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German Pages 120 [132] Year 1962
H A R V A R D G E R M A N I C S T U D I E S III Published under the direction of the Department of Germanic Languages and Literatures
HOFMANNSTHAL UND
CALDERON VON
E G O N SCHWARZ
HARVARD U N I V E R S I T Y P R E S S CAMBRIDGE - MASSACHUSETTS
1962
© 1962 by the President and Fellows of Harvard College
Printed in The Netherlands
by Mouton & Co., Printers, The Hague
Library of Congress Catalog Card Number 62-13240
Der John Guggenheim Memorial Foundation möchte ich an dieser Stelle für ein Forschungsstipendium und der Harvard Universität für einen Forschungsurlaub danken, die meiner Studie zugutegekommen sind. Den Herausgebern der Germanisch-Romanischen Monatsschrift bin ich für die Erlaubnis zu Dank verpflichtet, meinen im Oktober 1959 erschienenen Aufsatz „La vida es sueño und Hofmannsthals Bearbeitung in Trochäen" mit leichten Veränderungen als Kapitel V in das vorliegende Buch aufzunehmen. Dem S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, erstatte ich an dieser Stelle meinen Dank für die Erlaubnis, Hofmannsthal nach der von Herbert Steiner besorgten Ausgabe zu zitieren. E. S.
GELEITWORT
Generelle Kenntnis ist entfernte Kenntnis, das Wissen besteht aus Einzelheiten... WILLIAM BLAKE zitiert von Hugo von
Hofmannsthal
INHALT
I. Vorbemerkung
1
II. Hugo von Hofmannsthal und Calderón: Die Grundlagen III. Dame Kobold: Hofmannsthal als Übersetzer .
4 .
IV. Das Salzburger Große Welttheater: Faust, Calderón und die Sprache der Gegenwart
.
34 .
64
V. Von La vida es sueño zum Turm: Der Weg zur nackten Wahrheit
91
VI. Fragmentarisches
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Namen- und Sachverzeichnis
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I VORBEMERKUNG
Die Bearbeitungen, d.h. in bewußter Anlehnung an Kunstwerke früherer Zeiten entstandene Umgestaltungen, nehmen in Hofmannsthals Werk einen breiten Raum ein. Dies ist keine Eigentümlichkeit. In allen geschichtlichen Epochen haben Dichter, besonders Dramatiker, sich durch schon künstlerisch Vorgeformtes anregen lassen. Manche dieser Stoffe und Gestalten haben sich als so fruchtbar, so reich an Möglichkeiten erwiesen, daß sie wie der Ewige Jude durch die Jahrhunderte wandern und einmal hier, einmal dort, meist ganz unerwartet auftauchen, ja oft geheimnisvollerweise an mehreren Stellen zugleich. Die wichtigsten dieser durchgehenden Themen, die immer zu neuen Gestaltungen gereizt haben und in die sich dank der zeitlichen und örtlichen Verteilung schier der ganze Inhalt unserer Kultur ergossen hat, nennt man Mythen. In neuerer Zeit l'äßt sich nun beobachten, daß das Zurückgreifen auf altes Kunstgut überhand nimmt. Eine immer schon vorhandene Tendenz scheinen in der Gegenwart besondere Bedürfnisse zu begünstigen. Man kann dies als gesteigerte Pietät der Überlieferung gegenüber auslegen, als Zurückgehen auf eine Autorität in einem Zeitalter der geistigen Zersplitterung und Hilflosigkeit, als Versiegen der Schöpferkraft in einem Milieu des allgemeinen Niedergangs, als Ausweichen vor dem Furchtbaren der Gegenwart ins Vergangene und in die Parodisük, oder vielleicht als Mischung aus mehreren dieser Elemente. Tatsache ist, daß die Erscheinung bei fast allen modernen Dichtern in hohem Maße zu beobachten ist. Sie unterscheiden sich allenfalls darin, daß sie diese Neigung entweder als Not oder als Tugend empfinden. Hofmannsthals Gründe waren komplex, im Vordergrund stand jedoch wohl der Wunsch, teilzuhaben an der Fruchtbarkeit „jener ewigen Stoffe, die er gerne Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit nannte." 1 1
Carl J. Burckhardt, Erinnerungen an Hofmannsthal Dichters (Basel: B. Schwabe & Co., 1943), S. 38.
und Briefe des
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HOFMANNSTHAL UND CALDERON
Unter allen jenen, denen er sich auf der Suche nach dieser Weisheit näherte, nimmt der spanische Dichter des siebzehnten Jahrhunderts Pedro Calderón de la Barca eine hervorragende Stellung ein. Zu ihm hat sich Hofmannsthal öfter und andauernder hingezogen gefühlt als zu anderen, als selbst zu Molière und Sophokles, denen er ebenfalls die Inspiration zu einer bedeutenden Reihe von Werken verdankt. Bei ihrer Intensität und Ausdehnung ist Hofmannsthals Beziehung zu Calderón natürlich nicht unbemerkt geblieben, zumal er ja selbst wiederholt darauf verwiesen hat. Wir besitzen eine Anzahl von ausgezeichneten Arbeiten über dieses ganze Verhältnis und gewisse Teilaspekte desselben. Die aufschlußreichen Aufsätze beispielweise von E. R. Curtius, „George, Hofmannsthal und Calderón,"2 und Grete Schaeder, „Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie"8 sind heute so gültig wie zur Zeit, da sie entstanden sind. Ihrer und anderer Beiträge zu diesem Thema in der schon recht ansehnlichen Literatur über Hofmannsthal hat sich der Verfasser dankbar bedient. Warum also schien es ihm nötig, eine weitere Arbeit über Hofmannsthal und Calderón vorzulegen? Jedenfalls nicht, um das schon Vorhandene zu ersetzen. Im Gegenteil, wo immer dies möglich war, hat er Sorge getragen, seine Gedanken in den Strom der schon erworbenen Erkenntnis einzubetten, indem er vermied, bereits gefundene Fragestellungen nochmals einzunehmen oder einmal gegebene Antworten zu wiederholen. Die vorliegende Studie ist also als Ergänzung gedacht. Jeder Mensch hat seinen ihm von seinem Leben und Denken zugewiesenen Standpunkt, jeder Blick seine besondere Richtung. Erst die Summe dieser auf einen Gegenstand gerichteten Sehstrahlen ergibt ein klares Bild. So z.B. setzt sich der erwähnte Essay von Curtius das Ziel, auf wenigen Seiten eine Übersicht über Hofmannsthals Verhältnis zu Calderón zu geben. Er ist daher reich an Einsichten und Anregungen, geht aber nicht sehr ins Einzelne. Grete Schaeder wieder verfolgt in ihrer Arbeit eine bestimmte Linie in Hofmannsthals Entwicklung, die allmähliche Hinwendung zum Tragischen. Nun spielt Calderón hierin zwar eine nicht unbedeutende Rolle, aber es kommen viele andere Gegenstände in Betracht und auch dort, wo von Calderón 2
In Kritische Essays zur europäischen Literatur (Bern: Francke, 1950). Deutsche Viert eljah rssch rift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. XXIII (1949), Heft 2/3. 5
VORBEMERKUNG
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die Rede ist, geschieht es unter der Betonung aller dem eigentlichen Ziele förderlichen Aspekte und unter Vernachlässigung anderer Züge. Der hier unternommene Versuch ist sich bewußt, ausführlicher zu sein.4 Systematisch wird ein Werk nach dem anderen vorgenommen und seine Beziehung zu Calderón von allen möglichen Seiten beleuchtet. Dazu schien es oft wünschenswert, das Augenmerk ganz auf Calderón zu richten, wie es bisher kaum geschah. Die Methode ist also mehr vergleichend, Calderón kommt ebenso zu Wort wie Hofmannsthal. Das Handwerkszeug für diese Methode ist vielfältig. Der Verfasser hat nichts verschmäht, was ihm Resultate versprach. Am häufigsten jedoch hat er sich an die Sprache gehalten, aus zwei sich gegenseitig verstärkenden Gründen: weil diese Betrachtungsweise wenig angewandt worden ist und weil sie ihm Freude macht. In den Hauptabschnitten also, von der Einleitung, die das Allgemeine, und dem Abschluß, der die Reste behandelt, abgesehen, liegt das Hauptgewicht der Untersuchung auf dem Sprachlichen und Handwerklichen. Schon daraus ergibt sich eine neue Perspektive gegenüber den meist philosophisch und geistesgeschichtlich orientierten Arbeiten über diesen Gegenstand. Dadurch, daß hier das ganze Problem einerseits zusammengefaßt und andererseits in seinen technisch-künstlerischen Auswirkungen dargestellt, daß in konkreter Weise auf Einzelheiten eingegangen und ein eigener Gesichtspunkt eingenommen wurde, hofft der Verfasser, einen neuen Beitrag zum Thema seines Buches geliefert zu haben.
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Eine ungedruckte Dissertation von Vernon L. Anderson, „Hugo von Hofmannsthal and Pedro Calderón de la Barca. A Comparative Study" (Stanford University, 1954), setzt sich das gleiche Ziel. Wenn in dieser und in anderen einschlägigen Dissertationen wie etwa Helmuth de Haas, „Hofmannsthals Weg zu Calderón" (München, 19SS, Maschinenschrift), und Luise Wagener, Hofmannsthal und das Barock (Dillingen a.D., 1931), die gestellte Aufgabe auch nicht gelöst ist, so heißt das nicht, daß sie nutzlos sind. Auf irgendeine Weise, und sei es durch Vermeidung gewisser Fehler, kann man von ihnen lernen.
II H U G O VON H O F M A N N S T H A L U N D DIE GRUNDLAGEN
CALDERON:
Hofmannsthal war den drei großen romanischen Kulturen innig verpflichtet.1 Aber jeder auf besondere Weise. Fast mehr noch als nach Deutschland richtete er schon als junger Mensch sein Augenmerk auf Frankreich, Italien, Spanien. Und so blieb es sein Leben lang. Der Ertrag dieser Beschäftigung für seinen Geist und sein Werk ist ungeheuer. Jedem der drei Länder verdankt er aber anderes. Die weitaus genaueste und gleichzeitig umfassendste Bekanntschaft verbindet ihn mit Frankreich, dessen Kultur für die geistigen Menschen Deutschlands beinahe in allen geschichtlichen Epochen, besonders aber in Hofmannsthals Generation von maßgebender Bedeutung war. Die ersten Prosaarbeiten Hofmannsthals gelten seinen Entdeckungen auf dem Gebiete der französischen Literatur, der französischen Sprache, des französischen Landes, wohin ihn frühzeitige Reisen führten.2 Sein Universitätsstudium, der romanischen Philologie gewidmet, blieb, soviel man sehen kann, auf die französische Dichtung beschränkt. Zwei wissenschaftliche Arbeiten, die Dissertation über den Sprachgebrauch bei den Dichtern der Plejade und die Habilitationsschrift über Victor Hugo, lassen den Ernst dieser Bemühungen ermessen. Die letztere, im Druck erhaltene, zumal legt Zeugnis ab für Hofmannsthals Kenntnisse auf weiten Strecken, ja innerhalb eines ganzen Jahrhunderts französischer Literatur. Hofmannsthals Belesenheit ist heute beinahe 1
Die lateinische Literatur, in der Hofmannsthal ausgedehnte Kenntnisse besaß, wird hier nicht in Betracht gezogen, ebensowenig wie gelegentliche Berührungen mit den Vertretern der kleineren romanischen Sprachen. Vgl. Hofmannsthals Aufsatz über den rumänischen Dichter Victor Eftimiu, Prosa, hrsg. von Herbert Steiner, IV. (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1955), S. 187. 2 Hofmannsthals Beziehungen zu Frankreich sind als Gesamtphänomen zusammenhängend noch nicht dargestellt. Unter anderen Versuchen dieser Art befindet sich ein Aufsatz von Geneviève Bianquis, in dem die Autorin das Wichtigste skizziert: „Hofmannsthal et la France," Revue de Littérature Comparée, Juli-September 1953, S. 301. Über Hofmannsthal und Molière gibt es mehrere kürzere Arbeiten.
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sprichwörtlich. Die Namen der Franzosen aber herrschen unter den von ihm gelesenen Autoren vor. Vor allem seine Jugendbriefe enthalten wahre Kataloge seiner französischen Lektüre. Und noch unter seinen letzten Aufzeichnungen sind solche, die sich mit Erscheinungen des französischen Kulturlebens auseinandersetzen.3 Von Hofmannsthals Beherrschung der französischen Sprache besitzen wir schriftliche Proben, seine Gewandtheit im mündlichen Ausdruck wird von einem gleichermaßen befugten und kritischen Beobachter wie André Gide gepriesen. Immer ist ihm der französische Geist gegenwärtig und selbst für seine deutschesten Bemühungen dient ihm die französische Kultur als Gegenstand des Vergleichs und des Kontrasts, also als Maßstab.4 So weit die Bildung. Aber dieses immer aufmerksame Wissen, diese lebendige Besitzergreifung hat auch im dichterischen Werk einen unvergänglichen Niederschlag hinterlassen. Die große Figur des Komödiendichters Molière stand Pate bei zahlreichen dramatischen Versuchen, die von der simplen Übersetzung bis zur freien dramatischen Bearbeitung eine stattliche Reihe ausmachen. Daneben finden sich Übersetzungen von Werken Renards und Maeterlincks.5 Und mag man noch so gründlich vorgehen in der Aufzählung aller jener deutlicheren oder versteckteren Anleihen, es wird sich dennoch das Wichtigste dem Zugriff entziehen: der eigene Duft der französischen Artung, der über so vielem von Hofmannsthals Dichtung, Poesie wie Prosa, ausgegossen liegt.' Und erweist es sich dann, wie aus manchen bedeutsamen Briefen hervorgeht, daß Hofmannsthal in seiner Einstellung zur französischen Kultur an einem Zwiespalt litt, so bewirkte dieser nicht etwa eine Minderung, sondern vielmehr eine Steigerung ihrer Bedeutung für seine dichterische Existenz.7 3 Z.B. Hofmannsthals Vorrede zu St.-J. Perses Anabasis aus dem Jahre 1929. Prosa, IV, S. 488. 4 Vgl. die Rede, „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation," Prosa, IV, S. 390. 5 Jules Renards Poil de carotte als Fuchs, Dramen, hrsg. von Herbert Steiner, I (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1953), S. 285. Von Maeterlinck übersetzte Hofmannsthal Les Aveugles. * Vgl. Hermann Bahr, „Loris," in Helmut A. Fiechtners Sammelband, Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde (Wien: Humboldt-Verlag, 1949), S. 13. 7 G. Bianquis, „Hofmannsthal et la France," S. 318, faßt dies so zu-
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Anders steht es um das Verhältnis zu Italien.8 Hatte den Dichter Wißbegierde, handwerklicher Lerneifer, Bewunderung für die dichteste Sprach- und Kulturgemeinschaft des Kontinents zu Frankreich gezogen, so band ihn an Italien, wo er auch teilweise seine Abstammung herleitete und mit dessen Sprache er innig vertraut war, die Liebe. Diese Liebe gilt zunächst der italienischen Landschaft. Von den oberitalienischen Seen bis hinunter nach Sizilien hat Hofmannsthal die mannigfaltigen Reize dieses Landes geschildert, in Briefen und Gedichten, in Versdramen und einem Essay, welcher durch Glut und Ergriffenheit seiner Sprache selbst ein Dichtwerk ist.» Wie ein belebender Quell wirkte Italien auf Hofmannsthal, und von seiner Jugend bis in die letzten Jahre wurde er niemals müde, dahin zurückzukehren, um neue Schönheit, neue Kraft daraus zu schöpfen. Zumal in einem Punkt zog sich für Hofmannsthal der ganze Zauber, die ganze exotische Pracht, das Ineinander von Kunst, Natur und Leben zusammen, die Italien für ihn bedeutete: Venedig. Es ist richtig, daß diese einzigartige Stadt ihre Anziehungskraft auf viele Künstler bewährt hat, und gerade um die Jahrhundertwende, als Hofmannsthal aufwuchs, sind noch andere Deutsche, Musiker wie Dichter, in ihren Bann geraten. Keiner von ihnen jedoch erreichte auch nur annähernd die Mannigfaltigkeit und den Nuancenreichtum, die Hofmannsthal dieser dem Meer entrissenen Zauberstadt abzugewinnen wußte. Wie von unsichtbaren Gewalten gezwungen kehrt er stets zu ihr zurück, im Leben wie in der Phantasie, und macht sie zum Schauplatz zahlreicher Dichtungen in Vers und Prosa, die zu dem Reizvollsten gehören, was er gemacht hat. Und so wie ihm Venedig zur Inspiration geworden ist, so hat er gleichsam zum Dank seine Atmosphäre in diesen Dichtungen aufgesaugt und verewigt, farbiger, schöner, berauschender als sich der gewöhnliche Besucher träumen läßt, und vor allem
sammen: „On peut donc dire en résumant que Hofmannsthal a trouvé en tout temps dans la littérature française une nourriture et des exemples. Elle a fait partie intégrante de sa culture." 8 Über „Hugo von Hofmannsthal und Italien" schrieb Helmut Wocke in Neuphilologische Zeitschrift, Bd. ΠΙ (1951), Heft 4, S. 256, und in Romanisches Jahrbuch, IV (1951). • „Sizilien und wir," Prosa, IV, S. 284.
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immer geheimnisvoll, immer anders, immer neu und voller Überraschungen. Verglichen mit der Bedeutung dieser Stadt und der italienischen Erde, als deren Verkörperung sie gelten kann, hat die italienische Dichtung eine verhältnismäßig geringere Rolle für Hofmannsthal gespielt. Immerhin taucht Dantes Name hier und dort auf, Boccaccio, Goldoni, Leopardi, Marini werden in einer Art genannt, daß man den Eindruck bekommt, sie gehören zu seinem inneren Besitz. Manzonis berühmtem Buch hat er einen seiner zarten Aufsätze gewidmet.10 Am intensivsten von allen hat er sich jedoch neben Casanova, dem Urbild des Venezianers, Gabriele D'Annunzio zugewendet, vielleicht weil sich in diesem zur Zeit von Hofmannsthals Jugend gleich zwei gewaltige Impulse zueinandergesellen: Italien und die Moderne. In immer erneuten Versuchen, Briefen, persönlichen Kontakten, Berichten, Übersetzungen11 und schließlich in Vorwurf und Absage hat Hofmannsthal sich mit D'Annunzio auseinandergesetzt. Über so viele Jahre erstrecken sich diese Berührungen, so aufschlußreich sind sie für die jeweilige geistige Verfassung Hofmannsthals, so viele seiner Wandlungen spiegeln sie, daß man allein an dem wechselnden Verhältnis zu diesem italienischen Dichter ein Gutteil seiner inneren Entwicklung ablesen kann. Im Gegensatz zu diesen unter sich verschiedenen, aber gleich reichhaltigen, gleich weitverästelten italienischen und französischen Beziehungen steht die karge Einseitigkeit von Hofmannsthals Verhältnis zu Spanien, das mit der Nennung eines einzigen Namens erfaßt und erschöpft ist: Pedro Calderón de la Barca. Von anderen spanischen Dichtern, alten oder neuen, findet sich in dem ganzen umfangreichen Epistolarium, den Essays, Notizen, Tagebucheintragungen, autobiographischen Skizzen, dichterischen Werken kaum eine Erwähnung. Dies ist um so erstaunlicher, als dem so umsichtigen, an jeder geistigen Erscheinung interessierten Hofmannsthal, der zu seinen Lebzeiten sich abspielende große Aufschwung und Erneuerungsprozeß des spanischen intellektuellen Lebens nicht entgangen sein kann. Er, dessen Gefühl für das Ge10
„Manzonis ,Promessi sposi,'" Prosa, IV, S. 414. „Kaiserin Elisabeth," Prosa, I (1956), S. 307. „Die Sirenetta," Dramen, I, S. 460. 11
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heimnis der Kontemporaneität so aufgeschlossen war, äußert sich nicht über Unamuno, nicht über Valle-Inclán, Azorín, nicht über irgendein Mitglied der Generation von 98 oder einen Nachfolger, um nur aufs Geratewohl einige der Wiedererwecker der spanischen Kultur zu nennen. Aber auch die älteren Spanier, Cervantes, Tirso de Molina, Góngora, Gracián, Garcilaso kommen bei Hofmansthal nicht vor.12 Ähnlich verhält es sich mit Spanien als Land, als Kulturfaktor und geschichtlicher Macht. Nicht, daß seinem Universalgeist die Kenntnisse auf diesem Gebiet gefehlt hätten. Sein enormes Wissen, das jedermann in Erstaunen gesetzt hat, versagt keineswegs, wenn es sich um Spanien handelt. „Ich war einmal dabei," berichtet Jakob Wassermann in seinen Erinnerungen an Hofmannsthal, „als ihn jemand nach dem inneren Zustand Spaniens während eines bestimmten Zeitabschnittes fragte; bereitwillig und ohne zu zögern entwarf er in wenigen Minuten ein derart lebendes Bild der Kulturund Seelenverfassung, der geistigen Zusammenhänge, des gleichzeitigen europäischen Geschehens, daß wir ihm alle hingerissen zuhörten."13 Und nach dem Zeugnis eines anderen Freundes, Max Mells, hat Hofmannsthal noch in seinem letzten Lebensjahr eine historische Novelle über den spanischen König Karl V. und seinen Nachfolger Philipp II. geplant und die dazu notwendigen Studien betrieben.14 Aber gerade die Spärlichkeit dieser noch dazu indirekten Belege muß befremden. Nach den Spiegelungen des französischen Geistes, Italiens, braucht man nicht so mühselig zu forschen, sie finden sich auf jedem Schritt, den man durch die Hofmannsthalsche Welt unternimmt. Einer der vertrautesten Freunde aus Hofmannsthals Spätzeit, Carl J. Burckhardt, stellt die Behauptung auf, „auch das Spanische gehörte zu ihm, es war so sehr sein Besitz wie es einst der Besitz Grillparzers gewesen war," 15 und Hofmannsthal selbst hat ja gesagt, daß „Spanien . . . in gewissem Sinne zur österreichischen Geschichte dazu gehört."16 Vielleicht liegt es 12 Einmal erscheint der Name Lope de Vegas in einer flüchtigen Erwähnung: „Das Spiel vor der Menge," Prosa, ΠΙ (1952), S. 61. Aus dem Guevara wird im Turm, in Dramen, IV (1958), S. 65ff. zitiert. " „Hofmannsthal der Freund," Fiechtner, S. 108. 11 „Letztes Gespräch in Rodaun 1929," Fiechtner, S. 269-270. 15 „Erinnerungen an Hofmannsthal," Fiechtner, S. 135. le „Grillparzers politisches Vermächtnis," Prosa, HI, S. 259.
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also daran, daß die Kultur Spaniens so zu Hofmannsthal gehörte, so sehr sein selbstverständliches Eigentum war, daß er darüber kein unnötiges Wort verlor. Wie dem auch sei: vermißt man auch im Zusammenhang mit Spanien die erleuchtenden Erklärungen, die bewundernden Einblicke, die Erwähnungen, Stellungnahmen und Dialoge, die so leicht einfließenden Zitate und feinen Anspielungen, die aus Hofmannsthals Verhältnis zu Frankreich und Italien ein so dicht gesponnenes Netz machen, daß man meint, die ganze Welt des Dichters darin einfangen zu können, so wird das alles doch aufgewogen durch seine Beschäftigung mit der einen Gestalt des Calderón, die ihn Zeit seines Lebens nicht verlassen hat. Die Wortkargheit zwar, die alles Spanische bei Hofmannsthal auszulösen scheint, erstreckt sich auch auf Calderón. Wahrhaft selten ist in dem so reichhaltigen kritischen Werk Hofmannsthals die verstehende, wertende Zuwendung zu Calderón, die er freigiebig minderen Dichtern gegönnt hat, auch solchen, die für sein Werk eine durchaus nebensächliche oder gar keine Rolle gespielt haben. Ist bei ihm von Calderón die Rede, so handelt es sich zumeist um eine von Hofmannsthals eigenen, durch Calderón angeregten oder auf Calderón beruhenden Arbeiten. In solchen Erwähnungen steht naturgemäß das Interesse an der eigenen Schöpfung im Vordergrund, so daß hierbei oft gerade eine von Calderón sich distanzierende Haltung zu spüren ist. Aufschluß über den spanischen Dichter oder über Hofmannsthals Einstellung zu dessen Werk darf man von solchen Äußerungen nicht erwarten. Charakteristisch ist beispielweise, wenn Hofmannsthal an seinen Vater schreibt, er bedaure „die verlorene Möglichkeit, . . . das schöne Stück von Calderón" — es handelt sich um La vida es sueño — „zu bearbeiten, . . . weil das Stück seine Phantasie sehr belebte . . . " „Der gegenwärtige Mißerfolg bestätigt mir nur, daß das Stück eben einer kühnen Umgestaltung durch einen Dichter bedarf." 17 Aus einer solchen Bemerkung ist nur zu ersehen, daß Hofmannsthal sowohl Gutes wie Verbesserungsbedürftiges in La vida es sueño fand, beides aber gleichermaßen Undefiniert ließ. Der Nachdruck liegt eben nicht auf dem Werk, sondern auf seiner 17
Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1900-1909 (Wien: Bermann-Fischer Verlag, 1937), No. 40, S. 56.
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Bedeutung für die eigene Produktion, auf welche die ganze Stelle zugespitzt ist. Und so erfährt man, daß das Drama einerseits anregend auf seine Phantasie wirkte, andererseits ihn durch gewisse Mängel in seinem Wunsch nach einer Bearbeitung bestärkte. Lob und Tadel und zugleich die Wahrung der eigenen Unabhängigkeit sind noch stärker ausgeprägt in einem Brief an Theodor Gomperz, Hofmannsthals Lehrer an der Wiener Universität. Im Hinblick auf denselben Plan erklärt er, es handle sich um „eine Bearbeitung des zum Teil sehr tiefen, zum Teil grundschlechten Stückes ,La vida es sueño' von Calderón, freilich eine völlig freie Bearbeitung, eine Neudichtung des überkommenen Stoffes, eine Umarbeitung, die sich zu dem alten Original nicht wie der Kleistsche .Amphitryon' zum Molièreschen sondern — sans comparaison — wie ein Shakespearesches Stück zur italienischen Novelle verhält." 18 Die Tatsache, daß dergleichen Beteuerungen den späteren Sachverhalt nur ungenügend und daher entstellend wiedergeben, dient bloß dazu, dieses defensive Element der Distanzierung mit um so größerer Deutlichkeit hervorzuheben. Hat man es einmal erkannt, so wird man es immer wieder herausspüren, wo Hofmannsthal von seinen Calderon-Bearbeitungen spricht, sei es im Zusammenhang mit dem Semiramis-Drama, von dem er Richard Strauss schreibt, er werde „mit den Vorgängen des Calderonschen Stückes sehr wenig anzufangen wissen," weil es für ihn „nur den Ausgangspunkt bilden" könne, „nicht die Unterlage,"19 sei es beim Großen Welttheater, das „mit dem Calderón das mittelalterliche Genus gemein" habe und „nichts als dieses," wie er 1922 an Josef Nadler schreibt,20 eine Äußerung, die nur in kürzerer und noch kategorischerer Form wiederholt, was der Buchform des Salzburger Großen Welttheaters als Vorbemerkung vorangeht.21 Nach solch unverbindlichem Verhalten, angesichts dessen man sich zu fragen veranlaßt sieht, warum Hofmannsthal immer wieder, zu den verschiedensten Epochen seines Lebens, als Übersetzer, Librettist, Bearbeiter und freier Nachdichter zu Calderón zurück18
No. 55, S. 73. Richard Strauss, Briefwechsel mit Hugo von Hofmannsthal, hrsg. von Franz Strauss (Berlín, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay, 1926), S. 21. 20 Josef Nadler, „Zu Besuch in der Schweiz," Fiechtner, S. 205. 21 Vgl. Kapitel IV, S. 64. Vgl. auch „Dritter Brief aus Wien," Aufzeichnungen, hrsg. von Herbert Steiner (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1959), S. 294ff. 19
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gekehrt ist, wirken dann wie wahre Kleinodien die spärlichen Notizen, in denen er mit echter Anteilnahme, wie man es von ihm gewohnt ist, über die Dramatik seines spanischen Vorbildes spricht. Drei dieser offenbar an einem Tag niedergeschriebenen Anmerkungen seien wegen ihres Seltenheitswertes im Wortlaut angeführt: X. 18. -1917 - Calderón. — Dieses Trauerspiel „Drei Vergeltungen in einer" hat mir einen sehr großen dauernden Eindruck gemacht. Don Lope der Jüngere, Edelmann und Räuber, ganz hart und scharf konturiert; solche Männer, durchaus männlich, hat nur das spanische Theater. Der Mann bei Shakespeare ist mehr Naturwesen, aber dieses Scharfe, Starke, essentiell Männliche haben nur diese spanischen Figuren. Wunderbar solche Szenen wie die zwischen Don Mendo und Doña Beatriz bei ihrer Wiederbegegnung, wo beide mit verdeckten Worten auf etwas hindeuten, das sie sich auszusprechen scheuen. Eigentliche höchste Kunst des Dialogs, die Shakespeare nicht kennt. Die Szene der Violante knapp vor dem schrecklich scharf abschneidenden Ende, ganz musikreif, unsäglich schön. X. 18. — „Gii Perez der Galicianer." Englisch gelesen in der Übersetzung von Fitzgerald. (Blankverse, dazwischen Prosa beim Gracioso.) Keines der guten Stücke, was den Bau betrifft. Aber wieder eine solche wunderbare Mannsfigur. Die Hauptszene, wo Gii Perez den gegen ihn instruierenden Oberrichter in seiner Amtsstube überfällt und aus den Akten ein ihn belastendes falsches Zeugnis herausreißt, unübertrefflich, ganz in der Art wie die besten Szenen des „Richter von Zalamea" — auch im inneren Gehalt verwandt. In solchen Glanzszenen ist der Dialog von einer Knappheit und metallischen Kraft wie nichts bei Shakespeare. X. 18. — „Das Liebchen des Gomez Arias." Nach siebzehn Jahren lese ich dieses Stück wieder. Es hatte mir eine sehr starke Erinnerung hinterlassen, die der erste Akt mir nicht rechtfertigt. — Alles in allem macht es mir nicht so großen Eindruck als ich erwartet hätte. Doch wäre eine wirkungsvolle Bearbeitung durchaus nötig. (Ich muß damals Notizen gemacht haben, erinnere mich einzelner Züge.) — Grandios ist die Verruchtheit des Gomez Arias, dieses Küssen und Verkaufen, wie Judas. Schön, wie die Ballade durchschimmert, von der eine Strophe gesungen wird. Auch die große Vorwurfsrede der Dorotea, balladenartig, mit ihrem Refrain: Señor Gomez Arias, Meinen Jammer sieh! Laß mich nicht gefangen In Benamegi!" Eine Figur wie Gomez Arias streift ans Tierhafte, an die Wolfs- oder Bärenmaske. Großartig dann
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der contraposto am Schluß: Die Königin, stärker als ihr Geschlecht, die Schwäche des Geschlechtes an dem Frevler rächend.22 Wer die drei besprochenen Theaterstücke kennt, wird bewundern, wie treffend Hofmannsthal in wenigen Zeilen, ohne Absicht nur für ihn selbst hingeworfen, Wesentliches über Typus, Bau, Tonart und Gestalten eines Dramas auszusagen wußte. Aber auch über sein Verhältnis zu Calderón geht aus diesen und noch zwei anderen Eintragungen23 mancherlei hervor. Zunächst zeigt sich, daß sich Hofmannsthal im spanischen Theater recht gut ausgekannt haben muß, sonst würde er es bei seiner bekannten Behutsamkeit nicht als Ganzes behandelt, nicht den Mann bei Shakespeare diesen spanischen Figuren gegenübergestellt haben. Sodann verraten einzelne Wendungen die Vertrautheit mit Calderone Gesamtwerk. Keines der guten Stücke, nach siebzehn Jahren lese ich dieses Stück wieder, ganz in der Art wie die besten Szenen des „Richter von Zalamea" — so notiert nur jemand in sein Tagebuch, der sehr genau über einen Autor Bescheid weiß. Schließlich aber schlägt aus diesen Eintragungen jenes warme Gefühl der Liebe und Bewunderung für den Dichter entgegen, welches die Voraussetzung für dessen starke Nachwirkung in Hofmannsthal Werk gewesen sein muß. Ich greife auch hier wieder die beweiskräftigen Ausdrücke und Wortverbindungen heraus: „höchste Kunst des Dialogs," „ganz musikreif, unsäglich schön," „wunderbare Mannsfigur," „Glanzszenen," „von einer . . . metallischen Kraft wie nichts bei Shakespeare," „grandios," „schön." Diese Tagebucheintragungen erlauben auch einen Schluß auf Hofmannsthals spanische Sprachkenntnisse. Bei seiner Lektüre des spanischen Dichters hat er sich immer irgendwelcher Übersetzungen bedient, sei es derjenigen des Fitzgerald ins Englische oder der deutschen von Gries.24 Zumal bei den Bearbeitungen hat Hofmannsthal sich, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, stark auf Gries gestützt, und einmal, im Salzburger Großen Welttheater, auf Eichendorff. Wer wie er der lateinischen, französischen und 22
Aufzeichnungen, S. 188-189. Siehe Kapitel III, S. 48. 24 Johann Diederich Gries, 1775-1842, den Romantikern nahestehendei Übersetzer, zu dessen Leistungen neben den Calderón-Ubertragungen auch die von Tassos Befreitem Jerusalem und Ariosts Rasendem Roland zu zählen sind. Vgl. auch meine Anmerkung 17 zu Kapitel ΙΠ. 28
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italienischen Sprache in so hohem Maße mächtig ist, muß auch eine Menge Spanisch verstehen. Karl Vossler hat Hofmannsthal offenbar zugetraut, Spanisch lesen zu können, sonst hätte er in seiner Huldigung zu dessen fünfzigstem Geburtstag nicht seitenlang ohne Übersetzung aus spanischen Epen, Dramen und Romanzen zitiert, teilweise sogar auf altspanisch.25 Die letzte Vertrautheit mit der Sprache hat Hofmannsthal aber zweifellos gefehlt, sonst fände sich an irgendeiner Stelle bei seiner ausgedehnten Beschäftigung mit Calderón die Spur einer direkten Berührimg mit den Originaltexten. Aber solche direkten Zeugnisse sind, wie gesagt, höchst vereinzelt. Will man sich ein Bild davon machen, was Calderón wirklich für Hofmannsthal bedeutet hat, so muß man sich dem dichterischen Werk zuwenden. Vor allem sind es drei Werke des Calderón, die auf Hofmannsthals Produktion von Einfluß gewesen sind: das Fronleichnamsspiel El gran teatro del mundo, die Degen- und Mantelkomödie La dama duende und die ethisch-religiöse Hauptund Staatsaktion La vida es sueño.2" Da diese Stücke gleichzeitig die wichtigsten Kategorien von Calderons Dramatik repräsentieren, so kann man sagen, daß sich die Gesamterscheinung des spanischen Dichters in Hofmannsthals Werk spiegelt. Ein paar Jahreszahlen sollen die Übersicht über diese Beschäftigung und ihren Niederschlag in Hofmannsthals Werk ermöglichen. Die erste Berührung Hofmannsthals mit Calderón wird sich nicht mehr rekonstruieren lassen. Seit seiner Knabenzeit mit Grillparzer, dem großen Vermittler des spanischen Theaters, vertraut, dürfte er bei diesem von ihm bewunderten Österreicher auf die ersten Spuren Calderons gestoßen sein. Eine Aufführung von Calderons Leben ein Traum in August Wests Übersetzung,27 die auch in seine 2S „Spanischer Brief," Eranos (München: Verlag der Bremer Presse, 1924), S. 123ff. 2 " Außerdem beruhen auf Calderons La hija del aire Hofmannsthals Semiramis-Fragmente. Nach Wilhelm Müller-Hofmann, „Dank an Hofmannsthal," Fiechtner, S. 151, geht auch der Entwurf „Xenodoxus oder der Zauberer von Paris" auf ein bei Calderón zu findendes Schema zurück. Carl Burckhardt (Fiechtner, S. 130-131) und Herbert Steiner („The Harvard Collection of Hugo von Hofmannsthal," Harvard Library Bulletin, VIII, Winter 1954, S. 60) berichten von einem im Nachlaß befindlichen, von Calderón abhängigen Phokas-Drama-Fragment. Vgl. Kapitel VI, S. 117f. 27 Deckname für I. Schreyvogel.
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Schuljahre fiel, mag Hofmannsthal gesehen haben. Die erste konkrete Anspielung auf Calderón in Hofmannsthal Schriften28 enthält das im Jahre 1897 gedruckte, als Puppenspiel gedachte Kleine Welttheater. Entspricht in diesem Werkchen dem berühmten Fronleichnamsspiel nur die Idee in den allergröbsten Umrissen,29 so enthält der Titel doch schon eine bewußte Bezugnahme auf Calderón. Übrigens ging dem ersten Druck des Kleinen Welttheaters eine Aufführung des Calderonschen Großen Welttheaters durch die Wiener Leogesellschaft im Juni 1897 voran, wie auch das Erscheinen der ihr zugrundeliegenden Übersetzung von Joseph von Eichendorff in Buchform. Wahrscheinlich sind diese beiden Ereignisse von Hofmannsthal nicht unbemerkt geblieben. Der Name Calderón taucht zum ersten Mal in Hofmannsthals Habilitationsschrift über Victor Hugo auf, mit der er sich im Jahre 1900 zu befassen begann. Schon die Nachzeichnung von Hugos Leben führt Hofmannsthal auf den Spuren des französischen Dichters nach Spanien und schließlich zur Entdeckung, daß dieser „ein halbes Puppenspiel mit Zwischenspielen, kindlich dem Calderón nachgeschrieben" hat.»0 Im Oktober 1901, erwähnt Hofmannsthal in seiner Korrespondenz, habe er mit einer Bearbeitung von La vida es sueño begonnen.81 Diese zeitweilig unterbrochene Arbeit nimmt er 1902 wieder auf, wie ein anderer Brief berichtet.32 Die geplante Umgestaltung des Dramas ist aber Fragment geblieben und später, von 1907 an, gedruckt worden. Das ganze Fragment 28 H. A. Fiechtner, in „Hofmannsthal und die romanische Welt," Wort und Tat, Bd. II (1947), Heft 8, S. 34, macht auf folgendes aufmerksam: „In einer gereimten Epistel des jungen Hofmannsthal an Richard Beer-Hofmann aus dem Jahre 1892 treffen wir zum ersten Male den Vers des großen Spaniers, den vierfiißigen Trochäus, — jenes Versmaß, das wesentlichen Eigenheiten der Diktion Hofmannsthals besonders angemessen war." Allerdings bedenkt Fiechtner nicht, daß dieses Versmaß nicht nur bei Calderón, sondern überhaupt allenthalben in der spanischen Literatur anzutreffen ist und im Laufe der Geschichte von unzähligen Deutschen nicht nur in Übersetzungen sondern auch in eigenen Hervorbringungen angewandt wurde. Es ist also zu diesem Zeitpunkt nicht einwandfrei festzustellen, ob die Begegnung mit Calderón tatsächlich schon stattgefunden hatte. 29 Grete Schaeder, „Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie," Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. XXIII (1949) Heft 2 / 3 (1949), S. 313. 30 Prosa, I, S. 324. 81 Briefe 1900-1909, No. 45 vom 22. Dezember 1901, S. 62. M No. 62, S. 82.
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erschien vollständig als Das Leben ein Traum. Bearbeitung in Trochäen zuerst im Jahre 1937. Es folgen dann noch von 1902 bis 1904 verfaßte Aufzeichnungen zu der Konzeption dieses frühesten Versuches.33 Im Jahre 1905 trifft man Hofmannsthal über einem anderen Calderonstoff an, der Tochter der Luft, auf dem fußend er eine Tragödie plante. Sichtbares Pfand dieser neuerlichen Zuwendung zu Calderón ist der uns erhaltene erste Semiramis-Entwurf.84 In den Jahren 1907 und 1908 taucht dieselbe Idee in der Korrespondenz mit Strauss noch einmal auf, diesmal als Vorwurf für eine Oper. Hier tritt nun, wenigstens was die Dokumente betrifft, eine Pause ein. Erst nach dem Ausbruch des Krieges — und Hofmannsthal hat betont, daß durch diesen ihm Calderón in einer neuen Weise „faßlich" gemacht wurde35 — finden wir ihn gleich mit zwei Calderon-Plänen beschäftigt: im Jahre 1916 mit La vida es sueño, was aus einem Brief an Bahr hervorgeht,3· und 1917 wiederum mit der Semiramis-Tragödie. Diese letzte Arbeit ist nicht zu Ende gediehen. Ihr Ertrag liegt in den aus den Monaten Dezember 1917 und August 1918 stammenden Entwürfen „Die beiden Götter. Ninyas-Semiramis-Tragödie" vor.37 Um so fruchtbarer wurde diesmal die Umgestaltung von La vida es sueño, in die allerdings viel von Hofmannsthals Semiramis-Denken eingeflossen ist. Von 1920 an werden die Erwähnungen dieser Arbeit nach einer längeren Stille wieder häufiger. Aus mehreren an andere gerichteten Briefäußerungen erkennt man das mitunter furchtbare Ringen um dieses Werk, welches wohl 1924 abgeschlossen wurde. 1925 erschien die erste Fassung vom Turm, 1927 nach neuerlicher gewaltiger Umgestaltung die sogenannte Bühnenfassung. Vorher jedoch schon, aus den Jahren, die dem Ende des ersten Weltkrieges folgten, stammen zwei andere zu Calderón in allerM Jetzt in Dramen, III (1957), S. 426ff. Jetzt Dramen, III, S. 447. 35 In einem Brief an Hermann Bahr vom 15. Juni 1918, Die Neue Rundschau, April 1930, S. 517. 8 · Ebda. 37 1933 als 56. Buch der Rupprechtspresse, München. Jetzt Dramen, III, S. 456ff. 34
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engster Beziehung stehende Werke. Im September 1918, so berichtet Erhard Buschbeck, habe Hofmannsthal an Hermann Bahr den Antrag gestellt, „jedes Jahr ein Werk Calderons für das Burgtheater zu bearbeiten."38 Aus diesem Plan ging dann als einzige die 1920 im Druck erschienene Ubersetzung der Dame Kobold hervor. Und wieder zwei Jahre später wurde ein anderes auf Jugendeindrücke zurückgehendes Calderon-Erlebnis für Hofmannsthal fruchtbar. Es handelt sich um das im August 1922 im Rahmen der Festspiele uraufgeführte Salzburger Große Welttheater. Man sieht also, daß sich Hofmannsthals Befassung mit Calderón, unterbrochen durch einige schöpferische Pausen, aber immer wieder von neuem aufgenommen, durch drei Jahrzehnte seines Lebens zieht. Die Frage nach den Warum dieser Beziehung führt zu Betrachtungen, die nicht nur einen Vergleich der beiden Dichter, sondern auch ihrer Kulturen einschließen. Denn beide, der Spanier so gut wie der Österreicher, verkörpern das Wesen ihrer Länder in einer bestimmten Epoche ihrer geschichtlichen Existenz. Durch die Wahl seiner dramatischen Stoffe, die Behandlung seiner Themen, seine Sprache und Lebenshaltung kann Calderón geradezu als Personifizierung des spanischen siebzehnten Jahrhunderts gelten, mit dem seine weite Lebensspanne nahezu zusammenfällt. Hofmannsthal wiederum ist neben Grillparzer der repräsentativste Dichter Österreichs, mehr noch: er ist durch Schicksal und Neigung der Verklärer der österreichischen Sendung vor ihrem Erlöschen.39 Eine Gemeinsamkeit ist nämlich dem Leben Calderons und Hofmannsthals gegeben: sie sind beide in einer Epoche des Niedergangs liebend an ihren Ländern gehangen und dazu bestimmt gewesen, die letzten Strahlen eines großen Glanzes in ihren Werken einzufangen. Diesem Umstand ist das abendliche Durchglühtsein ihrer Hervorbringungen, wenigstens in dem Bewußtsein des modernen Lesers, zu verdanken. Darüber darf man aber die gewaltigen Unterschiede gerade auch der geschichtlichen Situationen nicht übersehen. S8 „Bahr und Hofmannsthal im Gespräch," Fiechtner, S. 223. Vgl. auch Kapitel III, S. 34. 39 Vgl. Karl Anton Prince Rohan, „Hofmannsthal et l'Autriche," Revue d'Allemagne et des pays de langue allemande, Bd. ΠΙ (1929), Heft 24/25, S. 939: „L'esprit autrichien perd en Hofmannsthal sa figure spirituelle représentative par excellence."
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Im siebzehnten Jahrhundert hatte Spaniens Macht ihren Höhepunkt bereits überschritten und bröckelte langsam ab. Zur Zeit Calderone wurde zwar die Armada vernichtet. Im Rückblick mag man dieses Ereignis als den Anfang vom Ende bezeichnen. Von der Mitwelt konnte es aber nur als vorübergehender Rückschlag empfunden werden. Schließlich erhielt sich das ungeheure Kolonialreich bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein, als SpanischAmerika abfiel. Die letzten ansehnlichen Uberseebesitzungen, Cuba und die Philippinen, gingen gar erst 1898 verloren. Vom siebzehnten Jahrhundert, in dem Calderón lebte, bis zu diesem Zeitpunkt sank Spanien Stufe um Stufe, politisch sowie kulturell zur Bedeutungslosigkeit herab, so allmählich, daß man es nicht einmal wahrhaben wollte. Die Zeitgenossen Calderons jedenfalls scheinen keine Ahnung gehabt zu haben, daß es mit ihrem Reiche stetig bergab ging. In einer Zeit, da alles ringsum zum Wechsel neigt, sind sie ganz starr in ihrem steifen und prunkvollen Festhalten an all dem ihren: der so und nicht anders gearteten Monarchie, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Privilegien, dem Glauben, der Ehre, den Überlieferungen, an ihrer ganzen, den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen widersprechenden Weltanschauung. Ihre Haltung ist eine vollkommen ungeschichtliche, ein Nichtwissenwollen um die immerwährende Fortentwicklung alles Irdischen.40 Österreich war in manchem Spanien nicht unähnlich, auch noch zu Hofmannsthals Lebzeiten. Die gleiche Religion und, was ebensoviel bedeutete, die gleiche Herrscherfamilie hatte durch Jahrhunderte Geschick und Kultur geformt. Besonders während der Union der beiden Reiche in der Person Karls V., der spanischer König und gleichzeitig deutscher Kaiser war,41 war viel Spanisches in diese Kultur eingeflossen und hier länger bewahrt worden als an anderen Orten, wohin Ansehen, Reichtum und Macht die spanische Sitte getragen hatten. Diese Bewahrung konnte gelingen, weil der Katholizismus, in Österreich wie in Spanien niemals wirklich bedroht, die größte Kontinuität besaß und Bewegungen wie Reformation und Aufklärung ohne tiefgreifende Folgen abzuschütteln 40 Vgl. Karl Vossler, „Calderón," in Südliche Romania (München-Berlin: R. Oldenbourg, 1940), S. 117-118. 41 1500-1556.
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verstand. Auch hier gab es ein schaulustiges, theaterbesessenes Publikum, von dem Hofmannsthal, wie einst Calderón unter ähnlichen Umständen in Spanien, die Impulse zu seinem dramatischen Schaffen empfing. In Österreich geschah dies jedoch innerhalb eines staatlich-gesellschaftlichen Gebildes, auf das ein langwährender Prozeß des Niedergangs seine zersetzende Wirkung ausgeübt hatte. Zu Hofmannsthals Lebzeiten war dieser Prozeß der Zerrüttung schon so weit gediehen, daß der Zusammenbruch sich sturzartig vollzog. In seiner Jugend war das Vaterland ein großes Reich, am Ende seines Lebens lag es zerstückt und zerstört da. Kein halbwegs bewußter Mensch konnte sich über die Ungeheuerlichkeit dieses Sturzes täuschen. Charakteristisch für die Zeit ist gerade, daß sie voll von Untergangsvisionen und Untergangsphilosophie ist. Die Mitlebenden empfinden, daß die ganze Zivilisation am Ende angelangt ist. Jedenfalls ist das Denken alles andere als ungeschichtlich, im Gegenteil, es wird alles und jedes in seinen geschichtlichen Zusammenhängen gesehen.42 Das meist gelesene geschichtliche Werk der Epoche hieß Der Untergang des Abendlandes. Hofmannsthal litt under dieser von unmißverständlichen Ereignissen unterstützten Stimmung wie kein zweiter.43 Die Zerstörung seiner Heimat hat auch ihn frühzeitig zugrunde gerichtet. Schon aus diesem Vergleich der Länder und Epochen ergibt sich, was Hofmannsthal etwa bei Calderón finden konnte und was nicht: eine Festigkeit der Sitte und des Glaubens, geborgen in einer als unerschütterlich angesehenen Gesellschaftsordnung, nicht aber den Trost einer Festigkeit gegenüber dem Einbruch elementarer geschichtlicher Mächte. Diesen mußte er aus sich selbst schöpfen. Man findet diese Mischung in den auf Calderonscher Grundlage gebauten Werken Hofmannsthals bestätigt. Das statische, unveränderliche Gerüst ist von Calderón entlehnt, die Dynamik des Wechsels wie der Bedrohung wurde in diese Stoffe erst von Hofmannsthal hineingetragen. Dies trifft auf den Turm, Das Salzburger Große Welttheater und gewissermaßen auch auf die Dame Kobold zu, wo jedoch die Problematik, dem Lustspielcharakter angemes42 Prosa, II, S. 109: „Im einzelnen Menschen gibt es nichts schlechthin Gegenwärtiges, Entwicklung ist alles, eins wirkt ins andere." 43 Schon 1905 schrieb er, jetzt in Prosa, II, „Eines Dichters Stimme," S. 157: „Wir sollen von einer Welt Abschied nehmen, ehe sie zusammenbricht. Viele wissen es schon . . . "
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sen, gedämpft ist. Auch mit den Lösungen der Konflikte verhält es sich so: im Welttheater und im ersten Turm konnte sich Hofmannsthal noch eine versöhnliche Lösung abgewinnen, im einen eine katholische, im anderen eine eigene, mystische; in der letzten Turm-Fassung hat er einen ebenso heroischen wie tragischen Verzicht darauf geleistet. Will man den Vergleich von den unpersönlichen Hintergründen auf die Personen der Dichter ausdehnen, so gerät man in gewisse Schwierigkeiten. Von Calderón weiß man fast nichts Persönliches. Vera Tassis, der gleich nach dem Tode Calderons dessen Biographie schrieb44 und dem man lange blinden Glauben geschenkt hat, stellt sich nach neueren Forschungen als sehr ungenau und unzuverlässig dar. Daher kommt es, daß ganze Jahrzehnte von Calderons Leben in Dunkel gehüllt erscheinen. So ist es beispielsweise nicht entschieden, ob Calderón nach 1628 an einem flandrischen Feldzug teilgenommen hat oder nicht. Einige Biographen behaupten es, eine dokumentarische Eintragung läßt es als zweifelhaft erscheinen. Um sich nicht an Unbeweisbares zu verlieren, muß man sich mit einem Lebensabriß von den gröbsten Linien begnügen. Von Hofmannsthals Wesen und Werden besitzen wir im Gegensatz hierzu zahlreiche Zeugnisse: eine weitverzweigte Korrespondenz, Erinnerungen von Freunden und Fremden, Berichte von Begegnungen und Wirkungen, Bilder und Beschreibungen. Uns ist die Farbe von Hofmannsthals Augen und Haar bekannt, die Art seines Händedrucks, seine täglichen Gepflogenheiten, sein Familienleben. Wir kennen seine Empfindlichkeiten und Krankheiten und sind von seiner Kleidung unterrichtet, oft bis in die Nuance der momentanen Erscheinung. Die Ereignisse seines Lebens, obgleich noch in keiner Biographie dargestellt, sind uns durch Selbstzeugnisse und andere Dokumente auf weite Strecken hin bekannt, ja man weiß, wo er fast in jedem Monat seines Lebens weilte, und besondere Abschnitte seines Lebens kennt man Tag für Tag, Stunde um Stunde. Die Dichtigkeit dieser Kenntnis auf der einen Seite ist eher ein 44 Don Gaspar de Vera Tassis y Villarroel, Fama, vida y escritos de Calderón (Madrid, 1684). Vgl. Emilio Cotarelo, Ensayo sobre la vida y obras de Don Pedro Calderón de la Barca (Madrid: Real Academia Española, 19211923).
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Hindernis als eine Erleichterung, wenn man das spärliche Wissen auf der anderen Seite dagegen hält. Beschränkt man sich aber auf einige große Linien, so ergibt sich immerhin eine Vergleichsmöglichkeit. Beide Dichter gehören dem niederen Adel an, sind Angehörige einer aristokratischen Gesellschaftsordnung, der sie sich verpflichtet fühlen. Infolgedessen bildet sich bei beiden eine konservative Weltanschauung heraus. Dabei muß man aber natürlich immer des historischen Augenblicks eingedenk bleiben, der dem Spanier gar keine Alternative an die Hand gibt, während ein ähnlicher Konservatismus in dem zerrissenen Österreich gleichbedeutend mit Starrsinn und intellektueller Bedeutungslosigkeit gewesen wäre. Beide dienen ihrem Vaterland in Kriegen, beide sind von unwandelbarer Treue. In der Jugend lebenslustig und weltlich, kehren sie im Alter zu religiösen Haltungen zurück. Calderón war freilich der Kirche nie so entfremdet wie Hofmannsthal, der in einer durch und durch säkularisierten Welt aufgewachsen ist. Jener bekam eine streng theologische Ausbildung, während dieser ganz freigeistig erzogen wurde. Seine Rückkehr zum Katholizismus vollzog sich daher auch nicht auf so einfache und eindeutige Weise wie bei Calderón, der 1651 die Priesterweihen empfing.45 Diese unterschiedliche Form der religiösen Bindung macht sich auch bei beiden Dichtern bemerkbar, selbst dort oder vielmehr gerade dort, wo sie theologisch orientiertes Drama schaffen. Sicher verbürgt ist jedenfalls der engere Anschluß beider an traditionelles christliches Glaubensgut in den späteren Lebensjahren. In ihren Werken drückt sich diese Hinwendung zum Christentum durch eine Veränderung der Produktion aus. Calderón schreibt nur mehr theologische Stücke und Hofmannsthal vertieft und vergrößert seine Beschäftigung mit Calderón. 45 Die Ansichten über Hofmannsthals Rückkehr zur Religion in seinen späteren Lebensjahren sind verschieden. So sagt z.B. Leopold Andrian, „Erinnerungen an meinen Freund," Fiechtner, S. 62-63: „Die manchmal laut gewordene Annahme, Hofmannsthal sei als christlicher, als katholischer Dichter gestorben, ist meines Erachtens unhaltbar... Man beruft sich auch darauf, daß er im Habit des Franciskanerordens beerdigt worden ist. Diese Tatsache aber ist nicht beweiskräftig, denn es ist mir bekannt, daß er weder Tertiarier des Franciskanerordens war, noch angeordnet hat, daß er im Franciskanerhabit beigesetzt werden wolle." Vgl. dagegen Fiechtners eigene Zusammenfassung dieser Frage auf S. 369-370.
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Bei all diesen Ähnlichkeiten ist eines grundverschieden: die Lebensdauer. Calderón wurde ein alter Mann, er hat sein Leben ganz ausgelebt. Die Spanne, die ihm zugemessen war (16001681), füllt beinahe das ganze Jahrhundert aus. Hofmannsthal wurde schon im Alter von fünfundfünfzig Jahren — man kann es nicht anders ausdrücken — hinweggerafft. Ein Mann, der mit fünfzig stirbt, ist, um ein Wort Hofmannsthals anzuwenden, zu jedem Zeitpunkt seines Lebens ein Mann, der mit fünfzig stirbt. Was immer medizinisch die Todesursache war, man geht gewiß nicht fehl, wenn man die Zeitläufte für sein frühzeitiges Abscheiden verantwortlich macht. Wenn auch der Selbstmord des Sohnes die unmittelbare Ursache für seinen eigenen Tod gewesen sein mag, so war es doch das tragische Schicksal Österreichs und Europas, was Hofmannsthal gefällt hat. Ruhm und Nachwirkung gehören zu einem Gebiet, mit dem es sich umgekehrt verhält wie mit dem Leben. War dieses uns bei Hofmannsthal vertrauter, so wissen wir von jenem um so mehr im Falle Calderón. Bei Lebzeiten war Calderón unglaublich populär und wurde schon in jungen Jahren als Nachfolger Lope de Vegas zum Hofpoeten gekrönt. Beim schaulustigen Volk von Madrid waren seine weltlichen und geistlichen Stücke ebenso beliebt wie bei seinen Monarchen, deren Gunst trotz des Wechsels der Personen ihm stets erhalten blieb. Allerdings soll er in Armut gestorben sein. Anders verläuft die Kurve von Hofmannsthal Geltung in der Welt. Dank einem genialen lyrischen Werk wurde er schon als halbwüchsiger Jüngling von einer ganzen geistigen Generation beinahe göttlich verehrt, ohne jedoch jemals volkstümlich zu werden. Später aber wurde er von der Mehrzahl seiner Bewunderer fallen gelassen und vergessen. Nur eine kleine Schar erkannte die gereiften Bemühungen des Mannes und bewahrte ihm die Gefolgschaft. Calderone Größe versank mit der des spanischen Weltreiches. Mehr als ein Jahrhundert hindurch erlitt sein Ruf eine erstaunliche Verfinsterung. Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde er durch deutsche Vermittlung in seiner Heimat wieder bekannt gemacht,48 dann aber nach jahrelangem Kampf in den Himmel ge48 Vgl. Camille Pitollet, La querelle caldéronienne de Johan Nikolas Böhl von Faber et José Joaquin de Mora reconstituée d'après les documents originaux (Paris, 1909).
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hoben and zumal von den Katholiken polemisch über alles gestelltt. Heute scheint sein Rang als einer der Größten in der Weltliteratur gesichert, aber in richtiger Perspektive. Lope de Vega und Tirso de Molina behalten neben ihm als spanische Dramatiker ihre Geltung. Die dreißig Jahre, die seit Hofmannsthals Tod vergangen sind, erlauben noch keinen bündigen Schluß über die Nachwirkung seines Schaffens. War er mit Ausnahme der Jugendperiode von seinen Zeitgenossen verkannt, so schien sein plötzlicher Tod vielen wieder die Augen für seine Bedeutung geöffnet zu haben. Die politischen Katastrophen der dreißiger und vierziger Jahre verdunkelten dann das gesamte Geistesleben Europas. Erst nach dem zweiten Weltkrieg, als man aus den Trümmern der Vergangenheit Werte retten wollte, um derentwillen es sich verlohnte, weiterzuleben, wurde Hofmannsthal sozusagen neu entdeckt, nicht bloß als Verklärer einer für immer entschwundenen Zeit, sondern mehr noch als Prophet, als Wissender einer Zukunft, als Opfer einer frühen, tödlichen Erkenntnis. Seither erhebt er sich immer mehr als eine fast alles überragende Gestalt des ersten Jahrhundertviertels. Sein Ruhm ist noch im Steigen. Wie künftige Zeiten mit ihm umgehen werden, ist freilich nicht zu sagen. Als Dichter sind Calderón und Hofmannsthal in manchem nicht unähnlich. Nur muß man einen Grundunterschied festhalten. Calderón war Dramatiker, sonst nichts. Keines seiner Werke ist anders entstanden als für die Bühne. Alle sind sie aufgeführt worden, viele entstanden auf Bestellung. Sinnesart und Geschmack seines Publikums waren ihm aufs genaueste bekannt, jedes einzelne Stück trägt die Bedürfnisse und Möglichkeiten des damaligen Theaters in sich einverleibt. Hofmannsthal, so wichtig ihm das Theater besonders in den späteren Lebensjahren auch wurde und so sehr er auch nach einer wirksamen dramatischen Form gestrebt hat, ist nicht nur Dramatiker. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß er gerade als Lyriker europäischen Ruf erworben hat, mit der glanzvollsten Jugendlyrik der Weltliteratur, zu der auch die kleinen Versdramen der Frühzeit gerechnet werden dürfen. Desgleichen hat er ein erzählerisches und essayistisches Werk von Bedeutung hinterlassen. Dies soll nur zum Bewußtsein bringen, daß er als
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dichterische Gestalt nicht wie Calderón mit seinem dramatischen Werk steht und fällt. Immerhin waren sie beide Theatermenschen. Hofmannsthal trug die Theaterleidenschaft von früh an in sich, mußte sich aber zum Bewußtsein dieses Triebes erst gegen eine der Massenwirkung abholde Ästhetik seiner Jugendeinflüsse durchringen. Rühmt man Calderón nach, er habe in der Ausnützung der mechanischen Hilfsmittel der Bühne eine wahrhaft geniale Findigkeit besessen, so muß man auch Hofmannsthal einen unbeirrbaren Theaterinstinkt zusprechen, der sich allerdings in direkter Linie vom spanischen Barocktheater herleiten läßt und von Calderón wohl nicht ganz unabhängig gewesen sein dürfte. Beide Dichter sind gleich vielseitig in ihrer dramatischen Produktion, wenn auch Calderón bei weitem der fruchtbarere war. Calderón hat historische Haupt- und Staatsaktionen geschrieben, geschöpft aus Mythos und Geschichte des eigenen sowie auch fremder Völker; Stücke, die man heute als Lustspiele oder Possen ansprechen würde; ernste, das Tragische streifende Schauspiele; und geistliche Fronleichnamsspiele. Hofmannsthals Bogen spannt sich ebenfalls von der Farce bis zur bittersten Tragödie. Durch seine Beiträge zum Ballet und zur Oper scheint er in der Verwendung dramatischer Genres einen Schritt über Calderón hinausgegangen zu sein, obzwar wiederholt bemerkt wurde, daß sich Calderón in den Zarzuelas oder Singspielen wie etwa La púrpura de la rosa und El golfo de las sirenas, die ja ganz und gar gesungen wurden, auf das Gebiet der Opernlibrettos begeben hat. Ja, es wurde sogar von seinem ernstesten Drama behauptet, daß es „in der Abfolge von lyrisch-arienhaften and rezitativisch-kontemplativen Szenen . . . den Charakter einer Oper" gewönne.47 Auch in der Wahl ihrer Stoffe sind Calderón und Hofmannsthal weithin übereinstimmend. Sie entlehnen sie dem klassischen Altertum, dem Orient, dem Märchen. Mitunter erfinden sie ihre eigenen Gegenstände, meist jedoch, sehr häufig jedenfalls, bearbeiten sie schon von anderen Vorgeformtes. Bei Hofmannsthal ist im Gegensatz zu Calderón, der gerade hierin Meisterhaftes geleistet hat 47
Clemens Heselhaus, „Calderón und Hofmannsthal. Sinn und Form des theologischen Dramas," Archiv für das Studium der neueren Sprachen, Oktober 1954, S. 18.
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(man denke an den Alcalde de Zalamea, Luis Perez, La niña de Gomez Anas und einige der Mantel- und Degenstücke), das bodenständige Drama selten, ein Genre in dem Vergangenheit, Sitte und Eigenart des eigenen Landes zur Darstellung gelangen. Glorreiche Ausnahmen bilden der Schwierige und der Rosenkavalier, die beides sind, Sittenstücke und symbolisch-historische Dramen. Hierher gehören aber auch jene volkstümlich-derben Elemente des Jedermann und des Welttheaters, die sprachlich-psychologischer Natur sind und die totale Einbürgerung des Zeitlosen oder Fremden genial bewirken. Gerade in der Einstellung zu ihrem Handwerkzeug aber, der Sprache, sind die beiden Dichter diametral verschieden. Hofmannsthal steht am Ende einer langen Entwicklung, die von der freudigen Entdeckung des Reichtums der Sprache über das Virtuosentum und Raffinement in ihrem Gebrauch bis zu einer absoluten Vertrauenskrise geführt hat,48 der sich kaum ein Moderner entziehen konnte. Hofmannsthal ist aus dieser Krise, die sein tiefstes Dichtertum bedrohte, mit einer Resignation, einer Bescheidenheit und einem Ethos des sprachlichen Dienens hervorgegangen, welche bei seiner angeborenen Sprachkünstlerschaft ein wahres Wunderding von geschmeidigster Dämpfung aus seinem Idiom gemacht haben. Seine Sprache ist jetzt funktional. Sie wird jeder Person, jeder Situation mit unnachahmlicher Sensibilität gerecht. Vom Dialekt bis zur höchsten mystischen Dichtersprache sind alle Nuancen des Deutschen in ihr vertreten. Sie zeigt eine Neigung zu unphilosophischer Symbolik, ist mehr bildlich als begrifflich, im Vers mehr rhythmisch-musikalisch als metrischkünstlich, was gerade bei den Adaptationen und Übersetzungen aus dem Calderón besonders klar hervortritt. Genau das Umgekehrte ist der Fall bei Calderón. Auf der oben angedeuteten Entwicklungskurve des dichterischen Sprechens steht er auf der Stufe des Virtuosentums. Er ist dem Konzeptismus oder Kultismus seiner Zeit verhaftet. Das Rationale überwiegt bei weitem das Metaphorische, sprachliches Gleichnis ersetzt das 48 Untersuchungen zur Sprachproblematik bei Hofmannsthal ziehen sich durch die gesamte kritische Literatur. Lediglich als Beispiel sei hier Karl Pestalozzis Studie, Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal in Züricher Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte, No. 6 (Zürich, 1958), angeführt.
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Symbol, Parabel und Allegorie stehen als Denkformen im Vordergrund. Das „Unvertretbare", vor dem sich Hofmannsthal in seiner Reife so sorgsam gehütet hat, ist bei Calderón die Regel: Die Hyperbel, der Katalog, die Tautologie, die prunkende Aufbauschung, dies sind seine vorgezogenen Stilmittel. Die enorm langen Monologe nehmen keine Rücksicht auf dramatisch-bühnentechnische Anforderungen. Selten findet sich ein wahres Zwiegespräch. Statt dessen findet man als charakteristische Form die Polyphonie des In-der-Gegenwart-anderer-Redens oder gar des AneinanderVorbeisprechens. Alle Figuren reden gleich, auf der Höhe des Spanischen sozusagen, ungeachtet ihrer Bildung, Intelligenz (sie sind übrigens alle gleich intelligent), sozialen Stellung; uneingedenk ihrer Gemütsverfassung und ihres Alters verfügen sie über den gleichen Witz, die gleiche Philosophie, die gleiche Theologie. Andererseits wieder entfaltet sich gleichsam über und unabhängig von dem Stimmengewirr auf Erden ein fabelhafter Reichtum an Versund Strophenformen, der ähnlich einem herrlichen Mantel von Brokat die arme Blöße des Menschenlebens zu verhüllen bestimmt ist. An diese sprachlichen Eigentümlichkeiten knüpfen sich verständlicherweise auch die besonderen Einwände, die man gegen beide Dichter erhoben hat. Es ist begreiflich, daß man in nüchternen oder schlichten Zeiten das ganze gestelzte, unnatürliche Wesen des Kultismus abgelehnt hat. Calderón ist keineswegs von den Verwerfem dieser Richtung verschont geblieben. Hofmannsthal hingegen ist in seiner Jugend unfruchtbares, lebensfernes Ästhetentum zur Last gelegt worden, ein Vorwurf, von dem er sich trotz redlicher Bemühung, solang er lebte, nicht befreien konnte. Das Interessante für unseren Vergleich ist, daß sich die beiden Vorwürfe nicht so sehr unterscheiden, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es sind beides Manieren oder Moden, die ein Äußerliches dem ehrlichen Bemühen um das Leben vorziehen. Beide sind ein Ausweichen vor dem Ernst existenzieller Fragen, ein Verwischen der Grenzen zwischen unverbindlichem Spiel und verantwortungsvoller Kunst. Andererseits unterscheiden sie sich auch wieder dadurch, daß der Kultismus mehr ein sprachliches Phänomen, das Ästhetentum oder der Dandyismus mehr eine Lebenshaltung ist, eine jede der beiden Erscheinungen freilich wieder mit unverkennbarer Einwirkung auf die Domäne der
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anderen. Was aber Calderón und Hofmannsthal ganz zusammenbringt, ist die Überwindung dieser Unarten, mit denen die jungen Dichter den Tribut an ihre Zeit entrichteten, in den Jahren der Reife. Alles, was derlei Vorwürfen Nahrung geben konnte, haben Calderón und Hofmannsthal in den letzten Phasen ihres Schaffens abgelegt und sich durch das Streben nach verinnerlichter Schlichtheit des Stils einander genähert. Natürlich machen die Kritiker, wenn sie einmal im Zuge sind, bei sprachlichen Besonderheiten nicht halt. Und so ließe sich eine stattliche Liste von Aussetzungen an den handwerklichen Fähigkeiten der beiden Dichter zusammenstellen. Wir wollen uns hier auf eine charakteristische Auswahl beschränken. Calderón hat man nachgesagt, er könne keine Charaktere schaffen (ein Urteil, das Hofmannsthal, wie schon ersichtlich wurde, nicht geteilt hat; besonders die männlichen Figuren fand er bewundernswert), seine Psychologie sei mangelhaft, die Motivierungen unbefriedigend, es fehle an Kontakt zwischen seinen Figuren and daher an echtem Zusammenstoß, an Spannung, an „Drama." Vor allem aber sollen Calderón die Frauengestalten nicht gelungen sein. Es wird ihm angekreidet, daß in seinen so zahlreichen Stücken niemals eine Mutter und nur selten eine verheiratete Frau vorkommen, und in diesen seltenen Fällen auch nur, um von ihrem Gatten, meist unschuldig, furchtbaren Strafen zugeführt zu werden. Hofmannsthals Fähigkeit, wirklich atmende Menschen auf die Bühne zu stellen, Menschen, die von Luft, von einer sie mit den Mitspielern verbindenden Atmosphäre umgeben sind, wird gewöhnlich nicht angetastet, obwohl auch gesagt wurde, daß namentlich die Gestalten seiner ernsten Stücke sonderbar auf halber Höhe zwischen Individualität und allegorischem Typus schweben, dies aber mehr zur Charakterisierung ihrer Art denn als Tadel. Gegen Hofmannsthals Dramaturgie ist von dem spezifischen Einwand, daß ihm die Peripetie, d.h. die vom Höhepunkt abfallende Handlung nicht gelinge,49 bis zur Aburteilung in Bausch und Bogen, er könne keine Dramen schreiben, so ziemlich alles Erdenkliche behauptet worden. In einem Punkt vereinigen sich diese divergierenden Angriffslinien wieder. Beiden wurde nämlich gleicherweise zur Last gelegt, 49 Rudolf Kassner, „Erinnerung an Hugo von Hofmannsthal," Fiechtner, S. 240.
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zu sehr aus alten Stoffen, zu viel von schon gestalteten Kunstwerken entlehnt zu haben. Bei Calderón sprach man sogar von Plagiaten. Dies ist freilich ein Vorwurf, der keineswegs auf diese beiden Dichter beschränkt ist. Er zieht sich mit größerer oder geringerer Intensität durch die gesamte Literaturgeschichte. Von Goethe gibt es den Ausspruch, „der Künstler habe das Recht, ja die Pflicht das unvollkommen Gebildete als Stoff zu behandeln und sich es anzueignen, als wenn es von Hause aus sein gehörte." 60 Trotz solcher weiser Erinnerungen von Seiten erfahrener und verdienter Künstler ist andererseits der Chor der Entrüsteten nie zum Schweigen gebracht worden. Es wird jeder Literaturbeflissene das Problem der stofflichen Abhängigkeit für sich selbst lösen müssen, indem er in jedem einzelnen Fall das Gesamtbild prüft. Dabei wird er allerdings feststellen müssen, daß Anlehnung an Altes und Umgestaltung von schon Vorhandenem die Regel, freie Erfindung dagegen die Ausnahme ist. Für Calderón wie für Hofmannsthal wurde die Rechtfertigung dieses Vorgehens unter Einbeziehung ihrer individuellen Künstlerpersönlichkeiten schon oft auf überzeugende Weise ausgesprochen.61 Seien diese Vorwürfe nun gerechtfertigt oder wesenlos, sie enthüllen auf jeden Fall eine weitere Gemeinsamkeit der Dichter. Beide sind sie der Tradition verbunden und versuchen dieselbe durch Einfühlung, durch liebende Durchdringung, durch Nachdichtung lebendig zu erhalten. Sie entzünden sich an schon überliefertem, geformtem Kulturgut, verwandeln es von innen heraus, aus dem Zentrum her, in neue Kunstwerke und erwecken es damit zu neuer Aktualität. Diese Erscheinung ist jedoch sehr verbreitet und im Grunde haben die griechischen Dramatiker und ihre Nachfolger bis auf den heutigen Tag nichts anderes getan. Marcelino Menéndez y Pelayo hat in seiner souveränen Art einen Vergleich zwischen Calderón und anderen spanischen Dramatikern des Goldenen Zeitalters gezogen.52 Weil man auch bei 50 Artemis-Gedenkausgabe, hrsg. von E. Beutler (Zürich, 1948-1954), XIII, S. 391. 51 Z. B. A. E. Sloman, The Dramatic Craftsmanship of Calderón: His Use of Earlier Plays (Oxford, 1958). Curtius, „George, Hofmannsthal und Calderón," S. 186. Vgl. auch Kapitel V, S. 107. 52 Calderón y su teatro (Buenos Aires: Emecé, 1946), S. 304ff. Die Vorlesungen, aus denen sich dieses Buch zusammensetzt, stammen aus dem Jahre
1881.
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anderen Kritikern immer wieder ähnlichen Gedanken begegnet, sollen die wichtigsten hier zusammengestellt sein. Calderón sei nicht so vielseitig wie Lope, nicht so weit in seinem geistigen Horizont, nicht so frei in der Ausführung, nicht so leicht, nicht so großzügig, aufrichtig. Er stehe ihm auch nach in der Einfachheit des Ausdrucks, der Ungeziertheit der Sprache und ebenso in Bezug auf Natürlichkeit und Wahrheit der menschlichen Leidenschaften. Weit übertroffen werde er von Lope in der Darstellung der Frauen, der Liebe, der Eifersucht. Hinter Tirso de Molina bleibe Calderón zurück in der Kunst, reiche, energische, komplexe Gestalten zu schaffen, wie sie im Leben begegnen. Im Vergleich mit Don Juan z.B., der sich mit jeder beliebigen Shakespearischen Gestalt messen könne, sei Segismundo ein bloßes Phantom.53 Tirso übertreffe ihn auch an Grazie, Diskretion, schelmischer Freiheit, tiefer Ironie, durch seinen bissigen, ungebundenen Dialog, die glücklichen Neubildungen und Kühnheiten seiner Sprache. Trotz dieser und anderer Einzelzüge, in deren Handhabung Calderón den Kürzeren ziehe, räumt ihm Menéndez den ersten Platz unter den spanischen, und nach Sophokles und Shakespeare den dritten unter den Dramatikern aller Völker ein. Denn im Wichtigsten, was einen dramatischen Dichter auszeichne, in der Größe seiner Konzeptionen, überrage Calderón alle Rivalen. Kein Theaterstück der Weltliteratur beispielsweise zeige und löse das Rätsel des menschlichen Lebens mit größerer ästhetischer Kraft als La vida es sueño. Dies sei es nämlich, was Calderón allen anderen Dramatikern voraushabe: Erhabenheit der Ideen, synthetisches Vermögen, harmonische Vermittlung zwischen Wirklichkeit und Ideal, zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, dem Hiesigen und Jenseitigen, zwischen Himmel und Erde. Wenn man diese letzte Formulierung in ihrer Allgemeinheit akzeptiert, so kann man leicht die Brücke zu Hofmannsthal hinüberschlagen. Freilich darf man sich nicht verhehlen, daß diese kritische Einordnung bei aller Beredsamkeit auf einer normativen Ästhetik beruht, die feststehende Normen von außen an das KunstM
Menéndez y Pelayo sagt „símbolo," Symbol. S. 304.
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werk hält und es an ihnen mißt, während wir heute gewöhnt sind, es nach aus ihm selbst gewonnenen Maßstäben zu beurteilen. Ein zweiter Einwand gegen diese Sicht, der sich mit dem ersten berührt, leitet sich von der noch ungenügenden Erkenntnis in die Gesetze des barocken Theaters her. Sowohl Alewyn wie Curtius haben darauf hingewiesen, daß es nicht angeht, das Drama des Barock nach den Einsichten zu richten, welche der uns viel geläufigeren Betrachtung des säkularisierten, protestantischen Dramas des Neuklassizismus zu verdanken sind.64 Wie seinerzeit Ortega von den Deutschen einen Goethe von innen erbeten hat,65 so sind uns die Spanier bis heute noch einen Calderón von innen schuldig geblieben. Um eine Einordnung Hofmannsthals in das deutsche Drama steht es allerdings noch um einen Grad schlimmer. Jeder Vergleich seiner dramatischen Schöpfungen mit Hebbel, Schiller, Kleist steht noch aus.6® Dabei bleibt es natürlich fraglich, ob uns derlei Vergleiche in dem Bemühen, die Figur Hofmannsthals gegen die Calderons abzuheben, sonderlich fördern würden. Neben allem anderen Inkommensurablen bleibt jedes Abwägen schon deswegen ungenau, weil das Bild Calderons bereits in der Geschichte fixiert ist, während um Hofmannsthal noch gerungen wird und sein ewiges Gestirn noch nicht klar aus dem Gewölk des jüngst Vergangenen hervorgestiegen ist. Hingegen muß der Versuch gewagt werden, wenigstens annäherungsweise nach den geistesgeschichtlichen Gründen zu forschen, die Hofmannsthal zu Calderón geführt haben, nach den Bedingungen der Anziehungskraft, die der Spanier zeitlebens auf den 54 Richard Alewyn, Das große Welttheater, hrsg. von E. Grassi (Hamburg: Rowohlt, 1959). S. 56f. Curtius, „George, Hofmannsthal und Calderón," S. 191f. 55 „Pidiendo un Goethe desde dentro," Revista de Occidente (1932); „Um einen Goethe von innen bittend," Die Neue Rundschau, April 1932. 5 » Die Beziehungen zu Goethe hat Grete Schaeder in Hugo von Hofmannsthal und Goethe (Hameln, 1947) dargestellt, aber nicht in dem Sinne eines Vergleichs der dramatischen Techniken. Zu einem solchen hat in Zusammenhang mit Grillparzer Walter Naumann in seinem Aufsatz, „Die Form des Dramas bei Grillparzer und Hofmannsthal," Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. XXXIII (1959), Heft 1, den ersten Schritt getan. Ansätze zu einem Vergleich mit Lessing enthält Hilde Cohns Arbeit, „Die beiden Schwierigen im deutschen Lustspiel," Monatshefte (Wisconsin, Oktober 1952).
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Österreicher ausgeübt hat. Es ist behauptet worden, daß Hofmannsthal in seiner Jugend zu den letzten Vertretern des romantischen Weltgefühls gehörte und daß seine Wendung zum Barock dem Wunsch gehorchte, die Romantik mit ihrer Maßlosigkeit, ihrem Überschwang und dem Nicht-ernst-nehmen des Hiesigen zu überwinden.57 Das Barock, wie es ihm in Calderón entgegentrat, bot ihm zwei Metaphern an, die es ihm ermöglichten, sich wieder der Erforschung des irdischen Lebens zuzuwenden, ohne ihm deswegen auch gleich ausweglos zu verfallen, nämlich die Auffassung des Lebens als Traum und des Lebens als Spiel. Die eine Metapher spann er im Turm, die andere im Welttheater aus. Dazu kommt die Beobachtung, daß Hofmannsthal die Vorlagen für seine Bearbeitungen dort zu suchen pflegt, wo ihm ein Problem entgegentritt, an dessen Lösung er innerlich noch arbeitet.58 Bot ihm die Romantik das in seiner Jugend vorherrschende Thema der Kunst im Konflikt mit dem Leben, das er im Bergwerk zu Falun gestaltet hat, so fand er im Barock des Calderón die Gegenüberstellungen Leben-Ewigkeit, Wandlung-Treue, Vergänglichkeit-Dauer, deren Auflösung ihm in den Jahren der Reife bedeutsam wurde. Diesen persönlichen Wandlungen des Geistes gesellt sich nun eine geschichtliche verstärkend hinzu. Spanien zu Calderons Zeit stand im Zeichen der Gegenreformation, einer Bewegung, die Heüung suchte für die Leiden des Zerfalls und der Zerrissenheit. Für den Österreicher des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts enthielt die monarchisch-katholische Festlichkeit der Calderonschen Welt etwas doppelt Verlockendes: einerseits die gleichen Voraussetzungen in Sitte und Glauben, von denen noch starke Reste existierten, andererseits aber eine felsenfeste Unerschütterlichkeit und Einheitlichkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Kultur, die schon längst abhanden gekommen waren. Was er dort suchte, war eine anwendbare Kur für eine vergleichbare Krankheit. Ganz nahe kommt man den inneren Bedürfnissen, die Hofmannsthal Schutz und Inspiration bei der Calderonschen Dramatik suchen ließen, an einer Stelle eines an Burckhardt gerichteten 57 Elsbeth Pulver, Hofmannsthals S. 11-12. 58 Ebda.
Schriften
zur Literatur
(Bern, 1956),
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Briefes, wo vom spanischen Theater nicht im entferntesten die Rede ist. „Es ist das hochmütige und verzweifelte Geschick des französischen Geistes darin ausgedrückt," belehrt Hofmannsthal den Empfänger, „alles hier ausfechten zu müssen, wie der Herzog von Guise gegen seine Mörder focht, zwischen dem Kamin und der Wand — kein Schritt weiter war ihm gegeben — uns aber ist immer der Schritt durch die Wand ins Drüben gegeben. Darum ist es so sonderbar zu denken, daß wir einander verstehen sollten — immer wieder ist es das Gastmahl des Fuchses mit dem Reiher."59 Hofmannsthal hat offenbar gemischte Gefühle beiden Haltungen gegenüber. Die Franzosen bewundert er in ihrer heroischen Beschränkung auf das Gegebene, er bemitleidet sie wegen ihres starrköpfigen Verzichts auf den Versuch des Menschen, sich unter Anspannimg aller seelischen Kräfte über die Enge des Irdischen, über sich selbst zu erheben. Die Deutschen gönnen sich demgegenüber den weiteren Spielraum, sie machen es sich zu leicht. Sie sind zu rasch bereit, in ein nebelhaftes Jenseits zu entschlüpfen, ohne das Terrain auch nur auf die Möglichkeiten eines Kampfes hin geprüft zu haben. Dieses voreilige Ausweichen beruht auf einer Selbsttäuschung und endet mit dem Verlust sowohl dieser als auch jener Welt. Niemand weiß das besser als die Deutschen selbst, die sich aus dieser Erfahrung ein Sprichwort gemünzt haben, man könne mit dem Kopf nicht durch eine Wand. Calderón hält etwa die Mitte zwischen den beiden Auffassungen. Zwar ist sein Drama auch nur hier allein beheimatet. Jede Lust des Lebens wird hier ausgekostet, jedes Leid hier erduldet. Gleichzeitig ist aber die menschliche Existenz eingebaut in einen gewaltigeren, großartigeren Rahmen. Die Kraft ihres Daseins bezieht sie nicht aus ihrer eigenen Mitte, sondern aus dem Zentrum des Alls, demgegenüber sich alles Menschliche als Peripherie fühlen muß. Diese schöne Metapher hat Hofmannsthal im Welttheater angewandt.60 Zwar ist der Mensch den Gesetzen des Irdischen unterworfen, und kommt es zum Kampf, so muß er sich stellen. Aber alles und jedes in ihm und außerhalb seiner ist verbunden und verknüpft durch tausend Beziehungen und Relationen mit einer ewigen, unwandel59 Hugo von Hofmannsthal — Carl J. Burckhardt, Briefwechsel, hrsg. von Carl J. Burckhardt (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1956), Brief vom 2. August 1926, S. 217. «» Siehe Kapitel IV, S. 8Iff.
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baren Ordnung. Die Aufgabe seiner Erkenntnis ist, das Auge zu schulen zur Wahrnehmung dieses Netzes, in dem er gleichermaßen gefangen und aufgehoben ist. Er kann auf Erden scheitern, aber er kann nicht verloren gehen. Der Schritt durch die Wand ist nicht möglich, aber auch nicht notwendig.«1 Es ist verständlich, daß dieses Weltbild Hofmannsthal zutiefst berührt hat. Seine Tragödie war, daß es ihm nicht gelang, sein leidendes, erschüttertes Bewußtsein in Calderone heile Ordnung überfließen zu lassen. Im Welttheater entdeckte er, daß sein dynamisiertes Leben das statische Gerüst der calderonianischen Bühne überflutete. Er konnte sich vor dem Chaos nicht anders retten als vermittels des Schritts durch die Wand. Der proletarische Vertreter der gärenden Masse verwandelt sich, man weiß nicht recht wie, zurück in den Calderonschen Bettler und flüchtet als Anachoret in den Wald.«2 Hofmannsthal ist auf diese Weise sein Problem nicht losgeworden. Auf anderer Ebene nimmt er es daher im Turm wieder auf. Hier vernichten einander die Mächte des Guten und des Bösen. Das olivierische Prinzip wird besiegt. Aber auch Sigismund, der Vertreter geistigen Menschentums, liegt am Ende der Tragödie sterbend im Zelt. Was bleibt zu tun, womit ist das Vakuum zu füllen? Die einzige Rettung ist wieder der Schritt durch die Wand. Es kommt der Kinderkönig und entläßt uns mit der Hoffnung auf ein chiliastisches Reich. Die Situation erinnert an Rilkes Gedicht „Der ölbaumgarten": „Später erzählte man: ein Engel kam —. Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht." 48 Auch Hofmannsthal muß sich nach diesem Warum gefragt haben, nach der Berechtigimg „ein Schloß über dem Abgrund" zu bauen.84 Darum hat er die Fassung von 1927 geschrieben, nicht, wie oft naiv behauptet wird, weil sich angeblich die erste Fassung nicht 61
Vossler, „Spanischer Brief," S. 145, sagt Vergleichbares über die Welt des sonst so verschiedenen Lope de Vega: „Das Schifflein tanze wie es mag und muß, es bleibt im Jenseits verankert. Und das Jenseits ist immer da, das irdische Abenteuer nur eine Parenthese darin, ein häßlich-schönes, bittersüßes Zwischenspiel. D a das Göttliche sich selbst verwirklicht, ob wir wollen oder nicht, und da jeder von uns an der Leine des Todes liegt, so mag er grasen und hüpfen oder arbeiten und sich quälen nach Herzenslust." 92 Vgl. Kapitel IV, S. 87f. «' Gesammelte Werke (Leipzig: Insel Verlag, 1927), Bd. III, S. 26. Briefwechsel mit Burckhardt, Briefwechsel, Brief vom 9. August 1923, S. 128.
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für die Bühne eignete.® In dieser letzten Version ist allerdings kein Ausweg mehr. Hier hat sich Hofmannsthal den Schritt durch die Wand versagt. Hier siegt Olivier und Sigismund wird einfach um die Ecke gebracht. Die Frage, ob dies Geschehen noch in das beziehungsreiche, tröstlich-festliche Universum Calderone eingebettet werden kann, hat Hofmannsthal offen gelassen. Dies ist seine Tragödie. So weit erlaubt uns der Gesamtvergleich der geistigen Welten Calderone und Hofmannsthals zu gehen. Wir müssen aber jetzt das Feld der Allgemeinheiten und Mutmaßungen verlassen. Worauf es nämlich ankommt, das ist die Untersuchung des Einzelfalls, die Beleuchtung der jeweiligen Ansätze, die bei jeder von Hofmannsthal an Calderón unternommenen Umgestaltung vorwalteten, die Sichtbarmachung des Gespinstes von Beziehungen und Befreiungen, welche die Entwicklung einer solchen Berührung hervorgebracht hat. Diese Kleinarbeit zu leisten, ist das Ziel, welches sich die folgenden Kapitel gesetzt haben.
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Grete Schaeder in „Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie," S. 335, unterscheidet zwischen äußeren und inneren Gründen für diese Umgestaltung.
m DAME
KOBOLD:
HOFMANNSTHAL
ALS
ÜBERSETZER
Hugo von Hofmannsthal muß neben seinen stofflichen und geistig-sinnbildlichen Anleihen beim spanischen Dichter zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens auch eine Anzahl von bloßen Übersetzungen geplant haben, denn 1920 erschien bei S. Fischer die Dama Duende in Hofmannsthals Übertragung als erster Band einer dann nie fortgesetzten Reihe von „Dramen des Calderón."1 Dabei erübrigt sich jedes Rätselraten betreffs Hofmannsthals Vorlage, denn der Dichter gibt dem Leser den Schlüssel zu den Übersetzungsverhältnissen selbst in die Hand, indem er erklärt: „Mehrfach liegt die alte Übersetzung von Gries zugrunde." Ja, er geht noch einen Schritt weiter und fügt mit den Worten „teils in getreuer, teils in freier Bearbeitimg"2 eine Aussage über sein Verhältnis zu dieser alten Griesschen Fassung hinzu. Nun, es hat bei der Dame Kobold sein Bewenden gehabt und über die Anfänge ist die geplante Übersetzungsreihe ebensowenig wie so manches andere Vorhaben Hofmannsthals gediehen. Aber ein Vergleich der Griesschen Version mit der seinigen gestattet einen Blick in Hofmannsthals Werkstatt mit ihren handwerklichen Gepflogenheiten und Intentionen, die oft so wesentlich zur unmittelbaren Erkenntnis seines Dichtwerks beitragen. Bei dieser Untersuchung ergeben sich als die Arbeitsweise Hof1 Erhard Buschbeck, „Bahr und Hofmannsthal im Gespräch," in Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde, hrsg. von Helmut A. Fiechtner (Wien: Humboldt-Verlag, 1949), S. 223: „Da kam eines Nachmittags Hugo von Hofmannsthal in das kleine ebenerdige Büro Bahrs im Burgtheater und trug ihm die Absicht vor, jedes Jahr ein Werk Calderone für das Burgtheater zu bearbeiten und mit dieser Verpflichtung die seinerzeit von Schreyvogel begründete Tradition in der Pflege der spanischen Klassiker fortzusetzen, die hier auf einen verwandten fruchtbaren Boden gefallen wäre und im Werke Grillparzers ihre bleibenden Spuren hinterlassen hätte." 2 Lustspiele, hrsg. von Herbert Steiner, IV (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1956), S. 477.
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mannsthals bestimmend schon bei früheren Ubersetzungen vorwaltende Prinzipien.8 Moderne Diktion, größere Einfachheit, psychologische Wahrheit. Vertiefung der Gestalten — dies und Ähnliches sind die Resultate der von Hofmannsthal am Griesschen Text angebrachten Veränderungen. Manchesmal genügt ihm zur Erreichung seines Zweckes ein eingefügtes Wort, eine leichte Umstellung des Satzes, eine geringfügige Auslassung. In anderen Fällen wieder ersetzt er die Griesschen Reden Seite um Seite durch seinen eigenen Dialog. Am erstaunlichsten ist die Wirkung dieses Umschmelzens des Alten in ein Neues an den nicht allzu zahlreichen, aber andererseits auch keineswegs seltenen Stellen, wo es dem modernen Dichter möglich war, die vorgeprägte Sprachform unberührt in seinen Text aufzunehmen. Wer eine beliebige Griessche Stelle neben ihr Hofmannsthalsches Gegenstück hält, wird ähnliche Beobachtungen anstellen können, wie sie etwa auch die Gegenüberstellung einer Lutherischen Bibelstelle und einer vorreformatorischen Übersetzung ergeben mag. In beiden Fällen ist der ältere Text länger, gewundener, abstrakter, vielleicht „intellektueller," aber bestimmt unpoetischer. In beiden Fällen auch trägt der neuere Ubersetzungsversuch in jedem Abschnitt, ja fast in jedem Vers den unverkennbaren, individuellen Stempel seines Schöpfers. Was Hofmannsthal einmal Strauss schreibt, gilt auch hier: sein Vers sei „ja nicht eigentlich schwungvoll oder blühend; seine Qualität, die ihm schwer abzustreiten ist, liegt wo anders: er ist inhaltsvoll, prägnant, rhythmisch biegsam, er ist nirgends flau, süßlich oder beiläufig."4 Diese Eigenschaften bewähren sich immer wieder und stehen im denkbar schärfsten Gegensatz zu den Griesschen Zeilen, die gleichsam nicht nach innen lauschen, sondern auf etwas außerhalb Existierendes deuten, nämlich das Calderonsche Original. Was nun Bewunderung für Hofmannsthals Vorgehen abnötigt, ist die unbeirrbare Gehörsicherheit für den Ton einer Zeile, die es ihm ermöglicht, aus der spröden Masse des Griesschen Textes jeweils einzelne sprachverwandte Bruchstücke in die eigene Übersetzung hinüberzunehmen, wo sie sich ohne das geringste Abfeilen so fuglos einschmiegen und in die so eigentüm3
Vgl. das Kapitel V über La vida es sueño auf S. 93ff. Richard Strauss, Briefwechsel mit Hugo von Hofmannsthal, hrsg. von Franz Strauss (Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay, 1926), S. 132. 4
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liehe Hofmannsthalsehe Musik so einstimmen, als handle es sich im Grunde nicht um grundverschiedene, einander ausschließende Sprechweisen. Es sollen nun einige Beispiele diesen allgemeinen Anmerkungen Lebendigkeit und Anschaulichkeit verleihen. Die Eingangszeilen der Komödie lauten bei Gries: Nur um Eine Stunde haben Wir verfehlt die Festlichkeiten, Womit heut die hochgesinnte Stadt Madrid die Taufe feiert Des Infanten Balthasar.5
Hofmannsthal macht daraus: Da! Zu spät um eine Stunde und versäumt das Schaugepränge, Umzug, Fest und Zeremonie, so Madrid aufstellt zur Taufe des Infanten Balthasar.«
Was ist hier geschehen? Schon durch das erste Wort verkündet der sprachschöpferischste aller Übersetzer die Grundsätze und Absichten, welchen ein Großteil seiner Abänderungen dienen wird. Der Ausruf „Da!" lockert das feste syntaktische Gefüge des Satzes und bringt es der gesprochenen und erlebten im Gegensatz zur räsonnierten Rede näher. Gleichzeitig konzentriert sich in ihm der Geist der Ankunft in einer fremden Stadt, der ja auch rein inhaltlich den Gegenstand dieser Verse bildet. Und schließlich vibriert darin überhaupt etwas Frisches, Dezidiertes mit, ein resolutbehaglicher Ton, der sehr wohl geeignet ist, den Auftakt zu einem heiteren Spiel abzugeben, in dem zwar mehrfach die Klingen gezogen und einmal sogar die Haut geritzt wird, wo aber letzten Endes alles doch nur aufs Heiraten hinausläuft. Diese Fähigkeit, in eine sprachliche Form vielerlei Bedeutung zu drängen, mit einem einzigen Wort mehreres auszudrücken und noch manches mit5 Schauspiele von Don Pedro Calderón de la Barca, übers, von J. D. Gries, V, (Berlin, 1840), S. 9. « Lustspiele, IV, S. 121.
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schwingen zu lassen, nennt man im deutschen Sprachgebrauch gewöhnlich dichterisch. Aber in diesen Eingangszeilen steckt noch eine Menge anderes. Die von Gries nur knapp angedeuteten und daher ein wenig dürr oder abstrakt anmutenden „Festlichkeiten" haben sich bei Hofmannsthal aufgespalten und in das bunte, lebendige Viererlei von Schaugepränge, Umzug, Fest und Zeremonie umgewandelt, alles konkrete, mit Anschauung gesättigte Teile der Volksbelustigung, die Manuels enttäuschte Einbildungskraft in zwischen Bedauern und Schaulust ungewiß schwebende Worte faßt. Hingegen ist das Adjektiv „hochgesinnt" weggefallen, womit bei Gries die Stadt Madrid bedacht ist, weil es eine urteilend-richtende Geistesverfassung voraussetzt, in der sich Manuel nicht befindet, und weil sein Vorhandensein eine zweite, der ersten widersprechende Absicht verrät und daher verstimmt. Ebenso wichtig für die Atmosphäre einer Aussage wie der Wortschatz, ja möglicherweise noch wichtiger, weil weniger augenfällig, ist das grammatikalische Gerüst, an dem die Vokabeln sozusagen befestigt sind. Auch hierin hat Hofmannsthal in den Eingangsversen Beachtliches verändert. Was bei Gries so überaus steif und künstlich wirkt ist neben dem „hochgesinnt" die dozierende Form der verbalen Konstruktion „haben . . . wir" und des Relativums „womit," bei denen dem Leser stärker als die heraufbeschworene Welt der Begriff Exposition in den Sinn kommt. Bei Hofmannsthal fehlt im Hauptsatz überhaupt das Hilfszeitwort mit dem Personalpronomen! Damit bekommt die ganze Aussage die Unwillkürlichkeit einer Gemütsbewegung, hier der Enttäuschung, die sich am natürlichsten in Interjektionen und Ausrufungen ausdrückt. Dadurch wird das Widrige des Explizierens vermieden und gleichzeitig das allein Wichtige in Anschauung gebracht, das Schaugepränge und die Versäumnis. In der Gewißheit, das Notwendige ohne ablenkendes Schnörkelwerk vorgebracht zu haben, kann Hofmannsthal denn auch auf den Großbuchstaben mitten in der Zeile „Nur um Eine Stunde . . . " verzichten, welcher bei Gries dem verlegenen Gefühl entspringt, der unzulänglichen Ausdrucksweise durch Betonungszeichen zuhilfe kommen zu müssen. Ein anderes Mittel, Gries zu „verdichten," ist Kürzung. Cosmes literarisch gebildete Antwort auf „Nur um Eine Stunde . . . , " bei Gries fünfundvierzig Zeilen, ist auf fast die Hälfte reduziert. Das
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Calderonsche Schwelgen im Detail ist hier geopfert in Hinsicht auf die Erfordernisse der Szene, die durch die Überlastung ins Stocken kommen würde, ehe sie noch recht in Gang geraten ist, und die Psychologie, die eine solche Kenntnis literarischer Dinge bei dem bauernschlauen, aber ungebildeten Burschen befremdlich erscheinen ließe. Es liegt eben auf Schritt und Tritt eine gegensätzliche Auffassung von den Gesetzen des Dramas zugrunde. Das heißt nicht, daß nun in allem und jedem Vereinfachung, Kürzung Hofmannsthals Arbeitsweise ist. Die Rede Cosmes zum Beispiel, vermittels deren er Don Luis umgarnen und an der Verfolgung Doña Angelas hindern will, ist bei Hofmannsthal bedeutend ausgeschmückt. Bei Gries sagt er bloß: Herr, obwohl ihr mein Erdreisten Schelten möget, habt die Gnade, Bitt ich euch, mir anzuzeigen, An wen dieser Brief gerichtet.7
Bei Hofmannsthal ist die versteckte Absicht, den Angeredeten durch einen leeren Vorwand aufzuhalten, in der Sprache ausgedrückt, die sich bauscht und wieder dehnt, genau dem verschlungenen Sinn des Redners entsprechend: Herr, ich muß im voraus fürchten, Ihr verkennet was mich nötigt, und Euch ärgert meine Kühnheit! Dennoch muß ich mich erdreisten, habt die Gnade, zeigt mir an, wer des Briefes, den ich hier, nicht ganz leserlich geschrieben, Euch zu weisen mich beehre, Adressat!8
Adressat! Erst mit diesem letzten Wort ist es heraus! Die langatmige, verschachtelte und verschnörkelte Syntax hat hier eine Funktion. Sie ist der Ausdruck gerade jener geheimen Absicht, die zu verheimlichen die Worte so klüglich gewählt sind. Der Angesprochene soll gezwungen werden, ihren schlangenartigen 7
Gries, S. 14-15.
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Lustspiele,
IV, S. 125.
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Windungen zu folgen, um darüber sein Vorhaben zu versäumen. Könnte er bereits am Anfang erraten, worum es geht, so würde seine ohnehin schon angespannte Ungeduld den Bann längst gebrochen haben. Darum muß er bis zum letzten Wort im Ungewissen bleiben. Bei welchem der beiden Texte dem Schauspieler des Cosme die bessere Gelegenheit geboten wird, sein Können zu entfalten, braucht wohl nicht gesagt zu werden! Dabei läßt sich Hofmannsthal von Gries in mehr als den bloßen Umständen der Handlung anregen. Souverän gebraucht er die Schlüsselverben „erdreisten" und „anzeigen," die er bei seinem Vorbild vorfindet. An solchen Beispielen wird erst klar, wie Vielfältiges sich hinter der scheinbar simplen Bemerkimg verbirgt: „Mehrfach liegt die alte Übersetzung von Gries zugrunde." Ebenso souverän wird aber oft auch das Schlüsselwort abgelehnt, wenn es Hofmannsthal unpassend erscheint. Don Luis' Replik auf den Abhaltungsversuch durch Cosme hat bei Hofmannsthal eine besondere Wucht: Dazu fehlt mir jetzt die Muße! Nach dem langen Geschwätz Cosmes wirkt diese Absage allein schon wegen ihrer Kürze und Richtigkeit, denn er will ja weiter. Doch der Hauptanteil an der Verbesserung gebührt der Umwandlung des von Gries verwendeten Wortes „Weile" in „Muße." Bei dem Satz „Dazu hab' ich jetzt nicht Weile" bleibt der heutige Leser an dem Wort „Weile" hängen und sinnt seinem ungewöhnlichen Gebrauch nach. „Dazu fehlt mir jetzt die Muße" entspricht einerseits dem ungezwungenen Sprachgebrauch und wahrt andererseits den aristokratischen Charakter des Sprechers. Er sagt ja nicht platterdings, er habe keine Zeit, wie ein Philister, der seinen Geschäften nachgeht, sondern „Muße," d.h. Freiheit von selbstauferlegten Abenteuern. Es wäre unrichtig einzuwenden, dies seien Kleinigkeiten, die schon unter dem Gewicht der bloßen Erwähnung erdrückt würden. Freilich sind es Kleinigkeiten, aber keineswegs Unerheblichkeiten, denn aus ihnen ist das Sprachkleid einer Dichtung gewoben. Dass bei Verkürzung wie Erweiterung durchgehende Tendenz und nicht etwa unverbindliche Laune maßgebend ist, kann immer wieder beobachtet werden, sei aber hier durch ein einziges, weiteres
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Beispiel erhärtet. Die Situation ist folgende: Manuel hat beschlossen, dem Wunsch der fremden Dame zu willfahren und ihr den Verfolger vom Halse zu schaffen. Zuerst soll der schlaue Cosme sein Glück versuchen; als der aber schnell abgeschüttelt wird, sieht Manuel sich gezwungen, selbst einzugreifen. Bei Gries tut er es mit den Worten: „Nicht länger weilen darf ich jetzt, der Muth vollende, was die Schlauheit eingeleitet."9 Hofmannsthal vermeidet dieses allzu bewußte Auslegen der Handlung durch einen Mitwirkenden. Auf ein „oder" des Don Luis erklärt er lediglich „ ,oder' ist mein Stichwort,"10 wohl um die bloße Pantomine doch durch etwas Gesprochenes zu begleiten, und tritt hervor. Denn das klügelnde Kommentieren seiner eigenen Tat widerspricht nicht nur diesem erregten Augenblick im Leben Manuels.11 Ein derartiges Über-den-Dingen-Stehen geziemt nach heutigem Empfinden höchstens dem allwissenden Autor eines Romans, obwohl es auch dort schon längst durch andere Techniken ersetzt wird, keinesfalls aber den Gestalten eines dramatischen Werkes, deren Gesichtskreis mit ihrem Lebensgefühl zusammenfallen muß. Wir sind hier einem wesentlichen Unterschied zwischen Calderón und Hofmannsthal auf der Spur. Der moderne Dichter schreibt „immanentes" Drama. Soll das auf die Bühne gestellte Stück Leben einen weiteren, für alle Menschen verbindlichen Sinn ergeben, so muß der Zuschauer sich denselben geistig erarbeiten, der Dichter jedenfalls tritt nicht mit seiner Weisheit hervor und vertraut sie auch seinen Figuren nur insofern und nur in dem Grade an, als sie aus ihrer Anlage und Situation heraus fähig sind, sie zu erkennen. Calderón hingegen macht keinerlei Anstrengungen, seine Gestalten als letzte Wirklichkeit auftreten zu lassen. Im Gegenteil, überall scheint bei ihm eine höhere, die Geschicke lenkende Gewalt hindurch, sei es die des Dichters selbst, die Gottes oder eines über allem waltenden Schicksals. Daß bei dieser Darstellungsweise die Fäden sichtbar werden, an denen die Bühnenfigur sozusagen zappelt, ist nicht 9
Gries, S. 16. Lustspiele, IV, S. 126. 11 Dies ist ganz Calderón zueigen. gänger Lope de Vega z.B. sagt Karl (München: Verlag der Bremer Presse, „Innerhalb der Acción moralisiert er keine Sache Partei." 10
V o n seinem „naturalistischen" VorVossler, „Spanischer Brief," Eranos 1924), S. 144, genau das Gegenteil: nie, ergreift für keinen Menschen,
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etwa unvermeidlich, sondern geradezu bezweckt. Nicht größere oder geringere Bühnengeschicklichkeit gilt es hier zu erkennen, sondern zwei verschiedene Auffassungen vom Theater — und wohl auch vom Leben — stehen sich gegenüber. Don Manuel ist aber bei Hofmannsthal nicht wortkarger, nicht stumpfer als bei Calderón, wie man nach den bisherigen Ausführungen anzunehmen geneigt sein mag. Vielleicht durchzuckt einen Edelmann, der einem anderen entgegentritt, der Gedanke, daß jetzt Mut statt Schlauheit am Platze sei, aber er spricht ihn nicht aus. Sobald er ihm aber mit der Waffe in der Hand gegenübersteht, darf er es auch an einer ironischen, jeder Subtilität mächtigen Zunge nicht mangeln lassen. Hofmannsthals Don Manuel zeigt sich jeder Situation, verlange sie nun Schweigsamkeit oder sprudelnden Witz, durchaus gewachsen. Ich, Herr, — sagt er — habe Euch gefragt, wodurch dieser Bursch Euch da beschwert hat, da verletzt hat, da beleidigt hat. Die Frage war sehr höflich und hat Höflichkeit verdient. Höflichkeit — der Klang des Wortes sagts Euch — kommt vom Hof. Es steht nicht gut mit jungen Herrn des Hofes und der Hauptstadt, wenn vom Lande einer kommen muß wie ich und in Höflichkeit, die Euch sollte Element sein, Euch muß beibringen die Elemente. 12
Beschwert, verletzt, beleidigt — Manuel geizt jetzt keineswegs mit den ihm zu Gebote stehenden Synonymen. Er beherrscht aber auch die Kunst des Wortspiels. Sechsmal wird in seiner Rede der Stamm „Hof" wiederholt und abgewandelt. Und es muß die Aufgabe des Schauspielers sein, die sarkastische Überlegenheit des Don Manuel durch eine geeignete Überbetonung dieser Silbe augenscheinlich zu machen. „Wie echt Calderonianisch das alles ist!," fühlt man sich gedrängt auszurufen. Aber an dieser Stelle 12
Lustspiele, IV, S. 127.
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hat Hofmannsthal sowohl Calderón wie Gries übertrumpft, bei denen der Anklang „corte-cortesía" beziehungsweise „Hof und Höflichkeit" nur in der allereinfachsten Form einmal vorkommt. Und das hübsche Vexierspiel mit „Element" in der Einzahl und „Elementen" in der Mehrzahl, mit dem der ländliche Don Manuel noch zu allem Überfluß seiner Wortgewandtheit den letzten Schliff verleiht und sich dem Madrileño an Feinheit des Geistes mindestens ebenbürtig erweist, ist Hofmannsthals ureigenste Zugabe. Es zeigt sich also, daß man mit den Begriffen Sparsamkeit und Vereinfachung für Hofmannsthals Arbeitsweise nicht auskommt. Selbst Wahrheit und Natürlichkeit sind als gemeinsame Nenner für die Vielfalt der Veränderungen, denen wir begegnen, nur dann akzeptabel, wenn man sie dahin einschränkt, daß Hofmannsthal die Wahrheit der Situation, der natürlichen seelischen Stimmung über das Wort entscheiden läßt und nicht umgekehrt. Das „erreichte Soziale"13 in den Komödien Hofmannsthals bewahrt auch in der Dame Kobold seinen Sinn. Bei dem österreichischen Dichter treten die Charaktere nicht aus den Gegebenheiten ihres Lebens heraus. Ihr Sein und Sehnen muß sich innerhalb der Grenzen einer von allen anerkannten realen Welt auswirken. Wir glauben hierin auf ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Calderón und Hofmannsthal gestoßen zu sein. Die Kunst, der Musik Herrschaft über das Wort einzuräumen, ist übrigens eine von Hofmannsthal schon längst mit Meisterschaft geübte Kunst, sei es der Strauss'schen Opernmusik oder aber der Musik der Seele, die über dem Leben schwingt und auf irdische Verwirklichung wartet. Und nun bewährt sie sich wieder in der Calderonschen Komödie. Sie ist es, die den Dichter zwingt, mit der sorgfältigen, doch ungelenkigen Griesschen Übersetzung nach seiner Weise umzuspringen. Diese Unterschiede der Versführung seien an einem letzten Beispiel zusammenfassend dargestellt. Nach Beilegung des Zweikampfes läßt Calderón seinen Don Luis die von diesem heimlich geliebte Beatriz mit folgenden Worten beruhigen: Don Luis: Ya la tormenta pasó. Otra vez, señora, vuelva 13 „Ad me ipsum," Aufzeichnungen, furt a.M.: S. Fischer, 1959), S. 226.
hrsg. von Herbert Steiner (Frank-
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A restituir las flores, Que agora marchita y seca, De vuestra hermosura el hielo De un desmayo. Doña Beatriz: Dónde queda Don Juan? Don Luis: Que le perdoneis Os pide; porque le llevan Forzosas obligaciones, Y el cuidar con diligencia De la salud de un amigo Que va herido. 14
Gries übersetzt folgendermaßen: Don Luis: Schon vorüber ist der Sturm; Drum, Señora, stellet eilig Wieder her die holden Blüthen Eurer Schönheit, die erbleichend Welken vor dem eis'gen Hauche Einer Ohnmacht. Beatriz: Doch wo bleibet Nur Don Juan? Don Luis: Ihn zu entschuld'gen Bittet er; Verbindlichkeiten Mächt'gen Zwangs entführen ihn, Und ein sorgenvoller Eifer Für die Heilung eines Freundes, Der verwundet ward. 15
Hofmannsthal gibt dies so wieder: Don Luis: Ausgetobt hat sich der Sturm. Es geruhen Eurer Schönheit Blüten nun sich zu erholen. Beatriz: Wo ist Don Juan? Don Luis: Er bittet Um Entschuldigung. Die Sorge für die Pflege eines Freunds, 14
Teatro escogido de D. Pedro Calderón de la Barca, ed. Real Academia Española (Madrid, 1868), Π, S. 184. 15 Gries, S. 22.
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HOFMANNSTHAL UND CALDERON der verwundet wurde, ists, die ihn wegführt. 1 6
Ohne diesmal auf die Unterschiede bestimmter Einzelheiten einzugehen, können wir an diesen drei Textstellen die großen charakteristischen Linien ablesen. Gries hat das Verdienst, Calderón fast ohne jede Einbuße ins Deutsche hinübergerettet zu haben. Kein Vergleich, kein Bild, kaum eine Nuance geht in seiner Übertragung verloren. Und doch ist der Endeffekt einigermaßen befremdlich. Dieser Reichtum an Wendungen, an Anspielungen, Beziehungen ist der moderneren deutschen Komödie (selbst der Aufklärungszeit, als dergleichen noch gepflegt wurde) etwas Unbekanntes und macht den Zuhörer unbehaglich, weil er solcher sprachlichen Umsicht nicht gewachsen ist. Es soll hier keineswegs der Eindruck erweckt werden, als gälte es, die Leistung des Übersetzers Gries zu bemäkeln oder gar Hofmannsthal auf seine Kosten herauszustreichen. Im Gegenteil, man steht bewundernd vor seiner Fähigkeit, einen kostbaren Inhalt, reich an wundervoll geordneten Kleinodien, ohne spürbaren Verlust in ein neues Gefäß zu versetzen.17 Aber man bleibt sich dauernd bewußt, daß es sich um ein Kunststück handelt, daß die Juwelen in dem neuen Schmuckkästchen in Unordnung geraten sind und jetzt irgendwie beziehungslos durcheinanderliegen. Die Übersetzung bleibt Übersetzung, man hört ihr bei aller Zungenfertigkeit den fremden Akzent an. Keine von diesen Einwendungen trifft natürlich auf Calderón zu. Was bei Gries als starre Steifheit, überladener Sprachprunk, erkältende Geistesgegenwart stört, wird bei Calderón als spanische Tradition, als Geist der spanischen Sprache willig hingenommen.18 Hofmannsthal, ohne sich um den Calderonschen Originaltext zu bekümmern (was daraus hervorgeht, dass er oft Fehler und 18
Lustspiele, IV, S. 132. Vgl. die Würdigung von Gries bei Hermann Tiemann, Das spanische Schrifttum in Deutschland von der Renaissance bis zur Romantik (Hamburg: Ibero-Amerikanisches Institut, 1936), S. 182-183. 18 Eine ähnliche Beobachtung stellt Karl Vossler im Zusammenhang mit Lope de Vegas Dorotea an, „Spanischer Brief," S. 142-143: „Ins Deutsche übertragen würden diese endlosen Finten, Komplimente, Neckereien, Sophistereien, Schnurren, Vergleiche und Sprüche eines übermütigen und müßigen Gesellschaftsgeistes sich steif und lästig ausnehmen." 17
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Ungenauigkeiten der Griesschen Übersetzung beibehält1β), kommt der spanischen Urquelle näher, indem er wie der Spanier einen dem Geiste seiner Sprache gemäßen Text liefert. Die gongoristischen Kapriolen stehen ihm ebenso zu Gebote wie Calderón selbst. Er gestattet sie sich nur, wo die Situation ihm Spielraum gewährt. Sonst herrscht Einfachheit, Treffsicherheit und Gebräuchlichkeit des Ausdrucks, Klarheit der Linienführung, Anpassung an die Erfordernisse des dramatischen Augenblicks. Bei ihm sitzt der Ausdruck, wie Lichtenberg sagt, dem Gedanken wie angegossen.20 Wenn das Vorteile sind, so muß er allerdings auch seinen Preis dafür entrichten. Das Prunkgewand des Stückes, das bei Calderón in den verschiedensten Versformen funkelt und auf weite Strecken hin den Schmuck des Reimes aufweist — alles Vorzüge, die Gries mit redlicher Mühe und erstaunlichem Erfolg zu bewahren getrachtet hat — ist bei Hofmannsthal einer unansehnlicheren, reimlosen Einkleidung gewichen. Durchweg ist die vierhebige Trochäenzeile zum Vehikel der Sprache geworden und von einigen Stellen abgesehen, liest sich oder hört sich die Komödie fast wie Prosa, ja wie Alltagsprosa an. Daß dieser Effekt nicht unbedingt nachteilig ist, sondern durchaus im Einklang steht mit vielen anderen modernen Zügen und eine Konzession an den Geschmack des neuzeitlichen Theaterbesuchers bedeutet, der in seinen Lustspielen von Versen wenigstens nichts „merken" will, ändert an den Tatsachen nichts.
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Bei Calderón (S. 177) sagt z.B. Cosme zu Don Luis: Pues si flema sólo os falta, Yo tengo cantidad de ella, Y podré partir con vos. „Partir" heißt hier offensichtlich „teilen": Wenn Euch weiter nichts fehlt als Muße, davon habe ich eine Menge und kann mit Euch teilen. Gries (S. 15) macht daraus: Wenn's euch bloß an Weile fehlt, Davon, Herr, besitz' ich reichlich, Und kann gerne mit euch gehn. Hofmannsthal (Lustspiele, IV, S. 126) übernimmt diesen Fehler: Muße fehlt Euch! davon hab ich überreichlich. Ich begleite Eure Gnade. 20 G. Chr. Lichtenberg, Gesammelte Werke (Frankfurt am Main: Holle Verlag, 1949), Bd. I., S. 346.
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Soviel steht jedenfalls fest: kann Hofmannsthal auch auf die Wort- und Formtreue von Gries keinen Anspruch machen, so nähert er sich doch Calderón in dem wesentlichen Punkt, daß er ein eigenständiges Kunstwerk darbietet, entscheidender als der gewissenhafte Übersetzer.
Man könnte solche Betrachtungen von den wenigen Szenen, auf die sie hier beschränkt sind, weiter ausdehnen und es würde sicherlich Neues und Bemerkenswertes entdeckt werden. Es würde sich herausstellen, daß Hofmannsthals Abänderungen eine weitere Dimension in sich tragen als bloß die Anpassung der Diktion und des Verses an seine dramatischen Vorstellungen, die Dimension des Charakters. Es würde sich nämlich zeigen, daß durch seine sprachlichen Eingriffe die Gestalten seelisch vertieft, ihre Motivierung einheitlicher, strenger, ihre Beziehungen deutlicher und vielgestaltiger geworden sind. Sein Cosme ist derber und komischer, Don Juan and Beatriz glühender in ihrer Liebe zueinander, Don Manuel männlicher und würdiger, Angela zarter und gleichzeitig schalkhafter. Namentlich sein Don Luis ist ein ganz anderer geworden. Aus einem edelmütigen Verteidiger der schwesterlichen Ehre und unglücklichen Rivalen des älteren Bruders ist er in einen maßlos eifersüchtigen, neurasthenischen, ja gewissermassen diabolischen Menschen umgewandelt worden. Dem im Einzelnen nachzugehen, erübrigt sich jedoch, weil Entdeckungen auf dieser Stufe bloß die nun schon hinreichend erforschte Sphäre des Wie bereichern würden. Was jetzt noch aussteht, ist jedoch die Antwort auf die Frage Warum? Hofmannsthal wirft sie selbst auf, indem er in einem seiner Briefe an Strauss schreibt, „daß ein lebender Dichter es für richtig findet, das Nebenwerk eines Klassikers frei zu bearbeiten, ist ein ganz singulärer Fall." 21 Dieser Ausspruch, einem ganz anderen Zusammenhang entsprungen, zeigt, daß Hofmannsthal sehr empfindlich war für die Nuancen eines solchen Verhältnisses, und legt die Pflicht auf, wenigstens auf dem Wege der Mutmassung dem Problem näher zu kommen, warum er die Dama Duende bearbeitet hat. 21
Richard Strauss, Briefwechsel
mit Hugo von Hofmannsthal,
S. 364.
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Die Dame Kobold ist ein leichtes Lustspiel, eine Comedia de capa y espada — Degen- und Mantelstück —, wie der technische Ausdruck auf spanisch lautet, von der Art, wo oft ein szenisches Requisit, in diesem besonderen Fall ein beweglicher Glasschrank, die ganze Handlung erst möglich macht. Die Wahl des Genres braucht nicht wunder zu nehmen. Hofmannsthal hat es verstanden, neben seinen ernsten Stücken, ja gleichzeitig mit seiner schier ausweglosen Tragödie Der Turm, in der er seiner eigenen Welt mit allem, was ihm wert und heilig war, den Untergang voraussagt, an Komödien verschiedener Schwere zu arbeiten, unter denen auch die ganz schwerelosen wie etwa Der Unbestechliche und Die Lästigen keineswegs ungewöhnlich sind. Dazu kommt noch, daß Hofmannsthal eine eigene Theorie von der Heilkraft und der kulturellen Wirkung der Komödie vertrat (die in dem von ihm zitierten Ausspruch von Novalis gipfelt, man müsse nach verlorenen Kriegen Komödien schreiben) und daß er seine eigenen Lustspiele, selbst die heitersten und unbeschwerten, gern als Vehikel für Gewichtiges verwendete.22 Zudem ist die Wahl Calderone bei der Bedeutung, die dem spanischen Dichter in Hofmannsthals Schaffen jahrzehntelang zukommt, nicht überraschend. Bei Calderón kann man im großen und ganzen drei Haupttypen von dramatischen Produkten unterscheiden: das allegorisch-kosmische Religionsstück oder auto sacramental; das ernste, oft historische, die Tragik streifende oder auch erreichende Schauspiel, nach dem damaligen Gebrauch Comedia genannt; und schließlich die leichte Buffo-Komödie mit Verwechslungen und Verkleidungen, Verführungen, nächtlichen Serenaden und Degenfechten, eben die Comedia de capa y espada. Mit dem zweiten dieser Genres hatte Hofmannsthal schon in seiner Jugend durch die Bearbeitung von La vida es sueño intime Bekanntschaft gemacht. Mit dem ersten war er auch schon seit frühesten Zeiten vertraut, und nur wenige Jahre nach der Dame Kobold hat er ihm in seinem Welttheater ein bleibendes Denkmal gestiftet. Es hat also nichts Befremdliches, wenn er sich auch der dritten dieser Kategorien zuwendet. Warum aber unter vielen Möglichkeiten gerade der Dama Duende? Oder 22 Unter vielerlei Arbeiten seien hier nur die von C. Hohoff, „Hofmannsthals Lustspiele," Akzente, August 1955, und W. H. Rey, „Eros und Ethos in Hofmannsthals Lustspielen," Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. XXX (1956), Heft 1, genannt.
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um präziser zu fragen: Was ist es in der Dama Duende, das Hofmannsthal veranlaßt hat, diesem Werk die Flügel seines Genies zu leihen? Wären der Dame Kobold noch andere Übersetzungen gefolgt, dann würde sich aus dem Vergleich der Stücke, ihrer Reihenfolge, den Prinzipien der Auswahl so mancher Anhaltspunkt ergeben, so aber fällt das volle Gewicht der Frage auf die Dama Duende allein. Was aus dem Tatbestand leicht zu erraten wäre, nämlich daß Hofmannsthal die Dame Kobold vor anderen Komödien Calderone schätzte und ihr besondere Werte beimaß, findet man in einer Tagebuchnotiz bestätigt, die zu den seltenen Äußerungen Hofmannsthals über Calderón gehört: „ ,Der Verborgene und die Verkappte.' Dies ist eines der berühmtesten von den Lustspielen. Ich konnte keine Qualität darin finden, die an ,Dame Kobold' heranreichen würde. Zu viel Verkleidung, zu viele Verstecke."23 Ähnlich wird die Komödie Stille Wasser sind tief gewogen und zu leicht befunden. Zwar ist Hofmannsthal empfänglich für „einige hübsche, sehr lebendige Lustspielszenen" darin, „das Ganze ist aber" doch nur „eine Gelegenheitsarbeit." Vor allem scheint ihn an diesem Stück gestört zu haben, daß die eigentliche dramatische Handlung nur ein Vorwand für einen höchst undramatischen Zweck ist, denn „den Mittelpunkt bildet die Beschreibung des Einzuges der Königin, die wechselweise den Figuren in den Mund gelegt ist." 24 So spärlich derlei Äußerungen über die Kunst des spanischen Dichters bei Hofmannsthal auch auftreten, so zeigen sie doch, daß er immerhin eine Anzahl von Calderonschen Komödien gekannt und kritisch beleuchtet hat, und man errät daraus, welche jene von ihm an der Dame Kobold gepriesenen „Qualitäten" gewesen sein mögen. Denn dort herrschen klare Linien und eine trotz aller Irreführung der Beteiligten leicht überschaubare Handlung. Die Einheit derselben verbindet sich mit der Einheit der Zeit und der Einheit des Ortes zu einer klassischen Ökonomie, die um so willkommener sein muß, als sie dem etwas schwächlichen szenischen Behelf einer getarnten Verbindungstür günstig entgegenwirkt. Die Nebenpersonen sind mit der Haupthandlung befriedigend verknüpft durch die Verwandtschaft der Paare und den gemeinsamen 28 24
Aufzeichnungen, Ebda.
S. 189.
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Hafen der Ehe, dem sie zusteuern. Die tapferen Ritter und edelmütigen Herrinnen haben furchtsame aber durchtriebene Diener und Dienerinnen, von denen oft die Verführung zu wichtigen Unternehmungen ausgeht, so daß man den Hauptfiguren später zwar menschliche Schwäche nicht aber unwürdiges Verhalten vorwerfen kann, was zu den witzigsten Dialogen und komischsten Zusammenstößen Anlaß gibt. Und bedenkt man schließlich, daß sehr heikle Situationen entstehen und oft nur Haaresbreite die Liebenden von Entdeckung, Schande und Tod trennt, so ist damit jener tragische Schatten gegeben, dessen Vorhandensein die lichte Komödie erst berechtigt erscheinen läßt. Kurz, wenn man von einigen blinden Motiven, lästigen Belauschungen und gröblich gehäuften Versteckszenen absieht, so hatte Hofmannsthal eine gut gebaute, flotte pièce bien faite zur Hand, die er bedenkenlos und ohne wesentliche Transformation seinem Publikum überreichen durfte. Tatsächlich hat Hofmannsthal außer den vielen Änderungen im Einzelnen der Sprachgebung die Gestalten, ihren gesellschaftlichen Hintergrund, ja sogar die Abfolge der Szenen ziemlich getreu beibehalten. Und dennoch ist die Dame Kobold heutzutage ein anderes Werk als vor drei Jahrhunderten in Spanien. Kunst kann nicht in einem Vakuum schweben. Ein Kunstwerk wird erst lebendig in einer Begegnung zwischen dem, was der Autor geboten, und dem, was der Empfänger mitgebracht hat. Mag also das Stück auch bis auf die Sprache, deren Modernisierung durch Hofmannsthal eben nur einer Einladung zu erneuter Beschäftigung gleichkommt, dasselbe geblieben sein, so ist die Wirkung doch eine ganz verschiedene, weil das, was der Aufnehmende mitbringt, so gänzlich anders geworden ist. Keine der sozialen oder sittlichen Voraussetzungen, auf denen die Geschehnisse beruhen, trifft auf die Situation des modernen Menschen zu. Nicht mehr steht die Ehre des Namens und der Familie im Mittelpunkt des Sinnens und Trachtens. Schwerlich kann man sich heute zwei junge Männer denken, um die Gunst des gleichen Mädchens wetteifernde und daher in starker Spannung zueinander stehende Brüder, die aber in dem einen Punkt völlig übereinstimmen, daß sie ihre Schwester als halbe Gefangene im Hause bewachen und jede weltliche Freude, jedes noch so harmlose Vergnügen von ihr fernhalten. Und alles das tun sie bloß, um den guten Ruf der unglücklichen
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jungen Dame zu schützen und einen wohlhabenden Gatten für sie zu finden. Erscheinen dem heutigen Menschen diese sich offenbar durchkreuzenden Anlässe und Absichten als widersinnig, so wird ihm die Lage vollends befremdlich, wenn er erfährt, daß es gar nicht um die Unschuld der Eingekerkerten geht, daß sie Witwe ist und das Leben kennt. Gewohnt, jedem unverheirateten jungen Mädchen völlige Freiheit zuzubilligen, muß ihm eine solche Behandlung einer gereiften, mit dem Schweren des Daseins schon bekannten Person albern oder grausam erscheinen. Ich greife diesen Komplex heraus, nicht nur weil er für die Handlung zentral ist, sondern weil er an die tiefsten gesellschaftlichen und psychologischen Lebensvoraussetzungen rührt. Schließlich muss der Theaterbesucher bei jedem historischen oder in fernen Ländern spielenden Stück Konzessionen an vergangene Bräuche oder fremde Zustände machen, wenn auch hinzugefügt werden muß, daß gerade vom Lustspiel mit seinem sozialen Charakter größere Wirklichkeitsnähe verlangt wird als vom ernsten Schauspiel oder von der Tragödie, in denen mehr als in der Komödie das Ewig-Menschliche ohne gesellschaftliche Bedingtheit zur Abhandlung kommt. Tatsache bleibt, daß in der Dame Kobold fast alles, was dem Spanier des siebzehnten Jahrhunderts natürlicher und vertrautester Sittenhintergrund war, die Zeitgenossen Hofmannsthals äußerst exotisch anmuten muß. Umgekehrt steht es mit allen jenen Verhältnissen, die von Calderón und seinen Zeitgenossen als problematisch angesehen wurden, die aber dafür dem heutigen Theaterbesucher vollkommen selbstverständlich sind. So z.B. die ganze Behandlung des Geisterglaubens. Der heutige Leser findet Cosmes Gespensterfurcht zum Lachen. Er zählt sie zu den übrigen schrulligen Wesenseigentümlichkeiten des Dieners. Die Haltung seines Herrn, Don Manuels, ist nicht anders als er sie bei jedem vernünftigen Menschen voraussetzt. Zur Zeit Calderons war es umgekehrt: der Glaube des furchtsamen Cosme an Kobolde, Nekromanten, Poltergeister, Fegefeuerseelen und Zauberer entsprach den Durchschnittsanschauungen der Epoche, während Don Manuels Skepsis sicherlich als tollkühne, ans Blasphemische grenzende Verwegenheit des Geistes empfunden wurde. Wenn Calderons Behandlung dieses Themas von großem Mut und aufklärerischem, ja reformatorischem Willen zeugt, so geht der heutige Leser über diese ganze Kette von Mo-
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tiven als etwas absolut Nebensächliches hinweg. So hat der Lauf der Jahrhunderte fast unmerklich die Akzente in diesem Stück verschoben. Es erhebt sich also zum dritten Mal die Frage, was über die Zeiten hinweg einen so tiefsinnigen Künstler wie Hofmannsthal an dieser Komödie fesseln konnte. Gerade an den Gespensterglauben, der heute kein Problem mehr ist, kann man hier anknüpfen. Aberglaube ist eine Verirrung des Glaubens. Wo Aberglaube ist, glauben die Menschen. Calderón konnte gegen die Auswüchse des populären Denkens und Fürchtens ankämpfen, indem er eine Situation schuf, in welcher der Zuschauer von vornherein wußte, daß alles mit rechten Dingen zuging, während die lustige Person, wie die Mehrzahl der Ungebildeten, Gespensterwesen witterte. Auch der Held und Liebhaber des Stückes, Don Manuel, unbekannt mit dem Geheimnis des verschiebbaren Schrankes, sieht sich einem Rätsel gegenüber, weigert sich aber standhaft, das Eingreifen jenseitiger Mächte in seine trivialen Angelegenheiten anzunehmen. Dies zu zeigen, ist der spezifische Zweck des Dialogs über das Überirdische zwischen ihm und dem Diener. „¿Hay almas del purgatorio? (Gibt es Fegefeuerseelen)" fragt dieser, nachdem er sich gerade nach Nigromanten, Hexen usf. erkundigt hat und damit zu erkennen gibt, daß sich in seinem beschränkten Hirn religiöse Gegenstände und solche des volkstümlichen Zauberglaubens in heilloser Verwirrung befinden. Darauf die ironische Antwort Don Manuels: „¿Que me enamoran a mi? ¡Hay mas necia boberia! ¡Déjame! (Die sich in mich verlieben? Welch kindischer Unsinn! Laß mich in Frieden!)."25 Mit dieser spöttischen Auskunft steht er nicht nur als Vertreter einer vernünftigen Lebensauffassung da, sondern auch als Verteidiger eines reinen Gottesglaubens. Dieser ganze witzige Streit um Sein oder Nichtsein der Geister, in dem selbst der klardenkende Don Manuel an einen Punkt des Zweifels gebracht wird, spielt sich gegen einen Hintergrund von Glauben ab. Für Calderón war die christliche Religion kein Problem. Sie wurde von ihm als Lebenselement zumeist so fraglos behandelt wie wir die Luft akzeptieren, die wir atmen. Und so vermittelt dieses Spiel mit Dingen des Glaubens an ein Übernatürliches, welches den ungebildet-abergläubischen und den aufgeklärt-skeptischen Menschen in die 25 Calderón, S. 225.
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komischsten Situationen verwickelt, die Gewißheit felsenfester Verankerung in einem geregelten, vernünftigen Religionsglauben. Ähnlich steht es mit den sozialen Verhältnissen. Die an Einkerkerung grenzende Behütung der Frauen, die überempfindliche Ehre, zu deren Wahrung dauernd der Degen gezogen wird, die Einrichtung der Primogenitur, derzufolge die jüngeren Geschwister mit Leib und Seele vom ältesten Bruder abhängen — das sind Dinge, die der moderne Zuschauer als „veraltet" oder „spanisch" abtut und mühelos abtut, weil er gewöhnt ist, vom altrömischen Sklavenaufstand bis zu den delikaten Eheproblemen eines indischen Maharadschas alles unter dem Himmel ohne Unterschied der Zeiten und Zonen auf der Bühne zu sehen und „Lokalfarbe" von dem sogenannten allgemein Menschlichen zu trennen. Dennoch bleibt von den altspanischen Sitten ein starker Eindruck zurück. Denn jedem einzelnen Auftritt entströmt die Gewißheit einer ungemein gesicherten menschlichen Gesellschaft, in der jedermann zu jeder Zeit seinen Platz mit den dazugehörigen Rechten und Verpflichtungen kannte. Man gewinnt den Eindruck, daß in einer solchen Organisation des menschlichen Zusammenlebens das Individuum nie in die Verlegenheit kommen kann, nicht zu wissen, was es in einer bestimmten Lage zu tun habe. Und so besteht ein sanfter Zwang, das ganze geistreiche Spiel mit seinen Verwechslungen, Verdunkelungen und absichtlichen Täuschungen anzusehen als ein scherzhaftes Abtasten dieses strengen, vielleicht allzu strengen religiösen und gesellschaftlichen Hintergrundes nach den Möglichkeiten des heiteren, sinnlichen Lebens, nach der Rolle des Triebes, des Abenteuers. Die Antwort, die das Stück erteilt, kann vielleicht am besten mittels einer Paraphrase von Kleists berühmtem Ausspruch ausgedrückt werden: Das strenge Gesetz soll herrschen, jedoch die lieblichen Gefühle auch.26 Denn die gesamte Handlung der Komödie setzt sich aus einer Reihe von Episoden und Versuchen zusammen, die festen, starren Normen dieser Welt zu lockern, zu verspotten, zu durchbrechen. Die Wachsamkeit der Brüder wird getäuscht, die passive Zurückhaltung des schwachen Geschlechts in pikanter Weise in 28 Vgl. „Prinz Friedrich von Homburg," H. v. Kleists Werke, hrsg. von Erich Schmidt (Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, o.J.), ΠΙ, S. 88, Vers 1129-1130.
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ihr Gegenteil verkehrt, die Heiligkeit der Gastfreundschaft auf eine harte Probe gestellt, die Autorität des Familienältesten angetastet, die Ehre aufs Spiel gesetzt und, wie sich schon gezeigt hat, das Jenseits einer Diskussion unterworfen. Und was ist es, das in dieser Musterwelt von Ordnung die Unruhe stiftet? Die Dame Kobold, wie der Titel sagt, oder wie es vielleicht genauer heißen sollte: der Kobold Liebe. Diese Unordnung stiftende Liebe darf man sich bei Calderón natürlich nur als ein Schabernackteufelchen vorstellen, das ein bißchen Biegsamkeit und Humor in die allzu große Starre der sie umgebenden Sittsamkeit hineinbringen, keineswegs als eine große oder gar rasende Leidenschaft, die sie in Frage stellen soll oder gar zerstört. Zuletzt wenigstens bleibt es ja doch beim Alten: Die Degen werden wieder in die Scheide gestoßen; der tückische Kobold verwandelt sich zurück in das niedliche Frauchen, welches nun allerdings aus der Schutzhaft der gestrengen Herren Brüder in die vermutlich sanftere Obhut des verliebten Herrn Gemahls übergeht; die Autorität des älteren Bruders wird wieder hergestellt, indem ihm die von beiden umworbene Geliebte anheimfällt (der einzige Mißton ist das Leerausgehen des Jüngeren, dessen Bekehrung und Versorgung zum Lustspielcharakter gut gepaßt hätte); und das Ganze endet mit der Einigung zweier Paare und der Aussicht auf eine Doppelhochzeit. Der Trieb, der aus seiner Bewachung losgebrochen war und ein wenig zur Beunruhigung aller Beteiligten herumgegeistert hatte, ist wieder eingefangen und in das mildere aber ebenso sichere Joch der Ehe gespannt, die nicht minder zu den ehrwürdigen und im Grunde unerschütterlichen Institutionen gehört wie das Haus, die Ehre, die Familie und die Religion. Braucht es da einer besonderen Erklärung, warum das Hofmannsthalisch ist, der ausdrücklichen Beteuerung, daß es vorzüglich zu Cristina und dem Rosenkavalier paßt? Hofmannsthal hat uns des Wagnisses überhoben, diese Fragen spekulativ beantworten zu müssen. Auf seine diskrete Art hat er in diesem schließlich doch nur übersetzten Werk seine ureigenste, unverkennbare Signatur hinterlassen, die gleichzeitig Aufschluß über die tieferen Motive seiner Anziehung zu diesem Stoff gibt. Schon in der Mitte des Stückes bringt Calderón die Nebenhandlung zu einem Abschluß: beide Brüder bewerben sich um die Liebesgunst einer entfernten Verwandten, Doña Beatriz, und obgleich
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diese sich von Anfang an dem Jüngeren gegenüber abweisend verhält, wird jeder Zweifel erst in jener Szene des zweiten Aktes beseitigt, wo Don Juan und sie einander ihre Liebe bekennen. Sie bedienen sich zu diesem Bekenntnis der Sonettform und einer nicht nur von Calderón, sondern von seinem ganzen Zeitalter bevorzugten Redeweise voll von glänzenden Bildern und klugen Vergleichen, lockendem Ausweichen und verstecktem Eingestehen, so daß für heutige Begriffe eine mehr gezierte und intellektuelle als leidenschaftliche Liebeserklärung daraus wird. Hofmannsthal hat die Sonettform beibehalten, wie ja überhaupt seine Änderungen unscheinbarer Art sind, dafür aber einen im Ton auf tiefste Ergriffenheit gestimmten Inhalt in dieselbe gegossen. Vorgearbeitet wird diesem Höhepunkt schon dadurch, daß der Dichter — auf ganz Hofmannsthalsche Art — die beiden Brüder fast unmerklich vom Calderonschen Vorbild, wo sie bloß der Ältere und der Jüngere sind, in den Gegensatz „Sprachgewandt und Schwerfällig im Ausdruck" hineinstilisiert. Während es dem Don Luis am passenden Ausdruck, an der beredten Schilderung, ja selbst an ausgedehnten Parabeln, die seine Stimmung scharf beleuchten, niemals mangelt, ist Don Juan der zungenlahme, vor tiefem Gefühl leicht verstummende Liebhaber, wovon bei Calderón keine Andeutung zu finden ist. Diese Ungeschicklichkeit oder dieses Mißtrauen dem Wort gegenüber hat Hofmannsthal zum durchgehenden Motiv gemacht, wie er überhaupt freischaltend diese Liebesgeschichte ins Innige umgestaltet hat: Don Juan (für sich):
Wie stumm bin ich, wenn mich ein Vorwurf trifft aus diesem Mund! Donna Beatriz (für sich): Wie lieb ich sein Verstummen, war er beredt, so minder war er mein.27 Endlich aber bricht das lang gestaute Gefühl bei beiden hervor und entströmt in die glühenden Sonette, die Hofmannsthal schon ein Jahr vor der Komödie selbst unter dem Namen „Die Geständ27 Lustspiele, IV, S. 215. Stummheit und Schweigen sind Motive, die sich durch diese ganze Szene ziehen.
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nisse" veröffentlicht hat und in denen er nicht nur die Gestalten Juan und Beatriz ihr Herzensbiindnis besiegeln läßt, sondern worin er auch den tieferen menschlichen Sinn ausspricht, den er in der Dame Kobold findet. Fast schon zu ernst und schwermütig für ein leichtes Lustspiel sind die Worte, mit denen Don Juan sich von den inneren Hemmungen freikämpft: „Vernimm mein All in einem kurzen Spruch."28 Dieser Spruch nun nennt die Mächte, deren wilder Zweikampf sein Inneres durchtobt und seine Zunge gelähmt hatte: Nur dieses kannt ich über mir: Gebot der Sterne hehr und klar, und aus der Ferne der Väter Stimmen, strenger als die Sterne, drei: Dienen, Tragen, Stehn, die drei sind not. Da spannte sichs in mir und hielt dem Stand: Jung setzt ich über mich ein strenges Tun und war mein Herr und ließ mein Herz ausruhn auf Gott, und auf dem Degen meine Hand. Nun kam dies, das mich aus mir selber hetzt, wild durch mich hinreißt, mich in Staub zu schmiegen, mich jauchzend zu entmannen sich ergetzt. Zergehen muß ich, denn ich kann nicht fliehen! Wär ich ein Mann, wenn ich im Unterliegen nicht noch mich sträubte, ja noch auf den Knieen?
Auf der einen Seite steht „das Gebot der Sterne," die kosmische Bindung des Menschen, die religiöse Satzung, welche zusammenwirkt mit noch strengerer Forderung, nämlich „der Väter Stimmen," dem Ruf der Ahnen. Es ist aber kein stolzer, aufbegehrender Adel, den er ererbt, sondern ein verpflichtender, dessen Botschaft nicht so sehr zu einem Tun wie zu einem Erleiden auffordert. Wie verhält sich der junge Mensch zu diesen beiden Aufträgen? In der zweiten Strophe gibt er darüber Aufschluß: durch ruhiges und ausharrendes Vertrauen zu Gott, dem er sein Seelenheil, und zu seinem Degen, welchem er die Wahrung seiner Ehre überlässt. Dies also ist das Feste, das scheinbar Unerschütterliche in dieser traditionsgebundenen und -gesicherten Welt: Gott 28
S. 218.
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und die Ahnen, denen die Frömmigkeit bzw. die Ehre dient. Aber mit einer großen Lebensmacht hat dieser fromme Jüngling nicht gerechnet, mit der Liebe. Als elementare Leidenschaft erfaßt sie sein unvorbereitetes Wesen and wirft die ganze schöne Ordnung über den Haufen. So unerwartet ist ihm dieser Angriff, so fremd die neue Gewalt, daß er sie gar nicht benennen kann. „Nun kam dies," vermag er lediglich zu sagen und überläßt es der Frau, der er das Geständnis macht, den Namen dessen zu erraten, was ihm hier widerfahren ist. Es ist ein ebenso feiner wie wirkungsvoller Kunstzug von Hofmannsthal, daß er die Beschwörung dieses gewaltigen Affekts, der den stolzen, starken Menschen in die Kniee zwingt, bis zu den bewegteren, dem Ende zudrängenden Terzinen aufbewahrt hat. Erst an dieser Stelle läßt er mit suggestiver Kraft auch ein neues Vokabular hervorbrechen (hetzt, hinreißt, wild, jauchzend, entmannen) im Gegensatz zu der marmornen Stille und Gemessenheit der beiden Quartette. In der letzten Terzine schließlich kommt die Erklärung für das lange Zaudern und Verstummen: „Wär ich ein Mann, wenn ich im Unterliegen nicht noch mich sträubte." In dem Antwortsonett gibt Beatriz dem Geliebten sein voriges Selbstgefühl wieder: War ich denn eine Frau, wenn ich dich bände und nicht mit dir an gleicher Kette ginge und nur, damit nicht klirren ihre Ringe, den Fuß kaum regen darf und kaum die Hände? Auch mich bezwingte und bringt mich bis ans Ende, ich steh in Feur und spürs mit grausem Staunen, doch alle Lüsternheit und niedre Launen verbrennen diese reinigenden Brände. Du siehst mich fahren, bangest ungeheuer und willst mir nach und stürzest dich hinüber — Weißt du denn nicht — du bist ja selbst mein Steuer! Die Schwinge du, mit der mein Ich entschwebt, die Klaue du, die mich in Lüfte hebt —: Ich lieb dich ja von Anbeginn, du Lieber!2» M
Beide Sonette auf S. 219.
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„Auch mich bezwingte" gesteht sie endlich und offenbart ihm damit zum erstenmal, daß er nicht einseitig ein Opfer einer blinden Gewalt ist, sondern daß, beseligend, beide, er wie die Geliebte, einer süßen Ohnmacht erlegen sind. Warum auch sie dem gewaltigen Ansturm der inneren Ergriffenheit keinen Ausdruck verliehen hat? Darauf erwidert das erste Quartet: „War ich denn eine Frau . . . ?" Sie fühlt sich an dieselbe Kette geschmiedet wie er, darf aber als Frau die Ringe nicht zum Klirren bringen, d.h. die gegenseitige Fesselung verraten. Auch sie empfindet das neue Gefühl als ein Elementares, „Feur," das einbricht in eine geordnete Existenz. Wie er kann sie den neuen Zustand nur in Paradoxen begreifen. Juan fand, daß die Liebe darauf aus sei, ihn „jauchzend zu entmannen," Beatriz spricht von einem „grausen Staunen," das ihr veränderter Zustand ihr abnötigt. Ist ein solches Aufglühn aber nicht unziemlich für ein gesittetes Wesen? Es ist charakteristisch, daß an Stelle des adeligen Gebots ein solches weiblicheres Bedenken in Beatriz aufsteigt. Doch sie kann ihre eigene Besorgnis zerstreuen, denn sie weiß, daß „alle Lüsternheit und niedre Launen" in einem solchen Brand geläutert werden. Nachdem sie so in den beiden Quartetten ihre Situation zum Ausdruck gebracht hat, fährt sie nun in den Terzinen fort, dem Mann das gestörte Selbstvertrauen wiederzugeben: Wenn er glaube zu wanken, so sei das eine Selbsttäuschung von ihm, da jede seiner Bewegungen (also auch sein In-die-Kniee-brechen) nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern im Gegenteil von Kraft und Initiative ist, der zu folgen sie sich unwiderstehlich getrieben fühlt: „Weißt du denn nicht — du bist ja selbst mein Steuer!" Und woran liegt dieses Eigentümliche, daß Schwachheit Kraft, Unterliegen Sieg wird, daß zerstörerisches Feuer reinigt, statt zu vernichten? Die letzte Zeile sagt es, sagt es nach dem Geistig-Metaphorischen des Vorangegangenen auf so verblüffend einfache, rührende Weise, daß man die tiefe Weisheit der althergebrachten Rede zum ersten Mal und das beinahe unartikulierte Stammeln, welches sich in der Wiederholung des Lautes „lieb" spiegelt, als süßeste Musik zu vernehmen meint: „Ich lieb dich ja von Anbeginn, du Lieber." Die große Bewegung der beiden Gedichte ist damit abgeschlossen. Auf die männlich spröde ist die weiblich hingebende Liebeserklärung gefolgt und hat das verlorene Gleichgewicht wieder her-
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gestellt. Diese zwei von einer in ihrer geregelten Welt unbekannten Macht zum Schwanken gebrachten Menschen haben aneinander wieder Halt gefunden. Daß diese beiden Sonette zu den schönsten in deutscher Sprache gehören, spricht von Hofmannsthals dichterischem Genie, daß sie gleichzeitig einen tiefsinnigen Kommentar zur ganzen Komödie liefern, legt Zeugnis ab für seinen allgegenwärtigen Kunstverstand. Als letztes sei noch auf einen weiteren Umstand hingewiesen. Hofmannsthal fragt an· einer Stelle seiner Aufzeichnungen: „Kann uns die Komödie schmackhaft sein ohne einen Hauch von Mystizismus?" 80 Er selbst hat jedenfalls in allen seinen Komödien für diesen Hauch gesorgt. Auch in der Dame Kobold fehlt er nicht ganz. Es mag ein solcher mystischer Duft sein, der in einer spielerischen Komödie eine so erschütternde, bis ins Mark greifende Liebe entfachen konnte. Stärker weht uns der Mystizismus aber aus der Haupthandlung entgegen. Die Gespenstergeschichte freilich kann für diesen Begriff nicht in Anspruch genommen werden, denn es handelt sich dabei um das reinste Erziehungs- und Aufklärungswerk: der abergläubische und furchtsame Cosme steht am Ende lächerlich und beschämt da, Don Manuel, sein von Anbeginn ungläubiger Herr behält recht, weil den tollen Spuk letzten Endes nichts Hintergründigeres hervorrief als ein verschiebbarer Kasten. Ist aber wirklich alles so plan und banal? Gewiß, mit dem schicksalhaften Füreinanderbestimmtsein der Nebenpersonen, das ans Tragische grenzt, kann die gegenseitige Neigung Don Manuels und Doña Angelas nicht verglichen werden. Im Gegenteil, die galanten Briefchen, die sie austauschen, das pikante Einschieichen der Dame in des Ritters Schlafkammer, der amüsante Streit um die „Richtigkeit" der Dinge zwischen diesem und seinem Diener, endlich die nächtliche Einführung des Offiziers in den Strahlenglanz seiner unbekannten Schönen — all das scheint der Liebeshandlung eher den Stempel des Frivolen, Oberflächlichen aufzudrücken. Blickt man aber aufmerksamer hin, so wird hinter dem luftigen Schleier dieser Vordergründigkeit eine Weite und Distanz sichtbar, eine Tiefendimension, für die Hofmannsthal 30
Aufzeichnungen,
S. 77.
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die Bezeichnung „Symbolik der Situation" gefunden und die Ernst Robert Curtius später begrifflich näher erläutert hat.81 Das „Ad me ipsum," so wichtig es für das Verständnis der verborgenen Impulse in Hofmannsthals Schaffen ist, wird allzuhäufig und allzueinseitig zur Erklärung seiner Werke herangezogen.32 Namentlich scheint der Ernst dieser Selbstaussage mit der spielerischen Flüchtigkeit eines Lustspiels, noch dazu eines, das Hofmannsthal gar nicht selbst verfaßt, sondern nur bearbeitet hat, in keinerlei Einklang zu stehen. Wenn hier dennoch auf die Gedanken das „Ad me ipsum" Bezug genommen wird, so geschieht es deswegen, weil die große Ähnlichkeit der Situation in der Dame Kobold, die Symbolik des Zuständlichen wie des Dynamischen, unweigerlich dazu herausfordert und von Hofmannsthal ganz fraglos wahrgenommen wurde. Die Lage der weiblichen Hauptgestalt zu Beginn der Komödie, läßt sich in wichtigen Einzelheiten mit dem Zustande der Präexistenz vergleichen, wenn ihm auch, dem Lustspielmäßigen entsprechend, die düsteren Züge ermangeln. In ihrer von anderen auferlegten Gefangenschaft gehört Doña Angela in die Reihe jener Figuren, die Hofmannsthal bei Calderón entS1
Vgl. das Kapitel über La vida es sueño, S. 106f. Der Begriff der Präexistenz ist zunächst im Zusammenhang des „Ad me ipsum" zu studieren, erstmalig herausgegeben und kommentiert von Walter Brecht, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstiftes (1930); dann mit Ergänzungen nochmals vorgelegt von Herbert Steiner, Die Neue Rundschau, Bd. LXV (1954), Heft 3/4. Vgl. auch den Aufsatz von William H. Rey, „Die Drohung der Zeit in Hofmannsthals Frühwerk," Euphorien, Bd. XLVIII (1954), Heft 3. In ihrem Bericht über den Stand der „Hofmannsthal-Forschung 1945-1958" in der Deutschen Vierteljahrsschrift, Bd. XXXIII (1959), Heft 1, hat Hanna Weischedel dem Für und Wider in der Verwendung des „Ad me ipsum" Raum gegeben. Ausdrücklich warnt außer mir noch Andrew O. Jászi, wenn auch in anderem Zusammenhang, vor dem übermäßigen Gebrauch des „Ad me ipsum" in „Die Idee des Lebens in Hofmannsthals Jugendwerk 1890-1900," Germanie Review, April 1949, S. 81-82: wenn früher dem Dichter Unrecht widerfahren ist, weil man versucht hat, sein Leben mit seinem Werk zu identifizieren, so besteht jetzt die umgekehrte Gefahr, daß man das Werk allzu eng mit dem Bild des Dichters verknüpft, wie es aus ,Ad me ipsum' a u f t a u c h t . . . " Das Gegenteil hiervon findet sich bei Walter Jens, Hofmannsthal und die Griechen (Tübingen: Max Niemeyer, 1955), S. 17: „Ausgangspunkt jeder Interpretation, die sich mit dem Leben und Werk Hugo von Hofmannsthals beschäftigt, muß heute, nach seiner lang erwarteten P u b l i k a t i o n . . . mehr denn je das geheime Bordereau sein, ad me ipsum . . . " 32
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HOFMANNSTHAL UND CALDERON
lehnt hat, um an ihnen Glanz und Elend des „Höhlenkönigreiches Ich" aufzuzeigen: Ninyas, Semiramis, Sigismund. Bei der unnachgiebigen Strenge ihrer Brüder schwebt Angela durchaus in Gefahr, „von allem Lebendigen abgeschnitten, der Realität beraubt und endlich von jeder heilsamen Kommunikation mit dem Äußeren getrennt zu werden."88 Ihre Klage Zwischen diesen Wänden da, Himmel, soll ich denn vergehen, w o die Sonne und der Mond kaum hereinscheint! 34
die Hofmannsthal fast wörtlich von Gries übernommen hat, könnte ebensogut von den Lippen des eingekerkerten Sigismund stammen. Die Erkenntnis jedoch, die Angela von ihrer ersten Eskapade in das wilde Treiben des Lebens mit nach Hause bringt, nämlich „daß im Erschrecken etwas Süßes wohnt," fehlt freilich bei Calderón, klingt aber dafür fast wie ein Kommentar zu dem Erlebnis des Jünglings im Gedicht „Der Jüngling und die Spinne," der aus seinem selbstbefangenen Rauschzustand hinaustritt und das wahre Leben kennenlernt. Denn dieser Übergang ins Leben ist charakteristisch für den Werdegang so vieler Hofmannsthalscher Gestalten. „Eine Wende vollzieht sich, die in dem Augenblick einsetzt, da der in der Präexistenz Befangene, bangend und sehnsuchtsvoll zugleich [hier ist das Erschrecken wie auch das Süße noch einmal!], die Begrenzung seines Lebensraums als Mangel und Enge empfindet. Auf die Dauer erscheint dem Blick des nach Verknüpfung und Verwebung Drängenden der Zustand isolierter Selbstgenügsamkeit . . . fragwürdig." Diese Charakterisierung, die ganz im allgemeinen auf die existenzielle Unzufriedenheit des aus der Präexistenz Erwachenden gemünzt ist, paßt völlig auf Doña Angela. Auch in ihr werden „Kräfte . . . wach, von denen sie bisher nichts ahnen konnte," auch auf sie trifft es zu, „daß der Mensch sein ganzes gewohntes Dasein aufgibt und freiwillig Säulen und Pfeiler einer 83
Jens, Hofmannsthal und die Griechen, S. 18. Dieses und die folgenden Zitate sind dem Kapitel „Ad me ipsum" entnommen. Ich zitiere Jens, weil seine Formulierungen sich dank einem Zufall besonders eignen, die Beziehung zur Dame Kobold herzustellen. 34 Lustspiele, IV, S. 142-143.
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wolhbegründeten Welt zerbricht, um sich auf ein Wagnis einzulassen, das ihn leicht ins Verderben führen kann." „Durch die Tat lässt er sich auf das Kräftespiel innerhalb der Welt des Werdens ein und wird selbst, der Verwandelte, zum Verwandter und Beweger der Dinge. Erst indem sich der Mensch durch Tun, Handeln und Leiden mit dem Leben verknüpft, gewinnt er den verlorenen Bezug zu sich selbst wieder . . . Nur indem er sich selbst ganz einem anderen hingibt, ihm zum Schicksal wird, um von ihm im Austausch Schicksal zu erfahren, entsteht eine höhere, beide, Ich und Du übergreifende Totalität. Gegenseitig, ,allomatisch', enthüllen sich die Liebenden im platonischen Sinne das Mysterium und machen in ihrer Begegnung jene göttliche Mitte sichtbar, die sie zueinander geführt hat." 8 5 Dies wieder trifft auf Don Manuel zu, der in den Bannkreis der aus ihrer Eingrenzung tretenden Angela gerät. Wunderbar wird das „Allomatische" zwischen den beiden in einem Bild enthüllt, das wie aus einem Märchen der Sammlung „Tausend und eine Nacht" entlehnt anmutet, welcher ja beide, Calderón sowohl wie Hofmannsthal innig verpflichtet waren: Don Manuel wird mit verbundenen Auge ι kreuz und quer durch die Stadt geführt, um schließlich im Net ìngemach seiner eigenen Wohnung zu landen, als wolle der Dichter uns zurufen: Schweife nicht in die Ferne, denn das Glück ist dir ganz nahe. Es wird ihm nun die Binde abgenommen — was auch wieder symbolischen Sinn haben könnte — und blinzelnd blickt er in einen fast überirdischen Glanz, ausgehend nicht nur von den erwähnten Leuchtern, sondern zumal von der herrlichen Frau, die im vollen Staat einer Fürstin auf ihn wartet. Und nun vollzieht sich das Mysterium der Verwandlung. Zunächst wird er von der Pracht noch erschreckt: Lieben? Soll der Bauer lieben, wenn ein Bergsturz über Nacht ihm sein Hüttlein trägt zur Hölle? drin er schlief und aß und trank, und aus einem Erbgeseßnen ihn zum unbehausten Bettler, zum Vaganten jählings macht? 36 Jens, S. 18-22. »« Lustspiele, IV, S. 234-235. 35
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HOFMANNSTHAL UND CALDERON
Das sind starke Worte (die bei Calderón fehlen), und ihre Berechtigung wird man erst anerkennen, wenn man in ihnen gleichnishaft den Widerstand des im Alltagleben Befangenen gegen ein allzugroßes, im ersten Augenblick überwältigendes Wunder herausspürt. Langsam muß er in das Geheimnis der allomatischen Annäherung eingeweiht werden. Keiner seiner Zweifel wird beseitigt und doch ergeht an ihn die Aufforderung zu einer fast religiösen Akzeptierung der in sein Leben mysterienhaft eingreifenden Gewalt. Man präge sich diese ganz von Hofmannsthal erfundene Dialogstelle ein: Doña Angela: Jener reine hohe Ritter, einsam pilgernd durch die Welt, er verscherzte sich das Heil, weil er streng in sich gebunden dort vor jenem Todeswunden e i n e Frage nicht gestellt: wie, wenn Ihr zu gleicher Prüfung hättet ein Geschick gefunden, was der Freude vollen Strahl, jenen Euch bereiten Gral knüpfte an ein zart Bezeigen, ein Verzichten ohne Klage, ein hinnehmend gläubig Schweigen, eine nicht gestellte Frage? Wovon soll denn Liebe leben — Don Manuel (schnell). — als vom Hoffen! Doña Angela: Als vom Glauben! Hoffen sieht die Türen offen: Glaube läßt von finstern Mauern Lieb und Hoffnung sich nicht rauben. Don Manuel: Aber wo vergiftend lauern Argwohn, Furcht, wer scheucht sie? Doña Angela: Glauben! Don Manuel: Wo mein Herz in Zweifelschauern wankt! Wer hilft da? Doña Angela: Glauben ! Glauben ! 37 Lange wehrt sich der Verstandesmensch Manuel gegen dieses, allem vernünftigen Anschein trotzende Vertrauen, wird aber end87
S. 236-237.
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lieh doch von der allomatischen Stärke, die von der Geliebten ausgeht, überwunden, und kommt, wie vor ihm Don Juan, zur blinden Bejahung des Ubergewaltigen und zur Unterordnung alles dessen, was ihm bisher höchster Wert gewesen war. Indem er, wie es in einer Bühnenanweisung heißt, die Geliebte an sich zieht und den Mantel um sie schlägt, stößt er für einen spanischen Edelmann schwerwiegende Worte aus, denen man noch in der Formulierung den fortwirkenden Widerstand anhört: So fahre hin Freundschaft, Sitte — auch die Ehre? Weh, auch die? Das will ich nicht denken! Still — was immer kommt, dich reißt keiner fort von hier.88
Und so ist es denn schließlich doch dazu gekommen, daß der rationalistische Don Manuel, obgleich an der Oberfläche der Handlung in seinem Unglauben an den Koboldspuk bestätigt, von einem tief das Leben durchwaltenden Mystischen bezwungen wird, wenn auch freilich weder ihm noch den anderen Liebenden, weil es ja doch nur eine Komödie ist, das Opfer jener ihnen teuren sozialen Grundlagen abverlangt wird. Die mystischen Möglichkeiten in der Handlung der Dame Kobold sind Hofmannsthal voll bewußt gewesen. Wir wissen es, weil er sie von seiner Vorlage abweichend stark betont hat. Aber auch wer den ganzen Wert und Adel des Kunstwerks empfinden will, das Hofmannsthal mit unscheinbaren Mitteln aus einem Mantel- und Degenstück des siebzehnten Jahrhunderts gemacht hat, oder auch nur die Frage beantworten möchte, was ihn zu dieser Bearbeitung veranlaßt haben mag, darf sich der Wirkung dieses Mystischen nicht entziehen.
88
S. 276.
IV DAS SALZBURGER GROSSE WELTTHEATER: FAUST CALDERON U N D DIE SPRACHE DER GEGENWART
Hofmannsthal, dem es in der Wahl seiner Stoffe mehr darauf ankam, an der Überlieferung anzuknüpfen als originell zu sein,1 hat durch die Übernahme des Titels und noch unmißverständlicher durch ein paar einleitende Sätze auf die Abstammung seines Salzburger Großen Welttheaters von Calderons Gran Teatro del Mundo hingewiesen. „Daß es ein geistliches Schauspiel von Calderón gibt, mit Namen ,Das Große Welttheater,' weiß alle Welt," lautet dort schon der erste Satz.2 Vielleicht war es aber dennoch der in Bezug auf Erfindung und Selbständigkeit empfindliche moderne Dichter oder ein im Zusammenhang mit Calderón oft zu beobachtendes, seltsames Abstandsuchen,3 was ihn hinzufügen ließ: „Von diesem ist hier die das Ganze tragende Metapher entlehnt: daß die Welt ein Schaugerüst aufbaut, worauf die Menschen in ihren von Gott ihnen zugeteilten Rollen das Spiel aufführen; ferner der Titel dieses Spiels und die Namen der sechs Gestalten, durch welche die Menschheit vorgestellt wird — sonst nichts."4 Nun, dieses „sonst nichts" ist in zwei Hinsichten ein wenig irreführend.5 Zunächst sind der Vergleich des Lebens mit einem Schauspiel und die Teilung der Bühne 1 Von Hofmannsthal selbst ist die Frage überliefert, „ob ein Theater möglich ist, das in seinen Intensionen hinter das ganze neunzehnte, ja hinter das achtzehnte Jahrhundert zurückgeht, unmittelbar an das anknüpft, was einmal da war, was weder volkstümlich noch kunstmäßig, sondern beides in einem w a r . . . " Meister und Meisterbriefe um Hermann Bahr, hrsg. von Joseph Gregor (Wien: H. Bauer, 1947), S. 181. 2 In der Vorbemerkung, Dramen, III, hrsg. von Herbert Steiner (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1957), S. 252. 3 Vgl. Kapitel II, S. 9f. 4 Vorbemerkung zum Salzburger Großen Welttheater. 5 Fast alle Kritiker empfinden so. Vgl. z.B. H. A. Fiechtner, „Hofmannsthal und die romanische Welt," Wort und Tat, Bd. II (1947), Heft 8, S. 31.
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in eine himmlische und irdische Sphäre keine Geringfügigkeiten. Vieles wird mit der Übernahme dieser Gegebenheiten anerkannt: die Existenz eines transzendentalen Bereiches, der Charakter des Menschenlebens als eine Bewährung und Vorbereitung, die Gegenwart eines zuschauenden Richters, der ein persönliches Interesse an jedem einzelnen Mitwirkenden nimmt, und die Tatsache, daß Lohn und Strafe nach der Darstellung der Rolle (d.h. nach der Fügsamkeit des Einzelnen in die bestehenden Verhältnisse) und nicht nach irgendwelchen anderen Gesichtspunkten bemessen werden. Damit ist auch die Frage nach der menschlichen Freiheit bereits in eine rein christliche Perspektive gerückt und kann letzten Endes nur von ihr aus beantwortet werden, wie sehr auch der Dichter später dem Leben den Stempel der modernen sozialen Problematik aufzudrücken bestrebt ist. All das ist durchaus nicht wenig. Sodann unterschätzt aber Hofmannsthal nicht nur die Tiefe, sondern auch die Breite seiner Abhängigkeit. Viele Züge, die in dem kurzen Vorwort nicht erwähnt werden und dennoch von unverkennbarer Bedeutung für das Werk sind, gehören schon der Calderonschen Fassung an; so z.B. die Präexistenz der Seele, die Auflehnung des Bettlers bei der Verteilung der Rollen, der Totentanz, die Rangordnung der Gestalten vor dem letzten Gericht und eine Menge von Details, die einzeln so nebensächlich sein mögen wie der Sternenmantel des Meisters, den auch schon Calderons Autor trägt, die zusammen aber dem Abstrakt-Gedanklichen des Schemas die farbige Anschaulichkeit einer Dichtung geben. Erst wenn diese Entlehnungen klar erkannt sind, ist man in der Lage, die Kunst zu bewundern, mit der der moderne Dichter ein scheinbar schon vollendetes Ganzes durch einen Reichtum von Einzelzügen, von Hinzufügungen und Weglassungen, durch ein Erfassen und Umgestalten von innen heraus in ein neues, völlig ihm gehöriges Kunstwerk verwandelt hat. Durch eine Reihe tüchtiger Arbeiten sind wir glücklicherweise über einige wichtige Beziehungen der beiden Welttheater unterrichtet: über die genauen inhaltlichen Verhältnisse,® über die voneinander abweichenden theologischen Strukturen der beiden Dra• Helmut Wocke, „Hofmannsthals Salzburger Wirkendes Wort (1951), S. 264.
Großes
Welttheater,"
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HOFMANNSTHAL UND CALDERON 7
men, über den antiken Hintergrund der ganzen Fabel,8 und über den modernen Inhalt, den Hofmannsthal in das alte Gefäß gegossen hat.9 Bloß in einer Hinsicht, deren Bedeutsamkeit kaum überschätzt werden kann, sind wir ganz im Dunkel gelassen, nämlich in Bezug auf das sprachliche Verhältnis Hofmannsthals zu Calderón. Wenn ein Forscher sagt, „das Hohe-Festliche und das Unbefangen-Lustige stehen nebeneinander, ja durchdringen sich,"10 so ist das charakteristisch. Über solche, ganz allgemeine Anmerkungen geht die Sprachbetrachtung zu Hofmannsthals Welttheater kaum je hinaus. Vielleicht liegt dieser Mangel daran, daß es nicht ohne methodologische Schwierigkeiten angeht, die stilistischen Erscheinungen zweier Werke, die in verschiedenen Sprachen geschrieben sind, miteinander zu vergleichen und gegeneinander abzusetzen. Da sich aber hier, an der wahren Quelle dichterischer Erfindungskraft, die Freiheit und Unabhängigkeit des österreichischen Dramatikers von seinem spanischen Vorgänger am reinsten und unzweifelhaftesten erweist, muß dennoch wenigstens ein Versuch unternommen werden. Schon ein flüchtiges Eindringen in das Problem ergibt als ersten Gewinn die Entdeckung, daß auch hier Hofmannsthal sich offenbar nicht des spanischen Originals, sondern einer deutschen Ubersetzung bedient hat 11 und zwar diesmal der mit Recht berühmten Übertragung des Calderonschen Gran Teatro durch den deutschen Dichter Joseph von Eichendorff.12 Einige kleine Abweichungen vom Urtext, die Eichendorff und Hofmannsthal gemeinsam haben, erlauben mit Sicherheit diesen Schluß. Bei Calderón wird Gott der Herr mit dem Worte „autor" bezeichnet, womit Calderón zweifellos seine Doppelrolle als Schöpfer der Welt und als Erfinder des 7
Clemens Heselhaus, „Calderón und Hofmannsthal. Sinn und Form des theologischen Dramas," Archiv für das Studium der neueren Sprachen, Oktober 1954. 8 Johann Sofer, Die Welttheater Hugo von Hofmannsthals und ihre Voraussetzungen bei Heraklit und Calderón (Wien, 1934). • Arnold Bergstraesser, „The Holy Beggar: Religion and Society in Hofmansthal's Great World Theatre of Salzburg," Germanic Review, XX (1945). 10 Wocke, „Hofmannsthals Salzburger Großes Welttheater." 11 Vgl. Kapitel II, S. 12f., über Hofmannsthals Kenntnis des Spanischen. 12 Zitiert wird nach Eichendorff Werke, Band: Gedichte, Epen, Dramen (Stuttgart: Cotta, 1953).
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Lebensspiels andeuten wollte. Eichendorffs Wiedergabe dieses Gedankens durch den Begriff „Meister" ist eine sehr glückliche dichterische Prägung. Gerade deswegen aber läßt ihre Wiederholung bei einem anderen Dichter, nämlich Hofmannsthal, bereits eine engere Gemeinsamkeit erkennen. Daß die „límites" und „provincias" des Calderonschen Königs13 sowohl bei Eichendorff14 als auch bei Hofmannsthal18 als „Marken" und „Gaue" erscheinen, was keineswegs die einzige oder auch nur plausibelste Übersetzung ist, muß als weiteres untrügliches Anzeichen gewertet werden. Jeder Zweifel, der aber etwa noch geblieben sein mag, wird durch die ungenaue Übersetzung des Spieltitels beseitigt, der bei Calderón „Obrar bien — que Dios es Dios" (Gut gehandelt! — denn Gott ist Gott) lautet und von Eichendorff als „Tue recht — Gott über euch" wiedergegeben wird, eine Freiheit, die ihn später sogar in Unstimmigkeiten bringt. Denn während bei Calderón die Seelen mit dem sinnvollen Ruf „Obrar bien — que Dios es Dios" auf die Bühne drängen, muß sie Eichendorff an seiner nun einmal geprägten Formel „Tue recht — Gott über euch" festhalten lassen, obgleich „Gott über uns" die an dieser Stelle einzig akzeptable Form gewesen wäre, vom ersten Teil der Überschrift ganz zu schweigen.18 Auch bei Hofmannsthal heißt mit einer kleinen Veränderung das Spiel im Spiel „Tuet Recht! Gott über euch!"17 einer Veränderung übrigens, die Zeugnis von seiner Gabe ablegt, durch winzige Zutaten Mangelhaftes in Vollkommenes zu verwandeln. Trotz einer deutlichen Tendenz in den Autos sacramentales den Kultismus früherer Schaffensepochen abzulegen, unterscheidet sich der Stil gerade des Gran Teatro del Mundo nicht wesentlich von dem in vielen anderen dramatischen Produktionen Calderone. Katalog und Synonymik sind die wichtigsten Stilmerkmale. „Cristal, carmin, nieve y grana,"18 „De pensarlo me estremezco/ De imaginarlo me turbo/ De repetirlo me asombro/ De acordarlo me 13 Don Pedro Calderón de la Barca, Obras Completas, sacramentales (Madrid, 1952), S. 213. " Eichendorff, S. 979. 15 Dramen, ΙΠ, S. 275. »« Eichendorff, S. 969. " Dramen, ΙΠ, S. 264. 18 Calderón, S. 209.
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consumo,"1® „ni animamos, ni vivimos, ni tocamos, ni sentimos"20 — die Beispiele ließen sich beliebig aneinanderreihen. In der Rede des Bettlers nimmt diese Eigentümlichkeit eindrucksvolle Proportionen an: Es mi papel la aflicción, es la angustia, es la miseria, la desdicha, la pasión, el dolor, la compasión, el suspirar, el gemir, el padecer, el sentir, importunar y rogar, el nunca tener que dar, el siempre haber de pedir. El desprecio, la esquivez, el baldón, el sentimiento, la vergüenza, el sufrimiento, la hambre, la desnudez, el llanto, la mendiguez,.. . 21 Bei Eichendorff ist diese lapidare Aufzählung teilweise aufgelöst und durch syntaktische Abwechslung wendiger und geschmeidiger gemacht. Dafür hat er aber auch an Wucht und Eindringlichkeit eingebüßt. Meine Rolle ist die Trauer, Ist der Jammer, ist der Schrecken, Mitleid hier, dort Graun erwecken, Vor den Türen auf der Lauer, Zähneklappern, Fieberschauer, Zwischen Furcht und Unglück schweben, Lästig allen, die mich laben, Immer was zu bitten haben, Nimmer andern was zu geben 's ist der Schimpf und das Verachten, Schande, bitt'res Herzeleid, Ekler Schmutz, die Niedrigkeit, Stets nur nach der Notdurft trachten Und vor Elend doch verschmachten,.. .22 » S. 206. S. 207. 21 S. 210. 22 Eichendorff, S. 972-973. 20
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Ob nun Hofmannsthal neben Eichendorff auch das spanische Stück konsultiert hat oder bloß zufällig aus dichterischer Einsicht zur originalen Form zurückgekehrt ist, wird sich durch innere Evidenz allein wohl niemals feststellen lassen. Jedenfalls hat er den Calderonschen Stil in der Rede des Bettlers wieder hergestellt und so die unerbittlichen Hammerschläge des regelmäßigen Herzählens für seine soziale Anklage nutzbar gemacht: Ihr habt, und ich hab nicht — das ist die Red, Das ist der Streit und das, um was es geht! Ihr habt das Weib und habt das Kind, Und habt das Haus, den Hof und auch das Ingesind, Ihr habt das Feld und habt die Kuh, Und habt das Kleid und auch den Schuh.. .2S
Dies paßt besser zur ausbrechenden Entrüstung eines verbitterten Menschen als die wendige Eleganz bei Eichendorff. Reim und Vers bei Calderón sind wie immer vielgestaltig. Assonanzen wechseln mit paarweise oder verschränkt gereimten Zeilen ab, dreihebige Trochäenzeilen mit längeren Gebilden, und zweimal sind sogar Sonette in den Sprachkörper eingebaut. Im großen und ganzen ist es Calderone alte Sprache mit einer Profusion von Bildern und Formen, wenn auch nicht gerade die Sprache der gebildeten Hofgesellschaft Spaniens selbst, so doch die Dichtersprache, welche von den verwöhnten Zuschauern erwartet wurde. Der Gesamteindruck ist jedenfalls bei aller Bemühung um Abwandlung der einer äußerst gewandten und hochgezüchteten Einheitlichkeit. Alle Figuren, von Gott bis zum Bettler, bedienen sich derselben geschmückten Rede, die, so wenig wie sonst bei Calderón, dem Charakter der Person oder dem Bedürfnis der Handlung angepaßt ist. Die Sprache ist ein prunkvolles Kleid, das dem Menschen übergeworfen wird, um die Nacktheit und Notdurft seiner Existenz schonend zu verhüllen. Auf diese wird nicht durch das Wort sondern durch den Sinn hingewiesen als etwas Abstraktes, Unsinnliches, als eine Wahrheit, die erkannt, aber nicht gesehen werden soll. Wenn Calderón seinen Reichen ausrufen läßt: » Dramen, ΙΠ, S. 290.
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Sea mi lecho la esfera De Venus, y en conclusion La pereza y las delicias, Gula, envidia, y ambición Hoy mis sentidos posean.24 (Mein Ruhebett sei der Kreis der Venus, und folglich mögen heute die Faulheit, der Genuß, die Schlemmerei, der Neid und die Gier mein Gemüt beherrschen),
so läßt er ihn aus der Rolle fallen, denn er spricht sich so aus, wie er von dem unbestechlichen Richter aus der Transzendenz gesehen wird, nicht aber wie er sich fühlt. Noch deutlicher wird dasselbe Prinzip in einem Ausspruch des Königs, der von der Erde, die sein Besitztum trägt, als „esta maquina inferior" spricht.28 Es ist dies ein Ausdruck bis in die Wortwahl ähnlich demjenigen, mit welchem sich der Schöpfer bei der Eröffnung des Dramas an die Welt wendet: „Esa . . . inferior arquitectura."26 Diese Trennung von Person und Gedanke ist charakteristisch für das ganze Gedicht. Anders bei Hofmannsthal. Hier drückt ein jeder in Wortwahl und Syntax sein Wesen aus: der Meister spricht als der erhabene Lenker des Weltalls, der Engel als sein etwas ungeduldigerer Stellvertreter und ausführendes Organ. Die bei Calderón Gott blind ergebene Magd Welt ist in ein aufmuckendes Heidenweib umgewandelt und das Störrisch-Ungestüme ihres Wesens in der Sprache eingefangen. Der Reiche führt die anmaßende Sprache des an eigene Macht und fremden Gehorsam Gewohnten, und es ist schon des öfteren vermerkt worden, daß er in die Richtung des modernen imperialistischen Kapitalisten stilisiert ist. Das nämliche läßt sich auch an allen anderen Gestalten feststellen. Eine jede spricht wie ihr der Schnabel gewachsen ist, d.h. daß sich ihr Sein und ihr Verhältnis zur Welt in der Sprache spiegeln. Dieser Sprachindividualismus geht so weit, daß sich auch etwaige Entwicklungen des Wesens stilistisch auswirken. Solange der Bettler noch das Sprachrohr für die proletarische Revolution, Ankläger gegen die 24 Calderón, S. 212. » S. 213. 2 « S. 203.
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ungerechte Sozialordnung ist, bleibt seine Rede stark mit Dialekt durchsetzt, so daß er auch in seiner Ausdrucksweise als Repräsentant der niederen Volksschichten wirkt. Bei Calderón kommt wohl auch gelegentlich ein Kolloquialismus vor, aber im Gran Teatro, dem die lustige Person fehlt, ist dieses Stilmerkmal zu selten angewandt, um tiefer ins Bewußtsein zu dringen. Bei Hofmannsthal schließt die existenzielle Verzweiflung dem Bettler zunächst den Mund, dem nur die kärgsten Antworten auf die dem schlechten Gewissen entspringenden Werbungen der besser Weggekommenen entschlüpfen. Erst wenn die Verbitterung ins Pathos der haßerfüllten Anklage umschlägt, gliedert sich diese Mundfaulheit in einen hämmernden Angriff, der bei aller beibehaltenen Plumpheit der ungeschulten Zunge einer gewissen rhythmischen Beredsamkeit keineswegs entbehrt. Es ist nie darauf hingewiesen worden, daß die innere Erleuchtung, die religiöse Bekehrung, welche den Proletarier wieder zum Armen der Vorlage, ja sogar zum Heiligen macht, ihn auch in seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit umwandelt. Es ist, als habe das Himmelslicht, das ihm in einer inneren Vision erschienen, nicht nur sein Gemüt, sondern auch die Zunge gelöst, so daß sich ihr das seelische Erlebnis anvertrauen kann. Anfänglich noch unbeholfen, hebt sich die Rede zu immer reineren Höhen, bis sie in einer neuen, seiner jetzigen Lebenslage bewundernswert entsprechenden Beschwingtheit Kraft und Grazie des inneren Erlebnisses zu verbinden weiß. Es genügt, zwei Stellen nebeneinander zu halten, um diese Verschiedenheiten in ihrem schroffsten Gegensatz zu Bewußtsein zu bringen: Andern ist nichts passiert! Wer reich war, ist davon! Wer sich ein Pferd hat kaufen können, Hat mögen der Seuch aus dem Netz rennen! Warum? warum? w o steht das geschrieben! Mein Fleisch und Blut hat müssen auf den Mist, D e n andern ihrs ist springlebendig blieben! 2 7
Und dagegen: Mir hat die Sternenuhr die große Zeit geschlagen, N u n weck ich selber mich, entzünd in mir den Sinn, 27
Dramen, ΠΙ, S. 288.
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Davon um Mitternacht der finstre Wald wird tagen: Ich hab ein Wort gehört, das war mir lang verloren, Mir ists, da ichs gehört, da war ich ungeboren, Und eines Engels Mund gab mir so zarte Lehre — Von Freiheit war das Wort und welcher Art die wäre. 28
Erst das religiöse Erlebnis macht die Fähigkeit des Bettlers glaubhaft, plötzlich in ausgewogenen Alexandrinern zu sprechen. Wer den Wechsel von den holprigen Knittelversen zu dieser verfeinerten Versart nicht beim Namen nennen kann, der wird sich wenigstens der Wirkung nicht entziehen können, die von dem Aufschwung aus einer eben noch peinlich gehemmten Grobschlächtigkeit zu solch rhetorisch begabter Sprachkunst ausgeht. Gelegentliche, aber ganz zarte Anklänge an den Dialekt wahren die Identität der Person und gewährleisten die Glaubwürdigkeit der Wandlung, die sie durchgemacht hat. Diese fast schon virtuos zu nennende Anpassungsfähigkeit der Sprache an die Person,2» ja an die Entwicklung der Persönlichkeit, verleiht dem Hofmannsthalschen Welttheater eine seidig weiche stilistische Subtilität, der gegenüber Calderons Sprachgebung trotz aller Ornamente starr und steif wirkt wie Brokat. Derlei Vergleiche bereichern unser Verständnis der sprachlichen Unterschiede zwischen Calderón und Hofmannsthal. Für gewöhnlich findet sich beim Spanier mehr Farbe, mehr sprachliche Vehemenz, während beim Österreicher eine Neigung zum Dämpfen und Mildern am Werk ist. In diesem Drama ist es beinahe umgekehrt. Hofmannsthals Sprache ist ebenso bildhaft, geradeso vokabelreich wie die Calderons, aber sie hat die größere Spannweite, es ist mehr Welt in ihr. Vom urwüchsig österreichischen, welches am knorrigsten von den Lippen des Bauern rumpelt, über das 28
S. 213-214. " Zu den mit dem Sprechen zusammenhängenden Feinheiten gehört ferner auch Hofmannsthals Behandlung des Einblasens durch den Widersacher. Schon aus den verschiedenen Reaktionen auf dessen Vorsagen läßt sich erkennen, daß der Reiche bestimmt ist, verdammt, der Bettler erlöst zu werden. Es ist der Widersacher, der dem Reichen die ersten Ausdrücke der Hybris in den Mund legt (S. 282). Auf einen ähnlichen Versuch, auch die Rede des Bettlers zu bestimmen, fährt ihn dieser schroff an: „Schweig! meine Red hab ich aus mir gefunden, Brauch keinen Fürsprech" (S. 290).
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Spritzig-Witzige beim Vorwitz, die schneidend boshafte Logik des Widersachers und das gebildete Weltidiom des Reichen und des Königs bis zum sakral Biblischen des Engels und dem patriarchalischen, durch leichte Dialektfärbung angeheimelten Wort des Meisters (wie beim seligen Kaiser Franz Joseph) beherrscht Hofmannsthal alle Register des Deutschen. Durch deren Mischung und Trennung erzielt er die das Individuelle so rein aussprechenden Effekte, die wir an dem Stück bewundern. Es ist mir aus der ganzen deutschen Dichtung kein Beispiel gegenwärtig, wo aus dem ungeformten Sprachstoff des Volkes und der in Jahrhunderten geistigen Lebens geläuterten Rede der Gebildeten ein dichterisch so wirksames Ganzes geschaffen wird wie hier. Dem österreichischen Dichter ist es durch ein Mittel, das in seiner Einfachheit wahrhaft genial anmutet, gelungen, diesen Reichtum an Nuancen noch zu steigern. Neben einer Vielfalt an Versformen gebraucht nämlich Hofmannsthal noch die Prosa, die bei Calderón undenkbar wäre. Zunächst ist der Leser durch die eigentümliche Verteilung von Vers und ungebundener Rede überrascht. Die Prosarede ist nämlich dem Geschehen im Himmel und dem Verkehr zwischen den transzendentalen Personen, dem Meister, den Engeln, den Seelen, der Welt, den Sibyllen, usw. vorbehalten, während Reim und Vers auf das Stück im Stück, des Menschen kurzes Gastspiel auf Erden beschränkt bleibt, eine Anordnung, die auf den ersten Blick umgekehrt richtiger schiene. Unschwer aber erschließt sich der Sinn dieser Zuweisung und man beugt sich vor dem überlegenen Kunstverstand des Dichters. Denn auf die Frage: Was leistet dieser Gebrauch? — eine Frage, die allen stilistischen Untersuchungen vorangehen müßte — ergibt sich, daß damit eine doppelte Funktion erfüllt wird. In der Prosa erkennt man heute die Sprachform der Wirklichkeit, des Alltags, des fraglos Anerkannten. Sie für den Umgang der himmlischen Erscheinungen zu verwenden, ist trotz deren Heiligkeit und Ehrwürdigkeit oder gerade ihretwegen ein feiner Kunstzug. Es wird jetzt auch klar, was mit dem Vers in der Handlung des Erdenlebens erreicht wird. Durch den Gebrauch der Verse auf der Bühne des Lebens wird das Menschsein abgesondert vom Rest und gekennzeichnet als etwas Köstliches und Liebliches,30 aber gleich30
Vgl. die Szene in Faust II, wo Helena reimen lernt.
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zeitig auch als etwas Künstliches, Gemachtes, etwas „Gereimtes", das den Spielcharakter bereits in der durch die Formung hindurchgegangenen Sprache verrät. Diese Akzentuierung der Realität des Jenseitigen und der prekären Vergänglichkeit des menschlichen Daseins bei allem seinem Glanz durch die bloße Wahl der Sprachmittel konnte nur einem ebenso großen wie raffinierten Dichter gelingen. Aber Hofmannsthal ist, wie die weitere Analyse noch zeigen soll, in einem viel wörtlicheren Sinn über Calderón hinausgegangen. Vieles in seinem „morality play," nicht nur das Handlungsmäßige, der geistige Uberbau und das dramatische Skelett, stammt von Calderón. Bis ins Motivische und schließlich bis in die Sprache erstreckt sich die Übernahme, wenn auch Hofmannsthal durch die Einführung neuer Personen, des der Welt zugeordneten Widersachers und des Vorwitzes einerseits und des Gott vertretenden Engels andererseits, diese Anklänge bis zur Unkenntlichkeit verteilen konnte. Wenn beispielsweise die Calderonsche Welt im Laufe ihrer Lebensgeschichte davon spricht, daß alles Übel „cubierto de agua a la saña de un diluvio"31 (dank der Wut einer Sintflut von Wasser bedeckt) gewesen sei, so ist in den Worten, die Hofmannsthals Engel an die Welt richtet, eine Spiegelung dieses Motivs zu finden: „Zähm den ungesalbten Mund, scheckig Wesen! Heidenweib! Hat der Herr dich nicht einmal schon ersäuft . ..?" 3 2 Dies soll nicht heißen, daß Hofmannsthal erst durch eine Stelle bei Calderón über den Mythos der Sintflut belehrt werden mußte, aber im Zusammenhang mit anderen Stellen, mag man sich dieses Echo so erklären, daß der moderne Dichter sich durch den alten selbst in solchen Einzelheiten hat anregen lassen. So z.B. brüstet sich die Welt Calderone, man könne von ihr in einem einzigen Augenblick lernen, „como repúblicas fundo,/ como ciudades fabrico" 83 (wie ich Republiken gründe, wie ich Städte hervorbringe), während bei Hofmannsthal dieselbe allegorische Gestalt sagt, die Menschen „bauen Städte, gründen Reiche "34 (bei Eichendorff heißt es: „Staaten gründe, Städte baue")35 Und wenn bei S1
Calderón, S. 205. Dramen, ΠΙ, S. 258. 's Calderón, S. 205. 34 Dramen, ΠΙ, S. 257. »s Eichendorff, S. 960. 32
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Calderón die Welt in Vorbereitung der Noah-Episode erklärt: Y cuando solicitados montes fatiguen algunos a la tierra con el peso y a los aires con el bulto, mudaré todo el teatro porque todo, mal seguro, se verá cubierto de agua a la saña de un diluvio,36
was Eichendorff sehr frei übersetzt als: Und wenn endlich, überwüchsig, Der Gebirge Felsenwuchten Alles zu erdrücken drohen Und die Lüfte fast verdunkeln, So verwandl' ich rasch die Bühne, Daß vom Sturm aus tiefstem Grunde, Aufgewühlt, ein Ozean Alle Gipfel überflute, 37
so verwertet Hofmannsthal, in anderem Zusammenhang zwar, doch unverkennbar die gleichen Bilder, indem er die Welt ausrufen läßt: „Stürz ich Berg über Meer, Meer über Berg — reiß ich die ewigen Ströme aus ihrem Bett and schmeiß sie in Katarakten nieder ans Feste?"38 Bei Calderón ist es der Meister, der die natürliche Einstellung der Menschen zu ihren irdischen Rollen beschreibt: Ya sé, que si para ser El hombre elección tuviera Ninguno el papel quisiera Del sentir y padecer, Todos quisieran hacer El de mandar y regir.39
»· Calderón, S. 205. 87 Eichendorff, S. 960. 38 Dramen, ΠΙ, S. 256. »» Calderón, S. 207.
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(Wohl weiß ich, dass der Mensch, wenn er die Wahl seines Lebens hätte, niemals die Rolle des Leidens und Duldens auf sich nähme, ein jeder zöge die des Befehlens und Herrschens vor.)
Handgreiflicher, direkter, volkstümlicher hat Hofmannsthal der Welt die folgenden Worte in den Mund gelegt: „Das weiß wohl jeder . . . Viel befehlen und anschaffen, herrisch und gut leben, das große Wort führen, andere seine Macht fühlen lassen: das ist eine gute Rolle. Stoß und Püffe hinnehmen, harte Worte hinunterschlucken, sich ducken, den Mund halten, wenn andere reden: das ist eine schlechte Rolle — so halten es die Menschen von Adams Zeiten her." 40 Im Grunde ist es natürlich dieselbe Einsicht in die egozentrische Psychologie des Menschen. Je weiter man diese Parallelen aber verfolgt, um so deutlicher wird es, daß hier, bei allem Eigenen, was Hofmannsthal hinzugefügt hat, noch eine zweite Sprachschicht übrigbleibt, die durch Calderón nicht zu erklären ist. Man mag das Salzburger Große Welttheater mehrmals gelesen haben, ohne dahinter gekommen zu sein, was da bei einzelnen Stellen mittönt, bis man dann plötzlich an einer Situation, an einem Motiv, am ehesten aber noch an einem Wort hängen bleibt und den Anklang errät. Hofmannsthal stellt die Welt, durchaus im christlichen Sinne, als ein Wesen dar, dem der Mensch zwar teilweise angehört, aber mit dem niedrigeren Teil seiner Existenz. Der Meister nimmt sich der Welt gegenüber des Menschen an: „Du . . . bist da, damit du der Menschen Füße tragest. Das ist das Herrlichste, das wird von dir gesagt werden."41 Mit seinem geistigen Teil ragt der Mensch weit über die Welt, weit aus ihrem Verständnis hinaus: „In dem, worin du sie nicht fassest, ist ihr Großes."42 Fassen! An diesem Verbum entzündet sich mit einemmal die Erinnerung, und altvertraute Verse stellen sich plötzlich ein: Was willst du armer Teufel geben? 40
41 42
Dramen, ΙΠ, S. 262.
S. 257-258. S. 257.
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Ward eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben, Von deinesgleichen je gefaßt? 4 3
Ja, es ist Faust, der hier spricht. Selbständiger als der Mensch im Welttheater, kann er seine Verteidigung, die stolze Erklärung seines Wesens ohne fremde Hilfe übernehmen, seine Selbstbehauptung Mephisto, dem eigentlichem „Welt"-Geist gegenüber, geltend machen. Die Ähnlichkeiten, die Faust und Calderón verbinden, liegen auf der Hand. Hat man doch schon oft auf die in Goethes Gedicht enthaltenen barocken Züge aufmerksam gemacht: ja sogar an Stimmen hat es nicht gefehlt, die ganze Akte des Dramas als gewaltige Traumvisionen Fausts deuten — La vida es sueño, das Leben ein Traum.44 Dies mag der Anknüpfungspunkt für Hofmannsthal gewesen sein. Ebenso klar sind aber auch die Unterschiede. Läßt man die Umrahmung durch das übersinnliche Geschehen im Himmel fort, so bleibt zurück die Tragödie des modernen Menschen, dem „die Aussicht nach drüben verrannt ist." Aus dem sprachlichen Umkreis dieses auf seine eigene Größe stolzen, noch im Scheitern trotzigen Menschen hat Hofmannsthal für den dialektischen Geist seines Welttheaters geschöpft. Sobald dieser Zusammenhang aufgedeckt ist, erschließen sich wie mit Zauberschlag auch die anderen Klänge, die einen an Un-Calderonianisches, Un-Barockes, modern Mephistophelisches gemahnt haben. Die weltgebundenen Hofmannsthalschen Menschen, die „Käfer," die „wie Ameisen . . . hin und her, vorwärts und rückwärts" laufen, „bauen Städte, gründen Reiche, zerstörens wieder, lassen keinen Stein auf dem anderen. In einem Schwann Wespen ist mehr Vernunft als in denen," 45 was sind sie anderes als die Mehrzahl von Mephistos kleinem Gott der Welt, der die Gabe des Himmelslichts mißbraucht: Er nennt's Vernunft und braucht's allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. 45
Faust, Vers 1675-1677. Vgl. Stuart Atkins, Goethe's Faust, A Literary Analysis (Cambridge, Mass., 1958), S. 157-158. Siehe auch Stuart Atkins, „Goethe, Calderón, and Faust: Der Tragödie Zweiter Teil," Germanic Review, XXVIII (1953), S. 83-98. 45 Dramen, III, S. 257. 44
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HOFMANNSTHAL UND CALDERON Er scheint mir, mit Verlaub von Euer Gnaden, Wie eine der langbeinigen Zikaden, Die immer fliegt und fliegend springt Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt. 48
Zikaden, Käfer, Ameisen, Wespen: es ist offensichtlich der gleiche Bereich, dem diese Metaphern entlehnt sind, und Welt wie Teufel verfolgen mit ihnen den gleichen Zweck: eine ihrer Beschränktheit angemessene Auslegung des Menschen zu geben. Die ganze Figur des Widersachers, die bei Calderón fehlt, ist eine Entlehnung aus Faust, Goethes Welttheater. Er ist ein geringerer, unfreier Mephisto, aber ebenso rationalistisch und materialistisch wie dieser, von dem es bei Goethe dynamischer heißt, er sei dem Menschen als „Geselle" 47 beigegeben, während der Engel Hofmannsthals vom „Zutritt" spricht, der ihm auf Erden gestattet sei.48 In beiden Dramen ist es eben der Wille Gottes, der in jedem bezeichnenderweise halb ironisch, halb bewundernd „ein großer Herr" genannt wird,4· daß der Versucher durch seine Einflüsterungen den Menschen an sein Bestes erinnere. Auch dies wird in beiden Stücken deutlich ausgesprochen. „Einbläser von Evas Apfel her, blas ein, welchen du willst. Ich habe ihre Ohren nicht verklebt," 60 ermächtigt Hofmannsthals Meister den Widersacher. Goethes Herr räumt seinem Mephisto dasselbe Recht ein: „Solang er auf der Erde lebt, / Solange sei dir's nicht verboten." 51 Zweck ist in diesem wie in jenem Falle, „des Menschen Tätigkeit" zu „reizen" und auf sie zu „wirken." 82 Auch bei Hofmannsthal "dürstet" die Seele „nach Tat," 5 3 auch bei ihm wird der irrende Mensch von den Himmlischen letzten Endes belobt, denn „nach Taten, Seele, war dein Drang!" 54 : wenn auch hier die Beschaffenheit des Tuns eine andre ist und zwischen Tat und Untat scharf
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Faust, I, Verse 285-290. " Vers 342. 48 Dramen, ΙΠ, S. 255. 48 Faust, I, Vers 352, Dramen, ΠΙ, S. 255. «» Dramen, ΠΙ, S. 260. 51 Faust, I, Verse 315-316. 52 Vers 340 und Vers 343. 5» Dramen, III, S. 273. M S. 311.
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unterschieden wird. Mit bloßem „Streben" ist es hier nicht getan. Dieses „Faustische" ist keine Nebensächlichkeit in Hofmannsthals Salzburger Großem Welttheater. Es wird bis an den Kern des Stückes, bis an das soziale Drama herangetragen und darf dessen Struktur bestimmen. Die imperialistische Vision, die der Reiche von der Erde entwirft, ist dieselbe, die sich vor dem Kolonisator Faust im fünften Akt des zweiten Teils auftut. Hofmannsthal bedient sich etwas anderer Bilder, die aber ihre enge Verwandschaft durchaus nicht verleugnen können. Sind denn seine „Kanäle", die „Fluß an Fluß" 55 binden, im Grunde so sehr verschieden von Fausts „unternommenem Graben," der sich täglich verlangen soll? Dient denn sein „durchstochener Berg," sein „aufgestauter Bergsee"58 einem so gänzlich anderen Zwecke als Fausts „aufgewalzter Hügel," bis zu dessen Rand die Flut aufrasen soll, einem anderen Ziel als der Hoffnung, eine „kühn-emsige Völkerschaft" anzusiedeln, „vielen Millionen Räume zu eröffnen?" 57 Ja sogar die Faustische Gewalttat an Philemon und Baucis wird mit der Glücks- und Freiheitsvision von Hofmannsthals Reichem in ein paar Zeilen zusammengezogen: Die Nachbarn, von so hoher Kraft bezwungen, Sie stimmen ein in ihren Zungen, W o nicht, so werde, was doch werden muss, Zu ihrem Heile ihnen aufgedrungen! 5 8
Auf diese Hybris des modernen Organisators, dessen Gott „Verkehr" heißt, hat der Bettler nur eine Antwort: die Sprache der sozialen Revolution. Denn so wie zur Zeit Marx' der Calderonsche „Arme" zum Proletarier geworden ist, so echot er bei Hofmannsthal die Worte, mit denen das Kommunistische Manifest schließt. „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern, die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten,"59 schreibt Marx. „Nimm dich in acht!" spricht Hofmannsthals Bettler zum Reichen, „nämlich: ich hab nichts zu ver55
S. 280. « Ebda. " Faust, Π, Verse 11555, 11562, 11567-68, 11570. 58 Dramen, ΠΙ, S. 280. 59 Das Kommunistische Manifest (Berlin: Paul Singer, 1912), S. 56. 5
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lieren."60 Ganz folgerichtig fällt denn auch in diesem Zusammenhang das Wort Manifest, bezeichnenderweise vom Widersacher ausgesprochen.41 Dies ist Hofmannsthalsche Art, die faustische Bewältigung des Lebens abzulehnen. Die großartige Rede „Ihr habt und ich hab nicht" 62 wie jene andere: „Schaff Holz fürs Bett, und im Bett drin wem andre liegen,"63 enthalten ja auch kommunistische Gedanken, ebenso wie die vom Widersacher geäußerten Argumente „[Wir] sehen keine Frucht von unserer Plag / Und sehn kein End — aus Werk wird Fron, / Geschändte Tag', vermaledeiter Lohn!" 64 Es erscheint also die ewige, in sich ruhende transzendentale Weltordnung Calderone im Salzburger Großen Welttheater um das unruhige, bloß um die Immanenz bekümmerte faustische Wollen vermehrt. Genauer gesagt, es stehen sich hier zwei Organismen, zwei Ordnungen, die einander ausschließen, gegenüber: die statische Ordnung des christlich-mittelalterlichen Weltbildes und das dynamische Sozialsystem der Neuzeit, das in ständiger Gärung steht, sich aber durchaus auch als Ordnung empfindet. So preist nämlich der Reiche die Organisation des Staates, für dessen geheimen Lenker er sich hält, als „Wunderding der Ordnung,"«5 aber auch der Bettler, der darauf aus ist, diese auf Unrecht und Ungerechtigkeit aufgebaute Gesellschaft zu zerstören, handelt in der Überzeugung, gerade dadurch Ordnung zu machen.69 Die beiden gehören demnach zusammen. Sie sind komplementäre Gestalten. Der feindliche Gegensatz, in dem sie zueinander stehen, soll bloß die Zerrissenheit des Organismus bezeichnen, dem sie beide angehören. Die Nonne Weisheit allein, die nach jenseitigen Gesetzen lebt, erkennt dieses Ganze mit ihrem unbestechlichen Blick als das, was es ist: als wogende Unruhe, menschliches Stückwerk, nicht als Ordnung, sondern ganz im Gegenteil als „Wirbel." «
81 82
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Dramen, III, S. 293. S. 298. S. 290. S. 303. S. 296. S. 295. S. 305. S. 279.
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Calderón gab seinem Stück den Untertitel „auto sacramental alegórico." Hofmannsthals Werk ist schon deswegen reichhaltiger, komplizierter, weil sich hier zwei Allegorien überschneiden und durchdringen: die der christlichen und die der neuheidnischen Ordnung, der festen alten und der mit sich selbst zerfallenen neuen. Welcher er Recht gibt, ist keinen Augenblick lang im Zweifel. Schon durch die Wahl der Bühne, die Erde und Himmel gleichzeitig beherbergt, hat sich der moderne Dichter für die uralte, aber ihm immer noch gültige Auffassung des Lebens entschieden. Die Frage ist bloß, wie es ihm künstlerisch gelang, diese beiden, sich gegenseitig sträubenden Allegorien, die stets auseinander zu brechen drohen — was um so bedenklicher ist, als sie ja durch dieselben Figuren dargestellt werden — in jenes Gleichgewicht zu bringen, in dem die Gestaltung dieses faszinierenden Doppelgedankens erst möglich ist. Hofmannsthal ist sich dieses Problems wohl bewußt gewesen und hat es auf wahrhaft erfinderische Weise gelöst. Das Mittel zu erkennen, dessen er sich dazu bedient hat, ist um so lohnender, als sich dabei noch einmal aufs Klarste zeigt, welche Spannung zwischen der Hofmannsthalschen und Calderonschen Sprache besteht. Schon Calderón verwendet den Begriff der Mitte — centro — in seinem Gran Teatro in jener dichterischen Zwielichtzone, in der die Unterscheidungslinie zwischen Vokabular und flüchtigem Sinnbild unbestimmbar verschwimmt. Es handelt sich jedesmal um ein Vertrieben- oder Verstoßenwerden aus einer Mitte, wo Sicherheit oder doch Gewohnheit is. „¿Quien me llama," grollt die Welt," . . . desde el duro centro 1 de aqueste globo que me esconde dentro? . . . ¿Quien me saca de mi?"«8 (Wer ruft mich aus der harten Mitte dieser Kugel, die mich drinnen versteckt? Wer nimmt mich aus mir heraus?), als Gott der Herr ihrer bedarf, um die Bühne des Menschenlebens aufzubauen. Ähnlich empfindet der Bettler im Augenblick des Sterbens, obgleich er ja seinem Gericht freudig entgegengeht und ihn an das hiesige Leben nichts bindet, seine Entfernung von der Erde als Gewalttat: „Pues que tan tirano el Mundo de su centro nos arroja." ββ (Denn die Welt wirft uns so «8 Calderón, S. 203. ·» S. 220.
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tyrannisch aus ihrer Mitte). Auch hier erscheint die Mitte als Ort des Geborgenseins. Mehr ist es nicht. Und dennoch hat Hofmannsthal aus dieser Kaum-Metapher ein sprachliches Netz gewoben, mit dem er die Bruchstücke seiner Welterkenntnis einzufangen und zu vereinigen hofft. Wenn die Welt vom Menschen sagt: „Es hält sich jeder für das Mittelstück aller Sachen,"70 so nimmt man diesen Ausspruch als eine jener aphoristischen Einsichten hin, mit denen Hofmannsthals Dichtungen den Leser so verwöhnen, ahnt aber wenig, daß hier das Gelenk sichtbar wird, wodurch Beweglichkeit wie auch Zusammenhalt des Werkes erzielt werden. An dieser Stelle will der Ausspruch außer seiner unmittelbaren Funktion im Dialog besagen: um den Menschen dreht es sich oder tua res agitur. Stutzig wird man erst, wenn sich Figur nach Figur bei ihrem Auftreten zu dieser Auffassung bekennt, sich zu dieser Mitte in Beziehimg setzt.71 Die Bühnenanweisung, welche auf das Erscheinen des Königs vorbereitet, enthält schon das Wort, welches vom Standpunkt des Theaters zunächst allerdings erst in Gebärde verwandelt wird. „König," schreibt Hofmannsthal vor, „tritt von links auf und schreitet auf die Mitte der Bühne zu." 72 Sogleich jedoch wird das Bild in den Sprachleib der Dichtung einbezogen, denn die ersten Worte des Königs lauten: „An diesen Platz ziehts meine Schritte; Hier bleibe ich: der Herr steh in der Mitte." 73 Daß es in diesem aus menschlichen und himmlischen, zeitlichen und ewigen Elementen zusammengesetzten Weltall zwei Mitten gibt, nämlich eine echte und eine falsche, mag dem aufmerksamen Leser vielleicht schon an dieser Stelle aufgegangen sein. Denn eben noch vor dem Auftritt des Königs hat der Engel von „der Mitte" der „oberen Bühne" aus den Beginn des Spiels angekün70
Dramen, ΙΠ, S. 262. Dies ist nicht das erste Mal, daß Hofmannsthal den Begriff der Mitte symbolisch verwendet. Vgl. z.B. das Gedicht „Der Kaiser von China spricht: „In der Mitte aller Dinge / Wohne I c h . . . " in Gedichte und Lyrische Dramen, hrsg. von Herbert Steiner (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1952), S. 32. Vgl. auch den gewichtigen Satz aus dem Turm, Dramen, IV (Berlin: S. Fischer, 1958), S. 73: „Es entflieht keiner der großen Zeremonie, der König aber und der Vater ist in die Mitte gesetzt!" 72 Dramen, III, S. 275. 73 Ebda. 71
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digt,74 und im nächsten Augenblick wird ersichtlich, daß „die Mitte," auf die sich der König etwas zugute hält, durchaus nicht mit derjenigen der höheren Warte identisch ist, von der aus seine Leistung begutachtet wird. Die nächste Bühnenanweisung, in der mit der gleichen Zeichensprache gesprochen wird, bezieht sich auf den Reichen, der zusammen mit dem König, ja nach seiner eigenen Überzeugung allein und ohne diesen, die kontrollierende Maschinerie des Staatssystems in Händen hält. Um diese Vorzugsstellung des Reichen im Gesellschaftsgefiige augenscheinlich zu machen, weist Hofmannsthal an: „König winkt dem Reichen, den Platz zu seiner Rechten einzunehmen, und tritt selbst auf seinen Platz in der Mitte."75 Den „Platz an seiner Linken" hat er längst der eitlen Schönheit eingeräumt.78 Daß bei all diesem Manövrieren um die Mitte menschliche Selbstüberhebung im Spiel ist, hat der Zuschauer längst gemerkt. Denn auf die einflußreiche Stelle nahe am Mittelpunkt, die der König dem Reichen zugewiesen, hatte die Weisheit soeben mit Bezug verzichtet. „Zu meiner Rechten hier nimm Platz, du edles Bild. / Und ziehn wir uns zu frommem Sinnen ein, / Erleucht uns du mit sanftem Ampelschein,"77 hatte der König sie aufgefordert. Die Weisheit aber ist jene einzige Gestalt unter den Menschen, der der Zusammenhang des Lebens mit dem übergeordneten Bereich der Ewigkeit in jedem Augenblick klar bewußt ist, und so lehnt sie eine solche zentrale Stellung auf Erden ab, die vom Ganzen aus gesehen doch nur exzentrisch sein kann und sie zu sehr in die Weltlichkeit verstricken würde. Bezeichnend sind die Worte, mit denen sie die Einladung ablehnt: „Zu nah dem Wirbel, der inmitten dieser Welt. / Ich habe mich aus ihr in Ewigkeit gestellt."78 Sie bleibt durchaus in der „Metapher." Mit dem Ausdruck „inmitten" bekennt sie sich dazu. Ja, noch das Wort, welches sie wählt, um an dieser Auffassung des Lebens Kritik zu üben: „Wirbel," enthält etwas von der assoziativen Kraft, die das Bild
74 75 78 77 78
Ebda. S. 283. S. 278. S. 279. Ebda.
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einer Kreisförmigkeit mit einem Mittelpunkt hervorruft; aber gleichzeitig bringt es etwas Unsicheres, Bewegtes, ein Element von Bedrohung und Gefahr in ein Weltbild, das offenbar auf dem Gefühl des unbestrittenen, von einem festen Zentrum aus regierten Besitzes beruhte. Was für eine Bewandtnis es mit dieser zentral beherrschten Gesellschaft wirklich hat, welche Ungeheuerlichkeiten in dieser scheinbaren Ordnung Platz finden, macht übrigens der Bettler sogleich vollends deutlich. Denn was im Mittelpunkt eines sich rasend drehenden Wirbels etwa noch stabil und relativ unbeweglich aussehen mag, das zeigt an seinem Rand, wo die zentrifugalen Kräfte gewaltsam am Werke sind, ein gänzlich anderes Antlitz. Und daß der Bettler bloß am Rande dieses Sozialwesens angesiedelt ist, das mit schmerzlicher Deutlichkeit einzuprägen, hat sich der Dichter angelegen sein lassen. Er gebraucht dazu den der Mitte diametral gegengeordneten Begriff der Grenze. Das Wort fällt in dem Augenblick, als es endlich gelungen ist, den verstockten Bettler zum Reden zu bringen, und er beginnt, die Ursachen seiner Feindseligkeit gegen eine Ordnung zu offenbaren, in der sich alle anderen augenscheinlich recht wohl befinden. Da sind so ein paar fremde Hund über die Grenz daherkommen — eröffnet er — Und da hats mit ihrem Leben jählings ein End genommen. Die Hütten war verbrannt und die Frau halt auch und die Kuh dazu. Ganz still hat die Brandstatt geraucht in einer besonderen Ruh! 79
Nach außen zu ist diese Gesellschaft ungeschützt, die Elementarmächte Mord, Gier und Brand treiben ihr zerstörerisches Unwesen. Hier ist die Ordnung eine Un-ordnung. Hofmannsthal sorgt dafür, daß man nicht über diese „Grenze" achtlos hinwegliest, ohne sie zu seiner tragenden Metapher in Beziehung zu setzen. Die Aufgabe, diese Beziehung herzustellen, überträgt er dem Bauern, der auf des Bettlers Rede entgegnet:
'» S. 287.
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Ah! an der Grenz! da draußt! ja da is nit gut sein! San bettelarme Leut und recht ein schlechter Wein. Dort wohnen stiind mir nicht zum Sinn, Ich sitz im Landl mitten drin.80
Hier verzichtet der Dichter sogar darauf, den abstrakten Sinn dieses „mitten drin" durch eine entsprechende Position des Bauern im Bühnenraum zu verwischen, wie er es bei den anderen Gestalten getan hat. Im Gegenteil, der Bauer hat sich — übrigens nach Calderone Vorbild — von Anfang an abseits gehalten und ist auch dafür von der Weisheit belobt worden. Vor den neugierigen Blicken des Königs zieht er sich zurück: „Nur nit viel herschaun, das war mir ka Ding — gebts mir an Fried, das i mei Arbeit vorwärtsbring."81 „Rückt, daß er hinter den Baum kommt," verlangt die Bühnenanweisung. Darauf die Weisheit: „Ist Weisheit nicht in ihm, sie ist in seinem Tun." 82 Um so reiner wirkt sich jetzt die Symbolik seiner Mittelstellung im Gegensatz zu der Grenzsituation des Bettlers aus: an den zerfallenden Rändern der Kultur sind eben die „bettelarmen Leut," die keinen Anteil an dem Schutz und dem Wohlleben der inneren Sphäre haben. Kein Wunder, daß nun der Vertreter dieser Enterbten und Entrechteten der heuchlerischen Ordnung durch Umsturz ein Ende bereiten will. Und es ist durchaus symbolisch aufzufassen, daß ihn Hofmannsthal zu seinem Axtschlag ausdrücklich gegen die Mitte springen läßt (S. 305). Für ihn ist jene gepriesene Mitte begreiflicherweise eine „Diebesherberg." „Ich brech in dein Geheg! ein neuer Weltstand her!" 83 Und eine Seite weiter: „Der Weltstand muß dahin, neu werden muß die Welt, / Und sollte sie zuvor in einem Flammenmeer / Und einer blutigen Sintflut untertauchen."84 Wieder stutzt der Leser, aber nicht auf lange. Jetzt ist er mit Hofmannsthals Technik vertraut und findet den Schlüssel schnell. Die Wiederholung eines eigenartigen Wortes erhebt dasselbe zum Symbol. Ein neuer Weltstand ist im Zusammenhang mit einer Sintflut ganz am Anfang schon einmal vorgekommen. „Hat der 80
Ebda. S. 279. Ebda. e» S. 293. 81 S. 294. 81
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Herr dich nicht einmal schon ersäuft, und als du am letzten warst, einen neuen Weltstand über dich aufgehen lassen!" 85 erinnerte da der Engel die ungebärdige Erde. Man fühlt also schon, daß dergleichen Bestrafungen und Umwälzungen zwar nicht zu den Unmöglichkeiten gehören, aber dem Herrn überlassen bleiben müssen. So wie es eine obere und untere Bühne, eine große und kleine Welt gibt, so gibt es auch zwei Weltstände, einen wesentlichen und einen nebensächlichen, und einem jeden von ihnen entspricht mit dem gleichen Bedeutungsunterschied sein eigener Mittelpunkt. Nur allzubald erweisen sich diese Ahnungen als durchaus richtig. Der Bettler-Proletarier holt zu dem Streich aus, der das parteiische Mißgebilde des kapitalistischen Staates zerschmettern soll. Da hat er eine Erleuchtung. Präexistenzielle Erinnerungen bringen ihm die verschrobene, exzentrische Beschaffenheit des irdischen Bezuges zum Bewußtsein und bewirken die Verwandlung von Saulus in Paulus. Gleichzeitig vollzieht sich aber auch sein Übergang von der „Grenze" zur „Mitte," von der Grenze einer ephemeren Erscheinung zur Mitte der Realität. Auf die Frage des Widersachers nämlich, warum er so plötzlich von seiner Revolution abgelassen habe, gibt der Bettler die bedeutungsvolle Antwort: „Ich bin bei Gott, in aller Dinge Mitt!" 88 In der Mitte aller Dinge wohlgemerkt! Nicht in der gleichgültigen Mitte irgendeiner menschlichen Ordnung oder Unordnung, auf die es jetzt gar nicht mehr ankommt. Jetzt wird er sich in den Wald begeben und ein gottgewolltes Einsiedlerleben führen, endlich im Einklang mit der Ordnung des christlichen Weltalls. Und so darf sein ursprünglicher Wunsch dennoch erfüllt werden, wenn auch auf andere Art. „Es muß fürwahr und ganz ein neuer Weltstand werden, / Sonst blieb dies gar ein ärmlich puppig Spiel." 87 Nun ist alles geklärt. Das Faustische und das Calderonianische, die anfangs bedrohlich einander gegenüberstanden, sind in die rechte Perspektive gerückt, das eine dem anderen unverkennbar untergeordnet worden. Und so darf die Handlung zum rein calderonianischen bzw. mittelalterlichen Totentanz zurückkehren, dessen Sinn mittels neuer Klänge, den Worten Sein und Schein, 85
S. 258. e« S. 313. β' Ebda.
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umgaukelt werden kann. Wir sind jetzt dermaßen geschult auf dieses Spiel, daß es sich erübrigt, es im einzelnen aufzuzeigen.88 Im Grunde handelt es sich, nunmehr auf rein christlicher Ebene, um die gleichen Gegensätze wie früher bei den dialektischen Paaren Mitte und Grenze, Faustisch und Calderonianisch. Die Zuordnung dürfte keine Schwierigkeit bereiten. Gleichzeitig wirft diese Untersuchung Licht auf Hofmannsthals Gebrauch der Sprache im Verhältnis zu seinem Vorbild. So wie das Bild der Mitte bei Calderón schon vorhanden war, aber nur andeutungsweise, so hat Hofmannsthal aus den verhältnismäßig unkomplizierten Elementen der Sprachwelt des barocken Dichters unter Vermengung und Gegenüberstellung von Gegenständen seiner modernen Lebenserfahrung, ein tiefschichtiges, schillerndes, verästeltes Gebilde geschaffen, das allein den Abgründen der neuzeitlichen Welt gerecht werden konnte. Es bleibt noch eine Hauptfrage übrig, die sich in eine Reihe von Nebenfragen aufzuspalten droht: Ist die Trennung der beiden bei Hofmannsthal ineinander verstrickten Allegorien und die schließliche Unterordnung der einen unter die andere auch wirklich geglückt? Bei aller Bewunderung für die Feinheit der Kunst, mit der das Metapherngespinst verfertigt wurde, bei aller Liebe für den Dichter, der wie kein zweiter Würde und Anmut zu verbinden wußte, muß die Antwort lauten: nur teilweise. Es bleibt ein unverarbeiteter intellektueller Rest, der sich um so widerspenstiger zeigt, je ernster man die Gleichnisse nimmt. Ein Bettler 88
Es sei als Beispiel hier nur ein Teil von der Rede des Königs angeführt, wo dieses Hin- und Herwenden der Begriffe auf ganz barocke Art besonders deutlich ist. S. 320: Du Reif, du schienst ein Teil des Hauptes selbst zu sein, Nun lösest du dich leicht und wahrest deinen Schein. O Schein, o edler Schein, Schein über allem Schein! Wer sich zu dir erschwang, dem wärst du wahres Sein, Herrliche Wesenheit, gewaltig, zu bezwingen Den dumpfen Widerstreit von selbstgebundnen Dingen. Du heilig weise Frau, für die der Schein nicht scheinet, Das Scheinen mit dem Sein zu höhrem Schein sich einet, Willst du mir hüten dieses Zeichen, Dem Höchsterkornen einst es reichen?
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mag die Nichtigkeit des Erdenlebens einsehen und als Anachoret die Waldeinsamkeit aufsuchen, ein Reicher mag ihn sogar mit einer gewissen Erleichterung ziehen lassen. Aber das Ureigene an Hofmannsthals Werk ist ja gerade, daß diese beiden Gestalten nicht mehr bloß der Arme und der Reiche der Vorlage sind. Wie verhält es sich jedoch mit dem Proletarier, dem Vertreter einer breiten Gesellschaftsschicht? Kann der einfach in die Wälder gehen? Gibt es Massenerleuchtungen und -bekehrungen? Sollen alle die im Staat Zukurzgekommenen in die Wildnis auswandern? Oder lautet die allegorische Lehre: Verzicht auf soziale Gerechtigkeit, ja auf die Forderung nach Gerechtigkeit? Und selbst wenn man, durch die Logik gezwungen, diese Ungeheuerlichkeiten annähme, wovon Hofmannsthal als Mensch und Künstler weit entfernt war, sind noch nicht alle Unstimmigkeiten geschlichtet. Wie steht es nämlich mit dem Kapitalisten, kann er den Proletarier einfach aus dem Staat ausscheiden lassen? Bedarf er denn seiner etwa nicht für seine ehrgeizigen Kolonisationspläne? Und kann endlich Gott, wenn auch sein Hauptvergnügen im guten Spiel der Rollen liegt, der Güte des Stückes gegenüber so gleichgültig sein, daß er das Feld, und sei es auch bloß eine Bühne, ganz und gar ohne Kampf und Widerstand dem offenkundig Bösen, dem Unchristlichen überläßt? Was hier fehlt und letzten Endes auch als künstlerischer Mangel gewertet werden muß, ist der Wirklichkeitssinn, der andere Teile des Gedichts so ausserordentlich auszeichnet. Als Beispiel mag hier die Figur des Vorwitzes mit ihren drolligen Aussprüchen angeführt werden, die so oft mißverstanden wird. Bergsträsser spricht in seinem sehr aufschlußreichen Aufsatz über das Welttheater wohl die gängige Meinimg über diese Gestalt aus, wenn er sagt: „Vorwitz, the harlequin-dandy of the play, acts as a counterpart to serious significance through the shortcomings of his judgments and the sentimentality of his emotions."89 Daran ist etwas Richtiges, aber es fehlt auch etwas. Mit dieser Figur ist Hofmannsthal spanischer gewesen als der Spanier, denn Vorwitz ist nichts anderes als der in den spanischen Stücken, in den comedias allerdings und nicht in den autos sacramentales, unentbehrliche 89
Bergstraesser, „The Holy Beggar," S. 264.
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Gracioso, dem es vorbehalten ist, mit seinem „quick and superficial mind of impertinent curiosity"90 auf die schnippisch-lachende Art des Volkes die tiefsten Wahrheiten auszusprechen: vox populi vox Dei. Ein schneller Witz ist deswegen aber nicht gleich auch oberflächlich. Oder ist es nicht tiefe, ob schon vielleicht unfreiwillige Weisheit, die Vorwitz den Sinn erkennen läßt, den Gott mit seinem Bühnenspiel verfolgt, einen Sinn, dessen Geheimnis sich dem Unverstand der Welt verschließt? „Chymie! Chymie!" lässt ihn Hofmannsthal ausrufen, „Das ist seine Sache! Er will Gold machen aus niedrigen Erden!" 91 Es handelt sich hier um eine uralte, doch selten beherrschte Kunst, die aber Hofmannsthal voll zu Gebote steht: das ridendo dicere verum. Diesen Verismus läßt nicht etwa die Gestalt des Bettlers, wohl aber die Behandlung der sozialen Frage vermissen. Es ist Hofmannsthals Wille zur ungeschminkten Wahrheit, der ihn das neuzeitliche Phänomen vom Aufstand der Massen derart zentral zum Problem seines Mysterienspiels machen ließ. Die Lösung ist ihm nicht ganz gelungen: auch das muß einmal gesagt werden.92 Hier ist einmal ein Fall, wo die Gestalt das Problem nicht erledigt. Vor allen anderen ist wohl Hofmannsthal selbst unbefriedigt geblieben. Denn es war zweifellos derselbe Wille zur Wahrheit, der ihm keine Ruhe gönnte, ehe er, nach langem schwerem Ringen und nur in schrittweisem Nachgeben, in der Bühnenfassung des Turms den Aufstand der Massen als vollzogen darstellte. Nur ungern, aber von der Gewalt der historisch-prophetischen Wahrheit gedrängt, hat Hofmannsthal, was durch den Bettler noch in einer Gestalt zusammengehalten war, in dieser Tragödie auseinanderklaffen lassen: den Vertreter einer neuartigen Bestialität und den geistigen Menschen. In diesem Stück triumphiert die Revolution und der Repräsentant höheren Menschentums liegt am Ende sterbend da, abgeknallt von den Schergen der Gewalt. Die erschütternde Wirkung, die von diesem Drama ausgeht, beruht nicht zuletzt darauf, daß „dem König," den „Reichen," ja selbst der kirchlichen „Weis90
Ebda. « Dramen, III, S. 257. 92 Ähnliche Beobachtungen lassen sich am Jedermann und anderen dramatischen Werken machen. Vielleicht ist es dies, was Rudolf Kassner veranlaßte, von Hofmannsthals mißlungenen Peripetien zu sprechen. Vgl. Kapitel Π, S. 26.
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heit" die gebührende Schuld an dieser Niederlage aufgebürdet wird. Dies darzustellen war unendlich schwerer und schmerzlicher, und hat wohl dazu beigetragen, den Dichter frühzeitig aufzureiben. Aber es entsprach viel treulicher den Tatsachen.
ν V O N LA VIDA ES SUENO Z U M TURM: D E R WEG Z U R N A C K T E N W A H R H E I T
Es ist bekannt, daß Hugo von Hofmannsthals einziges vollendetes Trauerspiel Der Turm in Anlehnung an Pedro Calderón de la Barcas berühmtes Stück La vida es sueño entstanden ist. Selbst ein flüchtiger Vergleich wird von der Unzweifeihaftigkeit dieses Einflusses überzeugen, denn der Verfasser der Turmdramen hat es sogar verschmäht, äußerliche Merkmale wie die Übereinstimmung von Namen zu beseitigen. Die Fassung in Trochäen, entstanden 1901 und 1902, trägt den fast unveränderten Titel Das Leben ein Traum, aber noch in den beiden letzten Fassungen heißt die Hauptperson Sigismund, sein Vater, der König, Basilius. Nach wie vor ist der Ort der Handlung ein Königreich Polen, und wenngleich die lustige Person in Calderone „Comedia" Clarín heißt, während sie bei Hofmannsthal den Namen Anton führt, so besteht doch kein Zweifel bezüglich ihrer Verwandtschaft. Die Parallelen lassen sich jedoch noch weiter, in wesentlichere Schichten verfolgen: denn selbst die Fabel, auf der das Werk von 1636 beruhte, ist bis ins Jahr 1925 1 weitgehend gleich geblieben: Prophezeiungen haben König Basilius bestimmt, sein Kind Sigismund zu verstoßen und unter der Obhut eines Edelmannes im Verließ eines einsamen Turmes aufwachsen zu lassen. Da der Prinz aber das Jünglingsalter erreicht hat, wird er durch einen Schlaftrunk in Betäubung versetzt, in den Palast gebracht und nach seinem Erwachen mit dem Geheimnis seiner hohen Geburt bekannt gemacht. Einen Tag lang soll er zur Probe König sein und die Weissagungen von seiner Grausamkeit Lügen strafen. Aber das Leben im Kerker hat auf sein Gemüt gewirkt und Sigismund besteht die Prüfung nicht. Gewaltsam wird er wieder in Schlaf versetzt und in sein Verließ zurückgebracht, um dort den Rest seiner Tage zuzubringen. Nun erfüllt sich jedoch das Orakel Punkt für 1 In diesem Jahr erschien Hofmannsthals Tragödie Der Turm in ihrer ersten Fassung.
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Punkt. Ein Volksaufstand flammt auf, der Turm wird von den Aufrührern erstürmt und Sigismund zu ihrem König und Feldherrn erkoren.2 Mit ihm an der Spitze erobern die Empörer das Land, nachdem sie Basilius und seine Streitkräfte zermalmt haben. Das Gewebe dieser dürftigen Nacherzählung könnte um vieles verdichtet werden, und immer noch würde Einklang herrschen. Man sieht also, daß die beiden großen Gestaltungen mehr als Nebensächliches gemeinsam haben. Ein wichtiger Bestandteil, das dramatische Skelett, ist nach drei Jahrhunderten noch dasselbe. Die Faszination, die von diesem Stoff ausging, hat Hofmannsthal nie wieder losgelassen. Drei große dichterische Gestaltungen und viele geringere Spuren bezeichnen die Stationen auf diesem Wege, der gleichzeitig fast auch Hofmannsthals Lebensweg ist. Die Entwicklung führt immer weiter von Calderone La vida es sueño fort. Will man daher Hofmannsthals spezifisches Verhältnis zu seinem Vorbild erkennen, dann muß man sich an die früheste Begegnung halten, seine Bearbeitung Das Leben ein Traum in Trochäen.3 Vor Hofmannsthals Bearbeitung von La vida es sueño — so erfahren wir durch Jakob Laubachs eingehende Untersuchung — „gab es schon eine Reihe von deutschen Übersetzungen des spanischen Werkes."4 Diese Ausdruckweise unterstellt, daß Hofmannsthal den schon vorhandenen nun eine weitere, wenn auch freiere Übertragung des Originals hinzugefügt hat, und dies scheint überhaupt die erklärte oder vorausgesetzte Annahme aller derer zu sein, die sich mit der Frage beschäftigt haben. Für das Verständnis der Turmdichtungen ist es jedoch von besonderem Interesse, daß Hofmannsthal in Wirklichkeit nicht den spanischen Text, sondern die Übersetzung von J. D. Gries für seine erste Fassung des Stoffes verwendet hat.5 Es ist leicht, den Beweis für diese Behauptung zu erbringen. Die zahlreichen wörtlichen Entlehnungen sprechen für sich selbst. Einige Beispiele müssen genügen: 2 An dieser Stelle bricht die Bearbeitung in Trochäen ab. Auch der letzte Turm, die sogenannte Bühnenfassung, weicht in den letzten Akten wesentlich von diesem Schema ab. 3 Vgl. Kapitel Π, S. 9f. und 14f. 4 Hugo von Hofmannsthals Turm-Dichtungen (Dissertation, Kempten, 1954), S. 24. « Vgl. Kapitel II, S. 12.
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Gries*
Hofmannsthaf
S. 165 Reiche deine Herrlichkeit Mir zum Kuß die hohe Rechte Als dem ersten deiner Knechte, Welcher Huldigung dir weiht.
S. 155 Reiche deine Herrlichkeit Mir zum Kuß die hohe Rechte Als dem ersten deiner Knechte, Welcher Huldigung dir weiht.
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S. 167 S. 158 Sprach der König wider Recht, Sprach der König wider Recht, That er, sich zu fügen, schlecht; Tat er schlimm, sich ihm zu fügen, Und sein Herr und Fürst war ich, Und sein Herr und Fürst war ich. S. 166 Das Gesetz hast du betrogen, Deinen König frech belogen, Mich mißhandelt ohn' Erbarmen; König und Gesetz und ich Haben drum, für solch Verderben, Hier durch meine Hand zu sterben Dich verdammt.
S. 157 Das Gesetz hast du betrogen, Das in meinen Adern rinnt, Deinen König frech belogen, Mich mißhandelt, mich, sein Kind. König und Gesetz und Ich Haben drum für Hochverrat Hier durch meine Hand zu sterben Dich verdammt.
S. 174 Missen kann ich die Umarmung, Wie ich sie gemißt bisher; Denn ein Vater, der so sehr Sich entäußert der Erbarmung
S. 163-164 Missen kann ich die Umarmung, Die ich lang genug gemißt. Denn hier nennet nichts Euch Vater. Der in Schmach und Schmutz mich [stieß, Als ein Tier mich wachsen hieß — Dichte Höhle meine Kammer, Zu ersticken meinen Jammer, Allem Menschenglück so fern, Daß mein armer Augenstern Wie ein Molch dem Licht entwöhnt — Mag mir d e r Umarmung weigern: Das wird nicht mein Elend steigern.
Dass sein Herz in Stein verwandelt, Mich von seiner Seite reißt, Mich als Thier erziehen heißt, Mich als Ungeheur behandelt Und zum Tode mich bestimmt, Mag nur die Umarmung weigern: Wenig kann's mein Elend steigern, Da er mir die Menschheit nimmt.
6 Schauspiele von Don Pedro Calderón de la Barca, aus dem Spanischen übersetzt von J. D. Gries, 17. Bändchen der Classischen Cabinets-Bibliothek oder Sammlung auserlesener Werke der deutschen und Fremd-Literatur, erster Teil (Wien, 1825). 7 „Das Leben ein Traum, Bearbeitung in Trochäen," in Corona, Bd. VII (1937), Heft 1.
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Schon an den verhältnismäßig geringen Abweichungen der letzten beiden Beispiele kann man einige von den Grundsätzen ablesen, die Hofmannsthal, soweit er sich überhaupt an den Text seiner Vorlage hielt, geleitet haben. Wenn er in dem vorletzten der obenstehenden Beispiele für das Wort „Verderben" „Hochverrat" einsetzt, so verzichtet er zwar auf einen Reim, gewinnt aber dafür Schärfe und Klarheit. Denn Verderben ist in diesem Zusammenhang eine recht schwächliche Allgemeinheit und dürfte nur des Reimes wegen gebraucht worden sein. Bei Calderón steht, allerdings nicht im Reim, an dieser Stelle „desdichas" — Mißgeschick. Clotald des Hochverrats zu beschuldigen, ist zwar absurd, wenn auch nicht unlogisch. Auf jeden Fall verrät es die stolze Gemütsart Sigismunds, der die Erniedrigimg seiner Person zu bestrafen gesonnen ist. Desgleichen ist „Mich mißhandelt, mich, sein Kind" eine viel stärkere Zeile als „Mich mißhandelt ohn' Erbarmen." Es braucht nicht erst betont zu werden, daß bei der Verhängung der Grausamkeiten über Sigismund Erbarmen keine Rolle gespielt hat. Dies fehlt ja auch bei Calderón, wo es heißt: Traidor fuiste con la ley, Lisonjero con el Rey, Y cruel conmigo fuiste. 8 (Verräter warst du dem Gesetz, Schmeichler dem König, U n d grausam zu mir). 9
Wäre Hofmannsthal diesem Text statt Gries gefolgt, so hätte er nicht nur das Erbarmen ausgeschieden, sondern es wäre ihm auch die Zeile „Deinen König frech belogen" nicht unterlaufen, die in Anbetracht von Clotaldos blinder Ergebenheit, wenigstens in dem spanischen Stück, unbegreiflich bleibt. Sigismund is zwar in großer Erregung, während er diese Beschuldigungen ausstößt, deswegen bleibt er aber doch bei der reinen (wenn auch subjektiven und 8 Teatro Selecto de Calderón, I (Madrid, 1881), S. 46. Diese Ausgabe wird von nun an Calderón genannt. 9 Die Übersetzungen fremdsprachiger Zitate sind, wenn nicht anders vermerkt, von mir.
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daher psychologisch um so wirkungsvolleren) Wahrheit. Jedes andere Vorgehen würde nur seiner würdigen Sache und gerechten Empörung schaden. Dazu kommt bei Gries noch das apostrophierte „ohn'," wodurch der Äußerung der letzte Rest an Spontaneität genommen wird. Das Vertrauen zur Echtheit einer Dichtung wird nur geschwächt, wenn ihre Sprache mit derart Selbstverständlichem und Überflüssigem beladen ist. Um wieviel eindringlicher stellt sich die Mißhandlung durch das gefühlsbetonte Wiederholen des „mich" dar und die empörte Erläuterung „sein Kind." Auch dies ist natürlich rhetorisch, denn wir wissen ja längst, daß Sigismund der Sohn des Königs ist. Aber daß es eben Kind und nicht Sohn heißt, und daß diese Kindschaft in Gegensatz zu den Mißhandlungen gebracht wird, macht das Ergreifende an dieser Zeile aus. Dabei wird hier nicht einmal der Reim geopfert, sondern er knüpft an die gleichfalls eingeschobene Zeile „Das in meinen Adern rinnt" an, durch die wieder das objektiv wirkende Gesetz in die subjektive Situation Sigismunds miteinbezogen wird. So spricht ein entrüstetes Herz, an dem ein Frevel begangen wurde. Die unscheinbare Veränderung des Wörtchens „ich," das bei Hofmannsthal einen großen Anfangsbuchstaben erhält,10 hat eine ähnliche Wirkung. Jetzt ist es nicht bloß das Subjekt des Satzes, sondern gehört zu den verletzten Heiligtümern, wie Königtum und Gesetz, um derentwillen Vergeltung geübt werden soll. Ähnliche Überlegungen mögen die Gestalt, wenn auch nicht den Sinn des letzten Abschnittes verwandelt haben. Bei Hofmannsthal ist es nicht der Vater, dem durch die Verbannung des Sohnes etwas widerfährt. Um sein Kind in Schmach und Schmutz stoßen zu können, muß sich sein Herz allerdings in Stein verwandelt und der Erbarmung entäußert haben; es bedarf also dieser ausdrücklichen Versicherung nicht. Hofmannsthals Alliteration leistet aber noch ein weiteres: sie zeigt die untrennbare Zusammengehörigkeit von seelischem und körperlichem Übel. Hier soll offensichtlich nichts verschwiegen werden, denn die konkreten Bilder des leiblichen Elends häufen sich jetzt. Dazu paßt der Vergleich mit dem Tier vortrefflich, bloß hat ihn der König nicht als Tier „erziehen" 10
Im Wiederabdruck, Dramen, ΠΙ, hrsg. von Herbert Steiner (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1957) ist dieser Großbuchstabe zugunsten eines kleinen „i" aufgegeben worden. S. 384.
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geheißen, das würde noch zu viel Wohltat und Sorgfalt verraten, sondern er hat ihn einfach als Tier wachsen lassen. Diesem Unrecht fügt die Steigerung zum Ungeheuer nicht viel hinzu. Hofmannsthal läßt sie also weg und beschwört lieber die Behausung dieses Tieres herauf, die „Höhle," deren Attribut „dicht" wieder das „ersticken" der nächsten Zeile bedingt. So dicht war die Höhle, daß alles darin erstickte, sogar das Naheliegendste, der Jammer. Was nützt da noch die Erinnerung des Todes? Hofmannsthal verzichtet auf sie, denn im Zeitwort „ersticken" schwingt ja die Bedrohung des Lebens genugsam mit. Zu deutlich durfte diese überdies nicht gemacht werden, denn das Furchtbare war ja gerade, daß Sigismund nicht zum Sterben, sondern zu diesem Leben so fern allem „Menschenglück" bestimmt war. Um wieviel schmerzlicher wirkt der Verlust dieses geliebten Menschenglücks als der einer abstrakten Größe, der „Menschheit", den ja das Tiersein schon voraussetzte. Die Dunkelheit der Höhle, das Verschmachten darin und die Verhexung des Edlen in Niedriges wird noch in den Zeilen vom Augenstern sinnlich faßbar, der wie alle Sterne mildes Licht ausstrahlen will, jedoch in der Höhle zur Blindheit eines Molches verdammt ist. Nach diesen Abschweifungen im Dienste der Anschaulichkeit und des lebendigen Gefühls, kann der Text wieder zu seinem Original zurückkehren: „Mag nur die Umarmung weigern." Aber auch dieser Vers wird durch eine scheinbar geringfügige Einschiebung um die ganze Verachtung bereichert, die in dem Demonstrativum „der" liegt: „Mag mir d e r Umarmung weigern." Es ist klar daß dergleichen Verbesserungen und Bereicherungen allein dem dichterischen Genie Hofmannsthals zu verdanken sind, aber ebenso sicher ist es, daß die gegenwärtige Gestalt der Trochäenfassung das Resultat seiner Beschäftigung mit der Griesschen Übersetzung ist. Denn wer weiß, welche Form alles angenommen hätte und was aus „tanto rigor," „condicion ingrata" und „como a una fiera me cria" 11 geworden wäre, wenn er ohne deren Vermittlung direkt dem Calderonschen Spanisch gegenübergestanden hätte. Andere Änderungen gehen wohl auf den Wunsch zurück, Übertriebenes zu mildern, Unpassendes zurechtzustellen. So etwa Astolfs Worte: „Reicht sie ihre Hand ihm willig, / Ist's mein " Calderón, S. 52.
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Tod," 12 die ihm entschlüpfen, als Sigismund Estrellas Hand ergreift, um sie zu küssen. Bei Hofmannsthal entsteht daraus: „Eines tollen Rüpels Treiben. / Wenn es nur zu Ende ginge."13 Calderone Astolfo sagt bei dieser Gelegenheit bloß: „Soy perdido,"14 eine recht gelinde Äußerung, wenn man das natürliche Pathos der spanischen Sprache bedenkt, was eben der Übersetzer Gries nicht getan hat. Hofmannsthals Takt nimmt aber Anstoß und gleicht solche Bemerkungen der Gesamttemperatur seiner deutschsprachigen Fassung an. Auch hier handelt es sich also um die schon beobachtete Neigung Hofmannsthals: Gesagtes in Empfundenes, Gedachtes in Gesehenes, Verschrobenes in Einfaches, Unwahres in Glaubhaftes, Schrilles in Gedämpftes zu verwandeln. Nur auf einem Gebiet erlaubte er sich, die Intensität seiner Vorlage bedeutend zu steigern. Der deutschen Sprache behagt es nicht, und am wenigsten wohl ihrem spätösterreichischen Erben, wenn das Herz stets auf der Zunge sitzt. Dafür verlegt er dessen Innigkeit und tiefe Bewegung, wo immer er kann, in die Gebärde. Ich greife nur ein Beispiel unter vielen heraus. Als Clotald nach Sigismunds Versetzung ins Königsschloß auftritt, um dem Prinzen seine Aufwartung zu machen, und dieser an der Erscheinung seines Kerkermeisters erst begreift, daß er noch immer er selbst ist und dasselbe Leben weiterlebt, spricht er bei Gries die bitteren Worte der Erkennung bloß beiseite: Wie? Clotald, der mich zuvor Dort im Thurm so hart behandelt. Ganz in Ehrfurcht umgewandelt? Himmel, was geht mit mir vor?15
Hofmannsthal ändert nicht nur Reihenfolge und Wortlaut der Zeilen, um die Betroffenheit des Prinzen darzustellen: Himmel! was geht mit mir vor? Du, Clotald, denkst du den Turm?.. 12
Gries, S. 171. S. 161. 14 Calderón, S. 50. 15 Gries, S. 165. " S. 155. 18
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sondern aus dem „bey Seite" ist das bei weitem sprechendere und ergreifendere „birgt sein Gesicht" geworden. Damit haben wir aber die feine Trennungslinie bereits überschritten, durch welche die Übersetzung von der ursprünglichen Dichtung geschieden ist. Um zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen, müssen wir uns dem Text Calderons zuwenden. Wenn sich Übereinstimmung oder Verwandtschaft zweier Kunstwerke gezeigt hat, ist es verlockend, den Vergleich von diesen auf ihre Urheber und deren Situation auszudehnen. Im Falle von Calderón und Hofmannsthal erweist es sich, daß das Verbindende bis zu den äußeren Kulturmächten reicht, welche die beiden Dramatiker bestimmten: dem Katholizismus, der Monarchie, ja demselben Herrscherhaus. Bei diesem Unterfangen wird aber auch die Verschiedenheit, nicht bloß der Verfasser, sondern insbesondere der Stücke klar: bei aller Ähnlichkeit der Kulturen handelt es sich um einen Unterschied der Epochen; Dichter der Hochblüte und Spätling stehen sich gegenüber. Wie weit das Trennende Anteil der Zeiten oder der Persönlichkeiten ist,17 wird sich nicht immer mit Gewißheit feststellen lassen. Es empfiehlt sich daher, lediglich auf sein Vorhandensein hinzuweisen. Calderons Stück enthält einen einfachen Lehrsatz, eine Moral, die schon im Titel andeutungsweise ausgedrückt ist: Das Leben ist ein Traum.18 Die Probe, welcher Sigismund unterworfen wird, mißlingt, weil der Prinz die Wahrheit dieser Lehre noch nicht eingesehen hat, weil er die Nichtigkeit aller irdischen Dinge nicht kennt und als Spielball seiner Leidenschaften Handlungen begeht, die mit den Vorstellungen des Dich17 Biographische Vergleiche der beiden Dichter führen nicht weit, weil über Calderons Leben verhältnismäßig wenig bekannt ist. Marcelino Menéndez Pelayo beklagt sich darüber in seiner Einleitung zu Calderón y su teatro (Buenos Aires: Emecé, 1946), S. xx: „Poco sabemos de la vida de Calderón: achaque común en las biografías de nuestros mayores ingenios, máxime de los dramáticos." (Wir wissen wenig über Calderons Leben: ein gewöhnlicher Mangel in den Biographien unserer größten Geister, namentlich der dramatischen). Vgl. auch Kapitel II, S. 19ff. 18 Clemens Heselhaus, „Calderón und Hofmannsthal. Sinn und Form des theologischen Dramas," Archiv für das Studium der neueren Sprachen, Oktober 1954, S. 11, macht die Bemerkung, daß die Romantiker Calderón nicht verstanden hätten und daß die Übersetzung des Titels „La vida es sueño" als „Das Leben ein Traum" den wahren Sachverhalt verwische.
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ters von der Hoheit, Würde und Heiligkeit eines christlichen Herrschers unvereinbar sind. Erst die Tatsache, daß das was ihm als wirkliches Erlebnis schien, sich als bloßer Traum entpuppt, erweckt in Sigismund jene Nachdenklichkeit und Selbsterkenntnis, die eine allmähliche Läuterung — manchen Kritikern ist sie nicht allmählich genug — seines Wesens möglich machen, bis am Ende die Verwandlung des anfänglich wilden, tierisch triebhaften Sigismund in einen christlichen, moralisch hochstehenden Fürsten, dessen erste Sorge seinem Seelenheü gilt, vollkommen ist. Calderons Absicht war zweifellos symbolisch. Er trachtete, den Zuschauer davon zu überzeugen, daß jedermanns, nicht nur Sigismunds Leben ein Wahn, eine Illusion, ein Schatten und eine Einbildung sei.19 Aber seine Methode ist anders als die eines modernen symbolistischen Dramatikers. Bei Calderón findet sich nirgends eine Andeutung, daß es um anderes ginge als das Schicksal des gefangenen Polenprinzen. Die dramatischen Vorkommnisse werden vom Dichter ganz ernst genommen, das stete Licht der Eindeutigkeit liegt über allem ausgegossen. Die Lehre wird bloß durch das Prinzip der Analogie auf das Leben des Menschen überhaupt übertragen. Über den vielen im Text enthaltenen Gleichnissen wölbt sich das Drama als große, das Ganze umgreifende Parabel. Der Zuschauer soll sich sagen: Dies geht auch mich an. So ist das Leben. Im Einklang mit der Einfachheit der zugrundeliegenden Idee steht das übrige dramatische Gebäude von Charakteren und Geschehnissen. Die Personen außer Sigismund sind schattenhafte Wesen, die niemals ins Individuelle gehoben werden, die Ereignisse fallen in die Kategorie der schalen Intrige. Unrichtig ist jedoch die Annahme, daß die Nebenhandlung, die sich um die Gestalten Rosaura, Astolfo und Estrella abspielt, nichts mit der Hauptsache zu tun habe. Sie dient dazu, die entscheidende Erkenntnis von dem rein vorbereitenden Wesen des Lebens zu stützen und zu erweitern. Daß am Ende Sigismund nicht Rosaura heiratet, die ihn ungemein n
Calderón, S. 77: „¿Qué es la vida? Un frenesí: ¿Qué es la vida? Una ilusión, Una sombra, una ficción . . . (Was ist das Leben? Eine Raserei: Was ist das Leben? Eine Illusion, Ein Schatten, eine Einbildung . . . )
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anzieht, sondern Estrella, die sich ihrerseits wohl viel lieber mit Astolfo verbunden hätte, geschieht gewiß deshalb, weil Astolfo Rosaura die Ehe versprochen hat. Auch hier sollen die Begierden und Leidenschaften des Menschen den heiligen Begriffen wie Ehre, Worthalten, Treue untergeordnet werden.20 Der Spaßmacher darin allerdings mit seinen respektlosen Witzen und seiner materiellen Einstellung soll wohl bloß einer Anforderung des damaligen Geschmacks Genüge leisten, organisch mit der Handlung ist er nicht verwoben.21 All dies hat man dem Dichter zum Vorwurf gemacht, während es doch in Wirklichkeit nur den Kern des Stückes unterstreicht. Es kommt eben in erster Linie auf Sigismund an, durch dessen Schicksal die These bewiesen werden soll: das Leben ist ein Traum. Alles andere wird dieser Idee untergeordnet. Die Betonimg neuer Gegenstände würde nur das Augenmerk von dem allein Wichtigen ablenken. Der einzige Schmuck, den Calderón sich erlauben zu dürfen meinte, ohne dem Grundgedanken zu schaden, ist die Ornamentierung der Sprache, und von diesem Mittel hat er ausgiebigen Gebrauch gemacht. Das Stück ist teils in gereimten, teils in assonierenden Versen geschrieben und enthält nicht weniger als sechs metrische Anordnungen, nämlich die Romance, Redondilla, Quintilla, Decima, Silva und Octava. Und noch weiter erstreckt sich der verschwenderische Reichtum der sprachlichen Gestaltungen, bis in die Wortwahl, bis ins Bildliche. Selten begnügt sich Calderón mit einem Vergleich. Drei bis vier parallel laufende Gleichnisse sind das Gebräuchliche. In seiner großen Klagerede im ersten Akt vergleicht sich Sigismund mit einem Vogel. Er spricht von dessen Schönheit, den Federn, den Flügeln, der Geschwindigkeit, mit der er die Lüfte durchschneidet. Der Gegensatz zwischen diesem beschwingten Geschöpf und Sigismunds gekettetem Zustand wird offenkundig. Ihn dem Zuschauer dermaßen klar zu machen, ist Sigismunds gutes dramatisches 20 Man kann höchstens feststellen, daß, ähnlich wie etwa in Gellerts Schwedischer Gräfin, die konstruierten, moralischen Situationen das Gegenteil des beabsichtigten Zweckes erreichen: auf den modernen Leser wirken sie ausgeklügelt, unnatürlich und daher unsittlich. 21 Seinesgleichen fehlt in fast keiner großen dichterischen Gestaltung jener Epoche, Sancho Panza ist sein bekanntester Vetter.
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Recht, zumal er sich ja mit dieser Rede als mitspielende Person erst einführt. Und auch die Frage, mit der er den Vergleich abschließt: „¿Y teniendo yo mas alma, / Tengo menos libertad?" (Und ich, der ich mehr Seele habe, soll weniger Freiheit haben?)22 ist, wenn sie auch das Offensichtliche fragt, dennoch sinnvoll durch das Pathos der Anklage, das sich darin ausdrückt. Das ist aber erst der Beginn. Nun wird das Bild beiseitegelegt und ein zweites hervorgeholt. Ein Raubtier wird ausgemalt mit seinem schöngefleckten Fell und seiner grausamen Natur. Und schließlich ertönt wieder der leicht abgewandelte Ausruf: „¿Y yo con mejor instinto / Tengo menos libertad?" (Und ich mit meiner besseren Anlage habe weniger Freiheit?).28 Es folgt nun noch die Beschreibung eines Fisches und eines Baches und zum Schluß jedesmal die schon wie ein Refrain klingende Frage: „¿Y yo con más albedrío — ¿Y teniendo yo más vida / Tengo menos libertad?" (Und ich mit größerer Willensfreiheit — Und ich mit mehr Leben habe weniger Freiheit?).24 Die drei Bilder, die nach dem Vogel beschworen werden, haben höchstens eine philosophische, aber keine dramatische Funktion mehr, sie sind um ihrer selbst willen da. Und so ist es mit allen diesen Duplikationen und Triplikationen, die nicht immer so ausgedehnt sein müssen wie in der zitierten Rede. „Pajaro sin matiz, pez sin escama, / Y bruto sin instinto natural . . . te desbocas, arrastras y despeñas" (Vogel ohne Farbe, Fisch ohne Schuppe und Bestie ohne natürlichen Instinkt . . . du gehst durch, reißt dich fort, stürzest dich hinab);25 „Tu voz pudo enternecerme, / Tu presencia suspenderme / Y tu respeto turbarme" (Deiner Stimme gelang es, mich zu rühren, deiner Gegenwart, mich zu erstaunen, und deiner Rücksicht, mich zu verwirren):26 wir müssen es bei diesen wenigen Beispielen bewenden lassen. Eine Lektüre Calderone zeigt auf Schritt und Tritt den unwiderstehlichen Kitzel, den der Dichter bei jedem Adjektiv, jedem Verbum empfunden haben muß, das Wort in einem anderen zu spiegeln, zu ergänzen, zu nuancieren. Giosuè Carducci macht sich über diese Manier lustig: „E sempre il solito vizio del Calderón: una imagine non gli 22
Calderón, S. 7. S. 8. M S. 8. » S. 3. *> S. 9.
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basta: la prima no fa che mettergli appetito: Come ciliege, l'una tira l'altra: e via per una pagina almeno, come processioni di fraterie per le strade di Madrid."27 Der italienische Kritiker hat dem Buchstaben nach Recht, dem Geist nach aber Unrecht. Denn auf dramatische Wahrscheinlichkeit kommt es ja Calderón längst nicht mehr an. Er will seine Fabel bloß mit all dem Glanz, all dem blendenden Schmuck ausstatten, den er in der schier unerschöpflichen Schatzkammer seiner Sprachkunst aufbewahrt. Dem selben Gesetze gehorchen die vielen hübschen Wortspiele (z.B. „Y apenas llega, . . . llega a penas." 28 Unübersetzbar wegen der Doppelbedeutung „apenas" — kaum und „a penas" — zu Kummer, bei gleichem Klang); die weisen Sprüche („Que tanto gusto habia / En quejarse, / Un filosofo decía, / Que, a trueco de quejarse, / Habían las desdichas de buscarse."29 Soviel Vergnügen läge im Klagen, sagte ein Philosoph, daß man um des Klagens willen das Mißgeschick aufsuchen solle); die frechen Witze der lustigen Person („Que me harán por lo que ignoro, / Si por lo que sé me han muerto?"30 Weil er Geheimnisse weiß, wird darin in den Turm gesteckt; daher fragt er sich: Was wird man mir tun für das, was ich nicht weiß, wenn man mich für das, was ich weiß, ins Verderben stürzt?); das holde Spiel mit dem Namen („¿Quien crérá, que habiendo sido / Una estrella quien conforma / Dos amantes; sea una Estrella / La que los divida ahora?" 31 Wer sollte glauben, daß nachdem ein Stern die Liebenden zusammengebracht hat, nun ein Stern, bzw. eine Estrella sie trennen würde?). Manchmal steigert sich dieses Vexierspiel mit den Wörtern zu einer Art Verbissenheit, die sich in immer neuen Kapriolen überschlägt und von keiner Zweckmäßigkeit mehr weiß: Ojos hidrópicos creo 27 Conversazioni critiche (Rom, 1884), S. 93-94. (Es ist immer die gewohnte Unart bei Calderón: ein Bild genügt ihm nicht: das erste macht ihm bloß Appetit auf mehr: wie die Kirschen hängt eins am andern: so geht es mindestens eine Seite lang, wie die Aufzüge der Ordensbrüder in den Straßen von Madrid). 28 Calderón, S. 4. 28 S. 4. 30 S. 78. « S. 99.
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Que mis ojos deben ser; Pues cuando es muerte el beber, Beben más, y desta suerte, Viendo que el ver me da muerte, Estoy muriendo por ver. Pero véate yo y muera; Que no sé, rendido ya, Si el verte muerte me da, El no verte que me diera.32
(Ich muß wohl wassersüchtige Augen haben, denn wenn Trinken Tod ist, trinken sie mehr, und obwohl ich sehe, daß mir Sehen den Tod bringt, sterbe d.h. verzehre ich mich auf diese Weise nach dem Sehen. Aber mag ich dich sehen und sterben; denn erschöpft wie ich bin, weiß ich nicht, was es mir brächte, dich nicht zu sehen, wenn dich sehen mir schon den Tod bringt). Es bleibt dem zungenfertigen darin überlassen, die Meinung hinter dieser Wortgewandtheit auszusprechen: Rosaura zu ihrem Vater: Tus pies beso Mil veces. Clarín: Y yo los viso, Que una letra más o menos No reparan dos amigos.33 (Rosaura:
Ich küsse deine Füße tausendmal.
Clarín:
Und ich nehme sie aufs Korn, denn auf einen Buchstaben mehr oder weniger kommt es zwei Freunden nicht an.)
Clarín hat Recht. „Beso" und „viso" unterschieden sich eigentlich nur durch einen Buchstaben, da „b" und „v" ziemlich den gleichen Lautwert haben). Natürlich behagt Clarins frechem, selbstischem, bequemem Wesen eine Reverenz wie die von Rosaura vorgeschlagene nur wenig. Er erreicht daher durch sein Wortspiel eine seinem Charakter angemessene Haltung. Mit seiner Erklärung trifft er aber den Kern von Calderons Wortkunst: auf einen Buchstaben mehr oder »2 S. 10-11. » S. 32.
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weniger kommt es nicht sonderlich an, nicht einmal auf eine Zeile, ja kaum auf eine Seite. Wie wenig dramatische Bühnenwirkung gilt, zeigen auch die endlosen Monologe, welche die Personen für sich oder in Gegenwart anderer halten; und man weiß nicht, ob es unfreiwillige Komik oder kluge Selbstironie ist, die Calderón veranlagte, Rosaura ausrufen zu lassen, nachdem Sigismund eine Rede von zweiundsiebzig Zeilen vom Stapel gelassen hat und sich nun anschickt, seiner Wege zu gehen: ¿Señor! pues así te ausentas? ¿Pues ni una palabra sola No te debe mi cuidado, Ni merece mi congoja?"34 (Herr! So entfernst du dich denn? Nicht ein Wort ist dir also die Sorge um mich wert, noch verdient ein solches mein Kummer?)
Kein Wunder, daß diese Methode nicht die geringste Spannung des Dialogs erzeugt und daß sich auch die schärfsten Gegner nur die Stichwörter geben, mittels derer der über bloße menschliche Psychologie erhabene Fluß der Rede in ständigem Gang erhalten wird. Nicht umsonst hat man La vida es sueño eine dramatisierte Novelle genannt. Das erstaunlichste Beispiel für die glänzende Harmonie, die Calderons Sprache über dem dramatischen Geschehen und sogar gegen dasselbe erzielt, findet sich im ersten Akt in einer Szene des „Ducheinanderredens." Der König naht, und Astolfo und Estrella unterbrechen ihre Unterredung, um ihn zu begrüßen. Estrella: Astolfo: Estrella: Astolfo: Estrella: Astolfo: Estrella: « S. 104.
Sabio Tales . . . Docto Euclidee . . . Que entre signos... Que entre estrellas . . . Hoy gobiernas... Hoy resides... Y sus caminos . . .
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Astolfo: Sus huellas... Estrella: Describes... Astolfo: Tasas y mides... Estrella: Deja que en humildes lazos... Astolfo: Deja que en tiernos abrazos... Estrella: Hiedra dese tronco sea. Astolfo: Rendido a tus pies me vea.85 (E: E: A: E: E: E: E: A: E: A:
Weiser Thaies... A: Gelehrter Euklid... Der du unter Zeichen... Der Du unter Sternen... Heute regierst... A: Heute residierst... Und ihre Bahnen... A: Ihre Spuren... Beschreibst... A: Wägst und mißt... Erlaube, daß ich in bescheidenen Umschlingungen . . . Erlaube, daß ich mit zärtlichen Umarmungen... Der Efeu dieses Stammes sei. Dir zu Füßen mich werfe.)
Aber o Wunder! Die Worte, die jeder einzeln, ohne auf den anderen auch nur zu achten, ja gleichzeitig mit ihm, in Ehrerbietung und Huldigung zu seinem König spricht, sind herrlich aufeinander abgestimmt, sind bis ins Gleichgewicht der Silben, der Satzglieder und der Klangfarbe der Vokale makellos gereimte Halb- und Ganzzeilen, sind in perfekter Synonymik angelegte Lobeserhebungen mit den gleichen astronomisch-mathematischen Bildern. Was sich der dramatischen Situation nach als spontane Äußerung verschiedener Einzelstimmen gibt, ist vom Sprachlichen her in den wohllautendsten Zusammenklang einer Symphonie erhoben. Diese Stelle ist symptomatisch für das gesamte Verhältnis von Sache und Sprache bei Calderón. Will man eine geistesgeschichtliche Deutung wagen, so könnte man das Drama folgendermaßen auslegen: Im Augenblick, da Macht und Glorie eines Weltreiches den Höhepunkt erreicht, ja bereits ein wenig überschritten haben, ruft der anerkannt größte Dichter88 seinem Zeitalter ein Warnungswort entgegen und stützt sich dabei auf die Lehre der offiziellen, aber nicht genügend be35
s. 22-23. »· Calderón wurde nach dem Tode Lope de Vegas (1635) formell zum Hofpoeten bestellt.
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herzigten Religion: Glanz und Größe dieser Welt sind nichtig, Triumphe von Gültigkeit gibt es allein im Bereiche der Seele. Aber eine solch kritische Mahnung muß der verwöhnten und verfeinerten Hofgesellschaft in eine reizende Hülle eingekleidet werden, um mundgerecht zu sein. Daher der scheinbare Widersprach zwischen der „besinnlichen", beinahe asketischen Tendenz und der prunkvollen Gestalt des Schauspiels. Das Ganze erinnert etwa an eine barocke Kirche. Es bleibe dabei dahingestellt, wie weit es sich auf Calderone Seite um kluge Konzession und wie weit um Ansteckung durch den Zeitgeist handelt. Am richtigsten ist wohl die Annahme, daß Calderón seiner Natur gefolgt ist und daß eben dieser Widerspruch zu den bezeichnendsten Wesensmerkmalen der ganzen Epoche gehört. Von diesem Gesichtspunkt aus findet sich vielleicht auch eine Rechtfertigung für den Gracioso Clarín. Er kann als symbolische Verkörperung von Calderone zeitgenössischer Welt angesehen werden. Heiter, witzig, nur um sein eigenes leibliches Wohl bekümmert, scheint er sich eine Zeitlang erfolgreich durchzuschlagen und dabei recht gut zu befinden. Aber am Ende ereilt ihn dennoch das Schicksal, was um so erstaunlicher ist, als es der gesamten Tradition der spanischen Graciosos widerspricht, die alle ein glückliches Ende nehmen. Auf der Suche nach körperlicher Sicherheit geht darin zugrunde: Soy un hombre desdichado, Que por quererme guardar De le muerte, la busqué.87 (Ich bin ein unglücklicher Mensch, der den Tod fand, weü er sich vor ihm bewahren wollte).
Dies ist das Schicksal, das Calderón seinem Lande vorauszusagen scheint. Warum? Pues no hay seguro camino A la fuerza del destino Y a la inclemencia del hado.38 *> S. 107. »o S. 108.
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(Denn es gibt keinen sicheren Pfad vor der Gewalt des Schicksals, vor der Ungunst des Verhängnisses.)
„Symbolik der Situation" und „integrierende Phantasie": diese Ausdrücke entstammen dem kritischen Wortschatz Ernst Robert Curtius' und sollen die Wechselbeziehungen zwischen Calderón und Hofmannsthal kennzeichnen.39 Das eine will besagen, daß es eine grundlegende künstlerische Orientierung war, die Hofmannsthal zu Calderón gezogen, das andere deutet auf die Art der Verwendung des überlieferten Kulturguts durch den modernen Dichter. Symbolisch sind allerdings schon viele Situationen bei Calderón, selbst solche, deren Symbolisierung man erst Hofmannsthal zugeschrieben hat. Wenn nämlich Sigismund gleich zu Anfang sagt: „ . . . yo aqui / Tan poco del mundo sé, / Que cuna y sepulcro fué / Esta torre para mi" 40 (von der Welt weiß ich hier so wenig, daß mir dieser Turm Wiege und Grab war), dann wird der Turm in einen geistigen Zusammenhang gebracht, der es nicht mehr erlaubt, in ihm das an sich belanglose Gefängnis des Prinzen zu sehen. In der Verknüpfung mit den bedeutsamen Stationen des Menschenlebens wird er zu einer Form der Existenz, die bereits dem vorbaut, was Hofmannsthal später daraus gemacht hat, als er den Turm ins Zentrum seines Dramas versetzte. Aber noch mehr: die Häufung solcher symbolischer Situationen ist wohl der Grund dafür, daß die Spanier das ganze Stück als symbolisch für die Problematik und das Schicksal der abendländischen Menschheit ansehen und es mit Stolz als einen der großen Kunstmythen darstellen, deren „uno solo bastaría a la inmortalidad de una civilización, y nosotros produjimos tres de los cinco de que puede gloriarse la Edad Moderna: Don Quijote, Don Juan, Segismundo . . . " 4 1 (einer schon genügen würde, eine Zivilisation unsterblich zu machen; und wir schufen drei von den fünf, 89 „George, Hofmannsthal und Calderón," in Kritische Essays zur europäischen Literatur (Bern: Francke, 1950), S. 185 und S. 193. Der Ausdruck „Symbolik der Situation" stammt eigentlich von Hofmannsthal selbst, aber Curtius hat ihm den kritischen Inhalt gegeben. 40 Calderón, S. 9. 41 Blanca de los Rios de Lampérez, „La vida es sueño" y los diez Segismundos de Calderón (Madrid: Blass, S.A. tip., 1926), S. 5. Die beiden anderen von der Autorin genannten Mythen sind Hamlet und Faust.
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deren sich die Neuzeit rühmen kann). Wie sehr Calderón selbst seinen Segismundo als Parabel ansah, geht daraus hervor, daß er noch eines seiner späten geistlichen Spiele La vida es sueño nannte, in welchem es nach der Art dieser Fronleichnamsspiele in kosmischer Umrahmung nur mehr um das Seelenheil des Menschen geht. Mit dem Begriff der integrierenden Phantasie versucht Curtius die besondere Schaffensweise Hugo von Hofmannsthals zu kennzeichnen als „Einsicht, daß alle geformten Gehalte des Geistes ihrerseits wieder Stoff für eine Gestaltung werden können."42 Mit Recht wendet er sich gegen jene Unverständigen, die solches Dichten „verächtlich als Neubearbeitung älterer Stoffe abzutun" pflegen.43 Curtius hätte darauf hinweisen können, daß derlei Angriffe schon deswegen jeder Gerechtfertigung entbehren, weil ja bereits Calderón mit jener „integrierenden Phantasie" begabt war, als einer der Alchimisten, in deren Geist „ererbte Kulturgüter und Kunstformen eingeschmolzen, umgewandelt und zu neuem, höherem Leben emporgeführt" werden.44 Daß die Idee des Königstums für einen Tag den Geschichten aus 1001 Nacht entnommen ist, dürfte jedem Märchenleser geläufig sein. Im übrigen sei nur auf die Bücher von Arturo Farinelli, La vita e un sogno45 und Felix G. Olmedo, Las Fuentes de „La vida es sueño"48 hingewiesen, in denen der Schatz literarischer Überlieferungen aufgedeckt wird, aus dem Calderón seine Inspiration gezogen hat. Hätte Calderón in einer Zeit gelebt, in der man über geistigen Besitz so eifersüchtig wachte wie in der unsrigen, so hätte er mit Hofmannsthals Worten, die Das Salzburger Große Welttheater einleiten, ausrufen können, er habe nur „Metaphern" entlehnt, die „zu dem Schatz von Mythen und Allegorien" gehören, welche frühere Zeiten „ausgeformt und den späteren Jahrhunderten Übermacht" haben. Es scheint, als gäbe es bloß eine beschränkte Anzahl von fruchtbaren Motiven und großen Sinnbildern, und daß es die Aufgabe der Kunst ist, diese Grundformen ewig abzuwandeln. Diesen Prozeß der Einschmelzung in einem besonders faszi42
Curtius, S. 186. « Ebda. « Ebda. 45 Torino, 1916. 4 · Madrid, 1928.
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nierenden Augenblick zu beobachten, gestattet uns Hofmannsthals Bearbeitung in Trochäen Das Leben ein Traum. Selbst die vielen wörtlichen Entsprechungen zu einer älteren Übersetzung van La vida es sueño können nicht darüber hinwegtäuschen, daß schon in dieser frühen Fassung Ansätze zu einer radikalen Umgestaltung vorhanden sind. Verschwunden sind die ausgedehnten Monologe, abgebrochen die spannungslosen Zwiesprachen, die bei Calderón die Personen aneinander vorbeihalten. In kurzer, dramatischer Hin- und Widerrede spinnt sich die Handlung eilends ab. Keine klugen Sentenzen, keine sinnigen Wortspiele zieren mehr die Verse. Auch die Bildlichkeit dient nicht mehr der rhetorischen Prachtentfaltung, sondern wird konkreter, sachgebundener. Gänzlich unterdrückt sind die Witzeleien, denen nicht nur Clarín, sondern auch die anderen Gestalten huldigten. Überhaupt hat sich mit dem Possenreißer etwas Sonderbares begeben: aus dem vor Ubermut schäumenden Schalk, der in jeder Lage seinen Vorteil gewahr wurde, ist ein ängstlicher alter Diener geworden. Die Handlung um Rosaura erscheint stark reduziert, diejenige um Astolf und Estrella völlig aufgegeben. Letztere erscheint als „Prinzessin" nur in einem einzigen Auftritt mit untergeordneter Aufgabe, Namen trägt sie keinen mehr. Astolf behält zwar den seinen, aber seine Mitwirkung ist auf dreiundvierzig Zeilen beschränkt (verglichen mit den über zweihundert Zeilen bei Calderón). Die Gesamtwirkung aller dieser Veränderungen ist die einer Konzentrierung auf das Wesentliche, ist dramatische Spannung, Realismus. Nicht alles aber ist Einschränkung. Hofmannsthal hat sich nicht gescheut, wo immer dies seinen Absichten förderlich war, auch hinzuzufügen. Neue Figuren treten auf, die Psychologie ist an vielen Stellen vertieft, es läßt sich eine Häufung des Unheimlichen und Ominösen beobachten. Schon lassen sich jene besonderen Züge erkennen, die das spätere Turmdrama auszeichnen: Vielschichtigkeit, Perspektivismus, Unergründlichkeit. Die stummen Soldaten Calderone, lediglich ausführende Organe, bekommen die Rede und werden Menschen. Ja, der spätere Olivier, die Verkörperung der reinen Gewalt oder wie er sich selbst nennt: die Keule in der Hand der Fatalität, ist in einem von ihnen schon unverkennbar vorgebildet. Der König beginnt bereits jetzt, jene Aspekte von Niedrigkeit zu zeigen, die ihn geeignet machen, vom würdigen
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Herrscher in der Legitimität, der er bei dem Spanier war, zum Vertreter der abgewirtschafteten und korrupten Staatsgewalt zu werden, der das Getöse des ausbrechenden Volksaufstandes in seinem Eigendünkel für Ovationen hält. In der Welt Calderone ist das Königtum heilig, die Monarchie gottgewollt, und eine feste Ordnung umfaßt das Universum, durch nichts, was Menschen unternehmen können, verrückbar. Die Gesellschaft ist ein homogenes oder doch zumindest hierarchisches Ganzes, in welchem tiefgreifende Umschichtungen nicht einmal als Möglichkeit ins Auge gefaßt sind. Denn Calderone Geschichtsauffassung ist statisch. Wo Recht und Unrecht berührt werden, haben sie eine jenseitige Ausrichtung, und Lohn und Strafe sind nicht allein von dieser Welt. Man weiß, wie in den späteren Turmdichtungen das Gegenteil von all dem zutrifft. Durch die Abwertung der Königsfigur hat ihm Hofmannsthal schon im Trochäendrama vorgearbeitet. Clotald, bei Calderón Sinnbild unerschütterlicher Vasallentreue bis zur Selbstverleugnung, wird schon als der vom Dämon der Machtgier Besessene gezeigt, der den allgemeinen Aufruhr schürt und bei dem alle Fäden des politischen Geschickes zusammenlaufen. Calderone Spinnen und Mäuse, deren einmalige Erwähnimg der näheren Charakterisierung von Sigismunds Kerker dienen soll, werden in der Trochäenfassung schon zu der Vielfalt von widerwärtigen Getier, zu dem der Prinz nicht mehr eine bloß äußerliche Beziehung hat. La vida es sueño is eine dreiaktige „comedia". So wurden zur Zeit Calderone alle weltlichen Theaterstücke genannt, unabhängig von ihrem Ausgang; die geistlichen heißen „autos sacramentales." Aber auch nach heutigen Begriffen ist das Stück mit seinen lustigen Partien und seinem glücklichen Ende eine Komödie. Hofmannsthals Turm von 1925 und gar die Bühnenfassung von 1927 sind Trauerspiele. Im Grunde handelt ee eich noch immer um deneelben Vorgang: die alten unveränderlichen Erkenntnisse der Weisheit werden dem wechselvollen Treiben des Tages entgegengehalten. Aber es ist nicht der gleiche Tag, und was auf der Höhe der epamechen Kultur als halb scherzhafte, fast unverbindliche Warnung in spielerischen Versfiguren vorgetragen werden konnte,' bekommt im Zeitalter des Verfalls ein anderes Antlitz. Vers und Reim sind verschwunden, angesichts der äußersten
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Bedrohung ist kein Platz für Ornamente. War das hervorragendste Merkmal in Calderone Stück die klare Eindeutigkeit des Vorsatzes, der in vier Worten ausgesprochen werden konnte, so gilt das Gegenteil von Hofmannsthals Trauerspiel, das ja auch nicht mehr einen sentenziösen, sondern einen symbolischen Titel trägt: schillernd, vielschichtig, kompliziert steht es da, ein Rätsel wie das moderne Leben, das es porträtiert, und wie dieses nicht völlig erklärbar. Bezeichnend ist es für das spanische Stück, daß der Anführer der aufständischen Soldaten, die Sigismund befreit haben, am Ende vom Prinzen selbst lebenslänglich in den Turm verbannt wird: „Que el traidor no es menester / Siendo la traición pasada." 47 (Denn des Verräters bedarf es nach vollbrachtem Verrat nicht mehr). Das klingt modernen Ohren zynisch, ist aber nur die Anerkennung einer höheren Gesetzlichkeit, die sich zu ihrem Zwecken des menschlichen Trachtens bedient, ohne ihm jedoch verpflichtet zu werden. So kommt es, daß jener Soldat, Instrument göttlicher Gerechtigkeit, als einziger von der Verzeihung ausgeschlossen bleibt, die in den letzten Worten des Stückes gefordert wird: „Pidiendo de nuestras faltas / Perdón, pues de pechos nobles / Es tan propio el perdonarlas"48 (Und so bitten wir um Vergebung für unsere Schuld; ist doch das Verzeihen edlen Herzen so angemessen). Fast ist man versucht zu sagen, es sei kein Wunder, daß in Hofmannsthals Tragödie dieser nun übermächtig gewordene Aufrührer keinen Pardon für den ihm ausgelieferten Sigismund hat und ihn einfach abknallen läßt. In La vida es sueño steht Prinz Sigismund am Ende da, seine milden Worte sind die letzten, die wir hören, und sie verhallen, während der fallende Vorhang ein weises, versöhnliches Regiment verhüllt, das Zeugnis von seiner geläuterten Geistigkeit geben wird. In der letzten Fassung des Turms liegt Sigismund sterbend auf dem Boden, während draußen Verbrechen und Revolution toben, und zugleich mit seiner Seele haucht er die Worte aus: „Gebt Zeugnis, ich war da, wenngleich mich niemand gekannt hat." 49 Wie es in drei sich verdüsternden dramatischen Versuchen zu dieser Vernichtung des geistigen Menschen gekommen ist, hat man « Calderón, S. 115. 48 S. 115. 4 » Der Turm. Ein Trauerspiel, Dramen, TV (Berlin: S. Fischer, 1958), S. 463.
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zu oft erzählt,60 als daß es hier noch einmal geschehen könnte. Unsere Aufgabe war bloß zu zeigen, wie sich Hofmannsthals Fragment in Trophäen von seinem spanischen Urbild loslöste und den Weg zur Zeittragödie antrat. Hofmannsthal hat diese Bearbeitung abgebrochen und anderthalb Jahrzehnte ruhen lassen. Als er sie wieder aufnahm, hatte der erste Weltkrieg nicht nur Hofmannsthals Heimat zutiefst erschüttert, sondern die totale Bedrohung des europäischen Geistes allgemein sichtbar gemacht. Erst jetzt fühlte sich der Dichter den unheimlichen Möglichkeiten in seinem Fragment gewachsen. Aber darauf angelegt war von ihm schon alles im Jahre 1901. Bloß hatte wohl die heroische Hochstimmung der Trochäen nicht mehr recht zu dem grausigen Weltbild gepaßt, das sich in ihm zu entfalten begann.
50 A m eindringlichsten vielleicht von Grete Schaeder, „Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie," in Deutsche Vierteljahrschrift, Bd. ΧΧΙΠ (1949), Heft 2/3, S. 306-350. Vgl. auch Wüliam H. Rey, „Tragik und Verklärung des Geistes in Hofmannsthals ,Der Turm,'" in Euphorien, XLVII, (1953).
VI FRAGMENTARISCHES
Der Vollständigkeit halber muß, wenn von Hofmannsthal und Calderón die Rede ist, noch eine Art der Beschäftigung erwähnt werden, die den österreichischen an den spanischen Dichter knüpft: die auf Calderón fußenden Fragmente und Entwürfe zu dramatischen Werken, die nie vollendet wurden. Diese fragmentarischen Aufzeichnungen sind von großem Interesse für den HofmannsthalForscher. Sie zeigen den Dichter an der Arbeit. Sie gewähren Einblick in die Geheimnisse seiner Werkstatt, die am fertigen Erzeugnis längst geglättet und unkenntlich gemacht sind. Aber sie sind keine Kunstwerke. In ihnen vermischen sich dialogische Bruchstücke mit ebenso bruchstückartigen Angaben der Handlung, Aphoristisches mit Beschreibungen des Milieus und der Personen, Charakterskizzen mit philosophischen oder religiösen Gedanken des Autors, Bemerkungen, die später zu Bühnenanweisungen, und solche, die wahrscheinlich nie in das ausgeführte Werk aufgenommen worden wären. Nur eines ist allen diesen hingeworfenen Splittern einer überströmenden poetischen Phantasie gemeinsam: ein Element des Ungewissen, Unverbindlichen, Unzusammenhängenden. Ob sie sich wiederholen oder widersprechen, ob sie auf den ersten Blick verständlich sind oder sich auch nach langem Nachdenken jeder Mutmaßung verschließen, man kann aus ihnen nicht des Dichters „Absichten" rekonstruieren, denn gerade ihr Vorhandensein deutet auf eine Lücke in Hofmannsthals Schaffen, sie selbst sind der Grund, warum er sich nicht zur Verwirklichung seiner Absichten entschließen konnte. Am deutlichsten wird dieser „präexistenzielle" Charakter der dramatischen Fragmente am La-vida-es-sueño-Stoff, wo ein solches Bruchstück gleichsam den Raum zwischen zwei Schaffensperioden einnimmt. Die erste Fassimg in Trochäen bricht mit dem Jahre 1902 ab. Darauf folgen die von 1902 bis 1904 entstandenen Fragmente zur Umgestaltung und Fortsetzung des nichtvollendeten Stückes. Aus diesem Plane wurde nichts. Als aber von 1916 an
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der Stoff wieder aufgenommen wurde, zeigt sich, daß Hofmannsthal keineswegs seinen eigenen Aufzeichnungen folgte — sonst hätte er sich wohl seinerzeit nicht entschlossen, diese Notizen dem Druck zu übergeben — sondern er gestaltet das Werk gemäß seinen gewandelten künstlerischen und weltanschaulichen Bedürfnissen. Das Resultat sind die zwei Fassungen des Turms. Zwischen diesen und dem ersten Versuch in Trochäen besitzen wir also die gewissermaßen in der Luft schwebenden fragmentarischen Aufzeichnungen, die niemals zum Kunstwerk gediehen sind und schon durch ihr bloßes Vorhandensein darauf hindeuten, daß sie zu einem gewissen Zeitpunkt von ihrem Ersinner aufgegeben wurden. Diese Aufzeichnungen zu Das Leben ein Traum sind in ihrer Art charakteristisch. Unzusammenhängende Einfälle, Blitze der Phantasie herrschen vor. An einer Stelle ist z.B. von einem reisenden Kaufmanne die Rede, der im fünften Akt durch eine verirrte Kugel sterben soll. Nie vorher gab es auch nur einen Schatten dieser Figur, nie wird sie wieder aufgegriffen, geschweige denn in die Turm-Dichtung aufgenommen. Aller Voraussicht nach wird nie jemand wissen, was für einen Zweck Hofmannsthal mit diesem Motiv verfolgte, in welchem Zusammenhang der Einfall steht. Daß jemand durch eine verirrte Kugel stirbt, ist freilich ein Calderonscher Gedanke, es ist das vom spanischen Dramatiker mit meisterhafter Ironie gestaltete Schicksal Clarins. Dies aber ist der einzige Anhaltspunkt, den wir zu Hofmannsthals Notiz besitzen. Neben solchen schwer einzureihenden Bemerkungen sind wieder andere, die nicht das Geschehen, sondern den Geist des Ganzen betreffen und wertvolle Gesichtspunkte zur Interpretation hergeben können, wie z.B. die folgende: „Eine Idee, die ,Das Leben ein Traum' erfüllt, ist die der wirkenden Kraft der Leidenschaften, Illusionen, Qualen, aller Dämonen, deren Gesamtheit den Begriff ,Karma' ausmacht."1 Hofmannsthals Anmerkungen zu Das Leben ein Traum durchmessen noch einmal die vorgesehenen fünf Akte. Vieles darin ist genau so wie es in den Trochäen schon gestaltet war, mehr aber ist ganz neu wie z.B. die beiden Brüder Miecislav und Andalosia (dieser Name ist aus einem anderen dramatischen Fragment her1
Dramen, III, hrsg. von Herbert Steiner (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1957), S. 426.
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FRAGMENTARISCHES 2
übergenommen: „Die Söhne des Fortunatas"), die Sigismund plötzlich als Spiegelungen bzw. Antithesen seines Wesens zugesellt bekommt. Uberhaupt wimmeln diese Aufzeichnungen von Gestalten, Geschehnissen, Situationen und Symbolen, so daß die Frage berechtigt ist, ob all dies selbst unter den günstigsten Schaffensbedingungen im Rahmen eines gangbaren Bühnenwerks Platz gefunden hätte oder auch nur vom Dichter dazu bestimmt war. Man bekommt im Gegenteil den Eindruck, daß hier eine dichterische Phantasie assoziativ tätig war, die ohne die hemmende, formende Strenge des Gestaltens alles, was sie sich selbst vorgaukelte, einen Augenblick lang festhielt. Diese sprudelnden Produkte einer reichen Einbildungskraft sind dann durch einen für uns Spätere günstigen Zufall für immer aufbewahrt worden. Neben manchen unverbindlichen Zügen findet sich dann aber zu unserer Überraschung auch wieder einer, der von der größten Tragweite für die weitere Entwicklung des Dramas ist, wie z.B. die Vernichtung Sigismunds, die hier schon zu so früher Zeit in Aussicht genommen erscheint. Man erinnert sich, daß in der ersten großen Turmfassung Sigismund zwar im „Zauberkampf" mit der Zigeunerin unterliegt und vergiftet stirbt. Aber dies geschieht erst, nachdem die Mächte des Bösen, das Olivierische in der Welt vernichtet wurde, und noch vor seinem Verscheiden ist es Sigismund vergönnt, den Kinderkönig an sein Sterbelager treten zu sehen, der reiner als er und unbefleckt durch die Tat ein Friedensregiment aufzurichten im Begriffe ist, in dem sich Sigismunds innigste Träume verwirklichen sollen. Hier ist man noch weit entfernt von der unerbittlichen Tragik der letzten Fassung, wo Sigismund von Olivier, dem es gelungen ist, die Herrschaft an sich zu reißen, brutal beiseitegeräumt wird, während draußen ein falscher Sigismund das gläubige Volk durch seine bloße Gegenwart betört und für Oliviers Zwecke gefügig macht. Diese Lösung hat Olivier angeordnet, nachdem es ihm in einer Unterredung mit dem echten Sigismund klar geworden, daß dieser für seine Zwecke nicht „verwendbar" ist. Nun, diese allerspäteste, 1927 erst ergriffene Wendung, die in engstem Zusammenhang steht mit Hofmannsthals tragischer Verzweiflung an der Zeit, ist in diesem frühen Entwurf mit scharfer Deutlichkeit vorgezeichnet. „Sigismunds unbegreif2
Dramen, II (1954), S. 506.
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liches Betragen," heißt es hier bereits, „sein scheinbarer Wahnsinn, wie er Clotald beschützt, macht ihn für die Empörer unbrauchbar. Sie schlagen ihn nieder, werfen ihn in ein tiefes Loch neben dem Kerker, wo Wasser rinnt, und führen der jubelnden Menge den neuen Sigismund, nur mit einer Halblarve, als König vor." 8 Man sieht, daß diese fragmentarischen Aufzeichnungen eine reiche Quelle der Beobachtung sind, in der sich Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges aus des Dichters Geist reizvoll mischt, die aber unergiebig ist für den Vergleich mit Calderón, weil hier die freie Phantasie längst die Schranken der Umgestaltung hinter sich gelassen hat. Von ganz ähnlicher Art sind die umfangreichen SemiramisAnmerkungen, die in zwei Abteilungen von 1905 bis 1909 und dann wieder 1917-18 entstanden sind. Für das Verhältnis Hofmannsthals zu Calderone La Hija del aire sind sie allerdings relativ wichtiger, weil sie das Einzige sind, was wir von seiner Beschäftigung mit diesem Stoff besitzen. Weder die zuerst geplante Tragödie noch das später Strauss in Aussicht gestellte Opernlibretto kam je zustande. Wie aus den Entwürfen selbst hervorgeht, wollte Hofmannsthal in den Gestalten der Semiramis und ihres Sohnes die Prinzipien von Tun und Leiden darstellen.4 In der Verfolgung dieses Zieles entfernte er sich zwar beträchtlich von Calderón. Vieles ist aber auch schon in Calderone Hija del aire als „Symbolik der Situation" vorgearbeitet. Daher gilt auch diesmal weniger als der Dichter es wahrhaben will seine Einschätzung des Verhältnisses zu Calderón, die in einem Brief an Strauss enthalten ist: „Im übrigen werde ich vielleicht mit den Vorgängen des Calderon'schen Stückes sehr wenig anzufangen wissen, und es wird für mich nur den Ausgangspunkt bilden, nicht die Unterlage."5 Calderone Drama La hija del aire beginnt mit zwei Stimmen, die von entgegengesetzten Seiten her ertönen, „Kriegsmusik" rechts, „sanfte Musik und Gesang" links.· Der Text zur einen lautet: » Dramen, ΙΠ, S. 437-438. * Eine Auslegung versucht Karl-Joachim Krüger, Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Versuch einer Deutung des künstlerischen Weges Hugo von Hofmannsthals (Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1935), S. 176ff. s Richard Strauss, Briefwechsel mit Hugo von Hofmannsthal, hrsg. von Franz Strauss (Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay, 1926), S. 21. 6 Schauspiele van Don Pedro Calderón de la Barca, übers, von J. D. Gries, IV, (Berlin, 1840), S. 9.
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Haced alto en esta parte Y en uno y otro escuadrón Divididos, saludad Con salva al Rey mi señor.7 (Haltet hier an diesem Ort, teilt euch in zwei Abteilungen, begrüßet den König, meinen Herrn, mittels einer Salve). Und die Gegenstimme: Cantad aqui, mientras llega El Rey a estos montes hoy, Porque a las salvas de Marte Sucedan las del Amor.8 (Singet hier, während der König heute in diese Berge kommt, Denn die Salven Amors sollen denen des Mars folgen). Dieser Gegensatz zieht sich durch das ganze Werk. Primitiver als bei Hofmannsthal, dem es nicht bloß um den Unterschied von Krieg und Frieden geht, ist hier das Wesentliche vorbereitet. Es brauchte vom modernen Dichter bloß mit seiner komplizierten Problematik ausgestattet und strenger durchgeführt zu werden. Bei Calderón wird die Symbolik von der Haupt- und Staatsaktion auf lange Strecken ganz verdrängt, von der Hofmannsthal ausdrücklich sagt, er wüßte mit ihr „gar nichts anzufangen." 9 Dennoch taucht der prinzipielle Gegensatz Semiramis-Ninyas auch in La hija del aire immer wieder auf. Und wenn gegen Ende der Tragödie Semiramis in Ninyas' Kleidern erscheint, dank ihrer großen körperlichen Ähnlichkeit mit ihm verwechselt wird und an seiner Statt zu regieren beginnt, aber sein versöhnliches, mildes Friedensregiment zum Entsetzen der Untertanen in wütende 7 Comedias de Don Pedro Calderón de Eugenio Hartzenbusch, ΙΠ, (Madrid, 1905), 8 Ebda. * Richard Strauss, Briefwechsel mit Hugo mannsthals Semiramis-Aufzeichnungen sind 478.
la Barca, hrsg. von Don Juan S. 23. von Hofmannsthal, S. 21. Hofjetzt in Dramen, III, S. 447-
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Herrschgier und Kriegspolitik verkehrt, so ist das durchaus der Boden, auf dem Hofmannsthal sein Semiramis-Werk aufbauen wollte. Ob danach viele oder wenige Einzelheiten aus Calderons Drama beibehalten wurden — und es gibt davon eine Menge — bleibt gleichgültig. Denn es steht, so sehr sich Hofmannsthal auch vom Original entfernt, die breite gemeinsame Unterlage fest. Das Zentrum des Ganzen ist die Semiramis-Ninyas-Vertauschung. Bedenkt man dies, so leuchtet ein, „daß die Meditation über zwei Formen der Herrschaft: Herrschaft durch Gewalt und Herrschaft durch Dienen"10 schon vor Jahrhunderten in Calderons Geist stattgehabt und in La hija del aire künstlerischen Ausdruck gefunden hat. Daran ändert nichts, daß „alles, was bei Calderón wörtlich gemeint ist," bei Hofmannsthal „ins Symbolische emporgehoben" wird.11 Daß aber der gewaltlose Ninyas, der an das „Tao des Ostens" gemahnt, dem Hofmannsthalschen Sigismund viel ähnlicher ist als der Calderonschen Gestalt, kann nicht wundernehmen. Wahrscheinlich liegt auch hierin ein Grund, warum das Semiramis-Drama nicht fertig wurde: Hofmannsthal hat den Kern hinübergenommen in seine späteren Turm-Dramen. Daß die Hinwendung zum Christentum dabei mitspielt, wie Curtius sagt,12 schließt dies ja nicht aus, obgleich gerade das Christentum im Turm kein unproblematisches ist.13 Schließlich besitzen wir noch die Aufzeichnungen zu einem „Xenodoxus," einen Entwurf, dessen Schema Calderón zugeschrieben wurde,14 nämlich dem Drama El mágico prodigioso. Edgar Hederer, der zuerst das Xenodoxus-Fragment herausgab und kommentierte,15 erwähnt Calderón nicht, sondern beschränkt 10 E. R. Curtius, „George, Hofmannsthal und Calderón," Kritische Essays zur europäischen Literatur (Bern: Francke, 1950), S. 197. 11 Ebda. 12 S. 198. ls Grete Schaeder, „Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie," Deutsche Vierteljahrsschrift, Bd. ΧΧΙΠ (1949), Heft 2 / 3 , S. 347. 14 Wilhelm Müller-Hofmann, „Dank an Hofmannsthal," in Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde, hrsg. von H. A. Fiechtner (Wien: Humboldt-Verlag, 1949), S. 151. Die Äußerung dürfte auf einem Irrtum Müller-Hofmanns beruhen. 15 Edgar Hederer, „Über die Aufzeichnungen Hofmannsthals zu einem .Xenodoxus,'" Die Neue Rundschau, Bd. LXV (1954), Heft 3 / 4 . Hofmannsthals Xenodoxus-Fragment ist jetzt in Dramen, IV (1958), S. 483.
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sich auf die näherliegende Parallele mit dem Cenodoxus des Jacob Bidermann. Dieses Drama sollte das dritte Glied in dem Zyklus der religiösen, von Hofmannsthal für Salzburg verfaßten Schauspiele bilden und es ist tatsächlich schwer, besonders nach dem Welttheater, das Spanische ganz und gar daraus hinwegzudenken. Überall vermeint man calderonianische Echos zu vernehmen. Eine nüchterne Untersuchung ergibt aber nur geringe Unterstützung für diese Annahme. Von der Cyprian-Legende ist zwar manches dem Geiste nach, aber wenig Konkretes in Hofmannsthals Entwurf zu verspüren und selbst die vermeintlichen Anklänge lassen sich leicht durch die Benutzung der Bidermann-Vorlage erklären. Das Einzige, was unmißverständlich auf Calderón weist, ist die „fromme Magd" Justina, die allerdings eine bedeutende Rolle in Hofmannsthals „Xenodoxus" zu spielen bestimmt war, aber auch bei ihr ist es eigentlich mehr der Name als die Gestalt oder die Idee. Bemerkenswerter als ihre Identität mit der Calderonschen Märtyrerin Justina ist, daß Hofmannsthal diese Gestalt am Ende seines Lebens benutzt hat — und es ist erstaunlich, daß dies noch nirgends aufgezeigt wurde — um zum letzten Mal Abrechnimg mit der ihn nie verlassenden Abenteurergestalt zu halten. Das letzte Urteil ist gleichzeitig auch das vernichtendste: der Teufel, bezeichnenderweise in Weibsgestalt, dreht dem Abenteurer das Genick um. Wenn einmal der Hofmannsthalsche Nachlaß der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, werden sicherlich noch andere mit Calderón im Zusammenhang stehende Fragmente auftauchen wie z.B. die Notizen au einem Phokas-Drama, von denen E. R. Curtius und der Herausgeber der Hofmannsthal-Ausgabe, Herbert Steiner, berichten.19 Vielleicht finden sich auch noch Notizen zum Liebchen des Gomez Anas, die Hofmannsthal selbst erwähnt,17 und sicherlich zu einer Novelle um Philipp II., über die Max Meli geschrie-
16 Curtius, S. 184; Herbert Steiner, „The Harvard Collection of Hugo von Hofmannsthal," Harvard Library Bulletin, V m (Winter 1954), S. 60. Es handelt sich um die fragmentarische Behandlung von Calderone Drama En esta vida todo es verdad y todo mentira - In diesem Leben ist alles Wahrheit und alles Lüge. 17 Aufzeichnungen, hrsg. von Herbert Steiner (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1959), S. 189.
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HOFMANNSTHAL UND CALDERON 18
ben hat. Für den Hofmannsthal-Forscher sind diese Aufzeichnungen eine wahre Fundgrube zur Schaffenspsychologie des Dichters. Es gilt von ihnen heute im Grunde immer noch, was schon Curtius vor Jahrzehnten schrieb, daß sie „kaum gekannt" und „kaum gedeutet" sind.1· Sie sind reichhaltige Gespinste von Hofmannsthals eigenstem Fabulieren, voll von mystischen Zeichen, Selbstauslegungen, für die Kenntnisse seiner Denkart wichtigen Hinweisen. Sie haben auch einen Platz in einem Vergleich von Calderón mit Hofmannsthal, weil sie den Weg zeigen, auf dem der österreichische Dichter von der Abhängigkeit zur Freiheit gelangte. Vom Gesichtspunkt der vorliegenden Arbeit aber sind sie nicht sehr ergiebig. Die in ihr verfolgte Hauptlinie war die Untersuchung des Technisch-Handwirklichen, des sprachlich Gestalteten. Gerade dieses aber fehlt in den Fragmenten. Aus dieser Perspektive gesehen sind sie bloße Kuriosa, denen mehr Inhalt als Form zu entnehmen ist und die in ihrer wolkigen, unbestimmbaren Art auf einer ganz anderen Ebene liegen als die formvollendeten, scharf umrissenen Meisterwerke Calderons. Immerhin geben sie aber Zeugnis — und auf diesen Punkt haben wir ja auch nicht wenig Gewicht gelegt —, wie anhaltend und hingegeben Hofmannsthal sich dem Spanier widmete, wie sein Geist immer wieder zu diesem Jungbrunnen zurückkehrte, um gestärkt und erneuert und reiner gesammelt in sich selbst aus ihm hervorzutauchen.
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Max Meli, „Letztes Gespräch in Rodaun 1929," Fiechtner, S. 269. Notizen zu dieser Novelle hat der Verfasser in Hofmannsthals Nachlass einsehen können. " Curtius, S. 185.
NAMEN- UND SACHVERZEICHNIS
Calderón de la Barca, Pedro, 19; Dama Duende, 48-53; dichterische Sprache, 24-26, 44, 67, 99-105; Dramatiker, 23-28, 40-41; La vida es sueño, 97-106; Religion, 20; Ruhm, 21; Stoffe, 24, 27, 107 Curtius, Ernst Robert, 2, 106-107 Eichendorff, Joseph von, als Übersetzer, 12, 14, 66-68 Faust, 76-79, 86-87 Gries, Johann Diederich, als Übersetzer, 12A, 34-36, 91-97 Hofmannsthal, Hugo von: „Ad me ipsum," 59-61; als Dramatiker, 22-24, 40, 42; als Kritiker Calderone, 9-12, 48, 64-65; Anmerkungen zu Das Leben ein Traum, 112-115; Beherrschung des Spanischen, 12-13; Biographie, 19; Chronologie seiner Beschäftigung mit Calderón, 13-16; dichterische Sprache, 24, 35-46, 69-74, 93-97;
Gebrauch alter Stoffe, 27, 107108; Gebrauch einer Metapher, 81-86; geistesgeschichtlicher Vergleich mit Calderón, 17-27; Grund seines Interesses an Calderón, 1819, 28-33, 48-53; Mängel im Welttheater, 87-89; Mystizismus, 58-63; Religion, 20; Romantik und Barock, 30; Semiramis, 1 Π Ι 17; Sonette „Die Geständnisse," 54-58; Verhältnis zu Frankreich, 4-5, 31; Verhältnis zu Italien, 67; Verhältnis zu Spanien, 7-9; „Xenodoxus," 117-118 Kommunistisches
Manifest, 79-80
Menéndez y Pelayo, Marcelino, über Calderón, 27-29 Österreich, Ähnlichkeit mit Spanien, Dekadenz, 17-18 Spanien, im 17. Jahrhundert, 17, 104-105 Schaeder, Grete, 2-3, 111A