanitas einander bedingen. Es gelingt der visionären Schau, die geistigen und die sinnlichen Merkmale einer ästhetischen Gestalt reibungslos und vollkommen zu vereinen. Die Ge= stalt ist, nach Augustinus, geformter Sinn (sensum formatum) 14 , ein geformter geistiger Gehalt. Sie ist ein reines Vorstellungsbild, welches statt vom sinn* liehen Blick vom unsinnlichen Gedächtnis festgehalten wird. Wenngleich im Gedächtnis dabei auch sinnliche Dinge gedacht werden, so ist dennoch die Schau zugleich unsinnlich, weil die Zählbarkeit der Dinge in der Schau aufhört. Bei der in der Schau vorhandenen Gestalt gilt keine sinnliche Zahl. Die Schau wird „auf unzählbare, ja überhaupt unendliche Weise vervielfältigt und ab= gewandelt" 15 . Und weiter: die Unzählbarkeit, die hier als völliger Gegensatz zur Zahl in der Form genannt wird, sieht Augustinus darin begründet, daß die umfassende und primäre Schau weitgehend von den darstellenden Mitteln unabhängig ist. Die Gestaltschau wird „nicht vollständig von der Form des Körpers allein er= zeugt" 18 . Ihr ist vielmehr, weil durch den geistigen Sinn des Gestaltenden ge= gangen, „etwas Geistiges beigemischt" 17 . So wird aus der schauartigen, zahl= freien, geistigen Vorstellung ein spezifisch Ganzes. 11

De summa Trinitate, lib. XI, 5. "alienari est", ebd.; über die Selbstentfremdung spricht Augustinus noch an anderer Stelle (Retractiones 1 lib. II c. 1 5 ) . 13 " a corporeis ad incorporea transeamus"; De musica V I , 2. 14 ebd. XI, 5. 15 ebd. XI, 8. 16 " n e omnino inde gignitur"; ebd. XI, 5. 17 "habet admixtum aliquid spiritale"; ebd. 12

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VI.

GANZHEIT

Diese ganzheitliche ästhetische Schau erkennt später Eriugena speziell in der Musik. Sie ist hier nicht lediglich eine besonders kunstvolle Leistung, son= dern überhaupt eine von ihrem Ursprung her in der Musik vorhandene Seins* weise. Die Musik besteht von Anfang an „in sich selbst durch ganzheitliche Kraft und Gewalt" 18 . Sie besitzt ihre sinnlichen Formen in den Zusammen= klängen, hat aber auch eine metaphysische Gestalt, welche sich „um die Zu= sammenklänge herumbewegt"19. Diese Aussage, Musik bedeute nicht das, was in den Klängen liegt, sondern das, was um diese herum geschieht, schließt uns die Bedeutung dieses mittel= alterlichen Ganzheitsprinzips vollends und zum Erstaunen auf. Erst Jahrhun= derte später begegnet uns wieder eine ähnliche Bewußtheit, daß die ästhetische Gestalt sich von der ästhetischen Form durch den Verzicht auf Zahl und Mate= rialbedingung abhebt, daß die Gestaltung noch durch einen anderen Beitrag zustande kommt, als das bei der Form der Fall ist. Für eine solche, mit Zahl und Form nicht identische Verdichtung der ästhetischen Gestalt wird im 15. Jahrhundert der Begriff „concinnitas" benutzt. Mit der Concinnitas befaßt sich sehr ausführlich, allerdings im Hinblick auf die Baukunst, Leon Alberti20. Er nennt es Wesen und Ziel der Concinnitas, die Teile eines Kunstwerkes, die sich sonst als voneinander unterscheidbar und trennbar darstellen, nach einem „vollkommenen und wechselwirkenden Beziehungsprinzip"21 aneinander anzuschließen. Die Vollkommenheit, welche diese organisch verdichtete Gesamtgestalt auszeichnet, beruhe darin, daß eine ganzheitliche Idee für die innere Geordnetheit der Teile (concinnitas universa= rum partium) Voraussetzung sei. Auch hier wohnt diesem Beziehungsprinzip eine Zugleichheit inne, eine Zusammenschau (ad speciem), in welcher keine Trennungen zwischen den Bestandteilen hervorwachsen dürfen. Die neuere Zeit hat diesen Gestaltgedanken teils völlig zurückgeschoben, teils falsch angewandt. Es muß verwirren, wenn die Begriffe Gestalt und Form miteinander vertauscht und verunklart werden. Weder ist Gestalt „alles, was auf den äußeren oder den inneren Sinn wirkt" 22 , noch ist Form „der Ausdruck des Wesens der Dinge" 23 . Auch finden nicht die Geisteswelten „ihre Erfüllung 18

" M u s i c a . . . a principio s u i . . . in ipso ipsa tota vi et potestate subsistit"; D e div. nat., V 869. 19 " c i r c a symphonias m o v e t u r " ; ebd. 20 D e re aedificatoria. Florenz 1 4 8 5 ; zit. in Concinnitas, H.-Wölfflin-Festschrift. Basel 1 9 4 4 . 21

" . . . partes . . . perfecta quadam ratione constituere, ita ut mutuo ad speciem correspondeant"; ebd. S . 9 und 204. 22 O s k a r W a l z e l : G e h a l t und Gestalt im K u n s t w e r k des Dichters. Berlin 1 9 2 5 , S. 1 7 8 . 23 Fritz Usinger: Geist und Gestalt. D a r m s t a d t 1 9 4 8 , S. 7 .

1.

HOLOEIDETIK

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in der Form" 54 . Schon Dilthey war leider nicht konsequent in der Verwendung der Begriffe Gestalt und Struktur 25 . Schließlich stoßen wir in der Musikästhetik allenthalben auf ähnliche Inkonsequenzen wo nicht gar Irrtümer, besonders kraß, wenn etwa „die melodische Wendung, der Rhythmus, die Form" 26 alle= samt zu Gestalten ernannt werden. Summierende und mit Einschnitten auftretende Formen gibt es. Jedoch die ästhetische Gestalt tut sich anders kund. Das Wissen um ein weiteres ihrer Merkmale, eine das gesamte Werk gleichsam durchleuchtende Ideedurchdrin= gung, empfangen wir wiederum aus älteren Zeugnissen. D A S „SUBSTANZIALE L I C H T " . Daß auch die isolierende Möglichkeit des ästhetischen Formens, nämlich das mit Zahlen und Abschnitten arbeitende und summativ bauende Vorgehen, im Mittelalter keineswegs zum Schweigen ver= urteilt war, läßt gerade die Überlieferung der Gestaltästhetik erst im richtigen Blick erscheinen. So beschreibt Odonius von Cluny 27 die musikalische „distinc= tio" als einen Formbegriff, der sowohl den Einschnitt zwischen melodischen Teilen als auch einen von Einschnitten begrenzten Teil selbst bezeichnet. Odonius vergleicht die musikalische Unterteilungslehre mit den Satzab= schnitten der Rede: wie der Sinn eines Satzes sich aus der fortlaufenden Zu= sammenfügung der Satzglieder ergibt, so ergänzen sich auch die Teile der Melodie, im Chorgesang die Versikel, Antiphonen und Responsorien, zu einer Einheit. Hierbei, das betont er ausdrücklich, geben die melodischen Teilgebilde ihre zahlenmäßige Ordnung und erkennbare Eigenbedeutung keineswegs auf. Die Distinctio zeigt sich damit als Vorläufer der erweiterten Kadenz. Der spätere Aufstand der Teile gegen das Ganze bereitet sich hier keimhaft vor.

Um so bedeutungsvoller ist die Sicherheit, mit der einige der alten Musik* theoretiker und Philosophen den Unterschied zwischen stückweise vorgehender und aus einem Ganzen heraus gestalteter Kunstform erkennen. Zunächst Nikolaus Cusanus. Er trifft in vorbildlicher Weise die kategoriale Unterschei= dung von Einheit und Ganzheit, von Formung und Gestaltung. Er geht von den Ungleichheiten und Gegensätzlichkeiten, die in der Einheit zusammen» geschlossen werden, aus und stellt ihnen die Ganzheit als eine primäre ewige Gleichheit (aequalitas aeterna) und Wesensgestalt (substantia) gegenüber 28 . 24

Fritz Usinger: Geist und Gestalt. Darmstadt 1948, S. 7. vgl. Egon B r u n s w i k : Prinzipienfragen der Gestalttheorie (Festschr. K . Bühler). Jena 1 9 2 9 , S. 93. 23 E. M . v. Hornbostel: Gestaltpsychologisches zur Stilkritik (Festschr. G. Adler). Wien 1930, S. 1 3 . 27 Dialogus de musica, um 9 3 0 ; s. H. A b e r t : Die ästhetischen Grundsätze der mittelalterlichen Melodiebildung. Phil. Diss. Halle 1 9 0 2 , S. 1 1 . 28 D e non aliud; cap. 1 1 . 25

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VI.

GANZHEIT

Die Ungleichheiten innerhalb einer Ganzheit entspringen aus der Gleichheit, nicht umgekehrt; die Gleichheit oder, wie wir sagen, die Übergegensätzlichkeit ist primär. Die Wesensgestalt besteht vor den Beifügungen und Einzelformen (accidentiae), welche keinen formenden Einfluß auf diese Wesensgestalt aus= üben, ihrerseits jedoch alles von ihr empfangen. Die Substanz der Ganzheit durchstrahlt alle Einzelteile und Seinsformen; diese sind „das Bild des sub= stanzialen Lichtes" 29 . Der bildhafte Ausdruck des Durchleuchtens ist in diesem Zusammenhang keine Seltenheit. Wir begegneten ihm schon im Zusammenhang mit der Erläu= terung der künstlerischen Eingebung. Er macht das verständlich, was beim Ganzheitsprinzip das wichtigste ist: das Hineindringen einer übergegensätz= liehen Gesamtidee in alle Teilgebilde und Kontraste. Cusanus beschreibt an anderer Stelle, wie die einzelnen Teile und Merkmale einer Gesamtform nur zusätzlich vorhanden sind, daß sie aber dann, wenn das Gesamtwesen aus ihnen „hervorleuchtet" 30 , alles umfassen und das Ganze verstehen lassen. Die Tatsache, daß eine Gesamtidee vorwaltend und durchdringend sein muß, hebt schon Eriugena in seinem Musiktraktat hervor. Auch er versucht, das Ganzheitsprinzip zu erläutern, und zieht den damals beliebten Vergleich zwischen dem harmonischen Bau der Musik und dem harmonischen Bau des Weltalls. Beide, so meint er, weisen Teilgebilde auf, können aber doch als etwas Ganzes aufgefaßt werden. Es sei nun durchaus zweierlei, ob man jeweils die einzelnen Teile oder das Ganze betrachte. „Daher kommt es", fährt er fort, „daß, was vom teilenden Gesichtspunkt aus entgegengesetzt erscheint, sich im Ganzen nicht nur als nicht entgegengesetzt darstellt, sondern sogar als zur Steigerung der Schönheit dienend sich erweist." 3 1 Eine solche Deutlichkeit der Formulierung ist uns nützlich. Ganz klar wird hier der Nicht=Gegensatz als der ganzheitliche Zusammenhalt gesehen, der den Schönheitseindruck einer bildhaften Vorstellung ebenso wie einer Musik zu steigern vermag. M a n sollte meinen, daß, nachdem so überzeugend der höchste Preis der Schönheit dem übergegensätzlichen ästhetischen Werk zuer= kannt war, die Ästhetik sich um die Vertiefung und weitere Klärung dieser Gedanken bemüht hätte. Statt dessen fanden die vielfachen Ansätze zu einer klaren Zusammenfassung dieser Erkenntnisse mehr in der Philosophie als in der Ästhetik ihre Fortführung. D I E MUSIKALISCHE TOTALIDEE. Der Vorrang des Ganzen vor den Einzeltei= len erweckte zunächst also bei den Philosophen weiteres Interesse. So ver= 29 30 31

"substantialis lucis imago"; ebd. "essentia . . . enitescit"; ebd. (vgl. auch Anm. 42). zit. bei Handschin: Eriugena 323.

1.

HOLOEIDETIK

223

feinerte der Fulgurismus, eine Richtung der mittelalterlichen Philosophie, den Einblick in die grundsätzliche Bedeutung eines primären, schauartigen Zu= sammenhanges. Der Einfall, aus Geist und Phantasie hervorzündend, braucht sich, nach fulguristischer Ansicht, nicht darauf zu beschränken, ein Teil eines Gedankengebildes zu sein oder eine Schlußfolgerung aus vorhandenen Teilen zu ziehen. Er kann ebensogut das blitzartige Ergebnis einer längeren inneren Vorbereitung sein und in sich bereits das Ganze einschließen. Abermals taucht hier der Lichtvergleich auf. Bei Avicenna ist es der „Blitz der Intuition" 32 , der ein Gesamtgebilde auch ästhetischer Art erhellt. Das alogische und ganzheit= liehe Erlebnis der Intuition erfaßt den vollständigen Sinn und die totale Form. Fulgurismus und Avicenna schließen sich an Plotin an. Die plotinsche Ästhetik sucht in einem Kunstwerk nicht die formale, sondern die noetische Schönheit. Kein künstlerischer Ausdruck interessiert hier als empirische und materielle Gegebenheit, kein Teil in seiner örtlichen Trennung von dem ande= ren. Statt dessen sieht die künstlerisch=philosophische Erkenntnis immer „Teil und Ganzes zugleich"33. Wieder steht hier der Vergleich mit der Lichtstrahlung: die Ganzheitsschau ist bei Plotin „Quelle unkörperlichen Lichtes" 33 . Das Licht hat keine Form, es durchdringt Formen. So wird durch die Form hindurch die Gestaltung sichtbar, der Sinn offenbar, das Ganze zeigt sich der noemati= sehen Erkenntnis dank „eines anderen Lichtes" 33 . Mit diesem noetischen Prin= zip dringt die plotinsche Ästhetik über den Formwert hinaus zum Offenba= rungswert vor. Dieser ist ein zugleich ethischer und geistiger. Er liegt der Gestaltung auf unteilbare und totale Weise inne, welche deshalb „der Seele Licht= und Leitspur" 34 genannt werden darf. Sehr viel später, in der Zeit der europäischen Klassik, finden sich Aus= führungen, die an diese Ganzheitsschau anschließen. Es war Schiller, der auf die künstlerische „Totalidee" 35 im Sinne eines ganzheitlichen ästhetischen Er= lebens wieder hinwies. Er beschreibt die deutliche Vorstellung, daß die Total= idee sich nicht in einer Form ausdrückt, sondern in eine Gestalt hineinwächst. Das innere Werden, das die Gestalt kennzeichnet, befreit den Ganzheitsaus» druck von zeitlicher Messung und Schablone. So kommt Schiller, freilich ohne bewußte Anknüpfung an die philosophisch=ästhetische Tradition, zu dem Ergebnis, daß die Gestalt als ganzheitliches Gefüge von dem formalen, zeit= liehen und räumlichen Teilungsprinzip unabhängig sei, „frei von jeder Zeit= 32

zit. bei E. von Bracken: Meister Eckhart und Fichte. Würzburg 1 9 4 3 , S. 270 f. zit. bei Katharina Macha: Geistige Schönheit bei Plotin. Phil. Diss. Bonn 1 9 2 7 , S. 26 u. 34. 34 zit. ebd. S. 52. 35 Brief an Goethe vom 27. M ä r z 1 8 0 1 . 33

224

VI.

GANZHEIT

gewalt, die Gespielin seliger Naturen" 3 6 . Damit wird die Gestaltschönheit, selig=raumlos, zu einem umfassenderen Ereignis als die Formschönheit. Ihre Zeitfreiheit macht sie zu einem Zeiterlebnis besonderer Art. Wie ist es damit in der Musik? Die musikalische Gestalt erweist sich als insbesondere geeignet, dieses Zeiterlebnis fühlbar zu machen. Sie vermeidet den Eindruck, daß im Hörer eine Abfolge einzelner Gefühle wachgerufen wird. Busoni nennt dieses gefühlte Zeiterlebnis ein „Gefühl im großen" 3 7 . Damit verbindet er zugleich eine besondere Forderung an den Hörer. Dieser, so sagt Busoni, stehe vor der Aufgabe, bei einem ganzheitlichen und gestalteten Mu= sikwerk „größere Strecken als Teile eines noch größeren Ganzen zu hören" 3 7 . Busoni ist tatsächlich der einzige, der mit der Nennung des „Gefühls im großen" einen Begriff analog der Schillerschen Totalidee aufs neue der Musik zugeführt hat. Freilich tastend nur und ohne bewußten Anschluß an die abend* ländische Überlieferung, deckt er den ästhetischen Charakter der Ausdrucks= ganzheit als eine musikalische Gestaltmöglichkeit auf, zu vage noch, als daß dieser Gedanke in seiner Besonderheit allgemein erkannt worden wäre und Nachfolge gefunden hätte. Es fehlte noch die entsprechende Erkenntnis= methode, die wiederum den kategorialen Unterschied zwischen Totalidee und Einzeleinfall zu beleuchten vermag. In der Tat handelt es sich bei der Gestalt um eine andere ästhetische Kategorie als bei der Form. Die Gestaltkategorie läßt sich nur im lichtvollen Blick auf ihre Eigenschaften und nicht ohne den Vergleich mit dem Prinzip der Form erläutern (s. Anm. 30). Die Art und Weise, wie die Peripherie der Form einen einheitlichen, strukturierten oder vielheitlichen Ausdruck um= schließt, zeigt sich gerade in der Musik als eine andere als die, mit der sich der Zusammenhalt eines Gestalt=Werkes vollzieht. Die Unräumlichkeiten der Aus= drucksbeziehungen schaffen ein Musikerlebnis, welches auf das schauende, noetische Durchdringen aus ist, auf „das Gefühl einer Vernunftmäßigkeit des Kunstwerks, die weit über das hinausreicht, was wir für den Augenblick be= greifen" 3 8 . Diese Vernunftmäßigkeit, welche weder im physikalischen Raum noch in der physikalischen Zeit unterzubringen ist, hat ihre eigenen Ver= stehensgesetze. D A S HOLOEIDETISCHE VERSTEHEN. Wie gelangen wir zu der Ganzheit als intentionaler Ausdrucksvorstellung, wie zu der Gestalt als intentionaler Aus» druckswirklichkeit? Augustinus erläutert die ganzheitliche Erkenntnis im Zu= sammenhang mit der Wesensart des menschlichen Geistes: wo immer der 36 37 38

in Schillers Gedicht „Das Ideal und das Leben". Entwurf 28. Rolan 55.

1 . HOLOEIDETIK

225

menschliche Geist eines Ganzen habhaft werden könne, da erfreue ihn das Ganze mehr als die einzelnen Teile 39 . Der zielstrebige Zug, aus dem Ganzen zur Gestalt und von der Gestalt zurück zum Ganzen zu finden, sei ein in= tentionales Gefühl, sei das Unwandelbare (incommutabilis), welches in seiner eigenen Bewegtheit ruht. Bei Cusanus wird ein ähnlicher Gedanke ausgesprochen. Hier wird die= jenige geistige Einsicht als die höchste und erfreuendste gepriesen, die eine ganzheitliche Schau (omnia simul) in den Mittelpunkt stellt: so kann das geistige und seelische Erlebnis „alle Dinge ohne Aufeinanderfolge, sei diese zeitlich oder naturbedingt, und alles zugleich erfassen" 40 . Damit will nicht ge= sagt sein, daß diese Schau nicht für jeden Menschen erreichbar sei. Gerade die alten Philosophen setzen diese Erreichbarkeit voraus. Auch in dem altchine= sischen Tao=te=king heißt es: „Die Summe der Teile ist nicht das Ganze" 4 1 . Das bedeutet, daß nicht Formteile an sich, sondern das Verbindende, das Allzu= gleich, die unwandelbaren, weil vorausbestehenden Verstrebungen das Ge= samtwerk ausmachen. Auch die Neuzeit spürt der Gestaltwirklichkeit mit ihrer besonderen, nicht als Form zu bezeichnenden Totalerscheinung nach. Daß in einer Ganzheit nicht die Aufeinanderfolge, sondern die Zugleichheit ein Wesensmerkmal bildet, ist der Gedanke, der in der Evolutionsphilosophie Bergsons von allen Seiten beleuchtet wird. Bergson unterscheidet die transzendentale Wirklichkeit der Ganzheit und die logische, im Prinzip mathematische Wirklichkeit der Form mit ihren in Formeln wiedergebbaren Zeitwerten und kommt zu folgendem Ergebnis: „Gibt man sich die notwendige Mühe, das Ganze zu erfassen, so bemerkt man, daß man im Wirklichen ist und es nicht mit einer mathema= tischen Wesenheit zu tun hat" 4 2 . Das Wesen der Logik ist mathematisch= räumlich. Alle räumlichen Anschauungsformen teilt Bergson dem Verstände (entendement) zu, alles zeitliche und unräumliche Geschehen dem Bewußtsein (conscience). Immer dann, wenn die Wirklichkeit des Ganzen unräumlich ist, ist sie geistig bewegt, besitzt sie eine dauernde, nicht nach mathematischer Zeit meßbare Bewegtheit. In dieser Gestaltbewegtheit regieren nicht Zeittei= lung und Formgruppierung, sondern Dauer und Zugleichheit (duree et simul= taneite). So gibt sich folgendes zu erkennen. Die Wirklichkeit einer musikalischen Gestalt ist eine zugleich klangliche und geistige Wirklichkeit, in der die räum= 39

" p l u s dilectant omnia quam s i n g u l a " ; Confess. lib. 1 3 . D e ludo globi (Schriften des N i k . v. C u e s H . 1 3 , S. 60). 41 zit. bei E. Brunswik a . a . O . S. 80. 42 Henri Bergson: Denken und schöpferisches W e r d e n (übers, a. d. Meisenheim 1 9 4 8 , S. 46. 40

15 Musica Panhumana

Franz.).

226

VI. GANZHEIT

liehe Aufeinanderfolge als Bauprinzip aufgehoben ist. Der Hörer stellt sich auf diese Zeitfreiheit ein. Seinem holoeidetischen Verstehen kommt ein be= sonderes Ahnungs= und Erinnerungsvermögen zu Hilfe. Hierbei spricht die Veranlagung mit, die, was das Hören eines ganzheitlichen musikalischen Wer= kes anbetrifft, individuell gradmäßig verschieden ist. Dennoch ist im Prinzip die Ganzheitsvorstellung kernhaft auch dem Laien ein Besitz, er ist niemals von der Möglichkeit ausgeschlossen, die Äquivalenz von Ganzheitsvorstellung und Gestaltwirklichkeit zu hören und zu verstehen. Holoeidetisches Hören erkannten wir als ein anderes als Formhören. Wenn auch die Fähigkeit, die intentionalen Bezogenheiten eines musikalischen Gestalt= Werkes zu hören, ebensogut allgemeinmenschliches Eigentum ist wie das summative Hören eines teilklaren Form=Werkes, so ist doch das holoeidetische Verstehen, besonders im Bereiche der abendländischen Kultur, seit langem nicht mehr geübt, auch nicht mehr Gegenstand der Ästhetik. Zweifellos ist hier etwas verlorengegangen, etwas von dieser Gabe des unräumlichen, kontinuierlichen und für Sinnwert empfänglichen Verstehens, wie es frühere Musikepochen auch im Abendland noch besaßen. Vielleicht ist es nicht ungerecht zu vermuten, „daß die antike, vielleicht überhaupt die ganze außereuropäische Musik dieses qualitative Kontinuum hat" 1 3 . Jedoch kann eine Besinnung uns dieser Art holoeidetischen Hörens wieder näher bringen. Die Ahnungs= und Erinnerungskräfte, die das Hindurchhören durch ein gestaltetes Musikwerk möglich machen, senken das betreffende Werk anders in die Phantasie des Hörers hinein als die bewußte Veranschaulichung der formalen Ordnung. Deshalb geben auch die einzelnen Klangerscheinungen und Melodiezüge beim holoeidetischen Verstehen ein anderes Bild als die vergleichbaren Ausdrucksteile innerhalb einer Form. Die musikalische Holo= eidetik erkennt jeden Momentklang nur an als Bedeutungsträger eines größe= ren Zusammenhanges. Gleichartige Klänge, die lediglich ihrer äußeren Erschei= nung nach in verschiedenen Werken wiederkehren, melodische Tonfolgen, die gleich oder fast gleich in zwei verschiedenen Musikstücken auftauchen, werden dann, von weiteren Gründen abgesehen, nicht als verwandt empfunden.

Beispiel 46a. Beethoven: 9. Sinfonie, 4. Satz 43

W. Harburger vgl. audi o. S. 108.

1.

*

227

HOLOEIDETIK

J ^ T — ^ 1 —

1

J

.

^

Beispiel 46 b. Brahms: 1. Sinfonie, 4. Satz

Der Blick auf ein anderes Darstellungsmedium möge hier Hilfe leisten. Man vergleiche einen einzelnen Klangeindruck mit einem einzelnen Farb= eindruck: dasselbe Gelb, einmal einer Blüte, dann eines Buches, dann einer Wand wird nicht als dieselbe Farbe empfunden, um so weniger, je inniger der Totaleindruck, dem die Farbe angehört, sich einprägt. Die Gesamtheit eines Kunstwerkes, die ihrer inneren Anlage nach sich als ganzheitlich gedacht er= weist, schmilzt ebenso das Einzelne in die Gestaltbestrebtheit ein. Das Verstehen, dem sich die Musikgestalt erschließt, ist im Prinzip beim Komponisten dasselbe wie beim Hörer. Was dieser in seiner Phantasie leistet, Schönheit und Wert, Klang und Sinn miteinander vereinigend, das vollbringt der Schaffende vorher, ehe sich das Ganze in seinem klanglichen Ausdruck auseinanderfaltet. Das Gestalt=Werk ist „durch eine einheitliche Fundierung umspannt" 44 . Dieses Umspanntsein setzt den Komponisten außerstande, Ein= zelzüge der musikalischen Gestalt wie Formteile zu behandeln. Während in der motivischen Formenverbindung noch nachträgliche Änderungen einzelner melodischer Wendungen möglich sind, bietet das Kontinuum eines gestalteten Werkes für kleine Umformungen keinen Raum. Dieser Besonderheit der Gestaltkategorie waren sich die großen Meister inne, doch selten gaben sie darüber Auskunft. Karl Maria von Weber gehörte zu den wenigen, die diesen Unterschied zwischen dem gestalteten und dem aus vielfarbigen Einzelgliedern sich zusammensetzenden Musikwerk nicht allein fühlten, sondern auch benannten. Er schreibt einmal: „Das Ganze muß gedacht sein, sonst bringt es (das Musikwerk) nur Halbheit vor das Auge oder Ohr des Genießenden, ist ein aufgeputzter Gliedermann und keine lebende Gestalt" 45 , und an andrer Stelle: „Es will etwas Ganzes s e h e n , dieses Ohr, eine Ton= gestalt mit einem Gesichte" 46 . Oder eine Äußerung Glucks darf hier angeführt werden, welche keinen Zweifel darüber läßt, daß in dem Gesamtentwurf einer Arie sämtliche rhythmischen, dynamischen, überhaupt expressiven Einzelzüge von vornherein zur Grundkonzeption gehören. Er schreibt: „Nähme man damit nur die geringste Veränderung entweder in der Bewegung oder in der Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. 1928 4 , II 268. zit. bei J. Bahle: Eingebung und Tat im musikalischen Schaffen. Leipzig 1939, S. 294. M Ausgewählte Schriften. Leipzig (Reclam), S. 15. 44

45

15°

228

VI. GANZHEIT

Art des Ausdruckes vor, so würde sie eine Arie für das Marionettentheater werden" 47 . Es sei versucht, hier noch genaueren Einblick zu verschaffen. Ein nachge= lassenes Manuskript Mozarts 48 vermag die eindeutige Gestaltbestrebtheit des Komponisten aufs glücklichste zu erhellen. Dort, wo Änderungen, die der Komponist in seinem Entwurf für nötig erachtet, unabwendbar sind, wachsen sie aus dem holoeidetischen Erfassen des Ganzen heraus. Solche Gestaltungs= V o r g ä n g e aus dem Wachsen statt aus dem Formen heraus lassen sich selten im Konzept eines Komponisten verfolgen. Meistens ist der Werkteil, der nicht befriedigt, bereits zu umfangreich, als daß mit Strichen geholfen wäre; er wird vernichtet. A n dem genannten Konzept Mozarts wird die vorausbestehende Totalschau ersichtlich. Gerade seines Umfanges wegen macht dieses Blatt überraschend deutlich, ein wie weites Ausholen erforderlich ist, um die weit= zügigen Zusammenhänge nach einer Änderung des Entwurfes wiederherzu= stellen. Dieses Beispiel (s. Notenanhang) mag dafür Zeuge sein, daß die räum= liehe Ordnung in einem musikalischen Gestalt=Werk nicht für das Ohr gilt, daß selbst 1 2 3 Takte fast wie nur ein einziger Takt innerlich überhört werden. Das Gehör nämlich stellt Zusammengehörigkeiten der Melodieschwünge fest, die das Auge nicht findet. Denn das Prinzip gestalthaften Denkens und Schaffens untersteht innengültigen, unphysikalischen Zeitgesetzen. Es erkennt auch da zwingende Zusammenhänge, wo scheinbar ein großer Raum die melo= dischen Vorgänge voneinander trennt. In Wahrheit gibt es in der Ganzheits= schau keine Entfernungen. Das holoeidetische Umspanntsein eines ganzen Werkes hat verschiedene Möglichkeiten der Art und Weise, sich zu verwirklichen. Bisher haben wir uns mit der Tatsache dieser Verwirklichung allein befaßt. Nunmehr treten die Mög= lichkeiten ins Licht, wie die Differenzierungen einer ganzheitlichen ästhetischen Ausdrucksweise, die speziellen Merkmale einer übergegensätzlichen musika= lischen Gestaltung sich erkennen lassen. Auch hierbei leistet die mittelalterliche Ästhetik Führungsdienste. Zu= nächst ist es der Begriff der „proportionalitas", der seinen Gestaltwert von dem Begriff der „proportio" abhebt und sich dem Formwert gegenüberstellt. Das Hineindenken in die irrationalen Werte der Musik fordert von uns ein völliges Überspringen aller Gewohnheiten rationalen Denkens und rationa= Iistischer Ästhetik. 4T Ü b e r die A r i e " C h e f a r o " im O r f e o ; zit. bei H . Ehinger: Große Komponisten im Spiegel ihrer W o r t e . Zürich u. Stuttgart 1 9 5 1 , S . 5 7 . 48 vgl. Peter Epstein: Ein unbekannter Entwurf M o z a r t s zur D - d u r - S o n a t e K. V . 284 (Die M u s i k Jg. X V I I I N r . 1 2 ) . 1 9 2 6 , mit W i e d e r g a b e des A u t o g r a p h s .

229 2.

P R O P O R T I O N A L I T Ä T

D E R IRRATIONALE ZEITWERT DER M U S I K . Die irrationalen Werte waren im Mittelalter ein vielseitig diskutierter Gegenstand der Ästhetik. Nicht allein daß die Ganzheitszusammenhänge den einzelnen, greifbaren Zusammenhängen voraufgehen, sondern auch die Art und Weise, wie sich diese beiden Seins» formen voneinander unterscheiden, wurde im Prinzip erkannt. Zu diesen Unterscheidungsmerkmalen gehören, abgesehen von den schon genannten holoeidetischen, die folgenden: der irrationale Zeitwert und die Proportion nalität.

Uber die irrationale Art, mit der die musikalische Zeit in Erscheinung tritt, hören wir zunächst Augustinus. Er hebt den Zusammenhang des irrationalen Zeitwertes der Musik mit der Gastaltauffassung hervor, indem er, in An= lehnung an die musische Grundhaltung jener Epoche, davon ausgeht, daß ethische und überzeitliche Werte in der Musik als zusammengehörig zu denken seien. Die überzeitlichen Werte findet er, indem er die Gegenwart unter einem doppelten Aspekt sieht. Er drückt das so aus: die äußere Gegenwart strömt, die innere ruht (s. Anm. 31). Das Unvereinzelte und Unendliche gehört der inneren Zeit an und ruht in sich; alles Vereinzelte und Endliche, das sich in meßbaren Dimensionen darbietet, leitet sich von jener her und ruht nicht. Die Zeitwerte des Unvereinzelten sind irrational, sie haben „keine Dimension" 49 . Zu der nicht dimensionierten Zeit gehört, auf die Musik bezogen, eine Aus= geglichenheit (aequalitas), die das Ganze durchzieht. Diese Ausgeglichenheit drückt sich nicht in sinnlichen Zahlen aus. Sie ist nur im großen Umriß vor= handen (adumbrata). Aus ihr gehen die einzelnen Ausprägungen hervor, welche räumlich und in der äußeren Zeit ihre Form erhalten. Was vorhergeht und sich nur im Ganzen ausdrückt, die irrationale Ausgeglichenheit, darf „nicht raumzeitlich" 50 verstanden werden. Sie ist eine andere ästhetische Kategorie. Während die KIang= und Tonbewegungen in der musikalischen Form eine zahlenbedingte und sinnliche Dimension haben, ist die nur umrißhafte Aus= geglichenheit davon frei. Und weiter: die bildhafte Ganzheit des musikalischen Kunstausdrucks steht bei Augustinus mit dem irrationalen Zeitwert im Zusammenhang. Der Musik= hörer muß für diese Zeitregion zugänglich sein. Jeder soll das Ganze hören, und „wieviele auch kommen mögen, das Ganze hören sie" 5 1 . Der Hörer ver= mag das Ganze wahrzunehmen, weil, über den rationalen Zeitwert hinaus= ragend, sein Gedächtnis den Gesamteindruck festhält. Die musikalische Ge= 49

" . . . qui ea dimensione carent, irrationabiles"; D e musica, lib. 1 , cap. 9.

50

" n o n in spatiis locorum temporum"; ibid., lib. 6, cap. 1 2 .

51

" e t quotquot venerint, totum audiunt";

Sermones, lib. 28, cap. 4.

23°

VI.

GANZHEIT

stalt, die er schließlich erlebt, ist gleichsam „der Sproß des in der Erinnerung bestehenden Vorstellungsbildes" 52 . Wir wissen, daß nicht zu allen Zeiten ganzbildliche Musik geschaffen wird, daß das irrationale Zeitgefühl nicht immer gestaltprägend in Erscheinung tritt Es gibt und gab andere Formen, die motivisch geprägt sind. Für uns bemerkens= wert ist die frühmittelalterliche Musikphilosophie deshalb, weil sie den Musik= theoretikern den Anstoß gab, sich über die irrationale zeitliche Ganzheit in der Musik Gedanken zu machen. Dieser Anstoß sollte sich noch lange auswirken. Man war sich klar darüber, daß das Irrationale nicht das Unvernünftige ist, sondern das, was das direkt vorstellbare Vernunftbild übersteigt. Angeregt zweifellos durch diese Gedanken, auch ergänzt durch die plotinischen „Ab= straktionsstufen", entwarf noch Cusanus einen Plan fortschreitender Irratio= nalisierung, Abstrahierung, ausgehend von der gegebenen sinnlichen Anschau= ung. „Man muß sich über die direkte Anschauung (imaginatio) bestimmter endlicher Figuren erheben, indem man ihre Verhältnisse auf ebensolche un= endliche überträgt, . . . auch über die Verhältnisse der unendlichen Figuren noch wieder hinausgehen zum schlechthin Unendlichen (infinitum simplex), das von aller Form ganz und gar frei ist." 33 Ein Blick auf die Bildkunst um die Wende des ersten Jahrtausends bestätigt schon diese ästhetische Haltung. Der salische Stil in der Baukunst und in der Malerei hält die kleinen TeiU formen zugunsten eines „ans Abstrakte grenzenden Geistigen" 54 zurück. Der Maler oder der Baumeister sieht in der sinnlichen Welt mit ihren dinglichen und körperhaften Einzelbildern zunächst das Zusammengehörige, das alles Verbindende. So formt er eine „nach außen abstrakt wirkende Linienmelo= dik" 5 5 , ein von individuellen Motiven freies Werk. Die Abstraktion war bereits oben als eine von Gefühlsschwankungen und =abschattungen freie Ausdrucksweise besprochen. Von der Ungegenständlich= keit her gelang der mittelalterlichen Musik, im großen gesehen, ein Stil, der ohne Zeitschachtelung ein organisches Klangbild zur Darstellung brachte. Auf gleicher Basis gelang es der mittelalterlichen Ästhetik, die seelische Bewegtheit dieser gestaltgebenden Beziehungen in wirklichkeitsnahen Ansätzen zu for= mulieren. Die Wirklichkeit des seelischen Lebens hatte im Mittelalter, hinblickend auf Kunstäußerung, eine größere Bedeutung als die Wirklichkeit der körper= liehen Vorgänge. Die Musik gebrauchte deshalb den Klang weniger als Schall 52 "species quae quasi proles est eius quam memoria tenet"; De summa Trinitate XI, 7. 53 Docta ignorantia. 54 Alois Schardt: Die Kunst des Mittelalters in Deutschland. Berlin 1 9 4 1 , S. 1 8 1 . 55 ebd. S. 236.

2 . PROPORTIONALITÄT

231

denn als Mittel, um seelische und geistige Vorstellungen nacherleben zu lassen. Gemütsempfindungen galten nicht als seelische Wertvorstellungen, sie wurden vielmehr streng, ja ängstlich von jenen getrennt. Das Gemütsleben, ja das Leben überhaupt des Einzelnen war bestimmt „durch die Einbettung in un= verbrüchliche überindividuelle Ordnungen"56. Sollten Gefühlswerte dennoch als seelische Werte anerkannt werden, so mußten sie künstlerisch in den Be= reich des Abstrakten mit einbezogen sein. Die Art und Weise dieser Einbe= ziehung und der Entschluß, sie überhaupt weiter zu vollziehen, — das waren die unausgesprochenen Aufgaben innerhalb der neuen Kunstlage, die durch die Ars nova im ersten Drittel des vierzehnten Jahrhunderts geschaffen wurde. Denn mittlerweile trat nun doch, gipfelnd in der Ars nova, der Ausdrude der Empfindung auch auf kurzen Melodiestrecken zutage. Der Komponist wendet sich von der Abstraktion ab. Der spontane und greifbare Einzelaus= druck drängt nach vorne, während die Aequalitas, die große Ausgeglichenheit der Gesamtform, ihre Zentralstellung preisgibt. Die Musik wird klanglich an= spruchsvoller, zugleich sinnlicher, temperamentbetonter. In einer päpstlichen Verfügung wird die „gebärdenhafte Deutlichkeit"67 dieser Musik gerügt (s. Anm. 32). Uns heute will der Einbruch des Individuellen und des Begrenzten in jener Musikepoche als gering erscheinen, doch mußte er auf Ohren, die den Gesamteindruck zu hören gewohnt waren, einen unerhörten Eindruck machen. Zu welcher Kunst die bisherige irrationale Musikeinstellung fähig war, zeigt die großartige und zugleich letzte Ausgestaltung, die dem Organum quadruplum durch Perotinus um 1250 zuteil wurde. Der große Atem des Melos schafft eine weitzügige, innere Verflochtenheit, welche die Aequalitas, die Übergegensätzlichkeit der Gesamtform, Klang werden läßt. Hier heißt irra= tionales Formen in der Tat däs Hervorbringen einer musikalischen Ganzheit, welche nicht den ästhetischen Elementen und deren Assoziationen, sondern dem werdensgesetzlichen Zeitwert seine Entstehung verdankt. Das fertige Werk entspringt einer organischen, nicht=dimensionalen Gestaltung. Irrational nennt die mittelalterliche Musikphilosophie die unmeßbare musikalische Bewegtheit, die nicht mit dem Intellekt, aber anschaulich im Sinne eines inneren Zeitwertes (incommensurabilis) erfaßbar ist. Während das rationale Formen sich auf elementare Fertigkeiten und Künste stützt, ist das beim irrationalen Gestalten nicht der Fall. Erst die Folgeerscheinungen einer veränderten Kunsthaltung, durch die Ars nova hervorgerufen, zeigen eine Ausprägung unterschiedlicher Kompo= sitionsformen. Die Formungsfertigkeit tritt nach und nach neben das Ge= 56 Helmut de Boor: Dichter des M i n n e s a n g s (Deutsche Lyrik, hsg. v. B. v. W i e s e ) . Düsseldorf 1 9 5 6 , S. 25. 57 Bulla des Papstes Johann X X I I . v o m Jahre 1 3 2 7 .

232

VI. GANZHEIT

staltungsvermögen. Das Musikschaffen gelangt, ebenso wie das Musikhören, in das Stadium rationaler Bewußtheit. Die Aufmerksamkeit wird mehr und mehr auf die Gegensätzlichkeiten und deren Abläufe und Einschnitte gelenkt. Formalästhetische Dinge wie die zahlenmäßig streng geregelte Periodik (Iso= Periodik) und die schematische Behandlung rhythmischer Melodieteile (Iso= rhythmik) legen den Grund für eine neue Einstellung zur Musik. Formen, die nicht aus einer irrationalen, inneren Zeitvorstellung heraus= wachsen, kommen auf: die dem individuellen Ausdruck dienende Ballata, die mit rhythmisch oft zugespitzten Einzelwirkungen versehene Motette, die na= turalistisch schildernde Caccia, das an kleinen technischen Spielereien reiche Virelai. Das Raumempfinden mit seinen Abgrenzungen und Gegenüberstellun= gen gewinnt an ästhetischem Gewicht, das abstrakte und intentionale Zeit= empfinden verliert. Die Renaissance gibt schließlich der subjektiven und apho= ristischen Aussage allein den Vorrang und schafft sich in der weltlichen Symbolgestalt der Frau Musica ein bildhaftes Gleichnis für das auf Stimmungs= affekt und Gefühlswellung eingestellte Formempfinden. PROPORTIO UND PROPORTIONALITAS. Doch zurück zu dem Zeitwert des un= dimensionierten Vorstellungsbildes. Der Ganzheitscharakter, welcher der Mu-sik tatsächlich abgelauscht wurde, verhalf der mittelalterlichen Ästhetik zu ihrer beginnenden Klarheit über die Proportionalität. Ähnlich wie später Nikolaus von Cues unter Verhältnisschönheit nicht die sachliche Richtig= keit innerhalb von Formteilen, sondern die „harmonische Weltverknüpfung" verstand, so stellten die alten Musiktheoretiker der sachlichen Proportion die geistige Proportionalität gegenüber. Die Betrachtungen hierüber gründen sich auf den prinzipiellen Unterschied zwischen mathematischer und organischer Proportion. Die kategoriale Verschiedenheit von Proportion und Proportionalität in der Musik wird von Engelbert von Admont auf eine kurze Formel gebracht. Er stellt fest: „Es besteht ein Unterschied zwischen proportio und proportionalitas. Proportio bedeutet die Gleichheit oder Ungleichheit zweier Zahlenwerte, den Vergleich zwischen einer größeren und einer kleineren Zahl, woraus der Un= terschied oder die Gleichheit der einen gegenüber der anderen ersichtlich wird. Proportionalitas aber ist die aus der Gegenüberstellung von zwei oder mehr Proportionen gewonnene Verknüpfung" 58 . Noch kürzer könnte man sagen: Proportionalität ist ein Verknüpfungswert, Proportion ist ein Verhältniswert. Auf diesen über alle Gleichheiten oder Ungleichheiten sich erhebenden Verknüpfungswert in der Musik war vorher bereits Eriugena eingegangen. Weil er die musikalische und die kosmische Harmonie als gleichartig, das heißt 58 " . . . proportionalitas vero est proportionum duarum vel plurium ad invicem facta collatio"; D e M u s i c a , u m 1 3 3 0 ; Gerbert: Scriptores II 303.

2. PROPORTIONALITÄT

233

als gleichwertig ansieht, folgert er daraus, auch die Musik werde von einem zusammenfassenden Gesichtspunkt her „zur Einheit gebracht" 59 . Diese zu= sammengefaßte Einheit ist das Ergebnis der Proportionalität, Ergebnis von melodisch=klanglichen Beziehungsvorstellungen, welche zwar „durch weit von= einander entfernte Verhältnisse der Steigerung und des Nachlassens geschieden sind, die aber, wenn sie nach gewissen vernunftgemäßen musikalischen Regeln zusammengefügt werden, eine gewisse natürliche Süße ergeben" 59 . Diese w e i t = e n t f e r n t e n inneren Verhältnisse und Bezogenheiten stehen nicht greifbar vor Augen, es sind ästhetische Eindrücke, Proportionalitätswahrnehmungen, „die nur des Geistes innerer Sinn wahrnimmt und unterscheidet" 60 . Auch für Eriugena ist es selbstverständlich, daß die Proportionalität als die übergeordnete Einheit anzusehen ist, daß also die Richtigkeit der Einzelpro= Portionen hervorgeht aus der unauslöschlichen Einheit der Proportionalität61. Freilich ist die Proportionalität keine logische Tatsache, sondern eine, wie wir heute sagen, authentische Erfahrung. Sie wird erlebt, nicht errechnet. Eriugena bezeichnet deshalb, im Gegensatz zur rationalen Proportion, die Proportionale tät als irrational, als „dem Bereich der nicht=seienden Dinge" (s. Anm. 33) angehörig. Er nennt den musikalischen Gesamteindruck, der nicht den ein= zelnen Instrumenten und auch nicht den einzelnen Tönen zuzuschreiben sei, „etwas Wunderbares": dieser wird nicht mit dem Verstände, sondern mit dem „Lichte der Vernunft" 6 2 wahrgenommen. Die Bedeutung der Proportion liegt in ihrem Zahlenwert, die der Proportion nalität in ihrem Verknüpfungswert. Das eine sind Entsprechungsverhältnisse, das andere Bezogenheitsverhältnisse. Die Beschaffenheit musikalischer Ent= sprechungsverhältnisse liegt auf der Hand: es sind im Notenbild sichtbare Direktbeziehungen zwischen einzelnen Formteilen, nach gleichem Vorbild ge= bildete Gruppen, Wiederholungen, melodische Spiegelungen, Aufspaltungen, Gegenüberstellungen u. dgl. mehr. Die musikalischen Bezogenheitsverhältnisse hingegen liegen außerhalb der räumlichen Dimension: sie treten im Notenbild nur andeutungsweise auf. Auch hier gibt es verschiedene Arten, melodische, rhythmische, klangliche und andere. Zum Beispiel können Zeitbeziehungen wichtig sein, musikalische Zusammenhänge, die durch das Zeitgefühl als zu= sammengehörig, wenngleich weit auseinanderliegend, erlebt werden. Dieses zeitliche Proportionalitätserlebnis wird auch durch Beschleunigung oder Ver= langsamung des Tempos nicht beeinträchtigt oder gestört, ja es kann gerade 58

Handschin: Eriugena 324. "proportionalitates, quas, sibi invicem collatas, solius animi interior percipit et dijudicat sensus"; De div. nat., V I 965. 61 ebd. III 630/631. 82 Handschin a.a.O. 3 1 9 . 60

234

VI. GANZHEIT

dadurch an Bedeutung gewinnen. Hierauf wird noch in Verbindung mit der diaphanen Gestaltung einzugehen sein. Die Frage, was Proportion und was Proportioniertheit sei, ist in der nach= mittelalterlichen Musikästhetik nicht wieder aufgetaucht. Wenn in der heutigen Psychologie von „Proportionseindrücken"63 die Rede ist, so läßt sich hier vielleicht ein erneut aufdämmerndes Verständnis für ästhetische Bezogen» heitsverhältnisse ablesen. Solche Proportionseindrücke sind seelische Eindrücke, die von dem Empfangenden ohne Kontakt mit rechnerischen Überlegungen behalten werden. Sie ergeben sich nicht aus der verstandesmäßigen Wahr= nehmung vorliegender und richtiger Verhältnisse, sondern aus der gefühls= mäßigen Wahrnehmung von übergeordneten Verhältnisverknüpfungen. Ob= wohl beide ästhetische Wahrnehmungsarten einerseits dem Formverständnis und anderseits dem Gestaltverständnis richtigerweise zugeordnet wurden, hat die Psychologie den hier zutage tretenden kategorialen Unterschied noch nicht völlig deutlich gemacht. Musikästhetisch lassen sich Proportion und Proportioniertheit einfach so unterscheiden, daß die erste räumlich, die zweite zeitlich empfunden wird. Die räumlichen Abgrenzungen, die bei der Proportion wesentlich sind, haben bei der Proportioniertheit höchstens sekundäre Bedeutung. Während die Zahl der Ursprung der Proportion ist, liegt der Ursprung der Proportioniertheit in dem Erlebnis ästhetischer Gestaltetheit, in der personalen Erlebnisfähigkeit für Zusammenhänge, welche nicht konstruktiv sind, sondern in denen sich geistige und seelische Eindrücke gegenseitig und weitläufig ergänzen. Um diese Ergänzung sich vorstellen zu können, muß daran erinnert werden, daß eine Verbindung von Geistes= und Gefühlseindrücken niemals eine fest= stehende ist. Im Gegenteil, ihr ästhetischer Reiz liegt gerade darin, in einem lebendigen Werdens* und Wandeinsprozeß sich stets neu darzubieten. Die metaphysische Lebendigkeit, die über der Dreiheit, Sechsheit, Zwanzigheit oder Hundertheit der Töne schwebt, ist unabhängig von jedem Zahlen= und Proportionsbegriff. Allein das „Licht der Vernunft", das sich um Erkenntnis von Summen, Potenzen und reziproken Werten nicht bemüht, durchleuchtet die Gestaltetheit einer Totalität, die sich hinter dem Hörbaren eines Musik= W e r k e s erhebt. Ohne Zweifel lebt in der Proportionalitas der mittelalterlichen Ästhetik die aristotelische Erkenntnis über die Noesis fort. Der Hörer, der auf noetische Weise die Musik aufnimmt, strebt in keinem Augenblick nach Analyse. Im Gegenteil, ihm liegt daran, den Gesamtstrom der ästhetischen Bedeutung, in welchen die Einzelstrukturen eintauchen, sowohl zu erfühlen als auch zu er=> leben. Es finden bei der noetischen Erkenntnisweise Erlebnisse eines ästhe= 63

Karl Bühler: Die Gestaltwahrnehmungen. Stuttgart 1 9 1 5 , S. 1 3 5 f.

2 . PROPORTIONALITÄT

235

tischen Wiedererinnerns statt, für welche nicht formale Gleichartigkeiten oder Entsprechungen eine Voraussetzung sind. Diese Erinnerungserlebnisse nehmen statt der Genauigkeit der Proportion die Richtigkeit der Proportioniertheit wahr. Das musikalische Erinnerungsvermögen kann sich allerdings auch logisch betätigen und die Proportionen beachten. Es ist nicht immer der Fall und wird auch vom Kunstwerk aus nicht immer gefordert, daß das innere Erlebnis sich auf die Proportioniertheit richtet. So verfügt die musikalische Kunst über zwiefache Proportionierung, über den Doppelschwung von klangdurchleuchtender und klangstofflicher Aussage» kraft. Diese Ablösung von bald mehr abstrakten und bald mehr geformten Eindrücken durchlebt das ganze Musikreich. Sie ist immer neu ergebnisvoll, neu ausgleichend, neu abtastend, neu überraschend, befindet sich gleichsam auf einem Pendel, welches verschiedene Sphären des musikalischen Erlebens durcheilt: bald schweift es in der geistig geschauten, bald in der durch Ge= fühlseindrücke gestaffelten, bald aber auch in einer fast neutralen Region, in dem das Ornament und der Spielausdruck beheimatet sind. Damit ist nun ein dreifacher Blickausschnitt aus der musikalischen Aus= drucks= und Erlebnisgesamtheit gewonnen. Das Verhältnis dieser drei Er= lebnissphären zueinander und deren einzelne ästhetische Bedeutung waren den alten Theoretikern ebenso vertraut, wie sie uns heute unbekannt sind. Diese ästhetische, freilich jederzeit in der Philosophie verankert gewesene Dreiheit (Trias) der Wahrnehmungs= und Verstehensweise beruhte auf antiker Überlieferung. Sie wurde in den Jahrhunderten zwischen Augustinus und Cu= sanus in mannigfachen Abwandlungen gelehrt, mit ihr wurde ästhetisch argu= mentiert. Da es sich aber hierbei nicht um eine gelehrte Zerlegung von Kunst* auffassungen handelte, sondern um ein geschlossenes Weltbild, angewandt auf das künstlerische Erleben, versank diese triadische Ästhetik des Mittel* alters unter den später aufkommenden dualistischen Lehren und Erkenntnis* methoden. Die Erfahrungsrichtigkeit, die der Proportionalität zugrunde liegt, wurde von den neuzeitlichen Generationen nicht als tragfähig angesehen; für sie stand nur die Richtigkeit logischer Gegebenheiten zur Debatte. In demselben Maße, wie die Naturwissenschaft in die Musikästhetik eindrang, löste das engere dualistische Prinzip das umfassendere triadische ab. Doch die Logik mit ihren Dualismen reicht in der Musikästhetik nicht aus. Auch irrationale Erscheinungen wie Proportionalität, Zeitgefühl, vergegenwärtigendes Hören u. dgl. wollen wachgerufen und verstanden sein. Die genannten drei Erlebnissphären stehen, falls der Blickwinkel der Pro= portioniertheit gegeben ist, untereinander in Verbindung. Falls jedoch die

236

V I . GANZHEIT

logische Proportion vorherrscht, wird entweder der expressive oder der orna= mentale Erlebnisbezirk zum ästhetischen Fundament gemacht. Das Wort Fun= dament darf hier ganz in einem architektonischen Sinne verstanden werden: es handelt sich um eine nach Teilen meßbare, wenngleich geschlossene Form. Wo jedoch die alogische Proportionalität vorherrscht, treten keine musikalischen Raumformen primär hervor, werden die Bezirke der nicht gemessenen Aus= gewogenheit auf holoeidetische Weise erreicht. Dann ist die noetische Ge= schlossenheit vollkommen und läßt sich nicht mehr nach rationalen Gesichts= punkten bewerten. Verschiedene Wertmaßstäbe sind also nötig. Zu ihnen soll nun die Untersuchung der musikalischen Erlebnisdreiheit hinführen. D E R TRIADISCHE K R E I S G A N G IN DER MITTELALTERLICHEN Ä S T H E T I K . Während die moderne Ästhetik polare Kräfte als formgebend annimmt und geradlinige oder abgestufte Gegensätze verfolgt, faßt die triadische Ästhetik die gestalt= gebenden Komponenten kreislinig zusammen. Es ergeben sich im großen und ganzen drei Haltepunkte, drei zentrale Auffassungen, auf welche die alten Theoretiker einmütig hinweisen.

Zuerst finden sich, im unverkennbaren Anschluß an die ästhetische Dreiheit kallos=kagathos=eudaimonion der griechischen Antike, bei Plotin drei Sphären der künstlerischen Schönheit festgehalten, die er folgendermaßen bezeichnet64: 1 . Entfaltung des Schönen, 2. Belebung des Schönen, 3. Erfüllung des Schönen. Die innere Übereinstimmung (Harmonia) der Musik ist nach plotinischer Ansicht nicht an und für sich schön, sondern allein als Widerhall der inneren Übereinstimmung (der Einzelseele) des Menschen. Die drei von ihm bezeich= neten Schönheitsgrade enthalten deshalb auch eine Wertsteigerung vom Na= türlichen über das Individuelle zum personalen Geist. Unmittelbar mit Bezug auf die Musik erinnert Albertus Magnus® 5 an die Erlebnisdreiheit, wie sie Aristoteles bezeichnet hatte: 1 . Entspannung, 2. Behebung des Kummers, 3. geistige Einsicht. Höchste Vollendung der Musik, entsprechend einem vollkommenen Seelen= ausdruck, sei die „Ganzheits=Harmonie' /66 , die eine andere Beschaffenheit als die Harmonie aus stofflichen Elementen aufweise. 64 85

"

K . M a c h a a.a.O. S . 1 5 . u m 1 2 5 0 , zit. bei P f r o g n e r : M u s i k zit. ebd. S . 1 3 1 .

130.

2.

PROPORTIONALITÄT

237

Der ebenfalls für die Musik zuständige Johannes Eriugena gründet seine Lehre auf ein Fundament, das sich mit den Denkbezirken 1 . Sein, 2. Ordnung, 3. ewige Bewegung zu einer letzten Umfassung rundet® 7 . Eine mit Absicht auf die Ästhetik bezogene Betrachtung stellt Thomas von Aquino an. Er nennt als zur Bildung wahrer Schönheit erforderlich: 1 . proportio — Entsprechung, 2. integritas — Einheit, 3. claritas — Läuterung. Damit sind im wesentlichen dieselben großen Umrisse gegeben wie bei den älteren Theoretikern: die Kennzeichnung von Wirklichkeitssphären, die nicht konträr zueinander stehen, sondern die sich gegenseitig vervollständigen und ineinander übergehen. Wesentlich ist dabei die kontinuierlich zunehmende Bereicherung der Schönheit durch geistige und läuternde Bewußtheit, durch Wertverdichtung. Eine Abgrenzung oder gar Loslösung der drei Wertsphären voneinander ist nirgends zu erkennen, wurde auch nicht angestrebt. Vielmehr gibt eine ethische Haltung den durchklingenden Grundton ab. Daß diese Kunstauffas= sung sich aus der antiken Tradition herleitet, wird unter anderem auch durch die arabische Ästhetik bestätigt, die bis ins Mittelalter hinein aus der aristo* telischen Philosophie ihre Anregungen schöpfte. In den Schriften der Lauteren Brüder 68 wird die ethische Haltung desjenigen, der Kunstwerke hervorbringt, zur richtunggebenden Bedingung: erst die Kunstgesinnung schaffe das künst= lerische Vollbringen, denn „Gott liebt den seiner Kunst sicheren Künstler". Das ethische Bestreben verleihe dem Künstler gottähnliche Kräfte, „soweit dies dem Menschen möglich, nämlich in Können, Wissen und Spendung des Guten". Solche Begegnungen mit der ästhetischen Begriffsdreiheit lassen sich ver= mehren. Sie führen immer auf eng verwandte Auffassungen, die gleichsam von einem ethischen Zentrum aus nach drei Seiten ausstrahlen. Trotz der An= einanderreihung in der Aufzählung liegt darin nicht etwas Gestaffeltes. Was als Bezirk des Könnens, des Entsprechens oder des natürlichen Seins bezeichnet wird, liegt dem Bezirk des Guten, des Läuternden und der Bewegtheit ebenso 67

E. v. Aster a.a.O. S. 140. im 10. Jahrh.; vgl. Friedrich Dieterici: Die Logik und Psychologie der Araber im 10. Jh. n. Chr. Leipzig 1868, S. 96. 68

238

VI. GANZHEIT

benachbart wie dem des Wissens, der Einheit und der Ordnung. Dieser Nach= teil der Aufzählung, der leicht zu einer falschen Vorstellung verleiten könnte, wird vermieden, wenn wir das Kreisgleichnis des Nikolaus Cusanus, welches auf diese Auffassungstrias zutrifft, heranziehen. Cusanus sieht im Kreise, „wo es weder Anfang noch Ende gibt, weil kein Punkt in ihm ist, welcher mehr Anfang als Ende wäre" 69 , das Abbild innerster Kontinuität. Zugleich verhindert seine Kreisvorstellung jeden Seiten= oder Höhengegensatz, denn „in Kugel oder Kreis ist alles zugleich das oberste und unterste"70. Das Kreisgleichnis gibt der ganzen Philosophie des Cusanus den alles vereinigenden Umgrund. Auch er führt die Überlieferung der drei ethisch=ästhetischen Wirklichkeitssphären weiter. Seine Begriffsdreiheit 1 . potentia — Können, 2. sapientia — Wissen, 3. nexus — Geisteinung schließt er kreislinig zusammen71. Kein Nebeneinander, keine Gegenüberstel= lungen trennen mehr. Der Kreis der unendlichen Einheit (circulus unitatis infinitae) symbolisiert den Zusammenfall aller Gegensätze (coincidentia op= positorum).

potentia

sapientia

Das Ineinander solcher allgemeinmenschlichen Verstehens= und Aussage= läßt sich noch besser ablesen, wenn man eine andere Kennzeichnung dieser Begriffsdreiheit hinzunimmt. Cusanus formuliert an anderer Stelle so: 1 . materia, 2. forma, 3. conexio. Sphären

Verschränkt man diese Sphären und deren zugehörige Begriffe auf einer Vergleichsskizze ineinander, so leuchtet die Besonderheit und Endgültigkeit der 69

De ludo globi (Schriften des Nik. v. Cues, H. 1 2 S. 13). "Quicquid autem in sphaera vel rotundo est, est summum et imum"; De ludo globi I 211. 71 De possest (ebd. H. 2, S. 72). 70

2 . PROPORTIONALITÄT

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Geisteinung ein: sie enthält das Unwandelbare. Hingegen steht dem Wissen die Form gegenüber, dem Können die Materie, wie sich das auch in den anderen, schon genannten Dreifachformeln bestätigt.

Zum Können gehört der elementare Stoff. Er wird als etwas Ungetrenntes hingenommen. Er hat sein eigenes Reich. Das Können bewegt ihn, spielt mit ihm, formt ihn. Dabei trägt das materielle Dasein seine materielle Form be= reits in sich. Zum Wissen gehört die schichtenreiche Form, derer es sich bedient. Dieser Form gehören Können und Materie bereits an. Sie nimmt Willen und Unwillen, Behagen und Mißbehagen, Enge und Weite in sich auf. Die ganz anders beschaffende Einung, die schließlich dem Geiste obliegt, bringt die coincidentia. Sie ist Ineinanderfall der Gegensätze, letzter Ausgleich der Ge= gengewichte und Gegenschichten. Das Ereignis, daß geformte Verschiedenheiten sich in einer höchsten Ein= heit auflösen, daß das weit Auseinanderliegende, welches dem Auge getrennt erscheint, unter universaler Schau als ein Ganzes erkannt wird, nennt Cusanus koinzident. Diese Koinzidenz, ein Lieblingsbegriff des Cusanus, ist die letzte Zusammenziehung aller ästhetischen Vorstellungen, welcher Art sie auch sein mögen. Seelisches Erleben und geistige Einsicht vereinen sich im Menschen so weitgehend, daß für die Übergegensätzlichkeit, für das „Aufheben aller Andersheit" 72 , ihm das Verständnis reif wird. Für die Gestaltung eines Kunstwerkes sieht Cusanus das ästhetische Ziel darin, der Übergegensätzlichkeit möglichst nahe zu kommen. Der Weg führt vom Kontrast zu Koinzidenz, von der Abgrenzung zur Unabgrenzbarkeit 72

De fil. Dei (Schriften des Nik. v. Cues H. 3, S. 78).

240

VI.

GANZHEIT

und erreicht in der „unendlichen Kunst" 7 3 sein zeitfreies Ziel. Dieses Ziel soll jedem, der Kunstwerke schafft, vorschweben, „obwohl die genaue Beschaffen^ heit der unendlichen Kunst stets unerreichbar bleibt" 7 3 . Die unendliche Kunst besitzt also einen Z u g unirdischer, besser gesagt unphysikalischer Zeit. Der Schritt von der Koinzidenz zur unphysikalischen Zeit wird uns noch beschäftigen. Zunächst macht ein weiterer Gedanke innerhalb der Proportion nalität auf sich aufmerksam. Er taucht bei Cusanus als Forderung nach einer unsinnlichen, „harmonischen Weltverknüpfung" 7 4 , die sich im Kunstwerk widerspiegeln soll, auf. Der Künstler schafft mit der schön schmückenden Pro= portion (proportio ornans pulchra) eine ästhetische Einheit, die aber von einem höheren Geistigen (intelligentiale) noch einbegriffen wird. Dieses höher Gei= stige ist eine panhumane Eigenschaft, ein „anerschaffenes Vermögen" 7 5 des Menschen. Damit ist unsere Berechtigung, den Gesamtumkreis des Kunst= verstehens einschließlich der immateriellen Sinn=Koinzidenz panhuman zu nennen, aufs neue gestützt. Als letzte triadische Formulierung, die innerhalb der Ideenwelt des Cusanus hier noch genannt sein soll, kommt die folgende vor 7 6 : 1 . Sein, z. Leben, 3. Einsicht. Das natürliche Sein wird erweitert durch das seelische, lebendige Sein, in dieses wiederum dringen die Strahlen aus der Verknüpfungssphäre von Seele und Geist und schaffen die Einsichtssphäre. Augustinisches Gedanken= gut schimmert durch: der Mensch besitzt die Fähigkeit, nicht zu formen, sondern zu gestalten und Gestaltungen wahrzunehmen. Diese Dreiheit leuch= tet unter irrationaler Sicht als ein Ganzes (totum) auf: ein Sein oder Wesen (una essentia), ein Leben (una vita), ein Geist (una mens) 77 . Schon bei Plotin begegnete uns eine entsprechende panhumane Gesamtschau. Er erkennt der Seele eine dreifache Veranlagung zu: im ordnenden Sein formt sie die irdische Natur, sie wendet den Blick „auf das ihr Nachgeordnete", sie ist „Regent der Erdenwelt", sie bedient sich einfach des Vorliegenden; im vernünftigen Sein blickt die Seele „auf sich selbst", sie „wahrt ihr Eigen= sein", alle Gefühls* und Willensvorstellungen füllen sie aus; im geistigen ms*«- m 73

Id. de mente (ebd. H. 10, S. 79). De beryllo (ebd. H. 2, S. 155). 75 "vis concreata"; Id. de mente, Einführg. 7e De apice theoriae (ebd. H. 9, S. 72). Es ist die wörtliche Übernahme der augustinischen Formulierung: esse, vivere, intelligere (De summa Trinitate X, 10). 77 Augustinus: De summa Trinitate X, 1 1 . 74

2 . PROPORTIONALITÄT

241

Sein blickt die Seele „auf das, was über ihr ist", sie ist „Gesamtgeist" 78 . Diese Aufgaben oder Erlebnisweisen der Seele sind zwar unterscheidbar, doch aufs engste untereinander verbunden. Will man wirklich die drei Denk= und Ausdruckssphären zu einer Ganzheit zusammenfügen, so zeigt sich, wie dienlich und anschaulich die cusanische Vorstellung vom Kreise ist. Die Kreislinie versinnbildlicht die Gestaltsbe= strebtheit, die stetige Hin= und Rückflut zur ästhetischen Ganzheit, welche die Denk= und Ausdruckssphären aneinanderschließt. Die drei Sphären selbst wiederum erscheinen nicht als für sich alleinstehend, obwohl jede von einem Sinn, der sich jeweils auf ein Ausdrucksziel richtet, von einer Bedeutung, die bestimmten schönen Erscheinungsweisen anhaftet, erfüllt ist. Sinn und Gestaltung finden damit in kürzester symbolischer Form eine Versinnlichung. mens

Für die Dreiheit mens=essentia=vita setzt Cusanus auch die Zusammen* fassungen: das könnende Sein, das wissende Sein, das Einssein. Er hat in der Anwendung des Kreisgleichnisses einige Vorläufer. Doch gibt die triadische Verbindung der Denk= und Vorstellungssphären in dieser Art seiner Philoso= phie etwas Besonderes. Cusanus will nicht allein den Kreislauf in der Ordnung des Universums, die Intensitätsgrade des Seins, die „aufsteigende Potenzie= rung der Seinsfülle" 79 , wie das etwa bei Meister Eckhart der Fall ist, demon= strieren. Er fügt vielmehr den Erkenntnisweisen auch die Erlebnisweisen hinzu. Damit werden die cusanischen Seinssphären für die Ästhetik fruchtbar. Es ergibt sich folgendes Gesamtbild: 1 . Das könnende Sein. In der Sphäre des reinen Könnens entfaltet sich das ästhetische Sein in einfachen Ent= sprechungsverhältnissen. Hier ist die ästhetische Einheit unangestrengt und spielerisch gewährleistet, ja „Einheit und Sein können miteinander vertauscht werden" 50 . Das kreatürliche Sein offenbart seine eigene Einheit, seine elemen= 78

Plotin: D e r A b s t i e g der Seele (übers, v. R. Härder. Die A n t i k e Bd. 1 ) . Berlin 1 9 2 5 , S. 366. 79

Ernst v. Bracken a.a.O. S. 1 7 7 .

80

D e pace fidei; Schriften des N i k . v. Cues H. 8, S. 1 0 9 f.

16 Musica Panhumana

242

VI. GANZHEIT

tare Wertstufe. 2. Das wissende Sein. In der Sphäre des rationalen Wissens wird das Seiende bewußt geformt. Es geht um die „Entfaltung der Form in der Einheit" 81 , wobei Trennungen und Unterscheidungen sich hervortun. Die Einheit ist also ein Akt des Wissens, des bewußten Willens, ja auch des wün= sehenden Willens. Dem diskursiven Denken entspringt die promiskuive Form. Sie läßt auch als schließliche Einheit seelische und individuelle Einzelströme erkennen. 3. Das Einssein. Vor allen Trennungen und Unterscheidungen besteht die Totalität der Vernunft und der geistigen Einsicht. Sie erst läßt alle Gegensätze und Proportionen entstehen, welche aber nicht aus der primären Einheit entlassen werden. Die Totalität des Fühlens und Denkens bleibt gestaltgebend. Sie ist Höchstwert, Urverbindung. „Von dieser Verbindung geht die Trennung oder Unterscheidung aus" 82 , sie ist Herkunft und zugleich Ko= inzidenz der Gegensätze. Jede dieser drei Sphären läßt sich als eine eigene Ausdruckswelt betrachten. Dennoch ist die Kontinuität, mit der sie ineinander übergehen, so zwingend und wesentlich, daß es unmöglich ist, diese Begriffsdreiheit für eine dreifache Aufspaltung des menschlichen Erlebens zu halten. Die Kreislinie veranschau= licht, wie jede Ausdruckssphäre jeder anderen benachbart ist, wie unendlich viele Punkte auf der Schwelle der Übergänge liegen, wie unbegrenzt die Form= und Gestaltmöglichkeiten sind, die sich um den gedachten Mittelpunkt schlecht^ hin übermenschlicher Kunstvollkommenheit herumbewegen. Niemals wird eine ästhetische Betrachtung auf einem einzigen Punkte der gedachten Kreislinie stehen bleiben müssen: mit dem Grade der intentionalen Gestaltung schwankt auch die Zuweisung des Form= oder Gedankenausdrucks zu einem vorstellbaren Kurventeile der symbolischen Kreislinie.

Cusanischer Kreis 81 52

Noematisch-ästhetischer K r e i s

D e pace fidei; Schriften des N i k . v. C u e s H . 8, S. 1 1 0 . ebd. cap. V I I .

2.

PROPORTIONALITÄT

243

Mit Anlehnung an den cusanischen Kreis läßt sich diese im engeren Sinne ästhetische Verbildlichung ableiten, fußend auf der gewonnenen Begriffsdrei= heit, abgewandelt aber mit Bezug auf die noematische Verstehensweise. So ergibt sich die Entsprechungstrias des stofflich=spielerischen, des wünschend* wollenden und des geistig=noetischen Ausdrucks. Diese Dreiheit wird nun die ästhetische Zuordnung des musikalischen Kunstwerkes erleichtern. Dem einfachen Sein entspricht das ornamentale Spiel. Das vom Wissen und vom Willen bewegte Leben zeigt sich musikästhetisch als eine Gefühls* región, die von dem Wunsch nach einem hinweisenden, bestimmten Ausdruck durchdrungen ist, wobei Verstandeskräfte mit einwirken. Die Einsicht regt als ästhetische Sphäre einen rein geistigen Ausdruck an, schafft die intentionale Gestaltung und erstrebt eine geläuterte Übergegensätzlichkeit. Vereinigen wir die aus allen bisher dargebotenen triadischen Betrachtungs= weisen gewonnenen Begriffe, so bietet sich als musikästhetische Urteilsgrund* läge folgende Charakteristik der drei Ausdruckssphären dar: 1. das seiende, sinnlich=naive, voraussetzungslose Können, 2. das ordnende, sinnlich=lebensvolle, willenserfüllte Wissen, 3. die einsichtige, unsinnliche, läuternde Geisteseinung. Eine wertmäßige Steigerung des Schönheitsbegriffes ist hier nicht zu über* sehen. Vom einfachsten Grad geistigen Vorstellens oder Gestaltens geht ein kontinuierlicher Weg zur reinen Intentionalität des musikalischen Gesamt^ ausdrucks. Es ist nicht gesagt, daß in den drei Brennpunkten der musikalischen Aus* sagemöglichkeiten jeweils ein bestimmtes ästhetisches Verhalten zur Ruhe kommt. Vielmehr sorgt die geistige Kontinuität, falls diese beteiligt ist, für die innere Bewegtheit der noetischen Zusammenhänge. Über den Wert, ob* gleich der Zug zum Höchstwert soeben genannt wurde, sagt das Kreisgleichnis nicht unmittelbar etwas aus; denn dieser kann durchaus in den einzelnen Sinnbezirken liegen, in einer konstruktiven musikalischen Ordnung, in einer Form elementaren Spieles, in einer Art und Weise der Gestaltung, welche sinnkoinzident und unräumlich ist. D I E NOEMATISCH=ÄSTHETISCHE D R E I H E I T . Ohne daß man jeweils eine ästhe* tische Ausdrucks= und Empfindungswelt als etwas Abgeschlossenes ansehen müßte, liegt doch auch jeder von ihnen ein bestimmtes Verhalten des erleben* den Menschen zugrunde. Die drei Möglichkeiten eines panhumanen ästhe= tischen Verhaltens in der Musik seien in einem ersten Überblick hier skizziert.

1 . In der Sphäre des sinnlich=naiven Seins regt sich die Phantasie ohne Aufwallungen, heiter und gelassen. An der ästhetischen Ordnung, die sich spielerisch ergibt, sind Gefühl und Verstand nur in geringem Maße beteiligt. 16»

244

VI. GANZHEIT

Frei vom Schema, frei vom Willen nach differenzierter Form, gibt sich eine so entstandene Musik, mit Worten Mozarts, „natürlich, ohne ins Leere zu fallen" 83 . Die Melodien und Klänge sind wie freundliche Gestalten, die an= strengungslos und wunschlos „in ewigem Sphärentanze durch die Wolken fliegen" 84 . Es ist kein gleichgültiges Spiel, vielmehr schafft die freudige Leich= tigkeit ein Bewußtsein von schöner Ordnung. Die Wohlgeordnetheit des Ganzen und die ziervolle Wirkung des Ein= zelnen stehen im Wechselverhältnis. Klänge und Tonverbindungen haben vor allem einen Schmuckwert, sie wirken ornamental. Aus einfachen Strukturen wird eine gefällige und proportionierte Ordnung hergestellt. Die schmücken= den Formen sind anmutig, verspielt, ohne Schwerpunkte, weder nach der Seite des sehnlichen Gefühls noch nach der des weitplanenden Geistes. Das musikalische Sein herrscht als statische Form. Der Atem des Werdens regt sich nur wenig. Das musikalische Sein als spielerisches Sein hat „seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst" 85 . Das spielerische Werden sucht zwar nach Neuordnung und kennt die Empfindung des schönen und leichten Hervor= bringens: „die Seele gibt die Schönheit des Spiels" 88 . Doch das schlichte Da= sein der Schönheit überwiegt über das zielende Werden oder innere Wachsen einer musikalischen Idee. Die spielerisch geformte Musik, ihr Musiziertwerden und ihr Angehört* werden sind reich an Augenblickswerten. Der ästhetische Eindruck ist von kleinen melodischen und klanglichen Wendungen abhängig, wird durch solche also auch hervorgerufen. Hier ist die Sphäre der Improvisation, einfachster Start eines improvisierenden Musizierens. Hier wird das reine Können, die Regsamkeit der fähigen und zu schöner Äußerung geneigten Kräfte in die Mitte gesetzt. Das gelöste, spielerische Musizieren wirkt befreiend auf die individuelle Gebundenheit von Geist und Seele. Freiheit des Spiels ist Schön= heit des Spiels. Daß diese Ausdrucksart tatsächlich, wie es die Worte Schönheit und Be= freiung andeuten, in die Tiefe geht, will zunächst überraschen, wird aber durch seine inneliegende Ausgeglichenheit bestätigt. Das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit wird in der musikalischen Spielsphäre auf so reich= haltige Weise abgewandelt, daß sich echte und tiefe Kunsterlebnisse einstellen und daß „nichts Geringeres als das Reich der Fundamentalkategorien selbst" 87 bei diesem ästhetischen Bestreben in Erscheinung tritt. 83

Brief an den V a t e r v o m 28. 1 2 . 1 7 8 2 . H o f f m a n n ; zit. bei P. G r e e f f : E. T. A . H o f f m a n n als Musiker. Köln 1 9 4 8 , S. 1 0 8 . 85 Jan H u i z i n g a : H o m o ludens. Basel 1 9 4 4 , S. 1 5 . 86 Schiller: Ü b e r A n m u t und W ü r d e . 1 7 9 3 . 87 Schiller ebd. 84

2 . PROPORTIONALITÄT

245

Das Streben nach musikalischer Aussage und die Fähigkeit dazu sind gleich groß. Das heißt, daß einfache Entsprechungen in der Form für die Verhältnisrichtigkeit der Teile genügen, daß diese Einfachheit aber auch wirk= lieh das ästhetische Ziel erreicht und erfüllt. 2. Die Sphäre des ästhetischen Willens weckt den bewußten Drang nach Form und Ordnung. Es entsteht die Aufgabe, Wunschbilder und Verstandes* bilder in Übereinstimmung zu bringen. Gefühl und Verstand treten inWechsel= Wirkung, der ästhetische Ausdruck kompliziert sich. Der stimmungsbetonte Ausdruckswunsch und der konstruktive Formwille müssen zur Deckung ge= bracht werden. Fühlbarer als in der Spielsphäre erhebt sich die Frage nach dem Gelingen. In dieser Sapientia=Sphäre ist das Wissen sowohl auf das Anorganische, dank des Intellektes, als auch, dank des Lebensgefühls, auf das Organische gerichtet. Dadurch entsteht Zwiespältigkeit, aber auch Gefahr von Einseitig= keiten bald nach der Seite des verschwommenen Gefühls, bald nach der Seite der logischen Überlegung. In jedem Falle wird die Musik als Zeichen für etwas gebraucht und empfunden, sie soll etwas aussagen, sie ist deutend oder, was dasselbe heißt, semantisch. Die Musik wird nun geradezu als Sprache benutzt. Ihre Tonverbindungen erhalten eine möglichst bestimmte Bedeutung. Das Setzen=für=etwas, der Zei= chenwert, die semantische Bedeutungskraft werden von den Musikästhetikern erkannt und zum Gesetz erhoben. Im 18. Jahrhundert spielt das „redende Prinzip" 88 in der Musik eine führende Rolle. Die Musiker lernen das Klang= material als grammatisches Rüstzeug beherrschen, es wird „eine Art musika= lischer Grammatik entwickelt, welche — ähnlich wie eine sprachliche Gram= matik in den Begriffen Subjekt, Prädikat usw. — in den harmonischen Be= griffen Tonika, Dominante, Subdominante und den rhythmischen Begriffen (schwere und leichte Zeit, schwerer und leichter Takt), Vordersatz, Nachsatz usw. die Elemente aufweist und handhaben lehrt, über welche die musikalische Logik verfügt, um musikalische Sätze zu bilden" 89 . Von der Interjektion bis zum durchgeformten Satze finden sich alle möglichen Entsprechungen in der Musik. Das Dasein von Ordnungsvorstellungen zusammen mit Gefühlsbekun= düngen ist in der menschlichen Natur begründet. Es zeigt sich seit ältesten Zeiten auch in der Musik als Nachbarschaft der verschiedensten Empfindungen. 88 vgl. A r n o l d Schering: C a r l Phil. Em. Bach und das redende Prinzip in der M u s i k (Vom musikalischen Kunstwerk. Leipzig 1 9 4 9 ) . S. 2 1 3 f. 89 H u g o Riemann; zit. bei F. G a t z : Stuttgart 1 9 2 9 , S. 509.

Musikästhetik in ihren

Hauptrichtungen.

24 6

VI.

GANZHEIT

„Das Tönen schenket Lust und Leid, es weint und lacht, am Morgen und bei Tag und bis in tiefe Nacht." 90 Während die natürliche Gelassenheit sich spielerisch bekundet, zeigt sich die natürliche Erregbarkeit des Menschen in tausendfältigen Gefühlsausdrük= ken. Zugleich tritt die logische Bemühung auf den Plan mit dem Zwecke, Ord= nung zu schaffen. Das Werden und Entfalten eines seelischen Empfindens wird ständig eingedämmt durch das statische Sein eines stets anwendungs= bereiten rationalen Formrüstzeuges. Dadurch kommt es, daß der ästhetische Ausdruck bald locker gezügelt, hin= gegeben, ja ekstatisch ins Leben tritt, bald von einem straffen Verstand zur Form gezwungen wird. Der konstruktive Wille vermag sogar die Alleinherr= schaft an sich zu reißen und eine tönende Gerüstbautechnik, ein Nut= und Federverfahren mit musikalischen Mitteln ins Werk zu setzen. Form und Be= deutung treten dann feindlich einander gegenüber. Die semantische Ausdrucks= weit der Musik, alle expressiven und konstruktiven Möglichkeiten streifen letzten Endes die Grenze, wo die Musik anstelle von etwas anderem gesetzt wird, berühren die Darstellungsregionen des Wortes, des Bildes, der Archi= tektur und der Geometrie. Sowohl das Verlangen nach Formung wie auch der scheinbare Verzicht auf Form sind in dieser Ausdrucks= und Erlebnissphäre anzutreffen. Nichts kommt anmutig, verspielt, überall klaffen Gegensätze. Dennoch gibt es einen Ausgleich der Dualismen. Er ergibt sich aus der gelungenen Obereinstimmung von Aussageweise und Aussageform, aus der weisen Vermeidung überkom= plizierter Proportion, aus der schließlichen Eroberung der ästhetischen Einheit, die hier ebenso ins Innerste führen kann wie bei der Sprache, die in ihrer „inneren Sprachform" 91 befreiende Urgefühle und Urempfindungen lebendig werden läßt. 3. In der Sphäre der schönsten und höchsten Einsicht finden weder Kom= pliziertheit noch Naivität, weder Verhältnismaß noch holde Gleichgültigkeit ihren Ausdruck. Hier besteht von vornherein die Ganzheit einer läuternden Empfindungs= und Gedankenwelt. Die Geschlossenheit dieses ethisch gerich= teten Vorstellungskreises ist primär. Wenn eine Sinnrichtung auf ornamentale Wendungen oder auf semantische Deutungen abzielt, dann ist die ästhetische Einheit als Aufgabe zu bewältigen. Hier hingegen steht die Fraglosigkeit des Einheitsbildes voran. Die Sinnrichtung nimmt von einer geläuterten Gesamt= 9 0 aus einem alt-arabischen Gedicht, zit. bei H. J. Moser: Musikalischer Zeitenspiegel. Stuttgart 1 9 2 2 , S. 22. 9 1 Wilhelm von Humbold; vgl. auchO. Funke: Innere Sprachform (Prager Dt. Studien 1 9 2 4 / 2 5 ) . Reichenberg 1924.

2 . PROPORTIONALITÄT

247

Vorstellung ihren Ausgang. Ihre Verwirklichung liegt in der Gestaltung, welche an die Stelle von Form oder Improvisation tritt. Wo in der Bilder= und Formensphäre Grenzen gezogen sind, da waltet in der Sphäre des Einsseins eine mühelose und übergegensätzliche Bezogenheit und Verflößung. Die holoeidetische Vorstellung unterscheidet nicht Form und Inhalt, nicht Innen und Außen, sie zerspaltet nicht. Vielmehr setzt sie das Innere mit dem Äußeren, die Ursache mit dem Bewirkten gleich. Die mittel= alterliche Formel: tota intus, tota deforis, ganz drinnen, ganz draußen92, kenn= zeichnet das Innesein der Ursache im Bewirkten. Das Ideelle hat eine univer= sale Potenz, die sich in jeder ihr zugehörigen Einzelerscheinung offenbart. Die Überschau löst sich nicht auf, sondern bleibt immer als Ganzes erhalten. Das Ganze wird im künstlerischen Werk so verwirklicht, daß es nicht als räumlich oder teilbar ins Bewußtsein kommt. Die Musikidee und ihr Ausdruck haben kein statisches Sein, sie befinden sich im Werden, sie sind zielend. Die Klänge beleben immer aufs neue ein musikalisches Ausgangs- und Inbild, welches sich nicht in einem Teil der Klangmaterie ausspricht, vielmehr aus der Pro= portionalität erwächst, aus jener Ursache, „welche sich mit den räumlichen Dingen nicht vermischt" 93 . Diese nur zeitlich zu verstehende Gesamtvorstel= lung ist transphänomenal: „sie wäre in sich selbst zerrissen und gespalten, wenn sie mit dem einen Teil überall, mit dem anderen nirgends wäre . . .; vielmehr ist sie ganz überall und nirgends auf dieselbe Weise" 94 . Die holoeidetische musikalische Gesamtbedeutung ist nicht in einer Formel oder in einem Aphorismus einzufangen. Sie drückt sich in der künstlerischen Gesamtgestalt aus. Die Gestaltung sucht weder den Affektausdruck noch die logische Form noch das stoffliche Ornament. Sie kann zwar auf diese aus= strahlen, sucht aber zuerst ihren ästhetischen Eigenwert. Dieser Wert ist trotz seines immateriellen Charakters durchaus verstehbar, womit nicht gesagt ist, daß jederzeit jedermann diese Gesetzlichkeit und diesen inneren Sinn wahr= nimmt. Auf diese Einschränkung weist Eriugena hin, wenn er sagt: „ M a g nun, was an den Tönen die Süße und Schönheit bewirkt, vom Zuhörer verstanden werden oder nicht, es besitzen doch alle diese Töne den inneren Sinn, dem das Verhältnis und die passende Vereinigung der Dinge innewohnen" 94 . Das feststellende Denken heißt Wissen, das sinnerhellende Denken heißt Geist. Unter Geist darf man nicht etwas Absolutes verstehen. Man hat „die 92 angewandt von Nikolaus von Cues, Meister Eckhardt und anderen, zurückgehend auf Plotin. 93 Proklos: Institutio theologica, um 840, Lateinübersetzung um 1 2 7 0 ; zit. bei E. v. Bracken a.a.O. S. 42. 94

E r i u g e n a ; zit. bei Handschin 3 2 5 .

248

VI. GANZHEIT

höchsten Formen von Seele" 95 als Geist bezeichnet, das Geistige also als aus dem Seelischen sich erhebend angesehen. Man kann aber auch die aristotelische Ansicht vertreten, der Geist sei „von außen hereingekommen" 96 . Dieses zwie= fache Vorstellungsbild vom Geiste als ein mit dem Leben gleichlaufendes, sinnvolles Fließen und ein über allen Erscheinungen zugleich gegenwärtiges, Verbindungen schlagendes Ruhen kommt in abgewandelter Form auch im Kunstwerk zur Erscheinung: als Gerichtetheit und Bezogenheit. Daran wird nun anzuknüpfen sein. Auf jeden Fall gehören die genannten Ausdruckssphären dem allgemeinmenschlichen Ausdruckswillen an. Sie lassen erkennen, daß in die unräumliche Zeitvorstellung hinein sich der Widerstreit von seelischem Erleben und geistigem Gestalten fortsetzt und endlich aufhebt. „Nur wo der Geist mit dem Seelenhaften sich auseinandersetzt, da ist auch Kultur und Stil" 9 7 . So gewährt unsere Darstellung zugleich einen neuen Aus= blick auf die Kultur= und Stillage der Musik. Die Weite des abendländischen Denkens gestattet Lebensmöglichkeit und Beheimatung von Vorstellungs= bezirken, deren brennende Notwendigkeit heute selten jemand wahrhaben will. Der Hinweis auf intentionale Stilmöglichkeiten der Musik schränkt unsere Sicht nicht ein, aber er macht völkische Gemeinsamkeiten fruchtbar, lenkt auf ein kaum ausschöpfbares allgemeinmenschliches Vermögen hin, welches nur deshalb fast totgeschwiegen wurde, weil „seine Feststellung sich wissenschaftlich nicht zu lohnen scheint" 98 . Aber das ist nicht der Fall. Die weniger offen zutage liegenden Verständnismöglichkeiten kommen am Beispiel der Musik ins Licht, seelische und geistige Gaben, welche tief in der Kontinui= tät der Geschichte, der Vergangenheit, der Tradition ruhen. Und „wir werden uns für die Kontinuität entscheiden müssen" 98 , falls wir nicht ganz einer ein= seitigen Technokratie erliegen wollen. Hans Driesch: Grundprobleme der Psychologie. Leipzig 1929 2 , S. 120. Aristoteles: Hauptwerke (ausgew. u. übers, v. W. Nestle). Stuttgart 1941, S. 183. 9 7 Werner Danckert: Stil als Gesinnung (Bärenreiter-Jb. 5). Kassel 1929, S. 29. 9 8 Ewald Jammers: Anfänge der abendländischen Musik. Straßburg 1955, S. 8. 95

96

249 VII CUSANISCHER 1. O R N A M E N T A L E R (DAS

KREIS AUSDRUCK

KÖNNENDE

SEIN)

IMPROVISATION. „Wer jubiliert, sagt keine Worte, sondern der Klang ist gleichsam eine Freude ohne Worte." 1 So sagt Augustinus über den Jubilus, welcher im Gregorianischen Gesänge als eine oft weitgesponnene Auszierung von Gesangssilben, als ein fast improvisierendes Spiel der Stimme üblich war. Und gerade dann, fügt er hinzu, findet die Freude in solchen ungeformten Tonfolgen ihren Widerhall, wenn die Seele sich „in Heiterkeit dehnt und aus= schwingt" 2 . Dabei sind diese Melodien durchaus kein beziehungsloses Tönege= plänkel, vielmehr jubelt das Herz mit der Stimme mit: die Töne stehen, augustinisch gesprochen, nicht jenseits von Gemüt und Einsicht3. Das einfache, spielende Singen ist freudespendend. Es herrscht das natür= liehe Sein, das könnende Sein, innerhalb dessen Region sich der Mensch mit seinen natürlichen Phantasiegaben bestätigt.

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Beispiel 47. J u b i l u s 4

Die Vertonung geschieht hierbei nicht, um den dichterischen Ausdruck musikalisch zu vertiefen, auch nicht, um sich in Gefühle zu ergießen, sondern um die einzelnen Wörter durch Töne zu schmücken. Sei die Musik für einen geistlichen oder einen weltlichen Zweck bestimmt, immer erhält die Sprache das spielerische Klanggewand, „damit sie durch Musik verziert werde" 5 . Das leicht hingesungene oder hingespielte Klangornament hat, eben wegen seiner Leichtigkeit, einen frohen Charakter. Die spielerische Zierkunst ist zunächst und ursprünglich improvisatorisch. Sie ist ohne Absicht und Zweck. Dies tritt auf unmißverständliche Weise bei den Naturvölkern, die nicht durch Einflüsse zivilisierter Gewohnheiten abge= 1

Enarrationes in psalmos 99,4. "animi diffusi laetitia"; ebd. 3 "tonus enim cordis, intellectus est"; ebd. 99,3. 4 aus E. Jammers a.a.O. S. 1 7 (hier nur Oberstimme). 5 "habet hoc, ut ornetur Musica"; Speculum Musicae, um 1 3 5 0 ; zit. bei Großmann: Spec. mus. 65. 2

25°

VII. CUSANISCHER KREIS

lenkt sind, in Erscheinung. Sie geben sich dem spielerischen Musizieren bei allen Gelegenheiten oder auch ohne besondere Gelegenheit hin. „Vielfach ist ihr Gesang — wie bei Kindern — nichts anderes als ein affektloses Spiel mit dem, was die Stimme gewissermaßen von selbst hergibt." 6 Aus dem Trällern der Stimme und aus dem ungezwungenen und zunächst planlosen Handhaben eines Instrumentes (s. Anm. 34) entsteht eine musikalische Improvisations= kunst. Wie auf solch natürliche Weise das Musizieren auf einem Instrument zur Improvisation führt, läßt sich sehr deutlich an der heutigen Musikkunst der Völker Indonesiens und Ozeaniens sehen. Hier ist unter anderem die Nasen= flöte in Gebrauch, ein etwa 30 cm langes Blasinstrument mit 4 oder 5 Griff= löchern. Auf ihr wird ein weicher und lieblicher Ton hervorgerufen, der durch die Finger, die „aufs Geratewohl über die Grifflöcher gleiten" 7 , improvisierend und spielerisch verändert wird. Ähnliches geschieht in der arabischen Musik auf dem Kanun. Zum Beispiel wächst aus dem schweifenden, präludierenden Spiel heraus eine Form, die den Namen Taksim trägt. Diese verdankt ihr jeweiliges Entstehen einem „vorbereitenden Präludieren und Erproben des Instrumentes", woraus dann „je nach Erfindungsgeist des Künstlers eine mehr oder minder abwechselungsvoll improvisierte freie Form" 8 entsteht.

Beispiel 48 9

Schon das Wort: ein Instrument „spielen", sagt aus, daß hier die Musik wie ein Spiel betrieben wird. Auch in anderen Sprachen 10 machen die ent= sprechenden Wörter deutlich, daß Musik da ist oder da sein kann, die nicht mit Gefühlsgehalt oder mit gedanklicher Tiefe erfüllt sein muß. Der Übergang von der spielerischen zur künstlerischen Improvisation vollzieht sich dabei unmerklich. Wieviele völkische Musiziergewohnheiten auch möglicherweise hier einfließen, immer erhält die improvisierte Musik ihr Leben aus derselben 6 Robert Lachmann: Die Musik der außereuropäischen Natur- und Kulturvölker (HdMw.), S. 16. 7 Hermann Melville: Taipi (übers, a. d. Engl.). Düsseldorf 1950, S. 300. 8 Alfred Berner: Studien zur arabischen Musik (Schriftenreihe d. Staatl. Inst, f. dt. Musikforschg. Bd. 2). Leipzig 1937, S. 42. 9 bei A. Berner a.a.O. S. 75. 1 0 französ. "jouer", span. "toccar", engl, "to play", holl. "speien", norw. "spille", Ii. .. n russ. lpratj .

1 . ORNAMENTALER AUSDRUCK

251

Quelle, aus der klanglich unbeschwerten Äußerung. Denn weder Gedanke noch Gefühl werden in der spielerischen Ausdruckssphäre gesucht oder betont oder verfeinert, sie sind vielmehr etwas Selbstverständliches. Jedes naive Musizieren ist frei von der Absicht, Gedanken oder Gefühle zu formen. Es geht nicht um das Erreichen eines bestimmten ästhetischen Zieles. Weder Stimmung noch Formung geben den Anstoß, und doch spielen beide mit hinein. Zunächst sind die klanglichen Elemente da, bar jedes Planes und jedes individuellen Ausdruckswillens. Nichts ist auf ein ästhetisches Ziel hin angelegt. Alles, was erklingt, ist ohne spezielle Klangbedeutung, ohne tie= fere Zusammenhangsbedeutung. Die einfachen Bewegungen der Töne sind es, die, eine einfache Bewegtheit der Seele widerspiegelnd, den Eindruck reiner Gelöstheit hervorrufen. „So mag verständlich werden, daß das Spiel zugleich eine kindliche und eine höchst vollkommene Form der Bewegung ist." 1 1 Die Frage nach der künstlerischen Vollkommenheit taucht hier auf. Sie wird durch das Ineinanderdringen von dem Spielwillen und den gespielten Klängen beantwortet. Einmal wird das Dasein der Elemente bestätigt, indem man mit ihnen spielt. Dabei gibt die Daseinsfreude, die Freude am könnenden Sein, als seelische Grundstimmung dem Spielausdruck seinen ästhetischen Grund und seinen Schönheitswert. Zum andern zeigt sich, daß nicht nur der Spielausdruck auf die elementaren Klänge gerichtet ist, sondern auch, „daß etwas mit dem Spieler spielt" 12 . So entsteht ein ästhetischer Wert, der schon bei einfachen musikalischen Äußerungen beginnt und sich zu Formen weit= verzweigter und vielverschlungener Bewegtheit steigert. Zu den einfachsten Formen, die sowohl völlig zwanglos hervortreten als auch den Anschluß an ausdrucksreiche Melodik erkennen lassen, gehört der älplerische Jodler. Einige Tonschritte, deren Intervallstilistik die geschichtliche Herkunft verrät, geben das Melodiegerüst. Damit wird der momentane Einfall zum Klingen gebracht. Es ist ein Spiel mit dem Singen und durch das Singen 13 .

Beispiel 49 11

Bruno Snell: D e r A u f b a u der Sprache. H a m b u r g 1 9 5 2 , S. 3 5 .

12

Frederik B u y t e n d y k : W e s e n und Sinn des Spiels. Berlin 1 9 3 4 , S. 1 1 7 .

13 D i e folgenden Beispiele bei Josef Pommer: Jodler und Juchzer. W i e n 1 9 0 1 , S. 269, 3 5 6 , 2 0 2 , 3 1 8 u. 106.

V I I . CUSANISCHER

KREIS

Noch vor der Schwelle zum melodiebestrebten Jodler steht der Juchzer. Er vollführt den Schritt vom musiklosen Ruf zum rhythmischen und musika= lischen Jodler. Dennoch ist er mehr als ein Zuruf von Alp zu Alpe, er ist ein „Jubellaut, den nur der ungebundenste Frohsinn und das Bewußtsein der vollen Freiheit hervorbringt" 14 .

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-

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ju

-

hu - hu

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hu

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ju-ju-ju

Beispiel 50

Zu diesen urtümlichen, gesungenen Rufen gehören auch die „Joigos" in Finnland und die Hirtenrufe im Sudetenland 15 .

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jo - ho - lo

ho - lo

ru - te

Hohn

(roter Hahn)

Beispiel 51

Ähnliche gibt es in der Schweiz, in Schottland, in Mähren 1 6 : ¿N

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Beispiel 52

Von den Jodelgesängen werden die schönsten im Gedächtnis behalten. Sie werden in ihrer ursprungsechten und besonderen Singweise überliefert. Sie alle sind Zeugnisse einer „naturgebundenen Spielfreudigkeit" 17 , oft zu einer schönen musikalischen Gelungenheit hinfindend und Ansätze zur Formbildung zeigend. 14 15

Anton Werle: Almrausch. Graz 1884, S. 480. Werner Danckert: Alte Hirtenrufe (Ztschr. f. völk. Musikerziehg.). Dez. 1940,

S. 297.

ebd. S. 298. Wolf gang Sichardt: Der alpenländische Jodler und der Ursprung des Jodeins (Schriften z. Volksliedkunde u. völkerkundl. Musikwiss. Bd. 2). Berlin 1 9 3 9 , S. 1 5 8 (s. Anm. 35). 16 17

1.

ORNAMENTALER

253

AUSDRUCK

2. - t r t f - H

My /1 r 1 ai - dui - ri

ridl - idi - ä

ridl

-

idi - äi

usw.

Beispiel 5 3 a. Jodler aus Aussee

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21

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Beispiel 53 b. Jodler aus M u o t a t a l 1 8

Manche Jodler werden auch zweistimmig improvisiert. Man darf ver= muten 19 , daß auch solch ein Ineinandergehen sich kreuzender Stimmen weit in die Geschichte zurückreicht.

Beispiel 54

Von diesen musikalisch schon reichhaltigeren Jodlern aus ist es nur ein kleiner Schritt zum Jodler=Lied, in welchem die ursprüngliche JodIerimprovisi= tation zu einem Teil der Liedform geworden ist. Im Jodeln zeigen Sänger und Sängerinnen nicht nur die Behendigkeit ihres stimmlichen Könnens, sie sprudeln auch in der freien Luft die Daseinsfreude ihres Herzens heraus. Hierbei kommt ihnen teils die Bekanntheit überlieferter Jodler zustatten, teils entströmen ihnen neue, klingende „Erfindungen des Augenblicks" 20 . Diese Art des Musizierens ist an keinen Ort gebunden. Die Jodler sind Stegreifgesänge, welche „aus der Alpe, in Wald und Feld, im 1 8 Wolfgang Sichardt: Der alpenländische Jodler und der Ursprung des Jodeins (Schriften zur Volksliedkunde u. völkerkundl. Musikwiss. Bd. 2). Berlin 1939, S.14. 1 9 vgl. Sichardt a.a.O. S. 26 f. 2 0 H. Szadrowsky: Nationaler Gesang der Alpenbewohner; zit. bei Sichardt a.a.O. S. 7.

254

VII. CUSANISCHER KREIS

Stalle, im Wirtshaus, auf dem Tanzboden, bei Kirchweih= und Hochzeitsfesten frei gesungen werden" 21 .

Das improvisierende Singen und Spielen lehnt sich also oft an schon Ge= hörtes an. Das kann bei der Ungesuchtheit dieser Form nicht verwundern. Jedoch ist es nicht die Nachahmung, welche den Hauptanreiz abgibt. Vielmehr sucht die musikalische Improvisation ihre höchst eigene Technik auszubilden und eine Geschicklichkeit des Könnens zu pflegen, die von den Zuhörern be= wundert werden soll. Sie steigert gern das naive Spiel zum virtuosen Spiel. Beim virtuosen Musizieren dringen in die Improvisation neue Zutaten ein. Sie sucht nach weiterer Ausdehnung und bedient sich dabei, mehr oder weni= ger, der Form. Ja sie muß die Form um so mehr bevorzugen, je mehr ihr an der Wiederholbarkeit bestimmter Wendungen gelegen ist. Virtuosität zeigt sich deshalb in solcher Musizierweise, die an Hand eines wenn auch einfachen Formgefüges der höchsten Beweglichkeit und Geschicklichkeit Raum läßt. Die Naturwirkung, die vom elementaren Klangereignis ausgeht, ist hierbei immer noch größer als die Gefühlswirkung, obwohl diese nicht zu fehlen braucht. Ja es zeigt sich schließlich als feinste Möglichkeit eine Improvisationsweise, in welcher seelische Empfindung und geistige Führung mitklingen: noch immer musikalisches Spiel, aber der Baustoff der Klänge, rückwirkend auf den Spie= ler, regt neue Empfindungen an. So wird ein künstlerisches Ergebnis erwirkt, bei dem „der Stoff sich zur Form veredelt" 22 . Das freie ästhetische Spiel, aus der Freude am Spiel geboren, vermag eine anmutige Bewegtheit darzustellen; denn „Anmut ist eine bewegliche Schönheit" 22 . So kann sich das Improvisieren zu Schönheit und Anmut entfalten. Es können auch Gefühle und Absichten, die im improvisierenden Künstler noch 21 22

Werle a.a.O. S. 480. Schiller: Über Anmut und Würde. 1793.

1 . ORNAMENTALER AUSDRUCK

255

schlummern, sich lösen und bewußt werden. Der Übergang vom Spiel zum Gefühls= oder Gedankenausdruck steht bevor. Der Improvisierende kann sein Spiel geradezu als Vorbereitung auf weiteres Anregen der Gefühlswelt ver= werten. Es mag ihm dabei so ergehen, wie es schon mancher Redner an sich erlebte, der, „da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde; aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen und der daraus resultierenden Erregung seines Gemütes schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu wagen" 2 3 . Das Musizieren auf gut Glück, das Hinspielen auf zu erwartende Klangein= fälle, das noch immer absichtslose Anlegen eines Weges, der vielleicht gar nicht zu einem Endziel führen soll, das ist der ungetrübte Selbstzweck in der Impro= visation, die ohne bewußte Vorlagen zu Werke geht. Das natürliche Spiel hat deshalb seine eigene Sphäre und seine eigenen Gesetze. Das materielle Sein der Töne und der natürliche Vorgang der Bewe= gung wird durch einfachste Verbindungen und Verhältnisse zum Ausdruck gebracht. Zur Übersicht über solche Verbindungen dient ein ebenfalls ein= faches Mittel: die Zahl.

ZAHL. Weil alles Schiefe und Häßliche im Spiele störend wirkt, wird das Gleichmaß bewußt oder unbewußt gesucht. Die leichtverständliche Gesetz= mäßigkeit beruht auf dem Wesen der einfachen Zahlen. Die einfache Zahl wird dabei nicht als rechnerischer Wert eingesetzt, es wird mit ihr nicht konstruiert, sondern ihre Existenz genügt zur Herstellung einer ersten Ordnung.

Daß die Ordnung, auch in ästhetischer Hinsicht, aus der Anwendung ein= facher Zahlen hervorgeht, erschien den alten Völkern als etwas Geheimnis^ volles. Die Existenz der Zahl war unergründlich; die Zahl selber darum heilig. Für den heutigen Menschen hat die einfache Zahl nichts Geheimnisvolles an sich; dennoch bekundet er gern den Glauben, Musik und Mathematik hätten etwas Gemeinsames. Er entnimmt diesen Glauben seinem Formwissen, welches ein Zahlenwissen ist. Er bringt deshalb die Musik, schon wegen seiner moder= nen Erfahrungen in der Akustik, auch in Anlehnung an manche Überlieferung, mit der Zahl in Verbindung. Bei den alten Kulturvölkern wurde aber die Zahl allein ihres Geheimnisses wegen in die Musik hineingetragen. In das Spiel mit den Tönen wurde durch heilige Zahlen eine heilige Ordnung hineingebracht. Urzahlen und Urmusik sind nicht voneinander zu trennen. 23 Heinrich von Kleist: Ü b e r die allmähliche Verfertigung der G e d a n k e n beim Reden. 1 8 0 8 .

256

VII. CUSANISCHER KREIS

Die Musik ist eine Einheit von Himmel und Erde, so heißt es in dem alt= chinesischen Weisheitsbuche Yo=ki24. Damit ist eine Zwei=Einheit, die auch in Licht und Finsternis, Leben und Tod wiederkehrt, gegeben. Von daher wird die alt=chinesische Tonarten=Zweiheit abgeleitet: Yang und Yin, als die „zwei Ordner" 25 . Die heilige Himmelszahl Fünf muß gleichfalls der Formgebung der Musik dienen. Aus den Zahlen Zwei und Fünf wird die Zweimalfünf=Lü=Skala gebildet. Eine dritte Zahl, die in der alt=chinesischen Musik eine Rolle spielt, ist die Neun, wie Abmessungen an erhaltenen Instrumenten erweisen26. So werden Zahlen, die von kosmologischen Anschauungen und Lehren herrühren, auf die Musik angewandt. Eine Ordnung mit Hilfe einfacher Zahlen heiligt das Spiel mit den Tönen. Ähnliches geschah in der alt=jüdischen Musik. Das Buch Jezirah, während des 7. und 8. Jahrhunderts v. Chr. entstanden, enthält heilige musikalische Zahlensysteme. Es gab zehn Tonzeichen als Ergebnis von zwei mal fünf. Die Formgebung, die mit liturgischen Bräuchen übereinstimmen mußte, wurde in mysteriöse Sprüche gehüllt. „Zehn Zahlen außer dem etwaslosen Was, die Zahl von zehn Fingern, fünf gegenüber fünfen, und der Bund des Einigen in der Mitte." 27 So ging die Art der Musikausübung Hand in Hand mit Zahlen= bräuchen bei der Ausübung der Religion. In der Musik des alten Griechenlands spielen die Zahlen Zwei und Zehn eine formgebende Rolle. „Zwiefach den Bogen spannend ist die Harmonie, die den Pfeil schießt durch die Gegensätze"27, heißt es geheimnisvoll bei Heraklit von Ephesus. Diese Zweiheit und Gegensätzlichkeit wird ergänzt durch eine alte Überlieferung, die von der ästhetischen Zehn=Werte=Formel berichtet. Die Symbolzahl Zehn, mehr als lediglich Gegensätze beherbergend, wird nun sogar als ganzheitlich (to pan) bezeichnet, weil „keine der vollkommenen Verhältnis= zahlen ihr fehle und weil in ihr wie in einem Behälter die Verhältniszahlen alles Bestehenden enthalten seien"28. Einfachste Verhältnisse, nicht als Rechen= ergebnisse, sondern als im Kosmos erkannte Existenzen, geben der Musik einen Sinn. Die alt=indische Musik, die fast nur aus Improvisation bestand, wurde von der Zahl Sieben beherrscht. Es gab sieben Tonarten, welche nach Farben be= nannt wurden. Jede dieser Tonarten bestand wiederum aus sieben Tönen29. 24 vgl. M a r i u s Schneider: Die historischen Grundlagen der musikalischen S y m bolik (Die Musikforschg. H. 2/3). 1 9 5 1 , S. 1 4 2 . 25 H a n s Schümann: Monozentrik. Stuttgart 1 9 2 4 , S. 1 7 . 26 ebd. S. 1 9 . 27 zit. bei H. Schümann a.a.O. S. 3 7 und 4 3 . 28 Schriften des Jamblichos, zit. bei H . Schümann a.a.O. S. 43. 29 E r w i n Felber: Die indische M u s i k der vedischen Zeit (Sitzungsber. d. Kais. A k a d . d. W i s s . Bd. 1 7 0 ) . W i e n 1 9 1 2 , S. 70. Über die sieben Farben s. o. S. 6 1 .

1.

ORNAMENTALER AUSDRUCK

257

Auch in den Zauberliedern des Athardaveda kehrt diese Zahl wieder. So be= ginnt eines: „Der Zeitgott eilt, ein Roß mit sieben Zügeln. Er altert nie und sieht mit tausend Augen . . . Mit sieben Rädern, sieben Naben fährt er" 30 . Bei den Römern, die weniger Schöpfer als Bewahrer von Traditionen waren, galten Musik, Sternkunde und Geometrie als zusammengehörig. Noch bei Vitruvius finden sich musikalisch=kosmologische Verknüpfungen bestätigt. Er schreibt, es seien „den Sternkundigen und den Tonkünstlern die Fragen über die Wechselbeziehungen der Sterne und über die Zusammenstimmun= gen in Quart und Quint gemeinsam" 31 . Wohin man schaut, tut sich bei den alten Völkern das Hineindringen kosmischer Bedeutungen in die Musik (s. Anm. 36) auf irgendeine Weise kund. Noch um 1 1 0 0 n. Chr. mußte das Anno= lied sieben mal sieben, also 49 Strophen haben, weil aus der Vier, der „Welt= zahl" der Pythagoreer, durch Hinzutreten der heiligen Dreizahl der Christen sich eine Sieben gebildet hatte. Das Symbol der Zahl belebte und formte die einfachste Musik. Es diente einmal der praktischen Handhabung der Instrumente, indem es die Verfüg= barkeit der Töne ordnete. Es erwies sich außerdem als ersten formalen Anhalt, wobei die heilige Grundbedeutung der Maß V e r h ä l t n i s s e jederzeit fühlbar und hindurchscheinend blieb. Im 10. Jahrhundert wurde in der arabischen Musik die fünfsaitige Laute durch die viersaitige ersetzt, weil deren Saitenstimmung für genaue kosmo= logische Beziehungen als geeigneter angesehen wurde32. Man ist im Zweifel, ob hier die Zahl noch als Symbol oder lediglich als Analogie einbezogen wurde. Denn das ursprüngliche Gefühl für die selbstverständliche Zahlenheiligkeit begann doch allmählich zu versickern. Zwar blieb die Zahl als Formanre= gung der Musik erhalten, aber ihr ästhetischer Einfluß veränderte sich. Wo ursprünglich die Einheit von Zahl und Ordnung bestand, da nimmt in der Folgezeit die Einheit von Zahl und Klang den Platz ein. Wo eine mysteriöse Ästhetik sich unter dem naiven Klangspiel fast verhüllte, da erhebt eine mathematische Ästhetik ihren bewußten Herrscheranspruch. Aus bedeutungsvoller Ordnung wird berechneter Klang. Die anschauliche Symmetrie, die uns noch in primitiver Musik begegnet, ist durchaus „kein geplantes Schema"33. Die bewußte Symmetrie, die aus der Zahlenordnung eine Analogie für die Musik gewinnt, dient der späteren Musik als beabsich= 30

zit. bei H.

v. G l a s e n a p p :

Die

Literaturen Indiens. Hdb. d.

Literaturwiss.

S. 6 1 . 31 D e architectura, u m 1 5 v. C h r . ; zit. bei G . F. H a r t l a u b : Fragen an die Kunst. Stuttgart 1 9 5 0 , S. 99. 32 vgl. A . Berner a.a.O. S. 1 8 . 33 R. Lachmann a.a.O. S. 8.

17 Musica Panhumana

258

VII.

CUSANISCHER

KREIS

tigte Hilfe zur geplanten Form. Das Sterben des Symbolgefühls kündigt sich an, mit ihm das Hinwelken eines unbefangenen, aber erfüllenden Spiel= und Musizierdranges. Trotzdem, noch immer kann die Zahl, auch ohne Symbolwert, als klang= und formordnend dem Musizierenden wertvoll sein. In der Sphäre des musi= kaiischen Spieles und Spielens bietet sie einfachste Abmessungen und Begren= zungen. Sie ordnet das Gewirr der Töne. Die Freude an der ästhetischen Form ist dabei identisch mit der Freude an den vielfältigen Klängen. Die ursprüngliche Einheit von Zahl und Ordnung lenkt das Spiel. Anders steht es mit der Einheit von Zahl und Klang. Sie ist ein erst spät in die Ästhetik eintretendes Prinzip. Zurückgehend auf die akustischen Ent= deckungen des Pythagoras, gelangt die Zahl=Klang=Einheit erst gegen Ende des Mittelalters zur Herrschaft. Sie ist ganz und gar mathematisch. In der Tat kann bei regelrechten Beobachtungen an Klang= und Obertonverhältnissen allein die Rechenkunst dienen. Die Zahl beginnt jedoch, auch ästhetische Rechte innerhalb der Musik anzumelden und auszudehnen. Diese Rechte decken sich nicht mit der alten Symbolordnung. Sie begründen eine neue Form= Ordnung. Dieser Ubergang verursachte einen Bruch in der Musikästhetik. Denn die akustischen Tatbestände sind ebenso ausschließlich Angelegenheit der Physik, wie der musikalische Klang eine Angelegenheit des musikalischen Empfindens ist, und dieses fordert keine Maßzahlen. Obwohl das Musikhören ein unräum= licher Vorgang ist, gelangten die Grundsätze der raumgebundenen Frequenz= rechnung aus der Akustik in die Musiktheorie, in die Lehre von Klang und Harmonik, und halfen die Meinung bestärken, Musik sei überhaupt ein klin= gendes Zahlenverhältnis. Die Aufgabe, die von alters her der Zahl in der Musik zufällt, besteht darin, eine unmittelbare, nicht eine mittelbare, eine anschauliche, nicht eine begriff= liehe Ordnung herzustellen. Wenn vor Tausenden von Jahren ein Flötenbläser sein Instrument so herstellt, daß er mit Hilfe der Zahl Neun Länge, Bohrung und Grifflochabstände findet, so hat er aus anschaulicher Vorstellung heraus sich die Voraussetzung für sein Musizieren geschaffen. Mit dem fertigen Instrument kann sein von Berechnungen unbeschwertes Spiel beginnen. Die einfache Zahl entspricht der einfachen Anschauung; die Zahlenrechnung hin= gegen, die den Verstand bemüht, wohnt im Reich der rationalen Denkübung. ORNAMENT. Die Anschaulichkeit des absichtslosen Spiels läßt die unan= gespannten Töneverbindungen noch als etwas anderes erleben: als Klang= schmuck. Der Spielende ist dabei einem gegenständlichen Bildner gleich, er

1.

ORNAMENTALER

AUSDRUCK

259

„arbeitet für den äußeren Sinn, der nur durch das Schöne befriedigt wird" 84 . Das schöne Spiel, das weder Maßzahlen aufsucht noch eine eigene Seelenlage improvisatorisch zum Ausdruck bringen will, bedient sich der Töne wie eines klingenden Zierates. Das unmittelbare Sein der Töne wird als Verschönerung der seienden Natur empfunden, als fertige Gabe, als erfreulicher Bestand. Aus diesem Bestand werden klingende Ornamente, Melismen und Arabesken her= ausgeformt. Das arabeskenartige Tönespiel ist absichtslos und überindividuell. „Die Kunst der Arabeske ist in vollem Umfange anonym." 35 Die Klangelemente, die sich im Spiel zusammenfinden, verlieren den Bezug auf den Einzelnen und auf etwas Besonderes. Sie geben weder einen subjektiven oder flüchtigen Gefühlsausdruck wieder noch umhüllen sie oder bedeuten sie etwas bestimmt Gemeintes. Sie sind nicht Symbol, sondern „ornamentale Meditation" 36 . Ihr Grundzug ist heitere Leichtigkeit und ohne logischen Aufwand gefundene Fügsamkeit. Das tönende Material ist, so geformt, mehr als Material: es bringt zwar keine individuelle Haltung zum Ausdruck, aber es hat als Form einen Sinn. Der arabesk geformte Tonstoff ist beseelt, die sinnlichen Erscheinungen er= halten Leben durch die Phantasie des Menschen, denn ihm darf sich, will er Schönes gestalten, „nie die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen" 37 . Der Sinn liegt hier in der reinen Darbietung und Beibehaltung einer unbeschwerten und in keine besondere Richtung gelenkten Seelen= und Geisteslage. Das Hinlenken in eine besondere Stimmung oder musikalische Gestaltung ist zwar jederzeit möglich, aber der vorherrschende spielerische Ausdruck ist „Fröhlichkeit, leichter Sinn und Lust zum Schmuck" 38 . Die Musik, die spielt und schmückt, ist ornamental. Es gibt in primitiven Kunstwerken der Malerei geometrische Ornamente, abstrakte Formen, welche nicht symbolisieren, sondern eine Oberfläche auf einfachste Weise beleben. Sie enthalten genug Leben und genug Sinn, um die Aufmerksamkeit des Be= trachters zu wecken. So treibt auch das musikalische Ornament sein Spiel mit einfachen Abständen, Wiederholungen und Entsprechungen. Der ästhetische Eindruck, der dadurch vermittelt wird, ist „immer fröhlich, immer rein, immer ruhig" 39 . Die Reinheit abstrahiert jedes Verweben, ja jedes Schwanken von Ge= fühlen. Was zum Ausdruck kommt, ist atmende Bewegtheit einfacher Vor= Stellungen. 34 35 36 37 38 39

17«

Goethe: Dichtung und Wahrheit. 1 8 1 1 . Ernst Kühnel: Die Arabeske. Wiesbaden 1949, S. 12. ebd. S. 5. Schiller: Über Anmut und Würde. 1793. Goethe: Von Arabesken. 1788. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. 1795.

26o

VII. CUSANISCHER KREIS

7

W

jqjjzj 11

'

Beispiel 56. Buxtehude: Präludium f ü r Orgel

Der anmutig bewegte Charakter kann sich bestimmten Musikformen mit= teilen. Ein Beispiel dafür ist die spätmittelalterliche Motette, in der sich über den Tenor zwei oder drei Oberstimmen ornamental durcheinanderschlingen. In dem „Flechtwerk"40 dieser Musik ist das Umeinanderranken der Stimmen Selbstzweck. Die Bewegung der Töne ist eine spielerische und räumlich faß= bare. Insofern ist der Vergleich mit dem zeichnerischen Ornament möglich. Anderseits kommen die elementaren Bewegungen aus einer Bewegtheit her= aus, die nicht räumlicher, sondern seelischer, schmuckfreudiger Natur ist. Hier, in der Motette, kommen bemerkenswerterweise auch ornamentale Improvisa= tionen hinzutretender Stimmen vor. Kleinste Ornamente in der Musik sind bekannt. Sie finden sich zur Ver= zierung einzelner Melodietöne: Pralltriller, Mordent, Doppelschlag, Schleifer und dergleichen. Sie waren in der Zeit des galanten Stils als „Manieren" be= sonders beliebt. Doch sind solche kleinen und einzelnen Schmuckfloskeln nicht Ergebnisse eines editen ornamentalen Denkens und Formens; sie lassen fast durchweg ihre modische Entstehung erkennen. Erstarrte Zierformeln hemmen eher das selbständige Formen, als daß sie es fördern. Anders verhält es sich mit der Melismatik. Im engeren Sinne ist zwischen Ornament und Melisma in der Musik zu unterscheiden41. Das Melisma gehört als Substanz zum melodischen Gedanken, den es ins Spielerische wendet, un= abtrennbar, ein organischer Bestandteil. Das Ornament heftet sich als Hinzu= fügung an einen elementaren Klangteil und ist von diesem wieder abtrennbar. Schon in der einfachen Liedmelodik läßt sich diese Verschiedenheit erkennen. 40

M a r i u s Schneider: Die A r s n o v a des 1 4 .

Jahrhunderts. Wolfenbüttel o. J.

S . 78. 41

vgl. G u i d o A d l e r : D e r Stil in der M u s i k . Leipzig 1 9 2 9 2 , S. 1 1 0 .

1.

ORNAMENTALER

2Ó1

AUSDRUCK

mi - ra no

-

Beispiel 57 a. Melisma in dem Marienlied „Beata viscera"42

la te - le

ra,

la te - le-ra y la cha-be - ta

Beispiel 57 b. Ornament in dem spanischen Volkslied „La telera" 4 3

Das Melisma als Ausdruck spielerischen Schmucktriebes ist organisch und deshalb besonders schön. Im allgemeinen hält sich die Kunst der musikalischen Arabeske im weitesten Sinne an die organische Fortführung des Einfalls, ja sie ist eigentlich mit dem Einfall identisch, womit das ornamentierende Singen oder Spielen allgemein sich als ursprüngliche Stegreifkunst zu erkennen gibt. Auch das aufgeschriebene Tonwerk dieser Art bleibt dieser organischen Spiel= herkunft treu. Durch seine anschauliche, nicht errechnete Ausgewogenheit gleicht es den Ebenmaßformen der Natur, dem Wellenschlag, dem Tannenreis, dem Eiskristall (s. Anm. 37). Aber indem das Ornament die Naturformen ab= strahiert und sie in den ästhetischen Ausdruck hinüberträgt, gibt das Kunst= werk nicht die Realität der Dinge, nicht bloß den Klang als akustische Erscheinung wieder, sondern die Bewegtheit des Klanges als menschliche Leistung. Auch das Musikverstehen des Hörers bleibt nicht im einfachen Hinnehmen beruhen; es wird aktiv, es belebt die Musikeindrücke, korrespondierend zur Belebtheit des Ornamentes. Die Aktivität des ornamentalen Ausdrucks ist von so allgemeingültiger Mitteilungskraft, daß es wohl kaum eine Musik ohne sie gibt. Aus ihrer selt= sam=einmaligen Ausformung im Gesangstil der Barockoper mit ihren zahl= reichen, oft vorgeschriebenen, oft improvisierten Koloraturen sowie aus der Vielfalt der „Fiorituren" 44 spricht die Freude am bewegten Element, an der freien Klangbelebung, die sich selbst Zweck und Mittel ist. In bestimmten 42 43 44

um 1230; aus G. Adler: Hdb. d. Musikgesch. Berlin 1930, S. 187. aus H. Engel: Musik der Völker und Zeiten. Hannover 1952, S. 22. vgl. Joh. Adam Hiller: Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesang. 1780.

262

VII.

CUSANISCHER

KREIS

Musikepochen ragt dieses aktive, spielhingegebene Melodieformen und Melo= diehören hervor. Zu ihnen gehört die Blütezeit der Virginalmusik und der Lautenkunst in Europa. Selbst größte Intervalle innerhalb der Melodie sind hier ohne Gefühlssymbolik. Die beiden Saiteninstrumente, an sich für zarte Tongebung geschaffen, stellen einen relativ geringen Tonumfang zur Verfü= gung, welcher vom Komponisten mit leichter Hand ornamental geordnet wird. Hinzu tritt die Verzierungsabsicht des Spielers, die auch in diesem Stilkreise eine reine Improvisationskunst auslöst, dem Variieren verwandt. Das heißt, daß auch im Rhythmus und in der Tempowahl größte Freiheit herrschen darf. Frescobaldi empfiehlt wörtlich in dem Vorwort zu seinen Klaviersonaten 45 , man solle die Verzierungen auch da, wo sie ausgeschrieben seien, nicht immer taktgetreu ausführen. Es ist klar geworden, daß im spielerischen Klangbestreben ein eigener Sinn liegt, der durchaus steigerungsfähig ist und zu ästhetischen Hochwerten führen kann. Es wird dann durch Auswahl und Verdichtung der ornamentalen Ge= danken das Melos gehaltvoller, ohne seinen eigentümlichen, unberührten Schwebezustand aufzugeben. Wie weit diese Verdichtung gehen kann, ohne den heiter=schwebenden Ausdruck zu zerstören, wie nahe das ornamentale Empfinden an die geistig=intentionale Sphäre heranzurücken vermag, zeigen viele Weisen der gregorianischen Melodik. Hier taucht jeglicher individuelle Symbolausdruck völlig in dem Spielausdruck ein. Die freieste melismatische Erweiterung alter Hymnen läßt das Zusammenschwingen heiterer Klangorna^ mentik und andächtiger Empfindungen zu höchster Kunst gedeihen. Immer bleibt die naive Anmut und die mühelos=anschauliche Form ge= wahrt. Diese Ausdruckssphäre, in der, nach einer Kennzeichnung Schillers, „das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet"* 6 , strebt nicht die Wiedergabe einer spezifischen Empfindung oder Vorstellung an. Statt dessen aber bleibt sie jeder gedanklichen Vertiefung offen. Der Künstler kann von ihr „einen transzendenten Gebrauch" 47 machen. Auch dann, wenn einfache Empfindungen in sie eindringen, wenn sie, gleich einer rankenreichen Initiale, das noch zu Erklingende und vielleicht Gefühlvollere vorbereitet, bleibt ihr eine gewisse Leichtheit und „Sonnenhöhe" 48 eigen. Der spielerische Einfall will nicht um jeden Preis die Materie überwinden; aber er empfindet sie auch nicht als hemmend. Er läßt sie in ihrem klingenden Sein bestehen, indem er sie zugleich beseelt. 45

Sonaten und Partiten. 1 6 1 4 . Über naive und sentimentalische Dichtung. 1 7 9 5 . 47 ders.: Über A n m u t und Würde. 1 7 9 3 . 48 Schumanns Bezeichunng für Mozartsche Musik; Robert Schumann. Berlin 1 9 4 1 , S. 2 4 1 . 46

zit.

bei W .

Boetticher:

263 2. S E M A N T I S C H E R (DAS WISSENDE

AUSDRUCK SEIN)

SPRECHENDE UND MALENDE MUSIK. Wenn das klingende Material als etwas zu Überwindendes angesehen wird, als Stoff, der nicht ästhetischer Zweck, sondern Mittel ist für einen anderen Zweck, als Element, das sich dienend einem künstlerischen Willen beugen muß, dann ist eine andere Ausdrucks= haltung eingenommen als die spielerische. Es ist die Sphäre des wollenden und wissenden Seins, in der ein bestimmter Wunsch, das Verlangen, etwas Bestimmtes auszusagen, den Künstler erfüllt. Die Musik ist sprechend, hin= weisend, zeichengebend: semantisch. Diese Bestimmtheit und Bewußtheit be= wirkt zweierlei: sie engt die Empfindung ein, stärkt sie aber auch und faßt sie zusammen. Darin liegt die Kraft und zugleich die Gefahr dieser ästhetischen Ausdrucksweise.

Anstelle der anonymen, niemals auf Gegensätzlichkeit ausgehenden Spiel= form tritt hier der individuelle und gegensatzreiche Ausdruck zutage. Der Klang und seine Form erhalten eine Bedeutung, die in tausend und aber= tausend Abschattungen den Hörer anspricht. Die Welt der momentanen Empfindungen sowie auch die Welt der logischen Erwägungen werden Klang. Das Rührende tritt an die Stelle des Gefälligen, das mit Verstand Geformte an die Stelle des selbstverständlichen Seins. Musik tut sich auf als „Wahrtraumdeuterei" 48 , als Traum und Deutung, als Gefühl und Bewußtheit. Der Kontrast von Inhalt und Form entsteht, aber nur, um überwunden zu werden. Die Künstlerindividualität kämpft um die ästhetische Realisierung ihres Ausdrucks. Der Musikhörer hat die Aufgabe, dieser Musik zu folgen: er muß wissen und wollen, ebenso wie der Musik= Schöpfer. In diesem Ebenso liegt die ganze und ewige Problematik des Ver= stehens solcher Musik. Der Hörer darf träumen, aber er muß auch deuten. Es bleibt ihm nicht erspart, die ästhetischen Symbole, die diese Musik ihm darbietet, zu erkennen, soweit sein Verständnis nur irgend zu folgen vermag. Die Musik spricht zu ihm, und er muß ihre Sprache verstehen. Von Josef Haydn stammt das stolze Wort: „Meine Sprache versteht man auf der ganzen Welt" 50 . Es liegt in dieser Behauptung die Voraussetzung ver= borgen, daß die Ausdruckssymbole der Musik jedem und jederzeit verständlich seien. Das ist aber nicht der Fall. Daß Musik eine Weltsprache sei, trifft paradoxerweise gerade dann, wenn man sie mit dem Begriff Sprache identifi= ziert, nicht zu. Alle Musik, die eine sprechende Deutlichkeit anstrebt, entledigt 49 50

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, 3. Akt, 2. Szene. Äußerung zu Mozart gegen Ende 1790, vor der 1. Englandreise.

264

VII.

CUSANISCHER

KREIS

sich um so mehr ihrer natürlichen und naiven Selbstverständlichkeit, je ein= deutiger ihre Gefühls= und Bedeutungsdarstellungen sein wollen. Dennoch hat der Vergleich der kurzen melodischen Wendung oder Klangprägung mit dem gesprochenen Wort in vieler Hinsicht etwas Richtiges. Über die Möglichkeit, Musik und Sprache innerhalb eines bestimmten ästhetischen Ausdrucksbereiches einander gleichzustellen, konnte sich erst eine Epoche klar werden, in welcher die Logik sich selbständig an die Kunstbeur= teilung heranwagte. Bis zum Mittelalter und noch bis zum Ausgang desselben war diese Voraussetzung nicht gegeben. Aber schon in Kirchers Musurgia um 1650 herrscht eine überraschende Klarheit über den logischen Anteil in der Musik und über ihre Gleichstellung mit der Sprache: genau wie die Rede= kunst errege auch die Tonkunst das Gemüt „dank ihres verschiedenartigen und vielerlei Plänen folgenden Zusammenbaus von Perioden und Akzenten" 51 . Und ein Jahrhundert später sind bereits Formulierungen fertig, die der Musik die Fähigkeit zusprechen, der Wortsprache überlegen zu sein. Bei Rousseau lesen wir: „Die Musik ahmt den Tonfall der Sprache nach, . . . ja sie ahmt nicht nur nach, sie redet selbst — und ihre Sprache, wenngleich nicht artikuliert, aber lebendig, glutvoll und leidenschaftlich, hat hundertmal mehr Energie als das bloße Wort" 52 . Dieser Umschwung in der Ästhetik ist außergewöhnlich. Er ging verhält= nismäßig schnell vonstatten. Die erste Vorbereitung der Ansicht, Musik könne in ihren Teilen und Formen ähnlich wie die Sprache beurteilt und behandelt werden, bahnte sich in der nachhumanistischen Generation an. Ein Musik= traktat dieser Zeit53 handelt davon, daß die Rede ihre Teile habe mit Perioden, Schlußwendungen, Gliedern, Wörtern, Artikeln und dergleichen; genauso sei es bei der Musik. Die weitere Ausarbeitung dieser Gedanken folgte bald. Sie wurde in die Praxis umgesetzt von den ersten Opernkomponisten. Caccini bekennt sich zu dem Vorsatz, „eine Musik einzuführen, in der man gleichsam musikalisch sprechen könne" 54 . Die neuen Ergebnisse dieser Ästhetik liegen dann als beispielhafte Errungenschaft in dem Rezitativstil vor. Auch auf die anderen Formen der Musik dehnt sich das Bestreben aus, die sprachanaloge Ausdrucksweise in Anwendung zu bringen. Der Ton ist ein= deutig Mittel zum Zweck. Die Logik stellt Gesetze der Entsprechungen von 51

H. H.

" p r o v a r i o periodorum c o n t e x t u t o n o r u m q u e

diversa

d i s p o s i t i o n e " ; zit.

U n g e r : D i e B e z i e h u n g e n zwischen M u s i k u n d R h e t o r i k

im 1 6 — 1 8 .

bei

Jahrh.,

W ü r z b u r g 1 9 4 1 , S. 31. 52

Essai sur l'origine des langues. 1 7 5 4 .

53

G a l l u s D r e ß l e r : Praecepta M u s i c a e poeticae, M a g d e b u r g 1 5 6 3 ; zit. b e i

H.H.

U n g e r a . a . O . S. 31. 54

V o r r e d e z u den " N u o v e M u s i c h e " , 1 6 0 1 ; zit. bei H. H. U n g e r a . a . O . S. 1 2 3 .

2 . SEMANTISCHER AUSDRUCK

265

musikalischen und sprachlichen Konstruktionen auf, sie gliedert, unterteilt und trennt. Das Prinzip dieser Zeit heißt „velut oratio ita cantilena" und findet hundertfältige Auslegung, wobei das Trennende und Unterteilende mehr und mehr ins Gewicht fällt. So findet sich bei Corvinus die nüchterne Feststellung, die Musik werde genau wie der Sprechsatz „in gewisse Teile gleichsam zer= schnitten" 55 . Dieses Zerschneidungsprinzip treibt den Stil der Musik auf eine distributiv=ästhetische Bahn, die endlich bei Mattheson als eine „Lehre von den Incisionen" 58 Allgemeingültigkeit beansprucht. Die Matthesonsche Incisionenlehre, welche „von den Ab= und Einschnitten der Klang=Rede"57 handelt, ist Freigabe und Regelung eines neuen Musik= weges. Die sprachlichen Parallelen zur Musik können von einem Komponisten nunmehr nicht allein für wortentsprechende Figuren, sondern auch für den Bau der ganzen Form, „zumahl bey der allgemeinen Einrichtung seines Wercks" 58 , nutzbar gemacht werden. Eine unmittelbare Textvorlage, wie bei einer Ver= tonung, ist hierfür nicht nötig. Auch die reine Instrumentalmusik gehorcht den Ausdrucks= und Formgesetzen der Rede, „so daß die Instrumente mittels des Klanges gleichsam einen redenden und verständlichen Vortrag machen" 58 . Unter Bezug auf die Sprache wird nun musikalischer Ausdruck in syntaktische Form gebracht. Und schon hält die Feder des Historikers das erreichte Ergebnis fest, das gesicherte Prinzip: „Die Vorschrift zur Verbindung einzelner Töne und Akkorde zu einzelnen Sätzen sind in der musikalischen Grammatik ent= halten sowie die Vorschriften zur Verbindung mehrerer Sätze in der musi= kaiischen Rhetorik" 59 . Alles, was in der Musik an Ausdruck und Form vorhanden ist, soll mit größtmöglicher Deutlichkeit versehen werden. Die rationale Bewußtheit des Komponisten, der die Musik als „Klang=Rede" formt, wendet sich an das ratio= nale Begriffsvermögen des Hörers, der aus der Musik gleichsam einen „Text oder Unterwurf" 80 herauszulesen hat. So folgt die Musik den „Regeln der Ord= nung und Einrichtung der Gedanken" 61 genau wie die Sprache. Wie in den Wortfolgen „ein Hauptsatz, unterstützende Nebensätze, Zergliederungen des Hauptsatzes, Widerlegungen, Zweifel, Beweise und Bekräftigungen" 81 statt= 55 " i n partes quasdam quasi s e c a t u r " ; Michael C o r v i n u s : Heptachordum D a n i cum, 1 6 4 6 ; zit bei H. H. U n g e r a.a.O. S. 48. 06 Johann Mattheson: D e r vollkommene Capellmeister, 1 7 3 9 ; zit. bei H . H . U n g e r a.a.O. S. 5 5 . 57 ebd.; zit S. 5 3 . 58 ebd.; zit. S. 4 3 . 59 Joh. N i k . Forkel: Allgemeine Geschichte der M u s i k . Göttingen 1 7 8 8 ; zit. ebd. S. 47. 60 Mattheson, I . e . ; zit. ebd. S. 42. 81 Forkel, 1. c.; zit. ebd. S. 57.

266

VII.

CUSANISCHER

KREIS

haben, so sollen Formteile im Ausdruck der Musik hervortreten. „Diese Ord= nung und Folge der einzelnen Teile heißt die ästhetische Anordnung der Gedanken" 61 . Quantz erwartet folgerichtigerweise vom Komponisten, welcher zugleich „ein Redner und ein Musicus" sein müsse, dieselbe logische Klarheit wie vom Zuhörer: „Es ist vor beyde ein Vortheil, wenn einer von den Pflichten des anderen einige Erkenntnis hat" 62 . Auf derselben Ebene rationaler Erkenntnis bewegt sich die Musik, wenn sie die Aufgabe erhält, eine Farbe oder eine Bewegung wiederzugeben. Das Herauslösen der Musik aus ihrer ästhetischen Eigenwelt, das Umkehren der ästhetischen Mittel in ästhetische Zwecke kann auch hier nur einem logisch vorgehenden Verstände gelingen. Dieses Eindeutigkeitsstreben in der Musik, nunmehr das Bild als festen Anhalt setzend, war ebenfalls ein Anliegen der nachhumanistischen Zeit. Die bildhafte Musik, die irgendwelche Geschehnisse oder Situationen nach= zeichnet, tritt um 1600 auf den Plan. Monteverdi betitelt eine weltliche Kantate „Kampf zwischen Tankred und Clorinda" 63 . Er weiß hierbei den „tränenvollen Abschied der Liebenden" 64 , Wellengeflüster und Naturszenen tönend zu schil= dem. Es kommt die Instrumentalkanzone auf: die völlig instrumentale Ver= selbständigung der „musikdramatischen Vorgangsillustration" 65 , wie sie, an= fangs noch mit Hilfe des Wortes, das Madrigal seit etwa zwei Generationen gepflegt hatte. Immer folgenstrenger werden die Formgesetze des Malens auf die Musik übertragen und mehr und mehr zum Kompositionsprinzip erhoben. Wenn Gluck von der musikalischen Kunst fordert, sie müsse „die Nachahmung der Natur vor Augen haben" 66 , so meint er tatsächlich, daß die Laute und die Anblicke der Natur, Donnergrollen und Bachgeriesel, Gipfel und Schluchten, eine tonmalerische Wiedergabe erfahren müßten. Die Werke werden, mehr oder minder direkt, vom semantischen Ausdruck her angelegt und durchge= formt. Daß diese Epoche aus der Musikgeschichte Europas hier herausgegriffen wird, geschieht nur beispielhaft. Im Grunde kennt das ursprüngliche Musik= erlebnis durchaus, wie schon dargestellt, den hinweisenden und bedeutungs= bestimmten Ausdruck. Wenn Tschuang=Tse vor zwei Jahrtausenden 67 eine 62 Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung, die Flöte traversiere zu spielen, 1 7 5 2 ; zit. ebd. S. 1 1 5 . 63 in seinen Madrigali guerrieri ed amorosi, um 1630. 64 Hans Engel a.a.O. S. 1 3 3 . 05 Moser: Ästhetik 140. 66 Brief an den Schriftleiter des Mercure de France. 1 7 7 6 . 67 Dichtung und Weisheit, um 300 v. Chr. (Inselbüch.). 1 9 5 4 , S. 47.

2.

SEMANTISCHER

267

AUSDRUCK

Musik schildert, welche „bald voll ertönend, bald leis verhallend, . . . bald klar erklingend, bald dumpf erdröhnend", welche „wie sprudelnde Quellen" und „wie das Rauschen der Wälder" an das Ohr dringt, so meint er musika= lische Malerei, musikalische Schilderung. Wenn in Volksgesängen der Lappen68 die springenden Wasser eines Wildflusses, der einen steilen Berg hinabbraust, in melodischen Intervallen wiedergegeben werden oder ebenfließende Bäche mit ihrem sanften Geriesel im Liedklang erstehen,

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Beispiel 58 a. „Na, der Blesik fließt den steilen Berg hinunter"

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Beispiel 58 b. „An die Bäche beim Lyngenfjord"

dann ist das symbolisch malende Musik. Sprechende, malende, beschreibende Musik nimmt nicht eine bestimmte Werthöhe in der Tonkunst ein. Die Übertragungsweise von nichtmusikalischen Dingen und Vorgängen in die Musik kennt verschiedene Wertgrade im Aus= druck und in der Formung. Versuchen wir kurz, diese Grade hier anzudeuten! Das Zusammensetzen von Tönen nach dem Vorbild eines Geräusches sei der Nullpunkt. Daran schließen sich Tonkombinationen mit einfachsten assozia= tiven Gefühlsmomenten an, wobei Begriffe wie hoch, spitz, dunkel, wellig und dergleichen umschrieben werden. Sie vermitteln ein musikalisches Erlebnis grober Art. Erst das feinere ästhetische Empfinden überwindet die direkte Assoziation und gestattet der musikalischen Auffassung, anstatt sich an ein bestimmte Gefühl oder an eine bestimmte logische Überlegung angefesselt zu fühlen, sich über eine weitere, seelisch=geistige Erlebniswelt auszudehnen. Von Tonmalerei kann dann nur auf Umwegen die Rede sein, weil die räum= liehe Perspektive verschleiert ist zugunsten einer mehr intentionalen Vor= Stellung. Solch eine von der realen und raumgebundenen Vorlage wegstrebenden Übertragungsweise war selbst der rationalistischen Epoche nicht fremd. In 6 8 Werner Danckert: Tonmalerei und Tonsymbolik in der Musik der Lappen (Die Musikforschg. Jg. IX, H.3). 1956, S. 290.

268

VII. CUSANISCHER KREIS

einer Abhandlung „Über die musicalische Mahlerey" 69 wird das Bestreben ausgesprochen, daß auch auf der Basis einer bildhaften Ausdrucksweise nicht die direkte, sondern die ,,transzendenteile Ähnlichkeit" das musikalische Ziel sein müsse. So könne „der weiteste Umfang" in der ästhetischen Wirkung erreicht werden. In einer anderen Schrift 70 jener Zeit wird die Transzendenz der Musik aus der Fähigkeit des Musikers hergeleitet, nicht allein die sich darbietende Natur, so reich sie auch sei, sondern „den in ihren Offenbarungen enthaltenen Sinn" erfassen und erklingen zu lassen. AFFEKT UND TEMPERAMENT IM FORMAUSDRUCK. Immer wieder läßt jede Aus= druckssphäre erkennen, daß sie der intentionalen Durchgestaltung zugängig ist. Verengt sie sich jedoch auf die direkte Wiedergabe außermusikalischer Erscheinungen, so sinkt sie herab auf der Skala des Wertes und des Ver= stehens. Die Sprache, ein fertiges und mit vielen Verstandeskräften erreichtes Ergebnis menschlichen Kulturwillens, eignet sich nicht zum direkten Vergleich mit und in der Musik. Trotzdem fand die nachhumanistische Epoche steigendes Gefallen an der ästhetischen Stellungnahme, die Musik müsse, um richtig ver= standen zu werden, sich eines musikalischen Wortschatzes, analog der Sprache, bedienen. Es störte seltsamerweise kaum, wenn man zugeben mußte, daß die Musik „eine solche Sprache ist, zu welcher nur sehr wenige Zuhörer ein voll= ständiges Wörterbuch besitzen" 71 .

Die Einsicht, daß solche außermusikalischen Parallelen nur transzendenteil sein dürfen, blieb vereinzelt und fand keine Verbreitung. Im Gegenteil, man nahm lieber die Einschränkung, daß nur wenige Zuhörer den Schlüssel zum Verstehen besitzen, in Kauf, als auf die logisch genaue Anknüpfung an außer= musikalische Ausdrucksbereiche zu verzichten. Auf dem Wege über die Sprache suchte die rationalistische Epoche zu einem musikalischen Begriffsschatz zu gelangen. Wir greifen diesen Abschnitt der Musikgeschichte heraus, weil er beispielhaft zeigt, wohin man die Musik durch Anwendung von Logik und Direktbedeutung steuert. Diese Epoche erdrückte, ohne es zu wollen, die Allgemeingültigkeit des semantischen Ausdrucksbe= reiches, indem sie ein an dem Wortausdruck angelehntes Lehr= und Aus= Übungsprinzip schuf. Aber noch mehr: nicht allein eine logische Präzision war das Endresultat, sondern auch eine bedrohliche Zuspitzung der Form auf ihre eigenen Teile und Phänomene. Die Eigenteile der Form, auf die sich nun 69 J. J. Engel im M a g a z i n der Musik, 1 7 8 3 ; zit. bei L. Conrad: Mozarts D r a m a turgie der Oper. W ü r z b u r g 1 9 4 3 , S. 28. 70 Giambattista Pasquali: Del Teatro in Venezia, 1 7 7 1 ; zit. ebd. S . 28. 71 Joh. Nik. Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik. Göttingen 1 7 8 8 ; zit. bei H. H. U n g e r a.a.O. S. 43.

2 . SEMANTISCHER AUSDRUCK

269

die Aufmerksamkeit lenkte, gingen auf Einzelstimmungen und auf Einzelge= fühle ein. Jeder Gemütsaffekt, der ja durch Worte vielfältig charakterisiert werden kann, sollte nun durch Tonformeln genau verständlich gemacht werden. Z u jedem Affekt suchte man, wortanalog, eine Töne= oder Klangprägung. Das Finden dieser möglichst gesicherten Prägungen führte zur Herausbildung der sog. Affektenlehre. Unerwartete und oft widerspruchsvolle Ergebnisse sollten sich da zeigen. Die ursprünglich warmherzige Behandlung des musikalischen Gemütsaus» druckes geht kühl und rational zu Werke. Begriffsgleich werden bestimmten musikalischen Wendungen bestimmte Gemütsempfindungen zugeordnet. Der unübersehbare Reichtum der seelischen Gefühle wird unter Anwendung ratio= naler Methoden übersehbar gemacht und rubriziert. Die Musikästhetik des 1 8 . Jahrhunderts läßt sich von der Auffassung leiten, daß, „der großen Man= nigfaltigkeit der lebhaften Gemütsbewegungen ungeachtet, sich dennoch eine kleine Anzahl einfacher Affecten bestimmen und beschreiben lasse, von denen die meisten vorkommenden Leidenschaften bloße Mischungen sind, und auf welche die Theorie der gesamten Leidenschaften als auf einen sichern Grund gebauet werden kann" 7 2 . Der sichere Grund ist weiter nichts als eine rationale Auslese und Ordnung der ästhetischen Empfindungen, ein Begriffeprägen mit musikalischen Mitteln, eine Theorie überprüfbaren Ausdruckswissens. So stellt die Affektenlehre, angefangen bei Kircher, über Kuhnau bis zu Phil. Em. Bach und Quantz eine „musicalische Pathologie", wie Mattheson 73 sie nennt, dar, eine musikalische Leidenschaftslehre, ein reichgegliederter Vorratsbestand an Gefühlsdomänen mit beinahe zugeordnetem jeweiligem Klangausdruck. Der Komponist weiß das traurige Klagen,

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Heinr. Chr. Koch: Musikalisches Lexikon. Frankfurt a. M . 1 8 0 2 , Sp. 894. D e r vollkommene Capellmeister. 1 7 3 9 .

270

VII.

CUSANISCHER

KREIS

das aufstrahlende Anteilnehmen

Beispiel 59. Steffani: Duett für Sopran und Alt 7 4

treffend, kurz und in klarer Anordnung darzustellen. Der bewußt geformte Gemütsausdruck beschränkt sich durchaus nicht auf die spätbarocke Stilperiode, er tritt hier nur in besonderer und auffälliger Form zutage. Zum Beispiel bekundet sich dasselbe Prinzip bereits in der Musica riservata. Auch das Volkslied kennt das Hervortreten einer ganz bestimmten Gemütslage, zeige sie sich nun in einem unsteten, zitternden, klagenden

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Beispiel 60. Rumänische Totenklage 75

oder in einem verweilenden, ruhigen, bedächtigen

Beispiel 61. Spanische Romanze 75

oder in sonst einem eindeutigen Ausdruck. Freilich fehlen hier die Bewußt* machungen von Gefühlsbestimmtheit oder das ästhetisierende Bemühen, Affekte und Stimmungen in Rubriken einzukästeln. Überhaupt lassen sich ja die unnennbaren Abschattungen des in den Gemütsausdruck eindringenden musikalischen Gedankens nicht begrenzen. Sie reichen, wenn man wie Schubart versuchen will, es bildlich anzudeuten, 74 75

aus Schering: Geschichte i. Beisp. Nr. 242. aus Walter Wiora: Europäischer Volksgesang. Köln 1952, Beisp. 1 2 a u. 46/2 b.

2 . SEMANTISCHER AUSDRUCK

271

„von der Feuerfarbe des Pathos an bis auf die Rosenfarbe der sanften Freude" 76 . In ältesten Zeiten war es nicht anders. Plutarch77 berichtet über einen sich selbst begleitenden Sänger, dessen Musikausdruck spontan den wechselnden Stimmungen nachgibt: „Bald brausten die Töne gen Himmel, bald erstarben sie unter den Griffen des Meisters." Dennoch durften auch die Zwischenstimmungen aller gefühlsbetonten Ein^ fälle klarer in der Tonkunst Form gewinnen. Das wurde dadurch erleichtert, daß eben diese Stimmungslagen stets mit gegenständlichen und definierbaren Erscheinungen Hand in Hand gehen. Wie sehr jeder Affektausdruck von äußeren Dingen abhängig ist, betonte bereits Melanchthon: „Affekte sind Herzensbewegungen, erleichternd oder bedrängend, abhängig von gegenständ= licher Wahrnehmung, welcher sie folgen oder ausweichen" 78 . Folgerichtigem weise zielt die spätere Affektenlehre auf die Herausarbeitung gegenstands= gebundener Gefühlsregungen. Auch die Einbeziehung der Temperamente steuert denselben Kurs; denn die physische, nicht etwa psychische Auffassung vom Temperament festigt den dieser Theorie unentbehrlichen gegenständlichen Anhalt. Ein Musiker und Komponist, der nach dieser Methode schaffen will, muß „die gereinigte Lehre von den Temperamenten" beherrschen; denn „alles, was ohne löbliche Affecte geschieht, heißt nichts, gilt nichts, tut nichts" 79 . Weil zu den Temperamenten wiederum bestimmte „Lebensgeister" 80 gehören, muß auch die Wahl der In= strumente beachtet werden: z. B. Trompeten^ und Lautenklang gehören dem Ausdrucksreich verschiedener Temperamente an und sollen nicht zusammen erklingen. Überall möge, so heißt es an anderer Stelle, das „Temperament der Seele, des Verstandes, des Willens" 81 sich seinen adäquaten Ausdruck schaffen. „Die Würckungen der Temperamenten sollen sich sowohl in dem Leibe als in der Seele äußern." 81 Der Affekt ist zwar die Augenblicksäußerung eines Temperamentes, also durchaus etwas Wahres und Ursprüngliches, hat aber doch, so wissen wir heute, wegen seines triebartigen Charakters leicht etwas Einseitiges. Unmittel= bar, weil er sich als „erste primitive Auseinandersetzung zwischen Lebewesen 76

Schubart: Ideen 3 7 5 . zit. ebd. S. 348. 78 Melanchthons W e r k e , hsg. v. H. Engelland. Gütersloh 1 9 5 3 , II 7 9 7 , Abschn. "Definitiones". 79 Johann M a t t h e s o n : D e r vollkommene Capellmeister. 1 7 3 9 . 80 M a r i n M e r s e n n e : Harmonie universelle, 1 6 3 6 ; zit. in M G G . Stichw. A f f e k t e n 1 lehre. 1 81 Johann Heinrich Z e d i e r : Großes vollständiges Universallexikon. Leipzig 1 7 4 4 , Stichw. Temperament. 77

272

VII. CUSANISCHER KREIS

und Umwelt" 82 darstellt, bietet er sich künstlerischem Ausdruck an. Dennoch strahlt er nicht, da er allein keine Fortführung im seelischen oder gar geistigen Erleben findet, irgendwie gestaltende ästhetische Wirkung aus. Seine musi» kaiische Brauchbarkeit nützt lediglich der Motivik, der Form, dem kleinen und übersichtlichen Gefüge. Zum Unterschied von höheren und bleibenden Gefühlen bleibt die Trieb* nähe des Affekt= und Temperamentsausdruckes auf dem Boden eines orts= und zeitengen Gefühlsbereiches. Diese Enge und Gegenstandsnähe gehört zum Prinzip jeder Art von Affektdarstellung. Orlando di Lasso schreibt über den Stil der schon erwähnten Música riservata: „Dadurch, daß die Musik sich den dargestellten Gegenständen und den Worten genau anschmiegt und die Kraft der einzelnen Affekte ausdrückt, stellt sie uns gewissermaßen ein Geschehnis sichtbar vor Augen" 8 3 . Der Affekt, wenn auch an und für sich spontan empfunden, macht bei der Umwandlung zur musikalischen Form den Umweg über Bild und Begriff. Die Ausdruckseindeutigkeit, die der Komponist anstrebt, zwingt ihn zur Vergegenständlichung, zu rationaler, begrifflicher Klarheit und Konsequenz, zur Verräumlichung. Im einzelnen und wohl als erster vollführt Monteverdi den historischen Schritt in die rationale Bewußtheit und Begrifflichkeit der Musik (s. Anm. 38). Mit der Regelaufstellung löst sich die Begriffsnähe der Musik vom zugehörigen Wort, ohne aber daß diese Begriffsnähe Einbuße erleidet. Ein Text ist schließ* lieh als Anhalt nicht mehr nötig. Der affektbewußte Komponist kann, nach einer Äußerung Matthesons, „mit bloßen Instrumenten eine Großmut, eine Liebe, einen Eifer etc. gar wohl darstellen" 84 . Die rationale Aufspaltung des Ausdrucks in Was und Wie, in Programm und Plan, in Begrifflichkeit und Darstellung führt eine zwiegerichtete Metho= dik herbei und nährt einen ästhetischen Dualismus. Die Form=Inhalt=Anti= thetik rückt in den Mittelpunkt der Formüberlegung, ja wächst sich zu einem regierenden ästhetischen System überhaupt aus. In Wirklichkeit ist diese Antithetik als rationale Möglichkeit nur eine ästhetische Möglichkeit unter anderen. Doch wenn die Ichbezogenheit des Temperamentausdruckes keinen Zugang zu anderen Ausdruckssphären zuläßt, isoliert sie das einzelne Form= element, welches dadurch gleichsam überbelichtet wird. Zwar kann das ge= suchte Zwielicht zwischen Form und Inhalt ungeheuer belebend wirken, doch erfordert diese bewußte Strahlenkreuzung eine ebenso bewußte, sondernde 82 Martin Keilhacker: Entwicklung und Aufbau der menschlichen Gefühle. Regensburg 1950, S. 14. 83 Einleitung zu den Bußpsalmen; zit. bei H. H. Moser: Musikalischer Zeitenspiegel. Stuttgart 1922, S. 31. 84 Die neueste Untersuchung der Singspiele. 1744.

2.

SEMANTISCHER

AUSDRÜCK

273

und wieder summierende schöpferische Willenskraft, um die ästhetische Ein= heit zu bewältigen. M U S I K A L I S C H E G E S T I K . Eine ausgeprägte Affektentheorie wäre in der an= tiken und mittelalterlichen Musik unmöglich gewesen. Dafür war das ästhe= tische Bewußtsein zu sehr an eine vorauszusetzende Ganzheit gewöhnt. Hören wir die plotinische Ansicht als Beispiel dafür, wie wenig man der Seele zu= billigte, mit ihrer Erlebnisweise triebhaft auf Einzelgefühle einzugehen: denn, so heißt es, „in der Absonderung von der Ganzheit läßt sie sich dann auf irgendein Einzelding nieder, wendet sich ab von allem andern" 85 . Tritt der Fall ein, daß die Seele sich als individuelles Gefühlsreich, als Sonderwesen äußert, so sinkt sie ins Einzelsein, „flieht die Ganzheit, fällt ab in Geschieden» heit und richtet den Blick nicht mehr auf die geistige Welt" 8 5 .

Wenn auch der rein sinnliche, oft überraschende Temperamentausdruck den künstlerischen Formen, nicht nur der Musik allein, schon immer ange= hörte 86 , so wirkt doch die Abneigung, das umgrenzte und kleine Einzelteil eines individuellen Sinneserlebens zum Hauptträger der Form werden zu lassen, einer Zentralisierung dieser ästhetischen Auffassung entgegen. Nur gelegentlich ist es in den historischen Musikländern dazu gekommen, daß die schnell aufkommende und schnell verfliegende Gemütswallung ihre Spiegelung in der motivischen Kleinform findet; denn sofort entsteht das nur mit ratio= naler Überlegung zu lösende Problem, durch Aneinanderfügungen zur Groß= form zu gelangen. Die Begriffsähnlichkeit im Musikausdruck kann eine Stütze finden in der Gebärdenähnlichkeit einzelner Motive. Auch hier liegt dieselbe außermusi= kaiische Analogie vor: dem Als=ob der Wortbedeutung gleicht das Als=ob der Gestenbedeutung. Während aber in der Sprache noch logische Denkformen und die Gesetze der Syntax den Ausdrucksweg verlängern, wandelt die Ge= bärde den gefühlten Ausdruck unmittelbar in geformten Ausdruck um. Das Wort ist trotz seiner Lautbildung nur wenig objekthaft. Die Geste hingegen besteht direkt aus sichtbaren Bewegungen. Die Vergegenständlichung des Ausdrucks tritt nun noch überzeugender hervor. Die Gebärde und, gleich ihr, die gebärdenartige Musik objektivieren den Ausdruck, vergegenständlichen und verräumlichen ihn völlig. Die Musik zeigt sich hier als im engsten Sinne semantisch, hinweisend, greifbar. 8 5 Plotin: Der Abstieg der Seele in die Leibeswelt (übers, v. R. Härder); Die Antike 1925, I 363. 8 6 eine Form spontanen Temperamentausdruckes in der antiken Musik ist die Metabole; s. o. S. 133.

18

Musica Panhumana

274

VII. CUSANISCHER KREIS

Die größere Urspriinglichkeit der Geste wird dabei durch Preisgabe der größeren Diszipliniertheit der Sprache gewonnen. Unter Diszipliniertheit der Sprache ist das willentliche Erreichen und Beherrschen einer denkerischen Ent= Wicklungsstufe des menschlichen B e w u ß t s e i n s z u verstehen. „ D i e s e s mensch=

liehe Bewußtsein läßt sich ohne Sprache gerade so wenig denken, wie sich die Sprache ohne menschliches Bewußtsein denken läßt; darum sind beide mitein= ander und durcheinander geworden." 87 Diszipliniertheit ist die schaffende und bereichernde Arbeit der Sprache. Das Seelische ist vor seiner sprachlichen Be= Z e i c h n u n g weniger deutlich d a . Erst zusammen mit der s p r a c h l i c h e n Benennung gewinnen die seelischen Erlebnisse an Gestalt. Ganz anders verhält es sich mit der Gebärde. Während die Sprache immer unfertig ist und mit neuen Denkformen neue Wortformen beisteuert, gibt sich die Gebärde als etwas Fertiges, Entwicklungsloses, Eindeutiges. Sie erneuert sich nicht. Ihre Ausdrucksbewegung ist räumlich bemessen und also geeignet, sich in der Kleinformatigkeit der musikalischen Motivik zu erschöpfen. Musikpsychologische Versuche haben bewiesen, daß kleine Motivprägun= gen eine Direktwirkung auf den Hörer ausüben 88 . Zwei= und dreitönige Motive vermitteln einfache Grundstimmungen wie heiter, wehmütig, ängstlich, unzu= frieden, vertrauensvoll, feierlich und dergleichen. Um wieviel elementarer muß das der Bewegung einer Gebärde entlehnte Motiv wirken! Es ist umweglos und anschaulich und entspricht mit seiner kurzen Raumform tatsächlich der körper= liehen Geste.

Mit dieser Tonfolge zeichnet Rossini die zuckenden Bewegungen eines schluchzenden Kindes nach89. Der Parallelfall wird folgendermaßen klar: je unmißverständlicher eine Geste, um so strenger ist sie in den Raum gezeichnet. Das gleiche gilt für das Motiv; es begrenzt sich im Klangraum. Gerade die ge= bärdenhafte Deutlichkeit eines Motives gewährleistet seine Verständlichkeit. Wird des weiteren auch die Melodie nach diesem Formprinzip geschaffen, dann 87 88

Wilhelm Wundt: Die Sprache. Leipzig 1 9 1 2 ® , S. 441.

vgl. Kurt Huber: 1 9 2 3 , S. 144 f. 89

Der

Ausdruck

musikalischer

Elementarmotive.

aus dem Duett "Ebbere per mia memoria" in " L a Gazza Ladra".

Leipzig

2.

SEMANTISCHER

AUSDRUCK

275

ist sie „eine Reihe stimmlicher Gesten" 90 , wie es häufig bei der exotischen Musik der Fall ist. Hierbei addieren sich reihenartig ganz bestimmte, möglichst ein= deutige und mit wenig Tönen auskommende Klangprägungen. Das Intervall erreicht in der gestenartigen Ausdrucksweise seine vielleicht größte Wichtigkeit. Es steht völlig im Vordergründe des musikalischen Ge= schehens. Es drängt in seiner Kürze oder in einfachsten Koppelungen seine Eigenbedeutung hervor, zeigt sich autark. Es sammelt in seinem winzigen Raum eine oft große Ausdruckskraft und strahlt selbstherrlich seinen formenden Ein= fluß auf die Umgebung aus. Da es mit dem Anspruch auftritt, selbst Inhalt zu sein, bedürfen die angrenzenden Perioden nur der Form, des Gerüstes. Selbst ganz und gar klanglicher Raum, duldet es auch nur die Raumbildung zuge= höriger Motivik. Die motivische Gestik entspricht dem körperlichen Reflex. Beide sind kurze, umweglose und rein sinnliche Äußerungen einer momentanen Empfindung. Die Entsprechung zeigt sich oft unmittelbar, etwa, wenn bei einem harten Trompetenmotiv der Hörer zusammenzuckt oder wenn monotone Motivik ihn einschläfert. Die Reflexempfindlichkeit ist individuell verschieden, weil mit der jeweiligen Konstitution eine bestimmte psychomotorische Begabung einher* geht 91 . Auch spielt dabei „die Vermittlung des Nervensystems" 92 eine Rolle, welche bereits mehrfach musikpsychologisch untersucht worden ist. Die automatischen, fast mechanischen Relationen, die sich hier auf einem musikalischen Teilgebiet feststellen lassen, sind ästhetisch erst dann brauch= bar, wenn sich der bewußte Wille ihrer annimmt und sie formt. Ein von An= fang an motivbestimmender Dualismus von Form und Ausdruck stemmt sich der musikalischen Einheit entgegen, kann aber freilich gerade als Anreiz zu größerer Formung verwertet werden. Etwas anderes ist es, wenn der sehnliche Wunsch, eine momentane Gemüts= empfindung direkt in klangliches Gewand zu kleiden, so stark ist, daß die Form weitgehend vernachlässigt wird. Dann kommt, weil der Klang an sich als Ausdruckselement dient, kein Formdualismus auf. Der Weg der Klang= werdung ist ein anderer. Von so emporsteigender Musik geht eine magische Wirkung aus. Es werden Seelenlagen ästhetisch und klanglich dargestellt, die weder durch Worte noch durch Gebärden wiedergebbar sind. Wir sprechen dann von Musikmagie. 9 0 Gisèle Brelet: Musiques exotiques et valeurs permanentes de l'art musical (Revue philosophique Nr. 1—3). Paris 1946, S. 80. 9 1 vgl. Willi Enke: Die Psychomotorik der Konstitutionstypen (Ztschr. f. angew. Psychol. Bd. 36). Leipzig 1936. 9 2 Ottmar Rutz; s. Anm. 39.

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276

VII.

CUSANISCHER

KREIS

M U S I K M A G I E , I M P R E S S I O N I S M U S , E X P R E S S I O N I S M U S . Was bei der sprechenden, affektbetonten oder gestenartigen Darstellung in einer engen Klangdimension eingeschlossen war, weitet sich im magischen Seins= und Ausdrucksbereich selt= sam aus. Ohne allerdings die räumliche Gliederung zu sprengen oder etwa die Raumherkunft zu verleugnen, senkt sich die Musik in Urgefühle, die sie magisch heraufbeschwört, hinein. Mehr das Gefühlsartige als das Gefühl ge= langt zum Ausdruck, mehr Stimmung als absichtsgelenkte Deutung. Damit kommt eine größere Weite der musikalischen Dimension zustande, die ihren Dehnungszustand beibehält, weil die gefühlsartigen Empfindungen in einem vorindividuellen Stadium schweben bleiben.

So entsteht beim Hörer eine zwar ansprechbare aber nicht scharf um= rissene Gefühlslage, ein Zustand seelischer Benommenheit ohne geistigen An= teil, eine Erregung, die nicht Befriedigung oder Läuterung bringt und die des= halb auch nicht ohne weiteres etwas ästhetisch Schönes bedeutet. Abermals sind die Möglichkeiten reichhaltig, wählbar und dem Willen unterstellt. Zwar durchaus innerhalb des semantischen Ausdrucksbereiches, gleicht doch diese Musik einer zerdehnten Gefühlswoge, die sich nur in groben Umrissen bewegt. Der Komponist geht beim Heraufbeschwören dieser Ge= fühlsstimmung weniger auf Präzisierung als auf Intensivierung aus. Die Intensivierung reicht heran bis an das „Hyperexpressive" 93 , an eine Grenze, die nicht überschritten werden darf, soll die Musik noch Musik bleiben. Eine solche besondere Eindringlichkeit dankt der Klangausdruck der mensch= liehen Aufgeschlossenheit für die Hingabe an ein Erleben, welches unbestimmt bleibt, für das Hineinsinken in eine dunkle Stimmungsflut, das Hingleiten auf einem „schäumenden Silberwassersturze" 94 , das Hinträumen in sich selber und aus sich heraus. Die Musik steht nicht im Raum, sie weht durch den Raum. Sie klingt aus „jenem fernen Reiche, das uns oft in seltsamen Ahnungen um= fängt und aus dem wunderbare Stimmen zu uns herübertönen" 95 . Oder wie alte chinesische Dichterworte zu sagen versuchen: 96 „. . . Mein Herz ist voll von unbestimmter Sehnsucht; wie wär' ich selig, wenn ich singen dürfte — oh meine Laute, hätt' ich dich jetzt hier!" Der sehnliche, aber unbestimmte Wunsch bringt mehr Ausdruck als Dar= Stellung eines Gefühls zutage. Die musikalische Formung, ohne rationales Hin= Walter Winkler: Psychologie der modernen Kunst. Tübingen 1949, S. 72. in Alfred Momberts Gedicht „Nun beugt die Nacht". 9 5 E. T. A. Hoffmann: Der Dichter und der Komponist, ein Zwiegespräch. 1814. 9 6 Li-tai-pe, um 750; zit. bei H. J. Moser: Musikalischer Zeitenspiegel. Stuttgart 1922, S. 22. 93

94

2.

SEMANTISCHER

2 77

AUSDRUCK

wirken zu bewußter Fassung, verströmt im Wunsch nach Ausdruck, wird nicht Erfüllung. Die Grenzen des Klang= und Formraumes werden so weit wie möglich gedehnt, ja sie verschwimmen oft. Längste motivische Strecken sind das sehnliche Anliegen, dem alle rhythmischen und melodischen Elemente zu Gebote stehen.

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Beispiel 63. Chopin: Prélude op. 28 Nr. 2

Dieses Anliegen ist kein geistiges. Es haftet am Raum, am Naturhaften, Irdischen. Die musikalischen Einfälle drehen sich um eine Grundempfindung, sie wirbeln gleichsam um sich selbst, mal langsam, mal schnell. Aber sie prägen niemals einen Widerstreit verschiedener Gefühle aus. Wer das asiatische Le= bensgefühl kennt, wundert sich nicht, daß dort dieses Ausdrucksgebiet einen besonders großen Raum einnimmt. „In den Klangstäben, Gongs, Steinplatten* spielen und Rasseln Chinas, Japans, Burmas, Siams, Javas und zahlreicher urwüchsiger Kulturschichten Ozeaniens lebt ein uraltes tellurisches Vermächt=

2 78

VII.

CUSANISCHER

KREIS

nis" 9 7 : das Einatmen gleichsam des Atems der Erde und das Mitleben mit der gefühlten Nähe der Umwelt. Magische Musik ist raum= und willensgebunden. Sie ist insofern panhuman, als sie die triebhaften Gefühle wachruft und den Willen darauf abstimmt, uns an und in die Klangvorgänge zu geleiten. Der Hörer verliert sich im musika= lischen Erlebnis. Geist und Vernunft sind mehr oder weniger zurückgehalten. Schon die alte Überlieferung von dem Zaubersang der Sirenen berichtet davon, wie sagenhafte Gestalten mit ihren Tönen die Menschen behexten. Die deutsche Sage vom Rattenfänger von Hameln läßt dieselbe musikalische Er= lebnisweise zum Forttrieb des Geschehens werden. Die Arten und Weisen, wie die Musik die Gefühle in ihren Bann zwingt, können von den lieblidi=monotonen bis zu den aufbrausend=lauten reichen. In jedem Falle beansprucht sie eine Formausdehnung, die noch dem Chaoti= sehen etwas Raum läßt. Beide Grenzfälle, die monotone und die vehemente, sind von alters her in ihrer ekstatisch=dämonischen W i r k u n g bekannt. Proklos sagt von dieser Musik: sie „bannt schlimme Dämonen, verkündigt die Zukunft und weiht in die göttlichen Mysterien ein" 98 . Musik, die mysteriös sein will, gestattet dem Ungeformten so weit Zutritt, daß die Form nie zum sachlichen Problem wird. Sie untersteht keinem formalen Zwange, braucht sich ihm also auch nicht zu widersetzen. Das Fehlen einer solchen Kampfspannung kann freilich verhängnisvoll werden. A u d i eine vegetative Seelenlage muß im Kunst= werk immer noch in ästhetischen Grenzen zum Ausdruck kommen. Im Grunde atektonisch, fließen halbbewußte Empfindungswelten in den Rahmen der musi= kaiischen Form, die nun eben notwendigerweise da sein muß, hinein. V o r allem rituell hat diese Musik seit je große Bedeutung gehabt. Die Opfermusik galt in Alt=Persien zugleich als Zaubermusik. Gesungene Zauber= Sprüche sollten im alten Ä g y p t e n auf weltliche und auf überweltliche Kräfte ein= wirken 99 , was zur Folge hatte, daß schon um 1300 v. Chr. die Musik geradezu zur Gegenspielerin der Religion wurde, so daß ein Zwiespalt zwischen Ethos und Magie sich in die Ästhetik einschlich. Bei den Siamesen und bei vielen anderen Völkern werden noch heute die Stimmen der Geister durch kehligen und nasalen Gesangsvortrag nachgeahmt, um so aus gedachten Elementar^ erscheinungen einen Stimmungszauber einzufangen. Immer ist der Wunsch nach ästhetischem Inhalt größer als dessen Ausdruck, immer ist die Gegen= ständlichkeit des Klanges und der Wille zum Gefühlsbekenntnis stärker als die erfüllte Form. 9 7 W e r n e r Danckert: Ostasiatische Musikästhetik (Ostas. Ztschr. H. 2). Berlin 1951, S. 64. 9 8 um 450; zit. bei H. J. M o s e r a.a.O. 5. 21. 0 9 vgl. Hermann Junker: Pyramidenzeit. Zürich und Köln 1949, S. 96 f.

2 . SEMANTISCHER AUSDRUCK

279

Magische oder ekstatische Musik unterwirft sich nicht der intentionalen Gestaltung. Die Klangmittel der stofflichen Wirklichkeit voll ausschöpfend, bringt sie es fertig, den Menschen eben dieser Wirklichkeit zu entheben. Die Entrückung ist nicht immer eine völlige. Die europäische Musik von heute kennt keine magische Musik für liturgische Zwecke. Aber sie kennt musika= lische Dämmerzustände bei bestimmten Ausdrucksrichtungen. Sie hat das Ge= fühlsmaximum, die unkontrollierte Versenkung in undeutliche Empfindungen längst in das Flußbett ihrer Ästhetik geleitet. Durch die europäische Musik wurden die beiden Gegenarten magischer Musik, die monotone und die vehemente, zu zwei Stilarten zivilisiert. Die erste läßt „die Welt wie durch die Dämmerung eines lieblichen Traumes erblicken", wobei wir „alle Wesen uns verwandt und nahe fühlen" 1 0 0 . Sie löst Allgefühle aus, wo die wehrhaften Leidenschaften untergehen „in einer unaussprechlichen Sehnsucht, die unsre Brust erfüllt" 1 0 1 . Die zweite begleitet das Erwachen fessel= loser Triebgefühle, sie spiegelt in der Musik ein tumultvolles Seelenleben: „Welch Hervorquellen unartikulierter Töne höchster leidenschaftlicher Melodie! Welche Blitze von heftigen Regungen dazwischen! Erwachende Selbstmensch= heit!" 1 0 2 Da beide Ausdrucksweisen tatsächlich auf den Grund des allgemein' menschlichen Empfindens durch direkte und sinnliche Erschütterung oder Ver= Senkung hinabreichen, lassen sie auf ihre Art das Gefühl einer sich verwandt fühlenden Hörergemeinde aufkommen. Die spezielle Einordnung dieser an sich in jeder Musik anzutreffenden Aus= drucksarten geschah in der europäischen Musik unter den Bezeichnungen Impressionismus und Expressionismus. Mit diesen Stilbenennungen wurde zu= gleich ein Äußerstes an speziellen Möglichkeiten erreicht. Zwar ist jede Aus= drucksmöglichkeit, deren Prinzip richtig erkannt worden ist, ein Gewinn. Doch auch hier droht, wie stets, bei überdeutlichem Zugriff eine Gefahr: es ist die der Überschätzung des rein sinnlichen und ungehemmten Daseinsgefühls, des sinnengelenkten Willens, die Gefahr, daß alles nur „pure Vitalität" 103 bleibt. Die an sich richtige und panhumane Gefühlswiedergabe kann herrlich gelingen, aber sie wird entstellt, sobald das Naturhaft=SinnIiche, das nur in sich Kreisen= de zum Selbstzweck einer ästhetischen Haltung erhoben wird. Die Unbestimmtheit eines seelischen Allgefühls, das Vermeiden von Gren= zen zwischen den Empfindungen, die fluktuierende Gefühlsatmosphäre, von Velasquez „Ambiente" genannt: das ist Ausdrucksgegenstand der impressio= 100 W i l h . Heinr. Wackenroder: Die W u n d e r der Tonkunst. 1 7 9 8 ; zit. bei H . J. M o s e r a.a.O. S. 64. 101 E. T. A . H o f f m a n n a.a.O. 102 Wilhelm Heinse: Brief aus Italien. 1 7 8 1 ; zit. bei H. J. M o s e r a.a.O. S. 63. 103 Danckert: U r s y m b o l e 26.

Z&O

VII. CUSANISCHER KREIS

nistischen Musik. Sie bedient sich dabei der Klangfarbe, welche, verbunden mit elementaren Rhythmen, seit Debussy eine absolute Eigenbedeutung er= halten hat. Klangfluten von wildem Rausch, wie bei Schreker, und verwehende Klänge von hauchzarter Tönung, wie bei Ravel, umschreiben die Weite des im= pressiven Ausdrucks. In jedem Falle wird der Hörer in einen Benommenheits= zustand versetzt, in ein vegetatives Erleben, welches zwischen Versunkenheit und Befremden, zwischen Verströmung und Zusammenballung die Musik über sich hinweg oder durch sich hindurch gleiten läßt. Den impressiven Ausdruckscharakter liebte auch die Romantik. W a s E.T. A . Hoffmann als „romantische M u s i k " bezeichnet, ist eine solche, die aus der Phantasie das Ungestillte und Unstillbare hervorlockt, die über die gruseligen Nachtseiten und die entschwebenden Lichtseiten der Gefühle herrscht; sie „be= wegt die Hebel der Furcht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes und erweckt eben jene unendliche Sehnsucht, welche das Wesen der Romantik ist" 1 0 4 . Der sehnliche Wunsch, durch Augenblicksträume sich musikalisch ent= rücken zu lassen, in vorgegaukelte Impressionen einzutauchen, in ihnen zu schwelgen (s. Anm. 40), die Musik „wie eine liebliche Seifenblase" 1 0 5 anzu= schauen, leitet allerorten die ästhetische Form. Eine dem Wunsch und nichts als Wunsch nach Gefühlsausdruck entstam= mende Wirkung, wie bei der impressiven, geht auch von der expressiven Musik aus. Das tritt am deutlichsten in den musikalischen Formen des europäischen Expressionismus zutage. Die hochaffektive Haltung reißt den Hörer aus einer unbestimmten Stimmung heraus und zwingt ihn in den Strom eines ganz bestimmten Gefühls. Das Individuum erlebt sich selbst und ruft zu sich her mit seinen individuellen Empfindungen, momentan und ichbezogen. „Ich, nur ich bin wie Glas, durch mich schleudert die Welt ihr schäumendes Übermaß." 1 0 6 Die Grenze des panhumanen Verstehens liegt da, wo ein ungebändigtes und triebhaftes Gefühl sich den Besonderheiten seiner höchsteigenen Erlebnis= weit anpaßt. Expressive Musik ist „musikhafte Entladung des höchstverdich= teten Gefühlsüberschwanges" 1 0 7 . Liegt der Schwerpunkt in der Heftigkeit des Überschwanges, wobei subjektive Empfindungen notwendigerweise rückhaltlos einfließen, so kann das allgemeine Verständnis nicht folgen. Liegt er hingegen, was selten gelingt, in dem Grad der Verdichtung, so schließt die Form eine ungemischte Gefühlssphäre ein und bleibt panhuman zugänglich. 104 g x . A. Hoffmann: Beethovens Instrumentalmusik. (Kreisleriana). 1 8 1 0 . Wilh. Heinr. Wackenroder; zit. a.a.O. S. 64. 1 0 6 in Franz Werfeis Gedicht „Der Dichter". 1 0 7 Hans Joachim Moser: Lehrbuch der Musikgeschichte. Berlin 1937 2 , 5. 279. 105

2.

SEMANTISCHER

AUSDRUCK

281

Expressive Musik spiegelt das „unreflektierte Existenzgefühl" 108 wider. Zum unreflektierten Erleben gesellt sich lediglich, seitens des Schaffenden, derzwang= hafte Wille zur Form. Dieser Wille richtet sich aber auf das Zufällige des Einzelerlebnisses, er ist also im ästhetischen Sinne voraussetzungslos. Dadurch gerät die formale Darstellung in eine konventionslose, oft sogar konventions= feindliche Richtung. Die Aufeinanderfolge der rohen klanglichen und melo= dischen Elemente unterliegt der jeweils individuellen Anstrengung, welche jede formale Bindung als Fessel empfindet, ja im äußersten Falle „das Irreguläre zum Prinzip erhebt" 109 . So schlägt der Wille zur Form um in Auflehnung gegen die Form. Aus suchendem Griff zur Komposition wird liebloses Proklamieren der Dekomposition, und ein Empfindungsausdruck, welcher doch der Sphäre ursprünglicher Triebgefühle entspringt, wird schließlich unverständlich. Expressive und zu einem Teil auch impressive Musikformen liegen mit dem ungeformten Sprechgesang auf gleicher Linie. Der primitive Sprechgesang, als vormusikalische Ausdrucksstufe, enthält vom Gemurmel bis zum Schrei alle Stimmungsgrade. Der litaneiartige Vortrag steuert auf einen bestimmten E i n = druck hin, während der erregte Ausruf einem bestimmten A u s druck sein Dasein verdankt. Der Wunsch nach ästhetischer Darstellung geht von hier aus umweglos auf sein Ziel zu. Aus dem leierigen ebenso wie aus dem schrei= artigen Ausdruck klingen unbedachte Gefühlsaffekte, die sich nur dem Grade nicht dem Wesen nach unterscheiden, heraus. Vielleicht läßt sich das an außereuropäischer Musik am besten deutlich machen. Zum Beispiel ist in Afrika jeder Klangausdruck überaus eng mit dem Sprechgesang verbunden. Sololieder werden meistens „in einer Art rezitieren= dem Ton vorgetragen" 110 . Diese Sprechverbundenheit der Melodik läßt Bil= düngen wie die folgenden 111 entstehen:

ift-'W'V'if r p ipJ j ij J r'^tr^-pfpiplf^ Beispiel 64. Afrikanisches Erzähllied

Der Einzelsänger steigert die Deklamation durch individuellen musika= lischen Vortrag. Das ist eine ganz allgemeine musikästhetische Erscheinung. Gottfried Benn: Ausdruckswelt. Wiesbaden 1949, S. 50. Andreas Liess: Die Musik im Weltbild der Gegenwart. Lindau 1947, S. 100. 1 1 0 Friedrich Hornburg: Die Musik der Tiv (Die Musikforschg. H. 1). 1948, S. 56. 1 1 1 ders.: Phonographierte afrikanische Mehrstimmigkeit (Die Musikforschg. H. 2). 1950, S. 163. 308

109

282

VII.

CUSANISCHER

KREIS

Der melodische Gedichtvortrag auch in Indien ist heute noch nichts anderes als ein „rudimentärer Sprechgesang" 112 . Ebenso ist die überlieferte alt=chine= sische Gesangsmelodik viel mehr der Sprache als der Musik zugehörig. Ähnlich wird in ganz Ostasien eine Rezitativkunst gepflegt, welche von alters her sich aus einer musikalischen Überhöhung der natürlichen Sprache auf Grund gege= bener Tonhöhen ergibt. Schon in Alt=Ägypten kannte man Zauberformeln, die als „schöne singbare Sprüche" 113 eine Mittelstellung zwischen Vers und Lied einnahmen. Bei den altgermanischen Zaubersprüchen war es nicht anders. Der Übergang des Sprechgesangs mitsamt seinen teils monotonen, teils ekstatischen Wirkungen in die Kunstmusik zeigt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, in der sprechanalogen Chromatik. Die gehäufte Anwendung engster Intervallschritte ruft einerseits die Erinnerung an die physische Stimman= strengung und Stimmbewegung hervor, indem sie ein Körpergefühl weckt, vertraut durch das spontane, gleichlautende, oft ruckartige Auf und Ab des Sprechtones. Zum anderen läßt sie, begünstigt durch die Wahl geeigneter Rhythmen, das unerregte Gefühl anklingen, die stimmungserfüllte Einbildung eines Gleitens und Schwebens, nicht minder körperhaft gegründet, wobei Klangschattierungen, die den Reiz feiner Farbschattierungen haben, mithelfen. Die erste Art tritt sehr ausgeprägt in Musiken mit nicht=europäischen Ton* systemen auf, wo die Tonhöhenunterschiede nicht festliegen, sondern nur nodi nach Deutlichkeit oder „Helligkeit" wahrzunehmen sind.

Ji.i J i j j iJjiJjijjMl Beispiel 65. 1 1 4

Für die zweite Art war zum Beispiel die spätgotische Musikepoche beson= ders empfänglich, als durch den Einbruch sprechanaloger Chromatik ein neuer Stil entstand. Die zarte Alteration der Töne wurde von Prosdocimus bezeich= nenderweise Farbe (color) genannt 115 . 1 1 2 Erwin Felber: Die indische Musik der vedischen und der klassischen Zeit. (Sitzungsber. d. Kais. Ak. d. Wiss. Bd. 170). Wien 1912, S. 9. 113

Adolf Erman: Die Religion der Ägypter. Berlin 1934, S. 304.

114

Schlangenlied der Hopi-Indianer; bei R. Lachmann a.a.O. S. 5.

Die stimmungsvolle Halbtonänderung in der Musica falsa geschah „der Schönheit wegen" (causa pulchris); vgl. Adlers Handbuch d. Musikgesch., Berlin 1930, I 308. 115

2 . SEMANTISCHER AUSDRUCK

283

Beispiel 66. D e Salinis: Salve r e g i n a 1 1 6

In der expressiven und in der impressiven Ausdrucksweise wird allein das emotionale Sinnenleben angesprochen. Die Basis gibt ein kollektiver Lebens* grund, auf dem, ohne geistige Nähe, zumindest ohne geistige Durchdringung, die Affektgefühle herrschen. Ansporn zur Form gibt der Wunsch nach Dar= Stellung, der zwar die Form als Zwang empfinden läßt, zugleich aber im magischen Ausdruck vor diesem Zwange ausweicht. So bleibt der Ausdruck ephemer, flüchtig, gleitend und, trotz seiner Gefühlswahrheit, ziellos. Er ist un=noetisch, ungesammelt, jedoch immer hinweisend, wenn auch in jedem Falle auf nur eine gewisse Gefühlsregion, auf nur eine Ausgangsempfindung, die vom Tondichter her als individuell erlebt und gemeint ist. Da aber trotzdem ursprüngliche Gefühle vermittelt werden, gelingt dem magischen und dem affektiven Ausdruck eine teils traumhafte teils triebhaft=spontane Unmittel= barkeit des Verstehens, ein „assoziativer Kurzschluß" 117 . Die Form, im Grunde uferlos, wird willkürlich begrenzt. PROGRAMMUSIK, LEITMOTIVIK, MUSIKARCHITEKTUR. Ein anderer, ebenfalls gegenständlich gebundener Musikausdruck, den eben beschriebenen Ausdrucks* weisen ähnlich, sich mit Vorliebe an die Wortsprache und an die Gebärden* spräche anlehnend, nimmt sich die Schilderung eines Vorganges zum Ziel. Er setzt sich ein episches, Episoden, Hergänge oder Geschichten durchschweifendes Programm. Es soll mehr als ein Zustand nachgemalt, mehr als ein Affekt aus= gesprochen, mehr als eine Stimmung angedeutet werden: die Programmusik gibt erzählende Zusammenhänge wieder, eine oft lange Abfolge von Geschehe nissen und Bildern. Doch nicht die einzelne Szene fesselt den Komponisten; er will die Aneinanderreihung möglichst vieler Einzelheiten dem Hörer glaubhaft machen.

Die Programmusik bedient sich des redenden, malenden, affektiven, ex= pressiven und impressiven Ausdrucks und gelangt, mit der Logik der Nach= 118 117

1914.

aus Schering: Geschichte i. Beisp. 3 1 . vgl. Hans Henning: Der T r a u m als assoziativer Kurzschluß. Frankfurt a. M .

284

VII.

CUSANISCHER

KREIS

erzählung, zur größeren Form. Die Form ergibt sich aus der beliebig zu ver= mehrenden Summe syntaktischer Einzelheiten. Zweck dieser Musik ist die Wiedergabe gegenständlicher Wirklichkeit, ihr Programm heißt Ablauf greif= barer Geschehnisse. Hierbei flieht die Musik aus der raumlosen musikalischen Phantasie in die Bezirke der räumlichen Wirklichkeit. Die Form, als Summe kleiner Klangstrecken, muß sich als höchst raumgebunden erweisen. Diese Flucht zum Objekt, diese musikalische Umklammerung allernächster Dinge und Er= eignisse gehört als semantischer Kunstbereich sowohl formell als auch dem Ausdruck nach dem allgemeinmenschlichen Formungswillen an. Uns begegnen in der malaiischen Musik Gesänge ohne Worte, die das Rauschen der Brandung und das Rascheln der Palmblätter beim Sturme schil= dem 1 1 8 . Oft tritt zum Naturereignis das menschliche Geschehen hinzu. In China wurden von alters her die Pantomimen mit entsprechender Musik begleitet. Aus einem antiken Musikwettstreit ist überliefert, daß ein Aulosbläser den Kampf Apollons mit dem Drachen in Tönen schilderte 119 . Ein anderer, späterer Zeitabschnitt in Europa lenkte seine Vorliebe für programmatische Schilde= rungen auf bestimmte Instrumente 120 . Diese Art anschaulicher Klangdarstellung setzte sich in der Klassik fort, in Haydns „Schöpfung" und in zahlreichen ähnlich inhaltsbestimmten Werken. Soweit einfache und allgemein bekannte Naturvorgänge geschildert werden, wie das Schreiten des Menschen, der Galopprhythmus des Pferdes, das Zu= und Abnehmen des Sturmwindes, erscheint die Musik als dimensionierte, klangnahe, verständliche Wiedergabe. Um Stilisierung ist der Musikstil in diesem Falle nicht bemüht. Aber hinzu kommt, daß sich die gegenständliche Bindung der Tonsprache an eine jeweils individuelle Anschauungsweise an= schließt. Denn in die Bildvorstellungen hinein mischen sich subjektiv gesehene Ereignisse. Das hat zum Ergebnis, daß der Umweg der musikalischen Programm matik über individuelle Überlegungen oder Erinnerungsvorstellungen oft zu groß wird und die Verständlichkeit Einbuße erleidet. Berlioz setzt einen ausführlichen Text in das Vorwort zu seiner Symphonie phantastique und schickt voraus: „Das folgende Programm ist dem gesproche= nen Dialog einer Oper gleichzuachten, denn es dient dazu, in die musikalischen Teile einzuführen, deren Ausdruckscharakter und Form es motiviert". Der freiwillige Verzicht auf ästhetische Selbständigkeit gewinnt der Musik zwar mannigfache und überraschende Möglichkeiten gegenständlicher Darstellung, schmälert aber ihre panhumane Verstehensgrundlage. Wo der klangliche 118

vgl. Hans Engel a.a.O. S. 1 6 . Sakadas bei den pythischen Spielen 585 v. Chr. 120 um 1 7 0 0 ; die Laute bevorzugten Lenclos, Chambonniere; Couperin, Kuhnau u. a. 119

das

Klavier

2 . SEMANTISCHER AUSDRUCK

285

Direktausdruck, wie bei der Eisenbahnmusik „Pacific 2 3 1 " von Honegger, die subjektive Auffassung fast völlig beiseite schiebt, ist die Verstehensgrundlage noch eher gesichert als bei durchdachten Schilderungen in der Art der Ton= dichtungen „Sinfonia domestica" (s. Anm. 41) von Strauß oder „Les Préludes" von Liszt. Der begriffliche Ausdruck zeigt sich auch hier als binnenhafter Ausdruck. Er kreist in sich, ohne andere Ausdruckswelten einzubeziehen, ohne Schau, ohne Noesis, ohne Gestaltung. Dabei ist nicht immer gesagt, daß der klang= begrifflichen Prägung ein „reflektierender Beigeschmack" 121 anhaftet. Trotz= dem, wenn auch ein gegenständliches oder affektives Musikbestreben, das nicht durch das rationale Denksieb gedrungen ist und noch in der Einheit von Be= wußtsein, Seele und Sprache ruht, sich einfach=plas tisch mitteilt, so bleibt die seelische Erregung doch binnenhaft, also ästhetisch nicht intentional. Sie tritt, in immer neuen oder auch wiederholten Klangformeln, kettengliederartig vor den Hörer. Den Versuch, innerhalb dieser kombinierenden Ausdrucksweise und Aus= drucksform die enggezogenen Grenzen zu weiten, macht das Leitmotiv. Der bewußte Beginn und Vorsatz, dieses Motiv wie einen roten Faden durch die programmatische Form hindurchziehen zu lassen, geschah bei Franz Liszt. Die sogleich sich anschließende, weitere Auswertung dieser Möglichkeit durch Richard Wagner verschaffte einer fast logischen Verknüpfungstechnik neu= artige Einflüsse auf die musikalische Form: Objekt und Musiklogik verschmel= zen in einem motivischen Zitat=Ostinato. Mehr als Illustration, drängt nun der malend=deutende Musikgedanke auf Zusammenhalt der Form, zu absichtsvoll jedoch, als daß dieser Zusammenhalt als eine vorausgedachte oder ganzheitliche Anlage empfunden werden könnte. Selbst die gelungene Form steht und fällt mit der Semantik der Motivzelle. So bleibt es nicht aus, daß bei dieser Technik, obwohl aus einem einheit= liehen, stimmungserzeugenden Motivbild erwachsen, die architektonische For= mung immer mehr Gewicht erhält. Mit der leitmotivischen Kompositionstech= nik setzt sich der Wille an die Spitze von zahlreichen, musikalisch ausge= drückten Gefühlen und Stimmungen. Überwiegend dominieren bewußte Überlegung, Wunsch und Wille nach Form, so daß der Gefühlsstrom, ja der Gefühlsüberschwang klar durch formale Abschnitte eingedämmt wird. Es regiert die Form, indem sie die Teile miteinander kombiniert, noch mehr, indem sie als primäres Prinzip vorangestellt und mit der Mannigfalt emotionaler Ausdrucksformen gefüllt wird. Die Herstellung und oft auch künstlerisch schöne Ausweitung der Form, die auf diese Weise gelingt, ist eine räumliche, 121

so M a x R e g e r in einem Brief an A . Lindner, 1 8 9 1 .

286

VII. CUSANISCHER KREIS

architektonische. Das musikalische Leitmotiv wird als handlicher Baustein be= nutzt, als ein Meilenstein auf der Strecke der motivischen Reihung. Anstelle musikalischer Gestaltungsgesetze, die nicht räumlich sind, werden logische Maßgesetze, die nur räumlich sind, befolgt. Das Leitmotiv, welches zwar Erinnerungswerte, aber fast nur bewußte, enthält, sichert der Logik ihr Übergewicht. Die Form wird architektonisch gegliedert. Mitten hinein in die Gefühlswelt, die das Klanggeschehen bis zum Vordergrund hin erfüllt, tritt die Zahl und ihre Norm. Der Vorgang ist nicht neu. „Wir werden", so schrieb einst der venetianische Baumeister Alberti, „die ganze Regel der architekto= nischen Formung von den Musikern übernehmen, denen jene Zahlen am besten bekannt sind." 122 Der musikalische Gefühlsausdruck wird von der formalen Überlegung her gelenkt. Der seltsame Widerspruch, daß der elementare, aphoristische und form= feindliche Gefühlsausdruck die ordnende Zahl geradezu herbeiruft, reißt die Kluft zwischen Inhalt und Form auf, um so beklemmender, je bewußter der Willenseinsatz sich kundtut. Wer den semantischen Ausdruck will, muß auch die Form wollen. Selbst die impressionistische Vernachlässigung der Form ist nur eine Negation, wie die expressionistische Formfehde nur eine Revolte ist: es gibt sie, weil es eine Form gibt. In der neuzeitlichen Epoche hat sich die architektonische Formung zum Anführer des musikalischen Ausdrucks überhaupt emporgeschwungen. Fast alle Möglichkeiten klanglicher Äußerung mußten sich in die Sphäre des Wis= sens einordnen. Ausdruck ist gleich Wille, Form ist gleich Summe. Bruckner lehrt: „Die Musik besteht aus der Aneinanderreihung von Tönen, aus dem Zusammenklingen und Auseinandergehen" 123 . Und die Stimme eines Theo= retikers läßt sich folgendermaßen vernehmen: „Jedem Kunstwerk liegt ein Motiv oder Thema oder deren mehrere zugrunde. Es ist sein Ausgangspunkt", und weiter: die Motive „bilden den Kern des ganzen Werkes", sie reihen sich „in logischer Folge" 124 zusammen. Wird das musikalische Werk so kraß als Ergebnis einer Verknüpfungstechnik angesehen, als kausales Geschehen be= wertet, dann richtet sich der Form=Inhalt=Dualismus notwendigerweise als ein ästhetischer Widerstand auf, welcher gerade mit den Mitteln, die man herbei= ruft, mit logischer und perspektivischer Verteilung, nicht zu bewältigen ist. Er kann nur durch Überhöhung seiner selbst, durch primäres Ineinanderschwingen der Kontraste und Verhältnisteile, durch das noetische Ausgangsbild auf dia= phane Weise und vorher zum Ausgleich gebracht werden. 122

D e re aedificatoria. Florenz 1 4 8 5 ; Kunst. Stuttgart 1 9 5 0 , S. 93. 123 124

zit. bei G . F. H a r t l a u b :

Fragen an die

Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt. W i e n 1 9 5 0 , S. 1 1 4 . Guido A d l e r : D e r Stil in der Musik. Leipzig 1 9 9 2 2 , S. 50.

28 7 3. D I A P H A N E R (DAS

AUSDRUCK

EINSSEIN)

WERDENSGESETZLICHE GESTALT. Gegenständliche Vorbilder, elementare Ge= fühlserregungen und motivische Bauformen stehen in der Ausdruckssphäre der geistigen Verknüpfung nicht zur Debatte. Der W e g aus der Tiefe eines Gefühls muß nicht immer in den elementaren Klangausdruck hineinführen, er kann sich auch vor seiner Fertigprägung mit geistigen Vorstellungen vereinigen, dergestalt, daß alle raum= und streckengebundenen Eigentümlichkeiten sich von dem ästhetischen Ausdruck ablösen und diesen in eine Zeitsphäre ver= setzen. Stückhaftigkeit entsteht in der Raumsphäre. In ihr ist das musikalische Einzelteil ein selbständiges Formstück, welches ohne weiteres sich sichtbar darbietet. Die Musik erscheint dann unter dem ruhenden Aspekt des objekt= gebundenen Seins. Steht die Musik jedoch im geistverknüpf enden Sein, dann geben die Teile ihre Selbständigkeit an das Ganze ab. Es entsteht ein Abgabe= und Hinnahmevorgang, der nicht objekthaft, sondern organisch ist.

Bei der organischen Gestaltung entscheidet und bestimmt der Gesamt* Zusammenhang alles. Das organische Zusammenhangsystem setzt die Wer= densgesetzlichkeit anstelle der Zahlengesetzlichkeit. Diese Verschiedenheit der organischen Gestaltung von der rationalen Form ist nicht zu verkennen. Die Ratio=Form ist gezwungen, ihre Maßzeit mit dem Maßraum der Form zur Deckung zu bringen. Die Organ=Gestalt weiß nur von einer beseelten, nichts von einer bemessenen Zeit, nur von einer „Zeit der Seele" 1 2 5 , welche die Empfindung des Werdens, eines ungleichmäßigen Werdens, enthält. Diese beseelte Zeit ist „die Bewegtheit und Neuwerdung des Bewußtseins, und damit eine zugleich bauende und auflösende Gegenwart in einer Weite und einer Fortdauer, welche allein dem Gefühl wahrnehmbar sind" 1 2 5 . Auf diese organische Gestaltung wies Richard Wagner hin, als er das „stete organische Werden" 1 2 6 in der Musik hervorhob. Er wollte damit eine Aus= druckssphäre, die nicht architektonisch oder kausal sich an fertige Einzel= Prägungen bindet, erkennbar machen. A n diese Erkenntnis werden wir uns halten müssen ; wir weiten sie aus auf die Begreifbarkeit der Musik überhaupt. Musik, so gesehen, hat zwar Gestalt, aber keine Architekturbedingung, ihr Sein „wird bestimmt aus den Gründen ihres Werdens" 1 2 7 . Es leuchtet ein, daß die Werdensgesetzlichkeit, die in dieser Ausdrucks= Sphäre erkennbar ist, sich nicht in der Klangerscheinung an sich nachweisen 125 René Poirier: Temps spirituel et temps materiel 1 9 3 5 / 3 6 , S. 6. 126 Oper und Drama. 1 8 5 1 . m Rolan 10.

(Rech, philos. V ) . Paris

288

VII.

CUSANISCHER

KREIS

läßt. Während sowohl in den ornamentalen wie auch in den semantischen Ausdrucksbezirken die jeweilige musikalische Aussage sich in den Verknüp= fungen elementarer Teile kundtut, verankert sich der Organzusammenhang unterhalb der Woge der Klangmaterie. Er verlangt eine sowohl größere als auch beweglichere Sicht. Die musikalischen Phänomene, welche in Ton und Klang gegeben sind, dienen hier nicht mehr als Bindemittel. Die Mittel, deren sich die organische Gestaltung bedient, sind transphänomenal. Es ist nicht leicht, dieser Weitbeziehungen und Zusammenhänge habhaft zu werden. Sie liegen nicht im Griff, sie sind nicht dinglich, obwohl es sich bei dieser Ausdrucksweise um ein durchaus ursprüngliches Geschehen handelt. Die Art und Weise, künstlerisch zu gestalten, ohne dabei dem Verstand oder dem Gefühl ein einseitiges Übergewicht zuzubilligen, muß zunächst als Me= thode aus einer inneren Gesamtlage vorstellbar werden. Der Schaffende befindet sich dabei in einer Sphäre, die sich nicht dem Gegenständlichen und nicht dem Augenblick zuwendet. Sein Werk stellt sich dar, wie Wagner es bündig formu= liert hat, als „ein Seiendes, dessen Werden in nächsten und weitesten Kreisen uns stets gegenwärtig ist" 128 . In der Tat bewirkt die Vergegenwärtigung auch des Entferntesten jenen unräumlichen Eindruck, welchen diese musikalische Ausdrucksart in uns hervorruft. Das Sein dieser Musik besteht in weitester Beziehungserfülltheit. Das Tieißt, daß nicht Beziehungen, wie sie jede gute Form aufweist, eine Ordnung herstellen; vielmehr gilt hier eine Erfülltheit, die alle ordnenden Beziehungen in jeder Weite in sich einschließt, ohne sich auf sie zu stützen. Noch sehr weite Entfernungen zwischen Ausdruckszusammengehörigkeiten sind organisch und verständlich. So zeigt sich der Inhalt derart gestalteter Musik als eine „unlösbare Verbindung zwischen dem Klang und jenen Begriffen, mit denen unser Denken das musikalische Werden organisiert und beherrscht" 129 . Zu diesen Begriffen, die unter der Herrschaft des organisch Gestaltenden stehen, gehören Kontinuität, Proportionalität und eine musikalische Entelechie. Aber die Kennt= nis dieser Begriffe an sich reicht noch nicht aus, um auch deren musikalische Erscheinungsweise verständlich zu machen. Um hier zu einem Ergebnis zu kommen, ist es nötig, durch die Klärung des Gestaltbegriffes hindurch zu der Beantwortung der Frage vorzudringen, wie sich werdensgesetzliche Anlagen innerhalb eines Kunstwerkes zeigen. Die Gestalt entsteht weder durch Zufall noch durch Logik. Ergebnisse ratio= Haler Überlegung oder momentanen Gefühlsausdrucks, die sich in der Form zeigen, finden bei der ästhetischen Gestalt keine Parallele. Sie ist irrational, 128

Oper und Drama. Gisèle Brelet: Musiques exotiques et valeurs permanentes de l'art musical (Revue phil. Nr. 1—3). Paris 1946, S. 84. 129

3.

DIAPHANER

289

AUSDRUCK

durchdrungen von Ähnlichkeitsbeziehungen, welche durch innere Anschauung, niemals dank äußerer Synthese erkennbar sind. Während jede Synthese mit begrenzten Teilen argumentiert, umfaßt die Gestaltanschauung eine räumlich unabhängige Beziehungsweite und Beziehungsganzheit. Ein so entstandenes, räumlich nicht bedingtes, allein zeitlich verstehbares Klanggewebe wird vom Werdensprinzip getragen. Somit ist es das Werdensprinzip allein, welches, in der Gestaltkategorie dominierend, alle aus Gefühlsaugenblick und aus Vorstellungsbewußtheit her= vordringenden Eindrücke aufnimmt und verwandelt. Diese Verwandlung geht aus der Sphäre des Raumes dergestalt in die der Zeit über, daß sich Komponist und Hörer nicht in der Raumform des Werkes begegnen, sondern in der zeit= belebten Innenschau, in welcher Ausgang und Ziel, präexistentes und reexi= stentes Erlebnis zusammenfallen. Komponist

Werk

»

Hörer

Im Werden ist alles unstarr, unabgetrennt, ja nicht einmal beendigt. Auch der echte Gestalteindruck dauert an. Die antike Ästhetik sprach von einem Sei= enden, welches nicht ruhe, sondern fließe. Das Ruhende, die rationale Gegeben= heit der Form, wurde von Euklid als Dedomena (Formbedingung) bezeich= net. Das Bewegliche und nicht Abmeßbare der Gestalt hieß nach Heraklit Rheontas (das Fließende) 130 . Damit war die Unterscheidung von Form und Gestalt schon historisch früh zu Bewußtsein gebracht. Auch das Mittelalter kannte eine ähnliche gestaltende Innenkraft, die „perpetua mutatio" 1 3 1 , das niemals Festliegende, welches das innere Werden charakterisiert. Wir entwickeln hieraus die musikalische Gestalt als einen Ausdruck, der sich nicht in aneinandergereihten Einzelempfindungen einfangen läßt, dem jede Einzelheit an sich unwichtig ist, f ü r den ein alles übergreifendes Zeitgefühl primär ist und f ü r den es Raum im begrenzenden Sinne überhaupt nicht gibt, 130 131

19

Eisler I 478. ebd. III 512.

Musica F a n h u m a n a

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VII. CUSANISCHER KREIS

es sei denn, man verstehe unter dem musikalischen Raum etwas völlig Dyna= misches, Fließendes, also im Grunde Unräumliches. Auch das ist möglich132. Doch es ist begriffsklarer, wenn man alle Werdensgesetze der Zeit, und zwar der unphysikalischen Zeit, und alle Seinsgesetze dem Räume, und zwar dem physikalischen Räume, zuordnet. Man kann auch im Hinblick auf den Stil eine verschiedene Auswirkung der erwähnten euklidischen und der heraklitischen Auffassung aufzeigen. Aus= druck und Stil tauschen im räumlichen Formbereich ihre Wirkungen aus: beide bekunden individuelle und historisch bedingte Eigenheiten, welche korrespon= dieren. Im nicht=räumlichen und nicht=individuellen Bereich fließt der Aus= druck in die Gestalt; alle stilistischen Ordnungsvorstellungen und Eigenheiten treten später und als nicht wesentlich hinzu. Die ästhetische Gestalt, die primär der Zeit und erst sekundär dem Räume angehört, führt zum Verständnis des Einsseins im Musikausdruck. Mit dem Begriff „Einssein" stehen wir wieder in der cusanischen Vorstellungswelt. Uns wird bestätigt, daß die „hohe Schaukraft" (alta vis consideranda) alle ästhetischen und sonstigen Vielfältigkeiten in sich beherbergt: der einkehrende Blick findet alles zugleich und zusammen in sich133. In dieser Schaukraft wird nicht vereint, es ist ja schon alles umgreifend geeint. Dieses Schon=Umgriffen= sein im schauend=einigenden Geschehen ist das erste; die Vielheit, die Begeg= nungen, die Gegensätze folgen danach 134 . Wir entnehmen daraus: in der schauenden Vorstellung steht die „reine Anwesenheit" 135 des Ganzen da, jedes objektive Teil ist weiteres Ergebnis. In der Musik: jedes objektive Klangphänomen wird gestaltet von der Objekt= losigkeit einer größeren und primären Vorstellung. Diese heißt deshalb trans= phänomenal. Die transphänomenale und werdensgesetzliche Eigenart der musi= kaiischen Gestalt beruht in ihrer Unteilbarkeit: jedes Nachfolgende wirkt auf das Vorangegangene zurück, jedes Vorhergehende wirkt auf das Nachfolgende voraus. Es deckt sich also der gestaltbedingte Ausdruck nicht mit seinem phäno= menalen Klangbild. Er läßt nicht etwas bestimmt Gegebenes als Hauptsache hervortreten, er staffelt nicht die Gedanken, um dadurch zur Form zu gelangen. 132

vgl. Melchior P a l ä g y i : Die Logik auf dem Scheidewege. Berlin und Leipzig 1 9 0 3 , S. 1 2 9 ( „ W i r müssen sagen, daß alle Erscheinung fließt, weil der R a u m selbst ein fließender oder dynamischer ist."). 153 " i n se omnia c r e a t a " ; D e beryllo, cap. V . 134 "unitas uniens a n t e omniem pluralitatem per mentem conceptibilem"; Id. de mente cap. V I . 135 Johannes Peter: Grenze und Überstieg in der Philosophie des N i k o l a u s von Cues (Symposion I V ) . München 1 9 5 0 , S. 1 6 4 .

3 . DIAPHANER AUSDRUCK

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Vielmehr versteht sich jeder Gedanke nur mit dem vorher Gewesenen und dem nach ihm Werdenden zusammen. Während der formbedingte Ausdruck sich mit seinen benachbarten Ausdruckswendungen wie Perle an Perle aneinander* reiht, gleicht der gestaltbedingte einem Licht, dessen Strahlen auf andere Strahlen treffen und von diesen nicht abgrenzbar sind. DIAPHANE SINNDARSTELLUNG. Die Vorstellung von der Lichteigenschaft des werdensgesetzlichen Ausdrucks taucht schon früh in der mittelalterlichen Ästhetik auf. Einiges wurde schon genannt. Man bezeichnete diese Eigenschaft als „diaphan" (s. Anm. 42), strahlend, durchleuchtend. Im Zusammenhang mit der Noesis wurde hier schon Plotin erwähnt, welcher die einheitliche und simultane Schau der inneren Vorstellung als eine „Quelle unkörperlichen Lichtes" 136 bezeichnet, als „der Seele Licht= und Leitspur" 137 . Ähnliches findet sich später bei Cusanus, wenn „das Licht der Sinne" (lumen sensuum) durchaus nicht als eine Eigenschaft der doch verschiedenen Sinne gedeutet, sondern als von oben gespendete Leuchtkraft 138 hingenommen wird: das diaphane Er= kennen liegt außerhalb der Sinnensphäre, es ist eine ursprüngliche Macht.

Unter dem diaphanen Prinzip ordneten sich so die emotionalen Vorgänge in die seelischen, diese in die geistigen ein. Gerade daß die Gefühlsregungen keine Eigenrechte erhielten, sollte für die Ausbildung der Ästhetik bestimmend werden. Denn die Unterscheidung von geistigen und seelischen Eigenschaften, mit welcher sich die aristotelische Philosophie so gern befaßt hatte, bedeutet ja nicht Trennung. Die mittelalterliche Ästhetik, der die bloße Gegenwartsnähe der Gefühle und Empfindungen verdächtig war, bewahrte treu diesen Einheits= bezirk von Seele und Geist. Das erste Anliegen jedes Kunstausdruckes war die „das Leben jedes einzelnen Menschen durchdringende ethische Forderung" 130 . Damit galt auch für das Kunstwerk das innere Bemühen, jede seelische Empfin= dung nur in der ethischen Gesamthaltung aufleben zu lassen. Zumindest wurde die Zugehörigkeit der Seele zum Geist aus möglichst vielen Perspektiven nachgewiesen. Die Vorstellung vom „Fünklein der Seele" 140 bestätigt die Geisteskindschaft bestimmter seelischer Erlebnisse. Auch hier ist das Lichtgleichnis herangezogen. Durch das Nicht=Getrenntsein von geistigen Vorstellungen wird das seelische Erlebnis auch des Durchleuchtens teilhaftig. 136 zit. bei Katharina Macha: Geistige Schönheit bei Plotinos. Phil. Diss. Bonn 1 9 2 7 , S. 34. 137 ebd. S. 52. 158 "desuper d a t u r " ; Compendium 1 5 . 139 Julius Schwietering: Deutsche Dichtung des Mittelalters (Hdb. d. Literaturwiss.). S. 1 1 9 . 140 meist bei Paracelsus und Meister Eckhart.

19*

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VII.

CUSANISCHER

KREIS

Die diaphane Kraft des Geistes entfloß f ü r die mittelalterlichen Denker aus dem religiösen Bewußtsein, aus der alle Gegensätze überdauernden Ver= bundenheit des Geistes mit dem Heiligen Geist. „Eine Leuchte des Herrn ist des Menschen Geist." 1 4 1 Dem Abgleiten des künstlerischen Ausdrucks in Gottesferne war damit vorgebeugt. Der durchleuchtende Geist erhielt auch in ästhetischen Dingen den höchsten Wert. Die diaphane Gestaltungsweise wird heute auch als transzendent bezeich= net. Der Geist bindet sich nicht an Grenzen, er ist „über sich hinausgerichtet, auf anderes, auf alles, was in seine Reichweite fällt" (Nie. Hartmann). Diese Reichweite läßt sich freilich nicht klassifizieren. Sie ist eng, wenn die Logik eine bestimmte Ordnung vorschreibt, sie dehnt sich aus, wenn das Abge= stimmtsein einzelner Erlebnisse aufeinander trotz arationaler Beziehungen einsichtig und durchsichtig bleibt. Transzendenz ist demnach, musikalisch ge= sehen, eine ästhetische Belebtheit, die sich im Gesamtklang auf eine völlig andere Weise betätigt, als es die Kontrastbelebtheit der klingenden Einzel= gedanken tut. Der transzendente Gehalt ist also nicht, wie man es auf Grund der inneren Schau leicht vermuten könnte, etwas Ruhendes. Er ist vielmehr wirkungsvolle Lebendigkeit, er ist, um wieder mit Cusanus zu sprechen, „lebenweckende Einheit" 1 4 2 . Durch die Unbegrenztheit der einzelnen musi= kaiischen Ausdrudeswendungen wahrt das Ganze einen Zusammenschluß, welcher primär gegeben ist und dessen Transzendenz dann verlorengeht, wenn die Ich=lntelligenz absichtsvolle Verbindungen herstellt. Gerade in der mittelalterlichen Ästhetik, die ja den geistigen und den seelischen Erlebnisbereich nicht in ein dualistisches Verhältnis setzte, sondern bestrebt war, deren Koinzidenz zu begründen, ergaben sich mannigfache An= satzpunkte, diese lebenweckende Transzendenz nachzuweisen, mit Ergebnissen, die auch für unsere Kenntnis vom Musikerlebnisse grundlegend sein durften. Die A u f f a s s u n g von einer diaphanen Geistigkeit im musikalischen Kunstwerk untermauerte die ästhetische Gewißheit, daß der nur triebhafte, spontane und klangunmittelbare Gefühlsausdruck nicht ausreiche, um den höchsten Schön= heitsforderungen zu genügen. Z w a r ist auch im triebhaft=primitiven Menschen ein Geistmittelpunkt vorhanden, doch nur ein untätiger, der keine Strahlen auf die ganze Gefühlswelt aussendet. Um diesen zur Aktivität zu bringen, ist ein gottgeistiger, ein im Grunde wunderbarer Ansporn notwendig. So kommt Eriugena zu der Äußerung, daß die übergegensätzliche Beziehungserfülltheit, die Proportionalität, in der Musik „etwas Wunderbares, etwas noch durch 141 142

Spr. Sal. 20, 27. "unum vivificativus"; Excitatio lib. X, 4.

3-

DIAPHANER AUSDRUCK

293

geistiges Schauen kaum zu Erfassendes" sei, welches „nur des Geistes innerer Sinn" 1 4 3 wahrnehmen könne. Zwangsläufig erhebt sich hier die Frage, wie es mit den heutigen Ergeb= nissen aus der Weiterverfolgung dieser Problematik, dieser Transzendenz des geistigen Schauens bestellt sei. Die diaphane Gestaltung, welche wir als objekt= frei und nicht dualistisch bezeichnet haben, findet in der heutigen Ästhetik erneut Beachtung. Ihre Realität beginnt wieder, es sei nur an Gebsers Forschun= gen erinnert, Gegenstand der Diskussion zu werden. Neuerdings geht man dem Problem in der Weise nach, daß man nach dem ästhetischen Sinn und dessen Wirklichkeit fragt. Sinnvoll ist etwas anderes als logisch oder formgerecht. Ein inhaltlicher Sinn bedeutet, dem Wortursprunge nach 144 , eine inhaltliche Rich= tung, eine geistige Gerichtetheit. Ein Sinn ist in der Musik nicht von vorn= herein da, auch dann nicht, wenn eine formale Konstruktion ordentlich vorliegt; denn, genau gesagt, ist dann ein solches Kunstwerk formvoll, doch nicht sinn= voll. Der musikalische Sinn kann sich nur darin zeigen, daß außer den Klängen, die sich unmittelbar vorfinden, und außer dem logischen Zwang zur Form, der sich ebenfalls in unmittelbare Sicht rücken läßt, ein weitreichender Ausdrucks= Zusammenhang erlebbar wird. Dieses Zusammenhangserlebnis hat keine Be= findlichkeit, es läßt sich nicht orten. „Eine Sinnbeziehung, gleichgültig welcher Art, ist niemals etwas Abgeschlossenes." 145 Anders gesagt, der musikalische Sinn steht nicht vor Augen, er haftet auch nicht als klingende Teilform im Ohr. Er ist ortfreier Gehalt, der sich stets neu erschließt. Mit der allgemeinen Erklärung, daß man alles Planvolle und Zielklare als sinnvoll, alles Zufällige und Undurchsichtige als sinnlos ansieht, ist schon der erste Schritt zum musikalischen Sinnverstehen getan. Denn was heißt musi= kaiische Zielklarheit? Zweifellos berührt sie sich mit der cusanischen Connexio, mit der primären Verknüpftheit, in welcher eine „Ganzheitsrichtung" 146 von vornherein sich auswirkt. In der Tat dürfen wir die musikalische Ziel= und Sinnvorstellung mit der schaubaren Primärverknüpftheit in Zusammenhang bringen. Beide Tendenzen sind von vornherein da, sie haften dem Kunstwerk nicht nachträglich an oder werden logisch=kausal eingefügt. Sie stehen hinter oder über dem Ablauf des Ganzen. Diese Doppeltheit von Primärverknüpftheit und Sinnfülle ist als tatsächlich möglicher Ausdruck vorhanden. Sinn und Sinnverstehen sind „eminent prak= 143

" a n i m i interior s e n s u s " ; D e div. nat. 965. In sprachlichen W e n d u n g e n wie „ S i n n e n und Trachten" oder „ i m Sinne des U h r z e i g e r s " w i r d die Richtungsmeinung des W o r t s t a m m e s Sinn deutlich. 145 A r n o l d Schering: D a s S y m b o l in der M u s i k . Leipzig 1 9 4 1 , S. 1 2 4 . 148 "tendit tota directio ad unitatem objecti"; Schriften des N i k . v. C u e s H. 1 0 S. 39. 144

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tische Realitäten wie die naturalen Vorgänge auch" 147 . Nur geht die Sinn= erfassung andere Wege als die Erfassung naturgegebener Realitäten. Die Erfassung dieser Zusammenhänge erfordert ihre eigene Methodik, die durch* aus unphysikalisch und undistributiv ist. Der Sinngehalt, den wir als eine Doppeltheit erkannt haben, muß deshalb so lange als irreal gelten, als er hinter den phänomenalen Klangmitteln verborgen liegt. Erst seine Wirkung und Bewußtwerdung, sofern sie erreicht wird, ist real. Der weitere und erst zum Ergebnis führende Schritt zum musikalischen Sinnverstehen liegt in dem metaphysischen Wagnis, die diaphane Wirklichkeit des Sinngehaltes in der Musik zugleich vorwärts und rückwärts zu schauen. Aufgabe ist, das Klanggebilde nicht als objektives Sein zu betrachten, sondern es aus seiner Gegenwart herauszuheben und sein Werden und Gewordensein stärker als seinen momentanen Zustand empfinden zu lassen. Der werdende und der gewordene Anteil, den die musikalische Sinnerfassung enthält, die vorwärtsgewandte und die rückwärtsgewandte Strebigkeit einer Melodie gibt sich uns als Gerichtetheit und Bezogenheit methodisch zu erkennen. Wir dürfen kurz, bevor wir das im einzelnen beleuchten, zurückschauen auf die Gestaltbegriffe Kontinuität, Proportionalität und Entelechie. Im Anschluß an die eben gewonnene Klarstellung gibt sich die Kpntinuität als das voran= weisende, die Proportionalität als das zurückweisende und die Entelechie als das beides vereinigende Prinzip zu erkennen. Einschränkend muß lediglich gesagt werden, daß in jedem dieser Prinzipien die anderen anlagemäßig mit= enthalten sind. Dennoch muß versucht werden, innerhalb dieser Dreiheit ver= schiedene Eigenschaften herauszublenden. Die Kontinuität rückt nun als Ge= richtetheit, die Proportionalität als Bezogenheit klarer vor uns hin. BEZOGENHEIT UND GERICHTETHEIT. Gerichtetheit und Bezogenheit sind keine dualen Formprinzipien. Sie dienen gemeinsam zur Auffindung ein und der= selben Innenschau, sie sind mehr ineinander verwoben als voneinander ge= trennt. Was sie klären helfen, ist die diaphane Ausdrucksbedeutung, welche sich von der objektiven Ausdrucksdarstellung, wie sie sich in der ornamentalen und in der semantischen Sphäre bietet, grundsätzlich unterscheidet. Denn die diaphane Ausdrucksbedeutung ist weder gegenstands= noch affektgebunden. Ihre Wirksphäre ist die unräumliche Zeit, in welcher sich die Koinzidenz von Bezogenheit und Gerichtetheit vollzieht. Zu dieser Koinzidenz sind noch einige Besonderheiten anzumerken. Weil die diaphane Bedeutungssphäre als eine unräumliche geschaut werden muß, bildet das Ineins von Gerichtetheit und 147

Gerhard Mackenroth: Sinn und Ausdruck in der sozialen Formenwelt. Meisenheim 1952, S. 9.

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Bezogenheit für unsere Betrachtung den Kernpunkt. Im Notenbild befindliche Einzelheiten geben nur Spuren ab, deren Richtung erst ergründet sein will. Elementare Formausdeutungen führen irre; denn Gerichtetheit und Bezogen= heit zeigen sich nicht auf einer vorhandenen Melodielinie, sondern auf einer zu denkenden Ineinanderrückung von Entferntem. Trotz dieser Unräumlichkeit besitzt die Koinzidenz von Gerichtetheit und Bezogenheit eine lebensgesetzliche Realität und eine organische Tragfähigkeit. Sie vollbringt die ästhetische Leistung, in ihrer Doppeltheit das Eigentümliche einer Musik zu beherbergen und zu behalten, genauso, wie auch ein orga= nisches vielzelliges Gebilde, welches sich teilt, seine Eigentümlichkeit beibehält: immer „bleibt das ursprüngliche Ganze erhalten" 148 . Die genannte Koinzidenz ist in der Tat ein organisches Ereignis. Auf organische Weise bewahrt sie ihren jeweiligen Ausdruck und Sinn in seiner Gesamtheit und seiner Tiefe. Daher kommt es, daß der lebensgesetzliche Ausdrucksgehalt der diaphanen Gerichtet= heit und Bezogenheit nie ganz auszuschöpfen ist. Der Hörer nimmt, teils mit dem Gefühl, teils mit der Vernunft, all diese Zusammenhänge in sich auf. Freilich gibt es einen „Sinnhorizont" 149 , der dem panhumanen Verstehen diaphaner Ausdrucksbedeutungen Grenzen setzt. Je= doch ist dieser Sinnhorizont weit genug, um die lebensgesetzliche Realität dieser Verstehensart allgemeinmenschlich zu gewährleisten. Es wurde schon gesagt, daß die Koinzidenz von Gerichtetheit und Bezogen* heit in ihrem Ausdruckswert nie ganz ausschöpfbar ist. Sie enthält einen meta= physischen Überschuß an Ausdrucksbedeutung. Vom Hörer her gesehen müs= sen wir sagen: wenn die ästhetische Aussage den effektiven Aufwand an klang= liehen Mitteilungen weit überschreitet, wenn, anders gesagt, die Gesamtheit und die Tiefe des Sinnausdruckes nur mittelbar und nur hinter den Klang= Prägungen aufleuchtet, dann wird das Verstehen von S e i t e n des Hörers ap= proximativ: es nähert sich, je nach der Weite seines Sinnhorizontes, dem in= tentionalen Gehalt mehr oder weniger eng. Hieraus folgert, daß das intentio= nalästhetische Verstehen besonders vertiefungs= und erweiterungsfähig ist. Der Hörer kann die Fähigkeit des Hindurchhörens durch die Klanggegenwart unbeschreiblich verfeinern. Verglichen mit den bereits besprochenen Ausdruckssphären, begegnet dem Hörer hier eine andere Kategorie der Ausdruckswerte. Mittels des noetischen Verstehens, welches Gefühl und Gedanke ungetrennt in sich birgt, gelangt er an diese Kategorie der musikalischen Sinnbeziehungen heran. Das Besondere 148

Friedrich Oehlkers: D i e Kontinuität des Lebendigen. Freiburg 1 9 5 0 , S. 8. W a l d e m a r Oelrich: Geisteswissenschaftliche Psychologie und Bildung des Menschen. Stuttgart 1 9 5 0 , S. 5 1 . 149

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an dieser Verstehensweise läßt sich durch folgenden Vergleich noch genauer abgrenzen. Für die ornamentale Ausdruckssphäre genügt ein „zweckrationales Verstehen", welches sich an die äußere Gegebenheit und Richtigkeit hält. Die semantische Ausdruckssphäre verlangt ein „wertrationales Verstehen", welches Gefühlsgründe, aphoristische Willensäußerungen und konstruktive Formge= setze mit einbezieht. In die diaphane Sphäre dringt das „irrationale Ver= stehen" 1 5 0 ein, welches ein ästhetisches Totalbild anstrebt und das Wahr= nehmen der sinnvollen Verwobenheiten, ohne diese völlig festlegen zu können oder zu wollen, unaufhörlich ergänzt und unaufhörlich korrigiert. Nun sei im folgenden versucht, Gerichtetheit und Bezogenheit unter ihren besonderen Aspekten zu sehen. Das Gerichtetsein der musikalischen Ausdruckszusammenhänge zeigt sich als die vom Vorausempfinden und Voraushören wahrgenommene, auf der noetischen Erfahrung statt auf dem logischen Formgesetz beruhende Verknüp= fung. Der intentionale Ausdruck wendet sich dabei dem noch Kommenden zu. Dieser sinnvolle Vorgang läßt sich, nach Bergson, einem Evolutionsvorgang vergleichen, „dessen ununterbrochene Phasen sich in einer Art von innerem Wachstum gegenseitig durchdringen" 1 5 1 . Ein gerade erklingender Sinnausdruck ist nicht auf sich selbst bezogen, nicht abgegrenzt, nicht f ü r sich gültig, vielmehr ist er wesentlich hingewendet zu den noch im Werden befindlichen Klängen. Darin, daß er sich nicht auf das erklingende Sein, sondern auf das musikalische Werden verläßt, beruht seine Wirkung und seine Besonderheit.

T* , Beispiel 67. Bach: Violin-Konzert E-Dur, 2. Satz Im intentionalen Ausdrucksbereich ist eine melodische Wendung nicht fer= tig, sondern strebt, sofern ihr gerichteter Charakter überwiegt, über ihre scheinbare Grenze hinaus. Sie negiert alle faktischen Zwischenräume. Sie kann mitunter eine besonders deutliche Erwartung auf ihr Weitergeführtwerden er= wecken, eine Spannung auf etwas hin. Dabei wird die Anzahl der während dieser Spannung laut werdenden Töne oder Klänge völlig wesenlos. 150

Gerhard Mackenroth a.a.O. S. 70 f. Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden (übers, a. d. Franz.). Meisenheim 1948, S. 30. 151

3.

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AUSDRUCK

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Beispiel 68. Pfitzner: Ouvertüre zu „Käthchen von Heilbronn" Tr. = Trompete

Str. = Streicher

Die Weite nicht allein dieser „Zwischenräume", sondern auch des eigent= liehen Melodiezuges selbst kann sich auf verschiedene Elemente verteilen: es können klangliche, intervallische und formale Elemente sein. Sie alle geben ihren Elementarcharakter völlig auf. Klänge, Intervalle und Formen sind hier nur frontale ästhetische Mittel, die dem dahinter liegenden gerichteten Ausdruck zur Verwirklichung verhelfen. Dies im einzelnen durch Beispiele, die ja immer nur Ausschnitte sein können, zu belegen, widerspricht an sich dem unräumlichen Charakter dieser Ausdruckssphäre. Dennoch lassen sich

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Beispiele finden, die trotz ihrer Kürze einen Einblick in diesen irrealen ästhe= tischen Vorgang gestatten. Zunächst das klangliche Element. Hier wollen wir der Einfachheit halber nur den Einzelton betrachten, der ja bei der einstimmigen Melodie zugleich einen Klangwert hat. Wie wenig aber der Klangwert eines und desselben Tones faßbar und konstant ist, wie weit der Ton als Element innerhalb eines intentionalen Gesamtzuges bedeutungslos wird, zeigen folgende Ausschnitte:

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• •

V J .

Beispiel 69. M o z a r t : Figaros Hochzeit, Ouvertüre

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p p IpK^ii^Ji JIJLUi Beispiel 70. Bach: Weihnachtsoratorium, Alt-Arie

Die Buchstaben kennzeichnen jeweils akustisch gleiche Töne, doch ihr Klangwert stimmt mit dem elementaren Erscheinungswert nicht überein. Das eis bei (A) hat einen tieferen Klangwert als das bei (B), es zielt abwärts und paßt sich seiner tieferen Klangumgebung an, während der Vergleichston bei (B) unter der Einwirkung höher liegender Töne einen anderen Charakter und Wert erhält, er „liegt" höher. Bei (C) erhöht die Aufwärtsgerichtetheit den in= neren Klangwert des e entgegen der bei (D) scheinbar gleichen Höhe desselben Tones: das Gedächtnis registriert den Ton bei (D) durchaus nicht als denselben wie bei (C). Dieser Unterschied zwischen dem irrealen Klangwert und der realen Klangerscheinung ist überall da wahrnehmbar, wo die Gestalt einer Melodie den einzelnen Ton oder Klang in ihre bestimmte Gerichtetheit hin= einzieht. Der innere Zwang zu einer vom Elementarklang abweichenden Wertvorstellung in bezug auf Klanghöhe oder Klangcharakter, ja die Selbstverständlich= keit, daß diese Abweichung, wenn auch unbewußt, wahrgenommen wird, wirkt sich erst im Großen voll aus. Je weiter die Zusammenhänge bei spürbarer Sinn= einheit sind, um so entscheidender tritt der irreale Klangwert als Träger der Beziehungsganzheit hervor. Um ein Beispiel für diese Wandlungsfähigkeit des Akkordklanges zu geben, sei ein Ausschnitt gewählt, der aufzeigt, daß selbst so elementare Klangprägungen wie Dur und Moll als Erscheinungsbild unwesentlich werden können. Man vergleiche etwa die in einem cis=Moll= Klang eingebettete kleine Terz e=cis, die am Anfang der „Versunkenen Kathe=

3-

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AUSDRUCK

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drale" von Debussy erklingt (A) und im Mittelteil wiederkehrt (B), mit der kleinen Terz g—e, die am Ende innerhalb des C=Dur=Klanges erscheint (C). Man wird erkennen, daß selbst Klänge, die nach ihrer elementaren Akkord= struktur ganz verschieden sind, als wertmäßig dieselben empfunden werden können 152 .

Beispiel 71

Nicht anders verhält es sich mit Intervallen. Auch sie können ihren elemen= taren Intervallwert im Zuge eines Gesamtmelos preisgeben. Terz und Quart, deren Einzelwert doch zweifellos verschieden ist, erscheinen im folgenden Beispiel als wertmäßig dasselbe:

152 Hier geschieht die intentionale Sinnumwandlung also umgekehrt wie bei den zwei vorher genannten Beispielen. 153 aus W . Wiora: Europäischer Volksgesang. Köln 1 9 5 2 , S. 56.

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Der größere Schritt der Quart sagt nichts Neues, ja er kommt im Vergleich zur Terz als ein etwas anderes Ereignis (man beachte dagegen die Quart d—g im selben Takt) gar nicht zu Bewußtsein. Der melodische Gesamtsinn ist stär= ker als die Direkterscheinung eines Intervalls, so daß rechenmäßige Intervall* großen belanglos werden. Ein anderes Beispiel zeigt drei verschiedene Inter= valle, Quint, Terz, Sekund, deren Elementardifferenzen eingeschmolzen wer= den zu ein und demselben Sinnausdruck:

jtoiTr.pTr i f T f f i ifcf f f rituE»p« Beispiel 73. J. Strauß: W o die Zitronen blühn, Walzer 2

Bei verschiedenen äußeren Stukturwerten sind die Sinnwerte gleich. Aus Elementarunterschied wird Bedeutungsgleichheit in der Entfaltung des melo= dischen Gedankens. Auch Formelemente, die ja nicht minder räumliche Abmessungen tragen, müssen sich bei gerichteter Melodik gleichsam entmaterialisieren und dem in= neren Zeitwert unterordnen. Wie zum Beispiel ein sich wandelndes melodisches Zeitgefühl gleichsam hinter oder unter einem gleichförmigen und starren Metrum sich seine eigene irreale Zeitsphäre schafft, zeigt besonders instruktiv der Schlußteil der Bach=Kantate Nr. 105. Die folgenden Ausschnitte geben drei Phasen des Werkes wieder und lassen erkennen, wie die Form zwar ihr Takt= gleichmaß beibehält, nicht aber dieses Maß an den inneren Formwert und an die Bewegtheit des rhythmischen Gesamtzuges anzulegen vermag. S.

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Beispiel 74. Bach: Choral: „Nun, ich weiß, Du wirst mir stillen mein Gewissen"

Zwei Formwerte, ein elementarer und ein unräumlicher, liegen hier im Widerstreit, wobei der elementare eindeutig im Notenbild hervortritt. Wesent= lieh bleibt allein der längst nicht so eindeutige, der irreale, alle formale Teilig= keit auflösende und auf innere Beruhigung, auf Abebbung der rhythmischen Bewegtheit hinzielende Aussagewert. Zusammenfassend ergibt sich, daß die Raumpositionen der jeweiligen Töne, Klänge, Intervalle und Formteile nicht den gemeinten Ausdruck, der ja inner= zeitlich ist, darbieten. Sie sind nur der Ersatz für ihn. Das aktuelle akustische Ereignis muß sich des Klanges als Stoff bedienen, aber der Sinn, den der ge= richtete Ausdruck anstrebt, ist in Wirklichkeit etwas anderes. Er ist konti= nuierlich auf das Kommende gerichtet, oft sogar als Erwartung, als Spannung gefühlt. Das Bezogensein dagegen umfaßt die zurückliegenden musikalischen Er= eignisse und holt deren Ausdrucksbedeutungen in die Gesamtvorstellung auf dem Wege der Erinnerung hinein. Bezogenheit ist die Realität eines „latenten Beziehens" 154 , eines geistigen Vermögens, welches von rationalen Begründun= gen unabhängig ist. Dieses Vermögen vollzieht Rückbindungen von Klang= gedanken innerhalb eines Kontinuums. Bevor die irrationale Beziehungsge= samtheit in das musikalische Gedächtnis eingegangen ist, werden heller be= lichtete Melodiezüge von der Erinnerung mehr oder weniger deutlich wach= gerufen und mehr oder weniger innig miteinander zur Deckung gebracht. 1M

Johannes Volkelt: System der Ästhetik. München 1927, II 202.

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Wiederum erschließt sich durch den „übergreifenden" Mitvollzug des Hörers, durch das transzendente Verstehen, das Sinnganze. Mit bloßer Hingabe an den Musikeindruck ist es auch hier nicht getan. Die Erfahrung einer Aus= drucks= und Sinngesamtheit entsteht durch das noetische und wiedererkennende Überschauen aller elementaren Formmittel. Die graduelle Verschiedenheit von Erinnertem und Erinnerbarem macht sich dabei bemerkbar. Erinnerbare Zusammenhänge können nur solche sein, deren Sinn= und Gefühlsausdruck sich dem Hörer tatsächlich mitgeteilt hat und die er auch gern behalten möchte. Aus ihnen werden erinnerte, sobald sich die elementare Tonbewegung in vergegenwärtigte Bewegtheit umgewandelt hat. Diese nicht in Kürze erklärbaren, aber für unser Thema höchst wichtigen Vorgänge können hier nur berührt werden. Der Psychologe nennt die er= innerbaren Eindrücke Engramme. Diese werden auf zweierlei Weise im Be= wußtsein reproduziert: einmal als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Erinne= rungsleistung, zum andern als „Wiederbeleben noch nicht aus dem Bewußt= sein entschwundener Eindrücke" 155 . Dieses letzte Wiederbeleben wird vom „unmittelbaren" Gedächtnis vollbracht. Es vermischt sich als Erinnerungs= leistung mit dem Behalten von Form= oder Klangeindrücken, die als „Stell= Vertreter des Urbildes" 156 reproduziert werden. Die Reproduktion von Urbild= Stellvertretern und von Engrammen geschieht, physiologisch gesprochen, niemals unmittelbar. Gerade in der Musik bestätigt sich die Mittelbarkeit von ins Bewußtsein gehobenen Eindrücken157 auf beispielhafte Weise. Hier wird, wie wir bei der Gerichtetheit sahen, eine behaltene Eindrucksfolge, ohne durch deren elementare Form eingeschränkt zu sein, zielhaft vergegenwärtigt. Auch die Bezogenheit läßt den Elementarcharakter der Klangvorgänge verschwinden. Sie gibt den Einzeltönen, den Intervallen und den Formwerten neue, aus dem erinnerten Gesamtsinn heraus sich mitteilende Bedeutungen. Das Beispiel einer kleinen Melodie von Telemann möge hier genügen, um die tonqualitative Rückbeziehung und Rückwirkung aufzuweisen: «

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y t y j j>r p i u P C/p i f f j ' j J'iflp J. i Beispiel 75. Telemann: Ode „Das vergnügte Schäferleben" 1 5 5 Ernst Meumann; zit. bei C. Weinschenk: Das unmittelbare Gedächtnis als selbständige Funktion. Göttingen 1955, S. 27. 1 5 6 C. Weinschenk a.a.O. S. 70. 1 5 7 „Denn das Bewußtsein ist eine Einrichtung, wo durch das Erleben von etwas, was unmittelbar gegeben ist, etwas anderes mittelbar erkannt wird." C. Weinschenk a.a.O. S. 74.

3- DIAPHANER AUSDRUCK Das hier verfrühte, bedrohlich zu einem Stillstand ansetzende Erscheinen des Grundtones bei (A) wird dadurch deutlich ausgeglichen, daß dieses Es durch die nachfolgende Fünftönegruppe gleichsam angehoben wird: die Rück= Wirkung der Finalgruppe, durch einen Triller noch verstärkt, löscht die Schluß* Wirkung des vorher erklungenen Grundtones aus. Die Unruhe eines auffallenden Intervallschrittes, hier die Kluft einer ver= minderten Septime, wird auf folgende Weise durch die anknüpfenden Sekund= gänge ausgeglichen und ausgefüllt: __ _ _ _ _

Beispiel 76. Bach: Wohltemperiertes Klavier, Teil I

Denn diese Musik will nicht lediglich Gegensätze aufeinanderprallen lassen, sondern es soll ein einheitlicher Gedanke ins Gehör gehen. In ähnlicher Weise

Beispiel 77. Bach: Wohltemperiertes Klavier, Teil II

werden hier die Septimenintervalle durch die Wirkung der engschrittigen Weiterführung gleichsam entschärft, nicht etwa kontrastiert 158 . Das reichhaltigste Feld entsteht der Bezogenheitswirkung in der Wieder^ holung. Aus der Fülle der unendlich differenzierten Wirkungsgrade in der musikalischen Wiederholung seien hier drei als Beispiele herangezogen. Eine völlig stillstehende Wiederholung ohne jeden Bezogenheitswert erklingt in nachstehendem Beispiel:



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Beispiel 78. Mascagni : Cavalleria rusticana, Intermezzo 158

Die latente Zweistimmigkeit bleibe hier unberücksichtigt.

= 5 =

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CUSANISCHER

KREIS

Schon anders ist die Mitwirkung der musikalischen Erinnerung bei folgen= der Wiederholungsmelodik, deren Fortführung den Rückschluß erzwingt, daß die äußerlich und also nur scheinbar gleichen Melodiegedanken einem größeren Sinnzusammenhang angehören und daß demnach eine simple Gleichförmig= keit nicht gemeint sein kann. In der unelementaren Vergegenwärtigung werden die anfangs als übereinstimmend wahrgenommenen Melodiezüge als innerlich voneinander abweichend verstanden:

Die Erinnerung des Hörers, die ohnehin die akustischen Größenordnungen in musikalische Größenwerte umwandelt, geht bei dem Bezogenheitserlebnis eben nicht darauf aus, Gleichklingendes zu nivellieren, sondern in den Gleich= klängen das Ereignis des Neuen zu entdecken. So kommt es, daß auch der Komponist, der ja dieses Erlebnis zweifellos noch stärker in sich trägt, mit= unter das innerlich Ungleiche der Wiederholung bereits, fast ohne es zu wollen, aus der Bezogenheitsvorstellung heraus auch äußerlich kenntlich macht. Damit ist der Grenzfall der musikalischen Wiederholung 159 erreicht:

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Keineswegs liegt hier nur eine variierte Form vor.

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AUSDRUCK

305

Beispiel 80. Mozart: Eine kleine Nachtmusik, 1. Satz

Die beim sf einsetzende Achtelbewegung wirkt sich bereits auf die Wieder= holung aus. Auch hier macht die Bezogenheit jede reale Entfernung gegen= standslos. Sie verzeitlicht den dimensionalen Musikvorgang. Sie ist gestalt= gewordene musikalische Zeit. Dank der Bezogenheit wird der übergegen= sätzliche Ausdruck in die Gegenwart des Erlebens rückwirkend eingebettet. So geschieht das jeweilige Aufnehmen musikalischer Einzelzüge stets mit der inneren Schau auf das bereits Gehörte. Dabei erfüllt den Hörer die ästhetische Gewißheit des Wiedererkennens. Dieses Wiedererkennen verhilft ihm niemals dazu, eine rationale Form zu rekonstruieren. Vielmehr berührt diese Gewißheit des musikalischen Wieder= erkennens gar nicht das Formbewußtsein. Sie hebt deshalb die Raumkon= stanten, die sich formal und sinneswahrnehmlich in den Vordergrund drängen, die „Urdistanz" 160 , welche jede innere Gestaltung von der gegenständlichen Form trennt, auf. Die Urdistanz untersteht der Elementarkategorie des Raumes. Bei der Beziehungserfülltheit gibt jedoch der formale und dimensionierte Klangraum seine elementare Begrenztheit preis und überläßt die Koinzidenz von Gerichtetheit und Bezogenheit der musikalischen Zeit. Beispiele für das höchst vielfältige Ineinanderwirken von Gerichtetheit und Bezogenheit zu geben, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Es sei genug, wenn deutlich geworden ist, daß Gerichtetheit und Bezogenheit den Hörer daran hindern, ein musikalisches Werk als ein klanglich=rhythmisches Aggregat wahrzunehmen und aufzufassen. Das Erlebnis des Einsseins aller melodischen Bewegtheit wird von Bewußtsein und Erinnerung zugleich ge= leistet. Das intentionale Musikverstehen vollendet sich in dieser Ausdrucks^ Sphäre, weil es Geist und Seele nicht trennt. Also weder auf rationaler noch auf emotionaler Basis irgendwie gestützt, macht es die musikalische Gestaltung als eine diaphane Kunstschöpfung zugänglich und vervollkommnet das ästhe= tische Erlebnis zu einem wertvollen, erhellenden und läuternden Eindruck. 180

20

Martin Buber: Urdistanz und Beziehung. Heidelberg 1951, S. 28 f.

Musica P a n h u m a n a

306 VIII LÄUTERUNG 1.

ÜBERGEGENSATZ

APERSPEKTIVISCHE GESTALTKORRELATION. Man hat die Herausbildung der Tonalität und die Gründung der Musikformen auf klare tonale Gesetze sehr richtig mit der Erfindung der Perspektive in Parallele gesetzt 1 . Seit Dürer kam die linearperspektivische Darstellungsweise in breitem Umfange in Gebrauch, insbesondere wurde sie von der imponierend erstehenden Bühnenbildkunst der Serlio und Galli=Bibiena verwendet. Diese Epoche, die Zeit um Schütz und Frescobaldi, stellt das Motiv mit seiner tonalen Dreiklangsbindung gleichsam als formalen Fluchtpunkt in die musikalische Fläche hinein und knüpft die einzelnen Akkorde so aneinander, daß sichtbare Nachbarfunktionen, wie zwischen Punkt und Punkt einer Fläche, entstehen. Rückblickend dürfen wir heute sagen, daß mit einer solchen Behandlung der musikalischen Form ein perspektivisches Prinzip in die Musik hineingetragen wurde. Diese Form mit ihrer tonalen Motivfront ordnet sich so sehr den praktischen Naturgesetzen unter, daß schließlich das Urteil aufkommen konnte, sie allein entspreche „den biologischen Gegebenheiten der menschlichen Natur" 2 .

Das „Ortsgefühl" 2 , welches die perspektivisch angelegte Musik tatsächlich spendet, ist jedoch nicht das alleinige oder bestimmende ästhetische Gefühl, das sich beim Umgang mit Musik einstellt. Es ist zwar da vorhanden, wo die musikalische Form aus motivischen Bausteinen besteht und diese Bausteine hörbar und sichtbar macht. Musik braucht aber nicht in dieser Weise perspek= tivisch angelegt zu sein. Wo sich die Musik als gestaltet statt als geformt kundgibt, befreit sie sich von der ausschließlichen Gültigkeit der perspek= tivischen Gebundenheit: sie wird aperspektivisch. Mit dem aperspektivischen Charakter sind formale Gegensätze nicht aus= gemerzt, sie gehen vielmehr in die Aperspektivität als Bestandteil ein. Die Gegensätzlichkeit der einzelnen musikalischen Strukturen steht nicht mehr im Mittelpunkt. Die perspektivischen Bewegungen der Töne und Klänge treten zurück hinter die aperspektivische Bewegtheit des Klanggeschehens. Zum Beispiel wird ein Klang, der ruhend erscheint, nicht bloß als Ruheeindruck hingenommen, sondern zugleich werden alle Grade der Bewegtheit für ihn und um ihn denkbar, soweit diese bereits hörbar geworden sind oder noch hörbar werden sollen. Anderseits tauchen bei einem bewegten Klangvorgang zugleich die ihm zugehörigen, wenn auch momentan nicht erklingenden Ruhe= 1

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1923, I 360 und Wilhelm Furtwängler: Gespräche über Musik. Zürich 1948, S. 124 f. 1 W. Furtwängler ebd.

X. ÜBERGEGENSATZ

Vorstellungen auf. Die aperspektivischen Gedanken in der Musik legen sich nicht örtlich fest. Sie kreisen, vom Hörer teils bewußt, teils unbewußt wahr= genommen, „um die Klänge", wie Eriugena es ausgedrückt hat. Von dieser musikalischen Auffassungsweise spricht bereits Helmholtz. Er kennzeichnet sie als eine solche, die nicht auf perspektivischer Logik basiert; denn, „ohne das Gesetz und den Plan des Ganzen vollständig übersehen zu können, entsteht in uns das Gefühl einer Vernunftmäßigkeit des Kunstwerks, die weit über das hinausgeht, was wir für den Augenblick begreifen" 3 . Diese Vernunftmäßigkeit ist es, die wir aperspektivisch nennen. Sie stützt sich nicht auf die architektonische Logik, nicht auf das Ortsgefühl, nicht auf den Augen= blickseindruck; sie enthält diese alle nur und kann sie auch zum bewußten Ver= ständnis erheben, „obgleich ein solches Verständnis weder für die Erfindung noch für das Gefühl des Schönen nötig ist" 3 . Das aperspektivische Verstehen hängt keineswegs einen Dunstschleier um das Kunstwerk. Es geht von der einfachen Einsicht aus, daß dann, wenn der Klang als solcher seine Bedeutung erst aus dem Plan des Ganzen erhält, dieser Gesamtplan in erster Linie wahrgenommen und verstanden werden muß. Auf die Bedeutung des Ganzen muß das Verstehen ausgerichtet sein, muß danach hinzielen, intendieren. Daß und auf welche Weise dieses möglich ist, hat Husserl, aufbauend auf der Intentionalitätslehre Brentanos, in verschiedenen Arbeiten 4 nachgewiesen. Er und seine bedeutendsten Schüler, die ja von der phänomenologischen Evidenz, von der einleuchtenden Gewißheit des vor= liegenden Seinsgegenstandes ausgingen, gelangen zu bis dahin nie so klar gesehenen ideellen Bedeutungseinheiten. Eine innerlich geschaute Gesamtvor= Stellung wird durch und von Einzelvorgängen gemeint, also intendiert. In dieser „Wesensschau" kommen individuelle Auffassungen nicht zum Tragen. Sie gelingt nur durch Anwendung von „Wesensgesetzen", welche korrelativ betrachtet sein wollen und sich von der raum=zeitlich realen Gegenständlichkeit befreien. Wir haben für diese Art Befreiung, die in der Musik so wichtig ist, den Ausdruck Holoeidetik gebraucht. Mit der Intentionalität des Bewußtseins richtet sich das holoeidetische Verstehen statt auf dimensionale Klänge auf Vorgänge von aperspektivischer Beschaffenheit, auf Klangzusammenhänge, die mit der raum=zeitlichen Darbietung ihres Auftauchens und Erscheinens nicht erschöpft sind. Was das intendierende Bewußtsein noch zusätzlich wahr= 3 Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Tonempfindungen. Braunschweig 1863, S. 590.

* am wichtigsten: Prolegomena zur reinen Logik (1900) und: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (lgoi). 20°

308

VIII. LÄUTERUNG

nimmt, sind die vergegenwärtigten Weitbeziehungen aller Art. Diese nennen wir aperspektivische Gestaltkorrelationen. Anschließend an die Erkenntnisse Husserls lassen sich Korrelationen zwischen Evidenz und Aperspektivität auffinden. Die Aperspektivität der Gestalt ist ja nicht eine leere Vorstellung. Sie erhebt sich vielmehr aus den Klangerlebnissen und den Klangbedeutungserlebnissen. Die einen sind evi= dent, die andern aperspektivisch. Der Gestalteindruck reift gleichsam aus den Korrelationen beider. Husserl stellt dabei die Bedingung, daß ein „beliebig fortgehender Wahrnehmungszusammenhang" 5 für das Zustandekommen des Gestalterlebnisses sorgt. Die Korrelationen treten also erst dann ins Bewußt= sein, wenn der musikalische Eindruck sich von der punktförmigen Gegenwart ablöst, wenn eine „noematische Sinnesschicht" 8 den evidenten Vorstellungs= Vorgang in das aperspektivische Erlebnis hineinzieht. Man könnte dann von einem Erlebnisthema, einem zeitfreien Gehalt des Erlebnisses sprechen. Das musikalische Erlebnis erhält seine aperspektivische Bedeutung noch durch einen weiteren Umstand: durch die Beziehung der Person zu diesem Erlebnis. Sind die momentanen Erlebnisse nicht eindruckprägend, wird statt dessen ein Erlebniszusammenhang als leitend empfunden, so gibt dieser Zu= sammenhang auch nach der ästhetischen Bedeutung für den Hörer den Aus= schlag. Solche „Bedeutungsbezüge" 7 sind im umfassendsten Sinne personale Erlebnisse. Sie befinden sich nicht im Koordinatenkreuz von Ort und Zeit. „Ich finde dasjenige in der Gegenwart bedeutend, was fruchtbar ist für die Zu= kunft" 8 , heißt es bei Dilthey. Der bleibende Gewinn einer musikalischen Aus= sage beruht wesentlich mit auf dieser im Personalerlebnis fruchtbar werdenden Bedeutung. Bedeutung steht zwischen Zeichen und Sinn. Ein Zeichen ist das Kreuz beim Rechnen, welches zur Addition auffordert. Einen Sinn hat das Kreuz in der christlichen Kirche, es ist mit der Passion des Heilandes gedanklich und mit allen Denkfolgerungen verbunden. Bedeutung und Sinn sind Beziehungs= ergebnisse. Eine bedeutungsvolle Musik enthält verschiedenartige, darunter auch aperspektivische Beziehungen. Eine sinnvolle Musik geht gänzlich auf die innere Kontinuität aus, sie ist rein aperspektivisch. Das Bedeutungsvolle ist eine wichtige „Kategorie des Lebens" 9 , weil es in die Erinnerung eingeht. Es füllt und läutert den Lebensinhalt der Person. 5

Ideen zu einer reinen Phänomenologie (Jb. f. Phil. u. phän. Forschg. I, 1 ) . Halle 1 9 1 3 , S. 1 8 3 . 6 Husserl, zit. im Philosophenlexikon, hsg. v. W . Ziegenfuß, Berlin 1 9 4 9 , I 5 7 2 . * Dilthey, zit. bei Landgrebe: Dilthey 326. 8 zit. ebd. 9 Dilthey, zit. ebd. S. 2 7 3 .

X.

ÜBERGEGENSATZ

309

Freilich kann auch etwas Negatives und Schädliches für die Person bedeutungs= voll sein, doch gelangt in der Musik, wo das Negativ=Bedeutende als häßlich gilt, nur das Positiv=Bedeutende zur Aussage. Was im Kunstwerk bedeutungsvoll ist, muß mit der Schönheit vereinbar sein. Also Formen reiner Lebendig* keit oder Gefühlsdarstellung, wie sie in der Spielsphäre oder als affektiver Ausdruck erklingen, sind an sich noch nicht bedeutend. Die Bedeutungsfülle ist erst dann für Eindrücke von Lebendigkeit, Zurückhaltung, Gefühlswallung u. dgl. gewonnen, wenn klangliche Einzelbedeutungen untereinander und zum Ganzen so in Beziehung gesetzt sind, daß ein fortwirkendes, zusammenfassen des und erhellendes Verstehen möglich ist. In dem korrelativen Gestaltaus= druck schließen sich dann die ästhetischen Erlebnisse zu einer Gesamtbe= deutung zusammen.

SYMBOL. Einzelbedeutungen innerhalb eines Klanggeschehens, geschlossene Bezugseinheiten von Tönen werden musikalische Symbole genannt. Symbole haben die Aufgabe, auf etwas Bestimmtes hinzudeuten, sie lassen sich ver= standesmäßig erklären. Doch zugleich enthalten sie auch Unwägbarkeiten. Der jeweils zugehörige Verstandesgedanke weitet sich bei genauem Hinschauen ins Unbestimmte aus, es „bleibt dem Ahnen ein Spielraum gelassen" 10 . So nimmt das musikalische Symbol eine Mittelstellung ein zwischen dem signal= artigen Klangzeichen und der aperspektivischen Klangbedeutung.

Der signalartige Klang dient als Zeichen für etwas ganz bestimmt Ge= meintes. So gibt es bei der Jagd Hornsignale zu bestimmten Verrichtungen, Klangzeichen, die der Verständigung unter den Jägern dienen.

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Ein klingendes Signal ist keine künstlerische Schöpfung. Es ist eine Maß= nähme sachlicher Verständigung. Die Verknüpfung mit dem hier gemeinten Sachverhalt ist festliegend und genau begrenzt. 10 11

A r n o l d Schering: D a s S y m b o l der M u s i k . Leipzig 1 9 4 1 , S. 1 2 5 . aus Carl C l e w i n g : M u s i k und Jägerei. N e u d a m m und Kassel o. J., S. 1 2 0 .

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VIII.

LÄUTERUNG

Das musikalische Symbol hingegen ist gleichnishaft. Es besitzt eine dehn= bare innere Fassungsweite. Die Verknüpfung von Klangvorlage und Bedeutung ergibt nicht einen scharfumrandeten Begriff, sondern weist in die Richtung des zu Verstehenden. Das Symbol intendiert auf eine Vorstellung einschließlich aller damit verwandten Randvorstellungen. Es kommt auf den Hörer an, dessen Phantasie nun aktiviert wird. Er muß eine tätige Erkenntnisbeziehung herstellen. Diese Tätigkeit verleiht dem musikalischen Symbol seinen ästhe= tischen Reiz. Es war vor allem der Zeitabschnitt um und nach Bach, der diesen Reiz der ästhetischen Symbolkraft schätzte und in Anwendung brachte. Diese Vorliebe, die sich in direkter Linie bis zu Mozart hin fortsetzte, entnahm dem motivischen oder harmonischen Symbolklang seine ebenso sinnliche wie ge= dankliche Wirkung. Sie erfreute sich an der Symboleigenschaft, einen geistig vorstellbaren Inhalt zu spiegeln. Die Beispiele zeigen eine Form des Todes= symbols (Grab) bei Bach und zwei Formen des Todessymbols bei Mozart 12

fr i 1, rurn , , a U L g T a Beispiel 82. Bach: Kantate Nr. 57, Arie „Ich wünschte mir den T o d "

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